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Bei Phoenix erschienen bisher folgende Titel: Chromscherben Eine Shadowrun-Kurzgeschichtensammlung von Michael A. Stackpole und Joachim Nettelbeck (Best.-Nr. 10550) Schrapnell BattleTech-Kurzgeschichten (Best.-Nr. 10551) Die Maskerade des Roten Todes Eine Vampire-Trilogie von Robert Weinberg Band 1: Blutfehde (Best.-Nr. 10552) Band 2: Unheilige Allianz (Best.-Nr. 10553) Band 3: Keines Herren Knecht (Best.-Nr. 10554) Wiener Blei Ein Shadowrun-Roman von Leo Lukas (Best.-Nr 10555) Das Lexikon der Horror-Literatur (Best.-Nr. 10556) Liverollenspiel Ein Handbuch von Momo Evers und Lars Schiele (Best..-Nr. 10557) Nachtstreife Ein Shadowrun-Roman von Björn Lippold (Best.-Nr. 10558) Die MechWarrior-Reihe Väterchen Frost von Stephen Kenson (Best.-Nr. 10559) Triumphgebrüll von Blaine Lee Pardoe (Best.-Nr. 10560) Blutsverrat von Blaine Lee Pardoe und Mel Odom (Best.-Nr. 10561) Die Armalion-Reihe Das Dämonenschiff von Harald Evers (Best.-Nr. 10568) Ehre, wem Ehre gebührt von Manuel Krainer (Best.-Nr. 10562) (in Vorb.) Weitere Titel in Vorbereitung. Es handelt sich um eine Bibliographie und nicht um ein Verzeichnis lieferbarer Titel. Es ist leider nicht möglich, alle Titel vorrätig zu halten. Sollten Sie Fragen zu Phoenix haben, kontaktieren Sie uns bitte unter Fantasy Productions GmbH Postfach 1416. 40674 Erkrath www.fanpro.com
Harald Evers
Das
Dämonenschiff
Ein Armalion-Roman aus der Welt Das Schwarze Auge
Deutsche Erstausgabe Umschlaggestaltung: Ralf Berszuck Titelbild: Doug Beeknian Satz und Layout: Christian Lonsing Redaktion: Torben Röbker l23
02 01 00
Phoenix ist ein Imprint von Fantasy Productions. Armalion und Das Schwarze Auge sind geschützte Marken von Fantasy Productions. Alle Rechte vorbehalten. Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und die Verbreitung des Werkes in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf fotomechanischem oder sonstigem Weg, dürfen nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Copyright © 2000 by Fantasy Productions Verlagsund MedienvertriebsGmbH, Erkrath Coverbild © Doug Beekman, c/o Agentur Schluck GmbH, Garbsen Besuchen Sie unsere Website http://www.fanpro.com Printed in Germany 2000 ISBN 3-89064-568-2
1
Das Schiff
Ruhig und fast unbewegt lag es da, und alle starrten es angstvoll an. Groß und schwarz und drohend ragten seine Masten in den stillen Abendhimmel, die Segel offenbar von einer Sturmfahrt so zerfetzt, daß wohl kaum noch ein heiles Stück zu finden war, groß genug, um als einfache Persenning auf einem Ochsenkarren dienen zu können. Der Rumpf noch intakt, aber anscheinend so hart attackiert, daß helles, frisches Holz durch die Furchen hindurch nach außen schien; Furchen, die aussahen, als wären sie von so etwas wie einem monströsen Riesenkrebs hineingerissen worden. Nur gab es so etwas nicht. Monströse Riesenkrebse. Nicht jedenfalls, soweit Salis von Thralbeg wußte. Er kratzte sich nervös an seinem dünnen Bart und peilte vorsichtig nach rechts - und einen Augenblick später nach links. Wer von den Leuten nicht immer noch mit ungläubigen Blicken das Schiff musterte, das vor ihnen im Hafenbecken dümpelte, der sah zu ihm her. Zu ihm, von dem man offenbar erwartete, daß er eine Antwort wußte; eine Antwort, was es zu bedeuten hatte, daß die Dinia Tjerbus jetzt und in diesem Zustand hier lag, im kleinen Hafen von Sykand. Und vor allem: was innerhalb der letzten Stunde auf dem Schiff geschehen war. Starke Unruhe herrschte unter den Leuten, und niemand wagte sich näher an das Schiff heran. Die breite Holzpier selbst, an der die Dinia Tjerbus lag, war leer - selbst die Allermutigsten hatten sich nicht weiter vorgewagt. Eine Menschenmenge von gut 60 Leuten, und das war wohl ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung von Sykand, hatte sich auf der breiten Hafenmole versammelt. Man diskutierte aufgeregt, was man tun sollte. Vor ihnen lag, dunkel und
unheimlich, das verlassene Schiff. Es lag dort, als hätte es seinen Weg zur Pier selbst gefunden; niemand hatte es festgemacht. „Wir müssen noch jemanden auf das Schiff schicken!“ sagte Abbot Melkor leise. „Es ist allein schon unsere Pflicht als Diener Efferds!“ „Ich weiß, ich weiß“, zischte von Thralbeg zurück und winkte heftig dabei ab. „Aber wer geht? Du vielleicht, Abbot? Hast du den Mut?“ Der Geweihte gab sich verblüfft. „Bei den Zwölfen! Das meinst du nicht ernst, Erster! So etwas“, und damit wies er auf das Schiff, „ist doch wohl nicht Aufgabe eines Geweihten, oder? Da müssen die Soldaten ran!“ „Wir hatten genau acht davon“, gab von Thralbeg wütend zurück und faßte den Abbot scharf ins Auge. „Und nun haben wir nur noch drei! Die ändern sind jetzt... dort!“ Seine Hand schnellte in die Höhe und deutete wie ein Speer auf die Dinia Tjerbus. „Auf diesem verfluchten Schiff! Fünf gute Leute mitsamt ihrem Hauptmann! Leute, die Frauen und Kinder haben! Dort sind sie jetzt, verdammt! Oder soll ich besser sagen - waren sie? Also: Wen soll ich jetzt schicken?“ Von rechts trat Ungolf Zappsteen heran, einer der reichen Edelsteinschleifer von Sykand. „Wen du schicken sollst?“ fragte Zappsteen scharf. „Na, die anderen Soldaten natürlich! Er deutete mit dem Kinn hinüber zu einer Menschentraube, und sein Blick war voller Wut. Dort standen drei Uniformierte, von Frauen und anderen Männern umgeben, und sprachen leise miteinander. Daß sie Angst hatten, sah man ihnen schon von hier aus an. „Wozu bezahlen wir das faule Pack?“ zischte Zappsteen wütend. „Sieh nur, wie ihnen die Knie schlottern!“ Von Thralbeg verzog das Gesicht und musterte den Edelsteinschleifer. Er kam zu dem Schluß, daß Zappsteens
Knie unter dem Gewicht seines Wanstes einknicken würden, sollten sie jemals auch nur halb so stark schlottern. Aber daß sie dies wohl niemals tun würden, lag daran, daß Zappsteen nicht fürchten mußte, je auf ein Schiff wie dieses geschickt zu werden. Er war ein feiger, großkotziger Sack, der sich einfach alles kaufte, was er haben wollte. Notfalls auch Leute, die für ihn den Kopf hinhielten. „Was ist, Erster?“ knirschte Zappsteen. „Hauptmann Yannis ist nicht mehr da. Nun mußt du diesen stinkigen Kerlen da befehlen, unser Hab und Gut zu schützen!“ Unwillkürlich trat von Thralbeg einen Schritt von dem miesen Kerl zurück. Er hatte einen unguten Geruch an sich. „Soll ich sie etwa in den Tod schicken?“ fragte er wütend. „Wir wissen nicht, was da auf der Dinia Tjerbus los ist! Wenn Yannis mit seinen Leuten nicht zurückkam - welche Chancen hätten dann die da?“ Lästigerweise bekam Zappsteen nun Unterstützung. Und zwar gleich von zwei Leuten. Freimark Threll und Hippolyth Jachoch traten in diesem Moment hinzu, und wiewohl von Thralbeg sie nicht wahrgenommen hatte, mußten die beiden im Hintergrund geradezu gelauert haben, damit sie nun hervorschießen und dem miesen Zappsteen Schützenhilfe leisten konnten. „Es sind Soldaten!“ krächzte der klapprige Threll, der Drogist und Kräutermischer von Sykand, und hob seine knöcherne Zeigefingerklaue wie einen Wimpel in die Höhe. „Zwei Goldstücke im Jahr zahlt jeder von uns für dieses Pack! Nun sollen sie uns einmal dienen!“ „Jawohl!“ bekräftigte Jachoch, ein häßlicher, krummer Mann, der seit je her mit Geld und Macht seinen lächerlichen Vornamen zu glorifizieren versuchte. Hippolyth! Von Thralbeg fragte sich, welcher Teufel seine Mutter geritten hatte, als sie ihm diesen Namen gab. Und das bei diesem Nachnamen! Von
Thralbeg hätte am liebsten laut und voller Spott losgelacht. Diese drei, Zappsteen, Threll und Jachoch, steckten ständig unter einer Decke, wollten ihm dauernd in sein Handwerk als Erster Bürger von Sykand pfuschen - und sie kotzten ihn an! Innerlich schüttelte er sich. Zu allem Unglück waren sie nicht einmal die einzige Gruppe von Gleichgesinnten hier in Sykand. Salis von Thralbeg seufzte bitter und voller Sorgen. Abbot Melkor stand mit verschränkten Armen neben ihm, maß die drei Männer mit ernsten Blicken, sagte aber nichts. Von Thralbeg wußte, daß der Geweihte ebenfalls einen schweren Stand in der Stadt hatte. „Ich verlange“, fuhr Jachoch mit altweibisch-nörgelndem Tonfall fort, „daß diese drei jetzt auf der Stelle auf das Schiff gehen, und für Ordnung sorgen! Sie sind ja vorgewarnt; sie wissen, daß dort irgendwas ist. Da können sie entsprechende Vorsicht walten lassen!“ Irgendwas ist, echote es in von Thralbegs Kopf. Jachoch hatte es hübsch harmlos ausgedrückt. Von Thralbeg gab sich noch einige Sekunden, um mögliche Alternativen zu überdenken. Aber da waren keine. Jemand mußte nachsehen gehen. Vielleicht lebte ja noch einer von Yannis' Leuten. Er holte tief Luft. „Ingram!“ rief er über die Hafenmole. „Her zu mir!“ Drüben auf der anderen Seite der gut hundertfünfzig Schritt langen, gemauerten Hafenmole zuckte ein Mann zusammen, als hätte ihn ein Knüppelschlag getroffen. Verunsichert stand er da, blickte angstvoll zu von Thralbeg hinüber. „Was ist?“ schrie der Erste wütend. Seine Stimme überschlug sich fast. „Soll ich es vielleicht wiederholen?“ Ingram setzte sich drüben langsam in Bewegung, und von Thralbeg haßte sich dafür, daß er den Mann dazu zwingen mußte, auf das Schiff zu gehen. Ingram war kein Held, hatte nicht mal ein Schwert bei sich. Aber er war ein guter Kerl.
Hatte eine nette Frau und zwei hübsche Mädchen, im Alter seiner eigenen Kinder. Dann war er da. „Ja, Erster?“ fragte er verunsichert. „Wie viele seid ihr noch, Ingram?“ fragte von Thralbeg streng. „Wir ... äh?“ Ingram sah sich um, so als wüßte er nicht genau, wie viele Männer von der Stadtwache nun noch übrig waren - wo es doch jeder hier wußte. Er wandte sich wieder von Thralbeg zu. „Drei“, sagte er. „Mit mir drei.“ Thralbeg nickte. „Gut. Dann bewaffnet euch und geht auf das Schiff. Dafür seid ihr da! Seid vorsichtig und kehrt um, wenn es zu gefährlich wird. Aber wir müssen wissen, was dort los ist!“ „Aber...“ „Nun geht endlich!“ schrie Hippolyth Jachoch plötzlich den Soldaten an. „Seit Jahren zahlen wir für euch nichtsnutziges Pack! Und jetzt, wenn es mal ernst wird, macht ihr euch in die Hosen!“ Thralbeg hätte dem widerlichen Jachoch am liebsten eine in die Schnauze gehauen - und ihn statt Ingram auf das Schiff geschickt. Dem verfluchten Kerl fehlte es am winzigsten bißchen Mitgefühl. Aber er hielt den Mund gezwungenermaßen. Ingram zog mit hängendem Kopf ab. Zehn Minuten später war alles vorbei. Ingram war mit seinen beiden Leuten an Bord gegangen zögernd und voller Angst -, und wenige Minuten später war exakt das gleiche passiert wie zuvor. Schreie, Schwertergeklirr, zwei Mal ein infernalisches Gebrüll - und dann Stille. Die Leute auf der Hafenmole waren beinahe in Hysterie verfallen. Niemand stand nun noch näher als unbedingt nötig an dem Teufelsschiff.
Verflucht! Von Thralbeg biß vor Wut und unbestimmter Furcht die Zähne so fest aufeinander, daß es knackte. Diese Sache schien sich zu einem echten, schlimmen Problem auswachsen zu wollen. Er hatte anfangs noch irgendwie gehofft, Ingram würde zusammen mit Yannis und seinen Leuten wohlbehalten wieder auftauchen, ein Lächeln im Gesicht und irgendeine kuriose Erklärung auf den Lippen. Nun aber war nicht mehr abzuleugnen, daß den Leuten, und zwar allen, etwas passiert war! Von Thralbeg trug hier die Verantwortung, und wenn ihm jetzt nicht noch etwas verdammt Kluges einfiel, dann würde man ihn mit Schimpf und Schande aus Sykand verjagen, so wie sie es mit seinem Vorgänger getan hatten. Ha! Er war selbst dabei gewesen! Hatte selbst auf dem Marktplatz auf einer Kiste gestanden und gegen den damaligen Ersten Bürger Ulberich gewettert! Dabei war Ulberich nur der Fehler unterlaufen, mit einem Großhändler in Vallusa eine zu großzügige Marge auszuhandeln - ein dreiviertel Prozent zuviel, wie man in Sykand in einer Sitzung der Schleifer-Gilde festgestellt hatte. Der Fall war an den Baron von Sendhar nach Neersand gemeldet worden, und dann hatte Ulberich nur noch sehen können, wie er sein Hab und Gut und seine Familie so schnell als möglich aus Sykand fortbrachte. Er selbst hingegen, er war nun für den Tod von möglicherweise acht Leuten verantwortlich - der gesamten Stadtwache. Sendhar, der hier die Entscheidungsgewalt hatte, war als strenger Mann bekannt, und wenn er ihn nur davonjagte, konnte von Thralbeg noch dankbar sein. „Was soll ich tun, Melkor?“ zischte er dem Efferd-geweihten zu, der nach wie vor in seiner Nähe geblieben war. Abbot Melkor war der einzige Mann hier, dem er wirklich vertraute. „Wenn ich das nur wüßte“, flüsterte Melkor zurück. „Was ...
was ist mit der Bürgerwehr?“ Von Thralbeg sog scharf die Luft ein. Die Bürgerwehr! Wenn die Bürgerwehr loszog, dann würde er derjenige sein, der vorausging. Als Erster Bürger war er automatisch auch derjenige, der den Troß der Leute anführte. Leise auflachend fragte er sich, ob der Name 'Erster Bürger' dort herrührte. „Dann muß ich vorausgehen!“ knirschte von Thralbeg. „Ich weiß nicht mal, wie herum man ein Schwert hält!“ Abbot Melkor antwortete nichts, er schnaufte nur. Ein paar Minuten waren vergangen, seit die schrecklichen Schreie von der Dinia Tjerbus zu ihnen auf die Hafenmole gedrungen waren, und immer mehr Leute sahen nun in ihre Richtung - nein, in seine Richtung! Und dann kam auch noch das Allerschlimmste - Geri a Fries tauchte auf! Diesen kleinen Scheißkerl konnte von Thralbeg am wenigsten von allen leiden. A Fries war einer der wenigen Zwerge, die in Sykand lebten; den Zwölfen sei Dank, war die Stadt von anderem Ausländerpack frei. Ulkigerweise war ausgerechnet a Fries kein Bergmann und Edelsteinschleifer, nein, ihm gehörte das örtliche Sägewerk. Es hatte vor ihm schon seinem Vater gehört. Sie trugen zwergen-untypische Namen, die Zwerge dieser Sippschaft und von Thralbeg wußte, daß dies daher rührte, daß die a Friesens schon so lange hier in Sykand, einer Stadt der Menschen, ansässig waren. Schon seit Generationen. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Zwerge als vollwertige Mitglieder ihrer Gesellschaft anzusehen. Und besonders dieser Geri a Fries hatte ständig etwas auszusetzen. Er war reich, und er war ein verfluchter Nörgler! „Ich sage euch - dieses Schiff ist verhext!“ zischte a Fries. Salis von Thralbeg und Abbot Melkor wandten sich dem Zwerg zu. Der Kerl hatte durchaus Freunde. Aber von Thralbeg und Abbot Melkor gehörten nicht zu ihnen.
„Habt ihr nicht die Schreie gehört?“ sagte a Fries mit finsterer Miene und baute sich vor den beiden auf. Er war groß für einen Zwerg und besaß dabei den typisch breiten und kräftigen Körperbau. Und auch einen ansehnlichen Bauch. „Und dieses Grollen?“ fuhr er fort. „Eben wieder - als Ingram mit seinen Leuten an Bord ging?“ Der Zwerg schüttelte den Kopf. „Da lebt keiner mehr, das ist sicher! Wir sollten den verfluchten Kahn wieder raus aufs Meer schleppen und abbrennen, bevor dieses ... Etwas, das da an Bord ist, zu uns in die Stadt kommt!“ „Aber ... das Gold!“ rief von Thralbeg aus und warf die Arme in die Luft. „Sollen wir das Gold im Meer versenken?“ A Fries schnaufte. „Wär‘ immer noch besser, als daß wir alle Opfer dieser ... Hexerei werden, oder, Erster?“ Kunststück, du Mistkerl, dachte von Thralbeg und stemmte ärgerlich die Fäuste in die Hüften. Von deinem Geld ist ja auch nichts an Bord! Drei oder vier Männer bahnten sich den Weg durch die Menge auf sie zu, und von Thralbeg holte abermals tief Luft. Viele der umstehenden Leute hatten inzwischen Fackeln entzündet und murmelten aufgeregt - das Ganze hatte schon etwas von dieser Hexenjagd an sich, die es damals, vor zwanzig Jahren, hier einmal gegeben hatte. Es fehlte nur noch, daß sich jemand eine Kapuze über den Kopf zog. Dann waren die Männer heran, und die umstehenden Leute traten zurück, so daß sich so etwas wie freier Platz in der Menschenmenge ergab. Am einen Ende standen von Thralbeg, der Abbot und a Fries, auf der anderen Seite die Ankömmlinge. Die drei Mistkerle Zappsteen, Threll und Jachoch hatten sich natürlich verpißt - nachdem sie den armen Ingram und seine beiden Männer in den Tod getrieben hatten! Von Thralbeg musterte die Ankömmlinge. Es waren Peir und Jessa, die beiden Söhne des
Minenbesitzers Ongluf Rotrig; Helmar Zinner, der Kupferschmied, und Quorim an Hult, der Lehrbursche des Kräutermischers. Alles junge, kräftige Leute - und sie waren bewaffnet. Von Thralbeg schöpfte Hoffnung. „Wir müssen etwas tun, Erster“, sagte Helmar ernst und trat vor. „Yannis ist seit einer Stunde fort, und Fred, Jemvo und Olgar waren bei ihm. Alles Freunde von uns! Wir müssen nach ihnen sehen! Und nach Ingram!“ „Recht so!“ hob Abbot Melkor lobend an, aber da drängte sich der miese Zwerg a Fries an ihm vorbei. „Bist du verrückt geworden, Helmar?“ fuhr er den jungen Mann an. „Ihr seid junge, gesunde Männer! Die Zukunft unserer Stadt! Wir können es uns nicht leisten, euch zu verlieren!“ „Wer spricht hier von verlieren?“ donnerte von Thralbeg wütend und trat a Fries in den Weg. „Deine Feigheit, lieber a Fries, ist es, die uns verlieren lassen wird! Jedenfalls dann, wenn wir auf dich hören!“ Der Kreis, in dem die Streitenden standen, hatte sich vergrößert, und die Bürger von Sykand traten neugierig heran. Für den Augenblick schien das bisher alles beherrschende schwarze Schiff vergessen. An den Streitigkeiten ihrer hohen Bürger hatten sich die Sykander bisher schon immer gern ergötzt. „Du willst das Schiff hinaus aufs Meer schleppen und dort anzünden?“ fuhr von Thralbeg vehement fort. „Vielleicht, um noch mehr Einfluß in der Stadt zu gewinnen - indem du in der Rangfolge der reichsten Bürger noch weiter aufsteigst? Da auf dem Schiff, und wieder deutete er in Richtung der riesigen, schweigenden und schwarzen Silhouette, die sich über den Köpfen der Menschen in den inzwischen blauschwarzen Nachthimmel erhob, „in diesem Schiff befindet sich sauer verdientes Geld und Gold der Bürger dieser Stadt! Geld, das
sie mit Bergbau und Edelsteinschleiferei, mit ihrer Hände Arbeit, redlich verdient haben! Und du willst es im Meer versenken?“ A Fries grinste den Ersten Bürger säuerlich an. „Sieh an!“ sagte er gefährlich leise. „Dir geht es also gar nicht um Yannis, Ingram und die anderen, was? Du willst nur deinen Stand retten, indem du den Leuten ihr liebstes Gut zurückbringst, das Gold, nicht wahr?“ Von Thralbeg, der augenblicklich den delikaten Fehler im Aufbau seiner Rede erkannte, schluckte hart und verfluchte sich innerlich. Dieser vermaledeite a Fries ... „Hört mich an, Leute!“ rief a Fries und hob die Hände in die Luft. „Euer oberkluger Erster Bürger, den ihr so weise erwählt habt, unterliegt einem tragischen Irrtum!“ Er legte eine kurze, wohlbemessene Pause ein. „Er denkt, daß wir das Monster, das dort auf dem Schiff lauert, mit einem Kübel voll Gold schon vertreiben könnten!“ „Das ... Monster?“ echote es hier und dort ungläubig. A Fries fuhr herum und beugte sich in die Richtung, aus der er die verstörte Frage vernommen hatte. „Natürlich das Monster! Wir liegen seit Menschengedenken im Krieg mit den Orks! Wäre es etwa das erste, das sie uns je schickten? Ihr braucht nicht zu glauben, daß dies alles nur Märchen wären, nur weil ihr euch hier sicher und weit genug entfernt von den Orklanden im Norden und Westen glaubt! Die Orks verfügen über... Magie und grausame Bestien - und dort auf dem Schiff, da lauert eine! Vielleicht sogar beides!“ „Woher willst du das wissen, a Fries?“ rief jemand. „Woher?“ Er schüttelte unverständig den Kopf und deutete dann auf seine Ohren. „Ich hab es gehört, verehrter Ungolf! Mit meinen Ohren! Da waren Schreie auf dem Schiff. Schreckliche Schreie! Und ein tiefes Grollen und Knurren. Vor einer Stunde, als Yannis mit seinen Leuten hinauf ist! Und jetzt
wieder! Habt ihr das etwa alle überhört?“ „Genau deswegen wollen wir ja nachsehen gehen“, sagte Helmar entschlossen und hob sein Schwert. „Wir sind gut bewaffnet und ich ...“ A Fries fuhr herum und musterte den jungen Kupferschmied. „Gut bewaffnet? Kannst du auch kämpfen?“ „Ich? Also ... klar, ich hab schon ...“ Mit einer raschen Bewegung trat a Fries an Quorim an Hult heran, der ihm von diesen tapferen Vieren am nächsten stand, und riß ihm unwirsch das Kurzschwert, das er trug, aus der Hand. Er stellte sich Helmar gegenüber und begab sich in Angriffshaltung. Quorim stieß einen Laut der Überraschung aus. „Nun, dann verteidige dich mal, Helmar!“ Der junge Mann stand etwas verdattert da, schließlich hob er sein Schwert und begab sich ebenfalls in etwas, das man vielleicht eine Kampfhaltung nennen konnte. A Fries, gute zwei Köpfe kleiner als Helmar und wohl Anfang der Fünfzig, vollführte ein paar behände Bewegungen mit dem Schwert in der Hand, und an seiner Fußtechnik hätte ein Fachmann zweifellos erkannt, daß der Zwerg etwas vom Schwertkampf verstand. Er machte ein, zwei rasche Ausfälle nach vorn, auf die Helmar, der gutaussehende, sehr muskulöse junge Kupferschmied, überhaupt nicht reagierte. Erst nachdem a Fries ihn wütend anschrie, er solle sich verteidigen, faßte Helmar sein Schwert fester und rückte einen Schritt gegen den rundlichen Zwerg vor. Ein paar Augenblicke später klang das Aufeinandertreffen von Metall hell durch die Luft, dann klirrte Helmars Schwert zu Boden - gleich darauf von seinem Besitzer selbst gefolgt. Die Leute waren erschrocken zurückgetreten.
A Fries schleuderte verächtlich sein Schwert auf das Kopfsteinpflaster des Hauptpiers. „Da habt ihr's!“ rief er und deutete anklagend auf den verdattert am Boden sitzenden Helmar. „Deinen Mut in Ehren, junger Mann - aber wie willst du dich auch nur gegen ein Eichhörnchen zur Wehr setzen? Vom Kampf verstehst du rein gar nichts!“ Schweigen hatte sich über die Mole gebreitet, und im Hintergrund der Leute schwoll die dunkle Silhouette des Schiffes wieder an - wie zu einem Symbol finsterster Drohung. Langsam schien den Leuten aus dem friedlichen Sykand nun doch klar zu werden, daß Yannis und Ingram mit ihren Leuten auf etwas gestoßen sein mußten - auf etwas Großes und Schlimmes. Sonst hätte man inzwischen etwas von ihnen hören müssen, denn sie waren ausgebildete Soldaten gewesen. „Ich war im Krieg!“ rief a Fries über die Hafenmole. „Lang ist's her - aber ich war da! Ich hab gegen die Orks gekämpft und die Monster ihrer Schamanen selber gesehen und gegen sie gefochten! Es sind furchtbare Bestien, und keine gleicht der anderen! Voller Magie und übernatürlicher Blutgier! Dutzende meiner Kameraden hab ich verloren und selbst nur mit Glück überlebt!“ Wieder machte er eine Pause. „Und nun wollt ihr, wegen ein paar lumpiger Goldstücke, vier unserer besten jungen Männer opfern? Nachdem acht andere wahrscheinlich schon tot sind?“ Sein anklagender Blick richtete sich auf die stumme Menge. „Sie werden nicht mehr zurückkommen, keiner von ihnen!“ rief a Fries. „Schlimmer noch: Je länger dieses Schiff in unserem Hafen liegt, desto größer wird die Gefahr, daß diese Monster zu uns kommen! Und dann gnade uns Ingerimm!“ Als wäre dies sein Stichwort gewesen, trat Abbot Melkor hervor. „Du bist ein ausgebildeter Kämpfer, a Fries! Warum gehst du nicht an Bord und holst das Gold? Der Dank aller Stadtbewohner wäre dir gewiß!“
A Fries lächelte den Abbot diabolisch an. „Unglaublich“, sagte er. „Selbst unserem Geweihten ist das Gold wichtiger als die Seelen der ihm Anvertrauten. Was ist nur aus unserer Welt geworden!“ „Der Abbot hat recht!“ mischte sich von Thralbeg nun wieder dazu. „Wir brauchen Soldaten! A Fries ist einer! Er könnte der Stadt das beschaffen, worauf sie ein tiefes Anrecht hat - den Erlös aus den Edelsteinen, die sie in ehrlicher Arbeit gestaltet haben!“ A Fries gönnte dem Ersten Bürger von Sykand kaum noch das verächtliche Lächeln, das auf seinen Zügen stand. Von Thralbeg sah, daß er für den Zwerg nichts als ein ärmlicher Waschlappen war, der in seiner Achtung heute nur noch mehr gesunken war. „Was hab ich mit eurem Geld zu schaffen?“ gab a Fries freimütig zurück. „Wie wär‘ es denn mit dir, Erster Bürger? Du bist doch der Anführer der Bürgerwehr! Und außerdem sind da viele Zinsgelder an Bord, die dir gehören! Oder du, lieber Abbot Melkor! Du bemühst dich doch sonst immer so sehr, uns alle vor Dämonen und böser Magie zu schützen! Könntest du diese Gefahr nicht mit der Hilfe Efferds verjagen?“ Die beiden Angesprochenen blieben stumm und steif stehen. Eine Frau drängte sich durch die Leute. Sie blieb vor ihm stehen, und er konnte Tränen in ihrem Gesicht sehen. „Bitte, lieber Herr a Fries“, sagte sie weinend. „Ich bin die Frau von Yannis. Seht nach ihm - ich weiß sonst nicht, was ich tun soll!“ Geri a Fries starrte sie an und schüttelte dann den Kopf. „Es hat keinen Sinn“, antwortete er mit bedauernder Stimme. „Ich allein komme niemals gegen eines dieser Ork-Monstren an. Ich war nie einer der besten Kämpfer in meinem Regiment.“ Die Frau sank auf die Knie und klammerte sich weinend an seinen Arm. Er befreite sich sanft. „Finde dich damit ab, arme Frau. Dein
Mann lebt nicht mehr. Und ich will nicht auch noch sterben. Ich habe zu viel Angst, um da an Bord zu gehen. Selbst mit einem Dutzend gut ausgebildeter Leute. Falls sich hier welche finden ließen.“ Während die weinende Frau zu Boden sank, hob er die Stimme. „Laßt euch einen guten Rat geben, Leute: Vergeßt euer Gold, schafft dieses Unheilsschiff so schnell wie möglich aus eurem Hafen und zündet es draußen auf dem Meer an!“ Damit wandte er sich um, drängte sich durch die Leute und verschwand in der Dunkelheit. Für lange Minuten stand die Menge schweigend da. Das dunkle Schiff ragte drohend über ihnen auf. „Einen Soldaten hätten wir ja noch“, sagte dann einer laut. „Einen echten Krieger!“ Die Leute starrten den Mann erstaunt und neugierig zugleich an. Viele davon aber hatten sofort verstanden. „Belder!“ rief der Mann. „Holen wir Belder! Belder hat ohnehin nichts mehr zu verlieren!“
2
Belder
Er hatte schon den ganzen Abend über mitbekommen, daß im Hafen etwas los war. Das kleine, vergitterte Fenster blickte über die Stadt hinaus, aber außer den Dächern der Häuser und den Masten eines Schiffes hatte er nicht viel sehen können. Um etwas Genaueres hören zu können, war er zu weit entfernt. Die Masten allerdings hatten seltsam ausgesehen. Die Segel, die daran hingen, waren schwarz und zerfetzt, und auch das breite, gelbflackernde Licht im Hafen, das offenbar von einer Vielzahl von Fackeln stammte, deutete auf ein ungewöhnliches Ereignis hin. Dann aber hatte Belder es aufgegeben, dahinter kommen zu wollen, was da los war, und sich wieder auf den Boden hingesetzt. Mißmutig hatte er wieder damit begonnen, Steinchen gegen die Wand zu schmeißen. Was ging ihn das Volk von Sykand an? Er hatte sich schon vor zwei Monaten vorgenommen, die Sykander einfach aus seinem Kopf zu streichen - diese Meute von eitlen, überheblichen Taugenichtsen, unter denen man nur etwas galt, wenn man Geld hatte. Geld und Verbindungen. Er hatte nichts von dem. Er war vor einem Jahr hierher zurückgekehrt, nach Sykand, in diese kleine Hafenstadt am schmalen Küstenstreifen von Kap Walstein, in deren Hintergrund sich die gewaltigen Walberge erhoben. Eine hübsche Stadt, hier war er geboren. Er hatte Anspruch auf das Haus seiner Familie erhoben, das ohnehin nur noch ein Haufen wackeliger Steine in einem verwilderten Garten war, und seitdem nur Scherereien mit ihnen gehabt. Er wollte mit diesem Pack nichts mehr zu schaffen haben. Für Stunden hatte er an diesem Abend auf dem Boden gesessen, dumpf vor sich hinbrütend, nur manchmal seiner Neugierde nachgebend und zum Fenster hinaufsteigend.
Dann aber, als es längst Nacht war, hörte er Schritte draußen auf der Gasse. Viele Schritte. Er fuhr auf, sprang mit einem weiten Schritt auf den Hocker unterhalb des Fensters und sah hinab auf die Kopfsteine des verwinkelten Gassenweges, der zwischen Häusern hindurch und über Treppen herauf zu ihm führte. Da waren sie, über ein Dutzend, und sie hatten eine Menge Fackeln dabei. Und augenblicklich war ihm klar, daß sie wegen ihm kamen. Sie brauchten ihn. Er lachte trocken auf und ließ sich von dem Hocker wieder herunterfallen, kam federnd auf und warf das letzte Steinchen, das er noch in der Hand hatte, gegen die Wand. Es prallte dort ab, sprang nach links fort und traf mit einem hell singenden Geräusch auf einen der großen Gitterstäbe seiner Zelle. Eine Minute später ging die schwere Holztüre draußen, er hörte Gemurmel, und dann flog die zweite Tür auf - die in den Zellenraum führte. Es gab nur drei Zellen. Die anderen beiden waren leer, und in der dritten saß er. „Belder!“ Er hob betont gelangweilt den Kopf und sah Matthes an, den Sachwalter des Ersten. „Wenn du versprichst, keinen Ärger zu machen, dann schließe ich jetzt die Zelle auf! Und du kannst raus!“ Belder verzog nur spöttisch das Gesicht. „Raus! Verstehst du nicht?“ rief Matthes. „Und was muß ich dafür tun?“ brummte Belder mit seiner rauchigen, tiefen Stimme. „Einen Drachen erschlagen? Einen Schatz finden? Die Stadt retten?“ Matthes schluckte und sah kurz die anderen an, die mit ihm gekommen waren. Dann blickte er Belder wieder an. „Ja“, sagte er. „So ungefähr.“
Zehn Minuten später waren sie unten im Hafen. Belder hatte unterwegs immer wieder ungläubig die ernsten Gesichter der Männer studiert - es waren zehn. Eine verdammt große Abordnung für einen wie ihn. Daß sein blöder Spruch so nah an der Wahrheit liegen könnte, damit hatte er nicht gerechnet. Fünfzig, sechzig Leute hatten sich im Hafen versammelt, Belders Verwunderung wuchs immer mehr. Unterwegs hatte ihm niemand etwas sagen wollen, nur daß der Erste ihn im Hafen erwartete. Sie hatten ihn noch nicht einmal gefesselt. Schließlich trat Salis von Thralbeg an ihn heran. Ziemlich nahe und ziemlich mutig, wie Belder fand, legte man einmal seinen Ruf hier in der Stadt zugrunde. Von Thralbeg wußte sicher, daß Belder, der einen Kopf größer war als er und wohl ein Drittel mehr wog, ihm jederzeit mit einem kurzen, harten Handgriff das Genick hätte brechen können. Von Thralbeg hatte ihn einsperren lassen. „Wir haben ein Problem, Belder“, sagte von Thralbeg. „Soso.“ „Ja. Ein ziemlich ekelhaftes Problem. Eins, das nur ein Haudegen und Draufgänger wie du lösen kann.“ Belder fixierte sein Gegenüber mit geringschätzigen Blicken. Er hatte verflucht wenig Lust, irgendwas für von Thralbeg zu tun, und wäre es nur, seine Katze für einen Augenblick zu halten. „Du warst bei der Armee“, fuhr von Thralbeg fort. Von hinten trat Abbot Melkor mit ernsten Blicken an ihn heran, wie um seine Rede zu bekräftigen. „Einen legendären Ruf hast du dir dort erworben, wie man mir sagte.“ „Ich wurde entlassen“, erwiderte Belder. „Unehrenhaft.“ „Das ist mir egal. Was wir jetzt brauchen, ist ein Krieger. Einen knallharten Kerl wie dich.“
„Ist es wegen des Schiffes?“ fragte Belder, ohne auch nur einen Blick in die Richtung zu werfen. „Ja. Irgendwas ist da an Bord. Ein Monstrum. Ein Dämon. Was weiß ich.“ Belder nickte. Er respektierte, daß von Thralbeg ihm nicht irgendeinen hübsch verpackten Scheiß auftischte, sondern unverblümt zur Sache kam. Er wandte langsam den Kopf und maß das Schiff mit Blicken. Es war schwarz und verbrannt, halb in Stücke gehauen, und die Segel hingen, wie er schon vom Gefängnis aus gesehen hatte, in Fetzen. „Was ihr braucht, ist eine Armee“, stellte er fest und spuckte dann betont gelassen seitlich auf den Boden. Er kaute einen Moment auf irgendwas nicht Vorhandenem und sah dann von Thralbeg wieder an. „So wie das Schiff aussieht, hockt eine ganze Meute von Monstern drin.“ „Wir haben keine Armee, Belder. Alle unsere Leute sind verschollen. Yannis, Ingram, die ganze Stadtwache. Wir haben niemanden mehr. Sie sind alle auf das Schiff gegangen und nicht wiedergekehrt.“ Wieder musterte Belder den Ersten. Lange und mit ruhigen Blicken. Dann sagte er: „Warum sollte ich das tun?“ Er hörte, wie um ihn herum etliche Leute aufatmeten. Zuerst fragte er sich, warum sie das taten, dann aber wurde ihm klar, daß er eigentlich soeben gesagt hatte, daß er es tatsächlich könnte. Auf das Schiff gehen und das ausmerzen, was auch immer dort war. „Du wirst begnadigt“, sagte von Thralbeg. „Wenn du es tust, werde ich dich persönlich begnadigen. Dann bist du frei.“ „Falls ich wiederkomme.“ Von Thralbeg nickte. „Falls du wiederkommst - ja. Es dürfte gefährlich werden.“ „Und was soll ich dort? Warum schleppt ihr das Schiff nicht
einfach aus dem Hafen - fort von hier - und überlaßt es dem Meer?“ Zum ersten Mal zögerte von Thralbeg mit seiner Antwort. Augenblicke später aber trat schon Hippolyth Jachoch vor. „Es ist Gold an Bord!“ rief er entschlossen. „Viel Gold! Der gesamte Jahreserlös der Stadt aus dem Verkauf der Halbedelsteine in Vallusa!“ Eine Menge giftiger Blicke trafen Jachoch, aber er hielt ihnen hocherhobenen Hauptes stand. „Das Geld gehört den Bürgern der Stadt!“ erklärte er. Für Momente herrschte Schweigen. Es war Belder anzusehen, daß ihn das nicht sonderlich bewegte. Das Gold der Bürger von Sykand. Abbot Melkor räusperte sich. „Ich schlage vor, du erhältst, wenn du es sicherst, einen Anteil davon. Zu deiner Freiheit noch hinzu!“ Augenblicklich erhob sich Protestgeschrei. Salis von Thralbeg warf sich mit lauter Stimme dazwischen, Abbot Melkor versuchte beschwichtigend einzuwirken, und bald darauf ergab sich ein Gefeilsche um den Anteil. Belder trat unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Es war widerwärtig. Dann, nach einigen hitzigen Minuten, trat von Thralbeg mit gerötetem Gesicht und vor Aufregung schnaufend zu ihm und hielt ihm ein großes Schwert hin. Die Leute um sie herum schimpften und lamentierten noch immer. „Fünfzehn Prozent, wenn du es schaffst“ sagte er. „Du sollst fünfzehn Prozent bekommen ...“ „Zehn!“ schrie einer. „Mit fünfzehn wäre er ein reicher Mann ...!“ Belder, der riesige, muskelbepackte Kerl, duckte sich mit angeekeltem Gesichtsausdruck unter dem empörten Schrei des Mannes hinweg, als handle es sich um einen körperlichen
Angriff. Dann richtete er sich langsam wieder auf und nahm das Schwert. Er nickte von Thralbeg zu. „Ich werde es für meine Freiheit tun“, sagte er. „Euer heiliges Gold könnt ihr behalten.“ Damit ließ er sie stehen und trat langsam durch die Menge hindurch, die sich vor ihm teilte. Mit einer gewissen Befriedigung registrierte er, daß die Leute vor Überraschung verstummt waren. Offenbar war es eine Sensation hier in Sykand, wenn jemand kein Geld verlangte für das was er tat. Dann holte er Luft und konzentrierte sich auf das Schiff.
3
Untote
Schweigend lag die Dinia Tjerbus vor ihm. Das Wasser im Hafen war glatt wie ein Ententeich, und das untermalte noch den gespenstischen Eindruck, den das Schiff erzeugte. Das Licht der Fackeln lag hinter ihm, aber hier, an der Planke, die jemand von der Mole hinauf zum Oberdeck gelegt hatte, brannte Kohle in einem eisernen Faß, und ein halbes Dutzend unbenutzter Fackeln lag auf dem Boden. Wohl die Hinterlassenschaft von Yannis, der sich mit seinen Leuten an Bord gewagt hatte. Bevor Belder eine der Fackeln aufhob, um sie zu entzünden, lauschte er angestrengt. Aber er konnte nichts vernehmen. Die Menge der Leute, inzwischen schon fast einen Steinwurf von ihm entfernt, schwieg gebannt, und das war ihm nur recht. Doch er konnte von Bord des Schiffes nicht das kleinste Geräusch hören. Schließlich entzündete er eine Fackel, packte sein Schwert fester und schritt leise und langsam über die Planke hinauf zum Oberdeck. Als er den halben Weg hinauf war, fiel ihm auf, daß das Schiff überhaupt nicht festgemacht war. Es schien wie von einer geheimnisvollen Kraft zu seiner Pier gefunden zu haben, um dort fast reglos zu verharren. Das war geradezu beängstigend. Wieder lauschte er. Dann hörte er endlich doch etwas. Es war ein Poltern, tief aus dem Bauch des Schiffes, zwei Mal, drei Mal; dann ein leises Wimmern, kaum daß er es überhaupt hören konnte. Dann wieder Stille. Er blieb eine Weile stehen, vernahm aber nichts mehr. Schließlich zuckte er die Achseln und ging langsam weiter. Als er von der Planke aus aufs Oberdeck sehen konnte, fielen ihm vier leblose Körper auf, die in der Dunkelheit an
Stricken von der unteren Rah des Großmastes baumelten. Er hielt kurz inne und schluckte. Die Sache würde ernst werden, sehr ernst. Er blickte hinauf in die Dunkelheit, wo die Toten langsam hin und her schwangen. Er hatte er sie zuvor nicht gesehen; selbst jetzt konnte er nur ihre Umrisse erkennen, die sich vor dem violettschwarzen Nachthimmel abzeichneten. Die Rah war hoch, und die Stricke waren lang; Belder fragte sich, wer sich die Mühe gemacht hatte, sie so weit oben aufzuknüpfen. Es hätte andere Stellen an Oberdeck gegeben, die weniger schwer zu erreichen waren. Dann betrat er das Deck. Irgend etwas im hölzernen Gebälk des Schiffes knarzte, als es sich, unendlich langsam, ein kleines Stück zur Seite neigte und dann wieder zurückkam. Belder trat mit hoch erhobener Fackel ein Dutzend Schritte nach links und sah zu den Erhängten auf. Er kannte nur zwei von ihnen. Es waren Ole Jannek, der Kapitän, und Pjorek, sein Steuermann. Aber sie sahen eher aus, als wären sie verhungert. Jannek war immer ein stämmiger, wohlgenährter Mann gewesen, ein stets zu Scherzen aufgelegter, bäriger Kerl mit Muskeln wie Schiffstauen. Was hier aber hing, war nur ein Schatten dessen. Ein Jammer um ihn. Jannek war einer der wenigen Sykander gewesen, die noch etwas anderes als Geld im Sinn gehabt hatten. Belder seufzte angespannt und sah sich die drei anderen an. Ihre Füße baumelten auf Höhe seiner Schultern, und wenn er die Fackel hob, konnte er ihre Gesichter erkennen. Einer war ein Elf, aber er kannte ihn nicht, und auch den vierten hatte er noch nie gesehen. Eingefallene Gesichter, abgemagert und mit hervorquellenden Augen und Zungen. Ein Bild des Schreckens. Was war hier passiert? Sein Herz hatte dumpf zu pochen begonnen, und irgend etwas beschlich ihn - eine dunkle Vorahnung. Wenn tatsächlich
alle acht Leute der Stadtwache hier umgekommen waren, dann hatte er allen Grund, vorsichtig zu sein. Belder versuchte Überblick auf dem Oberdeck zu gewinnen. Mit der Fackel in der Hand war sein Sichtkreis nicht allzu weit, zudem blendete sie ihn. Mit ihr war er geradezu eine Einladung für jeden Widersacher, der in der Dunkelheit lauerte. Er wäre sie am liebsten losgewesen, denn er hatte gelernt, sich die Dunkelheit zum Verbündeten zu machen. Aber hier auf Deck war das unmöglich. Wahrscheinlich mußte er in den Bauch des Schiffes hinab, und wenn er dort kein Licht hatte, stand er ziemlich sicher in völliger Finsternis. Vorsichtig bewegte er sich zur Mitte des Oberdecks, hielt die Fackel in die Höhe und versuchte möglichst viele Einzelheiten zu erkennen. Dann sah er seitlich auf dem Deck, hinter dem Aufbau der Frachtluke, zwei Paar Beine hervorschauen - von liegenden Personen! Er bahnte sich rasch einen Weg zwischen den Decksaufbauten hindurch und stand bald vor dem, was er vermutet und befürchtet hatte. Er stöhnte leise auf. Es waren Fred und Olgar, zwei Männer der Stadtwache. Reglos und ein Anblick des Schreckens. Belder kniete sich zu ihnen hin. Fred hatte ihm öfters das Essen gebracht, und nun lag er mit eingeschlagenem Schädel hier. Belder hatte ihn nicht besonders leiden können, aber daß er nun tot auf dem Deck dieses Schiffes lag, tat ihm dennoch leid. Er legte sein Schwert kurz ab, um nach Freds Hand zu fühlen. Kein Puls, aber sie war noch warm. Er konnte noch nicht lange tot sein. Olgar, der andere, hatte eine tiefe, häßliche Wunde auf der Brust, und sein linker Unterarm war abgetrennt. Unter ihm befand sich eine ziemlich große Blutlache. Auch er war tot. Und auch um ihn war es ein Jammer - wie um alle anderen, die noch kommen mochten. Belder wußte, es würden noch mehr sein. Er hatte im Krieg bei der Armee den Wert einzelner Leute zu schätzen gelernt, selbst jener, die nicht zu seinen Freunden zählten. Standen sie im Kampf, dann waren es jeden Abend,
wenn sie sich wieder zurückzogen, ein paar Gesichter weniger. Ein paar, die einem sonst immer ein erschöpftes Lächeln zugeworfen hatten, einem eine ruhige Nacht wünschten oder mit einem noch für länger am Feuer saßen und von ihren Mädchen oder einfach nur dumme Witze erzählten. Wie viele dieser Schicksale hatte Belder miterlebt! Und immer hatte es die anderen erwischt, niemals ihn. Er hatte die ganze Zeit über nicht einmal eine schwerere Verletzung abgekriegt. Sein Glück war geradezu sprichwörtlich gewesen, obwohl es schlicht und einfach auch daran gelegen hatte, daß er gut war. Er hatte nicht viele Gegner getroffen, die über eine Statur verfügten wie er, und selbst wenn, dann war selten einer unter ihnen gewesen, der es mit ihm aufnehmen konnte. So war er immer und immer wieder aus der Schlacht zurückgekehrt, hatte seinen Aufstieg in der Armee gemacht, ohne je ein wirklicher Sieger zu sein. Nur einmal, da war er ganz alleine zurückgekommen, müde und abgekämpft zwar, aber ohne größere Verletzungen. Sie hatten vor einer Übermacht fliehen müssen, und er allein hatte es überlebt. Da hatten sich seine Gegner und Neider zusammengerottet, ihn der Feigheit und der Flucht vor dem Feind unter Zurücklassung der Kameraden bezichtigt und es tatsächlich so weit gebracht, daß er unter Anklage gestellt und dann unehrenhaft aus der Armee gefeuert worden war. Ausgerechnet er - als Feigling! Damals war er wütend genug gewesen, es mit all den Kerlen gleichzeitig aufnehmen zu wollen, die ihm das angehängt hatten. Belder schnaufte und blickte auf. Kein vernünftiger Ort hier, um sich auf alte Geschichten zu besinnen. Er nahm sein Schwert wieder in die Hand und erhob sich. Irgendwo mußte derjenige stecken, der diese beiden Jungs auf dem Gewissen hatte. Oder ... dasjenige! Als er sich umwandte, sah er eine Bewegung. Blitzschnell ging er in Angriffshaltung, die Fackel hoch erhoben, das Schwert zum Hieb bereit - aber dann entspannte er sich.
„Yannis!“ Belder ließ sein Schwert erleichtert sinken. „Was für ein Glück. Ich dachte schon, du wärest...“ Yannis achtete überhaupt nicht auf das, was Belder sagte, und stampfte nur weiterhin auf ihn zu. Mit seltsam schleppenden Schritten. Belder stutzte. Irgendein seltsamer Geruch hing plötzlich in der Luft. Von einem Moment auf den anderen spannte sich sein gesamter Körper an. Dann plötzlich hatte Yannis seinen rechten Arm erhoben, seltsam steif, und irgendwas glänzte an seiner Spitze - nein, noch weiter oben. Belder starrte verblüfft hinauf, wußte einfach nicht, was da war, und dann war es nur einer seiner lang erprobten Reflexe, der ihm das Leben rettete. Der Arm sauste herab, und plötzlich sah Belder im Licht seiner Fackel das Blatt einer scheußlich riesigen Axt; einer Streitaxt, wie sie Yannis normalerweise gar nicht hätte heben können, jedenfalls nicht so, wie er es in diesem Moment tat. Augenblicke später zischte sie in einem Schwung über ihn hinweg, und erst im darauffolgenden Moment merkte er, daß er am Boden lag; er hatte sich instinktiv fallen lassen. Seine nächste Bewegung war ebenso reflexhaft. Er sprang wieder auf die Füße und zog sein Schwert aus der Position, in der es sich gerade befand, einfach durch, in einem weiten Schwung von links unten nach rechts oben, mit einer Gewichtsverlagerung nach vorn und dabei einer Dreiviertel Körperdrehung. Als Soldat hatte er gelernt, aus jeder Körperhaltung heraus den bestmöglichen Angriffshieb blitzschnell durchführen zu können. Als er wieder herum war, sackte Yannis gerade vor ihm zusammen. Er hatte ihn beinahe in zwei Hälften zerteilt. Vor lauter Aufregung heftig keuchend starrte Belder den Wachkommandanten an, der gerade vor ihm auf die Knie gefallen war, dann weiter zusammenknickte, während die Kampfaxt zu Boden polterte. Kein Blut. Nur ein abgründiges
Grunzen von einem Yannis, der jetzt, nach einigen weiteren Blicken, sich als ein zusammengefallenes, verschrumpeltes Etwas offenbarte. Rumms. Dann lag er reglos da. Belder ächzte. Untoter - klang es in seinem Kopf; er hatte noch nie einen gesehen. Yannis mußte sich in einen Untoten, einen Zombie, verwandelt haben, das war die einzige Erklärung für sein abartiges Aussehen und für seinen Angriff gegen Belder. Belder hatte eine Fackel getragen, und Yannis hätte ihn erkennen müssen - wäre es noch der Yannis von einst gewesen. Belder stieß mit dem Fuß nach dem leblosen Körper, so als könnte ihm das die Bestätigung seiner Vermutung liefern. Seltsamerweise schien sich Yannis dabei zu bewegen. Belder sprang erschrocken zurück, und als die Kreatur da vor ihm plötzlich ihren häßlichen Kopf hob, stieß Belder einen Schrei des Entsetzens aus. Bei Efferd - schoß es durch seinen Kopf -, ich Idiot! Heißt es nicht, daß man Untote gar nicht umbringen kann? Er wich entsetzt ein paar weitere Schritt zurück, als sich Yannis weiter erhob, bis er schließlich wieder ganz stand. Die Fackel, die zu Boden gefallen war, beleuchtete nun seinen grotesken Körper von der Seite, und es war ein Anblick, bei dem man sich hätte übergeben können. Der Schnitt, der über seine gesamte obere Körperhälfte lief, an der linken Hüfte beginnend und bis zur rechten Schulter reichend, war so tief, daß kein Wesen dieser Welt damit wieder hätte aufstehen dürfen. Aber wie gesagt - da war kein Blut. Und genau so, als gäbe es diesen Schnitt gar nicht, stampfte der Untote nun wieder auf Belder zu. Mit seinem seltsam schleppenden Schritt, und der Gestank, den er verbreitete, schien sich vervielfacht zu haben; ein Gestank nach Fäulnis und Verwesung, der aus der Öffnung in seinem Oberkörper drang. Belder würgte.
Verflucht! dachte er, während er weiter zurückwich. Wie kriege ich dieses Monstrum tot? Seine Gedanken rasten. Er sah sich um, kam auf die Idee, diesen nicht mehr wirklich lebenden Yannis einfach ins Wasser zu stoßen - mit seinen ungelenken Bewegungen würde er sicher arg zu kämpfen haben, sich über Wasser zu halten. Allerdings ... umbringen würde ihn das wohl kaum, selbst wenn er versank. Irgendwo, und wäre es auch Meilen entfernt von hier, würde er wieder an Land wanken, um aufs Neue Angst und Schrecken zu verbreiten. Dennoch erschien es Belder als eine gangbare Möglichkeit, jedenfalls für den Moment. Während er weiter zurückwich, maß er die Entfernung zur Reling ab und überlegte, wie er es anstellen mußte, den Untoten so weit dorthin zu locken, daß er ihn mit einem kräftigen Tritt über Bord befördern konnte. Da sah er es. Es waren noch mehr, und er sah es keine Sekunde zu früh. Wieder schalt er sich einen Narren, einen hohlköpfigen Idioten, daß er so blauäugig hier umhertappte. Natürlich mußte es noch mehr von ihnen geben - wenn Yannis einer geworden war, warum dann nicht auch der Rest der Soldaten oder der Besatzung? Nein, korrigierte er sich, Fred und Olgar waren keine geworden, und offenbar auch die vier nicht, die dort an den Stricken baumelten. Aber was hieß das schon? Er wich mit erhobenem Schwert nach links davon, in Richtung der Backbord-Reling. Dort schien sich keines der widerwärtigen Monstren zu befinden, und außerdem hatte er dort mehr Platz, sich zu bewegen. Im nächsten Moment bedauerte er es schon wieder, denn er hatte sich von der rettenden Planke hinab zur Pier entfernt. Er stieß einen leisen Fluch aus. Die Fackel lag sechs oder sieben Schritt entfernt am Boden und verbreitete einen gelblich-flackernden Schein über das
Deck, auf dem sich nun fünf oder sechs Untote versammelt hatten und grunzend in seine Richtung tappten. Sie verbreiteten einen so ekelhaften Gestank, daß ihm ständig der Brechreiz in den Eingeweiden rumorte. Verflucht, was sollte er nur tun? Selbst wenn er sie in Stücke schlug, wären sie eine Minute später wieder auf den Beinen, um ihn erneut anzugreifen. Würde er selbst ein Zombie werden, wenn sie ihn berührten? Mit wild pochendem Herzen versuchte er alles an Erinnerungen hervorzuholen, was er je über Untote gehört hatte. Und das war herzlich wenig. Aber dann blieb ihm keine Zeit mehr. Das erste Monstrum stürzte heran, und trotz seiner vermeintlich ungelenken Art war das Drecksbiest verblüffend schnell. Belder zog sein Schwert wieder durch, traf den Untoten voll am rechten Arm. Das Biest wurde zurückgeschleudert, krachte drei Schritt entfernt gegen den Handlauf des Achterdeckniedergangs und brach dort zusammen. Sein rechter Arm war zuvor in hohem Bogen davongeflogen, in der Dunkelheit verschwunden, und Belder vernahm nun ein Aufklatschen im Wasser. Immerhin, dachte er spöttisch, dieser Arm konnte ihm nichts mehr anhaben. Wie er erwartet hatte, rührte sich der getroffene Untote aber schon wieder. Vielleicht verbesserte Belder seine Chancen, indem er ihnen, Stück um Stück, die Arme und Beine abschlug. Die Köpfe! Ja, verdammt - das war es! Die verfluchten Köpfe mußte man ihnen herunterschlagen, hatte das nicht mal einer gesagt? Belder konnte sich nicht genau erinnern, aber es erschien ihm logisch. Da kam Yannis schon wieder auf ihn zu und von links noch einer - beim Namenlosen, es war Pit! Belders Magen drehte sich herum. Pit war einer der wenigen in Sykand gewesen, mit
dem Belder sich einigermaßen gut verstanden hatte; ein ruhiger junger Mann, der als Hilfsarbeiter beim Kupferschmied das Abfallmetall einsammelte, um es dann erneut einzuschmelzen. Pit war allezeit in Linchen verliebt gewesen, ein überaus hübsches Mädchen, auf die er aber im Leben keine Chance gehabt hätte. Sie war die älteste Tochter von Jachoch, diesem großkotzigen Affen. Belder ließ sein Schwert ein Stück sinken. „Pit!“ rief er entsetzt. „Bei den Zwölfen - Pit! Ich bin's, Belder! Erkennst du mich nicht?“ Pits Antwort waren ein kehliges Knurren und ein Angriff, der wahrlich nicht gedacht war, um Belder seiner Wertschätzung zu versichern. Belder wich mit Mühe dem Hieb der verkrümmten Klaue aus, und da wußte er plötzlich, was einen ebenfalls zum Zombie machte. Ein Biß dieser Bestien ihr untotes Leichengift! Pits Hieb ging ins Leere, er stolperte an Belder vorbei, krachte zu Boden und rappelte sich, um Orientierung kämpfend, wieder hoch. Belder stand neben ihm, den Tränen nahe, und schüttelte vor Abscheu und Verzweiflung den Kopf. Dann zog er sein Schwert durch, und der Kopf von Pit ... nein, der Kopf des Untoten flog in ebenso hohem Bogen davon, wie eben der Arm des anderen, und klatschte irgendwo ins Wasser. Pit brach augenblicklich zusammen und rührte sich nicht mehr. Belder hatte sich fast zuviel Zeit gelassen. Ein Knüppel traf ihn an der rechten Schulter, und ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn und machte ihn endgültig wach. Er fing sich wieder, fuhr herum und spürte nun plötzlich die wütende Entschlossenheit, diese Bestien auszulöschen, und mochten es auch Yannis, Linchen oder gar seine eigene Mutter sein. Nein, das waren keine Menschen mehr, sie waren längst tot; es waren nur noch häßliche Monstren, die sich fremder Körper bemächtigt hatten.
Belder holte aus und ließ sein Schwert in Richtung von Yannis' Kopf pfeifen, aber der Kerl duckte sich, der Hieb ging ins Leere. Aber Belder war ein geübter Kämpfer. Routiniert glich er seine Bewegung, die keinen Widerstand gefunden hatte, mit einem Schritt aus und tänzelte nach links davon. Da kam schon der nächste der Untoten und gleich hinter ihm noch einer. Belder zog wieder durch, traf einen von ihnen am Bein und den anderen an seiner Klaue; die Wirkung war jedoch bescheiden. Bewegung, dachte er, ich muß in Bewegung bleiben. Wenn sie mich zu fassen kriegen, ist es aus. Er ließ sich mit einer Vorwärtsrolle durch sie hindurch fallen und zog mit dem Aufstehen wieder durch - eine seiner Lieblingsattacken, die er unzählige Male erfolgreich durchgeführt hatte. Und er traf - abermals flog ein abgetrennter Unterarm davon. Dann aber, als er wieder stand, sah er, daß er seine Taktik ändern mußte. Untote schienen keinerlei Selbsterhaltungstrieb zu besitzen, sie griffen völlig deckungslos und unvermittelt an. Es war ihnen egal, ob sie getroffen wurden - sie kannten nur ihren Blutrausch. Belder kugelte wieder davon, kam auf die Füße und stürmte den rechten Niedergang zum Achterdeck hinauf. Für Sekunden war er in Sicherheit. Schnaufend und gebückt stand er da oben und hörte hinter sich die überraschten Rufe der Leute von der Hafenmole, die ihn hier oben offenbar sehen konnten. Da kam schon der erste Untote den Niedergang herauf, und Belder ließ sein Schwert in seine Richtung sausen - aber der Kerl duckte sich. Sie sind sich dessen bewußt, daß sie ihren Kopf brauchen, dachte er. Und da sah er auch schon, daß sich zwei von ihnen nach dem linken Niedergang gewandt hatten, um ihn dort herum erreichen zu können. Diese Bestien waren doch nicht so blöd, wie er gedacht und auch gehofft hatte.
Es war über ein Jahr her, daß er zuletzt richtig mit dem Schwert gekämpft hatte, und er spürte, daß er aus der Übung war. Sein Atem war nicht so ruhig wie früher, sein Herz nicht so gelassen und sein Kopf nicht so frei. Einer Eingebung folgend, brach er nach links aus und fiel über die zwei anderen her, die gerade den anderen Niedergang heraufkamen. Er setzte eine Finte auf den Körper des ersten, erzwang damit eine instinktive Ausweichreaktion, und zog sein Schwert statt dessen in einem Bogen herum auf den Kopf des Untoten. Er traf - allerdings nicht sauber. Er schnitt den Kopf oberhalb des Unterkiefers in zwei Teile, ein häßliches Geräusch war das - wie als wenn ein mürber Stoff zerriß. Staub wallte auf, und das nahm Belder die letzten Skrupel. Das hier waren wirklich keine Menschen mehr. Sein Treffer schien indes zu genügen; der Untote wankte zur Seite und brach schließlich zusammen. Es war dunkel hier oben auf dem Achterdeck. Belder bemühte sich, den Überblick zu behalten. Es waren jetzt noch vier, die ihm ans Leder wollten. Der mit dem abgeschnittenen Arm stampfte vor ihm gerade den Niedergang herauf, und Yannis - oder das, was er nun war - hatte eben auf der anderen Seite das Achterdeck erreicht und kam nun beängstigend schnell auf ihn zu. Plötzlich sah er die Klaue des Einarmigen auf sich zufliegen und konnte gerade noch schnell sein Schwert hochreißen. Der Arm der Kreatur prallte darauf und wurde oberhalb des Ellbogens entzweigeschnitten. Belder setzte dem Untoten den Fuß auf die Brust und stieß ihn mit einem kräftigen Tritt in die Dunkelheit. Das Monstrum ruderte mit dem verbliebenen Armstummel und polterte rückwärts den Niedergang hinab. Belder fuhr wieder herum, und da stand der Yannis-Untote vor ihm. Er hätte schwören mögen, daß er ein erzgemeines Grinsen in seiner abscheulichen Visage trug. Wie eine heiße
Welle schwappte abgründiger Zorn Belders Kehle herauf. Das hatte er zuletzt gespürt, als er einem Kriegsoger der Orks gegenübergestanden hatte, damals bei der Schlacht auf dem Krähenfeld, an der Grenze zu den Orklanden. Belder grunzte, machte eine Ausfallbewegung nach links und stieß dann das Schwert direkt nach vorn. Er durchbohrte Yannis genau in der Mitte die Brust, aber das gemeine Grinsen blieb. Dann sauste plötzlich die Kampfaxt durch die Dunkelheit herab, und Belder brüllte vor Wut und Überraschung auf. Er konnte sich nur retten, indem er das Schwert mitsamt Yannis wieder zu sich heranzog, sich dabei in seine Deckung rollte und sich gleichzeitig auf Yannis fallen ließ. Die Axt zischte vorbei, entriß sich vor Wucht Yannis' Hand und verschwand in der Dunkelheit. Belder polterte zusammen mit dem einstmaligen Wachhauptmann zu Boden und riß gleich noch den dahinter stehenden Untoten mit sich nieder. Als sie auf dem Boden aufkamen, wäre Belder beinahe mit seinem Gesicht mitten in die stinkende und vor Fäulnis nasse Wunde auf Yannis' Brust eingetaucht. Spotzend und würgend rollte er sich zur Seite, so als wäre es tatsächlich geschehen allein der Gestank war für diese eine Sekunde unerträglich und tödlich erstickend gewesen. Um sein Bewußtsein ringend, versuchte Belder sich wieder hochzukämpfen, aber in diesem Moment schloß sich die Klaue eines der Wesen um sein Fußgelenk. Belder heulte auf- diese Kreaturen waren mehr als einen Kopf kleiner als er, aber der Griff war wie der eines Schraubstocks. Instinktiv trat er mit dem Absatz seines anderen Stiefels so fest er konnte in die Richtung, in der er seinen Widersacher vermutete - und traf. Abermals war es ein häßliches Geräusch, diesmal wie von berstendem, verrottetem Holz, aber der Griff lockerte sich nur wenig. Belder trat noch einmal zu, dann noch mal und noch
mal. Immer härter und schneller folgten seine Tritte, mit wachsender Wut und Abscheu. Endlich wurde der Griff schwächer; schließlich fiel die ganze Hand von ihm ab. Er sprang wieder auf die Füße, gänzlich unbewaffnet, und sah sich den zwei verbliebenen Untoten gegenüber. Es waren Yannis und ein weiterer, dem er zuvor die Hand abgehackt hatte. Der dritte lag reglos am Boden, sein Schädel war offenbar von Belders Fußtritten so arg zerschmettert, daß es einem Abtrennen gleichkam. Belder keuchte. Dann sah er, daß sein Schwert aus Yannis' Bauch herausragte, und die Bestie grinste noch immer. Belder hatte nie Vergnügen am Töten empfunden, er hatte es immer getan, weil er für etwas gekämpft hatte, an das er glaubte. Obwohl ihm dieser Glaube in den letzten Jahren immer mehr abhanden gekommen war. Im Moment aber hatte er richtig Lust, diese Bestie von Yannis da vor ihm in kleine Stücke zu hauen. Aber wie? Er besaß keine Waffe mehr, und wenn er Yannis das Schwert aus dem Leib reißen wollte, hätte er sich ihm ziemlich weit nähern müssen. Er fürchtete die Klauen oder den Biß dieser Kreaturen - lieber wollte er dem Namenlosen ewige Treue schwören als so zu enden wie sie. Dann griffen Yannis und der Einhändige schon wieder an, und Belder blieb nichts übrig, als sich mit bloßen Fäusten zu wehren. Das zeigte erstaunlich viel Wirkung, denn er war seinen beiden Gegnern darin deutlich überlegen. Dennoch - die Wirkung war nur von kurzer Dauer, und er mußte sich den beiden Untoten mehr nähern, als ihm lieb war. In der Hoffnung, Yannis ebenfalls den Schädel so zerschmettern zu können wie dem anderen, hieb er ihm die Fäuste so oft gegen Stirn und Schläfe, bis sie zu bluten begannen. Dann zuckte er entsetzt zurück; möglicherweise genügte eine
von Leichengift infizierte Wunde, um ebenso zu werden wie sie. Belder sprang davon und fiel sofort zu Boden - er war über etwas gestolpert. Als er sich abrollte und an die Stelle zurückblickte, sah er, daß es die Streitaxt war. Ein grotesk riesiges Ding, eher für einen Oger als für einen Menschen gemacht. Aber Belder wußte, daß er stark war. Stärker als die meisten. Und im Moment hatte er Wut im Bauch - fürchterliche Wut. Er stürzte auf die Axt los, wuchtete sich mit ihr in die Höhe und ließ sie in weitem Bogen herumfahren. Er traf alle beide. Sie wurden von der Wucht der Streitaxt zurückgeschleudert und stürzten, und es war ein Glück für Belder, denn diese Waffe konnte man nicht effektiv einsetzen. Aber er erkannte seine Chance. Für Momente waren die beiden Untoten durch die Verletzungen, die sie durch den Axtschwung abbekommen hatten, behindert und abgelenkt. Er aber stand noch. Was er tat, war schnelles, entschlossenes und grausiges Handwerk. Bevor sie noch die Gelegenheit hatten, sich wieder aufzurappeln und zu orientieren, trat er einen nach dem anderen mit den Füßen nieder, zielte kurz und sorgfältig und schlug ihnen mit zwei mächtigen Axtstreichen die verfaulten Schädel herunter. Dann war Ruhe. Belder stand schwer atmend da und ließ die Axt fallen. Allein sie zu halten war eine unbequeme Last. Drüben auf der Mole riefen die Leute, und er hob kurz die Hand, um zu signalisieren, daß er noch lebte. Uff. Ein hartes Stück Arbeit, aber lösbar. Diese Zombies waren als einzelne Gegner nicht allzu stark, vorausgesetzt, man war selbst ein erfahrener und
entschlossener Kämpfer. Yannis, Ingram und die anderen waren womöglich ihre Opfer geworden, weil es ihnen daran mangelte. Man mußte vermeiden, zu vielen von ihnen gleichzeitig gegenüber zu stehen, und man mußte wissen, wie man sie umbringen konnte. Und anfangs brauchte man natürlich ein bißchen Glück im Kampf, um dahinter zu kommen. Belder hatte es wieder einmal gehabt. Belder, der Feigling! So hatten sie ihn früher immer schon genannt, als er als Kind hier in Sykand lebte. Feigling. Nein, das war er nie gewesen im Gegenteil. Aber ein Feigling, so hatte er in seinem Leben gelernt, wird man nicht durch die Abwesenheit von Mut, sondern dann, wenn man es nicht beherrschte, großkotzig daherzureden, wenn die Stunde günstig war, und sich zu verpissen, wenn man ohnehin nicht gewinnen konnte. Pit hatte Linchen mal das Leben gerettet, da waren sie alle noch Kinder gewesen. Und es war nur ein Handgriff gewesen, ein kleiner Handgriff, mit dem er sie aus dem Bach gezogen hatte, als das dünne Eis unter ihr nachgegeben hatte. Hätte er nicht diesen Moment plötzlichen Mutes aufgebracht, hätte sie versinken können. Sie hätte vielleicht an dieser einen kleinen Stelle im Bach, wo es etwas tiefer war, unter das Eis rutschen und ertrinken können. Aber Pit hatte einen mutigen Schritt aufs Eis gemacht, ihr die Hand ausgestreckt, und alles war gut gewesen. Der arme Kerl! Er hatte sich nie damit gebrüstet - war nicht einmal auf die Idee gekommen, das zu seinem Ruhm auszuschlachten. Die anderen hatten dann Linchen mit viel Geschrei schnell nach Hause geschafft, und alles war sehr glimpflich abgegangen. Am nächsten Tag hatte sie schon wieder mit ihnen gespielt - aber immerhin: An ihren dankbaren Blicken, die sie Pit hin und wieder zuwarf, hatte Belder schon damals erkannt, daß sie insgeheim wußte, daß er ihr wohl das Leben gerettet hatte. Pit war immer ein bescheidener Junge
gewesen und dazu meilenweit vom gesellschaftlichen Stand der Jachochs entfernt. Die Kluft zu Linchen war einfach zu groß gewesen, als daß er sie hätte überbrücken können. Mit einer waschechten, heldenhaften Lebensrettung vielleicht, aber das hatte er ja irgendwie nie getan. Sein Maul war nicht groß genug dafür gewesen. Und jetzt hatte Belder ihn umgebracht. Er schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Nein, hatte er nicht. Er hatte einem Zombie, wie man wohl sagte, den Garaus gemacht. Pit war bereits tot gewesen. Trotzdem. Belder fragte sich, ob er das jemals so würde sehen können. Wenn es in diesem verfluchten Sykand einen gab, der das nicht verdient hatte, dann war es Pit gewesen. Verdammter Mist! Belder holte tief Luft und wandte sich dem Niedergang zu. Als er unten auf dem Oberdeck anlangte, kam ihm der Untote mit seinem rudernden Armstumpf entgegen. Belder beförderte ihn mit einem Tritt gegen den Achterdecksaufbau, bückte sich dann nach dem Schwert und machte kurz und präzise Schluß mit dem Monstrum. Inzwischen fühlte er sich von diesen Biestern nicht mehr allzu bedroht. Er spürte wieder die alte Sicherheit in den Knochen, er war von ihnen nicht mehr zu überraschen, und wenn er sich vorsah, um nicht wieder zwischen sechs von ihnen zu geraten, dann würde ihm vermutlich nicht viel passieren. Er schnaufte und sah sich um. Nein, das war genau die falsche Haltung. Mit übergroßer Selbstsicherheit und dem daraus resultierenden Mangel an Vorsicht stand man schnell doch wieder mit einem Bein im Grab. Vielleicht war ja das der Fehler von Yannis oder den anderen gewesen. Vielleicht hatten sie die ersten Untoten ebenfalls besiegt, waren dann aber zu selbstsicher geworden. Belder war sicher, daß es hier noch mehr geben mußte. Die
gesamte Besatzung der Dinia Tjerbus konnte noch dort unten lauern! Das mußten an die dreißig Mann gewesen sein, oder mehr. In den Moment der Stille stach plötzlich wieder dieses Poltern aus dem Bauch des Schiffes - und danach das leise Wimmern. Belder packte sein Schwert wieder fester, hob die Fackel auf und suchte mit Blicken nach dem Niedergang ins Schiffsinnere.
4
Der Dämon
Einen schmalen Niedergang mit einer Fackel in der einen Hand und dem Schwert in der anderen hinabzusteigen war weder eine leichte noch eine angenehme Sache. Sein Schwert war ein bißchen zu lang; hier in der Enge des ersten Längsganges würde er sich damit nicht gut zur Wehr setzen können. Aber der Gang war zum Glück nur kurz. Er führte links nach Vorschiffs und rechts nach achtern und mündete an beiden Enden in größere Decks. Ein seltsamer Schiffsaufbau. Belder wandte sich zuerst nach achtern. Die Fackel rußte gehörig, Er duckte sich unter dem Qualm hinweg und betrat dann über drei weitere abwärts führende Stufen das Mannschaftsdeck, das unterhalb des Achterdecks und der Kapitänskajüte liegen mußte. Richtig - die hatte er noch gar nicht untersucht. Was er fand, waren etwa zehn Leichen. Gräßlich verstümmelt, auseinandergerissen, und das ganze Deck wie von einer kurzen, heftigen Feuersbrunst ausgeglüht. Keine der Hängematten hing noch an ihrem Platz, nur noch verkohlte Seilenden hingen von den Haken an der Decke und von den Stützbalken. Belder fand nichts mehr, was man als ein verwertbares Stück Eigentum eines Seemanns hätte bezeichnen können. Ein paar Fässer, verkohlte Seekisten, Taue und dazwischen die Toten. Belder sah sie sich an und stellte fest, daß die Hälfte von ihnen Untote gewesen sein mußten, allerdings besaß keiner von ihnen einen Kopf. Wer hier zuvor einen tödlichen Kampf ausgefochten hatte, mußte gewußt haben, wie man diese Bestien umbringt. Aber was war die Ursache dieses Feuers gewesen - und wie war es wieder erloschen?
Sein eben noch gewonnener Mut zerrann ihm zwischen den Fingern wie trockener Sand. Wer hatte gesagt, daß eine Handvoll Untote das einzige war, was dieses Schiff an Überraschungen zu bieten hatte? Mit klopfendem Herzen und wieder steigender Wachsamkeit erforschte er diesen Decksraum. Immer zuerst sichern, betete er sich die alte Kampfregel vor. Halt dir den Rücken frei und sieh zu, daß du erst weitermachst, wenn du sicher bist, daß hinter dir kein Gegner mehr ist. Dann war er durch und konnte mit einer gewissen Erleichterung die Feststellung treffen, daß es hier, in diesem Deck, keine lebende und auch keine untote Seele mehr gab. Untote Seele? Hatten diese Monstren eine? Nein, wahrscheinlich nicht. Obwohl es schwer vorstellbar erschien, daß sich irgendwas, das keine Seele mehr besaß, von selber auf der Welt bewegen und handeln konnte. Dann hörte Belder Schritte. Er wandte sich um, warf die Fackel nach links vorne von sich und begab sich in Verteidigungshaltung. Augenblicke später erschienen an der kurzen Treppe, die nach oben in den Mittelgang mündete, zwei Gestalten. Na fein, dachte Belder. Es waren nur zwei weitere Zombies, und das erleichterte Belder fast. Er maß den Raum mit Blicken und trat ein paar Schritte nach rechts, wo er zwischen den Decksbalken mehr Freiraum für sein Schwert hatte. Die beiden Kreaturen zögerten einen Moment, dann kamen sie herabgestampft und griffen an. Leider waren sie bewaffnet. Der eine schwang eine sehenswerte Keule, der andere legte gerade einen Pfeil auf einen Bogen. Belder schnappte nach Luft. Untote konnten schießen? Gut. Er konnte auch was tun, nämlich sofort handeln. Wieder einmal hechtete er in einer Rolle nach vorn, riß dabei
den Knüppel-Zombie um und stand schon wieder auf den Füßen, ehe der andere bereit war, seinen ersten Pfeil abzuschicken. Belder zog sofort durch, zwei, drei entschlossene und mit aller Kraft geführte Schwertstreiche, und das Wesen vor ihm klappte zusammen. Mit einem vierten Hieb zerschmetterte er den Kopf der Kreatur und fuhr noch im selben Augenblick herum, um den anderen niederzumachen. Es war fast zu leicht. War er wirklich so gut? So gut, daß er diese Bestien der Reihe nach niedermähen konnte, wo doch zuvor acht wackere Männer hier ihr Leben gelassen hatten? Er fuhr herum und starrte in den Mittelgang. Nein, dachte er, hier wartete noch etwas anderes. Er konnte es förmlich spüren. Es mochte sogar sein, daß Yannis und die anderen ebenfalls kein allzu großes Problem mit den Zombies gehabt hatten. Die vier oder fünf enthaupteten Biester in diesem Deck deuteten darauf hin. Aber schließlich mußte ihnen doch etwas begegnet sein, das eine Nummer zu groß für sie gewesen war. Für acht Männer! Plötzlich fühlte Belder sich verdammt elend. Er hatte keine Lust zu sterben. Jetzt erst, in diesem Moment, wurde ihm klar, was das für eine Streitmacht war - acht Leute von der Stadtwache! Auch wenn es sich um einen vergleichsweise schlecht ausgebildeten Haufen handelte. Immerhin acht Leute, die gelernt hatten, mit Schwertern umzugehen und sich in einem Kampf diszipliniert zu verhalten! Da unten, im Bauch dieses verfluchten Kahns, mußte irgendwas beschissen Großes und Böses lauern! Er überlegte, ob er wieder zurückgehen sollte. Er könnte wieder in seine verdammte Zelle marschieren und ihnen sagen, sie sollten sich selbst in Stücke reißen lassen. Er könnte ... Da hörte er es wieder.
Dieses Poltern und die leisen, wie um Hilfe wimmernden Geräusche. Lebte hier etwa noch jemand? Belder dachte an Pit, der den riskanten Schritt auf brüchiges Eis gewagt hatte, um jemandem das Leben zu retten. Nun, er selbst hatte auch schon Leuten das Leben gerettet - mehr als einmal. Seinen Kameraden, damals im Kampf. Aber das war selbstverständlich gewesen. Er hätte es von seinen Mitkämpfern ebenfalls erwartet. Aber hier - hier steckte irgendwer in der Klemme. Irgendwer, der keine Chance hatte, wenn man ihm nicht half. Das konnte er irgendwie hören. Belder schnaufte. Er hatte Pit den Kopf heruntergehauen, und er dachte nun, er wäre es ihm schuldig nachzusehen. Keine allzu logische Folgerung, aber egal. Es war einfach ein Gefühl, das er hatte. Er hob die Fackel wieder auf und marschierte los. Der Mittelgang führte in einen Quergang, in dem es an den Steuer- und backbordseitigen Enden je zwei Durchgänge gab. Einen nach achtern und einen nach Vorschiffs. Belder wandte sich nach Steuerbord und wollte dort zuerst den nach achtern weisenden Durchgang erforschen. Da sah er aber schon, daß er sein vorläufiges Ziel erreicht hatte. Aus dem Durchgang, der nach Vorschiffs führte - ohne Zweifel lag dort ein großes Frachtdeck -, drang Licht zu ihm. Seltsam gelbes, ja fast goldenes Licht. Er verlangsamte seine Schritte, drückte sich gegen die gegenüberliegende Wand und peilte um die Ecke. Ja, dort war ein großes Deck. Es reichte noch über einen Niedergang hinab, und von dort drang das Licht herauf. Belders Nackenhaare sträubten sich. Es war fast so etwas wie eine Anziehungskraft, das ihn langsam in den Durchgang schreiten ließ, und als er dann dort stand, in das Frachtdeck hinunterblickte und es sah, blieb ihm für einen Augenblick das Herz stehen.
Ein Dämon! Er hatte noch nie einen gesehen - eines dieser durch Zauberkraft herbeigerufenen teuflischen Wesen; aber ein Mensch, so dachte er später, ist wohl in der Lage, so etwas sofort zu erkennen. Auf den ersten Blick wußte er es, obwohl ihm gleichfalls in diesem Augenblick klar war, daß Dämonen keinesfalls stets gleich aussahen. Nein, vermutlich gab es keine zwei von ihnen, die sich glichen, jeder einzelne mußte etwas Einzigartiges sein. Und was ihn am meisten erschreckte war die Tatsache, daß er selbst in diesem Moment mehr Faszination als Furcht empfand. Seine Sinne, die Sinnes eines Kriegers, sagten ihm sofort, daß diese Faszination möglicherweise eine der wichtigsten Waffen der Kreatur waren. Damit hatte sie ihn bereits dazu gebracht, sich ziemlich offen und deckungslos hier in den Durchgang zu stellen. Der Dämon sah ihn, so wie er den Dämon sehen konnte, und Belder fühlte fast so etwas wie einen Befehl in seinem Kopf, sein Schwert und seine Fackel fallen zu lassen und auf das golden strahlende Wesen zuzugehen. Aber er widerstand. Nicht zuletzt deswegen, weil er sah, wie es jemandem erging, der nicht widerstehen konnte. Sechs oder sieben Tote lagen hier, überall in diesem breiten Frachtdeck, und ein halbes Dutzend Untote tappten dumpf und hohläugig umher. Wie von einem magnetischen Pol wurden sie von dem Dämonen in ihrer Mitte angezogen, prallten gegen ihn, wurden von einem lautlosen Blitz geschüttelt und dann wieder weggestoßen. Keiner der Zombies sah ihn oder griff ihn an. Die Gegenwart ihres Meisters schien sie vollends zu vereinnahmen. Der Dämon selbst war ein halb durchsichtiges, feingliedriges Wesen, dessen augenscheinlichste Eigenschaft darin zu bestehen schien, daß er hockte. Sitzend war er nicht allzu groß, kaum höher als Belder selbst. Er hatte lange, spinnenartig
geknickte Glieder; wie viele es waren und welche davon man als Arme oder Beine hätte bezeichnen müssen, vermochte Belder nicht zu sagen. Sein Kopf war dem eines Insekts ähnlich, vielleicht einer Ameise oder einer Gottesanbeterin; die Augen darin jedoch funkelten ihn unheimlich böse und zugleich auch intelligent an. Das Wesen verstrahlte einen hellgoldenen Glanz und bewegte sich leicht auf der Stelle, ohne jedoch aufzuspringen oder nach ihm greifen zu wollen. Belder hatte den Eindruck, daß der Dämon ihn mit zwei Sätzen hätte erreichen können. Und dann sah Belder, worauf er saß. Es war förmlich ein Hügel ausgeschütteten Goldes; der Inhalt einer großen, aufgebrochenen und umgeschütteten Truhe. Und zweifellos genau das, was Belder von hier hätte bergen sollen - das Gold der Bürger von Sykand. Er lachte leise auf. Die Dummheit der Soldaten war es gewesen, die sie getötet hatte. Oder besser noch - ihre Habgier, die einem echten Bürger von Sykand offenbar angeboren war. Diese Schwachköpfe hatten offenbar tatsächlich versucht, diesem Wesen den Schatz abjagen zu wollen. Hatten geglaubt, sie könnten es vielleicht mit ein paar Fackeln und Schwertstreichen in die Flucht treiben! Nun lagen sie da - oder tappten als Zombies durch das Schiff. Nein, das war blanke Idiotie. Man mußte kein erfahrener Krieger sein, kein großer Stratege, um zu sehen, daß es hier nichts zu holen gab. Warum dieses Wesen den Platz auf dem Berg von Gold so sehr schätzte, konnte Belder nicht sagen. Elstern und andere Vögel waren ja verrückt nach Glitzerkram, und man sagte auch, daß Drachen das Geschmeide über alles liebten. Und Menschen natürlich, haha - ja, die Menschen! Warum also nicht auch Dämonen?
Belder betrachtete fasziniert das Wesen und war sich seltsam sicher, daß er von hier wieder würde gehen dürfen, wenn er nicht auf die verrückte Idee kam, diesem Dämon seinen Hort abjagen zu wollen. In diesem Fall aber würde er keine Minute später hier ebenfalls tot auf dem Boden liegen oder als ein verfluchter Zombie sabbernd und grunzend durch die Gegend tappen. Nein, danke. Belder nickte dem Dämon lächelnd zu. „Viel Vergnügen, Kumpel!“ sagte er. „Bis irgendwann einmal!“ Damit trat er langsam zurück und wollte sich umdrehen. Aber da - verdammt! - hörte er es wieder! Dieses hilflose Wimmern und die Schläge. Das wird mich ins Grab bringen, dachte er, wußte aber gleichzeitig, daß ihn diese Erkenntnis nicht vernünftig machen wurde. Er blickte an dem Dämon vorbei das Steuerbord-Schanzkleid entlang und sah dort drüben, am anderen Ende des Frachtdecks, einen Durchgang, der noch weiter zum Bug führte. Von dort kamen die Geräusche. Würde es ihm gelingen, sich an dem Dämon vorbeizudrücken? Du darfst das Gold nicht ansehen, sagte er sich. Einfach das Gold keines Blickes würdigen, und er wird dich in Ruhe lassen! Belder marschierte gleich los. Er wartete gar nicht, bis seine Furcht zu groß wurde, denn Furcht war ein schlechter Begleiter. Und ein scharfes Raubtier konnte Furcht riechen und griff dann erst recht an. Belder legte die Fackel nieder, stieg dann mit sehr langsamen Bewegungen und mit ständig auf den Dämonen gerichteten Augen die wenigen Stufen in das Frachtdeck hinab. Die Bestie wiegte sich über dem Goldschatz hin und her und hatte ihn fest im Blick ihrer stechenden Augen.
„Ich will nur da rüber!“ sagte Belder lächelnd und deutete mit halb erhobenem Schwert in Richtung seines Zieles. Der Dämon stieß ein Fauchen aus. Belder zuckte zusammen und blieb reglos stehen. Was mache ich hier, ich Wahnsinniger? Dann bewegte er sich langsam weiter, wagte nicht, den Blick tiefer als auf Höhe seiner eigenen Augen zu senken. Er murmelte leise irgendwelche beruhigenden Sätze, so wie man ein wildes Tier zu besänftigen versucht, und konnte gar nicht glauben, daß sie zu wirken schienen. Der Dämon, der ihn inzwischen wohl mit einem Satz seiner langen Glieder hätte erreichen können, saß zischend und mit dem Körper hin und her wiegend auf seinem Hort, aber er tat nichts anderes, als ihn zu beobachten und hin und wieder ein warnendes Fauchen auszustoßen. Dann kam ein glotzäugiger Zombie auf Belder zugewankt, offenbar hatte er seine Wahrnehmungsschwelle überschritten. Mit einer heftig hochzuckenden Bewegung hieb er dem Biest seinen Schwertknauf in die blöde Visage. Der Zombie taumelte mit einem Grunzen zurück und krachte auf den Boden. Gleich darauf kam er wieder hoch, diesmal aber schien es ihn mehr nach einer Liebkosung seines Herrn zu verlangen. Er taumelte mit vorgestreckten Armen auf den Dämon zu. Dieser würdigte das untote Wesen keines Blickes - selbst als der Zombie gegen ihn stieß, von einem fast lautlosen, elektrisierenden Blitz durchgeschüttelt wurde und dann wieder zu Boden ging. Belder empfand bodenlose Abscheu vor diesen hirnlosen Kreaturen. Dann hatte er den Punkt der größten Nähe zu dem Dämon überschritten, versetzte einem weiteren daherwankenden Zombie einen kräftigen Tritt und hatte kurz darauf den Durchgang erreicht, zu dem er wollte. „Ich bin gleich wieder da!“ sagte er und winkte dem Dämon
lächelnd. „Lauf nicht weg, ja?“ Dann war er in dem Durchgang verschwunden, lehnte sich gleich darauf heftig schnaufend gegen die Wand und fragte sich kopfschüttelnd, welcher Wahnsinn ihn ritt, dies hier zu tun. Dann hörte er das Wummern wieder, diesmal sehr viel deutlicher; es kam aus der Dunkelheit vor ihm, und er versuchte sein Herzklopfen zu beruhigen und seine Augen wieder an die tintige Schwärze in dem Längsgang zu gewöhnen. Nach einer halben Minute konnte er sie ausmachen - es waren zwei Untote, die offenbar mit einem kurzen Balken oder einem Faß versuchten, eine verschlossene Tür aufzubrechen. Er befand sich nun weit vorn im Schiff; das da mußte ein Stauraum sein, irgendeine kleine Kammer, in der sich jemand verborgen hielt. Einen anderen Grund gab es wohl kaum für die Untoten, die Tür einrennen zu wollen. Er hoffte, daß es wirklich so war - daß sich dort vielleicht noch einer oder mehrere überlebende Seeleute verrammelt hatten und daß er dafür belohnt wurde, sich in diese Gefahr begeben zu haben, indem er sie retten konnte. Als sich sein Puls wieder beruhigt hatte, sah er sich noch einmal um. Dann packte er sein Schwert fester und marschierte auf die zwei Kreaturen los. Inzwischen hatte er schon Übung. Dem einen trat er in den Bauch, so daß er sich zusammenkrümmte, und erleichterte ihn dann mit einem entschlossenen Schwertstreich um seinen vermoderten Schädel. Den anderen nagelte er anschließend mit dem Schwert einfach an die Bordwand, so daß er dort zappelnd und grunzend hängenblieb, nahm dann das Stück Holz, das sich tatsächlich als ein kleines Faß erwies, und zerschmetterte dem Biest damit den Kopf. Der Zombie sackte zusammen und rührte sich nicht mehr.
Belder mußte ein paar Mal kräftig ziehen, um das Schwert wieder aus der Wand zu bekommen. Dann trat er angewidert mit dem Fuß die Überreste der beiden Untoten beiseite und bahnte sich den Weg zu der Tür. „He! Ist da wer?“ rief er zischend und klopfte an die Tür. Niemand antwortete. „Ich komme, um euch hier rauszuholen!“ sagte er vernehmlich und klopfte noch einmal. „Macht auf!“ Wieder keine Antwort. Belder sah zurück in den Längsgang, starrte dann wieder die Tür an. Wenn da drin Leute saßen, die noch bei Verstand waren, dann hätten sie eigentlich kapieren müssen, daß seine Stimme nicht die eines Zombies war. „He! Ich hab die zwei Viecher hier erschlagen! Macht endlich auf!“ Wieder nichts. Belder fragte sich, ob er sich nicht gründlich getäuscht hatte und da drin nur ein paar Ratten waren, die die Untoten hatten verspeisen wollen. Dann aber erinnerte er sich an das Wimmern. Vielleicht waren die Leute dort drin - oder der Mann, falls es nur einer war - völlig verängstigt und trauten niemandem mehr. Belder untersuchte die Tür und stellte fest, daß die Untoten bereits gute Vorarbeit geleistet hatten. Sie würde nicht mehr viel aushalten. „Ich trete jetzt die Tür ein!“ sagte er. „Nehmt euch 'nen Augenblick Zeit, mich anzusehen, bevor ihr mich angreift! Ich bin kein Zombie!“ Immer noch kam keine Antwort. Dann trat er zurück, maß die Tür mit Blicken und trat mit einem kräftigen Tritt gegen den Teil, wo sich innen der Riegel befinden mußte. Mit einem heftigen Rumms war er sofort
durch, und die Tür krachte nach innen auf. Drinnen herrschten Dunkelheit und Schweigen. Unentschlossen spähte er hinein, aber hier war das Licht sehr schwach, und er konnte so gut wie nichts erkennen. „Hallo?“ fragte er. Daß sich nun immer noch nichts regte, machte ihn nervös. Es wäre ziemlich blöd, wenn er diesen Dämon gemeistert hätte, nur um hier, in diesem lichtlosen Winkel, dem Messer irgendeines verängstigten Schiffsjungen zum Opfer zu fallen! „Gut. Ich komme jetzt rein. Und dann verschwinden wir gemeinsam von hier, in Ordnung?“ Er holte Luft, hob sein Schwert und trat langsam in den Raum. Er war nicht groß, das spürte er schon, irgendein Verschlag, in dem Taue, Ölzeug und vielleicht Werkzeuge lagerten. Werkzeuge? Messer waren auch Werkzeuge. Oder Malspieker, Belegnägel und all dies Zeug. Verflucht! Er zögerte, blieb stehen. „Verdammt! Siehst du nicht, daß ich ein Mensch bin?“ zischte er in die Dunkelheit. Plötzlich kam von links etwas auf ihn zugeschossen. Er versuchte sich zu ducken, da traf es ihn auch schon - ein heftiger Hieb in die linke Seite und den Magen, dann ein stechender Schmerz an der Schulter und irgendein scharfer Gegenstand, der über seine Wange kratze. Er keuchte, ließ sein Schwert fallen und drosch seine Faust in die Richtung des Angreifers. Er traf, und was er traf, hielt nicht viel aus. Er hörte ein Keuchen, dann einen dumpfen Wumms, als wenn jemand gegen etwas prallte und dann zu Boden ging. „Scheiße!“ zischte Belder und ging vor Schmerzen in die Knie. Er hielt sich die Seite - der Treffer hatte gesessen.
„Verflucht! Wer ist da? Soll ich dich vielleicht tothauen?“ Niemand antwortete, aber dann war da wieder das Wimmern, seltsam tonlos. Er kniete bereits, tastete nach links und spürte einen Körper. Das Wimmern hielt an, es war mehr ein hilfloses Weinen, aber wie durch einen nicht geöffneten Mund - ziemlich seltsam. Er tastete weiter und war immer sicherer, daß da ein Mensch war, aber er war nicht groß. Tatsächlich der Schiffsjunge, dachte er. Die haben ja angeblich ein Talent zu überleben. „Los jetzt“, zischte er. „Bevor ich anfange, mich über dich zu ärgern!“ Er richtete sich auf, hob den Jungen hoch und griff ihn unter der Achsel. Er hatte einen mächtigen, verdreckten Haarschopf und stank ziemlich. Als Belder merkte, daß der Junge keine Anstalten machte, mit ihm hier herauszumarschieren, schnaufte er unwillig, nahm ihn dann kurzerhand auf die Arme und schickte sich an, ihn hinauszutragen. Er durchschritt den Durchgang, stieg über die beiden Untoten hinweg und setzte den Jungen dann ab. Der Bursche blieb mit hängendem Kopf und seltsame Laute ausstoßend an der Wand stehen. „Warte hier! Ich muß noch mein Schwert holen, in Ordnung?“ Belder marschierte schnell zurück und tastete in der Dunkelheit der Kammer auf dem Boden nach seinem Schwert. Tatsächlich, da lag noch ein Messer. Mit der Hand fuhr er sich über die Wange und fühlte warmes Blut. Kein tiefer Schnitt, aber trotzdem. Er wurde wütend. Er nahm die beiden Waffen, erhob sich und stampfte hinaus. „Hier hast du dein Messer, du Blödian!“ knurrte er und hielt dem Jungen das Ding hin. „Schönen Dank, daß du mich abstechen wolltest! Ich sollte dich hierlassen!“
Als der Junge den Kopf hob, um mit verweintem Gesicht das Messer entgegenzunehmen, schnappte Belder nach Luft. Erstens hatte der Junge eine riesige Mähne feuerroten Haares, und zweitens war er gar kein Junge.
5
Die Meute
Als Belder mit ihr das Oberdeck erreicht hatte, wußte er nicht, ob er aufatmen sollte oder ob der Ärger jetzt erst richtig losging. Es war ein Mädchen, eine junge Frau, völlig verdreckt, gräßlich stinkend und in hoffnungslos zerrissenen Kleidern, die er da aus der Kammer geholt hatte. Außerdem war sie stumm. Und ihre Haare waren so rot, daß man keinen Propheten brauchte, um zu wissen, daß die netten Leute von Sykand sie in weniger als einer halben Stunde aufgeknüpft haben würden. Er wußte nicht, was es für eine Legende war, die besagte, daß rothaarige Frauen nur Unglück brächten. Und diese hier auch noch auf einem Schiff vorzufinden, legte den Gedanken nahe, daß sie eine blinde Passagierin gewesen war. Wenn er sie von Bord brachte und den Leuten die Geschichte von dem Dämonen und den Untoten erzählte, würde es nur noch Augenblicke dauern, bis die ersten Schreihälse mit zitternden Fingern auf sie deuten und zu zetern beginnen würden, daß sie an allem Schuld sein müsse. Sie war verdreckt, häßlich, hatte ihm fast eine Rippe gebrochen und die Wange zerschnitten. Er wußte nicht, wieviel Lust er hatte, sie gegen die Leute zu verteidigen, die mit Sicherheit verdammt sauer sein würden, wenn er ihnen erzählte, daß sie ihr Gold lieber vergessen sollten. Er würde riskieren, daß sie ihn gleich mit ihr zusammen aufknüpften. Was ihn aber am meisten ärgerte war, daß sie sich kein bißchen dankbar verhielt. Sie hielt mißtrauisch Abstand zu ihm, maß ihn mit giftigen Blicken und hielt ihr Messer so, als wollte sie ihn im nächsten Moment anfallen. Er deutete zur Mole hinüber. „Wenn du nicht gleich einen anderen Blick aufsetzt und dein blödes Messer wegschmeißt,
Mädchen“, sagte er wütend, „dann hättest du lieber unten bei den Monstren bleiben sollen! Die da auf der Mole werden dich sonst noch unfreundlicher behandeln.“ Er hielt sich die Wange, die nicht zu bluten aufhören wollte. Sie sah ihn mit vor Haß funkelnden Augen an. Er überlegte, ob er sie nicht lieber einfach hier zurücklassen sollte. Was hatte er mit ihr zu schaffen? Wenn er sie mitnahm, sie gar zu verteidigen versuchte, würde er sich nur in noch größere Schwierigkeiten bringen. Selten hatte er eine Frau getroffen, die ihm so zuwider war. Sie war jung, höchstens zwanzig, aber sie sah aus wie eine Hexe. Dürr, stumm und häßlich. Und feindselig bis zum Haß. „Ich gehe jetzt“, verkündete er. „Mach, was du willst.“ Damit ließ er sie stehen, stampfte über das Deck und über die Planke hinunter auf die Pier. Als die Leute ihn sahen, hörte er laute Aaahs und Ooohs. Nach kurzer Zeit war er bei ihnen. Sie bestürmten ihn regelrecht, umringten ihn und schrien fast, er solle sagen, was los wäre, ob er das Gold gefunden hätte und was mit Yannis, Ingram und den anderen war. Salis von Thralbeg trat mit in die Hüfte gestemmten Fäusten vor ihn hin. „Du hast überlebt!“ stellte er fest, als die Menge ein wenig ruhiger geworden war. Belder nickte, er hielt sich immer noch die blutende Wange. „Und?“ Belder sah in die Runde. Hier war keiner, der ihm das irgendwie gönnte oder gar froh war, daß er es geschafft hatte, diesem teuflischen Schiff zu entfliehen. Er sah nur eins: Sie wollten ihr Gold. „Yannis und die anderen sind tot. Das Gold ist nicht zu kriegen“, sagte er. Augenblicklich erhob sich empörtes Geschrei, aber von
Thralbeg rief die Leute mit lauter Stimme zur Ruhe. „Was meinst du damit?“ fragte er. „Da hockt ein Monstrum auf eurem Goldschatz. Ein dämonisches Wesen. Es hat Yannis getötet und die anderen. Schlimmer noch: es hat sie in Untote verwandelt.“ Er schüttelte den Kopf. „Diese Kreatur ist nicht zu besiegen. Nicht von mir und auch nicht von euch. Schleppt das Schiff raus aufs Meer. Bevor diese Bestie es sich überlegt und mit ihren Untoten hier in die Stadt kommt!“ Wieder brandete das empörte Geschrei auf, und abermals erzwang der Erste Ruhe unter den Leuten. Sein Gesicht spiegelte Mißtrauen und Unglauben. „Ein Dämon, sagst du? Wie, bei den Zwölfen, soll denn ein Dämon auf die Dinia Tjerbus gelangt sein?“ In diesem Moment fuhren viele Köpfe herum. Das Mädchen hatte sich natürlich den ungünstigsten Zeitpunkt gewählt zu erscheinen. Belder wandte sich um, wie es die meisten anderen in dem Moment auch taten, und blickte ihr entgegen, wie sie allein und mit zögernden Schritten über die Pier daher kam. Mitten auf die Leute zu, die sie mit erstaunten Ausrufen und großen Augen betrachteten. Von Thralbeg trat vor. „Wer ... wer ist denn das?“ fragte er entgeistert. Belder schnaufte leise. „Ein Mädchen“, brummte er. „Weiß nicht, woher sie stammt. Sie ist die einzige Überlebende an Bord, wie es scheint. Hab sie aus einem Stauraum befreit.“ Das Mädchen blieb fünfzehn Schritte vor der Menge stehen. In ihrer Nähe brannte ein weiteres Kohlenfeuer in einem Faß, und sie schien wirklich anzustreben, möglichst schnell irgendwo aufgeknüpft zu werden - denn neben dem Feuer leuchteten ihre roten Haare geradezu. „Eine Frau auf einem Schiff?“ fragte von Thralbeg ungläubig.
„Es gibt eine Menge Frauen auf Schiffen“, erwiderte Belder. Von Thralbegs Kopf fuhr herum wie der eines Habichts. „Ja, stimmt! Als ordentliche Reisende, auf einem Linienschiff. Und mancherorts gibt es auch weibliche Matrosen, in einem ordentlichen Verfahren zugelassen!“ Er deutete auf sie. „Aber nicht auf der Dinia Tjerbus. Sie ist rothaarig!“ Belder schnaufte. Er hatte es gewußt. „Na und? Was soll's denn? Freut euch lieber, daß jemand auf diesem Schiff überlebt hat!“ Von Thralbeg stemmte wieder die Fäuste in die Hüften. „Wie soll ich das verstehen?“ herrschte er Belder an. „Stehst du etwa auf ihrer Seite?“ Plötzliche Wut kochte in Belder hoch. „Ich stehe auf gar keiner Seite!“ bellte er den Ersten wütend an. „Nur auf meiner! Aber ich dachte mir schon, daß ihr Pack euch den ersten Wehrlosen greifen würdet, um ihn für dieses Unglück verantwortlich zu machen!“ Von Thralbeg trat zurück, überrascht von Belders plötzlichem Ausbruch. Dafür drängten sich Jachoch und Threll in den Vordergrund. „Rothaarige Weiber bringen Unglück!“ keifte Threll. „Und sie haben mitunter unnatürliche Zauberkräfte!“ Belders Zähne knackten vor Wut. Er sah zu dem Mädchen, das unsicher dastand, und er hätte sich ohrfeigen können, daß er bereits Partei für sie ergriffen hatte. Trotzdem stank es ihm gewaltig, was sich hier nun unübersehbar zusammenbraute. „Sie hat einen Fluch über das Schiff gesprochen!“ schrie jemand. „Blödsinn!“ schrie Belder zurück. „Sie ist stumm! Sie kann gar nichts aussprechen!“ „Na und?“ kam es von einem anderen. „Dann hat sie es mit Gesten gemacht! Und irgendwelchem Zauberzeug!“
„Ach ja? Und dann kommt sie freiwillig von Bord, ganz wehrlos, um sich von euch in Stücke reißen zu lassen?“ Niemand achtete auf Belders Worte. Einzelne Leute setzten sich langsam in Richtung des Mädchens in Bewegung, und es war klar, was sie vorhatten. Belder hatte es genau so vorausgesehen. Er stieß einen Fluch aus, hob sein Schwert und setzte sich in Bewegung. Die letzten Schritte zu ihr rannte er, wandte sich dann um und stellte sich vor sie. Sein Schwert zeigte in Richtung der Leute. Die Menge blieb verblüfft stehen. Die Leute standen wie angewurzelt, konnten nicht glauben, was Belder da tat. „Er steckt mit ihr unter einer Decke!“ rief jemand. Belder schnaubte. „Ja!“ schrie ein anderer. „Sie haben sich gegen uns verbündet! Wollen uns unser Gold stehlen!“ „Wahrscheinlich ist das ein Komplott!“ war noch einer zu hören. „Von langer Hand geplant!“ „Ihr Schwachköpfe!“ schrie plötzlich ein anderer. Dann teilte sich die Menge, und Gen a Fries trat daraus hervor. Er stellte sich vor die Menge. „Das ist doch lächerlich ein Komplott!“ Er stieß ein spöttisches Kichern aus. „Belder sitzt seit zwei Monaten im Gefängnis! Wie soll er da ein Komplott ausgeheckt haben?“ „Was weißt denn du?“ rief einer. „Ich weiß nur“, rief a Fries zurück, „daß ihr seit Jahren die Gefahr durch die Orks verleugnet! Ihr glaubt, ihr seid hier sicher vor ihnen, und alles, womit ihr euch Mühe gebt, ist, die Steuereintreiber zu verwirren und zu täuschen, damit ihr kein Geld für den Krieg gegen die Orks herausrücken müßt!“ „Ha - die Orks! Ständig kommt er mit seinem Unsinn über die Orks daher! Er ist schon besessen davon!“ A Fries nickte lächelnd. „Ich hab euch immer gesagt, was da
auf euch wartet! Nun habt ihr euch das Unheil selbst hierher geholt! Jeder, der mal gegen die Orks gekämpft hat, so wie ich, der weiß, was sie tun - welche Tricks sie sich ausdenken! Sie sind auf dem Wasser so gut wie hilflos, aber sie wissen, daß hier in Sykand viel Gold wartet! Also schicken sie uns einen Dämon her. Ihre Streitmacht wird bald folgen!“ „Woher sollen sie wissen, daß es hier Gold gibt? Hast du es ihnen verraten?“ A Fries schnaufte ärgerlich, ging aber auf diese Anspielung nicht ein. „Schleppt dieses Schiff aufs Meer hinaus und zündet es an!“ schrie er. „Bevor dieses Monster zu uns in die Stadt kommt! Und laßt die beiden hier in Ruh - die können überhaupt nichts dafür!“ Von Thralbeg baute sich vor a Fries auf. „Wir hätten die Steuereintreiber getäuscht?“ herrschte er den Zwerg an. „Hast du ihnen etwa dein Geld gegeben, a Fries? Für den Krieg gegen die Orks?“ A Fries stand schnaufend vor dem Ersten. „Nein“, sagte er dann. Von Thralbeg wandte sich schwungvoll zu den Leuten um. „Aha!“ rief er. „Der gute a Fries, der uns immer so verantwortungsvoll vor den Orks warnte, hat also ebenfalls seine Pfründe gesichert! Ich wette, er hat es aus Gemeinschaftssinn getan; hat nicht eingestanden, wie reich er eigentlich ist, weil er uns andere nicht verraten wollte! Stimmt's nicht, a Fries?“ A Fries' Schultern sanken herab. Dann nickte er. „Ja. Auch wenn ihr es nicht glaubt, das war tatsächlich der Grund. Ich bin, wie ihr, ein Bürger von Sykand. Das hier ist meine Heimat.“ Einzelne Leute begannen spöttisch zu lachen.
„Welche Moral!“ rief von Thralbeg laut. „Er hält zu uns - er ist um uns besorgt!“ Das Gelächter wurde lauter. Da trat Zappsteen vor und brüllte den Zwerg an. „Wenn wir das Gold an Bord der Dinia Tjerbus verlieren, dann bist du, a Fries, nur um so reicher! Denn von deinem Gold ist nichts an Bord! Ich schlage vor, du behältst deine Ratschläge für dich, du Orkbesessener! Am besten verschwindest du von hier, und zwar schnell!“ A Fries starrte den reichen Edelsteinschleifer eine Weile an, dann ließ er erneut die Schultern sinken. Den Kopf aber hielt er hoch erhoben. „Ihr werdet es noch sehen!“ sagte er. Dann marschierte er, offensichtlich voller Wut und Enttäuschung, davon. Sein Abgang wurde von weiterem Gelächter begleitet. Dann aber, nachdem a Fries verschwunden war, wandte sich die Menge wieder um. In Richtung von Belder und dem rothaarigen Mädchen. „Das da ist der Schuldige!“ rief der alte Threll und deutete auf die beiden. „Er und diese rothaarige Hexe!“ Belder versteifte sich und hob sein Schwert. „Keiner von euch kommt ihr auch nur auf drei Schritte nahe!“ knirschte er, vor Wut schäumend. „Wer das wagen sollte, den schneide ich in kleine Streifen und werfe ihn den Fischen zum Fraß vor!“ Die Antwort bestand aus leisen, erstaunten Rufen. Belder wußte, daß die Bürger von Sykand nicht eben ein Muster an Mut und Festigkeit waren. Keiner würde es wagen, sich mit ihm anzulegen, und als Gemeinschaft taugten sie nicht viel. Der Gedanke, diesem Pack jetzt das wehrlose Mädchen zu überlassen, damit sie sie aufknüpfen konnten, war ihm unerträglich. „Ich hab meinen Hals für euch riskiert!“ brüllte er. „Ihr wißt
jetzt, was auf dem Schiff los ist, und ich sage euch, daß sie nichts damit zu tun hat! Ich hab sie im letzten Moment vor den Untoten gerettet. Sucht euch jemand anderen, den ihr für diesen Dreck verantwortlich machen könnt!“ „Beruhige dich wieder, Belder!“ sagte von Thralbeg und trat vor. Dann wandte er sich den Leuten zu. „Laßt ihn gehen. Es bringt uns gar nichts, wenn wir uns jetzt untereinander schlagen!“ Belder atmete auf und ließ sein Schwert etwas sinken. Von Thralbeg wandte sich wieder um und starrte ihn eindringlich an. Belder aber hatte keine Lust mehr, hier noch mit irgendwem zu diskutieren. Er packte das Mädchen unwirsch am Arm und zog sie mit sich. Mit noch immer leicht erhobenem Schwert schritt er mitten auf die Menge zu. Und die Leute wichen vor ihm zurück. „Das wirst du noch bereuen, Belder!“ sagte Threll, der nahe bei ihm stand und seinen Abgang verfolgte. „Sie wird dich verhexen!“ rief jemand aus der Menge. Er blieb mitten zwischen den Leuten stehen. „Das laßt meine Sorge sein“, sagte er. Dann wies er mit dem Schwert auf das Schiff. „Da ist euer Gold! Holt es euch, wenn ihr euch traut. Aber wenn ihr meinen Rat hören wollt: Tut lieber, was a Fries euch gesagt hat! Gegen diese Bestie kommt ihr nicht an!“ Dann ging er weiter, zog das Mädchen mit sich, und verschwand mit ihr in der Nacht. Sie ließen den Hafen hinter sich und marschierten in die Stadt hinein. Das Mädchen hatte sich inzwischen aus Belders Griff gewunden und lief mit ein paar Schritten Abstand schräg hinter ihm her. Er maß sie mit mißtrauischen Seitenblicken immerhin hatte sie das Messer weggesteckt oder weggeworfen.
Mit finsteren Blicken starrte er in die Dunkelheit der Straße vor ihnen und überlegte, was er mit ihr anstellen sollte. Wenn er sie irgendwo in der Stadt zurückließ, würde wahrscheinlich doch noch das eintreten, was er gerade abgewendet hatte. Die Meute würde sie irgendwo finden und am nächsten Balken oder Baum aufknüpfen. Es blieb ihm gar nichts übrig - er würde sie mit in sein Haus nehmen müssen. Er sah sich nach ihr um. Sie tappte mit gesenktem Kopf hinter ihm her. Ihr Blick, den sie ihm von unten heraus zuwarf, war mißmutig und dumpf; und sogar jetzt noch, nachdem er ihr zum zweiten Mal die Haut gerettet hatte, sah er ihren Widerstandswillen funkeln. „Glotz mich nicht so blöde an!“ fuhr er sie an. „Wenn du schon kein bißchen Dankbarkeit zeigen kannst, dann glotz mich wenigstens nicht so an, ja?“ Sie zuckte unter der Gewalt seiner Worte zusammen und blieb stehen. Dann sah er plötzlich Tränen auf ihren Wangen. Aber Mitleid wollte sich nicht einstellen. Er wandte sich um und lief einfach weiter. Er bog um ein Häusereck und stellte fest, daß sie ihm nicht weiter folgte. Es war ihm egal. Vielleicht würden ihr die Leute ja doch nichts tun. Von Thralbeg hatte gesagt, sie sollten sie in Ruhe lassen, und irgendwie wäre es verdammt unehrenhaft gewesen, würden sie ihr jetzt doch noch etwas antun. Vielleicht steckten sie sie nur ins Gefängnis, bis diese Sache hier ausgestanden war. Oder irgendein mitleidiges Mütterchen kümmerte sich um sie. Es ging ihn nichts an. Er hatte ihr wiederholt das Leben gerettet, und damit, verdammt noch mal, hatte er seine Pflicht getan. Ohne sich noch einmal umzusehen, marschierte er weiter. Im Westteil von Sykand lag sein Haus, und dort würde er sich für heute nacht einquartieren. Morgen dann, wenn diese Sache mit der Dinia Tjerbus hoffentlich vorbei war, würde er sich nach
einem Schiff umsehen. Einem Schiff, das ihn aus dieser verfluchten Stadt wegbrachte. Es war ihm egal, was aus seinem Haus wurde, es stand ohnehin kurz vor dem Zusammenfallen. Er hatte ein ganzes Jahr darum gekämpft, diese alte Bruchbude, die einzige Hinterlassenschaft seines Vaters, zu erhalten, aber nun war er bereit, das Haus aufzugeben. Die Bürger von Sykand wollten ihn nicht haben, und nun sollten sie ihren Willen bekommen. Es war ihm egal. Belder schnaufte angespannt. Er hoffte, daß die Sykander klug genug waren, das Schiff wirklich aus dem Hafen zu schleppen und es auf dem Meer anzuzünden. Es war die einzige Möglichkeit. Was aus dem Dämon dabei wurde, wußte er nicht, aber eine ordentliche Feuersbrunst und eine Reise auf den Meeresgrund würden ihn hoffentlich vernichten. Wenn sie es nicht taten - dann würde es schwierig werden. Vielleicht kam die Bestie ja gar nicht von Bord, aber gewettet hätte er darauf nicht. Dann erreichte er sein Haus. Es mußte eine Stunde vor Mitternacht sein; die Sterne standen klar am Himmel, und das Madamal war fast voll und leuchtete hell. Vor ihm lag das alte Familienanwesen der de Kraags, einst einer angesehenen Familie in Sykand. Aber das war lange her. Seine Familie war in eine häßliche Pechsträhne geraten, einfach eine lange, nicht enden wollende Kette von dummen, zerstörerischen Ereignissen. Es hatte mit dem Tod seiner Mutter begonnen, da war er erst sieben Jahre alt gewesen. Dann hatte das Haus gebrannt, kurz darauf war seine älteste Schwester mit einem Maat davongelaufen. Sein Vater hatte alles mühsam in den Griff zu bekommen versucht, war aber immer tiefer in die Schulden gerutscht. Belder hatte schon als Jugendlicher in einem Steinbruch arbeiten müssen, während seine Altersgenossen die Gegend unsicher gemacht hatten. Damals schon hatte er sich von ihnen entfremdet.
Dann war alles nur noch schlimmer geworden. Sein Vater hatte die Zinsen nicht mehr bezahlen können. Und wieder hatte das Haus gebrannt - diesmal mit seinem Vater, einen Strick um den Hals, auf dem Dachboden. Seine beiden kleinen Schwestern waren in Vallusa von Verwandten aufgenommen worden, aber ihn - ihn hatte keiner haben wollen. Er war in Sykand geblieben. Unter dem Hohn und Spott seiner Altersgenossen hatte er als Sechzehnjähriger die Energie aufgebracht, das Haus notdürftig zu reparieren, während er weiterhin im Steinbruch schuftete. Der Vater von a Fries hatte ihm damals ein bißchen unter die Arme gegriffen, aber der war dann auch gestorben. Da hatte Belder aufgegeben und war zum Militär gegangen. Zwölf Jahre lang war er von Sykand weggewesen, und als man ihn aus der Armee geworfen hatte, erfuhr er durch einen Zufall, daß sein Haus in Sykand noch immer stehen sollte. Das Spukhaus der de Kraags, sagte man. Das war die Geschichte seines Hauses - und die seine. Nun stand er wieder davor und fragte sich, wie er nur jemals auf die Idee gekommen war, sich hier, in Sykand, wieder eine Heimat aufbauen zu wollen. Hatte er über die zwölf Jahre beim Militär hinweg vergessen, wie eingebildet und überheblich die Reichen von Sykand waren? Oder hatte er etwa gedacht, sie hätten sich inzwischen geändert? Belder seufzte. Die Stadt war seine Heimat, der Ort, an dem er zur Welt gekommen war, und solche Bande konnte man nicht lösen - sie blieben einem fürs Leben. Aber der Spott der reichen Leute von Sykand, das war wie eine Landmarke, etwas, auf das man sich verlassen konnte wie auf einen alten Feind. Er haßte den Gedanken, vor diesen Leuten zu kapitulieren, aber ... er war ihnen einfach nicht gewachsen. Nicht auf diesem Gebiet. Aber eigentlich war das auch nicht schlimm. Sonst wäre er ja einer von ihnen gewesen.
Er holte Luft und trat auf das Haus zu. Es war mittelgroß, ein Steinhaus mit zwei Stockwerken und einem steilen Dachstuhl, typisch für die Bauweise in Sykand. Es stand in einem holzumzäunten Garten, der inzwischen verwildert war. Seit zwei Monaten war er nicht mehr hier gewesen, und mit Sicherheit hatten die Kinder wieder allerlei Unheil angerichtet - Fenster eingeworfen, Lagerfeuer entzündet und seine Sachen durchwühlt. Nicht, daß er das Haus im vergangenen Jahr zu einem heimeligen Fleckchen gemacht hätte, nein - dazu war sein Verdienst zu gering gewesen. Neben seiner kleinen Abfindung, die er von der Armee erhalten hatte, hatte er auf eigene Faust damit begonnen, den alten Steinbruch wieder zu betreiben. Niemand in Sykand tat das mehr; die Bevölkerungszahl war gleichbleibend und die Stadt ausgebaut nur hier und da brauchte mal jemand ein paar Blöcke, um etwas anzubauen oder etwas herzurichten. So hatte er sein Leben gefristet, mit wenig Geld und schwer schuftend. Abends hatte er am Haus gearbeitet; irgendein Floh saß ihm im Ohr, daß er es auch wieder zu Geld und Ansehen bringen könnte, wenn er nur fleißig genug war. Aber eines hatte er vergessen: man benötigte auch hin und wieder ein bißchen Hilfe. Von Freunden, Bekannten oder Verwandten. Und genau das hatte er in Sykand niemals erhalten. Nein, sagte er sich, als er den Garten durchquerte, er hatte nun die Nase voll. Sie hatten ihm die Freiheit angeboten, wenn er an Bord der Dinia Tjerbus ging, und er hatte seinen Teil der Abmachung erfüllt. Nun würde er gehen. Er erreichte die Haustüre, und sie stand halb offen. Natürlich war jemand drin gewesen, wahrscheinlich nur Kinder, aber meist war das ja das Schlimmere. Besonders die Kinder hatten nie irgendwelchen Respekt vor ihm gezeigt, die verwöhnten Bälger von Sykand. Er mochte keine Kinder. Er stieß die Tür auf und trat hinein. Sein Schwert, merkte er,
hielt er noch immer in der Hand und hoch erhoben. Nein, er würde natürlich keinem Kind etwas antun, aber wenn er hier eines erwischen sollte, dann würde er sich nicht nehmen lassen, es ordentlich zu erschrecken. Doch um diese Nachtzeit würde keines hier sein. Er ließ sein Schwert sinken. Er durchquerte den Diele mit ihren quietschenden Holzbohlen und stieß, ziemlich schlecht gelaunt, die Tür zur Küche auf. Es war, wie er erwartet hatte. Etliche Teller lagen zersplittert auf dem Boden, und der Rest des Geschirrs lag überall herum. Zum Glück waren einige Dinge heil geblieben, und die waren wenigstens noch zu gebrauchen. Der Tisch stand noch, aber beide Stühle waren umgekippt, und in dem großen, steinernen Waschbecken neben dem Ziehbrunnen, einer Erfindung von ihm selbst, hatte jemand ein Feuer abgebrannt. Schwachköpfe, dachte er wütend. In der Küche gab es auch einen großen, gemauerten Heiz- und Backofen, noch aus alter Zeit, dort hätte man das Feuer auch entzünden können. Aber nein - es hatte in seinem Waschbecken sein müssen! Um möglichst viel Dreck und Unheil zu stiften. Ärgerlich knallte er das Schwert auf den Tisch und machte sich gleich an die Aufräumarbeiten. Zuerst entzündete er eine Öllampe - zum Glück war die noch ganz -, dann sammelte er die Scherben ein, räumte das heil gebliebene Geschirr wieder in die Regale und wollte dann die Schweinerei im Waschbecken beseitigen. Nein, entschied er sich, hier war es kalt, erst einmal würde er ein Feuer machen. Er verließ die Küche, marschierte hinaus in den Garten und lud sich beim Holzstoß hinter dem Haus eine Ladung Brennholz auf die Arme. Als er dann das Haus wieder umrundete und gerade die Eingangstür durchschreiten wollte, blieb er stehen. Drüben, auf der anderen Straßenseite, vor der Schleiferei von Opperhem, stand das Mädchen. Belder stöhnte leise. Für Augenblicke beschlich ihn das unangenehme Gefühl, er
hätte eine Verpflichtung, sich um sie zu kümmern. Dann aber schüttelte er den Kopf und fragte sich selbst: Warum? Morgen oder übermorgen würde er Sykand verlassen, und daß er sie dann mitnahm, kam überhaupt nicht in Frage. Er hatte selbst genug Schwierigkeiten. Ob sie nun heute nacht damit anfing, sich um sich selbst zu kümmern, oder morgen, das machte keinen Unterschied. Je früher sie damit begann, desto besser. Er wandte sich um, betrat sein Haus und knallte demonstrativ die Tür hinter sich zu. Gleich darauf hatte er die Küche erreicht und begann das Holz im Ofen zu stapeln. Bald hatte er eine anfängliche Flamme gesetzt, und bis es gut brannte, würde er sich im Rest des Hauses umsehen. Er verließ die Küche und durchquerte den Gang, um die Wohnstube zu betreten. Neben der Wohnstube lag das Eßzimmer - eine Raumaufteilung wie bei einer wohlhabenden Familie, was die de Kraags ja einmal gewesen waren. Oben hatten die Schlafräume für die Familie gelegen, für Vater, Mutter, ihn und seine Schwestern - dort allerdings gab es momentan nichts als verlassene und verwüstete Räume. Er hatte sie damals, nach dem Brand, noch nicht wieder hergerichtet, und nun, nachdem er vor etwas mehr als einem Jahr nach Sykand zurückgekehrt war, hatte er es auch noch nicht getan. Sie wären erst viel später dran gekommen. Das Dach war wichtig gewesen; das hatte er auch einigermaßen dicht bekommen und dann die unteren Zimmer wieder bewohnbar gemacht. Mehr hatte er noch nicht erreicht. Und dabei würde es auch bleiben. Sollte sich irgendein reicher Sack von Sykand sein Haus und den Grund unter den Nagel reißen. Dann betrat er die ehemalige Wohnstube, die ihm zuletzt als Schlafraum gedient hatte. Er stöhnte auf. Seine selbstgebastelte Strohmatratze war völlig zerfetzt, sein Holzschrank umgestürzt und nur noch ein Wrack, und seine
paar Kleider lagen kreuz und quer verstreut. Auch hier hatte man ein Feuer gemacht - diesmal allerdings im Kamin, wo es auch hingehörte. Welche Gnade, dachte er spöttisch. Er begann sogleich, auch hier aufzuräumen, und entschied sich dann, hier ebenfalls ein Feuer zu machen. Er holte den Rest Holz aus der Küche, blies das Feuer dort noch einmal an und trug dann ein brennendes Scheit herüber, um das zweite Feuer zu entzünden. Als er davor kniete und erste, wärmende Flammen emporloderten, seufzte er leise. Er ließ sich auf den Hintern fallen und starrte in die Glut. Das gelb-orangefarbene Licht des Feuers erzeugte warme, dunkle Farben im Raum, und mit ihnen begann sich hier sogleich ein kleines Gefühl von Geborgenheit und Zuhause auszubreiten. So heruntergekommen auch alles war - es war doch seine Heimat. Sie für immer zu verlassen, würde weh tun. Lange Zeit saß er nur da, starrte versonnen in die Flammen und überlegte, ob er irgendeinen Grund hatte, dennoch hier zu bleiben. Irgendeinen verdammten Grund, außer diesem leisen Gefühl von Wehmut, um hier, in dieser miesen Stadt der Habgierigen und der Eigensucht, zu bleiben, in der ihm sonst nichts Gutes blühte. Nein, wahrscheinlich nicht. Schließlich erhob er sich, als das Feuer schon wieder nachließ, um frisches Holz zu holen. Er ging wieder hinaus, lud sich hinter dem Haus noch einen Armvoll auf, und als er wieder durch die Eingangstür treten wollte, blieb er unwillkürlich stehen und sah zur Schleiferei von Opperhem hinüber. Aber da war nur Dunkelheit. Was für ein Glück, dachte er, sie ist weg. Ein gutes Stück erleichterter stieß er mit dem Fuß die Tür auf und ging ins Haus. Er kümmerte sich um beide Feuer und suchte dann nach Nadel und Faden, um die zerfetzte Matratze zu flicken. Für diese letzte Nacht sollte sie noch halten.
Als er fertig war, marschierte er zurück in die Küche. Er hatte Hunger. Schnell reinigte er noch das verdreckte Waschbecken, dann suchte er nach Lebensmitteln. In einem Topf hatten sie ihm ein paar getrocknete Erbsen gelassen, und er fand sogar noch zwei Streifen Speck in seiner kleinen Räucherkammer über dem Ofen. Dort waren die Kinder wohl nicht drangekommen. Dann fiel ihm ein, daß hinter seinem Haus ständig die Hühner der Nachbarn herumliefen und daß er dort schon Nester von ihnen entdeckt hatte. Er nahm sich die Öllampe und verließ abermals das Haus. In der Dunkelheit machte er sich auf die Suche - und hatte Glück. Er fand vier schöne Eier und machte sich, schon mit einem gewissen Hochgefühl, auf den Weg zurück ins Haus. Erbsen, Eier, Speck - das würde für seine Verhältnisse heute nacht sogar ein wahres Festessen werden. In der Küche angekommen, war es schon schön warm geworden, und er fühlte sich wieder besser. Er machte sich daran, sein Mahl zuzubereiten. Sein Hunger war gewaltig, aber er mahnte sich, Geduld zu haben. Je besser er es zubereitete, desto besser würde es schmecken. Er brachte Wasser zum Kochen, gab die Erbsen hinein und brutzelte dann Eier und Speck in einer Pfanne auf den heißen Steinen seines Ofens. Ein paar Gewürze und getrocknete Suppenkräuter fand er auch und selbst ein total vertrocknetes Brot, das zum Glück nicht schimmlig war. Er weichte es auf und verbesserte damit seinen Erbseneintopf. Zum Trinken gab es nur Wasser, aber das machte nichts. Dann war er soweit. Er hatte die Stühle wieder aufgerichtet, einen noch heilen Teller gefunden und stellte nun die Pfanne mit Eiern und Speck sowie den Pott mit dem Erbseneintopf auf den Tisch. Dann setzte er sich und stopfte sich ein Geschirrtuch in den Kragen,
um seine Kleider vor verkleckertem Erbseneintopf zu schützen. Es war lächerlich, so etwas hatte er nun wirklich noch nie getan - aber irgendwie dachte er, heute müsse das so sein. Er hatte heute eine wichtige Entscheidung getroffen, war aus dem Gefängnis entlassen worden und hatte außerdem fast ein Dutzend Zombies erschlagen. Ja, sagte er sich, heute mußte das einfach so sein! Voller Vorfreude rückte er sich seinen Stuhl zurecht, wie um Maß zu nehmen, und angelte dann nach der Suppenkelle. Der Eintopf schmeckte vorzüglich. Er konnte sich nicht erinnern, während seiner zwei Monate im Gefängnis so etwas Schmackhaftes bekommen zu haben. Er säbelte sich gutgelaunt ein großes, gerade noch mundgerechtes Stück Speck herunter und belegte es dann mit einem wahren Berg Rührei. Als er es in den Mund schieben wolle, sah er sie. Mitten in der Bewegung hatte er innegehalten; den Mund weit aufgesperrt und über den Teller gebeugt. Seine Augen befanden sich gerade in einer Position, daß er - unter dem kleinen Hängeschrank hinweg, durch ein abgesplittertes Stück Fensterscheibe hindurch, über Büsche und unter einem Ast eines Baumes im Garten hinweg und letztlich durch eine Stelle im Gartenzaun hindurch, wo eine Latte fehlte - sie sehen konnte. Schön erhellt im Licht des Madamais, drüben vor der Schleiferei. Er verharrte wie er war, ungläubig, daß sein Blick diese eine, freie Sichtlinie zu ihr gefunden hatte. Sie stand da, allein und verlassen, ganz klein und sicherlich voller Furcht. Und er mochte wetten, daß sie sogar ein wenig zitterte - vor Kälte und Hunger. Er ließ die Gabel sinken und starrte sie an, als hätte sie ihm gerade, hinterlistig und gemein, etwas antun wollen. Sie
verschwand - er mußte ein paar Augenblicke lang die Blicklinie suchen und fand sie wieder. Sie stand da wie eine stumme Anklage. Er schnaufte. Hatte sie etwa sehen können, was er gerade tat...? Was er gerade tat - echote es in seinem Kopf. Er starrte auf seine Gabel mit dem Stück Speck und dem Rührei darauf, so als würde ein kleines Männlein darauf sitzen, das gerade protestierend die Faust gegen ihn erhob. Das klang ja, als beginge er gerade ein Verbrechen! Belder stöhnte. Er ließ die Gabel sinken. Dann zog er das Geschirrtuch aus dem Kragen, knüllte es zusammen, knallte es auf den Tisch und erhob sich. Mögen mir die Götter beistehen - nein, kräftig in den Arsch treten -, wenn ich dereinst vor ihnen stehe! dachte er und spürte Wut gegen sich selbst, die ihm heiß die Kehle heraufschwappte. Dann verließ er die Küche, marschierte durch die Diele, riß die Haustür auf und trat in den Garten. Als sie ihn kommen sah, zuckte sie leicht zusammen. Er war ziemlich in Fahrt und zu keinerlei Spaßen aufgelegt. Mit donnernden Schritten durchquerte er den Garten und stampfte über die Straße geradewegs auf sie zu. Sie wich mit jedem seiner Schritte selber einen kleinen, angstvollen Schritt zurück. Dann war er bei ihr und baute sich vor ihr auf - die Fäuste in die Hüften gestemmt. Sie sah ganz klein aus und wehrlos, ein kleines Bündel Mensch und voller Furcht. Ein bißchen von ihrem Mißtrauen und ihrem Widerstandswillen blitzte noch in ihren Augen, aber nur ein bißchen. Der Rest war Angst und Verzweiflung. Er holte tief Luft, wie ein gestrenger Vater, griff dann nach ihrer Hand, und wandte sich um, sie mit sich ziehend.
Sie war heftig zusammengezuckt, als hätte sie befürchtet, er wolle sie schlagen, aber da hatte er ihre Hand schon, und nun ließ sie sich mitziehen. Sie ließ einen leisen Laut hören, und Belder starrte finster in Richtung seines Hauses, auf das sie nun zumarschierten, und schalt sich einen Narren für das, was er hier tat. Allein ihre Hand war es, die seinen Zorn, den er am meisten über sich selber empfand, ein wenig verrauchen ließ. Sie war klein und weich, und er wunderte sich, wie warm sie war. Also doch keine kaltblütige, rothaarige Hexe, schoß es ihm durch den Kopf - aber das hatte er ja gewußt. Sie war auch nur ein Mensch, sonst nichts. Dann waren sie an seiner Haustüre angelangt; sie stand noch offen, und er zog sie hinein. Er ließ sie los, schloß die Tür, warf ihr dabei einen ungeduldigen Seitenblick zu und ging zur Küche voraus, in der Annahme, sie würde ihm nun folgen. Das tat sie auch - mit einigem Abstand. Als er über die Türschwelle trat, empfingen ihn die Wärme, das Licht des Feuers im Ofen und der Duft seines Essens wie ein warmer, freundlicher Hauch. Eine Sekunde lang stand er da, und irgendein Teil seines Unterbewußtseins regte sich, wollte ihm den Vorwurf machen, daß er diese wohlige Geborgenheit seines Heims beinahe nur für sich selber hatte haben wollen. Daß er nicht bereit gewesen war zu teilen. Wie ein verfluchter, eigensüchtiger Bürger von Sykand. Er verscheuchte diesen Gedanken. Aber während er zum Geschirregal ging, um ihr den letzten Teller zu holen, den er noch besaß, spürte er, daß sein harter, kantiger Unwille ein Stück gewichen war. Statt dessen spürte eine kleine, wenn auch eher sachliche Zufriedenheit, daß er sich als Mensch gezeigt hatte. Er nahm den Holzteller aus dem Regal, knallte ihn nicht, sondern stellte ihn auf den Tisch und holte den zweiten Stuhl
herbei, der in der Ecke stand. „Na?“ fragte er, hielt ihr den Stuhl hin und wies auf den Teller. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie sich langsam und zögernd hinsetzte. Aber das mochte sogar schon etwas Besonderes sein. Dann setzte er sich auch, langte nach der Schöpfkelle und segnete das Mädchen mit einem Schlag Erbsensuppe, der womöglich alles übertraf, was sie in den letzten Wochen zu essen bekommen hatte. Sie sah ausgehungert aus, und wenn es seine Art gewesen wäre, Mitleid zu empfinden, hätte es ihn jetzt wohl überfallen. Aber Mitleid hatte er vor langer Zeit verlernt.
6
Das Mädchen
Sie aß ruhig und zivilisiert, wo er doch gedacht hatte, sie würde sich wie ein Raubtier auf den Eintopf stürzen. Nein, sie schien sogar so etwas wie eine gute Kinderstube zu besitzen, denn sie sah ihn unsicher fragend an, als sie noch mehr haben wollte, und nickte dankbar, als er ihr einen seiner beiden Speckstreifen und eine Portion Rührei gab. Vor allem aber war sie sehr durstig, wollte immer wieder frisches Wasser haben. Es war von allem genug da. Belder hatte vorgehabt, alles allein aufzuessen, aber es wäre für ihn allein bestimmt zuviel gewesen. Sein Magen war nicht mehr auf größere Portionen eingestellt, und das war kein Unglück, denn das Mädchen hatte den nötigen Hunger, um all das wegzuputzen, was er übriggelassen hätte. Nach einer Weile ließ er sich mit einem zufriedenen Seufzen zurücksinken, und nun sah die Welt schon ein gutes Stück besser aus. Für den Moment schien das Mädchen ihn nicht weiter in Schwierigkeiten bringen zu wollen; morgen früh würde er seine paar Habseligkeiten packen, ihr Lebewohl wünschen und dann verschwinden. Irgendein Schiff würde morgen schon kommen, und wenn nicht, dann spätestens übermorgen - es kamen häufig welche. Meistens nur ein paar kleine Fischerschaluppen, die ein bißchen von ihrem Tagesfang verkaufen wollten, aber das genügte ihm. Er würde sich für ein paar Arbeiten an Bord verdingen, bis man ihn in Neersand, Vallusa oder einem anderen Nest absetzen konnte, und sich von dort aus irgendwohin durchschlagen. Vielleicht sollte er wieder Soldat werden. Irgendwo, bei einer der Armeen im Westen, wo man noch nie etwas von ihm gehört hatte. Er würde bald wieder einen besseren Dienstgrad haben - daß er ein erfahrener Mann war, würde jeder Offizier sofort sehen.
Ja, Soldat würde er wieder werden, das war etwas, das er konnte und wo man ihn respektieren würde. Er sah zu dem Mädchen. Sie war mit dem Essen fertig, saß still auf ihrem Stuhl, den Kopf gesenkt, und sah ihn von unten und unsicher mit Seitenblicken an. Ihre Haare waren reichlich verfilzt und schmutzig, ihr Gesicht auch, und ihre Kleider waren zerlumpt, dreckig und von Rissen und Löchern übersät. Und sie roch nicht gut. Er dachte, er sollte etwas sagen, hören konnte sie ja wohl, aber ihm fiel nichts ein. Unterhaltungen zu führen war nicht seine Stärke. „Ich werde die Stadt morgen früh verlassen“, sagte er dann. „Du mußt dann selber...“ Sie erhob sich ansatzlos, nahm die beiden Teller, seinen und den ihren, und trug sie zum Waschbecken. Er verfolgte wortlos ihr Tun, als sie auch die anderen Sachen vom Tisch räumte, dann zum Waschbecken trat und sich dort umsah. Dann entdeckte sie den kleinen Ziehbrunnen - das einzige an ehemaligem Luxus, was dieses Haus noch zu bieten hatte. Neben dem Brunnen stand ein Eimer mit einem Seil daran, und sie hob ihn auf, um ihn hinabzulassen. Nach einer Weile hörte er unten, in der kleinen Hauskaverne, das Wasser plätschern, und sie zog den Eimer wieder herauf. Sein Vater hatte das gebaut, als Belder noch ein Kind war - ein gewisser Erfindungsreichtum war den de Kraags schon immer zu eigen gewesen. Sie fand den Korkstöpsel, machte das steinerne Becken dicht und goß das Wasser hinein. Besser wäre es gewesen, sie hätte es vorher heiß gemacht, aber er verzichtete darauf, sie zu stören. Schön, daß sie sich nützlich machte, das versöhnte ihn. Er blieb noch eine Weile sitzen, dann kam er sich plötzlich vor wie ein dämlicher Großbauer, der seine Magd mit geringschätzigen Blicken verfolgte und prüfte, ob sie auch alles richtig machte. Mit einem Räuspern erhob er sich und sagte:
„Ich sehe mal, ob ich irgendwas finde, woraus wir dir was zum Schlafen machen können.“ Er sah sie nur nicken, aber sie blickte ihn dabei nicht an. Immerhin war er nun sicher, daß sie ihn verstehen könnte. Stumme sind manchmal auch taub, sagte er sich. Oder sie hätte ja auch mit einer anderen Sprache aufgewachsen sein können. Dann erhob er sich, wollte schon gehen, aber nun dachte er, daß er ihr wenigstens für heute nacht die Gastfreundschaft dieses Hauses schenken konnte. Morgen würde sie wieder auf sich gestellt sein, und sie sah einfach schrecklich aus. „Du kannst dich hier auch waschen, wenn du willst“, sagte er. „Ich sehe mal nach, ob ich was zum Anziehen für dich finde. Ich glaube, da ist noch eine Kiste mit Kleidern von meiner Mutter.“ Wieder nickte sie, ohne ihn anzusehen. Dann ging er rüber in die Wohnstube und wühlte in dem beschädigten Schrank herum, den er inzwischen wieder aufgerichtet hatte. Er fand eine alte Decke und zwei dicke Fellmäntel von sich, die er im Winter trug. Nichts Besonderes, aber damit mußte sie wenigstens nicht auf dem blanken Boden schlafen. Dann stieg er über die Treppe hinauf in den ersten Stock und durchsuchte das alte Gerumpel, das sich dort türmte. Die Kiste mit den Sachen seiner Mutter fand er, aber die waren hoffnungslos zerfallen. Über zwanzig Jahre alt. Er fand nur noch von Motten zerfressenen Stoff und jede Menge Mäusedreck. Also ging er wieder hinunter und suchte noch mal in seinen Sachen nach. Er fand ein Hemd, das ihm zu klein war, und eine alte, braune Hose; er wußte nicht einmal, wo die herstammte. Aber wenn sie die Beine und Ärmel des Zeugs hochkrempelte, hatte sie wenigstens was zum Anziehen. Vielleicht konnte sie ja sogar nähen. Er raffte die Sachen zusammen und betrat wieder die Küche.
Sie war gerade mit dem Abwaschen fertig und trocknete sich die Hände an ihren zerrissenen Hosen ab. Das, was sie im Moment anhatte, war wirklich reif für den Abfall. Er legte die Sachen auf den Tisch, den sie schön sauber gemacht hatte, und dann fiel ihm auf, daß hier überall ein wenig mehr Ordnung herrschte. Sie hatte die Asche vor dem Ofen zusammengekehrt, das Waschbecken trocken gewischt und das Geschirr aufrecht hingestellt, so daß es abtropfen konnte. Er stieß ein zufriedenes Brummen aus. „Hier, Mädchen“, sagte er. „Da ist eine Hose und ein Hemd. Viel zu groß für dich, aber was anderes hab ich nicht. Vielleicht finde ich morgen noch so was wie eine Jacke. Und aus den anderen Sachen kannst du dir ein Schlaflager bauen. Du schläfst hier und ich drüben.“ Er nickte ihr zu und verließ die Küche. Dann fiel ihm ein, daß sie für die Nacht noch Holz brauchen würden, und ging abermals hinaus. Als er in den Garten trat, hörte er Geräusche. Verwundert blieb er stehen und lauschte. Die Geräusche kamen aus der Stadt, Richtung Hafen, und ein plötzliches, ekelhaftes Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus. Er hatte als Soldat oft genug Schreie aus der Ferne gehört, um sie auf der Stelle zu erkennen - Schreie der Angst und Schreie des Kampfes. Er stürmte durch den Garten auf die Straße hinaus, blieb stehen und spitzte abermals die Ohren. Ja, da waren die Schreie wieder. Eindeutig aus Richtung des Hafens, und Belder wußte sofort, was das bedeutete. Aber er mußte sichergehen. Im Laufschritt trabte er die Straße hinunter, bog in eine weitere Straße ein und nahm dann, durch ein paar Seitengassen, eine Abkürzung zum Hafen hinunter.
Als er um eine Ecke bog, stieß er in der Dunkelheit mit jemandem zusammen - so heftig, daß er stürzte. Der andere auch. Er rappelte sich schnell wieder hoch. „Tut mir leid“, sagte er schnell und trat zu dem anderen, um ihm aufzuhelfen. „Was, zum Teufel ist da im Hafen ...?“ Es war der Gestank, der ihn zusammenzucken ließ. Der Gestank und ein seltsames Grunzen. Er trat erschrocken zurück, und da erhob sich aus dem Schatten vor ihm ein schreckliches eingefallenes und glotzäugiges Gesicht. Belder taumelte vor Entsetzen und Ungläubigkeit noch ein paar Schritte zurück. Da kam das Wesen schon auf ihn zu, mit gierig ausgebreiteten Armen - es war ein Zombie. Er stöhnte auf, wich der Kreatur aus, die nach ihm greifen wollte, und trat noch weiter zurück. Verflucht, die Biester sind in der Stadt! Dann kam der Zombie schon wieder, und Belder holte zu einem saftigen Faustschlag aus. Er traf das Monstrum am Kopf, und es wurde zurückgeschleudert. Wieder schoß ihm durchs Hirn, daß er gut daran tat, diese Wesen nicht mit einer offenen Wunde zu berühren, und auf seinen Fäusten war das Blut des Faustkampfes, den er sich auf der Dinia Tjerbus mit ihnen geliefert hatte, gerade erst getrocknet. Der Zombie war von seinem heftigen Schlag zurückgeschleudert worden und hingefallen. Aber er kam schon wieder hoch, so wie es die Art dieser unheimlichen Kreaturen war. Belder suchte die Umgebung nach einer Waffe ab, fand einen abgestellten Holzkarren, in dem ein paar Bretter lagen, und suchte sich ein kräftiges, kurzes Vierkantholz aus, das darunter lag. Er sprang dem Zombie mit ausgestrecktem Fuß entgegen, trat ihn um und sprang gleich hinterher, um ihm mit einem
derben Schwung das Kantholz über den Schädel zu ziehen. Wumm - der Schlag saß. Belder wußte inzwischen, wie man diese Bestien ausschalten konnte, und wartete gar nicht länger. Es war zwar eine dreckige Arbeit, jemandem den Schädel zu Brei zu hauen, aber er sagte sich wieder einmal, daß dies hier kein Mensch war - nur ein widerliches Monstrum. Keinem Gegner im Kampf hätte er so etwas angetan - nicht mal einem Ork. Ein bißchen Achtung konnte man sogar vor ihnen, als Kämpfer, haben. Dies hier aber war wirklich nur eine Ausgeburt einer schrecklichen anderen Welt. Dann hatte er den Zombie, nach sieben, acht heftigen Schlägen, erledigt. Er ließ das Kantholz angewidert fallen, wandte sich um und rannte weiter Richtung Hafen. Als er um die letzte Ecke bog, blieb er entsetzt stehen. Mitten auf der Hafenmole hockte der Dämon. Belder schnappte nach Luft. Er war also tatsächlich in die Stadt gekommen! Er hielt einen Mann auf, der gerade an ihm vorbeistürmen wollte. Es war Zacharias, einer der älteren Minenarbeiter, die im Dienst von Hippolyth Jachoch standen. Überall flohen die Leute aus dem Hafen, eines der Häuser am anderen Ende hatte Feuer gefangen, das sich nun auszubreiten drohte. „Verdammt, was ist passiert?“ zischte Belder. Zach blieb schwer atmend stehen. „Sie sind auf das Schiff gegangen“, keuchte er. „Einige junge Kerle. Mit Fackeln und Schwertern! Threll, Jachoch und Zappsteen haben ihnen viel Geld geboten. Wenn sie den Dämon vertreiben!“ Belder stieß einen Fluch aus. Was dann passiert war, konnte er sich selber zusammenreimen. Es war ja auch deutlich zu sehen. Er ließ Zach trotzdem ausreden. „Sie schrien“, berichtete der atemlos.
„Schrien um ihr Leben. Dann war Stille, und dann ...“, damit deutete er auf den Dämon, der mit seinem typischen Hin- und Herwiegen da unten auf der Mole hockte, „... kam diese Bestie hervor!“ Belders Blicke huschten durch den Hafen, hin und her. An manchen Stellen brannten Kohlefeuer in flachen Schalen, und überall lagen fallengelassene Fackeln. Zweifellos Fackeln von Leuten, die vor Entsetzen in alle Richtungen geflohen waren. „Die Zombies“, sagte Belder. „Ich sehe da überall diese Zombies. Da drüben, vier Stück. Und da ... und dort. Es sind mindestens ein Dutzend! So viele waren nicht auf dem Schiff! Wo kommen die her?“ Da sah Belder die Antwort selber. In der Nähe des golden leuchtenden Dämons, der mitten auf der Mole hockte, lagen reglose Körper, vier oder fünf Stück. Und gerade eben erhob sich einer von ihnen. Belder schauderte. Es war der Dämon selbst! Er konnte Leute umbringen - die sich dann aber, Minuten später, als Untote wieder erhoben! Verflucht! Diese goldgierigen Drecksäcke! Hatte er sie nicht eindeutig genug gewarnt? Wie waren sie auf die Idee gekommen, daß sie die Bestie besiegen konnten, nachdem zuvor acht Soldaten auf dem Schiff umgekommen waren? Es war die verfluchte Goldgier der Leute von Sykand. Es wurde Zeit, daß sie eine Lektion erhielten, und so gesehen geschah ihnen dieser Mist verdammt recht! Dann aber sah Belder, wie an der anderen Seite des Hafens die Vierergruppe von Zombies gerade zwei Leute niedermachte. Ihre verzweifelten Todesschreie hallten durch den nächtlichen Hafen. Es war ein grausames Schicksal, und das wünschte er keinem, auch nicht den Reichen von Sykand, so nötig sie eine Lehre auch erteilt bekommen mochten. Er starrte hinüber, zum anderen Hafenende, wo zwei der
Zombies von ihren Opfern abließen und sich in eine andere Richtung wandten. Das Feuer in dem Haus - Belder glaubte, es war der Laden des Kupferschmieds - hatte sich mittlerweile ausgebreitet. Belder konnte nichts tun. Er könnte allein kein brennendes Haus löschen, und er besaß auch keine Waffe. Nach allem, was er wußte, mußten es mindestens ein Dutzend Zombies sein, die hier umhertappten, wahrscheinlich sogar mehr. Auf dem Schiff waren, als er das Mädchen befreit hatte, noch fünf oder sechs gewesen, dazu kamen die jungen Leute, die an Bord gegangen waren, und nun noch einmal die, die der Dämon umgebracht hatte. Mit etwas Pech waren es inzwischen zwanzig. Belder fluchte. Zach riß sich los und verschwand in der Dunkelheit. Der Hafen war nun leer, keine einzige lebende Seele gab es dort noch, nur den Dämon und ein gutes Dutzend der Untoten. Belder blickte auf die reglosen Körper in der Nähe des Dämons. Es waren noch vier, die dort lagen - nein, nur noch drei, denn gerade regte sich wieder einer. Na wunderbar, dachte er. Sykand hatte sich in einen Ort des Terrors verwandelt. Er überlegte, was er tun sollte. Sich bewaffnen und versuchen mit ein paar Mutigen die Zombies zu erschlagen? Aber wo sollte er sie finden - diese Mutigen? Und würde es auch nur einen wirklich erfahrenen Kämpfer unter ihnen geben, den man mit einer vernünftigen Aussicht auf Erfolg gegen einen Zombie kämpfen lassen konnte? Er schüttelte den Kopf. Nein. Nachdem Yannis und seine Soldaten tot waren, gab es vermutlich gar keinen richtigen Kämpfer mehr in Sykand. Keinen außer ihm. Daß er mit einem oder sogar mit ein paar Zombies fertig werden konnte, hieß gar nichts. Auch er kämpfte immer mit dem Risiko durch einen unglücklichen Treffer umgeworfen zu werden - und wenn einen diese Biester erst einmal hatten, dann war es aus. Die Zombies waren inzwischen wer weiß wo in Sykand. Im
Moment war er machtlos. Dann fiel ihm das Mädchen wieder ein. Sein Herz machte einen Satz. Sie war allein in seinem Haus und ahnte sicher gar nicht, was hier im Gange war. Er wandte sich um und begann zu laufen. Nein, das wäre verdammt ungerecht, wenn ausgerechnet sie jetzt solch einer Bestie zum Opfer fallen sollte. Er hatte sie nicht vor den Zombies gerettet, um sie nun doch noch von ihnen töten zu lassen. Er rannte durch die nächtlichen Gassen der Stadt, und bald schon näherte er sich seinem Haus - Sykand war nicht groß. Er verlangsamte seinen Schritt, blieb dann kurz stehen und sah sich um. In der Umgebung schien alles ruhig zu sein. Langsam und jeden Schatten mißtrauisch musternd schritt er weiter. Das Madamal stand noch immer hoch droben am Himmel, und er konnte recht gut sehen. Hier, in diesem Teil der Stadt, hätte man meinen können, daß in Sykand wunderbarer Frieden herrschte. Aber diese Zeiten waren vorbei. Dann war er nah genug, um Licht in der Küche seines Hauses sehen zu können - aber das Mädchen konnte er nicht erkennen. Mit dumpf schlagendem Herzen schlich er durch den Garten und trat, so leise es ging, durch die halb offene Haustür. Die hatte er selber offen gelassen, soweit er sich erinnerte. In der Diele umging er die quietschenden Bohlen und schlich vorsichtig zur Küchentür. Er konnte sich nicht vorstellen, daß tatsächlich schon einer der Zombies bis hierher vorgedrungen war, aber besser, er ging sicher. Sein Verhalten war eine reine Vorsichtsmaßnahme, antrainiert in zwölf Jahren als Krieger und Soldat. Sein Schwert mußte noch immer in der Küche liegen, und er hatte keine Lust auf eine Überraschung. Dann hatte er die Küchentür erreicht und lauschte. Ein ekliger Schauer fuhr ihm den Rücken herab. Das waren
eindeutig schmatzende Geräusche, die er da drinnen hörte! Bei allen Göttern - war tatsächlich schon eine der Bestien bis hierher vorgedrungen und hatte sie erwischt? Fraß das Vieh sie gerade auf? Belder wurde schlecht vor Angst. Sein Schwert lag, wenn er Glück hatte, noch auf dem Küchentisch - das mußte er als erstes erreichen. Er holte tief Luft, nahm Anlauf und warf sich dann mit der Schulter gegen die Tür. Sie krachte auf, und er polterte in die Küche hinein, riß den Tisch um und landete direkt vor ihr. Sie war splitternackt und stieß einen Schrei aus. Belder rappelte sich verblüfft in die Höhe, da sah er, daß sie naß war, nasse Haare hatte und ihr der Schaum vom Bauch tropfte. Dann traf ihn schon das Handtuch - einmal, zweimal, danach ein hartes Stück Knochenseife; er hatte gar nicht gewußt, daß sich ihm Haus noch eins befand. Gleich darauf spürte er eine Ohrfeige und einen Tritt gegen den Oberschenkel, und nun - Belders Augen weiteten sich - griff sie nach dem Fleischmesser, das neben ihr bei dem abgewaschenen Geschirr lag. Er sprang auf und machte, daß er davonkam. Nichts auf der Welt war so gefährlich wie eine überraschte, wütende Frau. Als er durch die Tür stürzte und sie hinter sich zuschlug, hörte er ein dumpfes „Tock!“ und danach das typische, zitternde Geräusch eines Messers, das irgendwo steckengeblieben war und ausfederte. Er stieß ein Ächzen aus. Er blickte nach links oben und erkannte die Spitze des Messers, das glatt das Holz durchdrungen hatte. Verfluchtes Weibsstück! Er stieß sich ab, drehte sich herum brüllte die geschlossene Tür an. „Verdammt! Ich wollte doch nur sehen, ob du in Ordnung bist!“ Er hörte keine Erwiderung aus der Küche, nur leise Geräusche, ähnlich dem Wimmern, das er auf dem Schiff
vernommen hatte. Sie heulte. Wütend stampfte Belder auf und stieß einen saftigen Fluch aus. Er wandte sich um. Was hatte er sich da nur für eine Last aufgeladen? Sie wohnte nun in seinem Haus, aß von seinem Teller, und immer dann, wenn er ihr das Leben retten oder sich um sie kümmern wollte, benahm sie sich wie eine Bergdistel. Mit langen Stacheln - bleib mir vom Leib! Wütend wandte er sich ab. Neben der Haustüre stand der Querbalken, mit der man sie verrammeln konnte. Er hatte die Haltehaken lange nicht überprüft, aber egal. Mit unwirschen Bewegungen knallte er den Balken in die beiden Halterungen und schob dann noch die schwere Kommode, die in der Diele stand, vor die Tür. Sein Herz wummerte vor Schreck, Wut, Sorge und noch hundert Sachen mehr. Verdammt - jetzt mußte er sich hier gegen die Zombies verbarrikadieren, und das noch mit ihr im Haus! Die Götter wußten, ob er in den nächsten Tagen überhaupt Sykand verlassen konnte - jeder Kapitän, der hier einlief und noch einigermaßen bei Trost war, würde sofort wieder kehrtmachen, wenn er sah, was hier los war. Der Hafen würde morgen früh aussehen wie ein Schlachtfeld. Mindestens das eine Haus würde abgebrannt sein, die gespenstische Dinia Tjerbus lag noch immer an Ort und Stelle, und wer wußte schon, wie viele Leichen herumliegen würden. Belder marschierte, noch immer mit einem Gefühlssturm in seinem Inneren, in die Wohnstube und stellte fest, daß sein Feuer bereits heruntergebrannt war. Wieder fluchte er. Kurzentschlossen trat er zu einem Fenster, öffnete es, spähte hinaus und sprang dann mit einem Satz hindurch. Im Garten war es ruhig. Er holte sich ein paar Armvoll Brennholz, warf es durch das offene Fenster hinein und war bald darauf wieder drinnen. Dann verschloß er sorgfältig die beiden Fensterläden der
Wohnstube. Sie würden zwar eine Gruppe entschlossener Zombies nicht zurückhalten, aber immerhin würde niemand hier lautlos eindringen können. Belder entfachte das Feuer neu. Dann machte er seine Matratze zurecht und ließ sich mit einem lauten, unwilligen Stöhnen darauf fallen. Ja, ein Krug Schnaps wäre ihm jetzt recht gewesen. So einen verrückten Abend hatte er noch nie erlebt! Er lag da, starrte böse ins Feuer und haderte mit allem. Irgendwas schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Er setzte sich ein paar Mal auf, ließ sich wieder zurückfallen und warf der geschlossenen Tür zur Diele finstere Blicke zu, so als könne sie etwas für sein Unglück. Er überlegte eine Weile krampfhaft, ob er noch irgendwo im Haus einen Krug Schnaps versteckt hatte - es war eine dieser Gelegenheiten, wo man das heftige Pochen des eigenen Herzens nur mit einem kräftigen Schuß Alkohol wieder beruhigen konnte. Aber nein, er hatte nichts mehr. Wenn überhaupt, dann irgendwo in der Küche, aber da konnte er jetzt nicht hin. Dann endlich, nach langer Zeit, beruhigte sich sein Herz wieder. Schließlich starrte er die Tür wieder an und fragte sich, was das Mädchen nun dort drüben in der Küche tat. Hockte sie vielleicht in der Ecke und weinte vor Schreck über sein Eindringen? Oder war sie gar abgehauen - durch das Küchenfenster in die Nacht hinaus, ohne zu ahnen, was für eine furchtbare Gefahr dort draußen lauerte? Er wußte nicht, was er tun sollte. Wenn er ehrlich war, trug er selber einen Teil der Schuld an dem, was zuvor in der Küche geschehen war. Aber trotzdem: Er war ja sofort wieder abgehauen! Das hätte sie sehen müssen! Ihm ein Messer hinterherzuwerfen, das war ein verdammter Mordanschlag gewesen!
Er ließ sich wieder zurückfallen. Nun würde sie diese Nacht da drüben in der Kälte verbringen müssen, denn er hatte nicht mehr die geringste Lust, ihr Feuerholz zu bringen. Und sie war auch nicht so gut verbarrikadiert wie er - ja, sie wußte nicht einmal, daß die Zombies in der Stadt waren! So ganz wohl war Belder bei dem Gedanken nicht, daß er sie unter diesen Gegebenheiten dort drüben alleine ließ. Und auch sein Schwert hatte er nicht, das lag bei ihr. Aber er hatte keine verdammte Vorstellung davon, wie er es jetzt hinbekommen sollte, dort hinauszugehen und mit ihr zu reden. Sollte er vielleicht an die Tür gehen, leise klopfen, und sie mit reumütiger Stimme um Verzeihung bitten? Nein - das kam überhaupt nicht in Frage. Er nahm sich vor, diese Nacht nur mit einem Auge zu schlafen und mit dem Rest seines Geistes auf irgendwelche Unregelmäßigkeiten zu lauschen. Das konnte er, hatte es als Soldat in der Schlacht ausgiebig geübt. Kämpfe im Krieg forderten fast immer Übermenschliches von einem. Stundenlange Gefechte mit Angriffs- und Rückzugswellen am Tag, abends Waffen und Rüstung in Ordnung bringen, Wunden versorgen und sich verpflegen und dann noch, völlig erledigt und unter Schmerzen, die halbe Nacht Wache stehen. Da hatte er einiges mitgemacht. Mit den Gedanken in alten Zeiten döste er langsam ein. Der Krieg, ja, das waren harte Zeiten gewesen, und wiewohl er das Töten nicht liebte, mochte er doch den Kampf. Eine saubere Auseinandersetzung Mann gegen Mann, mit Waffen, die man sehen, und Taktiken, die man erahnen konnte. Nicht so ein Gezänk mit einem Weib. Nein, damit kannte er sich nicht aus, und es machte ihm Angst. Er hatte als Junge gelernt - wie auch jeder andere Junge -, daß man nett zu den Mädchen sein und sie beschützen mußte. Das war ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß er es jetzt, da er erwachsen war, natürlich ganz selbstverständlich beibehielt. Seine Gefühle
allerdings wollten ihm etwas anderes einflüstern. Wäre das dort drüben ein Kerl gewesen, dann hätte er erstens längst gehörig eins in die Schnauze gekriegt und wäre zweitens eine Sekunde später, und zwar achtkantig, aus seinem Haus geflogen. Aber nein, er hatte sich ja ein Mädchen einfangen müssen. Ein junges, rothaariges Mädchen! Das war genau die Sorte Mensch, mit der er sich am allerwenigsten auskannte. Na ja, das paßte ja wieder zu ihm.
7
Besuch
Irgendwann tief in der Nacht wachte Belder von einem Geräusch auf. Augenblicklich war er hellwach und fuhr hoch. Seine Sinne lauschten in die Dunkelheit; hier im Raum war es schon bedenklich finster, das Feuer war bis auf Glutreste ganz heruntergebrannt. Für eine Weile hörte er nichts mehr... aber dann waren es gleich zwei Geräusche und aus unterschiedlichen Richtungen! Hier, bei ihm, an dem verrammelten Fensterladen, machte sich jemand leise zu schaffen, und von jenseits der Diele hörte er ein Rumpeln und einen scharfen Schlag - wie Holz auf Holz. Sofort stand er auf den Füßen. Mit einem Satz war er beim Kamin, warf alles an Holz hinein, was er finden konnte, und blies ein paar Mal kräftig. Wenn es zum Kampf kam, dann brauchte er Licht. Dann schnappte er sich einen der übriggebliebenen Scheite, ein handliches Ding, und schlich in Richtung des Fensters, wo das Rütteln nun stärker wurde. Aber bei der Art und Weise, wie man es von außen zu öffnen versuchte, würde es wohl noch für eine Weile halten, das hörte er. Doch die Geräusche von jenseits der Diele - wahrscheinlich aus der Küche - machten ihm mehr Sorgen. Und da lag auch sein Schwert - und das brauchte er. Rasch ging er zur Tür hinüber, lauschte kurz und zog sie dann weit auf. Beinahe wäre er dem Zombie mitten in die Arme gelaufen. Diesmal war es ein fast völlig verwestes Etwas, ein Knochengerippe mit Fetzen vermoderten Fleisches und einem halb zerschlagenen Schädel. Belder sprang zurück und fragte sich entsetzt, ob es vielleicht doch nicht genügte, diesen Wesen
den Kopf zu zertrümmern; ob der Zombie vielleicht einer derjenigen war, die er nur 'halb' erledigt hatte. Das Monstrum war mit einem unförmigen, aber langen und schweren Knüppel bewaffnet und setzte sofort nach. Erstmalig wurde Belder bewußt, daß es wirklich so etwas wie Magie oder Hexerei sein mußte, jedenfalls irgendeine jenseitige Macht, die diese Wesen zusammenhielt und ihnen zu solcher Kraft verhalf. Normalerweise hätte diese Kreatur einfach auseinanderfallen müssen. Doch der Knüppelschlag des Untoten war von mörderischer Wucht; er verfehlte Belder zwar weit, krachte dafür aber in den Boden und zerschlug glatt eine der Bodendielen. Belder bezweifelte, daß er so etwas selbst hätte zuwege bringen können. Dafür aber zersplitterte der Knüppel des Untoten. Belder war erfahren genug, sofort seine Chance zu nutzen. Das Feuer war kaum wieder aufgeflackert, und er sah nicht viel, aber seine Bewegungen waren aus alter Zeit noch immer gut trainiert, und er wußte, wie er seine improvisierte Waffe schwingen und durchziehen mußte, um Wirkungstreffer zu erzielen. Er traf zwei, drei Mal in der Körpermitte und nahm dann eine Sekunde lang Maß, um den Kopf zu erwischen. Dann zog er mit beiden Händen und aller Kraft durch, traf, und wegen des deftigen Krachens, das er links von der Wand widerhallen hörte, glaubte er dem widerlichen Monstrum den Schädel vorn Rumpf heruntergeschlagen zu haben wie mit einer Axt. Er kauerte für Augenblicke in der Dunkelheit, dann hörte er vor sich nur noch das Zusammensacken des Körpers seines Gegners und war nun sicher, daß er gewonnen hatte. Dann drang ein Schrei aus Richtung der Küche an sein Ohr kurz danach ein Poltern und wieder jener dumpfe Schlag. Er packte seinen Knüppel fester und stürmte los. Abermals war die Küchentür sein Ziel, und wenn sie ihn
diesmal wieder mit dem Messer angriff, dann würde er sie gleich mit umbringen. Sofern sie noch lebte. Dann rauschte er - Krach! - durch die Tür, ließ sich fallen, über die Schulter abrollen und stand sofort wieder. In der Küche herrschte helles Licht vom Feuer im Ofen, und was er sah, ließ ihn vor Erstaunen erstarren. Das Mädchen stand mit erhobenem Schwert in der Ecke, von drei Zombies bedrängt, aber vor Belder, auf dem Boden, lag ein weiterer, und mit abgetrenntem Kopf! Das Mädchen konnte mit einem Schwert umgehen! Mit einem Aufschrei warf er sich nach vorn und fuhr mit einer breiten Beinschere mitten in die Zombies hinein. Eine Bewegung später polterten zwei von ihnen zu Boden. Noch während er wieder aufsprang, sah er, daß sich das Mädchen geistesgegenwärtig auf den dritten konzentrierte - der aber trug, wie schon Yannis auf dem Schiff, wieder so eine riesige Axt. Das konnte sie nicht schaffen! Aber er bekam keine Gelegenheit, zu ihr zu eilen. Einer der liegenden Zombies schnellte in die Höhe, und Belder verfluchte diese Biester, die so ungelenk umhertappten und dann im Kampf doch plötzlich blitzschnell agieren konnten. Er rollte sich zur Seite, als ein Streich mit einem rostigen Schwert auf ihn zupfiff, und nutzte, als er herum war, die Gelegenheit, dem anderen Zombie, der noch lag und die Orientierung noch nicht wiedergewonnen hatte, sitzend seinen Knüppel auf den Leib zu dreschen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der andere, noch stehende Zombie seine Axt mit fürchterlicher Wucht niederfahren ließ und dort in der Holzwand, wo einen Augenblick zuvor noch das Mädchen gestanden hatte, einen neuen Zugang in die Diele schuf.
Belder stieß seinen x-ten Fluch an diesem Tag aus parierte mit seinem Knüppel einen Schwertstreich seines Gegners und bemühte sich, auf die Füße zu kommen. Das Mädchen war ihrem Gegner irgendwie entwichen, wohl zur Seite weggetaucht, und bearbeitete ihn nun, als er versuchte, seine Axt aus der Wand zu befreien, mit dem Schwert. Belder sah, daß sie es auf durchaus gekonnte Weise tat, trotzdem war der Erfolg nur mäßig. Diese verfluchten Wesen besaßen eine unfaßbar zähe Konstitution. Er mußte ihr irgendwie helfen. Aber er bekam keine Gelegenheit. Schon waren seine beiden Gegner wieder auf den Beinen und drangen auf ihn ein. Für Momente stand er nahe bei ihr, berührte sie Seite an Rücken, und ein seltsames Gefühl durchfuhr ihn. Sie reichte ihm kaum bis zur Achsel, war unglaublich zierlich, ja er konnte sogar deutlich wahrnehmen, wie zart und weich sie war. Und trotzdem vermochte sie sich mit einem Schwert zur Wehr zu setzen, sogar mit einem, das nicht gerade klein war. Er spürte einen Moment enormer Erleichterung, daß sie sich nicht wieder gegen ihn gewandt hatte. Im Moment war sie seine Kampfgenossin, und das war eine Sache, die ihm lag, die ihm ein gutes Gefühl verschaffte. Zum ersten Mal verspürte er eine Verbindung zu ihr, und er spürte ein Gefühl wie im Kampf auf dem Schlachtfeld, Rücken an Rücken mit einem Kameraden und wissend, daß jeder für den anderen einstehen würde. Grunzend drangen die beiden Zombies auf ihn ein. Er vermißte sein Schwert wie eine ferne Geliebte, wußte aber, daß sie es nötiger brauchte als er. Vielleicht gelang es ihm, dem einen Zombie das Schwert zu entwinden. Dann wurde es schlimm. Seine beiden Gegner drängten ihn mit Macht von ihr weg, und er schaffte es gerade noch, einen Schwertstreich, der sie hätte treffen können, mit seinem Knüppel abzufangen. Er zog wieder durch, traf den unbewaffneten Zombie und versetzte ihm einen Treffer, der ihn
so heftig zurückwarf, daß er sieben, acht Schritte rückwärts taumelte und sich dann in die große Öffnung des Ofens setzte. Augenblicklich standen seine Lumpen in Flammen. Belder stöhnte vor Entsetzen auf, als er sah, daß der Untote seine gräßliche Fratze um keinen Deut verzog, sich gleich wieder erhob, als hätte er gerade eine ruhige Stunde in einem gemütlichen Sessel verbracht, und dann brennend auf ihn zutappte. Da traf ihn das Schwert des anderen Zombies an der Schulter, und er brüllte auf. Er fuhr herum, zog mit aller Kraft seinen Knüppel durch und konnte ihn gerade noch so korrigieren, daß er das Mädchen nicht erwischte, die zu nahe stand. Das verhalf ihm zu einem Glückstreffer. Der Schwertzombie bekam die Spitze seines Knüppels in die Visage, so daß es ihm das halbe Gesicht wegriß. Es wäre eine interessante Frage gewesen, welche Gesamtwirkung so ein Treffer haben würde, für den Moment aber reichte es Belder, daß der Zombie orientierungslos umherschwankte. Er nutzte diesen Moment, um ihm mit seinem Knüppel einen kräftigen Schlag auf die Schwerthand zu verpassen, so daß er seine Waffe fallen ließ. Sofort bückte sich Belder, hob das rostige, vergammelte Ding auf und zog mit einem beherzten Streich durch. Der Kopf der Bestie flog davon, durchschlug das Fenster und landete im Garten. Belder holte Luft. Dann, als er sich umwenden und nach dem Mädchen sehen wollte, entflammte sein gesamter Rücken in brennendem Schmerz. Brüllend wollte er sich aus dem Griff des in Flammen stehenden Zombies winden, erhielt dann jedoch einen derben Schlag gegen den Hinterkopf, der ihm die Sinne trudeln ließ. Er schrie, die Flammen taten so weh, und dann kam noch ein Schlag, und er sackte ohne Besinnung zusammen. Als er wieder aufwachte, fühlte er ein feuchtes Tuch auf seiner Stirn.
Seine kämpferisch jahrelang trainierten Sinne waren ziemlich rasch wieder da, und er begann die Situation zu erfassen. Keine Gefahr mehr. Von einem Zombie hatte er so manches zu erwarten, nicht aber, daß er ihm mit einem feuchten Tuch die Stirn abtupfte. Als sein Blick klarer wurde, sah er das Gesicht das Mädchens über sich, und wenn ihn nicht alles täuschte, erkannte er dort, zwischen ihrer kleinen, sommersprossigen Nase, dem leicht vorwurfsvoll geformten, mädchenhaften Schmollmund und ihren grauen Augen, einen leichten Ausdruck von Sorge. Er lag auf dem Rücken, und wiewohl er ein gewisses Brennen von dort verspürte, schien er keine schlimmeren Brandverletzungen davongetragen zu haben. Seine rechte Schulter brannte da schon schlimmer, und von seinem Hinterkopf ging ein ziehendes, dumpfes Gefühl aus. Mit einem Ächzen rappelte er sich auf, verzog vor Schmerzen das Gesicht und tastete nach seinem Hinterkopf. Er spürte Nässe, ja. das war Blut, aber auch das schien nicht weiter schlimm zu sein. Immerhin, es hatte gereicht, ihn für eine Weile ins Reich der Träume zu schicken. Das Mädchen saß vor ihm, mit dem Hintern auf den Fersen, die Hände brav im Schoß zusammengelegt, und sah ihn an. Der leichte Anflug von Sorge war gewichen, im Moment war ihr Gesicht ziemlich ausdruckslos, und das war ihm recht so. Vielleicht stand irgendwo, in einem großen, goldenen Buch des guten Benehmens die Regel, daß er sie jetzt umarmen und ihr mit warmen Küssen danken sollte, weil sie ihm das Leben gerettet hatte. Aber für so etwas war er nicht gebaut. Er nickte ihr zu. „Danke“, sagte er. Sie kniff die Lippen leicht aufeinander, was so etwas wie ein Lächeln in den Mundwinkeln ergab, das war alles.
Er sah sich um. Die Küche war ein Schlachtfeld. Vier tote Zombies lagen hier, keiner mehr mit einem Schädel auf dem Leib, und einer von ihnen qualmte noch. Er lag in einer Wasserpfütze, sie mußte ihn gelöscht haben. Ungläubig den Kopf schüttelnd, sah er sie wieder an. Der Eindruck von Ungefährlichkeit, der in diesem Moment von ihr ausging, war grotesk. Plötzlich mußte er leise und grimmig lachen. „Du hättest zur Armee gehen sollen“, meinte er. „Ich hab einen erledigt, du drei.“ Wieder kniff sie die Lippen leicht zusammen, dann sah sie zur Seite und erhob sich. Sie verwirrte ihn. Die Bewegung, mit der sie plötzlich aufstand, war geschmeidig und völlig mühelos gewesen. Er konnte vielleicht ebenso aufstehen, aber bei ihm wäre es ein Akt der Muskeln gewesen, eine kraftvolle Bewegung. Sie hingegen stand auf, als wäre es ein Nichts, die Schwerkraft zu überwinden, und irgendwie ... war es elegant gewesen. Elegant. Er kannte dieses Wort, hatte ihm aber noch nie irgendeine Bedeutung zumessen können. Zum ersten Mal erahnte er, was damit gemeint war. Eine flüssige Bewegung, die irgendwie damit zusammenhing, dabei auch eine gute Figur zu machen. Und das, obwohl sie seine unmöglich weiten Klamotten trug. Gekämpft hatte sie nur im Hemd, das wurde ihm gerade bewußt, sie mußte überrascht worden sein. Jetzt trug sie seine Hose. Ihre Haare und ihr Gesicht waren sauber, nachdem sie sich zuvor gewaschen hatte, und in den sauberen Kleidern sah sie inzwischen überraschend manierlich aus. Nur ihre feuerroten Haare, dazu noch ein riesiger Lockenschopf, waren ein sehr ungewöhnlicher Anblick. Sie machte sich gerade daran, die Unordnung in der Küche aufzuräumen. Er beobachtete sie einige Momente lang. So wild sie eben noch gekämpft hatte, so ... weiblich wirkte sie jetzt. Weiblich.
Das war wieder so ein Wort, mit dem er eigentlich gar nichts rechtes anfangen konnte. Er wußte, was Weiber waren, hatte während seiner Zeit bei der Armee durchaus einige gehabt, aber sie alle waren Huren gewesen. Nichts gegen Huren, sagte er sich. Die meisten von ihnen waren große, warme und freundliche Frauen gewesen, die ihren Beruf durchaus weiter gefaßt verstanden, als einem Mann bloß eine schnelle, derbe Befriedigung zu verschaffen. Nicht selten hatte er sich an ihrem mütterlichen Busen verkrochen, ihre freundlichen Worte und warmen Berührungen aufgesogen, um danach wieder ein bißchen erstarkt in den nächsten Kampf ziehen zu können. Ja, eine von ihnen hatte er sogar ein bißchen geliebt - nun ja, falls es Liebe war, was er für sie empfunden hatte. Mit Liebe kannte er sich ebenfalls nicht sonderlich gut aus. Aber zu Anna war er gern gegangen. Ja, und er hatte sie manches Mal schmerzlich vermißt, nachdem ihn sein Dienst im Kampf gegen die Orks an einen anderen Ort verschlagen hatte. Bei Anna hatte er viel von seinem Sold gelassen, aber keine einzige Münze, die er ihr je gegeben hatte, tat ihm leid. Sie hatte eine unnachahmliche Art, das Geld entgegenzunehmen, nachdem sie ihn mit ihrem Liebesdienst beglückt hatte. Es war fast so etwas wie ein Vergnügen gewesen, sie zu bezahlen. Ja, Anna war eine gute Frau gewesen, ein Weib, wie es im Buche stand. Aber weiblich? War sie weiblich gewesen? Irgendwie war dieses Mädchen weiblich; die Art, wie sie sich bewegte, wie sie ihn ansah, wie sie all ihre kleinen Dinge tat. Und vielleicht auch elegant. Aber trotzdem konnte er damit nichts anfangen. Er schnaufte. Es verunsicherte ihn, hinterließ ihn in einer Lage, daß er nicht wußte, wie er sich verhalten sollte, und das machte ihm die ganze Sache schwer. Seine
Stimmung verkantete sich unmerklich. Irgendwas sagte ihm, daß er jetzt Grund hatte, nett zu ihr zu sein, denn ohne sie wäre er jetzt tot. Aber er wußte nicht, wie das ging. Er hätte es vielleicht irgendwie hingekriegt, zu Anna nett zu sein, wenn sie ihm gerade das Leben gerettet hätte, mit derben Worten und zotigen Anspielungen - aber zu diesem Mädchen? Nein, er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Mißmutig erhob er sich. Immerhin konnte er diese seltsame Unsicherheit spüren, die da in ihm steckte, und er sagte sich, daß er sich wenigstens bemühen sollte, nicht eklig zu ihr zu sein. Vielleicht schaffte er das ja. Sie stellte die Stühle und den Tisch wieder auf, räumte die heruntergefallenen Gegenstände auf, und er begann, sich um die toten Zombies zu kümmern. Zuerst marschierte er hinaus in die Diele, rückte die Kommode von der Haustür weg und holte sich dann sein Schwert, denn er mußte nachsehen, ob es draußen ruhig war. Vielleicht trieben sich dort ja noch mehr von den Biestern herum. Dann fiel ihm ein, daß mindestens einer an seinem Fensterladen gerüttelt hatte, und er marschierte in die Wohnstube, um nachzusehen. Dort war jedoch alles ruhig. Inzwischen brannte das Feuer auch wieder hell, und es war schön warm. Dann ging er wieder hinaus, öffnete vorsichtig die Haustüre und spähte in die Nacht. Auch dort schien alles ruhig zu sein. Sicherheitshalber umrundete er noch das Haus, aber es war wie ein kleines Wunder: Obwohl sie von sechs der Monstren überfallen worden waren, regte sich dort nirgends mehr etwas. Er ließ das Schwert sinken und ging zurück ins Haus. Sie hatte die Küche schon einigermaßen aufgeräumt, und er begann, die vermoderten Leichen nach draußen zu schaffen. Es war ein ekelhaftes Geschäft, denn diese Kreaturen stanken schlimmer als jede Kloake. Den ersten zerrte er ein ganzes
Stück weit hinaus und ließ ihn einen kleinen Hang hinter seinem Haus hinunterkugeln. Dann fuhr er mit den anderen fort. Das Mädchen entschied sich, nachdem sie aufgeräumt hatte, für die ziemlich unangenehme Aufgabe, die Schädel der erledigten Zombies einzusammeln und sie ebenfalls nach draußen zu schaffen. Belders Achtung vor ihr wuchs. Sie kullerte die Köpfe mit dem Fuß in ein altes Tuch und verfrachtete die unheimliche Last mit angewidertem Gesicht durch den Garten zum Hang. Die ganze Zeit über blieben sie unbelästigt. Endlich hatten sie das Haus wieder sauber und verrammelten es abermals sorgfältig. Als sie danach zusammen in der Diele standen, nickte er ihr erleichtert zu. „Wenn du willst“, rang er sich brummend eine Freundlichkeit ab, „kannst du bei mir in der Wohnstube schlafen. Am Feuer oder so. Vielleicht ist das sicherer.“ Sie studierte sein Gesicht für eine Weile und nickte schließlich. Ganz leicht, und sie sah auch nicht sehr glücklich aus. Belder fragte sich, ob er wieder etwas falsch gemacht hatte. Er verfluchte sich für seine Unfähigkeit, ihr unbefangen gegenüberzutreten. Vielleicht waren sie ja beide nette Leute, aber konnten einfach nicht mit anderen Menschen umgehen. Hoffentlich war dieses Spiel bald zu Ende. Belder hoffte, daß er bald von Sykand wegkam, und dann konnte er sie und diese ganze unglückliche Geschichte vergessen. Sie begann ihm ein ungutes Rumoren in der Magengrube zu bereiten.
8
Der nächste Tag
Der nächste Tag begann mit einem leichten Nieselregen, der Belders Laune nicht gerade erhellte. Die Nacht war friedlich und problemlos verlaufen - bis auf die Tatsache, daß er kaum gewagt hatte einzuschlafen. Die Verwirrung und die Unsicherheit, die sich in seiner Magengrube festgesetzt hatten, stammten daher, daß sie nun einerseits so etwas wie ein Kumpel aus Kriegszeiten war und andererseits, und das war der vorherrschende Eindruck, so ein zierliches, kleines Etwas. Sie schien so verletzlich, und ihr zumeist trauriges Gesicht schien ihn unablässig um etwas bitten zu wollen; etwas, das er ihr nicht geben konnte. Er wußte einfach nicht, was es war, und er spürte auch, daß er es gar nicht hatte. Von seinem Schlafplatz aus hatte er in der Nacht eine Weile verstohlen ihr schlafendes Gesicht Studien, das vom Feuer erhellt war; und selbst im Schlaf schien es um etwas zu bitten vielleicht um Freundlichkeit oder Hilfe. Er hingegen wußte nur eins: Daß er sie wahrscheinlich nur mit seinem sägenden Geschnarche beglücken würde, falls er einschlief. Bei der Armee hatten sie nachts mit Stiefeln nach ihm geworfen. Und sie sah so verletzlich aus, daß er Skrupel hatte, ihr die Nacht zu vermiesen. Also lag er nur da, und zahllose, seltsame und verwirrende Gedanken kreisten durch sein Hirn. Irgendwann mußte er dann doch eingeschlafen sein, und als er morgens aufwachte, war um ihn herum alles aufgeräumt, sie war schon wach, und ein Frühstück wartete auf ihn. Verdammt, er hätte sich freuen sollen. Aber er konnte es nicht. Das vermaledeite Mädchen hatte sogar im Garten noch mehr Hühnereier aufgestöbert und aus dem Rest der Erbsen
und ein paar frischen Gartenkräutern einen Eintopf fabriziert, gegen den seine Pampe von gestern abend ein Witz gewesen war. Er hätte die Zombies dazu einladen können. Und dann hatte sie noch, es war kaum zu glauben, im Garten Pfefferminze gepflückt und daraus einen Tee gebrüht - er wußte nicht einmal, wie dieses Zeug überhaupt aussah! Aber der Tee schmeckte vorzüglich. Das war ihm zuviel. Am liebsten wäre es ihm gewesen, er hätte nach dem Frühstück, oder besser noch davor, ein paar Untote erschlagen können, um ihr das Leben zu retten - und um damit seine verkniffene Dankbarkeit irgendwie ausdrücken zu können. Nein, verflucht - sie hatte ja drei Zombies erschlagen und ihm damit das Leben gerettet! Belder wußte nicht mehr ein noch aus. Sie hatte nach dem Frühstück so schnell die Teller abgewaschen, daß er nicht mal Pieps! machen konnte, und dann saß er da, hatte nichts mehr zu tun, und in seinem Magen rumorte ein Schuldgefühl so groß wie ein Haus. Eigentlich hätte er jetzt seine paar Sachen zusammensuchen und ihr Lebewohl sagen wollen, um mit dem nächsten Schiff zu verschwinden. Elend entschied er sich, noch ein bißchen dazubleiben. Er nahm sein Schwert in die eine und sie an der anderen Hand - ja, das schaffte er seltsamerweise - und marschierte hinaus auf die Straße, um nachzusehen, wie es in Sykand aussah. Ein kleiner Wichtel saß in seiner Hand, der die ihre nicht loslassen wollte, denn sie fühlte sich ... so verdammt warm an. Und das gefiel ihm - und andererseits gefiel es ihm wieder gar nicht. Mit kalt zusammengebissenen Zähnen marschierte er los, zog sie hinter sich her, und nach einer Weile hatte er das irre Gefühl, daß er wirklich auf Kampf aus war; daß er jetzt am liebsten den Dämon aufgestöbert, ihn mit bloßer Hand erwürgt
und ihr zu Füßen gelegt hätte - nur um dieses gewaltige Gefühl in seinem Magen loszuwerden, daß er ihr etwas schuldete. Als sie dann draußen waren, wurde er ruhiger. Die frische Morgenluft tat ihm gut, und selbst der leidige Nieselregen, den er zuvor noch verflucht hatte, lenkte ihn ab und verlieh dem Morgen noch ein kleines Element, das seine Gedanken von dem Mädchen weglenkten. Dann trafen sie die ersten Leute. Man begegnete ihnen mit mißgestimmten Gesichtern, manchmal sogar offenkundiger Feindseligkeit. Niemand kam ihnen näher als zwanzig Schritt, und oft hörte er geflüsterte Worte wie Huch oder Hexe. Und das, so stellte er mit noch mehr Verwirrung fest, machte ihn sogar stolz. Im Hafen sah es aus wie auf einem Schlachtfeld, und er hätte den Leuten am liebsten ins Gesicht gebrüllt, wie tapfer sie in dieser Nacht gewesen war, seine kleine Hexe, daß sie einem Krieger wie ihm das Leben gerettet hatte, und jeder von ihnen hätte froh sein können, sie in seiner Nähe zu haben. Ja, er war stolz auf sich, daß er zu ihr stand, daß er über alle Vorurteile und Böswilligkeiten der Sykander hinweg sie an ihrer kleinen, verletzlichen Hand hielt und nicht zulassen würde, daß sich einer von ihnen an ihr vergriff. Langsam versöhnte ihn das ein wenig. Er hatte nun doch etwas gefunden, mit dem er ihr danken konnte, ohne sie küssen zu müssen, nämlich ihre Hand zu halten, und sie nicht loszulassen, egal, was die Spötter von Sykand auch sagen mochten. Sie ließ sich von ihm mitziehen, immer einen halben Schritt hinter ihm. Manchmal sah er nach ihr, verstohlen nur, und wußte eigentlich nicht, was er in ihrem Gesicht zu entdecken hoffte. Und dann war er stets froh, wenn er sah, daß sich dieses Gesicht eigentlich nicht veränderte. Es war ausdruckslos, neutral. Ja, das war tatsächlich gut so, denn alles andere hätte
ihn nur weiter verunsichert. Dann trafen sie Salis von Thralbeg. Zu ersten Mal, seit sie losmarschiert waren, ließ er ihre Hand los. Der Erste maß ihn und dann das Mädchen mit strengen Blicken, aber er enthielt sich irgendwelcher Bemerkungen. Abbot Melkor war bei ihm, aber der Efferd-geweihte trug seinen üblichen milden Gesichtsausdruck und sagte nichts. Von Thralbeg berichtete Belder von den Überfällen in der Nacht, von vier Häusern, in denen der Dämon eingebrochen war, und von gut dreißig Zombies, die ihr Unwesen getrieben hätten. Dreißig! Das war ein glattes Zehntel der Bevölkerung von Sykand, und das in der ersten Nacht! Das eine Haus im Hafen war abgebrannt und ein anderes halb. Bei Tagesanbruch hatten sich die Zombies offenbar in irgendwelche dunklen Löcher verkrochen, und auch der Dämon war nicht mehr zu sehen. Von Thralbeg äußerte die Hoffnung, daß er vielleicht wieder verschwunden wäre, irgendwohin in seine namenlose Sphäre, aus der stammte. Aber Belder schüttelte nur den Kopf. Nein, das glaubte er nicht. Von Thralbeg verhielt sich reserviert, aber nicht wirklich feindselig. Anders Freimark Threll, der Drogist und Kräutermischer, der nach einer Weile mit ein paar anderen daherkam. Er bedachte Belder mit giftigen Blicken und verlangte von ihm, sich von dem Mädchen zu distanzieren. Sie sei ganz bestimmt der Quell des Unheils, das die Stadt heimgesucht hatte, sagte er, und Belder musterte angewidert die Handvoll Leute, die er bei sich hatte und die beipflichtend nickten. „Sie bleibt bei mir!“ sagte er fest und wurde sich dann erst darüber klar, was er gerade gesagt hatte. Er warf ihr einen unsicheren Seitenblick zu und atmete erleichtert auf, als er sah, daß sie nicht erfreut lächelte. Sein Entschluß, Sykand
baldmöglichst zu verlassen, stand nach wie vor fest. Und das würde er auch ganz sicher ohne sie tun. „Und du, Threll“, fuhr er fort, „solltest dir langsam einen anderen Schuldigen suchen! Sie ist stumm, wie soll sie da die Finger im Spiel gehabt haben?“ „Du sagst es ja selber, Belder!“ erwiderte der Drogist finster. „Die Finger im Spiel. Man muß nicht unbedingt reden können, um böse Zauber wirken zu können. Und einen bösen Blick zu haben!“ Belder sah unwillkürlich zu ihr, und tatsächlich, sie hatte einen bösen Blick. Aber keinen, der irgendeiner Hexerei entsprang. Sie starrte jedoch Freimark Threll an, als hätte sie nicht übel Lust, ihn anzufallen, am liebsten mit der großen Zombie-Axt von heute nacht. Das konnte er gut verstehen. „Wenn du das einen bösen Blick nennst, Threll“, sagte er und faßte ihn finster ins Auge, „wie nennst du dann den meinen?“ Belder konnte das - jemanden so ansehen, daß ihm das Blut in den Adern gefror. Es war Teil des Rituals, mit dem sich Gegner im Kampf musterten, bevor sie ihren ersten Streich ausführten. Nicht selten hatte er einem schwächlichen Ork auf diese Weise so viel Angst eingejagt, daß er zu einer leichten Beute geworden war. Auch der Drogist zuckte erschrocken zurück und machte irgendeine religiöse Schutzgeste. „Sie hat schon Besitz von dir ergriffen!“ rief er. „Ja, sie hat schon deine Seele! Efferd steh uns bei!“ Belder lachte grimmig auf. „Sei lieber froh, Kräuterpanscher! Außer mir und ihr gibt es wohl kaum jemanden mehr in der Stadt, der böse genug wäre, es mit den Zombies aufzunehmen.“ Threll begann leise auf seine Begleiter einzureden und auf ihn und das Mädchen zu deuten. Dabei, welch Heldentat, zog
er sich langsam zurück. Salis von Thralbeg seufzte angespannt. Dann wies er mit dem Blick auf sie und fragte: „Sie nimmt es mit den Zombies auf? Wie meinst du das?“ Es war Belder unangenehm. Aber trotzdem mußte er es sagen. Das Verdrehen von Tatsachen war ihm verhaßt, und sie hatte es verdient, daß er ihre Leistung gebührend hervorhob. „Fünf Zombies haben uns heute nacht überfallen“, sagte er finster. „Zwei habe ich erledigt - sie drei.“ Von Thralbeg zog erstaunt eine Augenbraue hoch und warf Melkor einen Seitenblick zu. Sie stand da wie ein kleines Kind, die Blicke unsicher auf den Ersten und den Efferdgeweihten gerichtet. „Drei Zombies? Tatsächlich?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie?“ Belder verstand, was er meinte. „Nicht mit Hexerei oder Magie, Erster. Mit dem blanken Schwert.“ Nun sah von Thralbeg Belder an, als glaubte er, auf den Arm genommen zu werden. „Mit dem Schwert? Sie?“ Abermals traf sein Seitenblick das Mädchen und sah sie an wie eine giftige Schlange. Da merkte Belder, daß er ihr mit dieser Anmerkung eher geschadet als genutzt hatte. Von Thralbeg glaubte das nicht. Belder sah wieder zu ihr und konnte ihm das nicht einmal verübeln. Es war, als hätte er behauptet, daß sie ihn mit einer Hand hätte hochheben können. Jetzt fragte er sich, ob von Thralbeg nun dachte, er, Belder, hatte das Mädchen in ein besseres Licht rücken wollen, oder ob er annahm, daß sie es in Wahrheit mit Hilfe einer Hexerei geschafft hatte. „Wir müssen Ordnung schaffen“, wechselte von Thralbeg das Thema. „Aber ich rate dir, halte dich fern, Belder. Die Leute hassen euch. Alle beide. Verschwinde mit ihr, wenn du sie unbedingt beschützen willst, aber komm nicht und versuche mitzuhelfen. Wir schaffen das allein.“ Er holte geräuschvoll
durch die Nase Luft. „Wir haben uns das auch allein eingebrockt.“ Damit wandte er sich ab und marschierte davon in Richtung eines Ortes, an dem sich andere Leute damit beschäftigten, einen umgestürzten Karren wieder aufzurichten. Belder starrte ihm finster hinterher. Was hatte er nur getan, daß sie ihn so haßten? Von Thralbeg machte immerhin keinen Hehl daraus, ihm zu sagen, was er von ihm und dem Mädchen hielt, und das respektierte Belder. Aber die anderen Leute, die ihnen an diesem Morgen begegnet waren, hatten sich anders verhalten. Er sah hinunter, Richtung Hafen, und versuchte sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß er das Mädchen doch würde mitnehmen müssen. Wenn er von hier wegging und sie allein zurückließ, würde man sie in weniger als einer Stunde umgebracht haben. Er blickte sie an und wußte, daß er das nun nicht mehr zulassen konnte. Sie hatte Seite an Seite mit ihm gekämpft, und das verband sie nun ein für alle Mal. Sie sah ihn an, und wieder war diese kleine Ahnung einer Bitte in ihrem Gesicht. Einer Bitte nach irgendwas. Wenn er nur wüßte, wie er dahinterkommen sollte, was es war. Vielleicht konnte er ja doch etwas tun. Abbot Melkor war noch bei ihnen stehen geblieben und blickte sie ernst an. „Ich werde für euch beten“, sagte er dann, wandte sich ab und folgte Salis von Thralbeg. Belder starrte auch ihm eine Weile hinterher. Der Efferdgeweihte war ein ruhiger Mann, und manchmal hatte Belder schon mit dem Gedanken gespielt, einmal zu ihm zu gehen, um mit ihm zu reden. Vielleicht konnte er mit seiner Besonnenheit ja irgendwie auf die Sykander einwirken. Dann aber hatte er es doch nicht getan. Er wußte auch nicht, warum. Belder nahm sie wieder an der Hand, diesmal ein wenig sanfter, und wandte sich um. Er wollte sich noch ein wenig in der Stadt umsehen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er war das gewöhnt; man konnte einen Krieg nur gewinnen, wenn
man wußte, wie das Gelände aussah und wo sich der Feind verschanzen konnte. Sie marschierten in den Ostteil, und hier sah es schlimmer aus als im Westen. Einigen unwilligen Auskünften zufolge war der Dämon diesen Weg gegangen, und Belder suchte nacheinander die vier Häuser auf, in die er eingebrochen war. Dieses Wesen hatte keinen Begriff von Zivilisation. Er wußte nicht, was eine Tür oder ein Fenster war. Bei allen vier Häusern hatte es den geraden Weg hinein gesucht, einfach durch eine Holzwand und bei einem Haus sogar durch eine solide Steinmauer. Belder ignorierte die Flüche und Beschimpfungen der Leute, wenn er sich den Ort des Geschehens genauer ansah. Beim ersten Haus, es war das von Jachoch, führte ein Pfad der Verwüstung durch den gepflegten Vorgarten, die Blumenbeete und sogar auch noch durch einen kleinen Gartenpavillon bis hin zur Südwestmauer des Untergeschosses. Dort befand sich eine Bresche in der Steinwand, durch die zwei Leute nebeneinander hätten gehen können und die direkt in der großen Wohnstube endete. Weiter war der Dämon nicht vorgedrungen. Dafür aber hatte er alles restlos verwüstet. Hippolyth Jachoch und ein paar Leute standen in der Nähe und diskutierten. Als Belder zusammen mit dem Mädchen durch die Bresche hereinstieg, kam der krumme, häßliche Kerl sofort auf ihn zu. „Verschwindet hier!“ rief er und deutete durch die Bresche hinaus. „Ihr könnt hier nicht helfen!“ „Helfen wollen wir nicht“, sagte Belder ungerührt und sah sich um. „Was hat der Dämon hier gesucht?“ In diesem Moment hatte Jachoch schon wieder umgeschaltet und benutzte Belder nun als Abladeplatz für sein persönliches Unglück. Er griff sich mit beiden Händen in die Haare. „Er wollte zerstören! Ja, all mein Hab und Gut zerstören! Und er stiehlt! So gut wie alles von Wert ist verschwunden! Viele
Münzen, zwei wertvolle Kerzenleuchter und sogar ein Bild hat er mitgenommen - ein Gemälde!“ Belder sah das Mädchen verwirrt an, auch ihr Gesicht spiegelte ungläubiges Erstaunen. „Ein Gemälde?“ fragte Belder. „Was soll denn ein Dämon mit einem Gemälde anfangen?“ „Was weiß ich?“ rief Jachoch aus und begann umherzulaufen und in den Trümmern zu wühlen. „Vielleicht ist er Kunstliebhaber!“ Belder hielt Jachochs Behauptung für blanken Unfug, wahrscheinlich war es das Gefasel eines in der Seele verletzten Reichen, der feststellen mußte, daß man sein Heiligstes, seinen Besitz, attackiert hatte. Er bauschte seinen Verlust auf, wollte ihn dramatisieren. Die Wohnstube sah allerdings in der Tat katastrophal aus. Sämtliche Möbel waren zu Kleinholz verarbeitet, und Jachoch hatte wertvolle Möbel besessen. Genaugenommen hatte Belder nur selten bisher einen solchen Überfluß gesehen - aber er war ja bislang nicht gerade häufig Gast in den reichen Häusern von Sykand gewesen. Wahrscheinlich sah es überall hier so aus. Bei Jachoch waren die Wände mit goldenem Webstoff behangen statt mit bemaltem Papier, wie es Belder bereits einmal gesehen hatte. Seine Sitzmöbel waren dick gepolstert, jetzt allerdings lag nur noch die Polsterwolle kreuz und quer im Raum herum. Teure geschnitzte Schränke, Stühle und Tische waren nur noch ein formloser Bretterhaufen und alles, was aus zerbrechlichem Glas oder Ton bestanden hatte, lag jetzt als Scherbenmeer am Boden. Jachoch tappte zeternd darin umher, raufte sich die Haare und begann dann sogar zu weinen. Belder warf dem Mädchen einen belustigten Blick zu und sie lächelte sogar zurück. Es war ein winziges unsicheres Lächeln, aber ihr Gesicht wirkte dadurch sehr viel freundlicher, entspannter - ja fast sogar hübsch. Belder sah betroffen wieder
weg. Dann verließen sie die Stube wieder durch die Bresche und traten in den Garten hinaus. Dort stand Linchen, inzwischen natürlich eine erwachsene Frau, aber Beide hatte sich an ihren Anblick noch immer nicht gewöhnt. Vielleicht mußte er jetzt Lina zu ihr sagen. „Hallo Belder“, sagte sie scheu. Er nickte ihr zu. Linchen hatte er immer gern gemocht, sie war eine der wenigen Personen in Sykand, über die er das sagen konnte. Er hatte sie, nach seiner Rückkunft vor einem Jahr, überhaupt nur zwei, drei Mal gesehen und konnte sich noch nicht recht von der Erinnerung an sie lösen, als sie dreizehn oder vierzehn gewesen war. Ein zartes, sehr sanftes Geschöpf, schon damals bildschön, und ihr Aussehen hatte sich eher noch verbessert. Sie trug ein langes, weißes Kleid und einen ebenso weißen Reif in ihrem hellbraunen, glatten Haar. Ihre Züge waren von unglaublicher Sanftheit, ein Gesicht, über das jeder Bildhauer als Modell entzückt gewesen wäre. Sie besaß feine Brauen, die ihren tiefblauen Augen so etwas wie einen königlichen Ausdruck verliehen. Ihre Nase war schmal, und ihre Lippen hatten ihn schon immer fasziniert: Sie schienen so weich und von so seidiger Beschaffenheit, daß er sich immer und immer wieder gefragt hatte, wie ein so häßlicher Kerl wie Jachoch ein so wunderschönes Wesen hatte zeugen können. Vielleicht stammte sie ja gar nicht von ihm. Sie stand mit bescheiden gesenktem Blick und unterhalb der Brust gefalteten Händen da, und das Mädchen, das sich in Belders Hintergrund hielt, tat gut daran, sich nicht neben sie zu stellen. Sie hätte gewirkt wie eine kleine, graue Maus neben einer Prinzessin. Plötzlich kam Belder eine heiße Erinnerung hoch. „Linchen, ich ...“, sagte er, verstummte dann aber wieder. Sie nickte. „Ich weiß es, Belder“, sagte sie leise. „Pit ist tot.“
Eine Träne lief ihre Wange herab. Hatte sie ihn etwa geliebt? Diesen einfachen Mann, der nie eine Chance gehabt hatte, sich ihr auch nur auf zwanzig Schritte zu nähern? Belder war verwirrt. „Ja“, sagte er dann und bemühte sich, seine Stimme ruhig und sanft klingen zu lassen. Mehr fiel ihm nicht ein. Daß Pit zu einem sabbernden Zombie geworden war und er, Belder, ihm den Schädel vom Leib geschlagen hatte, mochte er ihr nicht sagen. Dann sah er, daß sie das Mädchen musterte. „Bist du ...“, fragte sie dann, „das Mädchen vom Schiff?“ Die beiden sahen sich lange Zeit an, dann nickte das Mädchen. Linchen fuhr sich mit der Hand über die Wange, um die Träne wegzuwischen. „Ich glaube nicht“, sagte sie leise, „daß du etwas dafür kannst.“ Dann wandte sie sich um und schritt davon. In Belder tobte ein plötzlicher Gefühlssturm. Er wußte nicht, wen er für diese Bemerkung hätte küssen mögen - Linchen oder das Mädchen. Die Erleichterung, daß es in Sykand noch Menschen gab, die wirklich und wahrhaftig ein Herz besaßen, war fast eine Sensation. Er fühlte sich in seiner Zuneigung zu Linchen aufs wundervollste bekräftigt - niemand hatte es mehr als sie verdient, damals von Pit aus dem eiskalten Wasser des Baches gezogen und gerettet zu werden. Und das Mädchen zeigte nun zum ersten Mal so etwas wie ein kleines bißchen Glück in ihrem Gesicht, und das stand ihr gut. Voller Erleichterung nahm Belder wieder ihre kleine, warme Hand und zog sie mit sich davon. Sie suchten die anderen drei Häuser auf und stellten verwundert fest, daß der Dämon bei jedem von ihnen in die Wohnstube eingebrochen war und daß dort offenbar Wert- und auch Kunstgegenstände fehlten. In einem Haus waren zwei alte
Leute getötet worden, die sich in der Stube aufgehalten hatte, in einem anderen war ihm ein kleines siebenjähriges Mädchen zum Opfer gefallen, das sich grausamerweise in einen kleinen Zombie verwandelt hatte und das der Nachbar hatte töten müssen - der eigene Vater war dazu nicht fähig gewesen. Es war ein furchtbares Drama in diesem Haus, das Weinen und Klagen der Eltern und Angehörigen war weithin zu hören. Aber fast noch schrecklicher war gewesen, als die Mutter der Kleinen wie eine Furie auf das Mädchen losgegangen war, kaum daß sie sie erblickt hatte. Voller Hysterie schrie sie, die rothaarige Hexe wäre an allem Schuld, und als Belder und das Mädchen entsetzt flohen, wunderten sie sich nicht, als sie ganz in der Nähe des Hauses Freimark Threll mit seiner kleinen Schar antrafen. Böse, böse Blicke verfolgten sie. Als sie wieder in Richtung von Belders Haus marschierten, war das kleine Glück im Gesicht des Mädchens gewichen, und sie blickte nur noch verdrossen auf das Pflaster der Straße nieder. Belder legte ihr, einem Impuls folgend, tröstend die Hand auf die Schulter. Sie sah zu ihm auf, wieder einmal mit ihrem ausdruckslosen Gesicht, und Belder wurde unsicher. Er nahm die Hand wieder herunter. Innerlich stöhnte er. Wie konnte es sein, daß er einfach nicht begriff, was mit ihr los war? Dann fiel ihm zum Glück ein, daß sie Verpflegung brauchten - eine willkommene Ablenkung. Er kramte in seinem Beutel, in den er am Morgen noch ein paar einsame Münzen gesteckt hatte, die aus einem Geheimversteck in seinem Haus stammten. Leider waren es nur ein paar lumpige Heller, aber für ein paar Lebensmittel würden sie reichen. Sie machten einen Umweg zu Oma Hattie, einer alten Frau, die am nördlichen Stadtrand lebte und sich vom Verkauf der Produkte ihres Gartens und ihres Hühnerstalls ernährte. Sie buk sogar Brot. Sie war Witwe und stellte keine Fragen. Belder hatte schon immer bei ihr eingekauft. Oma Hattie war zwar kein Ausbund an
Freundlichkeit, und sie hatte nicht mal einen richtigen Laden sie verkaufte in der Küche -, aber sie war viel billiger und für Belder weitaus angenehmer als die beiden Krämerläden in der Stadt. Dort nämlich wurde man unweigerlich zum Klatsch der Leute, wenn man beispielsweise mal eine Woche lang kein Salz kaufte. Was frißt denn der, wenn er kein Salz hat? konnte er schon förmlich die Fragen der gehässigen, tratschenden Weiber hören. Bei Efferd! Unterwegs, auf ihrem Weg zu Oma Hattie, hätte sich Belder ganz gern mit dem Mädchen unterhalten. Es gab Fragen, die ihn beschäftigten, wie zum Beispiel die seltsame Tatsache, daß der Dämon tatsächlich Kunstgegenstände stahl. Das hatten alle Leute behauptet, nicht nur Jachoch. Und eigentlich hätte er jetzt, nach der Begegnung mit Linchen, jemandem gern von Pit erzählt, um diesen unangenehmen Geschmack von der Zunge zu bekommen, daß er ihn getötet hätte. Nun ja, erzählen konnte er es ja vielleicht. Das Mädchen war zwar stumm, aber zuhören konnte sie. „Pit war ein Freund von mir“, brummte er. „Er war auch ein Freund von Linchen, deswegen war sie so traurig über seinen Tod.“ Sie sah zu ihm auf, und ihr Gesicht zeigte plötzliches Interesse. Belder stutzte. Er hatte damit gerechnet, daß sie bestenfalls ihren unbeteiligten Gesichtsausdruck zur Schau tragen würde, ja, daß sie sich sogar abweisend verhielt. Aber es war das Gegenteil - sie sah ihn erwartungsvoll an. Reden - vielleicht wollte sie nur, daß er mit ihr redete! Er fuhr fort, von Pit und Linchen zu erzählen. Er beobachtete sie dabei und merkte, daß ihr verhärmtes Gesicht dabei ein bißchen auftaute. Er sprach weiter, zuerst zögernd und dann immer mehr Mut fassend. Ja, kein Zweifel. Er hatte ihre Aufmerksamkeit, und ihre Züge entspannten sich merklich.
Puh, sagte er sich, vielleicht hatte er jetzt ihr Geheimnis entdeckt - oder wenigstens eines davon. Vielleicht sogar das wichtigste. Sie konnte selber nicht reden, aber zuzuhören, das war wohl ihre Art, mit anderen in Kontakt zu treten. Er sprach weiter. Sie hörte ihm zu, und er holte plötzlich weit aus. Erzählte über seine Zeit als Kind hier in Sykand, und manchmal öffnete sie den Mund, als wollte sie etwas sagen. Er wunderte sich über sich selber, daß er so ungehemmt sprach - das war beileibe nie seine Stärke gewesen. Aber ihr Interesse war da, und das ließ ihn immer weiter plappern. Er unterbrach sich nur kurz, als er bei Oma Hattie Brot, Eier, Speck Gemüse und Salz - ja. Salz - kaufte. Das brauchte man ja schließlich. Auch wenn man ein Sonderling war. Dann marschierten sie zu seinem Haus zurück, beide mit Nahrungsmitteln in den Armen; er hatte von der Alten wirklich etwas gekriegt für seine paar Kröten. Und Belder erzählte weiter. Als er mit der Geschichte von Pit fertig war, begann er mit seiner Zeit bei der Armee, und sie klebte förmlich an seinen Lippen. Ja, das war es, was sie wollte. Einmal fragte er sich, ob er deswegen so unbeschwert redete, weil sie nichts erwidern konnte, weil sie ihn weder zurechtweisen, seine Worte bezweifeln oder für dumm erklären konnte. Aber, na ja, das hätte sie wohl auch mit Blicken tun können. Sie tat es jedenfalls nicht. Als sie dann in die Nähe seines Hauses kamen, hatte er das Gefühl, im ganzen letzten Jahr nicht so viel geredet zu haben wie auf diesem kurzen Weg durch die Stadt. Dann, als sie in die Straße vor Belders Haus einbogen, war die Meute wieder da.
9
Freimark Threll
Belder und das Mädchen waren stehen geblieben. Verblüfft blickten sie die Straße hinab, wo sich vor ihrem Haus gute zwei Dutzend Leute versammelt hatten. Einige standen schon in Belder» Garten, und sie aller redeten aufgeregt durcheinander. Eine Stimme stach immer wieder hervor, und Belder wunderte sich nicht im Geringsten. Es war natürlich die von Threll, dem Drogisten. „He!“ rief Belder die Straße hinab. Die Leute fuhren herum. „Raus aus meinem Garten, aber schnell!“ Die Menge schwieg plötzlich, als er mit festen Schritten auf sie zumarschierte. Er hatte die Arme voller Brot, Gemüse und Speck, und sein Schwert baumelte an seiner Seite. Vielleicht beeindruckte sie, daß er gewissermaßen ungewappnet auf sie zuschritt. Die paar, die in seinem Garten standen, zogen sich zurück - doch betont langsam. Unterwegs blieb er stehen und wandte sich um - das Mädchen war zurückgeblieben. „Komm“, sagte er. „Dieses Pack kann uns nichts tun.“ Zögernd kam sie zu ihm. Er nickte befriedigt. „Das sind alles erbärmliche Feiglinge“, sagte er leise zu ihr. Sie blickte ihn, während sie die letzten Schritte auf ihn zutat, furchtsam, aber doch voller Vertrauen an. „Wenn du diesem Pöbel gegenüber Mut zeigst, dann machen sie sich vor Schiß in die Hosen, glaub mir!“ Er schickte ein sardonisches Lächeln hinterher. Wieder war da ein hoffnungsvolles, kleines Lächeln, und er begann, diese kleinen Gefühlsregungen von ihr zu mögen. Jetzt, wo er ihr Geheimnis entdeckt hatte und sich sicherer
fühlte. Dann wandte er sich um und marschierte wieder voran, unerschrocken und mitten auf die Leute zu. Beunruhigt sah er, daß einige bewaffnet waren. Er blieb aber nicht vor ihnen stehen, sondern marschierte, bepackt wie er war, mitten in die Menge hinein. „Was wollt ihr hier?“ herrschte er die Menge an. „Ärger machen?“ „Du machst Ärger!“ sagte einer. Er nickte böse. „Eure Dankbarkeit ist überwältigend. Gestern habt ihr euch noch in die Hosen geschissen und mich allein auf euer verfluchtes Schiff geschickt. Und heute braucht ihr wieder einen Sündenbock. Was ist es diesmal? Mein böser Blick? Oder mein ... Spukhaus?“ Freimark Threll trat vor. „Sie ist es, nach wie vor!“ rief er und deutete anklagend auf das Mädchen. Belder stöhnte auf. „Deine dämliche Idee von wegen Hexerei und so, was?“ Er schüttelte den Kopf. „Was ist mit dir los, Kräutermischer? Ich hab dich immer für einen gebildeten Mann gehalten. Daß du abergläubisch bist wie der letzte Hinterwäldler, das wußte ich nicht!“ Er wandte sich an die Menge. „Rote Haare! Hexerei! Böser Blick! Was ist das für ein Blödsinn? Glaubt ihr ihm das?“ „Die Hexenkunst ist eine anerkannte magische Disziplin“, erwiderte Threll. „Ich kenne mich damit aus, früher zählten Zauberer und Magier zu meinen Kunden. Und auch Hexen. Aber das, was die da treibt, ist Teufelswerk! Herbeirufung von dämonischen Mächten mit Hilfe von widernatürlichen Geisteskräften!“ Belder stieß einen Laut der Belustigung aus. „Was ist denn das wieder für ein dummes Gewäsch? Wo hast du das her, Threll?“
„Da seht ihr es“, sagte Threll, trat einen Schritt zurück und deutete auf Belder. „Diese Respektlosigkeit gegenüber einem Mitglied des Stadtrates! So war Belder früher nicht! Das ist ihr Werk!“ Und wieder konzentrierten sich die Blicke auf das Mädchen. „Sie hat ihn verhext!“ flüsterte einer. Belder fluchte innerlich. Sie war wieder stehen geblieben, etwas abseits, und wirkte nicht gerade wie eine selbstbewußte junge Frau, die nichts zu verbergen hatte. „Komm jetzt, Mädchen!“ zischte er ihr zu. „Diesen Mist höre ich mir nicht länger an!“ Zögernd näherte sie sich ihm ein paar Schritte, da aber donnerte Threll „Packt sie!“ und deutete auf sie. Das Mädchen schrie vor Schreck auf. Es war zum Glück nur einer, der sofort losmarschierte, alle anderen zögerten einen Augenblick. Belder, ein gewiefter Kampfstratege, sah seine Chance sofort. Mit zwei Schritten hatte er sich dem Kerl in den Weg gestellt und beförderte ihn mit einem heftigen Schulterrempler gegen die Brust rückwärts in die Menge, so daß er drei oder vier Leute mit sich umriß. Belder hielt dabei weiterhin seine Sachen in den Armen fest, zog nicht das Schwert und signalisierte den Leuten damit, daß er keinerlei Waffe benötigte, um sie in die Flucht zu schlagen. Der Mann war in die Menge gepoltert, und große Aufregung erhob sich. Das war der Moment nachzusetzen. Belder schritt auf die Leute zu, die erschreckt zurückwichen; sogar die Hingefallenen krabbelten entsetzt davon. „Ich geh jetzt ins Haus und bring mein Zeug rein!“ brüllte er die Leute an. „Und dann komm ich wieder raus - mit meinem Schwert in der Hand! Wer dann noch meinem Garten auch nur auf zehn Schritt nahe kommt, den verarbeite ich zu Zombiefutter! Kapiert?“ Seine Stimme war so laut und so voller unbändigem Zorn,
daß alle noch weiter zurückwichen - auch Threll. Belder faßte das Mädchen scharf ins Auge. „Kommt mit!“ sagte er unwirsch und deutete mit dem Kinn aufs Haus. Dann marschierte er los, und zum Glück folgte sie ihm auf der Stelle. Gleich darauf hatten sie die Haustür durchschritten, und Belder eilte in die Küche. Er setzte seine Sachen auf dem Tisch ab blickte zum Fenster hinaus und holte dann das rostige Zombieschwert hervor, das er heute morgen beim Aufräumen sicherheitshalber zur Seite gelegt hatte. „Hier“, sagte er. „Ist zwar kein Prachtexemplar, aber du wirst verstehen, daß ich das hier selber brauche! Bleib hier!“ Sie nickte und nahm das Schwert. Er wollte den Leuten keine Chance geben, sich wieder zusammenzurotten, und eilte gleich wieder hinaus. Diesmal, wie er angekündigt hatte, mit dem Schwert in der Hand. Er verließ den Garten und baute sich auf der Straße auf. Die Hingefallenen standen inzwischen wieder, und man rief wild und empört durcheinander. Aber Belder war früh genug wieder da. Das Eigentum und das eigene Haus galten in Sykand viel, und er wußte, daß es den Leuten so sehr im Blut saß, daß selbst er diesen Anspruch erheben konnte und damit respektiert werden würde. Er dehnte ihn sogar noch auf die Straße vor seinem Haus aus. „Fort mit euch!“ brüllte er. „Du hast hier gar nichts zu befehlen!“ versuchte sich einer im Widerstand. „Sonst ... was?“ fragte Belder spöttisch. „Willst du die Stadtwache holen? Die habt ihr ja schon verheizt! Erinnerst du dich?“ Ein paar der Männer hatten Messer oder Schwerter gezogen, aber niemand hob seine Waffe wirklich. Belder wunderte sich,
daß so viele Leute richtige Waffen besaßen. Normalerweise war das hierzulande gar nicht erlaubt. Aber in Sykand hatten schon immer eigene Gesetze gegolten. „Das ist mein Haus!“ brüllte Belder noch einmal mit voller Lautstärke. „Haut endlich ab!“ Dann war es geschehen. Die Menge rückte tatsächlich ab. Belder konnte es erst gar nicht glauben. Die Leute murrten, Threll stieß noch verschiedene Drohungen aus, aber sie gingen dennoch. Belder beobachtete ihren Abzug, dann endlich stieß er ein langes, erleichtertes Seufzen aus. Als wirklich niemand mehr zu sehen war, drehte er sich um und ging ins Haus zurück. In der Küche angekommen, warf er sein Schwert auf den Tisch, setzte sich und stöhnte. „Seit ich gestern freigekommen bin“, brummte er, „sind kaum mal zwei Stunden vergangen, ohne daß es Ärger gab. Wäre nett, wenn das mal endlich aufhörte!“ Da drehte sich das Mädchen um und plazierte seine tönerne Teekanne auf dem Tisch. Er roch schon die Pfefferminzblätter darin. Das Teewasser kochte zwar noch nicht, aber sie setzte sich hin, stemmte das Kinn in beide Hände und sah ihn an. Irgendwo in ihrem unergründlichen Gesicht sah er wieder diesen Hauch Freundlichkeit, der langsam aufkeimte, und in diesem Moment spürte er zum ersten Mal fast ein bißchen Freude darüber, daß sie bei ihm war. „Sykand ist ein Schlachthaus!“ stellte Abbot Melkor fest. „Wem sagst du das?“ brummte von Thralbeg mißmutig und starrte zum Fenster hinaus. „Wir müssen etwas unternehmen“, beharrte der Geweihte. „Heute nacht werden diese Monstren wieder aus ihren Löchern kommen. Nur zwei haben die Leute heute tagsüber in Kellern aufstöbern und ihnen den Garaus machen können. Nur zwei!
Und dann dieser Dämon. Ich glaube nicht, daß er verschwunden ist!“ Von Thralbeg warf die Arme in die Luft. „Aber was willst du tun? Kennst du ein Mittel gegen die Bestie?“ „Ich weiß nicht - es könnte tatsächlich dieses Mädchen sein“, sagte Melkor. „Vielleicht hat sie ihn herbeigerufen! Dann könnte sie ihn auch wieder verschwinden lassen!“ Von Thralbeg winkte ab und erhob sich. Müde und ratlos begann er im Raum auf und ab zu gehen. „Ach, dieses Mädchen!“ Er sah Melkor kopfschüttelnd an. „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was in dich gefahren ist. Sie ist doch völlig harmlos, das sieht doch jeder!“ Melkor schüttelte nachdenklich den Kopf. „Nein. Ich habe etwas gesehen, das sie doch ziemlich verdächtig macht!“ Von Thralbeg gab sich verblüfft. „Etwas gesehen?“ Abbot Melkor nickte. „Jawohl. Anfangs wollte ich es ebenfalls nicht glauben - sie erschien mir so klein und wehrlos. Aber dann fügten sich einige Dinge zusammen! Halte mich bitte nicht für einen dieser hirnlosen Schreihälse da draußen! Ich weiß sehr wohl, daß wir selber schuld sind - oder besser Zappsteen, Jachoch und von Threll -, daß dieses Unheil über uns kam. Sie waren es, die die jungen Leute aufs Schiff schickten! Wir hätten auf Belder hören und das Schiff aufs Meer schleppen sollen.“ Von Thralbegs Gesicht spiegelte Unglauben. „Was ist denn nun los?“ fragte er verwundert. „Eben hast du doch noch ...“ Melkor winkte ab. „Ich weiß. Aber es gibt Gründe. Nun paß mal auf. Ich kannte Ole Jannek gut, den Eigner und Kapitän der Dinia Tjerbus.“ „Ja, das weiß ich.“ Melkor nickte. „Fein. Was du wahrscheinlich aber nicht weißt ist, daß Jannek ... nun, sagen wir, einen kleinen
Nebenberuf hatte. Er war Schmuggler.“ Nun setzte sich von Thralbeg wieder und starrte Melkor an. „Schmuggler?“ „Natürlich. Dachtest du, er hätte sich so ein schnelles und gut bewaffnetes Schiff leisten können, wenn er brav Fässer mit Salz und Stoffballen durch die Gegend schipperte? Und einmal im Jahr unsere Edelsteine verkaufte?“ Von Thralbeg zuckte die Achseln. „Darüber hab ich mir nie Gedanken gemacht.“ „Das hat keiner“, sagte Melkor. „Das war ja auch sein Glück. Jannek fuhr häufig verbotene oder gestohlene Waren. Branntwein, Waffen, Gewürze, alles nur in kleinen Mengen, aber lauter erlesene Sachen. Sachen, die kein Steuereintreiber je sah. Und im besonderen transportierte er verbotenes Schriftgut, gestohlene Relikte aus geplünderten Heiligtümern und lauter solche Sachen. Er hatte in dieser Hinsicht sehr gute Verbindungen, die er auch rege nutzte. Daß ausgerechnet auf seinem Schiff ein Dämon ausbrach, wundert mich nicht sonderlich.“ Von Thralbegs Erstaunen wuchs. „Aber ... wie ist das möglich? Ich meine ...“ Abbot Melkors sonst immer so milde Gesichtszüge zeigten diesmal tiefe, bittere Ernsthaftigkeit. „Nun tu mal nicht so, Salis, als wäre dir jeglicher Gesetzesübertritt völlig unbekannt. Sykand ist ja geradezu eine Hochburg von Leuten, die mehr über Beziehungen als über normale Geschäfte Geld verdienen!“ Von Thralbeg schnaufte unwillig. Daß Melkor durchaus recht hatte, ließ er im Raum stehen. „Woher willst du das denn überhaupt wissen - das mit der Schmuggelei, die Jannek angeblich betrieb?“ „Ha! Ich hab mir selber mal was von ihm besorgen lassen!“
„Du?“ „Ja, ich! Die kleine Statuette, die auf dem Altar steht. Auch ich wollte mal ein bißchen Schmuck in meinem Tempel haben. In so einer reichen Stadt.“ „Aber ... woher hattest du ... das Geld?“ Melkor rümpfte die Nase. „Aus mühselig gesammelten Spenden. Von den ach so freigiebigen Sykandern. Aber das ist einerlei. Ich weiß, daß Jannek so etwas machte. Und ich weiß auch, daß Jannek ... nun, ein ziemlich geldgieriger Mensch war. Für den entsprechenden Lohn war er zu allem bereit.“ „Und?“ „Wie ich schon sagte, er hatte gute Verbindungen. In den verschiedensten Hafenstädten. Wenn du etwas wirklich Ausgefallenes benötigt hättest - Jannek war geradezu darauf spezialisiert. Er hätte die entsprechenden Leute ausgeschickt und so weiter.“ Von Thralbeg stöhnte. „Worauf willst du hinaus?“ fragte er scharf. „Das Mädchen“, sagte Melkor. „Ich glaube langsam, sein Frachtgut war sie - sie allein!“ „Sie allein? Was soll denn das nun wieder?“ „Nun, sie hat Geheimnisse. Beispielsweise ist sie überhaupt nicht stumm!“ Von Thralbeg verzog das Gesicht. „Nicht stumm?“ Melkor schüttelte wieder den Kopf. „Nein, heute nachmittag ist mir das klar geworden. Ich war unterwegs, um mich um die Bürger zu kümmern, bei denen der Dämon eingebrochen war. Da sah ich Threll mit ein paar Leuten bei Belders Haus. Sie wollten ihn auffordern, ihnen das Mädchen auszuliefern. Belder wurde ausfallend, da befahl Threll offenbar, das Mädchen zu packen. Sie schrie auf!“ „Ja und?“
„Verstehst du denn nicht? Stumme können nicht schreien! Sie haben keine Stimmbänder! Oder nur verkrüppelte! Was ich hörte, war ein wunderbarer, erschreckter Schrei einer jungen Frau. Die Leute bei Threll dürften das alle gehört haben.“ „Und was schließt du daraus?“ „Na, das ist doch leicht! Jemand hat Jannek wieder mal etwas holen lassen - und zwar sie! Sie ist das Geheimnis!“ Er schüttelte den Kopf. „Woher soll sonst dieser seltsame Dämon kommen? Denkst du, die lauern irgendwo auf dem Meer? Nein, so eine Bestie muß fachkundig herbeigerufen werden!“ Von Thralbeg starrte Abbot Melkor nur an. „Sie hat doch etwas zu verbergen, wenn sie so tut, als wäre sie stumm! Findest du nicht? Und ulkigerweise ist sie, ausgerechnet die kleinste und schwächste an Bord, die einzige Überlebende von der Dinia Tjerbus! “ Von Thralbeg musterte Abbot Melkor. „Mag sein, daß du recht hast“, sagte er dann. „Ich meine damit, daß sie nicht stumm ist. Aber was soll das schon beweisen?“ „Ist dir nicht zu Ohren gekommen, daß in allen vier Häusern, die dieser Dämon überfiel, Wertgegenstände fehlten? Daß sie völlig ausgeraubt waren? Seit wann stiehlt ein Dämon Geld und Gold?“ Von Thralbeg spitzte nachdenklich die Lippen und nickte dann. „Ja, stimmt. Das ist seltsam!“ Abbot Melkor schüttelte den Kopf. „Da ist irgend etwas Seltsames im Gange. Mag sein, daß Belder nichts damit zu tun hat. Oder hatte. Aber an dieser Sache mit dem Mädchen stimmt etwas nicht!“ „Du ... hast eine Theorie!“ mutmaßte von Thralbeg. „Ja, richtig! Ich glaube, irgend jemand ist auf den Reichtum von Sykand aus. Er holt sich dieses Mädchen - ein Mädchen mit ganz besonderen Fähigkeiten. Es gibt Geschichten über
Naturbegabte. Leute, die keine Magierakademie besuchen müssen, um mit übernatürlichen Kräften umgehen zu können. Meistens sind das höchst eigenartige Leute. Sonderlinge, Krüppel, häßliche alte Jungfrauen ...“ „... und Rothaarige!“ Melkor nickte mit ernsten Blicken. „Ja. Ich habe in meinen Schriften nachgesehen, und es ist tatsächlich so, daß solche Naturbegabten zumeist ein Art Mal tragen. Rote Haare sind in dieser Hinsicht nicht gerade selten. So jemand könnte eine einzigartige, besondere Fähigkeit haben - zum Beispiel die, einen Dämonen herbeizubeschwören! Einen, den nur er beherrschen kann. Vielleicht ist sie sogar der Dämon selbst!“ „Du meinst... sie schickt ihn nachts aus...?“ „Dämonen können so etwas nicht allein. Sie brauchen jemanden, der sie beherrscht. Der sie mittels einer machtvollen Zauberei dorthin lenkt, wo er sie haben will.“ „Und du denkst, das Mädchen kann so etwas? Von so etwas habe ich noch nie gehört!“ „Nun, zugegeben, ich auch nicht. Aber gelesen habe ich es. Es gibt verschiedene Überlieferungen.“ Melkor lehnte sich zurück. „Sie war es, die mit dem Dämon kam. Was, wenn sie tatsächlich eine Naturbegabte ist? Stell dir mal folgendes vor: Jemand in der Stadt, der eigentliche Drahtzieher dieser Sache, dachte sich: In Sykand gibt es so viele Reichtümer, und niemand außerhalb weiß davon. Warum soll ich mir das nicht alles unter den Nagel reißen? Er hat von diesem Mädchen gehört, und nun läßt er sie sich von Jannek holen! Um den Reichtum dieser Stadt an sich bringen! Mit Hilfe des Mädchens, ihres Dämons und seiner Zombies. Wenn nachts diese Wesen auf der Straße sind, traut sich niemand hinaus. Da kann jeder, der die Kontrolle über diese Ungeheuer hat, bildschön in ein beliebiges Haus einbrechen. Der Dämon macht den Weg frei, die Zombies bringen alle Zeugen um.
Dann wird das Raubgut eingesackt - und fertig. So irgendwie könnte es laufen!“ Von Thralbeg war stumm geworden. Die Argumentation von Abbot Melkor war ebenso faszinierend wie bedrückend. Und dann fiel ihm etwas ein. „Belder sagte ...“ „Was?“ Von Thralbeg stieß einen leisen Pfiff aus. „... daß ihm das Mädchen heute nacht das Leben gerettet habe. Zombies hätten sie überfallen. Er tötete zwei, und sie ... drei!“ Abbot Melkor nickte langsam. „Ja, stimmt. Ich war ja auch dabei. Aber drei Zombies? Dieses dürre Mädchen?“ Von Thralbeg nickte. „Ja. Aber... nun, wenn sie tatsächlich den Dämon beherrscht und damit auch die Zombies - dann wäre das doch erklärlich, oder?“ Nun nickte Melkor langsam und verstehend. „Ja ... das wäre ein weiterer Hinweis!“ Er kratzte sich am Kinn. Für eine Weile saßen sie nachdenklich und schweigend, betroffen von der Bedeutung dessen, was sie herausgefunden hatten. „Wenn das stimmt, Melkor, dann haben wir hier einen Verräter in der Stadt! Und zwar einen absolut skrupellosen. Einen, der über die Leichen einer ganzen Stadt geht, um an ihren Reichtum zu gelangen!“ Melkor nickte mit ernster Miene. „Und wer könnte das sein?“ Melkor schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ „Und was tun wir nun?“ „Ich würde sagen: Halten wir die Augen offen. Aber was noch wichtiger ist: Wir müssen den Dämon und die Zombies stoppen. Und herausfinden, ob dieses Mädchen dahintersteckt!“
Als Belder wieder Stimmen vor dem Haus hörte, stöhnte er auf. Er hatte gehofft, er würde für den Rest des heutigen Tages Ruhe haben oder wenigstens bis zum Einbruch der Nacht. Überall im oberen Stockwerk hatte er die Fenster verrammelt, und dann die Haken an der Haustür erneuert, um sie mit dem Querbalken wirklich dichtmachen zu können. Als er damit beginnen wollte, die alten Fensterläden für die Küchenfenster aus einer Abstellkammer zu räumen, hörte er sie wieder. „Belder! Komm raus!“ rief jemand. Das Mädchen kam aus der Küche und blickte ihn sorgenvoll an. Sie hatte die Hände voller Seifenschaum, war dabei, ein paar Kleidungsstücke zu waschen. Er blickte sie an und schüttelte bedauernd den Kopf. „Sieht so aus, als würden wir keine Ruhe mehr kriegen!“ Sie hatte sich am Nachmittag zwei Stunden lang damit beschäftigt, Hose und Hemd, die Belder ihr übereignet hatte, umzunähen, und trug nun Kleider, die ihr wesentlich besser paßten. Sie schien eine Menge Talente zu besitzen. „Was ist? Sollen wir reinkommen?“ schallte es von der Straße herein. Belder grunzte unwillig, nahm sein Schwert, das an der Wand in der Diele lehnte, und marschierte auf die Haustür zu. Er riß sie auf und trat in den Garten. Das Mädchen folgte ihm und blieb knapp hinter ihm stehen. „Was wollt ihr schon wieder? Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?“ Threll stand natürlich in vorderster Front, Zappsteen war auch dabei. „Ich habe dir ein Angebot zu unterbreiten“, sagte er laut. „So?“
„Liefere uns das Mädchen aus. Dann kannst du unbehelligt gehen. Nimm das nächste Schiff, und verschwinde von hier.“ Das Mädchen trat von hinten an Belder heran und drängte sich schutzsuchend an ihn. „Ha! Sie ausliefern? Und wenn ich es nicht tue?“ Freimark Threll kaute einen Moment auf der Lippe. „In diesem Fall hast du dein Leben verwirkt! Du hast eine Stunde Zeit, es dir zu überlegen.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte zu seinen Leuten, die auf der anderen Straßenseite warteten. Es waren abermals zwei Dutzend, vielleicht sogar noch ein paar mehr. Belder betrachtete sie finster. Diesmal waren sie wesentlich besser bewaffnet, und sie begannen schon, sich nach rechts und nach links zu verteilen, um ihnen den Fluchtweg durch den Garten oder nach hinten abzuschneiden. Es war eine Menge, die inzwischen entschlossener zu sein schien; schwer zu sagen, wie weit sie wirklich zu gehen wagten, wenn er ihnen ebenso fest wie am Nachmittag entgegentrat. Er sah zum Himmel auf. Es hatte wieder zu nieseln begonnen, und der Nachmittag war weit fortgeschritten. In einer Stunde, oder etwas mehr, würde die Dämmerung einsetzen. Er stand da, das Mädchen neben ihm, und ihre Hand lag auf seinem Arm. Und dort drüben die Leute, die Blut sehen wollten. Belder wußte, daß er lieber sterben würde, als sie diesem Mob auszuliefern. „Vielleicht haben wir noch eine Chance“, sagte er leise zu ihr. „Die Dämmerung kommt bald. Und mit ihr die Zombies. Dann müssen sie verschwinden. Vielleicht halten wir so lange durch!“ Ihre Augen waren voller Furcht, als er sie ansah. Ihm fiel nicht mehr allzu viel ein, um sie beruhigen zu können. Die Situation war ernst, und Belder wußte, daß irgendwann auch
die feigsten Leute zu einem entschlossenen Mob wurden, wenn man sie nur lange genug aufwiegelte. Er mußte versuchen, Zeit zu gewinnen. Er wandte sich wieder um und rief den Leuten zu: „Was habt ihr mit ihr vor? Wollt ihr sie umbringen?“ „Sie muß den Dämon wieder zurückrufen!“ antwortete Threll. „Wenn sie es freiwillig tut, dann werden wir weitersehen!“ „Aber sie hat doch mit dieser verfluchten Bestie überhaupt nichts zu tun!“ rief er. Die Wut stieg wieder in ihm hoch. „Oh doch!“ behauptete der Drogist. „Frag sie doch mal!“ Belder sah das Mädchen unschlüssig an. Sie aber schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. Im nächsten Moment tat es ihm schon leid, daß er sie diesem Verdacht ausgesetzt hatte. Zum Glück schien sie es ihm nicht übelzunehmen. „Du irrst dich, Threll!“ rief er, als er sich wieder umwandte. „Du willst nur einen verdammten Sündenbock haben! Warum zieht ihr nicht lieber los, solange es noch hell ist, und räuchert die Zombies aus?“ „Wenn wir die Hexe haben, wird es keine Zombies und auch keinen Dämon mehr geben!“ sagte Threll. „Wir werden ihre Dämonenmacht mit einem reinigenden Feuer brechen!“ Als Belder das hörte, wäre er beinahe losgerannt, um diesen Freimark Threll auf der Stelle mit seinem Schwert niederzumachen. Ein Feuer! Ein Scheiterhaufen! Zustände wie in den finstersten Gegenden von Aventurien, wo der abgründigste Aberglaube die Welt noch regierte und keiner vor der Verleumdung böswilliger Nachbarn sicher war! „Du verdammter Narr!“ brüllte er zu dem Drogisten hinüber. „Die Götter werden dich für deinen Wahn strafen!“ Gelächter schallte ihm entgegen. Dann spürte er, wie ihn das Mädchen am Arm zerrte, ins Haus hinein. Er sah nach rechts
und links, aber es war schon zu spät. Überall standen dort Leute, und er sah keinen Weg, auf dem sie hätten durchbrechen können. Widerstrebend folgte er ihr. Dann machten sie sich daran, das Haus nach allen Regeln der Kunst zu verbarrikadieren. Oben war alles schon dicht, da würden die Leute Leitern und schweres Werkzeug brauchen. Aber die Küche - die war noch ein heikler Punkt. Letzte Nacht schon waren die Zombies durch die Fenster hereingekommen. Und wenn er nun hinausging, um draußen die alten Fensterläden einzuhängen, würden sie sehen, was er vorhatte, und gleich zum Angriff übergehen. „Wir geben die Küche auf!“ entschied er. „Wir verrammeln die Küchentür, so gut es geht, und ziehen uns in die Wohnstube zurück. Da werden sie eine Weile brauchen, bis sie durchbrechen. Bis dahin ist längst die Dunkelheit da!“ Er wußte gar nicht, woher er die Hoffnung nahm, daß ihnen die Zombies bei Anbruch der Nacht zu Hilfe kommen und die Menge aufreiben würden.
10
Feuer und Schwert
Belder hätte sich ohrfeigen können, daß er so sehr auf die Unangreifbarkeit seines Hauses gebaut hatte - das war wohl ein Fehler, der allen Sykandern unterlief. In die Häuser der Reichen brachen der Dämon und die Zombies ein, und die aufgebrachte Meute würde in das seine ebenso eindringen. Wäre er schon am Nachmittag, beim ersten Anzeichen eines drohenden Übergriffs, mit dem Mädchen von hier verschwunden, dann hätten sie sich vielleicht nördlich der Stadt in den dort ansteigenden Bergwäldem verstecken können. Es war alles andere als sicher dort, aber gewiß aussichtsreicher als hier im Haus. Hier saßen sie in der Falle. Er überlegte verzweifelt, was sie tun sollten. Vielleicht würden sie zurückschrecken, wenn er tatsächlich erst einmal einen von ihnen umbrachte. Er hatte inzwischen keine Skrupel mehr, das zu tun - sie waren ja die Angreifer und zwangen ihn, sich seiner Haut zu erwehren. Er holte aus seiner Rumpelkammer alles, was sich als Waffe verwenden ließ. Ein Schild - ja, ein Schild wäre gut gewesen, das war seine bevorzugte Kampfausrüstung gewesen: Schwert, Schild und leichte Rüstung. Mit einem kleinen Rundschild konnte er gut umgehen. Leider hatte er keinen. Sie besaßen nur ein paar Küchenmesser, das rostige Zombieschwert und die monströse Axt, die eigentlich so gut wie unbrauchbar war. Viel zu schwer. Trotzdem legte sie Belder in der Diele bereit. Das Mädchen hatte das Zombieschwert wieder einigermaßen in Schuß gebracht, und die beiden bewaffneten sich zusätzlich noch mit den Messern. Überall legten sie Dinge hin, die sich als Wurfgeschosse verwenden ließen, und Belder bastelte aus Holzscheiten und Öl einige Fackeln. Sie ließen sich, besonders in brennendem Zustand, einigermaßen gut anstelle eines Schildes verwenden. Es war inzwischen soviel Zeit vergangen,
daß der Angriff kurz bevorstehen mußte. Und sie kamen tatsächlich. Belder hatte keine Möglichkeit mehr nachzusehen, ob draußen bereits die Dämmerung angebrochen war - sie hatten sich inzwischen nach Kräften verbarrikadiert. Es begann damit, daß Schläge draußen an der Eingangstür dröhnten. „Die Zeit ist vorbei, Belder!“ hörte er Threll schreien. „Komm jetzt raus, oder wir kommen rein!“ Er antwortete nicht. Es hatte keinen Sinn, ihre Wut auch noch anzuheizen; vielleicht diskutierten sie ja jetzt noch eine Zeitlang. Jeder Moment, der verstrich, würde ihnen helfen. Ob Zombies von Kampflärm angelockt wurden? Dann wurden die Schläge lauter, und die Tür erzitterte unter schweren Stößen. Aber sie hielt! Das war für den Moment eine gute Nachricht. Offenbar kriegten die Kerle da draußen es nicht hin, irgendein schwereres Objekt herbeizuschaffen, mit dem sie die Tür einrennen konnten. Dann hörte Belder Glas splittern, und ihm kam eine Idee. Wenn sie gewinnen wollten, mußten sie auch etwas wagen. Er faßte das Mädchen am Arm. Sie war eine gute Kämpferin. „Wie sieht's aus?“ fragte er sie. „Traust du dich etwas?“ Sie nickte zuversichtlich. „Dann komm! Hilf mir!“ Entschlossen warf er sich gegen den quergelegten Schrank und die Truhe obenauf, mit denen er die Küchentür verbarrikadiert hatte. Das Mädchen verstand, was er vorhatte. Mit vereinten Kräften rückten sie das schwere Zeug beiseite, Belder stemmte den Querbalken, den er auch hier angebracht hatte, aus der Halterung und riß die Küchentür auf. In der Küche standen drei Mann, die gerade durch die Fenster hereingeklettert waren, und sie erstarrten vor Schreck,
als sie plötzlich Belder sahen. Mit Gejohle stürzte er in die Küche und griff sie augenblicklich und schonungslos an. Gleich hinter ihm kam das Mädchen herein. Und auch sie ging mit erhobenem Schwert auf die Männer los. Diesmal tötete er zwei und sie einen. Es war ein schmutziges Geschäft, aber sie waren in Not; sie wehrten sich gegen eine Übermacht von blutgierigen Angreifem, die sie umbringen wollten. Belder nutzte all seine kämpferische Überlegenheit und vor allem das Überraschungsmoment. Schon als Soldat hatte er die Erfahrung gemacht, daß man einen unvorbereiteten Gegner - einen, der sich innerlich noch nicht auf das Äußerste eingestellt hatte, regelrecht abschlachten konnte. Nicht selten hatte es nächtliche Überfälle auf die Lager gegeben, von beiden der verfeindeten Seiten auf die jeweils andere, und wenn nicht frühzeitig jemand Alarm geben konnte, sowohl bei ihnen als auch bei den Orks, dann hatte immer ein wahres Massaker stattgefunden. Es gab nichts Leichteres, als einen Mann in Unterwäsche zu erschlagen, selbst wenn er ein Schwert trug. Auch die Orks hatten so etwas wie Unterwäsche - und sie waren gefallen wie die Fliegen. Die drei Männer, die in der Küche gestanden hatten, waren nicht wirklich auf den Kampf vorbereitet gewesen. Vielleicht hatten sie gedacht, man würde Belder und das Mädchen schon irgendwie überwältigen und sie dann aus dem Haus schleifen. Daß sie hingegen in die Küche hereinbrechen würden, mit der gnadenlosen Absicht, sich ihrer Haut mit aller Härte zu wehren und dabei jeden Angreifer zu töten, damit hatten sie nicht gerechnet. Belder brauchte nur ein paar Augenblicke, um mit einem halben Dutzend wohlgezielter Schwertstreiche zwei Leute niederzumachen. Das Mädchen war zögerlicher als er; dem
einen, den sie tötete, rannte sie notgedrungen ihr Schwert in den Bauch, als er sie mit hocherhobener Streitaxt angriff. Belder hätte ihr selbst das gern erspart. Er kannte sie nun ein bißchen besser. Sie war wehrhaft, ja, man konnte sie sogar eine wirklich gute Kämpferin nennen - den meisten der ungeübten Leute von Sykand sicherlich überlegen. Und solange es nur darum ging, seelenlose Untote zu erledigen oder seinetwegen auch Orks, war nichts Schlimmes daran, daß sie kämpfte und siegte. Aber Menschen zu töten, selbst wenn es üble Zeitgenossen mit Mordabsichten waren, war immer eine beschissene Sache, und er hätte diese Last lieber komplett sich selbst aufgeladen. Er war froh, daß sie da war, ihm den Rücken freihielt, aber wenn ihm das möglich gewesen wäre, hätte er gern jeden getöteten Gegner auf sich selbst genommen, um ihr die Gewissensbisse zu ersparen. Die kamen nämlich später todsicher. Aber Belder kannte den Krieg, kannte ihn bestens, und er hatte gelernt - nein, er hatte es sich angewöhnt, und das war nicht leicht gewesen -, die Sache aus dem Blickwinkel - du oder ich - zu betrachten. Ob Frauen für so etwas gebaut waren, das bezweifelte er. Sie standen stumm in der Küche, zu ihren Füßen drei Tote, und draußen, im langsam schwindenden Licht des späten Nachmittags, ein halbes Dutzend andere, die entsetzt hereinsahen. „Er hat sie getötet!“ schrie einer. „Belder hat sie getötet!“ „Was dachtest du, Arschloch?“ schrie er zurück, und Tränen stiegen in seine Augen. „Daß wir hier mit Tee und Kuchen auf euch warten würden?“ Augenblicklich verschwanden alle Gesichter dort draußen flohen in heller Panik durch den Garten. Belder trat ans Fenster und brüllte hinterher: „Ihr seid die Angreifer, verflucht! Wir retten nur unsere Haut!“ Er spürte die Hand des Mädchens auf seiner Schulter, und
sie tat gut, aber er wandte sich nicht um. Er wollte ihr nicht seine verzweifelten Tränen zeigen. Nein, er liebte das Töten nicht, obwohl er Krieger war. Nicht das Töten von Menschen. Dann herrschte eine Weile Ruhe. Draußen wurde es dunkler. Bitter dachte er, daß sie nun begriffen haben würden, daß die Sache blutiger Ernst war, und ihnen das nächste Mal nicht so offen ins Messer rennen. Dann zog ihn das Mädchen am Arm ziemlich heftig. Sie deutete zum Fenster hinaus. Endlich begriff Belder. Sie hatten dem Gegner einen Schock verpaßt, und für den Moment würden die Leute da draußen nicht aufpassen. Vorsichtig lehnte er sich ein kleines Stück zum Fenster hinaus. Er sah zwar einzelne von ihnen, aber keiner blickte im Moment zu ihnen her. Das Tageslicht war schon halb gewichen, und sie hatten die Möglichkeit, vielleicht nur noch für Momente, aus dem Fenster zu steigen und davonzuschleichen. Belders Puls beschleunigte sich. Das war die eine glückliche Chance, nach der er seit einer Stunde verzweifelt Ausschau hielt. „Schnell!“ sagte er und winkte ihr. Sie war klug, reagierte schnell. Eine Sekunde später warf sie ihr Schwert durch das Fenster hinaus, krabbelte auf den großen Steinblock des Wasserbeckens vor dem Fenster und ließ sich durch das Fenster hinausfallen. Belder sah, wie sie sich draußen mit einer Rolle fing, ihr Schwert geschickt aufnahm und sich sofort unter einen niedrigen Busch drückte. Er hoffte, daß er das auch so geschickt hinbekommen würde. Dann warf auch er sein Schwert hinaus und versuchte es auf die gleiche Weise zu tun. Es gelang. Momente später war er draußen. Sofort nahm er wahr, daß sich eine wütende Menge vor der
Kopfseite des Hauses versammelt hatte. Überall, jenseits des Gartens, standen einzelne Leute, manche mochten gar nicht unmittelbar zur Gruppe der Angreifer zählen, aber sie sahen alle zu der Meute hin, die sich jetzt an der Vorderseite des Hauses, dort wo die Eingangstür lag, zusammenrottete und ihre Wut aufkochen ließ. Zum Glück half ihnen die schon hereinbrechende Dunkelheit, sich zu verbergen. Es nieselte leicht, und das Gras unter ihnen war naß. Wieder zupfte ihn das Mädchen am Arm und deutete mit dem Schwert auf einen weiteren Busch. Sie machte sich ganz flach und begann dorthin zu kriechen. Als Belder sich selber kriechend auf den Weg machte, sah er noch aus den Augenwinkeln, daß Leute Fackeln entzündeten. Ja, es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie auf diese Idee kamen. Sollte es ihm und dem Mädchen jetzt noch gelingen, sich davonzuschleichen, dann hatten sie wahrscheinlich die absolut letzte Chance genutzt, mit dem Leben davonzukommen. Als sie den nächsten Busch erreichten, schwärmten die ersten Leute aus, um Feuer zu legen. Sie mußten sich beeilen. Schon kamen die ersten Leute in ihre Richtung. Das Mädchen kroch voraus, und Belder beglückwünschte sich, daß der Garten so verwahrlost war. Überall wuchs hohes Gras, standen einzelne hohe Büsche und waren Gartenpflanzen ins Kraut geschossen. Die Dämmerung half ihnen zusätzlich. Nach zwei Minuten unter heftigem Herzklopfen hatten sie ungesehen den Rand des Gartens erreicht und sich im Schutz einer Bretterwand, die den Misthaufen umgab, aufsetzen können. Nun konnte er bestens mitverfolgen, wie sein heruntergekommenes Haus, das einzige, was er überhaupt besaß, in Flammen aufging. Für lange Minuten saßen sie unbewegt da, konnten den Sichtschutz wegen der immer zahlreicher werdenden Leute gar nicht verlassen und mußten zusehen, wie die Flammen
einzelner Feuer immer höher züngelten und die hölzernen Teile des Hauses in Brand gerieten. Mehrere Leute hatten Fackeln in die Küche geworfen, und dort drinnen brannte es schon munter. Die Toten, die dort lagen, würden sie später nur noch als Asche begraben können, aber das schien ihnen egal zu sein. Die unglaubliche Kaltblütigkeit, mit der sie das ganze Haus rundum ansteckten, versetzte Belder in eine Mischung aus bodenlosem Abscheu und heiligem Zorn und machte es ihm abermals leichter, die Männer, die er getötet hatte, in seinen Du-oder-ich-Blickwinkel zu stellen. An diesem Unheil hier trug er nun wirklich keine Schuld. Nicht die geringste. Und das Mädchen schon gar nicht. Dann wurden sie entdeckt. „Belder!“ schrie eine Frau von außerhalb des Gartens. „Da ist Belder! Seht ihr ihn nicht?“ Nur die wenigsten wurden aufmerksam. Das Brüllen der Flammen übertönte ihr Geschrei, und allein die Wucht des Anblicks eines in Flammen stehenden Hauses schlug die meisten der Leute in den Bann. Sie standen glotzend im Garten; vielleicht konnten sie selbst nicht glauben, was sie da angerichtet hatten. „Wir müssen durchbrechen“, zischte Belder. „Komm! Schnell!“ Er kugelte nach links, trat liegend zwei Zaunlatten durch und kroch dann so rasch er konnte durch das Loch. Das Mädchen folgte ihm. Als sie das Loch im Zaun passiert hatten, sah Belder sich rasch um. Tatsächlich waren nur drei, vier Leute auf sie aufmerksam geworden. Es gab zwar noch mehr, die in der Nähe standen und sie sahen, aber die waren überrascht zurückgetreten, taten nichts, als sie nur ratlos anzustarren; womöglich wußten sie gar nicht, daß es den Eindringlingen
darum ging, ihn und das Mädchen zu erwischen und zu töten. Mit Glück würden sie von hier davonkommen und sich auf ihrer Flucht nur gegen ein paar Verfolger wehren müssen. Sie sprangen beide auf, eilten geduckt und die Deckung nutzend hinter dem Zaun Richtung Norden und fingen an zu rennen, sobald sie ein Stück weg waren. Belder hörte Geschrei und sah sich um - ein paar Verfolger waren ihnen dennoch auf den Fersen. Er überholte das Mädchen, um ihr den Weg zu weisen, und bog nach rechts in eine Gasse ein. Vielleicht wäre es besser gewesen, geradeaus weiterzurennen, da die Straße schließlich im Norden am Waldrand endete. Aber auf diesem Weg hätte man sie für lange Zeit sehen können; Belder wollte erst mal verschwinden, irgendwohin, in dunkle Winkel abtauchen. Und dann fluchte er - kaum waren sie um die Ecke, liefen sie einer Gruppe bewaffneter Männer direkt entgegen. Verdammt, wo kamen die her? Belder sah gleich, daß sie diese Leute nicht so leicht überwinden konnten. Er kannte einige Gesichter; Minenarbeiter, kräftige Kerle aus dem Ostteil der Stadt, und der Teufel mochte wissen, wie sie mit Waffen in der Hand ausgerechnet hierher kamen und sich jetzt sogar veranlaßt fühlten, in Angriffshaltung zu gehen. Belder sah, daß er selbst vielleicht an ihnen hätte vorbeirennen können, wo er gerade so gut in Fahrt war, aber das Mädchen hätten sie erwischt. Er bremste ab und blieb geduckt stehen, das Schwert zum Kampf erhoben. Das Mädchen erreichte ihn kurz darauf. Dann bogen hinter ihnen die Verfolger um die Ecke, und nun sah es schlecht aus - sie waren eingekreist. Vor ihnen vier Leute und hinter ihnen fünf. Und diesmal waren sie auf den Kampf eingestellt. „Gib auf, Belder!“ sagte einer von vorn - und Belder
erkannte ihn. Es war Gerrot - nicht gerade einer seiner besten Freunde. Gerrot und seine Kumpel hatten zu denen gezählt, die es nie aufgegeben hatten, ihn aus der Hafenkneipe herausekeln zu wollen, wenn er alle paar Wochen dort einmal auftauchte. Sie hatten sich immer wieder mit ihm angelegt - und immer verloren. Jedenfalls dann, wenn Belder nicht freiwillig aufgegeben hatte und gleich gegangen war. Es hatte im Laufe des vergangenen Jahres ein halbes Dutzend Schlägereien in der Weißen Möwe gegeben; und stets waren es die anderen gewesen, Quorim, Gerrot, Isham und wie sie alle hießen, die mit den blutigeren Nasen nach Hause gegangen waren. Immer hatten sie verloren - nun, bis auf dieses eine Mal, vor zwei Monaten. Aber daran mochte Belder gar nicht mehr denken. Kein Wunder, daß sie hier waren. Sie mußten sich sofort bewaffnet haben und losgezogen sein, als sie davon hörten, daß es gegen Belder ging. „Gerrot!“ knirschte Belder. „Ja, ganz recht, der liebe Gerrot! Diesmal geht's dir an den Kragen, du Drecksack!“ Die vier standen vor Belder, auf den naß glänzenden Pflastersteinen der Straße, geduckt und die Waffen gezogen, und von hinten näherten sich die anderen fünf. „Du weißt, daß du mir nicht gewachsen bist, Gerrot! Hau lieber ab!“ „Wir sind zu neunt, Drecksack. Diesmal haben wir dich!“ Belder spürte, wie eine altgewohnte, kalte Kampfroutine von ihm Besitz ergriff. Zum ersten Mal wieder so richtig seit damals bei der Armee. Er wurde ganz ruhig, seine Sinne schärften sich, und es war nun nicht mehr zu vermeiden, daß ein paar von ihnen ins Gras beißen würden. Das hatten sie selbst zu verantworten. „Ist das die kleine rothaarige Hure vom Schiff?“ zischte ein
anderer. Belder kannte ihm nur vom Sehen. „Hast du sie wenigstens noch durchgevögelt, Belder?“ Die anderen kicherten heiser, als sie das hörten. „Sie wird dir gleich die Eingeweide rausschneiden, die kleine Hure“, sagte Belder mit einem boshaften Grinsen im Gesicht. „Solche stinkenden Ratten wie dich frißt sie zum Frühstück.“ Das Mädchen und er standen Rücken an Rücken, und die neun, die sie umzingelten, begannen sie zu umkreisen. Gleich würde es losgehen. „Letzte Chance“, sagte Gerrot. „Gib auf, dann kommt ihr vielleicht mit dem Leben davon.“ „Aha“, erwiderte Belder. „Langsam kriegst du Schiß, was? Komm doch!“ Er winkte ihn mit der freien Hand heran. Gerrot zögerte einen Augenblick, dann griff er an. Aber das war genau die Sorte Fehler, auf die einer wie Belder lauerte. Dieses kurze Zögern, dieser Moment der Unentschlossenheit, in dem Leute wie Gerrot zwischen der Gefahr, die in einem Angriff lag, und dem Druck der auf ihm lastenden Erwartung der Gefährten abwog. Dieses kurze Zögern war ein Augenblick der Unachtsamkeit und der mangelnden Deckung. Belder nutzte ihn gnadenlos. Gerrot machte einen etwas zu langsamen Schritt nach vorn und hob etwas zu langsam sein Schwert - da bohrte sich Belders Schwert mitten in seinen Halsansatz. Gurgelnd brach Gerrot zusammen. Ein Blutschwall ergoß sich aus seinem Hals, und Belder nutzte den Moment des Schocks und der entsetzten Ausrufe seiner Gegner, um sofort den nächsten Angriff zu beginnen. Er zuckte nach vorn, zog sein Schwert durch - und traf ins Leere. Sofort zog er sich wieder zurück, tastete mit der freien Hand nach dem Mädchen.
Aber sie war nicht da; er hörte Kampfgeräusche hinter sich, ein Singen aufeinandertreffender Schwerter, danach einen erstickten Schrei. Dann spürte er sie wieder - den Göttern sei Dank! Belder hatte keine Zeit, sich umzusehen. Sie schien unverletzt, und er mußte seine Gegner scharf im Auge behalten. Dann erfolgte der erste entschlossene Angriff, und zwar gleich durch drei Gegner. Belder stach mit seinem Gegenangriff mitten in die vorbeizischenden Schwerter seiner Gegner hinein, schaffte es bis zu dem sterbenden Gerrot und entriß seiner erschlaffenden Hand das Schwert. Mit einem furiosen Wirbel schlug er sich zurück zu ihr, spürte sie wieder und zischte: „Hier, nimm das Schwert!“ Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff. Dann spürte er ihre tastende Hand, und gleich darauf nahm sie ihm den Schwertknauf aus der Hand. Das würde sie anstelle eines Schildes verwenden können - sofern sie damit umgehen konnte. Dann ging es hinter seinem Rücken los. Sie wurde angegriffen, und er konnte nicht anders, als ihr zu helfen. Er wirbelte um sie herum, verwickelte zwei der Angreifer in einen kurzen Schlagabtausch und zog das Mädchen in einem Moment, da er sich und ihr ein wenig Luft verschafft hatte, in Richtung einer winzigen Gasse zwischen zwei Häusern, die ein Dutzend Schritte entfernt lag. „Achtung! Sie wollen abhauen!“ rief einer. Belder nutzte die Gelegenheit, den Mann anzugreifen. Das war seine Methode - immer sofort auf einen Gegner loszugehen, der es sich leistete, seine Konzentration durch irgendeine andere Handlung für kurze Zeit zu vernachlässigen. Metall klang auf Metall, leider traf er den Mann nicht. Es wurde immer dunkler, und er sah seine Gegner nicht mehr so
gut, wie er es sich gewünscht hätte. Dann erwischte ihn, aus einem dummen Zufall heraus, das Schwert des Mädchens genau an der Schulter, wo er im Kampf gegen die Zombies schon verletzt worden war. Ein heißer Schmerz durchzuckte ihn, aber außer einem leisen Aufstöhnen ließ er nichts hören. Er hoffte, daß sie es gar nicht mitbekommen hatte - es würde sie nur in ihrer Konzentration stören. Der Kampf blieb für den Moment in der Schwebe. Die Angreifer attackierten sie nicht entschlossen genug, achteten vermehrt auf ihre eigene Deckung, waren jedoch in der Überzahl. Belder hoffte, daß sich das Mädchen würde halten können. Er hatte noch immer kein zweites Schwert. Er benutzte seine freie Hand, um das Mädchen immer weiter mit sich zu ziehen in Richtung der kleinen Gasse. Sie war so schmal, daß nur zwei Leute nebeneinander einigermaßen bequem hindurchgehen konnten - eine ideale Breite also, um sich mit dem Schwert zu verteidigen. Allerdings hatte sie einen Nachteil. Belder wußte nicht, wo sie hinführte. Wieder ging hinter ihm der Kampf los - er hörte das Mädchen aufstöhnen, aber er konnte sich nicht umdrehen, denn in diesem Moment griffen ihn wieder zwei Leute von vorn an. Unter dem ersten Hieb konnte er wegtauchen, der zweite aber kam geradenwegs von unten. Belder stöhnte auf, ließ sich zur Seite fallen und spürte die Schwertklinge seines Angreifers, wie sie ihn in Höhe seines linken Beckenknochens traf - aber an seinem Knochen abprallte. Er stöhnte auf vor Schmerz. Dann krachte er auf den Boden und wußte, daß er erledigt war, wenn er nicht sofort wieder aufsprang. Er schaffte es, riß das Schwert hoch - und traf mitten in den Bauch eines weiteren Mannes, der gerade auf ihn zusprang. Der Kerl stieß ein häßliches Gurgeln aus, als ihm das Schwert durch die Eingeweide fuhr, fiel direkt auf Belder und begrub
ihn unter sich. Vorbei, dachte er. Mit einem Aufbäumen versuchte er sich dennoch hochzustemmen, spürte, wie ein Schwertstreich von dem sterbenden Mann, der über ihm lag, abgefangen wurde, und kämpfte sich mit einem Aufschrei frei. Dann traf ihn eine Klinge am Kopf- zum Glück nur mit der flachen Seite, aber ein heißer Schmerz zuckte durch seinen Schädel, der ihn nur noch brennende und heiße Sterne sehen ließ. Dann hatte er plötzlich ein zweites Schwert in der Hand, vielleicht das des Sterbenden, aber er konnte damit nichts anfangen, warf sich nur nach vorn, eine Rolle, noch eine, um aus dem Kampfgeschehen wegzukommen. Dann war er wieder auf den Füßen, schwer atmend, mit einem Sturm giftiger Funken in seinem Schädel. Der feine Nieselregen, kaum noch wahrnehmbar, half ihm auch nicht, den Kopf wieder klar zu bekommen. Irgendwo vor ihm, im Halbdunkel des hereinbrechenden Abends, kämpfte das Mädchen gegen die Übermacht der Angreifer, und gerade, als er wieder genügend bei sich war, um zu ihr zu eilen, kamen wieder zwei Mann auf ihn zu. Er überschlug es mühsam im Kopf, sie mußte mindestens noch vier Gegner haben, vielleicht drei, wenn sie einen oder zwei getötet hatte - aber das konnte sie nicht durchstehen. Als er sein Schwert hob, um den beiden zu widerstehen, die auf ihn zukamen, hörte er eine Stimme. „Belder! Schnell! Hierher!“ Er brauchte eine Sekunde, dann hatte er sie erkannt. A Fries! Die Stimme war ungefähr aus Richtung der Gasse gekommen, aber Belder leistete es sich nicht, dorthin zu schauen. Die zwei Männer kamen mit Gejohle auf ihn zu. Dann merkte er, daß er noch immer zwei Schwerter besaß. Er riß sie hoch, drehte sich um die eigene Achse, aber da
merkte er schon, daß seine Bewegungen unkoordiniert waren er traf nicht. Dafür bekam er abermals einen Treffer ab wieder gegen den Kopf, offenbar aber mit einem stumpfen Schwert und zum Glück nicht allzu fest. Sein Schädel dröhnte wie ein Bronzegong. Er blieb taumelnd stehen, dann knickten seine Knie ein. Mit schwirrendem Kopf sah er, wie sich zehn Schritte entfernt das Mädchen gegen die Übermacht von vier Leuten verteidigte - es war ihm ein Rätsel, wie sie das schaffte. Und dann geschah das Verrückteste: Die beiden, die bei ihm waren, ließen von ihm ab und stürzten zu den anderen, die das Mädchen immer mehr bedrängten. Belder wollte ihr zu Hilfe eilen, aber seine Beine gaben nun vollends nach. Er fiel, krachte auf den Boden und konnte sich nur mühsam ein Stück aufrichten. Er bekam es einfach nicht hin, seinen Blick wieder zu schärfen, seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. Er stöhnte hilflos. Dann war a Fries bei ihm. „Komm, Belder!“ rief er dringlich und versuchte ihn auf die Füße zu ziehen. Belders Augen waren nur auf die Kämpfenden fixiert. Das Mädchen war von den Männern in einem weiten Kreis umringt, und sie schienen mit ihr zu spielen. Sie verteidigte sich geschickt, aber sie erzielte keine Treffer. Sie war unglaublich flink und beweglich, aber mehr, als sich die Angreifer mühevoll vom Leib zu halten, schaffte sie nicht. Es waren sechs - sechs erwachsene Männer gegen eine junge Frau. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Ernst machten und entschlossen über sie herfielen. Dann war es aus mit ihr. Und Belder war nicht in der Lage zu kämpfen. Seine Beine wollten ihn nicht in die Höhe bringen. „A Fries!“ stöhnte er und sah hilfesuchend zu dem Zwerg auf. Der ging nicht auf ihn ein. „Los, Belder, weg von hier, bevor
es zu spät ist! Der Kleinen kannst du nicht mehr helfen!“ Wieder blickte er hinüber, die Angreifer umkreisten sie, und er sah, daß die Kerle grinsten - sie schienen sich ihren Spaß mit ihr machen zu wollen. Dann zuckte wieder einer vor, gleich darauf noch einer, sie parierte, Metall klang auf Metall - und wieder hatte sie es überstanden. Dann hörte er einen Ruf. „Belder!“ Die Stimme klang kläglich, verzweifelt. Er sah sich irritiert um. Dann war der Zwerg wieder in seinem Blickwinkel. In diesem Moment, körperlich bereits geschlagen, war Belder innerlich dennoch nicht bereit aufzugeben. Er hob die linke Hand mit dem Schwert und hieb es dem Zwerg mit dem Knauf gegen die Brust. „Hilf ihr, bei Rondra!“ ächzte er. „Gib mir einen kleinen Moment Zeit!“ A Fries starrte ihn ungläubig an, dann sah er hinüber zu den Kämpfenden. Sie zogen den Kreis enger. Belder sah es auch, und er hieb noch einmal den Schwertknauf gegen die breite Brust des Zwerges. A Fries grunzte unwillig, dann nahm er das Schwert entgegen. „Hierher - ihr Scheißkerle!“ brüllte er mit einem Mal. Dann stampfte er los. „Zu sechst gegen ein kleines Mädchen! Nehmt ihr es auch mit mir auf?“ Die Köpfe fuhren verblüfft herum. Belder sah, wie das Mädchen geistesgegenwärtig die Situation nutzte. Sie stieß vor - und rammte einem der Männer das Schwert in die Brust. Der Kerl stöhnte auf, fiel, und wieder fuhren die Köpfe herum diesmal zu dem Getroffenen. A Fries war ebenfalls ein Kämpfer, Belder wußte das schon. Zwar waren seine besten Zeiten lange vorüber, aber einen günstigen Moment zu erkennen, das ging einem echten Kämpfer in Fleisch und Blut über. Ohne einen Laut stürzte er plötzlich voran, griff die Beine seines Gegenübers auf eine
Weise an, die Belder bei manchen Zwergen schon gesehen hatte, und er traf. Belder, dessen Sinne sich langsam wieder sammelten, beobachtete a Fries mit einer gewissen Faszination. Er hatte im Krieg gegen die Orks ab und zu Seite an Seite mit einem Zwerg gekämpft. Zuvor hatte er stets große Zweifel daran gehabt, daß ein so kleiner Kerl überhaupt eine Chance gegen einen Mann haben konnte, der zwei Köpfe größer war. Aber das stimmte nicht. Manche Zwerge beherrschten den Bodenkampf - wie Belder es nannte - in Perfektion. Von ihnen hatte er die Methode, sich mit einer Rolle an einen Gegner heranzubringen, abgeschaut. Einige Zwerge waren darin wahre Meister. Belder beobachtete, wie a Fries geduckt über das nasse Pflaster auf seinen Gegner zuschoß und sein Schwert, kaum zwei Handbreit über dem Boden, mit der eisernen Muskelkraft eines Zwerges durchzog und dem Mann glatt einen Fuß abhackte. Ein gellender Schrei fuhr durch die Luft. Da war a Fries schon ein Stück weiter, und ein zweiter Mann entkam seinem Streich nur knapp. Dann war er bei dem Mädchen und baute sich vor ihr auf. „Kommt nur ran, ihr feiges Pack!“ brüllte er. Der Mann mit dem fehlenden Fuß war unter Schmerzensschreien zusammengebrochen, völlig kampfunfähig, aber es waren nun immer noch vier, die gegen a Fries und das Mädchen standen. Belder sah, das sie schwer schnaufte; wenn sich der Kampf nicht bald wendete, würde sie bald einen Treffer abbekommen. Und so zierlich, wie sie gebaut war, würde das übel für sie ausgehen. Und dann bogen weiter unten, am Ende der Straße, weitere bewaffnete Männer um das Häusereck. Belder kniff angestrengt die Augen zusammen, wischte sich
mit dem Handrücken durch das schweißnasse Gesicht. Dann stieß er ein heftiges Brüllen aus und kämpfte sich in die Höhe. Jetzt - oder nie mehr, sagte er sich. Noch immer nicht wieder völlig bei sich, stürzte er auf das Kampfgeschehen los. Als er eintraf, waren sie für den Moment drei gegen vier. Belder zog durch und traf. A Fries wirbelte über den Boden und traf auch. Das Mädchen war schwer atmend stehengeblieben, und einer der beiden noch verbliebenen Männer hob sein Schwert und rannte brüllend auf sie zu. Die Verstärkung war nur noch dreißig Schritt entfernt, und es ging um Augenblicke. Belder zog sein Schwert aus der Brust seines Opfers, wirbelte herum und versuchte noch rechtzeitig dem Angreifer den Weg zu ihr abzuschneiden. Aber es war zu weit, er sah, daß er zu spät kommen würde. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er sah, daß sie ihr Schwert nur kraftlos zur Abwehr hob - sie war erschöpft. Der Mann hingegen war groß und kräftig, und er würde ihr den Schädel spalten und ihr Schwert mit dem gleichen Streich in Stücke schlagen. Dann aber war a Fries plötzlich da. Der Kerl rannte, ohne daß er eine Chance hatte auszuweichen, mitten in sein Schwert hinein. Mit einem Gurgeln brach er zusammen. Die anderen waren jetzt nur noch fünfzehn Schritte entfernt - es waren sechs oder sieben Leute. „Los jetzt!“ zischte a Fries. „Rennt, was ihr könnt!“ Er setzte sich in Bewegung, und es war erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit er losflitzte. Belder nahm das Mädchen in den Arm und rannte a Fries hinterher, sie mit sich ziehend. Sie ächzte, war offenbar völlig erledigt. Sie bogen in die Gasse ein, und Belder bekam gerade noch aus den Augenwinkeln mit, daß die Leute für Momente bei ihren verletzten und getöteten Kameraden stehenblieben. Das
waren wertvolle Augenblicke. A Fries war gut zwanzig Schritte voraus. Er blieb stehen und winkte sie mit dem Schwert heran. „Schnell!“ Als sie ihn erreichten, eilte er wieder voran. Die Gasse wurde wieder breiter, endete in einem T - nach links und rechts führten schmale Wege zwischen Hecken angrenzender Gärten hindurch. A Fries bog nach rechts ab, und sie folgten ihm. Am anderen Ende der Gasse tauchten eben die Verfolger auf - sie schrien und johlten. So ging es in hohem Tempo weiter durch die verregnete Nacht. Belders rechte Hüfte brannte wie Feuer, seine Schulter auch, und sein Kopf war immer noch nicht wieder klar. Er wußte nicht, wie lange er diese Geschwindigkeit noch würde durchhalten können. Das Mädchen stützte nun ihn, obwohl sie ebenfalls schwer schnaufte. Dann endlich erreichten sie einen freien Platz, nachdem sie mehrere Minuten lang so schnell sie konnten durch kleine Hohlwege, über Wiesen hinweg und durch Gassen gerannt waren. Belder erkannte a Fries' Haus - und atmete auf.
11
Andrina
Sie waren in Sicherheit. Auch a Fries' Haus war von Sykandern angegriffen worden von einer anderen Gruppe unter Zappsteen, die der Auffassung war, er hätte den Dämon auf der Dinia Tjerbus losgelassen, um an das Geld zu kommen oder es den Leuten zumindest vorenthalten zu können, damit er fortan der reichste Mann der Stadt war. A Fries hatte versucht ihnen klarzumachen, wie idiotisch und völlig haltlos ihre Ideen waren, aber man hatte ihm gar nicht zugehört. So hatte er sich ebenfalls in sein Haus zurückgezogen und sich verbarrikadiert. Allerdings war sein Haus von ganz anderer Machart als das Belders. Es handelte sich um ein sehr großes, fest gebautes Steinhaus mit zwei hohen Stockwerken, das auf einer leichten Anhöhe und dazu noch in einem hochgebauten Garten lag. Bis in eine Höhe von vier oder fünf Mannslängen gab es nichts, was man hätte anzünden können, und die Mauern waren dick. Ebenso die Türen; die Fenster waren sämtlich vergittert, selbst oben, im ersten Stock. Darüber hinaus war a Fries' Haus ziemlich bevölkert. A Fries' ganze Familie war da, einige seiner Freunde und dazu noch fast die gesamte Belegschaft seines Sägewerks, die zu ihm hielt. Es waren insgesamt achtzehn Leute, und neun von ihnen waren Zwerge. Belder hatte Zwerge eigentlich immer ganz gern gemocht, ihre geradlinige Art gefiel ihm, und er hatte oft den Eindruck gehabt, daß sie weniger Vorurteilen unterlagen als Menschen. Als Belder eine Halbelfin im Haus entdeckte, war er höchst erstaunt. Er hatte nicht gewußt, daß es in Sykand jemanden dieser Rasse gab. A Fries klärte ihn auf: Sie war zu Besuch hier, und kaum jemand wußte davon.
Es handelte sich um ein hübsches, junges Elfenmädchen. Sie war weißblond, stammte aus dem Mittelwesten und nannte sich Renika Luchsmaul. Sie trug stets ein wissendes, geheimnisvolles Lächeln im Gesicht, und a Fries sagte, sie sei eine meisterliche Bogenschützin. Belder nickte zufrieden. Es war nicht damit zu rechnen, daß man sie hier in Ruhe lassen würde, und das Haus lag hervorragend, um es mit Hilfe von Pfeilen aus den Fenstern der oberen Stockwerken nach außen zu verteidigen. Er selbst konnte ebenfalls ein wenig mit einem Bogen umgehen. Und dann kam noch eine Überraschung: Begleiter der Halbelfin war ein Thorwaler von der Westküste, ebenfalls noch jung; ein großer, dunkelblonder Kerl mit Muskelsträngen wie Schiffstaue - selbst Belder kam von der Statur her nicht ganz an ihn heran. Er hieß Jandhar, und a Fries sagte, er sei Kurierreiter, aber Belder glaubte das nicht ganz. Seine Art sich zu bewegen und seine wachen Augen verrieten den Krieger in ihm. Was er und das Elfenmädchen in Wirklichkeit hier taten, wußte Belder nicht, und er wollte auch nicht unverschämt wirken, indem er danach fragte. Die beiden waren freundlich und besaßen ehrliche Gesichter - das genügte ihm. Trine a Fries, die Frau des Hausherrn, kümmerte sich auf höchst fürsorgliche und mütterliche Art um die Verletzungen von Belder und dem Mädchen, und drei muntere Zwergenkinder turnten wohlgelaunt um sie herum - Mimi, Jaki und Boldar, zwei Mädchen und ein kräftiger Junge. Belder hatte nicht gewußt, daß Zwergenkinder eine so angenehme und witzige Gesellschaft waren. Er und das Mädchen konnten sich in der Küche ein wenig waschen, die nassen Haare trocknen und die schmutzigen Kleider säubern. Zum Wechseln hatten sie nichts dabei, und in einem Zwergenhaushalt dürfte es kaum Ersatzkleidung für sie geben. Dann schließlich kam a Fries aus dem oberen Stockwerk und erklärte, daß er ihnen ein Zimmer hergerichtet habe. Sie sähen
beide ziemlich mitgenommen aus und würden sich sicher ausruhen wollen. Belder nickte dankbar, dann sah er befangen zu dem Mädchen. A Fries schien zu glauben, daß sie etwas miteinander hatten. Na ja, sagte sich Belder, das mußte nicht sein. Das Haus war zwar sehr groß, aber es waren auch viele Leute hier. Bei dieser Menge hatte a Fries sicher nicht genug Zimmer, um jedem von ihnen ein eigenes geben zu können. Seufzend nahm er ihre Hand und ließ sich von a Fries nach oben führen. „Danke“, sagte er unterwegs, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Danke, daß du uns geholfen hast. Hätte nicht gedacht, daß es eine Seele in Sykand gibt, die sich um uns schert.“ „Wir müssen zusammenhalten“, brummte a Fries nur. Belder wußte, daß der Zwerg ebenfalls kein Mann vieler Worte war. Dann fiel ihm ein, daß er selbst heute diesen Grundsatz - nun ja, es war wohl eher eine Gewohnheit - zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, derart durchbrochen hatte. Etwas unsicher blickte er zu dem Mädchen. Sie würde ihm ebenfalls noch etwas erklären müssen. Dann erreichten sie das Zimmer, und Belder blieb verblüfft stehen, als er einen Schritt hineingegangen war. Es handelte sich um ein Schlafzimmer - aber die Einrichtung allein war wohl das Doppelte wert wie seine ganze, erbärmliche Hütte drüben am anderen Ende von Sykand. Er nickte. Ja, besonders jetzt. Wohl das Hundertfache. Von seinem Haus würde morgen früh nichts als ein Häufchen Asche übrig sein. An der linken Wand stand ein gewaltiges Bett mit geschnitzten Bettpfosten, die in die Höhe ragten und einen Himmel mit plüschverbrämten Tuchspitzen trugen. Allein die Überdecke, die auf dem Bett lag, mußte ein Vermögen wert sein. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Kamin,
in dem ein behagliches Feuer brannte. Er war mit zwei gemeißelten Marmorsäulen eingefaßt, und auf dem Sims standen kleine, silberne Figürchen, mindestens ein Dutzend an der Zahl. Zweifellos waren sie ein weiteres Vermögen wert. Belder entdeckte eine Vitrine mit Kristall darin, Bilder mit Heldenszenen, und die Front des Zimmers, die hinaus auf den kleinen Platz vor a Fries' Haus zeigte, besaß zwei große Fenster, die mit schweren Vorhängen von der Decke bis zum Boden verhängt waren. Sogar einen Teppich gab es hier - es war wohl der erste, auf dem Belder überhaupt jemals stand. A Fries warf ihm ein verlegenes Lächeln zu. „Nicht schlecht“, sagte Belder. „Verdient man so gut mit Holz?“ Dann merkte er, wie bissig seine Bemerkung geklungen haben mußte, und er entschuldigte sich. Er war a Fries zu allem Dank verpflichtet. Daß es in Sykand ziemlich reiche Leute gab, war hinlänglich bekannt. A Fries nickte ihnen zu und verließ den Raum. Die hohe, doppelflügelige Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Belder stieß ein Seufzen aus, warf sein Schwert und seine ziemlich mitgenommene Lederweste rechts auf einen Polsterstuhl und durchquerte den Raum, um sich auf die Bettkante zu setzen. Er klopfte auf den Platz links neben sich. „Komm mal her zu mir“, sagte er. Das Mädchen gehorchte. Sie sah nicht sehr glücklich aus, betrachtete Belder mit befangenen Blicken. Dann saß sie neben ihm, mit geschlossenen Beinen und den gefalteten Händen im Schoß. Er nickte ihr zu und sagte: „Wenn ich meinen Sinnen noch einigermaßen trauen kann, dann hast du meinen Namen gerufen.“ Sie antwortete nicht, sah nur zu Boden. „Vorhin, als du gegen die sechs Leute gekämpft hast“, fügte
er hinzu. Sie sah nur kurz zu ihm auf und starrte dann wieder auf den Boden. Belder hatte nicht vor, ihr Vorwürfe zu machen. Er wollte nur wissen, was los war. „Na?“ fragte er. Sie schnaufte nur, sah noch einmal kurz furchtsam zu ihm auf, starrte dann aber wieder, wie ein schuldbewußtes Kind, hinab auf den Teppich. Nur ihre Fußspitzen reichten bis hinunter. Schließlich stieß er sie mit dem Ellbogen auffordernd an, tat es absichtlich, so sanft er konnte. „Wie heißt du denn?“ fragte er ruhig. Zögernd, aber dann doch voller Mut in ihrem scheuen Blick antwortete sie. „Andrina“, sagte sie. Ein warmer Schauer fuhr durch Belder. Ihre Stimme klang sehr sanft, und der Name gefiel ihm. Er hatte ihn noch nie zuvor gehört, aber ... ja, er paßte irgendwie zu ihr. Es schien fast, als habe ihn extra jemand für sie erfunden. Andrina. „Warum hast du nie gesagt, daß du sprechen kannst?“ wollte er wissen. „Ich ... ich weiß auch nicht“, sagte sie. „Es fing einfach so an.“ Er runzelte die Stirn. „Es fing so an?“ Sie nickte. Noch immer sah sie sehr schuldbewußt aus. „Auf dem Schiff... als du kamst. Ich hatte Angst.“ „Ja, das hab ich gemerkt. Du hast mich ...“ Er verstummte. Andrina hatte den Kopf zu Seite gewandt, so als rechnete sie jeden Moment damit, daß er in furchtbare Wut ausbrechen würde. Aber seine Stimmung war ganz anders, er spürte plötzliche Lust, nett zu ihr zu sein.
„Nun hab mal keine Angst“, seufzte er. „Ich bin nur neugierig. Kann mir gut vorstellen, daß du dich vor den Leuten gefürchtet hast. Wegen deiner... roten Haare.“ Die letzten beiden Worte hatte er nur zögernd ausgesprochen; hatte dabei, ganz unabsichtlich, einen gewissen Tonfall nicht vermeiden können, der so klang, als hielte er ihre roten Haare für einen Makel. Sie hob den Kopf und sah ihn von der Seite her an. Ihr Gesicht spiegelte neuerliches Mißtrauen. Belder schnitt eine Grimasse. „Weißt du, wie man mich auch nennt? Belder, den Fettnäpfchen-Treter.“ Ihr Gesicht blieb noch immer ausdruckslos. Er winkte ab. „Ich hab nichts gegen deine Haare“, erklärte er. „Wirklich. Im Gegenteil, sie sehen... hübsch aus. Und lustig.“ Zur Bestätigung seiner Worte faßte er kurz eine ihrer Locken an. Sie ließ es geschehen. „Vielleicht solltest du einen Pferdeschwanz tragen“, schlug er vor. Ihr Gesicht spiegelte Überraschung. „Einen ... Pferdeschwanz?“ Belder raffte seine eigenen, ziemlich ungepflegten braunen Locken zusammen und formte aus ihnen ein winziges Haarbüschel am Hinterkopf. „Ja, du weißt schon“, erklärte er und wandte den Kopf, damit sie es sehen konnte. „So was hier.“ Als er sich wieder umdrehte, lächelte sie schwach. „Meinst du wirklich?“ Er nickte und hob entschuldigend die Schultern. „Warum nicht? Schätze, das würde dir gut stehen. So wild durcheinander, wie sie jetzt abstehen, da siehst du fast wie eine ... äh, Hexe aus.“ Er grinste sie breit an. Sie zuckte bei dem Wort Hexe kurz zusammen, als aber Belder nicht zu grinsen aufhörte, ließ sie sich anstecken und
hieb ihm vorwurfsvoll die kleine Faust gegen das Bein. „Nun mach schon!“ forderte er sie auf. Wieder forschte sie in seinem Gesicht, ob er es wirklich ernst meinte. Dann nahm sie beide Hände zurück und formte aus ihrer riesigen roten Mähne ein dickes Haarbüschel hinter dem Kopf. „So?“ fragte sie. Belder grinste noch breiter. „Ja! Sieht schon besser aus!“ Er stand auf, sah sich um und fand auf dem Sofa ein Kissen, dessen Ränder mit in sich verwundenen, goldenen Kordeln verziert waren. „Ich hoffe, a Fries vergibt mir das“, brummte er, als er eine der Kordeln abriß., Aber das hier ist genau das richtige!“ Er ging zu ihr, kniete sich mit einem Bein aufs Bett und knotete mit der Kordel eine kleine Schleife um das Haarbüschel. Sie wandte ihm dabei den Hinterkopf zu, und fasziniert betrachtete er ihren schlanken Hals. Dann war er fertig. „Da ist ein Spiegel“, sagte er und deutete auf die Vitrine. Sie stand auf und ging hin, stellte sich davor und wandte den Kopf hin und her. Auf ihrem Gesicht stand ein glückliches Lächeln. „Sieht gut aus“, meinte er. Sie wandte sich um, wollte mehr, das sah er. „Was?“ fragte sie. „Beides“, erwiderte er lächelnd und wunderte sich, daß es ihm gelang, ihr so unbefangen Komplimente zu machen. Irgendwie kannten sie sich ja schon eine Weile, obwohl sie noch nie miteinander geredet hatten. Ihre Stimme gefiel ihm, und besonders ihr Name. Andrina. Dann zog er seine Stiefel aus, robbte rückwärts auf das Bett und ließ sich, drüben auf der Fensterseite, seufzend gegen die hoch aufgebauschten Kissen sinken. Das Bett war groß genug, daß a Fries seine ganze Familie darin hätte unterbringen
können. Belder fuhr mit der flachen Hand über den erlesenen gesteppten Stoff der Überdecke. „Ich bin müde“, stelle er fest. Sie trat vor das Bett. „Ich auch.“ Er deutete auf den freien Platz neben sich. „Hältst du es mit mir aus, oder soll ich a Fries fragen, ob er noch ein Zimmer für mich hat?“ Sie kroch vorsichtig auf das Bett, legte sich, zu ihm gewandt, ein wenig eingerollt auf die Seite, ließ aber ein gehöriges Stück Platz zu ihm. Dann sagte sie lächelnd: „Du schnarchst wie ein Walroß. Nein, wie ein Sägewerk. Hat a Fries nicht eins? Du solltest bei ihm anfangen.“ Belder grinste. Sie konnte sogar witzig sein. „Aber du kannst hierbleiben“, sagte sie großmütig und kam damit seiner abermaligen Frage, ob er gehen sollte, zuvor. „Ich glaube, ich könnte mir dich anders gar nicht vorstellen - ohne Geschnarche.“ Dann rollte sie sich auf den Rücken aus, starrte zum Plüschhimmel des Bettes hinauf und seufzte. „Schön, daß ich wieder reden kann.“ „Wie bist du auf das Schiff gekommen?“ fragte er. Ihr Blick trübte sich wieder etwas. „Nun sag schon“, forderte er sie gutmütig auf. „Ich hab dir eine Menge meiner Geheimnisse verraten, als ich noch dachte, du wärest stumm.“ Sie nickte und seufzte leise. „Ja, stimmt. Also gut. Ich ... nun ja, ich war eine blinde Passagierin. Nur der Steuermann wußte, daß ich da war.“ „Der Steuermann? Pjorek?“ „Du kennst ihn?“ „Ich kannte ihn“, korrigierte er und deutete Richtung Decke. „Jetzt baumelt er an einer Rah. Auf der Dinia Tjerbus.“ Belder rollte sich nun seinerseits auf die Seite und blickte sie scharf an. „Was, bei allen Zwölfen, ist da passiert? Wie kam dieser Dämon an Bord?“
Sie rollte wieder halb herum, wandte sich ihm zu. Dadurch kam eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen auf, obwohl sie immer noch fast zwei Armlängen voneinander entfernt lagen das Bett war einfach riesig. „Ich weiß nicht genau“, antwortete sie. „Ich war die ganze Zeit in der Kammer. Ich hörte Streit zwischen den Leuten, einmal gab es Kampflärm. Es könnte eine Meuterei gewesen sein. Du sagst, da waren Leute aufgeknüpft?“ „Hast du sie nicht gesehen? Auf dem Oberdeck?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber jetzt, wo du es sagst an einem Morgen haben sie oben irgendwas abgehalten. So was wie eine Versammlung. Jedenfalls kam es mir so vor. Es könnte ein Standgericht gewesen sein.“ „Du meinst, woraufhin sie den Käpt'n und den Steuermann aufknüpften?“ „Der Käpt'n war auch dabei?“ Belder nickte. „Und noch zwei. Was geschah dann?“ Sie schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß es...“ Sie starrte ins Leere. „Ja, es muß am gleichen Tag gewesen sein, am Nachmittag. Da gab es plötzlich großes Geschrei. Im Laderaum - das war ja nicht weit von meinem Versteck.“ „Der Dämon?“ Sie zuckte die Achseln. „Daß da ein Dämon war, hab ich erst gesehen, als du mich an ihm vorbeigelotst hast. Aber es gab einen Brand auf dem Schiff. Einen heftigen. Ich hatte den Eindruck, daß er überall war, über mir, im Laderaum, weiter hinten - aber dann war es schon wieder vorbei.“ „Und dann?“ Sie schnaufte. „Dann rüttelten sie an meiner Tür. Ich bekam furchtbare Angst. Nach einer Weile gingen sie. dann kamen sie wieder - immer wieder. Daß das Zombies waren, wußte ich
nicht, bis du mich befreit hast.“ Belder nickte. Das erklärte, warum sie ihn angegriffen hatte. Er hatte ihr irgendwas von Zombies zugerufen und daß er sie niedergemacht hätte, aber wenn sie gar nicht gewußt hatte, daß es Zombies waren, die an ihrer Tür gerüttelt hatten, gab es für sie auch keinen Grund, einem Mann zu trauen, der ihre Tür aufbrach und hereinkam. „Wie lange dauerte es danach, bis das Schiff im Hafen ankam?“ wollte er wissen. „Ab dem Zeitpunkt des Feuers?“ „Also, wenn du meinst, bis du mich geholt hast - das war nicht lange. Ein paar Stunden vielleicht.“ „Du meinst, die Meuterei und das mit dem Dämon war am gleichen Tag?“ Sie nickte. Belder ließ sich wieder zurückrollen, starrte in die Höhe. Eine rätselhafte Geschichte. Aber es gab keinen Grund, warum er an ihren Worten hätte zweifeln sollen. „Es wäre nicht schlecht“, sagte er, „wenn wir dahinterkämen, was da nun wirklich alles passiert ist. Und woher der Dämon kam. Solange wir den Leuten das nicht erklären können, und zwar Punkt für Punkt, werden sie dich weiterhin für eine Hexe halten.“ Für eine Weile herrschte Schweigen. „Hältst du mich für eine Hexe?“ fragte sie dann leise. Er wandte den Kopf. „Klar. Man kann den Raben auf deiner Schulter deutlich sehen! Und all die Zaubersprüche, die du den lieben langen Tag murmelst. Und dein schrecklich böser Blick. Ich zittere, siehst du's nicht?“ Sie schenkte ihm ein Lächeln, und er entdeckte immer mehr an ihr, was ihm gefiel. Er studierte eine Weile ihr Gesicht und kam zu dem Schluß, daß er sich getäuscht hatte. Sie war gar nicht so häßlich.
Das warme Licht im Raum lud ihn zum Dösen ein, aber Belder raffte sich auf, ließ sich auf seiner Seite aus dem Bett kugeln, stand auf und trat zum Fenster. Eine ganze Weile beobachtete er die Straße, die im Licht des Madamais, das durch eine Wolkenlucke herabschien, still dalag. Der Nieselregen hatte aufgehört. „Draußen ist es ruhig“, sagte er dann. „Wir sollten eine Weile schlafen. Kann sein, daß es bald wieder Ärger gibt.“ Als er zurück aufs Bett robbte, sah er, daß sie die Augen schon geschlossen hatte. Sie war unter die Decke gekrochen und lag still da; ein paar Stellen ihres Gesichts glänzten im Schein des Feuers. Nein, dachte er, sie war wirklich nicht häßlich. Leise kroch er ebenfalls unter die Decke. Ein paar Mal drehte er sich noch herum, um eine bequeme Lage zu finden, und schloß dann die Augen. Andrina rumorte noch ein wenig neben ihm. Dann spürte er plötzlich ihre Hand, die sich an seine herantastete. Als er verstohlen zur Seite blickte, sah er, daß sie sich ein bißchen näher an ihn herangearbeitet hatte. Zufrieden nahm er ihre Hand und hielt sie. Sie fühlte sich so warm und weich an wie schon zuvor, und er fügte seiner Liste, was er an ihr mochte, noch etwas hinzu. Was er besonders mochte. Diese kleine, warme Hand. Mitten in der Nacht weckte sie ihn. „Belder!“ Er brummte und wälzte sich herum. Noch nicht ganz bei sich, streckte er unwillkürlich den Arm in ihre Richtung aus dann aber, als er langsam zu sich kam, merkte er, daß sie dort nicht mehr lag. Er schlug die Augen auf. Andrina kniete neben ihm, hatte sich ein wenig vorgebeugt. Ihre Hand berührte seine Schulter. „Belder!“ flüsterte sie. Plötzlich fuhr er hoch - irgendwas hatte das Wort Zombies in
seinem Kopf entstehen lassen, und er sah sich erschrocken um. „Schon gut“, beruhigte sie ihn, „es ist niemand da.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und stemmte sich auf die Ellbogen. „Was ist?“ „Belder, ich muß mit dir reden“, sagte sie. „Mir ist etwas eingefallen.“ Sie setzte sich im Schneidersitz vor ihn. Er konnte sie kaum erkennen, das Feuer war schon weit heruntergebrannt und flackerte eben erst wieder auf. Sie mußte gerade etwas Holz nachgelegt haben. Dann richtete er sich ganz auf. „Was ist denn, Andrina?“ Er sprach diesen Namen gern aus. „An Bord muß etwas sein“, flüsterte sie. „Wir sollten uns dort umsehen.“ Er glotzte sie nur an. Sein Gehirn mußte erst wieder in Bewegung kommen. „Was meinst du denn?“ Beinahe hätte er wieder Andrina gesagt. Sie holte Luft. „Dieser Dämon war nicht von Anfang an da. Da bin ich sicher. Jemand muß ihn herbeigerufen haben während der Fahrt.“ Er schnaufte. „Und?“ „Verstehst du nicht? Es muß irgendwas an Bord sein. Ein magischer Gegenstand, ein Buch ... was weiß ich. Etwas, womit dieser Dämon herbeigerufen wurde. Anders hätte er gar nicht kommen können. Dämonen entstehen nicht von selbst!“ „Bist du sicher?“ Sie nickte. „Also, ich bin kein Zauberkundiger. Keine Ahnung, woher Dämonen kommen.“ Sie ballte die Fäuste. „Aber ich weiß es! Man muß sie herbeirufen, soviel steht fest. Auf der Dinia Tjerbus muß es
irgendwas geben, mit dem das geschah. Wenn wir es finden, wissen wir vielleicht, wie es passiert ist. Und dann können wir den Dämon vielleicht wieder zurückrufen.“ Sie machte eine Pause und schnaufte. „Und beweisen, daß ich damit nichts zu tun habe.“ Nun verstand er. Und er verstand auch sie. Andrina stand unter dem Verdacht, mit dämonischen Mächten im Bund zu sein, und das würde über kurz oder lang bedeuten, daß man sie umbrachte. Sie mußte dahinterkommen, was wirklich geschehen war, um sich reinwaschen zu können. Sie saß vor ihm, seine kleine Hexe, so zart und zierlich wie immer, und er überlegte, daß er sie wahrscheinlich vor wenig mehr als einem Tag noch gefragt hätte, was ihn das überhaupt anginge - was er mit ihrem Problem zu schaffen hätte. Jetzt aber war das anders. Ein Band war zwischen ihnen geknüpft worden, und zwar nicht allein deswegen, weil sie das gleiche Schicksal teilten - Ausgestoßene und einsam zu sein. Nein, es war noch etwas anderes. Seine anfängliche Abneigung gegen sie hatte sich inzwischen ins Gegenteil verwandelt. Er spürte immer mehr, daß er sie gern in seiner Nähe hatte, daß sie ihm gut tat. Besonders ihre Hand, die hätte er den ganzen Tag halten können. Ausgerechnet er. Belder, der Krieger; der Mann, der in den letzten zehn Jahren kaum mal jemand näher als auf Schwertlänge an sich herangelassen hatte. Irgendwie beunruhigte es ihn, daß er plötzlich jemandem so nahe kam. Dann schlug er die Decke zurück. „Du hast recht“, sagte er. „Wenn wir ein bißchen geschickt sind, können wir den Zombies ausweichen und versuchen, an Bord zu gelangen. Tagsüber hätten wir dazu keine Chance.“ Er schwang die Beine über die Bettkante, schlüpfte in seine Stiefel und umrundete entschlossen das Bett, um sich sein Schwert zu holen.
Er lief ihr mitten in die Arme. Sie drückte sich fest an ihn und hauchte ein 'Danke'. Als sie zu ihm aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. So ganz war Belder dieser neuen Sache in seinem Leben noch nicht gewachsen. Er drückte sie kurz an sich, löste sich dann aber wieder. Jetzt zur Tat zu schreiten, das war ihm im Augenblick lieber. Zum Glück verwickelte sie ihn nicht in weitere Rührseligkeiten, sondern wischte sich kurz die Tränen fort und trat dann ebenfalls zu ihren Sachen. Kurz darauf waren sie soweit, das Haus zu verlassen und sich in das nächste Abenteuer zu stürzen. Belder hoffte nur, daß sie auch diesmal mit heiler Haut davonkamen. Inzwischen hatte er sein sprichwörtliches Glück im Kampf schon reichlich oft strapaziert.
12
Auf der Dinia Tjerbus
A Fries bestand darauf, sie zu begleiten. Belder hatte sich nur kurz dagegen verwahrt, sein Kriegerstolz gebot ihm das, ebenso seine Höflichkeit gegen a Fries, der schon einmal seine Haut für ihn und das Mädchen riskiert hatte. Aber dann stimmte Belder doch zu - es war einfach vernünftiger. Es schien fast, als hätte a Fries Spaß daran gefunden, seine alten Knochen mal wieder in Bewegung zu bringen, denn er funkelte Belder unternehmungslustig an. „Was hofft ihr, auf dem Schiff zu finden?“ wollte er wissen. „Das, womit der Dämon herbeigerufen wurde“, erklärte Belder. „Und womit wir ihn hoffentlich wieder zurückschicken können. Außerdem müssen wir beweisen, daß Andrina nichts damit zu tun hat.“ „Andrina?“ fragte a Fries. „Wer ist das?“ Mit einem verlegenen Lächeln hielt Andrina ihren Zeigefinger in die Höhe, wie ein kleines Schulmädchen. Sie und Belder grinsten sich unwillkürlich an. A Fries starrte sie nur an. „Aber woher ...? Ach so. Du hast es ihm aufgeschrieben. Du kannst sogar schreiben?“ Sie nickte. „Kann ich. Aber ich hab es ihm gesagt“, erklärte sie. A Fries' Gesichtszüge gerieten durcheinander. Aber nur „ kurz. Dann stellte sich ein diabolisches Grinsen auf seinem Gesicht ein. „Ich Trottel. Hätte ich selber merken können! Du riefst seinen Namen - in der Gasse, beim Kampf!“ Er nickte. „Du gefällst mir, Mädchen. Du hast Geheimnisse!“ „So etwas gefällt dir?“ A Fries grinste noch breiter. Er war einen guten Kopf kleiner
als Andrina. „Ja. Von meiner Frau weiß ich wenig mehr als ihren Namen. Obwohl ich schon zweiundzwanzig Jahre mir ihr verheiratet bin. Gut, was?“ Andrina lachte leise auf, Belder ebenfalls. A Fries winkte ihnen. „Los jetzt. Bald kommt das Morgengrauen. Wir müssen zurück sein, ehe Sykand wieder aufwacht.“ Er trug eine hübsche Zwergen-Kampfaxt von recht beeindruckendem Aussehen, wie Belder befriedigt feststellte. A Fries war nicht mehr der Jüngste, aber er war noch immer ein guter Kämpfer. Belder hatte das gestern abend mit Kennerblick erkannt. Sie verließen das Haus durch die vordere Eingangstür, die verrammelt war und die sie erst einmal freiräumen mußten. Nur zwei von a Fries' Hausgenossen erfuhren, daß sie weggingen, seiner Frau hatte er nicht Bescheid gesagt. „Man muß ein paar kleine Geheimnisse haben“, erklärte er grinsend. Dann waren sie draußen. Das Madamal war schon untergegangen, aber über ihnen leuchtete ein wunderschöner Sternenhimmel. Viel konnten sie nicht erkennen, und genau das war Belders Sorge. Er hatte die Befürchtung, daß Zombies nachts um so besser sehen konnten. Aber dann erinnerte a Fries ihn daran, daß Zwerge eine hervorragende Nachtsicht besaßen. Er sagte, er würde sie gut führen können. Sie schlichen über den kleinen Platz vor dem Haus auf die andere Straßenseite und bewegten sich dann im Schatten einer Hecke südwärts. A Fries kannte sich bestens aus; Belder hingegen hatte während all der Jahre, die er in der Fremde verbrachte, die Ortskenntnis über Sykand größtenteils eingebüßt. Es hatte sich auch viel verändert. Während des Jahres, das er zuletzt wieder hier verbracht hatte, war er kaum herumgekommen. A Fries führte sie sicher und zielstrebig durch die Gassen in Richtung Hafen. Sie verursachten kaum ein Geräusch, und
Belder machte es sogar Spaß. Sie sahen nirgends Zombies, und langsam kam ihnen das seltsam vor. „Vielleicht sammeln sie sich an einzelnen Orten?“ vermutete Belder. Dann wurde genau das bestätigt. Sie vernahmen Geräusche. Es war ein Gegrunze und Gegröle, das aus einer Häusergruppe östlich von ihnen herüberdrang, und Belder blieb stehen. „Ob das der Dämon ist?“ fragte er leise. „Wollen wir nachsehen?“ „Gegen den haben wir keine Chance!“ „Wir können ja in Deckung bleiben“, meinte a Fries. „Ich habe das Monstrum noch nie gesehen!“ „Und wenn er uns ... riechen kann?“ fragte Andrina befangen. A Fries sah Belder fragend an. „Glaube ich nicht“, meinte Belder und schüttelte den Kopf. „Wir sollten einen Blick riskieren!“ A Fries nickte und ging voran. Andrina sah nicht sehr glücklich aus, aber sie folgte ihm. Belder ging als letzter. Sie schlichen um ein paar Häuserecken und gelangten in den ältesten Teil von Sykand. Hier gab es keine Gärten zwischen den Häusern, und die Straßen waren durchgehend gepflastert. Die alten Mauern ragten steil in die Höhe, und oben vereinigten sich die uralten Walmdächer zu grauen, drohenden Überbauten. Es gab eine Menge schmaler Gassen, Treppchen und Stege, die in die unmöglichsten Winkel führten. Und dann schließlich, als sie eine der Ecken umrundeten, erkannten sie, nur als Schatten in der Dunkelheit, mehrere Zombies. Sie näherten sich und gingen leise hinter einem kleinen Mäuerchen, etwas oberhalb der Zombies, in Deckung. Es war ein grausiger Anblick. In einer breiten Hausfront klaffte ein Loch, groß genug, daß ein Ochse hätte hindurchmarschieren können. Und von drinnen sahen sie Licht
- es hatte eine beängstigend goldene Färbung. Auf dem Straßenpflaster davor tappten vier oder fünf Zombies herum, zwei stritten sich um zwei reglose, menschliche Körper. Ein Dritter nagte an etwas, und Belder verdrängte den Gedanken daran, was das war. Sie blieben hinter dem Mäuerchen und beobachteten die Szene. Dann fiel Belder auf, daß Andrina wie erstarrt war. Sie sagte nichts, starrte nur hinab. Und dann sah er, daß sie zitterte. Er legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Ist schon gut“, flüsterte er. „Wir hauen gleich wieder ab.“ Als sie aufsah, war ihr Gesicht tränenüberströmt. Belder erschrak regelrecht. „Das da unten, das ist ...“, sagte sie, dann vergrub sie weinend ihr Gesicht in seiner Jacke. Mit pochendem Herzen blickte Belder hinab, konnte aber erst nichts erkennen. Aus dem Loch in der Hauswand drang ein wenig Licht und ... Dann sah er es - und das Herz blieb ihm stehen. „Linchen ...!“ keuchte er. Unwillkürlich erhob er sich zu voller Größe. Dann war es nur noch eine Sekunde, bis er die Beherrschung verlor. Mit einem Aufschrei zog er sein Schwert, stürzte über die Stufen hinab und warf sich mitten in die Zombies. „Ihr Bestien!“ brüllte er und hackte mit seinem Schwert wie ein Wahnsinniger um sich. Gleich darauf waren Andrina und a Fries bei ihm und halfen ihm. Erst später wurde ihm klar, daß sie ihm nicht freiwillig in den Kampf gefolgt waren, sondern daß er sie dazu gezwungen hatte. Der Kampf war überraschend schnell zu Ende. Belder hatte schon in den ersten Sekunden zwei Zombies enthauptet und einen dritten mit so unbändiger Gewalt gegen eine Mauer geschleudert, daß ihm sein vermoderter Schädel regelrecht
zerplatzt war. A Fries und Andrina machten die beiden anderen nieder. Dann kniete er sich, mit Tränen in den Augen, nieder. Andrina kam gleich zu ihm; a Fries war wachsam geblieben, behielt das Loch in der Mauer scharf im Auge. „Verdammt wir müssen hier weg!“ zischte er. Belder hörte ihn gar nicht. Da lag sie, den leblosen Blick in den dunklen Himmel gerichtet, ihr weißes Kleid und ihr Haarreif von Blut besudelt. Eine Hand war abgerissen, den Göttern sei Dank war sie nicht übler zugerichtet, aber so wie es war, war es schon grausam genug. Belder hob sie hoch, drückte sie an sich, und Tränen flossen seine Wangen herab. Es war wohl das erste Mal seit seiner Kindheit, daß er wieder richtig weinte. Andrina ging es nicht besser, schwer atmend kniete sie neben ihm, hielt den Blick gesenkt. Dann kam a Fries. „Verflucht, das Biest kommt! Weg hier!“ Belder war nicht in der Lage aufzustehen. Da hieb ihm a Fries seine derbe Zwergenhand mit Kraft ins Gesicht. „Wenn du nicht augenblicklich aufstehst, dann hau ich dir die Axt in deinen blöden Schädel!“ zischte er in äußerster Wut. Das ließ Belder dann doch erwachen. Andrina zerrte ebenfalls an ihm, aber Belder ließ Linchen nicht los. Er stemmte sich mit ihr in die Höhe und ließ sich, mehr taub als bewußt, von Andrina die kleine Treppe zu dem Mäuerchen hinaufziehen. Als sie oben waren, kam der Dämon. Er sah noch häßlicher und grausamer aus als zuvor, wiegte sich auf seinen ekligen Spinnenbeinen und starrte mit seiner widerlichen Insektenfratze zu ihnen herauf. A Fries stieß ein unmoduliertes Keuchen aus.
Belder stand nur da, das tote Linchen in seinen Armen, und sah hinab. Das Monstrum wirkte irgendwie vollgefressen, zu fett und zu träge, um zu ihnen zu kommen, und glotzte herauf. „Das wirst du mir büßen!“ zischte Belder leise und voller Haß, und als Andrina zu ihm aufblickte, sah sie heißen Zorn und heiße Tränen in seinem Gesicht. Im Licht, das der Dämon verstrahlte, war beides gut zu erkennen. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, stemmte sie sich gegen ihn und versuchte ihn von diesem Ort wegzudrücken, irgendwohin, in Sicherheit. Sie fürchtete, daß er abermals die Beherrschung verlieren und auf den Dämon losstürzen würde. Aber die Bestie kam ihnen zuvor. Sie stieß ein hohes, wimmerndes Zischen aus und verschwand. Aber wie sie verschwand, das ließ allen dreien die Nackenhaare aufstellen. Es war nur ein Huschen, ein unglaublich schnelles Bewegen der dürren Beine, so schnell und ekelhaft wie eine entsetzliche, monströse Kakerlake, dann war sie weg. Nicht der schnellste Mann der Welt hätte ihr auch nur ein paar Schritt davonrennen können - dieser Dämon war ein so abartiges und übermächtiges Wesen, daß niemand auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn haben würde. Mit bis zum Hals wummernden Herzen standen sie zu dritt in der Dunkelheit. Sie hätten jetzt auch genauso gut tot sein können. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich wieder bewegen konnten. Dann drehten sie sich wortlos um und gingen davon. Belder trug Linchen weiterhin, er wußte nicht wohin, er wollte sie nur von hier wegbringen. Das Laufen fiel ihm schwer. Warum nur, hämmerte immer wieder die Frage durch sein Hirn, warum sie? Sykand war voller rücksichtsloser Scheißkerle, voller korrupter und geldgieriger Säcke, aber ausgerechnet sie, die einzige menschliche Seele in dieser verfluchten Stadt, mußten diese
Bestien erwischen! A Fries sah immer wieder zu ihm her, befangen und nicht zu Worten fähig. Er hatte Linchen ebenfalls gekannt und wußte zweifellos auch, daß sie ein sehr anständiges, aufrichtiges Mädchen gewesen war. Nach einer Weile sagte er tonlos: „Wir müssen uns entscheiden, Belder. Entweder wir versuchen jetzt noch, an Bord der Dinia Tjerbus zu gehen, oder wir ... tun etwas für sie. Aber ich wüßte nicht, was.“ Belder blieb stehen und blickte voller Elend auf ihr schönes, totes Gesicht. Ja, a Fries hatte recht. Viel konnten sie für Linchen nicht mehr tun. Er überlegte eine Weile, dann kam er zu dem Schluß, daß es am besten war, sie vor Jachochs Haus abzulegen. Wenn er sie ihm ins Haus brachte, würde das nichts besser machen Jachoch würde ihm die Schuld geben, das war klar. Und Belder würde ihm das nicht einmal verübeln können. Wenn man sein totes Kind gebracht bekommt - und dazu noch von einem, den man haßt -, dann war klar, wohin der Zorn fiel. Und Belder verspürte sogar Mitleid mit diesem armen Schwein Jachoch. Auch wenn er den Kerl verabscheute, wünschte er ihm diese Tragödie nicht, selbst abgesehen davon, daß es im Moment auch eine Tragödie für ihn ganz persönlich war und auch für ganz Sykand. Die Stadt hatte eines ihrer wertvollsten Kinder verloren. Sie machten den Umweg zu Jachochs Haus, und Belder legte Linchen vorsichtig auf den gepflasterten Gartenweg, unmittelbar vor der Haustür. Es war schon das erste Morgengrauen am Himmel zu sehen, und Zombies hatten sie auf dem Weg hierher nicht mehr erblickt. Er blieb noch eine Weile knien, nahm auf seine Weise Abschied von ihr. Was für eine schreckliche Sache, daß man sie nie wieder lächeln sehen würde. Schweren Herzens stand er
auf - und dann gingen sie. Belder hatte nicht das Gefühl, heute noch irgend etwas Sinnvolles zuwege bringen zu können. Taub schlich er a Fries hinterher, während sich Andrina an ihn geschmiegt hatte. Sie teilte seine Trauer, und das war ein bißchen tröstlich. Andrina hatte Linchen nur ein einziges Mal erlebt und dabei von ihr das erste wirklich freundliche Wort seit langem vernommen, vielleicht seit Wochen oder gar Monaten. Für Andrina mußte Linchens Tod ebenso schlimm gewesen sein wie für ihn. Vielleicht noch schlimmer. Dann, er hatte gar nicht mitbekommen wie, hatten sie den Hafen erreicht. Weit draußen über dem Meer war ein erster grauer Streifen entstanden, der den kommenden Morgen ankündigte. Sie mußten sich beeilen. Der Ork trat grunzend auf der Stelle. Es war nicht die Kühle der Nacht - nein, die machte ihm nichts aus. Es war Anspannung, Neugierde, Kampfeslust und Ungeduld. Er mußte endlich wissen, was los war. Schon seit einer Stunde wartete er, aber es war seine eigene Schuld - es hatte ja geheißen: im Morgengrauen. Nun stand ein heller Streif über dem Meer; die kleine Felseninsel vor der Küste lag dunkel und geheimnisvoll vor dem hellen Hintergrund. Der Ork sah nach links, wo sein Begleiter Gruulf stumm dastand, offenbar konnte den nichts aus der Fassung bringen - schon gar nicht eine Stunde des Wartens. Aber er, Ongluk, wäre jetzt am liebsten losgerannt, irgendwohin, nur um seinen übermächtigen Bewegungsdrang zu befriedigen. Ja, vielleicht einmal in schnellem Trab um die Stadt herum. Die kleine, schlafende Küstenstadt zu seinen Füßen. Er und sein Begleiter standen im Schutz einer Ruine, irgendeines alten, längst verfallenen Hauses auf einer kleinen
Anhöhe östlich der Stadt. Um sie herum Wald und, ein paar Steinwürfe entfernt, das Menschen-Städtchen. Das bald ihm gehören würde. Ihm, Ongluk - ganz allein! Es sah so friedlich aus, im Hafen brannten kleine Feuer, so als ob dort unten nichts geschehen wäre. Aber er wußte es besser. Schließlich lag dort unten auch das Schiff - sein schwarzer Umriß lag wie eine finstere Drohung über der Stadt. Gruulf stieß ein Grunzen aus und deutete den Hang hinab. Ongluk schärfte den Blick - ja, da kam er, endlich. Er bemühte sich stillzuhalten, aber er spürte, wie ihn das wütend machte. So ging es ihm immer. Manchmal wünschte er sich, ein wenig ruhiger zu sein, aber wenn er das wäre, dann stünde er womöglich nicht dort, wo er heute stand. Nein, er war kein Mann des Wartens. Er wollte handeln, und nicht viele durften es wagen, ihn zurückhalten zu wollen. Dann war der Besucher da, ein Mensch. Ongluk hatte ihn bisher nur ein paar Mal gesehen - und ihm dennoch nie ins Angesicht geblickt. Der Mensch trug stets eine schwarze Kutte, kam immer nur im Schutz der Dunkelheit und hatte eine weite Kapuze über den Kopf gezogen. „Endlich da!“ grunzte der Orkführer. „Wie wir vereinbart hatten - im Morgengrauen!“ sagte der Mann mit melodiöser Stimme. Er wandte sich zum Meer und blickte in Richtung des hellen Streifens. „Ich dass weiss“, sagte Ongluk. Die Menschensprache beherrschte er nicht gut, aber es genügte für diese Zwecke. „Weit du ssein - wieviel?“ „Wie weit ich bin?“ Ein leises Lachen war zu hören. „Nun, ich tue im Moment nicht viel. Ich lasse ihn tun!“ Nun sah er hinunter in Richtung der Stadt. „Dass Däämon!“ stellte Ongluk fest. Der Mann nickte. „Ich wußte nicht, daß er Untote
hervorbringt. Aber es hat sich als recht hilfreich erwiesen.“ „Untotte. Ja, Schamane hatt gesaggt. Vielle Untotte.“ Der Mann mit der Kapuze nickte, man konnte es nur an der leichten Bewegung der Kapuze über seinem Kopf sehen. Seine Stimme klang außerordentlich gepflegt, sehr sonor und melodiös; jeder Vater hätte sein kleines Söhnchen oder Töchterchen einem Mann mit so einer Stimme bedenkenlos anvertraut. Sie stand in krassem Gegensatz zu dem Gegrunze seines Gegenübers. „Wann angreiffen?“ fragte der Ork. „Oh ...“ Der Mann hob ablehnend seine Hand. „Gib mir noch ein wenig Zeit, großer Orkführer. Ich muß zuvor noch einige Dinge vorbereiten, und der Dämon - nun, der hat ja gerade erst angefangen. Haha. Noch gibt es viele starke Männer in der Stadt. Aber in drei, vier Tagen - dann ist es soweit! Ich gebe dir dann ein Zeichen. Wie wir es vereinbart haben.“ „Vier Tagge?“ Der Mann schnaufte gutmütig. „Nun gut, in drei. Ich werde sehen, was ich tun kann. Du, äh ... hast nicht zufällig etwas für mich dabei?“ Wieder stieß der Ork ein unwilliges Grunzen aus. Dann wandte er sich um und winkte Gruulf herbei. Gruulf, ein Kerl wie eine Wand, hob seine übergroße Streitaxt wie ein Stöckchen in die Höhe, trat heran und begann in seinen Taschen zu wühlen. Er fand nichts, stieß Flüche in der Orksprache aus. Ongluk deutete auf eine andere Tasche an der Kleidung von Gruulf und rief: „Da! Da!“ Gruulf untersuchte auch diese Tasche, fand aber nichts. Ongluk wurde wütend. Er trat an seinen Begleiter hin und knurrte. „Gruulf blöd! Gruulf scheißblöd!“ Er hieb ihm die tastenden Hände davon, suchte ihn selbst ab und fand dann das Gesuchte in der ersten Tasche, bei der Gruulf die Suche bereits
aufgegeben hatte. Er hieb dem stoisch dastehenden Gruulf wütend noch eins vor die Brust, schnauzte ihn auf Ologhaijan, der Sprache der Orks, an und wandte sich endlich um. Dann stand er wieder vor dem Mensch und hielt vor ihm eine unregelmäßig geformte, dunkel-goldene Metallscheibe in die Höhe. Auf der Scheibe waren unendlich viele haarfeine Linien eingraviert, die zu einem staunenswerten und verwirrenden Muster in der Mitte zusammenliefen. Die Metallscheibe hing an einem Lederband. „Ah ...“, sagte der Mann erfreut, hob aber nicht die Hände, um nach dem Amulett zu greifen. „Habben will du?“ sagte der Ork, und ein animalisches Lächeln stand in seinem Gesicht. „Nun, mein Lieber“, sagte der Mann freundlich, „das ist Teil unserer Abmachung. Nicht wahr?“ „Du habben, wenn Ongluk habben Stadt!“ Der Mann verzog unter seiner Kapuze bedauernd das Gesicht, was der Ork aber nicht sehen konnte. „Oh nein - das wäre zu spät. Unsere Abmachung sagt: heute. Darauf muß ich leider bestehen.“ „Wass nein?“ „Du meinst, wenn du es mir nicht gibst?“ Er schüttelte den Kopf. „Nun, dann könnte auch ich mich nicht an unsere Abmachung halten. Das verstehst du doch, oder?“ Der Ork brummte unwillig. Dann senkte er das Amulett, so daß der Mann es nehmen konnte. „Du tott, wenn machen böse!“ Des Mannes Stimme klang belustigt. „Verlaß dich ganz auf mich, mein sprachbegabter Freund. In drei Nächten gehört die Stadt dir und deinen Leuten. Keine Sorge.“ „Du morrgen wiederkommen. Hier! Am Abend!“ befahl der Ork.
Der Mann nickte geduldig. „Ja, natürlich.“ Er winkte kurz, wandte sich um und marschierte dann über den kleinen Pfad wieder den Hang hinab. Ongluk und Gruulf starrten ihm noch eine Weile hinterher. Dann fuhr Ongluk herum, schnauzte Gruulf noch einmal an und trieb ihn vor sich her, ihm Tritte verpassend, in eine andere Richtung, hinab zur Küste. Dort wartete eine Nußschale von einem Boot auf sie, und als sich Ongluk dem Wassergefährt näherte, begannen seine Eingeweide schon wieder zu rumoren. Er haßte Wasser, und ganz besonders haßte er es, auf dem Wasser fahren zu müssen - dieses Gefühl teilte er mit den meisten seiner Artgenossen. Das war das einzige, was ihn dabei ein wenig trösten konnte. Er trieb Gruulf, der sich offenbar weigern wollte, mit Tritten in das Boot hinein, stieg dann, heftig balancierend, selber nach und stieß es mit einem Ruder vom Ufer ab. Fluchend und sich einander beschimpfend verschwanden die beiden Orks mit ihrem heftig schaukelnden Boot im Morgennebel, der sich über dem stillen Meer zu erheben begann. Irgendwie hatte Belder die ganze Zeit befürchtet, daß die Dinia Tjerbus tagsüber der Rückzugsort des Dämons sein könnte. Als sie das Schiff erreichten, war schon ein klarer, heller Streifen aufkommenden Lichts über dem Meer zu sehen, der Tag brach gerade an. Er wußte nicht, wie er zu der Gewißheit gelangt war, daß der Dämon sich, ebenso wie die Zombies, tagsüber verkriechen würde, weil er kein Wesen war, das sich am Licht der Praiosscheibe erfreuen konnte. Aber zweifellos traf das zu; Belder spürte irgendwie, daß er recht haben mußte. Schließlich war die Bestie gestern ebenfalls den ganzen Tag nicht aufgetaucht, jedenfalls nicht, soweit Belder es mitbekommen hatte. Hier im Hafen hatten die Leute am Vorabend wieder die
Feuer in den Kohleschalen entzündet; eine Maßnahme, die eigentlich die Regel war - und besonders jetzt war sie sehr lobenswert. So konnten sie sich jetzt mit Fackeln bewaffnen, von denen sie eine an den Resten der Glut entzündeten. Dann machten sie sich auf dem Weg ins Schiff. Aber Belder wurde immer mulmiger zumute. Es gab jetzt nur noch die Möglichkeit, daß der Dämon bereits hier war, aber Belder glaubte, daß er das schon sofort hätte spüren müssen. Von Anfang an, als er die Dinia Tjerbus wieder betrat. Aber da war nichts. Also war der Dämon nicht hier, und er würde auch nicht mehr kommen - sich jetzt erst, so spät, in sein Versteck zu verkriechen, das tat selbst der dümmste Dämon nicht. Hoffte Belder. Ganz sicher war er seiner Sache jedoch nicht. Sie schlichen vorsichtig an Bord des Schiffes. Wenn sie keine Schwierigkeiten bekamen, würden sie in einer halben Stunde von hier wieder verschwunden sein. Die Dinia Tjerbus war nicht groß - und wenn sie sich auf den Rückweg machten, würden sich die meisten Sykander in ihren Betten noch einmal umdrehen. So gesehen bestand keine Gefahr, daß sie einem wütenden Mob in die Arme liefen. Hoffte Belder. Und was er ebenfalls hoffte war, daß sie etwas fanden. Er hatte sich von Andrinas Meinung anstecken lassen, daß hier ein magisches Utensil liegen müsse - eines, mit dem der Dämon herbeigeholt worden war, aber langsam fragte er sich, ob das wirklich so sicher zutreffen mußte. Als sie den ersten Niedergang in die Dinia Tjerbus hinabstiegen, war er voller Zweifel. Das Bild von Linchen, als sie tot in seinen Armen lag, hatte sich unauslöschlich in sein Hirn gebrannt. Was war das für eine Welt, in der die Allerbesten die allerersten waren, die sterben mußten, und all
die zahllosen Dummköpfe, Rücksichtslosen und Gemeinen dafür weiterleben durften? Dumpf pochten die Gedanken in seinem Kopf. Der Tag hatte denkbar schrecklich begonnen, und es würde ihn nicht wundern, wenn er so weiterging. Er wäre am liebsten auf der Stelle umgekehrt. Er hatte auch Angst um Andrina. Belder ging voran. Er durchsuchte aufmerksam das Deck, auf dem er vorgestern abend die vielen Toten entdeckt hatte. Aber von dort her war nichts mehr zu befürchten. Dann wandte er sich dem Vorschiff zu, durchquerte mit gezogenem Schwert den kurzen Gang und wandte sich nach links - in der bangen Befürchtung, daß er gleich wieder jenes goldene Licht sehen würde. Aber da war nichts. Sofort wandte sich seine Sorge wieder nach hinten - ob der Dämon vielleicht nicht doch noch im letzten Moment vor Tagesanbruch kommen würde. Es war ein verdammtes Risiko, ausgerechnet in dieser Stunde an Bord zu gehen. Dann hatten sie den Laderaum erreicht, und er war leer. Belder winkte seine beiden Gefährten zu sich und drückte sich mit ihnen an einer Stelle an die Wand, an welcher der Dämon am ihnen vorbeihuschen mußte, wenn er wirklich jetzt noch kam. Für Minuten standen sie da. Belder erlaubte nicht, daß sich a Fries oder Andrina von dort wegrührten, während er ihnen leise flüsternd seine Befürchtungen erklärte. Aber alles blieb ruhig. Als immer mehr Licht durch Ritzen hereinfiel und sich die Dunkelheit im Schiffsinneren in ein trübes Zwielicht zu verwandeln begann, wurde Belder langsam ruhiger. Draußen war es nun einfach zu hell, als daß das Monstrum noch hätte kommen können. Falls seine Annahmen über Dämonen zutrafen. „Nun los“, sagte er ungeduldig. „Sehen wir uns um. Und verschwinden dann wieder, so schnell es geht!“
A Fries nickte, hängte sich seine Kampfaxt über den Rücken und hielt die Fackel, die er auf der Mole mitgenommen hatte, an Belders Fackel, um sie zu entzünden. „Wonach suchen wir nun genau?“ „Nach einem magischen Gegenstand“, sagte Andrina. „Einem Artefakt vielleicht oder irgend etwas, das magisch aussieht. Der Dämon muß herbeigerufen worden sein!“ „Woher weißt du so genau darüber Bescheid?“ wollte Belder wissen. „Du bist doch keine Zauberkundige, oder?“ „Das weiß doch jedes Kind!“ sagte Andrina mit Bestimmtheit. „Los jetzt! Ich will hier auch wieder weg!“ Auch sie hatte nun ihre Fackel entzündet, und sie verteilten sich im Laderaum. Belder suchte nur mit einem Auge, das andere hielt er voller Unruhe auf den Niedergang gerichtet. Sollte er ein goldenes Licht sehen, würde er sofort zu brüllen anfangen und versuchen, mit Andrina und a Fries den gegenüberliegenden Niedergang zu erreichen. Überall lagen noch Tote, Belder zählte sie - es waren fünf. Leute, denen offenbar das Schicksal erspart geblieben war, sich in Zombies zu verwandeln. Er dachte kurz an Linchen - auch sie hatte dieses Glück gehabt. Das Entsetzlichste wäre gewesen, hätte er ihr auch noch den Kopf abschlagen müssen. „Wo ist das Gold?“ fragte a Fries. „Welches Gold?“ „Na, das Gold! Das müßte doch hier sein, oder? Du hast doch gesagt, der Dämon hätte darauf gehockt!“ Belder trat verblüfft zu a Fries. Auch Andrina kam. Zu dritt hoben sie die Fackeln, aber außer der umgekippten Truhe fanden sie nichts. „Die Leute müssen hier gewesen sein“, sagte Belder. „Heute am Tag.“ A Fries schüttelte ungläubig den Kopf. „Unglaublich. Hätte
nicht gedacht, daß sie wirklich so geldgierig sind. Ich hätte mich im Leben nicht wieder hierher getraut.“ „Nun bist du da!“ stellte Belder fest. A Fries blickte auf. „Ja. Bin offenbar irre geworden. Muß an dir liegen.“ Sein schiefes Lächeln war grimmig und kämpferisch, und Belder fühlte sich an die Armee erinnert. Das war die Sorte Scherze, die man dort machte, bissig, angriffslustig und doch voller Kameradschaft. Der unbeugsame Zwerg gefiel ihm immer mehr. Immerhin, dachte er, als er dann zu Andrina sah. Jetzt hatte er schon zwei Leute, die ihm wahrscheinlich nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder in den Rücken fallen würden. So etwas hatte er lange nicht mehr gehabt. Dann schüttelte Andrina den Kopf. „Ich glaube nicht, daß jemand hier war“, sagte sie. „So? Wie kommst du darauf?“ Sie deutete auf die Truhe. „Sie hätten doch sicher das ganze Gold in die Truhe getan und dann die Truhe mitgenommen, oder?“ Belder starrte die Truhe an. Der Deckel war zwar zersplittert, aber der Rest der Truhe, mit zwei Ledergriffen links und rechts, wäre ganz sicher das beste Behältnis weit und breit gewesen, um das Gold abzutransportieren. „Das Mädchen hat recht“, brummte a Fries. „Sie hätten es sich bestimmt nicht in die Taschen gestopft.“ „Aber wo soll es dann sein?“ fragte Belder verwirrt. A Fries nickte. „Rätselhaft. In der Tat.“ Belder schnaufte. Andrina hatte wirklich recht, und es war dazu noch ein Beweis, daß sie klug war. Ihm wäre das nicht aufgefallen. Trotzdem - er glaubte nach wie vor, daß , die Leute es sich geholt hatten. Heute tagsüber wahrscheinlich - es paßte einfach zu ihnen. Warum sie allerdings die Truhe
verschmäht hatten, konnte er nicht sagen. Andrina wandte sich ab und begann weiterzusuchen. Belder blickte wieder hinauf zum Niedergang, aber da war nichts. Er wußte nicht, warum ihn das noch immer nicht beruhigte. Ehe sie nicht wieder von Bord und in a Fries' Haus waren, würde er seine Unruhe wohl kaum ablegen können. „Wie wäre es hiermit?“ fragte a Fries und hob einen kleinen Spiegel mit silberverziertem Rand in die Höhe. Andrina trat zu ihm, betrachtete kurz den Spiegel und schüttelte dann den Kopf. „Nein. Das hat nichts mit Magie zu tun“, behauptete sie. Belder sah sich das Ding ebenfalls an, aber es wirkte ziemlich normal und harmlos. Trotzdem fühlte er sich nicht gerade berufen zu verkünden, daß es tatsächlich ohne irgendein Geheimnis war. Andrina hingegen schien es zu wissen. Er zuckte die Schultern. Sie suchten weiter. Der Laderaum war etwas größer und höher als das Schlafzimmer, in dem er und Andrina untergekommen waren. Etwa zwölf Schritt in der Breite und Länge und an die sieben in der Höhe. Rundherum befand sich, etwa in Mannshöhe, ein schmaler Umgang, teils mit Geländer. Dort oben standen allerlei kleine Kisten, Fässer und andere Sachen; Schiffstaue, Haken und Segelzeug hingen an den Wänden. Es mochte sein, daß dort etwas versteckt war. Er setzte sich in Bewegung, um den Niedergang zu erreichen. Dann fand Andrina etwas. „Hier!“ rief sie, bei einem der Toten kniend. Belder wandte sich um und ging zu ihr. Sie hatte ihre Fackel auf den Boden gelegt und zerrte an etwas, das unter dem Toten lag. A Fries half ihr, indem er den Mann, der auf dem Bauch lag, zur Seite wälzte. Als er herumrollte, kippte Andrina mit einem Aufstöhnen nach hinten weg, und a Fries sprang erschrocken auf. Auch Belder trat entsetzt einen Schritt zurück.
Wer der Tote war, konnte man nicht sagen, denn seine ganze Vorderseite war verbrannt. So als hätte er für Augenblicke bäuchlings in einer unglaublich heißen Glut gelegen. Seine Kleidung war verkohlt, sein Fleisch und seine Knochen auch. Vom Gesicht war nur noch ein geschwärztes Knochengewirr zu sehen - allein seine Zähne hatten es überstanden und grinsten die drei Gefährten auf schauerliche Weise an. „Uff, machte a Fries. Es war nicht unbedingt der schreckliche Anblick, der Belder erschauern ließ, denn er hatte schon genügend übel zugerichtete Leichen gesehen. Es war die Art der Verletzung eine absolut rätselhafte Sache, so etwas hatte er noch nie gesehen. Von hinten war nichts besonderes zu erkennen; es war nur die Vorderseite des Mannes, die völlig verkohlt war. Mit Schaudern entdeckte Belder, daß sogar die Füße des Mannes weggesengt waren, nur die Fersen waren noch da, keine Spur mehr von den Zehen und dem Vorderfuß. Unter dem Mann war ein tiefbraunes, rechteckiges Etwas zum Vorschein gekommen. Als Belder seinen Schreck überwunden hatte, kniete er sich hin und zog es mit spitzen Fingern herbei. Es schien sich um eine Anzahl von Holztafeln zu handeln, die mit Lederschnüren verbunden waren. Andrina, die noch immer auf dem Boden saß, rappelte sich auf und kroch auf den Knien zu Belder. Den Blick hielt sie von dem Toten weggewandt. Belder klappte die Holztafeln unschlüssig hin und her. „Es ist ein Buch“, sagte Andrina leise und streckte die Hände nach dem Ding aus. Sie klappte es an der richtigen Stelle zu und tatsächlich - es wurde nun zu einem Buch, mit Holztafeln anstelle von Seiten. Es waren nur vier Stück, an der Rückseite mit Lederschnüren zusammengebunden, die durch eine Anzahl von kleinen Löchern in den Tafeln liefen. Belder nickte. Ja, ein Buch.
„Das muß es sein“, sagte Andrina. Sie zog das Ding herbei und schlug es wieder auf. Die Tafeln bestanden aus uraltem Holz, nicht gerade ein handwerkliches Meisterstück, aber sie waren, deutlich erkennbar, mit seltsamen Schriftzeichen bedeckt. „Kannst du das lesen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich wette, mit Hilfe dieses Dings wurde der Dämon herbeigeholt.“ Sie deutete auf den Mann. „Er muß dabei etwas falsch gemacht haben.“
13
Das Buch
Es war schon hell geworden, als sie wieder an a Fries' Haus anlangten. Belder atmete auf. Alles war ziemlich glimpflich ausgegangen, sah man einmal von der schrecklichen Tragöde mit Linchen ab. Aber Belder empfand im Moment sogar noch mehr Erleichterung darüber, daß Andrina nichts passiert war. Er gelangte zu der Feststellung, daß sie ihm inzwischen sehr wichtig geworden war. Seine beiden kleinen Schwestern kamen ihm dabei in den Sinn, die vor vielen Jahren bei Verwandten in Vallusa untergekommen waren. Er hatte sie nie wiedergesehen. Ja, mit Sira hatte er sich ganz gut verstanden, und irgendwie erinnerte ihn Andrina an sie. Wie es den beiden Mädchen wohl ging? Sie hatten unbehelligt die Stadt durchquert und dabei noch einen Umweg gemacht, an Belders Haus vorbei. Belder hatte es so gewollt. Genaugenommen war das die zweite Tragödie des Tages. Es war tatsächlich bis auf die Grundmauern niedergebrannt und zuletzt in sich zusammengestürzt. An einigen Stellen brannte es noch immer, und eine hohe, inzwischen schon dünne Rauchfahne stand im Morgenhimmel über der Stelle, wo die de Kraags seit Generationen gelebt hatten. Sie hatten nie zu den Reichen von Sykand gezählt, es hatte aber eine Zeit gegeben, da sie in gutem Wohlstand gelebt hatten - damals, als Belder zur Welt gekommen war. Mit dem Tod seiner Mutter hatte der Untergang begonnen. Belder hielt sich dennoch nicht lange dort auf. Seit Entschluß, Sykand so bald es ging zu verlassen, stand nach wie vor fest, und daß sein Haus nun in Schutt und Asche lag, bekräftigte ihn nur darin.
Andrina trug das Buch - sie hatte es in ein Stück Segeltuch eingeschlagen -, und so ganz unbefangen wirkte sie dabei nicht. Ständig streiften ihre Seitenblicke das Bündel, das sie unter dem Arm hielt, und Belder hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt, um ihr zu signalisieren, daß er sofort zur Stelle war, wenn irgend etwas passieren sollte. Sie hatten durchaus Grund zu diesem Verdacht, denn es lag nur allzu nah, daß dieses Buch eine furchtbare Gefahr barg. Dieser Mann mußte, aus welchem Grund auch immer, das Buch benutzt und dabei den Dämon herbeigerufen haben. Es war Belder neu, daß man allein mit Hilfe eines Artefaktes wie diesem Buch und ganz ohne magische Fähigkeiten so etwas Kompliziertes wie einen Dämon beschwören konnte. Aber es gab immer wieder Überraschungen. Selbst in einem Land, in dem man geglaubt hatte, alles und jedes erforscht zu haben. Was das Buch in Wahrheit barg, darüber konnten sie nur spekulieren. Nicht auszudenken, daß jemand auf der Dinia Tjerbus dieses Monstrum absichtlich herbeigerufen hatte. Als sie a Fries' Haus erreicht hatten, einigten sie sich darauf, sich für ein paar Stunden zur Ruhe zu begeben. Es war noch früh am Tag, und keiner von ihnen hatte in den letzten beiden Nächten ausreichend Schlaf gefunden. Am Mittag wollten sie sich zusammensetzen und beraten, was man mit dem Buch tun sollte. Belder und Andrina zogen sich in ihr Zimmer zurück, und als sie sich auf dem Bett, seine Nähe suchend, in seine Armbeuge verkroch, brummte er zufrieden. Genaugenommen hatte er das in seinem ganzen Leben nie gehabt - eine solche Nähe zu einem anderen Menschen, sah man einmal von seiner Anna ab. Aber Andrina war etwas anderes als sie. Nun wußte er, daß sie wirklich Freunde geworden waren, und er spürte die große und wichtige Aufgabe in seinem Herzen, sie zu beschützen. Er spielte inzwischen mit dem Gedanken, sie zu fragen, ob sie mit ihm kommen wollte, wenn er Sykand
verließ. Im Moment aber beschäftigte ihn eine andere Frage. „Du scheinst dich mit Zauberei auszukennen“, sagte er. Er lag breit und ausgestreckt auf dem Rücken, Andrina hatte sich an Seite geschmiegt, brav wie ein kleines Mädchen, und ihre Hand lag zaghaft auf seiner Brust, ganz am Rand. Er genoß das Gefühl und sagte sich, daß er auch mal eine Liste der Sachen aufstellen sollte, bei denen er zu kurz gekommen war. Irgendwie schien es gar nicht zu ihm passen zu wollen, dem klotzigen und wortkargen Krieger, daß er sich so wohlig der menschlichen Nähe hingab, aber es tat ihm einfach gut. „Ich kenne mich nicht wirklich damit aus“, sagte sie. „Hab mich nur mal eine Weile damit beschäftigt.“ „Mit der Zauberei? Ganz allein?“ Sie sah forschend zu ihm auf. Sie hatten die schweren Vorhänge zugezogen, und das Zimmer lag in angenehm gedämpften Licht. „Mein ganzes Leben hat man mich für eine Hexe gehalten“, sagte sie dann leise und schmiegte sich wieder enger an ihn. „Besonders dort, wo ich herkomme. Da hab ich es mir eines Tages zu eigen gemacht.“ „Kann man das denn? Einfach die Zauberei erlernen? Ich dachte, man muß dazu auf eine Akademie gehen.“ Sie nickte. „Muß man auch. Ich dachte, ich könnte es alleine lernen. Ging aber nicht. Ist auch zu gefährlich.“ „Wie hast du es angestellt? Bücher gelesen?“ „Ja. Ich kannte einen Zwerg, einen Krüppel. Er war auch verstoßen worden, hauste in einer Schlucht. Er hatte ein paar Bücher, die ich lesen durfte. Er hat mir überhaupt erst das Lesen beigebracht.“ Er sah über seine Brust zu ihr. Sie trug noch immer den Pferdeschwanz - er mochte das tatsächlich. Vielleicht tat sie es
ihm zuliebe. „Auch verstoßen? Wie meinst du das?“ Wieder blickte sie zu ihm auf. „Meine Familie. Sie haben mich fortgejagt.“ Nun hob er den Kopf, fortgejagt?“ fragte er ungläubig. Andrina seufzte bitter. „Mein Vater war reich. Oder er ist es noch. Ich hab ihn seit vielen Jahren nicht gesehen. Wir waren sieben Kinder - und ich die einzige Rothaarige. Alle anderen sind dunkel oder schwarz. Ich stach richtig heraus. Immer fragten sich die Leute, woher es kam, daß in so einer Familie eine Rothaarige war.“ „Und dann haben sie dich davongejagt? Wirklich?“ „Als ich zehn war. Meine Mutter hielt meine ganze Kindheit lang zu mir. Aber selbst meine Geschwister wollten mich nicht. Und auch die Nachbarskinder nicht. Immer wenn irgendwas passierte, war ich, ganz von selber, die Schuldige. Und dann ... nun ja, ich war auch nicht brav. Ich begann mich zu wehren. Meine Geschwister kriegten alles was sie wollten, und ich ... nichts.“ „Und dann?“ „Dann wurde in unserem Dorf etwas gestohlen. Aus dem Bürgerhaus, ein kleines, goldenes Figürchen. Man fand es bei mir.“ „Und? Warst du es?“ Im gleichen Augenblick tat Belder die Frage schon leid. Er hatte ihr damit gesagt, daß er sie für eine mögliche Diebin hielt. Aber Andrina nickte nur. „Ja. Ich wollte auch mal etwas Schönes haben. Da jagten sie mich fort. Meine Mutter weinte, aber sie tat nichts dagegen. Ich glaube, sie war zuletzt froh, als ich weg war.“ Belder schnaufte leise. „Und dann bist du zu dem Zwerg gegangen?“ „Er war die einzige Person, die mich nicht verabscheute. Ich
weiß nicht, ob er mich wirklich mochte, aber er half mir. Ich kümmerte mich um ihn, denn er war schon alt und konnte viele Dinge nicht mehr tun. Ich lernte viel bei ihm. Eigentlich von selber. Fallen stellen, Fische fangen, sogar den Schwertkampf. Er sagte mir, wie ich's tun sollte, und ich probierte es.“ „Du kämpfst ziemlich gut.“ „Ich weiß. Ich konnte und mußte es immer wieder üben. In der Gegend, wo er wohnte, gab es eine Menge bösartiger Tiere, und manchmal kamen auch Goblins. Er brachte mir viel bei, obwohl er mir kaum selbst etwas zeigen konnte. Wir redeten.“ „Und die Zauberei?“ Wieder seufzte Andrina, lang und anhaltend. „Sie hatten immer Dämonenkind zu mir gesagt. Rothaarige Hexe, Unglücksteufel und alles mögliche. Ich haßte alles und jeden. Manchmal sogar den Zwerg. Er hieß Belzer.“ Er lachte leise auf. „Fast wie ich.“ Sie sah wieder zu ihm auf, und ihre Hand fuhr ein kleines Stück, aber voller Zuneigung über seine Brust. „Nein, ich haßte ihn natürlich nicht. War nur manchmal ein bißchen wütend auf ihn. Er verlangte viel von mir.“ Dann starrte sie wieder ins Leere. „Aber heute bin ich froh. Er hat mir so vieles beigebracht - ohne ihn hätte ich es wohl nicht geschafft.“ Belder hätte sie gern gefragt, ob sie bei ihm auch gelernt hatte, so sanft und warm zu sein, wie sie es im Moment war, denn ihrer Geschichte nach hatte es niemanden in ihrem Leben gegeben, der ihr dies hätte beibringen können. Aber er wußte nicht, wie er diese Frage formulieren sollte. „Was wurde aus ihm?“ „Er starb. Ungefähr, als ich siebzehn war.“ Er brummte leise. „Muß schlimm für dich gewesen sein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, es hatte sich lange angekündigt. Wie gesagt, er war alt, und er war ein Krüppel.
Und so gesehen war es auch ein guter Zeitpunkt für mich. Ich mußte endlich weg, mein eigenes Leben beginnen. Sonst wäre ich heute noch bei ihm.“ Belder nickte. „Ich bin dann durch die Gegend gezogen. Hab manchmal eine Weile im Wald gelebt, hab gejagt und gefischt - es war fast die schönste Zeit. Ganz allein und ohne jemanden, der einen ständig verspottet und beschimpft. Aber dann war ich manchmal so einsam und verwahrlost, daß ich wieder Menschen sehen wollte. Vielleicht hoffte ich, wieder jemanden wie Belzer zu finden. Einen Sommer lang lief ich fast nackt durch die Wälder. Ich kam gut zurecht und bin keinem einzigen Menschen begegnet. Aber dann sah ich eines Tages mein Spiegelbild in einem Teich. Ich sah aus wie ein wildes Tier.“ Er lächelte sie unsicher an, die Vorstellung war bedrückend und belustigend zugleich. Aber für ein Mädchen, das in einer reichen Familie aufgewachsen war, sicher auch ein Schock. „Da ging ich wieder in ein Dorf', fuhr sie fort. „Es war eines, wo viele Zwerge lebten, und sie waren einigermaßen freundlich zu mir.“ „Ganz nackt?“ Sie grinste und hieb ihm leicht die Faust auf die breite Brust. „Nein, natürlich nicht. Ich stahl mir ein paar Klamotten und nahm vorher ein Bad.“ Er grinste zurück. „Du hast sicher hübsch ausgesehen.“ Sie sah ihn an. Er spürte, daß sie das gerne hörte, aber für den Moment fiel ihm kein weiteres Kompliment ein. „Und wie bist du dann auf die Dinia Tjerbus geraten?“ Sie hob die Hand. „Ach, das war erst Jahre später. Ich zog durch die Gegend, schlug mich irgendwie durch, einmal arbeitete ich sogar ein halbes Jahr lang bei einem Obstbauern.
Aber dann blieb ich wieder einmal in einem Dorf hängen, wo es richtig schlimm war.“ Sie machte eine Pause. „Sie bezichtigten mich der Hexerei, als innerhalb von ein paar Wochen zwei Kinder ertranken - irgendwo an verschiedenen Stellen. Eine blöde Kette von Zufällen. Ich kannte nicht mal eines der Kinder.“ „Und dann wollten sie dich aufhängen?“ fragte er bedrückt. „Sie sperrten mich ein. Aber ich konnte fliehen. Sie merkten es und verfolgten mich bis ans Meer. Da hatte ich nur noch eine Möglichkeit.“ „Da war die Dinia Tjerbus?' Ja. Bestimmt eine Meile vor der Küste. Sie ankerte dort. Ich sprang ins Wasser und schwamm. Ein paar von ihnen schwammen mir hinterher, aber schwimmen, das konnte ich schon immer gut.“ „Und dann hat dich der Steuermann aus dem Wasser gezogen?“ „Er hatte Mitleid. Meine Haare waren naß, und es war Abend. Er konnte wohl nicht sehen, daß sie rot waren. Da zog er mich aus dem Wasser und steckte mich in den Stauraum. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen.“ „Wie lange warst du da eingesperrt?“ „Ich glaube, fast drei Tage. Ohne Wasser und Essen.“ Er nickte. „Hab ich gemerkt. Du hast mir fast meinen ganzen Erbseneintopf weggefuttert. Und meinen Brunnen leergesoffen.“ Sie schmiegte sich wohlig an ihn und schloß die Augen. „Das war die beste Mahlzeit meines Lebens.“ Ja, dachte er, meine auch. Ein schrecklicher Gedanke, daß er sie an diesem Moment fast draußen hätte stehen lassen. Vermutlich wäre sie inzwischen nicht mehr am Leben. Er legte seine Hand über die ihre und schloß ebenfalls die
Augen. Er mochte Andrina wirklich sehr, stellte er fest - und er liebte geradezu ihre warmen Hände. Kaum vorstellbar, daß sie es geschafft hatte, trotz ihrer schlimmen persönlichen Geschichte soviel innere Wärme zu behalten. Schließlich schlief er ein. Gegen Mittag wachte er auf, und natürlich war sie schon wach. Und sie hatte eine gehörige Überraschung für ihn bereit. Trine a Fries hatte sie mit neuen Kleidern versorgt. Andrina hatte noch ein bißchen mit Nadel und Faden nachgeholfen, und nun steckte sie in wirklich gut passenden und hübschen Kleidern. Sie trug eine glänzende neue Hose aus braunem Leder, die manchmal sogar noch ein bißchen quietschte, wenn sie sich setzte. Für ihr Leinenhemd hatte Boldar, der Sohn der a Fries', eines seiner Nachthemden herausrücken müssen. Es war schmal und auch lang genug, um ihr als Hemd zu dienen, und als Überweste hatte die freundliche Renika etwas geopfert: eine sehr hübsche gestickte, ärmellose Weste, dunkelgrün, und von ziemlich erlesener Machart. Seltsam, daß Andrina von den Angehörigen anderer Rassen mehr gemocht wurde als von denen ihrer eigenen. Sie saßen bei einem Festschmaus von einem Mittagessen an einem riesigen, zusammengestellten Tisch, an dem alle achtzehn Leute Platz gefunden hätten - nur Jandhar und einer der Zwerge waren auf Wachtposten. Andrina saß strahlend mitten unter ihnen, und wenn sie strahlte, so fand Belder, war sie eigentlich ein bildhübsches Mädchen. An Linchen kam sie sicher nicht heran, aber das hieß nicht viel. Linchen war etwas ganz Besonderes gewesen. Wieder seufzte Belder schwer, als er an sie dachte. Dann aber blickte er zu Andrina hinüber, und er gönnte ihr, daß es ihr so gutging, daß sie so freundlich von allen
aufgenommen wurde. Was geschah nur mit ihm? Vor zwei Tagen war er nur ein mißmutiger, wortkarger und verbitterter Mann gewesen, aber mit Andrina war eine Wärme in seinem Leben aufgetaucht, die ihm schon langsam unheimlich wurde. Plötzlich kamen ihm Gedanken an eine Familie in den Sinn, an eine Zahl von Leuten, so wie hier, in deren Mitte er sich wohlfühlte. Die meisten von ihnen waren keine Menschen, aber das machte gar nichts. Im Gegenteil. Mit einem Kerl wie Jandhar wäre er früher, aus lauter Eifersucht auf seine noch größeren Muskeln, aneinandergeraten, aber davon war hier nichts entstanden. Auch Renika warf ihm manchmal so etwas wie ein wissendes Lächeln zu. Im übrigen gefiel es ihm außerordentlich gut, daß sie so freundlich zu Andrina war. Auch Renika war ein ziemlich hübsches Mädchen, und er fragte sich, ob sie mit Jandhar etwas hatte. Wahrscheinlich schon. Obwohl Thorwaler und Elfen ... er wußte nicht, wie die sich normalerweise vertrugen. Mimi, Jaki und Boldar waren ein einziger Spaß, den ganzen Tag schienen sie Unfug zu treiben, und sie waren wirklich witzig. Die Zwerge waren gutmütige, wenn auch heißblütige Leute, und selbst auf die Handvoll Menschen, die hier noch waren, schien das gute Miteinander abzufärben. Ja, dachte er, für solche Leute lohnte es sich zu kämpfen. Er würde hier nicht eher weggehen, bis er sie allesamt in Sicherheit wußte. Bisher hatte er sich in seiner Rolle als mürrischer, klotziger Kerl auf gewisse, grimmige Art und Weise immer selber ganz gut gefallen. Nun fragte er sich, ob er auf seine alten Tage doch noch zu einem freundlichen Menschen wurde. Auf meine alten Tage, sagte er sich spöttisch. Er war irgendwas um die Dreißig, genau wußte er das nicht. Dann hatten sie das Essen hinter sich, und a Fries holte die Leute, die er offenbar für die zuständige Kriegstruppe hielt, zu
einer Lagebesprechung in seiner Bibliothek zusammen. Dieser Raum war kaum weniger beeindruckend als der Rest in seinem Haus. Er besaß eine Sammlung von Büchern, die sogar diesen hochtrabenden Namen des Raumes rechtfertigten. Es waren bestimmt an die hundert. Belder hatte bei der Armee leidlich das Lesen erlernt, aber für diese Masse an Büchern hätte er zum Durchlesen wohl ein Leben benötigt. Es gab zwei bequeme, dick gepolsterte Sofas im Raum, einige Stühle, einen Kamin und eine Anrichte, auf der a Fries irgendwelche Getränke in Glasflaschen aufbewahrte. So etwas hatte Belder noch nie gesehen. Er bot ihnen sogar davon etwas an, und Belder war einverstanden. Er bekam eine klare Flüssigkeit, wohl eine Art Schnaps, in einem kleinen Glas mit einem Stiel unten dran, und er gab sich höchst verblüfft. Er hatte Angst, das Ding mit seinen Händen zu zerbrechen. Andrina grinste ihn breit an und zeigte ihm, wie man es hielt mit abgespreiztem kleinen Finger. Belder trank, und das Zeug schmeckte ganz gut. Vermutlich war es etwas Teures, aber ihm fehlte die Zunge, das beurteilen zu können. Trotzdem nickte er beifällig. A Fries war zufrieden. „Mir ist etwas eingefallen“, sagte er, auf das Buch deutend, das auf dem Tisch lag. Es war immer noch in Segeltuch eingeschlagen, und keiner zeigte sonderliche Lust, es zu berühren. „Es gibt hier ein altes Weib, das irgendwo da oben an den Hängen des Dicken Mannes haust.“ A Fries deutete mit dem Finger schräg aufwärts, und Belder folgte mit den Augen der Richtung, so als könne er sehen, was a Fries meinte. Dann fiel es ihm wieder ein. Der Dicke Mann war einer der Gipfel in der Bergkette, die sich am Kap Walstein, gleich hinter der Stadt, erhoben. „Du meinst... diese Sirah?“ fragte Belder. A Fries nickte.
Ja, von ihr hatte Belder schon gehört. Wer oder was sie aber war, davon wußte er nichts. „Was ist mit ihr?“ „Sie soll eine Zauberin sein. Hat vor Urzeiten mal in Sykand gelebt, ist dann aber von hier fortgegangen.“ Er grinste grimmig. „Du darfst raten, warum.“ Belder nickte wissend. „Ja. Vermutlich irgendwas Seltsames. Irgendwas, das den Sykandern nicht in der Kram paßte. Darf ich raten? Ist sie rothaarig?“ Der Spott war in Belders Stimme nicht zu überhören, aber keiner merkte auf, auch Andrina nicht. Sie wußte inzwischen, daß sie hier ohne Einschränkungen akzeptiert war, und für Belder galt das im besonderen. „Das nicht gerade“, erwiderte a Fries. „Aber halt die Zauberei. Soweit ich weiß, ist oder war sie eine ausgebildete Magierin, von irgendeiner Akademie im Süden. Wie auch immer, sie könnte wissen, was das für eine Sorte Buch ist.“ Jandhar nickte und stand auf. Seine Größe war beeindruckend. „Gut. Ich werde mit dem Buch zu ihr gehen und sie fragen.“ A Fries maß ihn mit Blicken. „Ist nicht so leicht“, sagte er. „Es versammeln sich Leute um das Haus. Habt ihr nicht gesehen?“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung der Fenster. Allgemeines Nicken war zu sehen. „Sie fangen an, nach Belder zu schreien und nach Andrina“, sagte Renika. „Und daß Onkel Geri mit ihnen unter einer Decke stecke.“ Sie stieß einen ärgerlichen Laut aus. „Ich sollte ihnen ein paar Pfeile runterschießen!“ Onkel Geri? fragte sich Belder verblüfft. „Dann können wir erst heute nacht aus dem Haus“, stellte Belder fest. A Fries hob die Schultern.
„Hast du noch eine andere Idee?“ Er nickte. „Ich hab an eins der Mädchen gedacht.“ Er deutete auf Renika und Andrina. „Von meinem Badehaus führt eine schmale Röhre nach hinten, den Hang hinauf zu dem kleinen Teich dort. Sie ist nicht lang. Dreißig Schritt vielleicht. Eins der Mädchen könnte durchpassen. Dann würden wir Zeit sparen. Und wir müßten das Haus nicht ohne Verteidigung zurücklassen. Für diese Sache genügt eine Person.“ Andrina stand auf. „Ich mache das!“ sagte sie spontan. Renilca sah auf zu ihr. „Ich würde auch ...“ „Bleib du mal hier“, sagte Andrina. „Du kannst gut mit einem Bogen umgehen; das ist wichtig, falls jemand tatsächlich das Haus angreift. Ich mache das. Ich kann mich im Wald gut bewegen. Wo wohnt diese Sirah?“ Belder studierte Andrinas Gesicht. Er respektierte, daß sie das auf sich nehmen wollte, aber er hatte Angst um sie. Was auf sie zutraf, das traf wohl auch auf Renika zu. Renika war sicher eine sehr gute Schützin, aber das war Andrina mit Sicherheit auch. Sie mußte das von ihrem Zwergenfreund erlernt haben, sie hatte ja schließlich gejagt. Und Renika konnte sich im Wald mindestens ebenso gut bewegen wie Andrina - sie war ja eine Halbelfin. Aber Belder sagte nichts. Er spürte, daß Andrina noch irgendein Geheimnis hatte - aber das wollte er ihr lassen. A Fries hatte ganz recht: Jeder sollte seine kleinen Geheimnisse pflegen und nicht alles preisgeben. Dann blieb das Leben ein bißchen interessanter. Er selbst besaß noch eine Menge davon. Sie besprachen die Sache noch eine Weile, dann aber drängte Andrina darauf loszugehen. Sie steckte sich das Buch ein, trug es in einer Tasche, die sie sich umhängte. A Fries hatte ein passendes Kurzschwert für sie. Er führte sie durch einen Gang an der Ostseite des Hauses entlang, zum Badehaus. Hier offenbarte sich schon wieder ein kleines Wunder.
Das Badehaus war ein Anbau am eigentlichen Haus, durch ein kurzes, gemauertes Verbindungsstück zu erreichen. Es war so etwas wie ein runder Pavillon, natürlich ein Steinhaus, in dem es zwei Wasserbecken, ein kleines und ein großes, sowie einen riesigen Heizofen und eine Schwitzkammer gab. Belder fühlte sich langsam wie der letzte Hinterwäldler. Obwohl er aus Sykand stammte, kannte er solche Dinge überhaupt nicht. Er wußte zwar, daß die Häuser mancher reichen Leute über solche Badehäuser verfügten, aber um was es sich dabei wirklich handelte, davon hatte er nie eine Ahnung gehabt. Der kleine Ziehbrunnen in seinem eigenen Haus war ohnehin schon ein Luxus, wie es ihn sonst selten gab. A Fries öffnete eine kleine Tür und führte sie in das 'Wasserwerk', wie er es nannte. Es handelte sich aber nur um einen kleinen Raum, in dem der Wasserstrom aus einem breiten Rohr in verschiedene Richtungen geleitet wurde - zum Heizofen und zu den beiden Becken und letztlich auch von dort zurück und durch ein Ableitungsrohr wieder davon. Er deutete auf die große tönerne Röhre. „Paßt du da durch?“ fragte er Andrina. Sie beugte sich nieder und blickte in die Röhre hinein, die in Kniehöhe aus der nördlichen Wand ragte und aus der ein stetiger kleiner Wasserstrom plätscherte. „Da werde ich ja naß!“ sagte sie. A Fries kaute auf der Lippe. „Ja. Fällt mir auch gerade auf.“ Andrina richtete sich wieder auf. „Wäre nicht so schön“, meinte sie. „Wenn ich oben heraussteige, bin ich durchweicht.“ Für Momente herrschte nachdenkliches Schweigen. „Ich weiß, wie wir es machen“, sagte Renika. „Ich brauche ein Öltuch und ein langes Seil. Und ein Handtuch!“ Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und setzte einen strengen Blick auf. „Und die Männer haben hier zu verschwinden, verstanden? Besonders du, Jandhar!“
„Aber...“, sagte der Thorwaler und hob die Hände. „Keine Widerrede!“ beharrte sie und schob ihren hünenhaften Freund in Richtung der niedrigen Tür. Kurze Zeit später standen sie draußen, Belder, a Fries und Jandhar, und die Tür klappte hinter ihnen zu. Sie sahen sich kopfschüttelnd an. „Weiber!“ stöhnte Jandhar. A Fries sah ihn mit gutmütig-strengem Gesichtsausdruck an. „Du hast überhaupt keinen Grund, dich zu beklagen, ja?“ Dann schob er den großen Mann an. „Los, du hast Reni gehört. Ein Öltuch, ein langes Seil und ein Handtuch! Ich besorge das Öltuch! Ein Seil ist oben, in der Kammer.“ Belder wußte nur, daß Renika irgendwas tricksen wollte, aber er wußte nicht, was. Er sah sich um und entdeckte, gleich am Eingang des Badehauses, einen Stapel Handtücher. Er ging hin und schnappte sich zwei davon. A Fries war rasch wieder zurück. Er hatte ein schwarzes, speckiges Tuch von Tischdeckengröße bei sich. Belder hielt die Handtücher hoch. „Gehen die?“ fragte er. „Trine wird mich erschlagen, wenn eins davon schmutzig werden sollte“, sagte a Fries stirnrunzelnd. „Na, es ist ja für die Mädchen“, sagte Belder und deutete auf die geschlossene Tür zum Wasserwerk. „Da wird sie doch wohl ein Auge zudrücken!“ A Fries nickte ernst. „Ja, schon möglich.“ Belder nahm a Fries das Tuch aus der Hand, ging dann zu der Tür und klopfte. Renika lugte heraus. „Hier, zwei Handtücher und ein Öltuch. Das Seil kommt gleich. Was habt ihr vor?“ „Wirst du dann schon sehen“, sagte Renika knapp, warf ihm ein Lächeln zu, das keinen Zweifel daran ließ, daß er jetzt unerwünscht war, und die Tür klappte wieder zu.
Bald darauf war Jandhar zurück und hatte eine mächtige Seilrolle über der Schulter. „Ob das geht?“ fragte er und deutete darauf. Belder und a Fries hoben gleichzeitig die Schultern. Jandhar schritt zu der Tür, klopfte, reichte das Seil hinein und versuchte Renika in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei bemühte er sich, an ihr vorbei zu spähen. Das Ergebnis war eine sanfte, liebevolle Ohrfeige, dann knallte die kleine Tür wieder zu. Grinsend und sich die Wange haltend, kam Jandhar wieder zu ihnen. „Das wäre was für dich gewesen, Belder“, sagte er. „Deine Süße hat keinen Fetzen mehr am Leib!“ Belder schnitt eine Grimasse. „Sie ist nicht meine Süße!“ sagte er. Jandhar und a Fries grinsten sich nur an.
14
Sirah
Die Röhre war nicht allzu breit, aber breit genug. Andrina schob sich Stück für Stück hinauf, und bald schon sah sie Licht. Leider war das Wasser ziemlich kalt, und sie fror schon. Es staute sich häufig vor ihrer Brust auf und schwappte ihr ins Gesicht. Sie kroch um so schneller vorwärts. Zum Gluck verlief die Röhre nicht allzu steil, und alle paar Handbreit gab es eine Fuge, in der sie Halt fand. Dann kam sie dem Ende immer näher, und schließlich konnte sie sich am Rand des letzten Röhrenstücks festhalten und hochziehen. Gleich darauf ließ sie sich in einen kleinen Teich gleiten, der sich ihren Blicken eröffnete, blieb aber ganz am Rand und sah sich um. Rund um den Teich standen kleine Bäume, das Ufer war schmal und grasbewachsen, und auf der anderen Seite plätscherte über einen Felsen Wasser herab. Der Teich war künstlich angelegt, das war gleich zu sehen, er lag geschützt und war von außen kaum einzusehen. Niemand war da. Andrina schwamm zur Röhre zurück, fand Grund unter den Füßen und knotete das Seil los, das sie sich um den Bauch gebunden hatte. „Hier oben ist alles klar“, flüsterte sie in die Röhre hinein. „Ich ziehe jetzt los!“ „Viel Glück!“ hörte sie von unten. „Paß auf dich auf. Wir warten auf dich!“ Andrina zog am Seil und spürte bald Widerstand. Eine Minute später kam ihr Bündel zum Vorschein, in das große Öltuch eingeschlagen. Nun wurde es Zeit, aus dem Wasser zu kommen, denn ihr wurde langsam verdammt kalt. Sie zog sich am Ufer hinauf und sah sich noch einmal um. Weiter unten, links des Hauses, sah sie eine Gruppe Männer stehen, die miteinander sprachen. Ihr wurde klar, daß sie Glück
gehabt hatte. Während des Heraufkriechens hatte sie nicht darauf geachtet, sonderlich leise zu sein, aber sie war es offenbar dennoch gewesen. Dann aber sah sie den Grund: Da unten war nur ein Grashang. Die Röhre mußte dort unterirdisch verlaufen und kam erst hier oben aus dem Erdreich hervor. Leise knotete sie das Bündel los, drückte es sich an die Brust und schlich geduckt am Ufer des Teiches in Richtung des Hanges, der sich oberhalb davon anschloß. Sie stieg über ein paar Felsen, und erst als sie ein ganzes Stück in den Wald gelaufen war, kauerte sie sich hinter einem großen Farn nieder und spähte aufmerksam in die Runde. Sie war allein. Inzwischen zitterte sie vor Kälte. Sie entrollte das Bündel, nahm das Handtuch und trocknete sich ab. Mit dem zweiten Handtuch trocknete sie ihre Haare so gut es ging, dann zog sie sich an. Langsam kehrte die Wärme in sie zurück. Sie hängte sich die Tasche mit dem Buch um, befestigte sich nach Kriegerart das Schwert auf dem Rücken und versteckte die Sachen, die sie hierlassen würde. Dann wandte sie sich um und marschierte los. Es war ein schöner, aber kühler Herbsttag. Laut a Fries' Beschreibung hatte sie etwa drei Stunden Fußmarsch vor sich, immer den Gipfel des 'Dicken Mannes' im Blick. Dort oben mußte es irgendwo ein großes Geröllfeld geben, dahinter eine Schlucht mit einem Wildbach und einen Höhenweg über einen weiten, grasbewachsenen Steilhang. Und dann würde sie auf ein paar verlassene Minen treffen, die meisten in kleinen, steinbruch-artigen Einschnitten. In einem davon mußte die Hütte der alten Sirah stehen. A Fries hatte lange nicht von ihr gehört, und er hoffte, daß sie noch da war. Aber sie sollte schon seit über zwanzig Jahren dort oben leben; nur hin und wieder kam jemand bei ihr vorbei und brachte ein paar spärliche Nachrichten über sie nach Sykand. Die letzte stammte aus dem Frühjahr, und da es inzwischen keine verheerenden Unwetter oder dergleichen gegeben hatte, sprach
nichts dagegen, daß sie immer noch dort oben lebte. Guten Mutes schritt Andrina den bewaldeten Hang hinauf. Immer wieder sah sie sich um, konnte aber zu keiner Zeit irgend jemanden ausmachen, der sie verfolgte. Sie hatte auch zu Beginn ihres Marsches gut aufgepaßt. Es gefiel ihr, sich wieder in der freien Natur zu bewegen. Sie hatte zuletzt eine ganze Weile in Dörfern zugebracht, und die Zeit auf der Dinia Tjerbus, und was sie dort mit den Leuten erlebt hatte, zählte natürlich nicht gerade zu den besten Tagen ihres Lebens. Bis zu dem Moment, da sie Belder getroffen hatte. Ganz besonders schön war der vergangene Tag in a Fries' Haus gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich wie ein wirkliches Familienmitglied gefühlt. Und es war ihr recht gewesen, daß die meisten dieser Familie keine Menschen waren. Von Zwergen war sie bisher eigentlich immer gut behandelt worden, von einigen Ausnahmen abgesehen. Unter den Zwergen gab es ja genügend Rothaarige, von daher schon konnten auf diesem Gebiet gar keine Vorurteile aufkommen. Und auch Renika mochte sie gern. Andrina fand sie sehr hübsch und dabei überhaupt nicht eingebildet. Sie hatte eine herrlich freche und lustige Art, respektlos und doch freundlich, und Andrina beneidete sie darum. Ihr Freund Jandhar war auch sehr nett, obwohl er ein bißchen lüstern zu sein schien. Dauernd sah er mit begehrlichen Blicken nach Renika, fummelte an ihr herum, und auch sie, Andrina, hatte er häufiger schon mit appetitvollen Blicken gemustert. Es war ungewohnt für sie, aber er machte ihr dadurch auch Komplimente, und das mochte sie. Und Belder natürlich. Belder hatte ihr auch welche gemacht. Das war ihr noch nie zuvor widerfahren. Andrina hatte sich immer für schrecklich häßlich gehalten, besonders seit dem Tag, an dem sie damals, im Wald lebend,
ihr Spiegelbild im Teich erblickt hatte. Ja, dieses Bild hatte sich unauslöschlich in ihr Hirn gebrannt. Die Zeit im Wald war auf ihre Weise schön gewesen, aber das Bild im Teich - das hatte ihr ein Wesen gezeigt, das sie selber erschreckt hatte. Abgemagert bis auf die Knochen, drahtig und sehnig, kaum ein Stück Kleidung am Leib, verdreckt und mit wilden, verfilzten Haaren. Sie hatte sich nicht wiedererkannt. Beinahe hätte sie sich zu dieser Zeit entschlossen, für immer im Wald zu bleiben; eine Wilde, ein Tier, das von jedem Menschen mit Abscheu und Entsetzen angestarrt worden wäre. Es war wirklich ein Glück gewesen, daß sie anschließend dieses Zwergendorf entdeckt und sich aufgerafft hatte, wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Und nun - nun hatte sich alles geändert. Nun gab es zwei Männer, die sie offenbar irgendwie hübsch fanden, und das war eine kleine Sensation für sie. Renika war sehr hübsch, und das galt erst recht für Linchen - ja, die Ärmste. Es war einfach schrecklich. Sie wünschte sich Renika zur Freundin, aber sie hätte ihren rechten Arm dafür gegeben, Linchen zur Freundin zu haben. Sie war so unglaublich schön gewesen, daß Andrina das Gefühl hatte, es würde irgendwie auf ihre Umgebung abfärben. Sie hätte sich nur neben sie stellen müssen, um ein Stück davon abzubekommen. Sie hätte Linchen abgucken wollen, wie sie es anstellte, so schön zu sein, sich so anmutig zu bewegen und auf eine solche Weise zu lächeln. Ihr Lächeln, dachte sie, ja. Sie hatte es nur ein einziges Mal gesehen, ganz kurz. Aber es war wie der Aufgang der Praiosscheibe gewesen. Sie hätte gern auch so lächeln können - hätte gern Belder einmal so angelächelt. Sie spürte, daß Belder sie mochte, aber sie glaubte nicht, daß er sie jemals küssen würde. Wenn sie so ausgesehen hätte wie Linchen, dann vielleicht schon. Belder war ein großer Kerl, weit herumgekommen und unglaublich stark. Sicher war er eine ganz andere Sorte Frau gewöhnt als ausgerechnet sie es darstellte.
Sie hatte gesehen, wie er Linchen angeblickt hatte und wie er geweint hatte, als sie tot in seinen Armen lag. Sie seufzte. Es war ein verrückter Gedanke, aber für diese Liebe und diese Tränen in seinem Gesicht hätte sie vielleicht auch gern tot in seinen Armen gelegen. Sie holte tief Luft, verscheuchte diese abwegigen Gedanken. Sie hatte innerhalb der letzten zwei Tage, so gefahrvoll diese Zeit auch gewesen war, soviel Schönes erlebt, daß sie keinen Grund hatte, nun gleich durchzudrehen. Man konnte nicht alles haben, und sie sollte erst einmal zufrieden mit dem sein, was sie bekommen hatte. Mit Zufriedenheit über diese neu gewonnenen Gewißheiten in ihrem Leben marschierte sie weiter. Der Wald wurde lichter, und sie kam über einen Buckel hinweg, von dem aus sie zwischen den Bäumen hindurch aufs Meer blicken konnte. Dort draußen lag eine kleine Insel, eine Meile vor Sykand, die hatte sie zuvor nicht gesehen. Weit draußen sah sie ein großes Schiff, aber es schien Sykand nicht anlaufen zu wollen. Dann suchten ihre Blicke die Häuser von Sykand, aber sie lagen zu tief, waren hinter den Bäumen verschwunden. Sie wandte sich um und marschierte weiter. Es war früher Nachmittag, und sie wußte nicht, ob sie heute noch zurückkehren konnte. Erst einmal mußte sie die Alte in ihrer Hütte finden und es dann noch schaffen, von ihr eingelassen zu werden. A Fries hatte angedeutet, daß die gute Sirah nicht eben auf Besucher erpicht war, schon gar nicht auf unangemeldete. Selbst wenn Andrina alles bestmöglich bewältigte, würde sie sicher erst sehr spät zurückkehren. Möglicherweise im Wald zu übernachten, schreckte sie nicht. Sie hatte darin alle Erfahrung der Welt, sie hätte sogar hier eine Nacht überstehen können, selbst bei diesen Temperaturen, wenn sie völlig ohne Ausrüstung gewesen wäre.
Entschlossen marschierte sie weiter, behielt die Kette der Gipfel im Auge, die sich hin und wieder durch die Baumwipfel hindurch zeigte. Der Dicke Mann war leicht zu erkennen - es war ein behäbiger, rundlicher Berg mit einem Felsklotz oben drauf, der ihm so etwas wie eine Hakennase verlieh. Mit dem trocknen Wetter war auch ein milder Wind von Süden gekommen, und am Nachmittag wurde es noch einmal richtig warm. Andrina hatte gute Erinnerungen an ihr Leben unter freiem Himmel, und sie fühlte sich wohl. An die dunkle Last des Buches, das sie bei sich trug, dachte sie gar nicht. Nach einer guten Stunde trat sie aus dem Bergwald heraus und sah vor sich eine hohe Wiese, jenseits derer sich im Osten ein breites, zu Tal führendes Geröllfeld erstreckte. Das mußte das Geröllfeld sein, von dem a Fries gesprochen hatte. Sie marschierte weiter und suchte sich eine Passage, die sie gut überqueren konnte. Jenseits des Geröllfelds stiegen graue Felsen auf, und zwischen ihnen gab es hier und dort tiefe Einschnitte. In einem davon mußte der Wildbach verlaufen. Sie stieg weiter auf und wunderte sich, daß die alte Sirah soviel unwegsames Gelände zwischen Sykand und sich gebracht hatte. Nun ja, vielleicht war das doch gar nicht so verwunderlich. Diese Stadt zählte sicher zu den ungemütlichsten, was ihre Einwohner anging. Dann hörte Andrina den Bach, aber sie brauchte eine Weile, ehe sie ihn fand. Er rauschte in dunkler Tiefe durch eine Felsspalte, so tief, daß sie ihn schließlich überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Dort hinabzusteigen erschien ihr gefährlich und nicht sonderlich sinnvoll. Statt dessen kletterte sie hinauf und stieg an der Oberkante der Spalte entlang, bis sie endlich, nach anstrengender Kletterei, den Steilhang erreichte. Irgendwas mußte sie falsch gemacht haben, denn das war mit Sicherheit kein vernünftiger Weg gewesen. Inzwischen war sie auch gar nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch auf dem richtigen Weg war.
Sie kletterte erst einmal ein gutes Stück aufwärts und musterte den Steilhang. Ja, er war tatsächlich mit Gras bewachsen, und es gab sogar einen Pfad, der ihn querte; ein Gemsenpfad offenbar, aber immerhin. Inzwischen harte sie heftig zu schnaufen begonnen. Sich hier droben zu verlaufen wäre ein reichlich unpassendes, zeitraubendes und gefährliches Pech gewesen. Sie sah zum Meer hinab, inzwischen mit völlig freier Sicht, und der Anblick versöhnte sie. Ja, dort unten lag Sykand, und irgendwie war sie noch immer in der bekannten Welt. Sie war erstaunt, wie hoch sie schon gekommen war. Es war ein schöner, friedlicher Anblick; in der Ferne standen Wolken über dem Meer, und das Städtchen schmiegte sich dort unten an den schmalen Küstenstreifen, so als suche es unter den Bergen Schutz. Das große Schiff war schon verschwunden. Dann wurde Andrina klar, daß die Praiosscheibe nicht mehr hoch stand. Mit dem Rückweg würde es heute nichts mehr werden, in der Dunkelheit war das viel zu gefährlich. Sie wandte sich um und stieg entschlossen den Gemsenpfad entlang. Nach einer Weile kam sie wieder in eine Schlucht zwischen aufsteigenden Felsen, und als sie die Schlucht durchquert hatte, ging es nur noch über einen Sattel hinweg und plötzlich breitete sich vor ihr, unterhalb einer gewaltigen, aufsteigenden Felswand, eine flache, nur leicht abfallende Hochebene mit zahllosen Baumgruppen, Findlingen und dazwischen liegenden Wegen aus. Überall gab es kleine, in den sanften Hang hineingearbeitete Flachstücke mit hellen, angrenzenden Felswänden, in denen sie dunkle Mineneingänge ausmachen konnte. Sie sah Sirahs Haus fast sofort. Ihr Herz machte einen Satz, als sie ihr Ziel sah, und dort hinüber war es nur noch ein kurzer Spaziergang. Und nun verstand sie auch, warum die alte Sirah hier oben wohnte dieser Ort war ein sehr wohnlicher Platz, hier gab es Wasser, zahllose Büsche, an denen man Beeren und Nüsse pflücken
konnte, und hier konnte man sich auch ein paar Ziegen, Hühner und ähnliches halten. Sogar jagdbares Wild würde es hier geben, obwohl Andrina nicht davon ausging, daß die alte Frau mit Pfeil und Bogen auf die Pirsch ging. Erleichtert lief sie weiter, direkt auf das Haus zu. Aber dann, als sie ihm näher kam, geschah etwas Unheimliches. Irgendwie verfinsterte es sich um sie herum, und irritiert blickte sie in die Höhe. Über der kleinen Hochebene zogen sich plötzlich Wolken zusammen, wo der Himmel noch vor kurzer Zeit völlig blau und wolkenlos gewesen war. Die Luft knisterte vor Aufladung, und Blitze zuckten in den Wolken umher. Es war wie ein winziges, örtliches Unwetter, das sich da zusammenbraute, und Andrina konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es absichtlich von jemandem herbeigeführt worden war. Ein scharfer, kalter Wind setzte ein, und leichter Nieselregen sprühte durch die Luft. Es war ein Wetter der unangenehmsten Art, bei dem jeder normale Mensch, Zwerg oder auch Ork nichts Eiligeres zu tun haben sollte, als sich, so schnell es ging, einen Unterschlupf zu suchen. Andrina empfand es ebenso, aber irgend etwas flüsterte ihr jetzt schon ein, daß sie in Sirahs Hütte sicher nicht den Schutz finden würde, den sie suchte. Das Ganze, so kam es ihr vor, schien genau von dort auszugehen. Als sie dann der Hütte näher kam, sah sie sich in ihrer Meinung bestätigt. Vor dem kleinen Holzbau, gleich neben der Tür, stand ein Mann; ein großer - nein, ein riesiger Mann; Belder und Jandhar hätten neben ihm gewirkt wie zwei Schulbuben. Sein Oberkörper war nackt und seine Haut bronzefarben. Seine mächtigen Arme hielt er vor der Brust verschränkt, und seinem kahlen Schädel entsprang oben in der Mitte ein schweres Haarbündel, das er zu einem Zopf verflochten und sich
mehrfach um den Hals geschlungen hatte. Er trug einen rasiermesserscharfen Oberlippenbart, und auf seinem Kinn stand ein weiterer, der wie ein scharfes V nach unten stach. Seine Hosen bestanden aus braunem Leder, und er trug mächtige Stiefel an seinen Füßen - Stiefel, in die Andrina wohl mit beiden Beinen zugleich hätte hineinschlüpfen können. Sie verlangsamte ihren Schritt, als sie näher kam. Der Riese trug eine Waffe auf dem Rücken, ebenso wie sie, aber an dem Schaft, der hinter seinem Rücken aufragte, konnte sie erkennen, daß die Waffe wohl ungefähr soviel wog wie sie selbst. Sie blieb stehen. „Geh!“ grollte der Riese. „Hier findest du keinen Unterschlupf!“ Er stand im Regen, schien aber nicht naß zu werden. Er... es regnete durch ihn hindurch! Nun begriff Andrina - der Riese war von gleicher Natur wie der Dämon drunten in Sykand: ein magisches Wesen, herbeigerufen von Zaubermacht und unbesiegbar - selbst wenn sie ihn, woran nicht zu denken war, in seiner menschlichen Gestalt hätte überwinden können. Sie lachte spöttisch auf. Gegen diesen Kerl hätte sie im normalen Leben ebenso wenig Chancen gehabt wie Linchen gegen den Dämon - nämlich gar keine. „Ich ... mir ist kalt!“ rief sie. „Ich friere!“ „Dann geh nach Haus!“ erwiderte der Mann. „Aber ... das ist weit von hier!“ Sie deutete in die Richtung, aus der sie kam. Er nickte dort hin. „Da ist auch besseres Wetter!“ Sie sah sich um, und tatsächlich: Am Rande der Hochebene, dort, wo der kleine Sattel lag, den sie durchschritten hatte, war ein heller Streifen, und sie konnte sogar die abendlichen Strahlen der Praiosscheibe sehen, die dort hindurchschienen. Sie wandte sich wieder um und starrte den Riesen an. Er
stand da, mächtig und unverrückbar, und jeder anständige Felsen, dachte Andrina, hätte sich eine Scheibe von ihm abschneiden können. Ihr Mut sank, und der scharfe, kalte Nieselregen tat seine Wirkung. Unweit schlug ein Blitz ein, ein kleiner Blitz nur, mit einem scharfen, kurzen Donnerknall, aber sie zuckte heftig zusammen. In kurzer Zeit würde sie völlig durchnäßt sein, und dann hätte sie gleich im Tal bleiben können. Nun begann sich der Regen auch noch mit Schnee zu durchsetzen, es wurde rasch kälter. Der Riese stand da wie ein Denkmal. Niedergeschlagen wandte Andrina sich um und ging. An diesem Kerl würde sie nicht in tausend Jahren vorbei kommen - und selbst wenn sie es schaffte: Die alte Sirah, offenbar zu solcher Zaubermacht fähig, würde ihr nicht gerade freundlicher entgegen treten. Kaum hatte sie ein Dutzend Schritte hinter sich gebracht, schienen der Regen und der Wind nachzulassen. Verdammt! dachte sie. Das ist nur ein mieses Schauspiel, um mich loszuwerden! Sie wandte sich um - da stand er noch immer, der riesige Kerl, und sie wurde wütend. Sie war in ihrem Leben schon viel zu oft davongejagt worden, und stets war sie gegangen. Aber vielleicht hatte sie einfach immer nur zu schnell aufgegeben. Belder hatte ihr das Gefühl gegeben, etwas wert zu sein, und er hatte ihr auch gezeigt, daß man durchhalten konnte. Nein, das würde sie nicht hinnehmen! Der Weg hierher war beschwerlich gewesen, und sie würde nicht wieder gehen, ohne die Alte wenigstens gesehen zu haben! Entschlossen machte sie kehrt - und prompt blies ihr wieder der eiskalte Wind ins Gesicht. Sie schlang die Arme um den Leib, hielt sich eine Hand schützend vors Gesicht und kämpfte sich in den zunehmenden Schneesturm hinein - in Richtung des Riesen.
Der sah sie kommen, musterte sie aber nur finster. Andrina überlegte, daß sie eigentlich eine kleine Schwäche für solche Riesenkerle wie ihn hatte, und Riesenkerle wie er schienen auch gewisse Sympathien für zierliche Mädchen wie sie zu hegen. Jedenfalls verhielten Belder und Jandhar sich so. Warum nicht auch dieser Gigant? „He!“ rief sie ihn an, als sie fünf Schritte vor ihm stand. Er ragte über ihr auf wie ein Dom. Er war mindestens vier Köpfe größer als sie und wog wohl das Fünffache. „Du solltest lieber umkehren!“ drohte er mit grollender Stimme. „Willst du dich wirklich an mir vergreifen?“ schrie sie gegen den Sturm an. Sie dachte, daß ihr gleich vor Kälte die Ohren und die Finger abfallen wurden. Er erwiderte nichts. „Kann man mit dir nicht mal vernünftig reden?“ schrie sie weiter. „Wozu dieser Sturm? Hast du Angst vor mir?“ Schlagartig erstarb das Geheule des Windes. Harmlos wirbelten kleine Schneeflocken durch die Luft, und Augenblicke später brach schon das strahlende Licht des Himmels durch die Lücken in der aufreißenden Wolkendecke. Der Riese beugte sich zu ihr nieder, und der Zeigefinger seiner riesigen Pranke tippte ihr gegen die Brust. Sie taumelte zwei Schritte zurück. Dann war sein wutverzerrtes Gesicht auf ihrer Höhe, und eine drohende Stimme zischte: „Vor dir habe ich ganz sicher keine Angst, du Zwerg! Verstanden?“ „Ich bin ein Mädchen“, sagte sie und grinste ihn unverschämt an. „Wenn schon, dann Zwergin, ja?“ Er schnaubte nur. „Wie heißt du, Großer?“ wollte sie wissen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich ebenso breitbeinig vor ihn hin, wie er es zuvor getan hatte. Das Wasser tropfte ihr
noch aus den Haaren, und eine eiskalte Schicht Schnee klebte ihr auf Brust, Bauch und Oberschenkeln. Aber das ignorierte sie. Ihr Mut, den sie irgendwo tief in sich selber ausgegraben und hervorgeholt hatte berauschte sie fast. Der Riese richtete sich verblüfft auf. „Wie ich heiße?“ fragte er. „Ja. Ich ritze mir die Namen meiner Opfer auf mein Schwert, wenn ich sie in Stücke gehauen habe, weißt du?“ Er grinste tatsächlich. Aber es war das Grinsen eines Kriegers, der sein Opfer fixiert und kein winziges Stück Angst verspürt. „Du bist frech, Zwergin“, knurrte er. „Frech wie eine Bergziege. Das könnte dein Tod sein!“ Sie winkte ab und klopfte sich den Schnee aus den Kleidern. „Das laß meine Sorge sein! Wie heißt du nun?“ Er funkelte sie an. „Ich habe keinen Namen!“ Ihr Arm schoß hervor, und sie deutete auf ihn. Er zuckte sogar leicht. „Das dachte ich mir schon! Sie ruft dich herbei, stellt dich hierher, um sie zu beschützen, gibt dir aber nicht mal einen Namen! Du bist nur ein Werkzeug für sie!“ Der Riese ließ die Arme sinken. Andrina gratulierte sich. Sie hatte den Nerv des Riesen getroffen, und es war nicht einmal ein Schuß ins Blaue gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie wirklich Nutzen aus dem ziehen, was sie damals in Belzers Büchern gelesen hatte. „Ihr Geister werdet immer nur ausgenutzt!“ sagte sie mit Entrüstung in der Stimme. „Ich kenne das! Niemals gestattet man euch eine Persönlichkeit, immer werdet ihr nur deswegen geholt, weil man eure Stärke braucht, aber wenn ihr dann eure Arbeit erledigt habt - schwupps, weg mit euch, zurück ins Nichts!“ Sie schnippte mit den Fingern. „So wird es auch dir gehen!“
„Wie kommst du darauf, daß ich ein Geist wäre?“ fragte er verblüfft. Sie legte den Kopf schief und sah ihn bedauernd an. „Siehst du? Das kommt daher, daß du keine Persönlichkeit hast! Du willst ja nicht mal eine haben! Du tust nur deine momentane Arbeit, denkst nicht weiter über dich oder die Welt nach!“ Sie trat an ihn heran und boxte ihn gelangweilt auf den riesigen Oberschenkel. Sie reichte ihm nur knapp über Gürtelhöhe. „Du bist nur ein dummer Muskelberg. Sonst nichts!“ Er starrte an sich herab, auf seinen Oberschenkel, ungläubig, und offenbar fiel ihm nichts ein, was er erwidern konnte. „Nur damit du's weißt: Es regnet durch dich hindurch, großer Zauberer!“ sagte sie. „Deine Muskeln scheinen zwar hart zu sein, aber nicht wasserdicht. Verstehst du?“ Er blickte irritiert in die Höhe, breitete die Hände aus, aber da war ja längst kein Regen mehr, und sah dann wieder zu ihr herab. „Du willst mich verwirren!“ sagte er anklagend und deutete auf sie. „Aus der Ruhe bringen, so daß du mich überraschen kannst!“ Er langte über die Schulter, zog eine riesige Axt und duckte sich in Angriffshaltung. „He!“ rief Andrina. „Das ist mal eine anständige Axt! Wau! Ich wette, damit könntest du glatt die Hütte in zwei Teile zerhauen!“ Sie trat an die Axt heran und fuhr anerkennend mit dem Finger über die Schneide. Das Ding war so riesig, daß sie es nicht einmal vom Boden hätte aufheben können. Der Riese ließ die Axt wieder sinken. „Du machst dich lustig über mich!“ beklagte er sich. „Was willst du von mir?“ Sie baute sich vor ihm auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Du bist ein hübscher, starker Bursche!“ sagte sie streng. „Ich hab einen Freund, der ist genau wie du. Nicht ganz so groß, aber fast. Dafür aber hat er mehr Rückgrat, verstehst du? Ich hab eine Menge von ihm gelernt. Und er hat einen
Namen!“ Der Riese holte Luft. „Ich finde es schade, daß du keinen hast“, fuhr sie fort. „Ich mag Jungs wie dich, weißt du? Allerdings nur, wenn sie Rückgrat haben!“ Noch einmal holte er Luft. „Und nun?“ knurrte er. Sie deutete auf die Hüttentür. „Warum fragst du sie nicht? Du läßt dich von ihr hier aufstellen, um ihren Laden zu bewachen, und du veranstaltest auch noch eine Menge Budenzauber, um ihr gefällig zu sein! Dabei besitzt sie nicht mal den Anstand, dir eine Persönlichkeit zu geben! Du bist ein Niemand! Ein Sklave! Und du fühlst dich auch noch gut dabei!“ Nun wurde der Riese wütend. Er knallte seine Axt auf den Boden und stampfte zur Tür der Hütte. Die Luft um ihn herum knisterte nur so, und Andrina schnitt eine angstvolle Grimasse, als sie bläuliche Funken sah, die um ihn herum aus seiner Haut aufstoben. Dann stand er vor der Tür und klopfte. Er hätte wahrscheinlich nicht einmal hindurch gepaßt, auch wenn er sich bemüht hätte, und die Tür erzitterte unter den Schlägen seiner wütenden Faust. Augenblicklich wurde sie aufgerissen. Der Riese trat zwei Schritt zurück. Eine ältere Frau kam heraus. Sie war schlank, sah überraschend gepflegt und wie von hoher Geburt aus. Sie trug ein mit vielen bunten Fäden besticktes schwarzes Kleid, das wahrhaft kostbar erschien. Was sie aber ebenfalls trug, das war ein außerordentlich wütender Gesichtausdruck. „Was willst du?“ herrschte sie den Riesen an. „Einen Namen!“ knurrte der zurück. „Du hast mir nicht einmal einen Namen gegeben! Ich stehe in deinem Dienst, alte
Frau, beschütze dich, aber du gibst mir nicht einmal einen Namen!“ „Na und?“ rief sie. „Du bist nur ein Geist! Geister haben keine Namen!“ „Wer sagt das?“ Der Riese war wütend, wehrte sich. „Was, wenn mir das nicht genügt? Wenn ich einen will?“ „Es ist mir egal!“ rief die alte Frau. „Dann such dir doch einen!“ Er schüttelte - den Kopf. „Namen gibt man sich nicht selbst“, erklärte er. „Sie hätten keine Bedeutung!“ Andrina staunte über die Tiefe dieses Gedankens. Waren Geistwesen wie er tatsächlich zu so etwas fähig? Dann hatten sie wirklich einen Namen verdient. „Du erwartest doch wohl nicht von mir“, knirschte sie ihn an. „dir jetzt einen Namen auszusuchen!“ „Warum nicht?“ Der Riese wirkte entschlossen. „Weißt du was, Geist? Du gehst mir auf die Nerven! Und du hast deine Arbeit nicht getan!“ „Mit gutem Grund!“ gab er zurück. „Und du machst mich langsam auch wütend!“ Der Zorn zog sich im Gesicht der alten Frau noch ärger zusammen als vor kurzem das Unwetter über der Hochebene. Sie hatte Andrina noch nicht mal eines Blickes gewürdigt. „Ein letztes Mal!“ zischte sie den Geist an. „Tu deine Arbeit! Jag sie fort von hier, und verkrümel dich dann! Sonst vergeß ich mich!“ „Nein! Das werde ich nicht!“ Der Geist hatte seine Erwiderung so trotzig ausgesprochen wie ein widerborstiges Kind. Die alte Frau schnaubte vor Wut. Dann hob sie plötzlich eine Hand und schnippte mit den Fingern, so wie es Andrina zuvor vor dem Riesen auch getan hatte.
Diesmal aber zerplatzte der Riese, löste sich mit einem leisen Knall in nichts auf, und dann standen Andrina und die alte Frau allein vor der Hütte. Die Alte trat drohend auf Andrina zu. „Verschwinde von hier, Mädchen“, zischte sie voller Wut. „Sonst geht es dir wie dem Geist. Verlaß dich drauf!“ Andrina wußte, daß es jetzt Zeit war umzuschalten. Sie senkte den Blick, machte einen höflichen Knicks und sagte leise und unterwürfig: „Seid Ihr die alte Sirah, liebe Frau?“ Die Alte richtete sich zu voller Größe auf. „Ja, bin ich. Und wenn du schon meinen Namen weißt, dann wirst du auch wissen, daß ich es hasse, Besuch zu bekommen. Und nun verschwinde endlich!“ Andrina griff zur Seite, in ihre Umhängetasche, und zog das in Segeltuch eingeschlagene Buch heraus. Sie wickelte es aus und zeigte es der alten Frau. „Ich habe rote Haare“, sagte Andrina und fuhr sich, um es deutlich zu machen, seitlich durch die herabhängenden, noch immer ziemlich nassen Haare. Dabei sah sie der Alten geradewegs in die Augen. „Da unten in Sykand hält man mich für eine Hexe. Ein Schiff ist gekommen, mit einem Dämon an Bord - und ich war auch drauf. Nun ist der Dämon in der Stadt, und alle schreien, ich wäre es gewesen. Sie wollen mich umbringen.“ Die alte Sirah fixierte Andrina aufmerksam, aber eine Winzigkeit Interesse war in ihrem Gesicht abzulesen. Sie blickte auf das Buch, das Andrina ihr hinhielt, streckte aber nicht die Hand danach aus. „Dieses Buch haben wir auf dem Schiff gefunden. Ich glaube, daß der Dämon mit seiner Hilfe beschworen wurde. Aber ich weiß es nicht. Ich kann es nicht lesen.“ Die alte Sirah stand ruhig atmend da und sah Andrina und das Buch aufmerksam an. Eine ganze Weile rührte sie sich
nicht. „Wie heißt du, Mädchen?“ Sie wagte ein scheues Lächeln. „Andrina.“ Das Minenspiel der Alten war faszinierend. Und Andrina gelangte ganz plötzlich zu der Auffassung, daß sie überhaupt keine böse Frau war. Daß sie dies alles nur spielte, um sich die Leute vom Leib zu halten. Die Leute von Sykand, die mit Sicherheit ebenso gemein zu ihr gewesen waren wie zu Belder, a Fries und ihr selber. Dann endlich nickte die alte Frau, und ihre Züge entspannten sich. Sie trat zu Andrina und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Komm erst mal herein. Du bist ja ganz naß.“ Es war nicht die Hütte einer bösen Zauberin, voller Fetische, Totenköpfe und gruseligem Zauberzeug - nein, es war einfach nur ein wohnliches, kleines Heim. Sirah hatte zwei sehr anschmiegsame Katzen und einen kleinen, bunten Vogel in einem Käfig. Die Hütte führte nach hinten noch ein Stück hinaus, das hatte Andrina zuvor nicht gesehen; dort lagen zwei weitere Zimmer, die sie aber nicht betrat. Sie saß nun in Decken gehüllt in einer gemütlichen Wohnküche; Sirah hatte ihr die Haare trocken gerubbelt und ihre nassen Kleider auf einem kleinen Trockengestell vor einem Kaminofen zum Trocken aufgehängt. Vor Andrina dampfte eine Tontasse mit Tee auf einem sehr ordentlichen Möbel von einem Küchentisch. „Hier sieht alles so ... gepflegt aus“, sagte sie und sah sich um. „Ich habe ein paar Freunde“, erklärte Sirah. „Wenige nur; sie wohnen alle hier in der Umgebung.“ Sie lächelte. „Allerdings nicht in Sykand.“ „Hier oben ... in den Bergen?“
„Ja. Ein Fallensteller. Ein alter Einsiedler, so wie ich. Und noch ein, zwei Leute. Wir helfen uns gegenseitig. Und besuchen uns ab und zu.“ Sirah setzte sich zu Andrina an den Tisch, und sie tat es mit einer eleganten Bewegung. Sie mußte um die Sechzig sein, aber sie wirkte wie eine Frau in den besten Jahren. So gepflegt wie ihr Heim, schlank und gewandt, sehr gut gekleidet und vor allem: geistig hellwach und hochintelligent. Sie begann in ihrem Tee zu rühren. „Du bist ein kluges Kind, Andrina“, sagte sie dann und blickte auf. „Ich habe mitverfolgt, wie du den Dschinn ausgetrickst hast. Das war unerhört gewitzt!“ „Das war ein Dschinn?“ Sie nickte. „Ein dienstbarer Geist, ja. Ich fürchte nur, du hast den Samen der Rebellion in ihm gepflanzt. Er wird keine Ruhe geben, ehe er einen Namen hat.“ Andrina lachte leise. „Wird er denn wiederkommen?“ Sirah nickte. Ja, natürlich. Er ist, wie alle Dschinns, Gefangener eines Artefakts. Ich habe es mal für viel Geld auf einem Markt erstanden. Für sehr viel Geld. Eine kleine Statuette aus Drachenbein.“ „Er ist nicht dumm. Ich finde, er hat einen Namen verdient.“ Sirah hob die Schultern. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich sogar Karten mit ihm spielen, wenn mir langweilig ist. Na ja, falls er Lust dazu hat.“ „Und wenn er hier herein paßt. Ihr werdet Euch einen ziemlich soliden Stuhl anschaffen müssen.“ „Sag du zu mir, Andrina. Wir sind ja Kolleginnen.“ Sie schnitt eine leichte Grimasse. „Ich hab zwar rote Haare“, erwiderte sie. „Aber Zauberkräfte besitze ich nicht.“ „Wirklich?“ Sirah legte den Kopf schief. „Woher wußtest du dann, mit welchen Tricks man Dschinns durcheinanderbringt?“
Andrina hob die Schultern. „Ich hab davon gelesen. Über Geister- und Dämonenerscheinungen. Und daß sie niemals Namen trügen. Den Rest hab ich mir zusammengereimt.“ Sirah lächelte. „Dann bist du ja noch schlauer, als ich dachte.“ Sie hob ihre Tasse und trank einen Schluck. „Was ist das nun für eine Sache mit diesem Buch?“ Andrina erklärte es ihr. Die ganze Sache, angefangen mit ihrer Gefangenschaft auf der Dinia Tjerbus, dem Ausbrechen des Dämons und ihrer Ankunft in der Stadt. Sie erzählte von Belder, den wütenden Leuten in Sykand und dem Abbrennen von Belders Haus, bis hin zu dem Moment, da a Fries kam und sie vor dem Mob in Sicherheit brachte. „Du liebst ihn, diesen Belder, was?“ Andrina schluckte. „Wie kommst du darauf, Sirah?“ fragte sie. Die Alte lächelte. „Du sprichst sehr liebevoll von ihm. Du hast selbst dem Dschinn von ihm erzählt.“ Andrina seufzte lange. „Ja. Aber Belder ist viel älter als ich. Und ist viel herumgekommen. Was will er mit einem Mädchen wie mir? Er mag mich, aber er sieht mich, glaube ich, eher wie seine kleine Schwester. Oder seine Tochter. Ich weiß nicht.“ Sirah fuhr Andrina mitfühlend über die Schulter. „Verlaß dich nicht zu sehr auf die Leute, Kindchen“, sagte sie. „Er mag ein netter Kerl sein. Aber du tust dir einen Gefallen, wenn du immer nur auf dich selbst baust. Glaub mir.“ Andrina sah auf, fühlte, daß ihre Augen feucht waren. Sirah hatte es sicher gut gemeint, aber sie hatte ihr nicht eben Mut gemacht. Dann zog sie sich das Buch herbei und schlug es auf. „Es ist ein Orkbuch“, sagte sie. „Ein Orkbuch?“ ,Ja. Nur sehr wenige Orks können schreiben oder lesen, und
die Kunst des Papierherstellens ist ihnen weitestgehend unbekannt. Ihre Schamanen benutzen so etwas wie dies hier. Einfache Holztafeln mit primitiven, eingeschnitzten Schriftzeichen. Sie sind das Gegenstück zu unseren Pergamentrollen.“ Andrina schöpfte Hoffnung. „Du kennst dich gut aus. Kannst du es auch lesen?“ Sirah studierte die Zeichen auf den Tafeln. „Ja, aber ich muß es übersetzen. Dazu brauche ich meine Bücher und Zeit.“ Sie sah zum Fenster hinaus. „Es wird langsam dunkel. Und du mußt müde sein. Was hältst du davon, wenn du schlafen gehst und mir ein paar Stunden Zeit gibst, es zu studieren? Morgen früh werde ich dir dann sagen, was ich herausgefunden habe.“ „Morgen früh?“ „Wolltest du etwa heute noch zurück?“ Andrina sah zum Fenster hinaus und schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre wohl kaum zu schaffen. Ich meinte nur ... nun, daß du dir so viel Arbeit machen mußt. Es klingt fast, als würdest du die halbe Nacht daran sitzen müssen.“ Sirah hob die Achseln. „Das macht nichts. Ist eher eine willkommene Abwechslung. Und ich kann dabei altes Wissen auffrischen.“ „Nun ja, wenn du es so siehst...“ „Das ist schon in Ordnung.“ Sie erhob sich. „Komm mit, du kannst in meinem Bett schlafen. Ich werde mich später dort drüben auf der Liege hinlegen.“ Andrina maß die einfache Bettstatt neben dem Ofen mit Blicken. Die beiden Katzen schliefen gerade darauf. „Meinst du wirklich? Ich ...“ Sirah lächelte milde. „Nun laß mir doch meine Gastfreundschaft. Ich mag dich, du bist ein nettes Mädchen. Ein Glück, daß dich der Dschinn nicht davongejagt hat.“
Diese Worte taten Andrina gut, wieder einmal war jemand wirklich freundlich zu ihr. Irgendwie verfestigte sich das Bedürfnis in ihr, dies alles nicht mehr loslassen zu wollen. Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Dann betraten sie mit einer Kerze Sirahs Schlafzimmer, und dort stand ein Traum von einem weichen Bett mit riesigen Kissen und Decken. Und es duftete sogar. „Warte, ich will schnell frische Bettwäsche aufziehen ...“ sagte Sirah und öffnete einen Schrank. Andrina widersprach nicht, obwohl sie es für völlig überflüssig hielt. Das Bett erschien ihr so frisch und luftig wie eine Wolke. Als Sirah fertig war, ließ Andrina ihre Decken, unter denen sie steckte, fallen. Sie hatte Lust, sich so nackt wie sie war, in die weichen Kissen zu schmiegen. Sie deutete auf das Bett und fragte: „Darf ich ...?“ „Natürlich, Kindchen“, antwortete Sirah. Andrina hätte sie am liebsten vorher noch umarmt, sie war wie eine Mutter. Aber das erschien ihr dann doch etwas zu wagemutig. Mit einem Hochgefühl sprang sie ins Bett und wühlte sich wohlig unter die Decken. Das schob sie den Kopf hervor und hätte jetzt alles Gold der Welt für einen Gutenachtkuß gegeben. Sirah stellte ihr die Kerze auf das Nachttischchen und wünschte ihr eine gute Nacht. Dann verschwand sie. Andrina löschte gleich die Kerze und seufzte dann wohlig. Wenn jetzt noch Belder hier gewesen wäre, dann wäre ihr Glück perfekt. Sie schloß die Augen und schlief bald ein. Die Nacht in Sykand war die Hölle. Am Nachmittag war Zappsteen mit seiner grölenden Meute vor a Fries' Haus aufgetaucht, und kurz darauf hatte sich ihm noch Threll mit seiner Mordbrennerbande angeschlossen. Mit
viel Geschrei hatten sie die Herausgabe von Andrina und Belder verlangt. Trotz allem verschaffte das Belder gehörige Erleichterung, denn es bedeutete gleichzeitig, daß Andrina ihnen nicht in die Fänge geraten war. Andernfalls hätten Zappsteen und Threll sie sicher draußen vorgeführt und Belder gezwungen herauszukommen. Als ihm diese Gefahr klar wurde, breitete sich ein sehr flaues Gefühl in seinem Magen aus. Gegen Abend hatten sich wieder ein paar Mutige vorgewagt und wollten a Fries' Haus in Brand stecken. Aber das gelang ihnen aus zweierlei Gründen nicht: A Fries Haus bot für Feuer so gut wie keine Angriffsfläche, und die Bewohner konnten es gut mit Hilfe von Pfeilen verteidigen. Renika erwies sich tatsächlich als eine erstklassige Schützin, und auch Jandhar war sehr gut. Sogar a Fries konnte mit einem Kurzbogen umgehen, und Belder war nur der viertbeste. Oder besser: der Schlechteste von allen. Aber trotzdem traf auch er. Die Meute schoß bald zurück, aber unter ihnen befand sich kein einziger anständiger Bogenschütze, und nur einmal zischte ein Pfeil zu einem Fenster herein, traf aber niemanden. Das einzige Problem war, daß ihnen die Pfeile ausgehen würden. A Fries' Sägewerk befand sich an einem anderen Ort, dies hier war nur das Wohnhaus. So verlegten sie sich bald darauf, daß nur Renika und Jandhar schossen und auch das so selten wie möglich. Sie besaßen nur ein paar Dutzend Pfeile, und wenn ihnen die ausgingen, würde es schwierig werden. Als es Nacht wurde, zogen die Leute ab. Belder kam auf die kluge Idee, hinauszugehen und Pfeile einzusammeln - solange keine Zombies auftauchten. Dann aber wurde er in seinem Vorhaben herb enttäuscht. Er schaffte es gerade mal, zehn oder zwölf Pfeile aufzusammeln, dann kamen sie schon heran - und sie waren regelrecht hungrig. Er hatte für Momente nicht aufgepaßt, sich in Sicherheit
gewähnt, und plötzlich kamen gleich drei Zombies auf ihn zu, aus verschiedenen Richtungen. Und sie kamen schnell. Hätte ihn Jandhar, der mit ihm hinausgegangen war, nicht durch einen Ruf gewarnt, wäre es zu spät gewesen. Belder schoß in die Höhe, hieb einem das Schwert ins Gesicht und sah zu, daß er wegkam. Diesmal waren die verfluchten Bestien so schnell unterwegs, daß man es fast als rennen bezeichnen mußte. Belder hatte Mühe, das Haus noch zu erreichen. Jandhar war schon da und knallte die Tür hinter ihm zu. Gemeinsam legten sie die drei Querbalken in die Haken und schoben einen Schrank und zwei Kommoden davor - die Barrikade, die a Fries hier jede Nacht aufgebaut hatte, seit die Zombies gekommen waren. Aber die Monstren wummerten mit Kraft gegen die Tür. Belder und Jandhar sahen sich unschlüssig an. „Hast du gesehen, wie schnell die waren?“ fragte Belder und deutete nach draußen. „Allerdings. Deswegen hab ich ja auch geschrien. Denkst du, die Tür wird halten?“ Sie wußten es beide nicht. Es schien, als würden die Zombies stärker und schneller werden. Genährt aus unbekannter Quelle. Sie marschierten in die Küche, die gleich um die Ecke lag, und trafen dort a Fries, Renika und ein paar von a Fries' Zwergenfreunden an. Sie alle saßen schweigend da, einige blickten aus den vergitterten Fenstern nach draußen. „Hört ihr das?“ fragte a Fries tonlos. Belder und Jandhar lauschten. Schreie drangen von fern an ihr Ohr. Dann rief einer der am Fenster stehenden Zwerge, daß er Flammen sähe, und deutete hinaus. Sie traten alle ans Fenster. In einiger Entfernung erhob sich Lichtschein über den Häusern. Die Schreie wurden deutlicher. „Der Dämon ist
wieder unterwegs“, flüsterte jemand. In dieser Nacht sahen sie zwei weitere Brandherde aus den Fenstern und wunderten sich, woher sie kamen. Legten die Zombies etwa Feuer? Oder war es der Dämon? Sie bekamen nur wenig Zeit, darüber nachzudenken. Während der Nacht starteten die Zombies draußen mehrere kleine und drei massive Angriffe auf die Haustür, und beim zweiten und dritten Mal brachen sie durch. Die Zwerge, Jandhar und Belder bekamen alle Hände voll zu tun, sie zurückzuschlagen. Einer der Zwerge starb, als er von einer Zombielanze durchbohrt wurde, und a Fries trug eine häßliche Kopfwunde davon. Aber es gelang ihnen jedes Mal, in einer wahren Schlacht die Zombies, die bis in die Vorhalle eindrangen, niederzumachen. Es war ihr Glück, daß die Bestien nie in Gruppen von mehr als fünf oder sechs angriffen, dann war es wieder vorbei. Sie verrammelten die Tür aufs neue, nur um dann, zwei Stunden später, sich einem abermaligen Angriff ausgesetzt zu sehen. So ging es die ganze Nacht, und die Frauen und Kinder im Haus weinten. Als der Morgen anbrach, waren sie alle völlig erschöpft und hatten eine Menge Blessuren. Jandhar hatte sich als ein exzellenter Kämpfer erwiesen, Belder in Geschick und Beweglichkeit ebenbürtig, nur besaß er wegen seines jugendlichen Alters nicht dessen Kampferfahrung. Belder war unausgesprochen zum militärischen Befehlshaber geworden, und es gab keinerlei Dispute deswegen. Auch die stets scharfzüngige Renika ordnete sich ihm unter. Einer der Zwerge, er hieß Ingard, war ebenfalls ein fähiger Kämpfer, und seine blitzschnellen Angriffe, die er staturbedingt wie a Fries von unten ansetzte, erwiesen sich als die durchschlagskräftigsten von allen. Erholte jeden verdammten Zombie von den Füßen, und Belder oder Jandhar mußten ihnen dann nur noch mit wohlgezielten Hieben die Köpfe herunterhauen. Es war eine ekelhafte Arbeit, und der
Gestank in der Vorhalle von a Fries' Haus war atemberaubend. Aber dann, mit dem ersten Morgenlicht, kehrte zum Glück wieder Ruhe ein. Sie alle warteten auf Andrina und möglicherweise Nachrichten, was man gegen das Zombie- und DämonenInferno ausrichten konnte. Wäre das nicht gewesen, hätten sie vielleicht erwogen, heute am Tag aus Sykand zu fliehen. Irgendwo mußte es noch ein größeres Boot geben, mit dem man an der Küste entlang Neersand hätte erreichen können. Allerdings standen einem solchen Vorhaben die Leute von Sykand im Weg. Als eine andere Gruppe die Wache übernommen hatte, diesmal waren es die Bediensteten von a Fries' Sägewerk, ließ sich Belder zu Tode erschöpft auf das Bett in seinem Zimmer sinken. Gern hätte er jetzt Andrina da gehabt, und er hoffte, daß sie in Sicherheit war und ihr nichts geschehen war. Heute müßte sie im Laufe des Tages eigentlich zurückkommen.
15
Verstärkung
Andrina hatte geschlafen wie ein Engel. Als Sirah sie morgens aufweckte, wühlte sich sie aus den Kissen heraus und fühlte sich einfach großartig. Ihre Sachen waren inzwischen trocken, und sie zog sich wieder an. Sirah hatte ein Frühstück zubereitet, und Andrina sagte ihr, daß sie in den letzten drei Tagen besser gegessen hatte als in den letzten zehn Jahren zusammengenommen. „Ein bißchen Fleisch auf den Knochen kannst du dir ruhig noch zulegen, wenn du deinem Belder gefallen willst“, bemerkte Sirah gutmütig. Nun wieder dies. Andrina zuckte ein bißchen ratlos die Schultern. Vielleicht tat es Sirah leid, daß sie gestern abend eine so kalte Bemerkung über Belder losgelassen hatte. Als Andrina aus dem Fenster blickte, sah sie, daß der Dschinn wieder draußen stand. „Ist er zurückgekommen?“ fragte sie neugierig und deutete hinaus. „Ich habe ihn gebeten“, erklärte Sirah. „Er heißt jetzt Baldur!“ Andrina kicherte leise. „Baldur?“ Sirah hob die Achseln. „Das schien mir angemessen. Klingt doch wuchtig, oder?“ Sie grinste. „Wenn er damit zufrieden ist?“ Sirah nickte bekräftigend. „Ist er. Er ist schon seit vielen Jahren bei mir, und eigentlich bin ich froh, daß er jetzt einen Namen hat. Er stammt zwar aus den jenseitigen Welten, aber er ist ein gutartiger Geist. Ein verläßlicher Diener. Er hat mir schon so manchen unliebsamen Gast vom Leib gehalten.“ „Haha. Außer mir.“
Sirah lächelte. „Ja, außer dir. Aber paß auf, es kann sein, daß er wütend auf dich ist. Du hast ihn schließlich gedemütigt!“ Andrina peilte durch das Fenster. „Denkst du, er würde mir etwas tun?“ „Nein, natürlich nicht. Aber es kann sein, daß er dich mal ... nun ja, anmault. Oder dich zu ärgern versucht.“ „Wirklich? So viel Stolz in einem Geist?“ Sirah hob die Schultern. „So gesehen wurde es wirklich Zeit, daß er einen Namen bekam.“ Andrina nahm einen Schluck Tee und deutete dann auf das Buch, das aufgeschlagen auf der Fensterbank lag. Zusammen mit etlichen Stücken Pergament und einem großen Federkiel nebst Tintenfaß. Sie war neugierig. „Hast du etwas herausgefunden?“ Sirah schnaufte und nickte dann. „Ja, allerdings. Das gute alte Sykand hat sich da ein ziemliches Problem eingefangen. Es sieht schlimm aus.“ Andrina fühlte einen Schauer über ihren Rücken heraufgleiten. „Wirklich?“ Sirah nickte wieder und griff nach dem Buch. „Ja. Ich habe noch nicht alles übersetzen können. Aber das meiste.“ „Und was steht drin?“ „Nun, es handelt sich um eine Beschwörungsformel, wie du schon vermutet hast. Sogar um eine ziemlich komplizierte - für orkische Verhältnisse.“ „Und?“ „Ein Goldfresser. Ein Dämon, der von jeder Art von Gold angelockt wird. Es ist eine sehr komplizierte Verwebung. Ich wußte gar nicht, daß Ork-Schamanen solche schwierigen Dinge wirken können.“ „Ein Goldfresser!“ wiederholte Andrina.
„Genau. Einmal herbeibeschworen, fällt er Nacht für Nacht über alles in seiner Umgebung her, das irgendwie mit Gold zu tun hat. Alles und jeder, der ihm dabei im Weg steht, wird vernichtet. Durch einfache Berührung.“ „Und steht dann als Zombie wieder auf?“ „Offenbar. Ich habe zwar keine genaue Beschreibung dieses Phänomens finden können, aber es scheint in der Struktur der Magie zu liegen. Vielleicht war das gar nicht beabsichtigt, aber wie gesagt - Ork-Schamanen sind zwar mächtig, aber nicht sonderlich exakt. Mag sein, daß derjenige, der einst diese Formel ersann, das einfach in Kauf nahm. Oder daß er es nie entdeckte.“ „Und wo endet das Ganze? Ich meine ... frißt dieser Dämon dann irgendwann das Gold der ganzen Welt auf?“ Sirah schüttelte den Kopf. „Nein. Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute, daß er nur dann bewegungsfähig bleibt, wenn er ständigen Nachschub erhält. Findet er nichts mehr in einem Umkreis von sagen wir ein paar Meilen, bleibt er wahrscheinlich an Ort und Stelle. Und wartet, bis er wieder Gold spürt.“ „Du meinst, er würde irgendwann einfach ... einschlafen?“ „Einschlafen ist wohl nicht das richtige Wort. Er würde sich wahrscheinlich irgendwo auf die Lauer legen. Bis Nachschub kommt. Vielleicht löst er sich auch irgendwann wieder auf, wenn er kein Gold mehr finden kann. Ich weiß es nicht genau.“ „Wie lange würde das dauern?“ Sirah legte die Stirn in Falten. „Von einem Tag auf den anderen sicher nicht. Es könnte dauern.“ Andrina nickte nachdenklich. „Jemand muß dieses Buch absichtlich nach Sykand geholt haben. Sykand ist voller Gold. Allerdings...“ „Was?“
„Nun, wozu das Ganze? Das Gold ist dann doch weg? Oder nicht?“ Sirah schüttelte den Kopf. „Nein. Da ist noch etwas. Der Dämon versammelt sozusagen alles Gold in sich. Es gibt einen Schlüssel, eine Magie, mit der man ihn zuletzt stoppen kann. Soweit ich das begriffen habe, kann man ihn, wenn man diesen Gegenzauber anwendet, in eine Statue verwandeln. Eine Statue aus reinem Gold.“ Andrina stieß einen Pfiff aus. Sirah nickte. „Ich denke, die Größe der Statue hängt davon ab, wieviel Gold er bereits gefressen hat.“ Andrina fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, steckte eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Ihr fiel ein, daß sie sich wieder einen Pferdeschwanz binden mußte. „Damit bekommt das Ganze einen Sinn“, sagte sie. „Irgend jemand will ganz Sykand seines Goldes berauben. Und er geht dabei über Leichen. Über die Leichen einer ganzen Stadt.“ „Ja. Es sieht ganz so aus.“ „Und was haben die Orks damit zu tun?“ Sirah hob die Achseln. „Ich weiß es nicht. Vielleicht gar nichts. Nur das Buch stammt von ihnen - dieser Schamanenzauber.“ Andrina starrte nachdenklich ins Leere. „Was ist das für ein Schlüssel, von dem du sprachst? Dieser Gegenzauber? Steht er in dem Buch?“ Sirah blickte auf das Buch, das zwischen ihren Armen auf dem Tisch lag. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich bin noch nicht ganz durch. Aber soweit ich das beurteilen kann, muß der Gegenzauber in einem Artefakt liegen. Einem Ring, einem Fetisch oder Amulett. Ich kann es nicht genau sagen.“ Andrina holte Luft. „Wenn wir denjenigen finden, der dieses Ding hat, dann haben wir den, der den Dämon nach Sykand
holte!“ Sirah nickte. „Ja', genau. Damit könntest du deine Unschuld beweisen.“ Dann legte sie den Kopf schief. „Was meinst du mit... wir?“ Andrina wich ihrer Frage aus. „Ich ... ich muß zurück nach Sykand. Sie warten auf mich!“ Sirahs Gesichtsausdruck wurde streng. „Dein Belder wartet auf dich, mein Herz!“ stellte sie fest. „Oder noch besser: Du kannst es gar nicht erwarten, zu ihm zurückzukehren!“ „Nein, nein! Ich meine ... da ist die Hölle los, in Sykand! Nachts die Zombies und der Dämon und tagsüber die Leute ... sie warten, wirklich! Ich muß ihnen sagen, was du herausgefunden hast! So schnell es geht!“ „Aber ich bin ja mit dem Buch noch gar nicht fertig!“ Andrina lächelte verlegen. „Na ja, vielleicht könntest du mitkommen ...?“ Sirah hob abwehrend bei Hände. „Oh nein, meine Liebe - oh nein!“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Das vergiß mal ganz schnell! Ich soll mitkommen, um diesen Leuten zu helfen? Niemals! Sie haben mich damals davongejagt, weißt du? Sie haben sich von mir helfen lassen, als Heilerin war ich ihnen immer gut genug, aber wenn ich mir erlaubte, auch mal etwas von ihnen zu verlangen, dann ließen sie mich stehen. Eine Krankenstube für die ärmeren Leute, Heilkräuter oder einen kleinen Hort für ihre Kinder ...“ Andrina sah Sirah von unten herauf an, mit trübem Gesichtsausdruck und hängenden Schultern. Sirah schnaufte unwillig. „Sie haben sich dann einen anderen geholt. Einen Heiler aus Vallusa. Eine Menge Geld haben sie ihm gezahlt, sogar ein Haus gegeben. Aber für die Leute, die kein Geld hatten, wollten sie nichts tun! Verdammtes Pack!“ „Es ist ja nicht für sie, weißt du ...?“
Sirah winkte ab. „Ich weiß, was du willst!“ klagte sie. „Du glaubst, ich könnte diesen Dämon mit Magie besiegen!“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin keine große Zauberkundige, verstehst du? Bin es nie gewesen. Ich habe viel gelesen, sehr viel sogar. Und ich verstehe mich aufs Heilen und auf ein paar...“ „Aber der Dschinn? Der ist doch so stark ...?“ „Dafür kann ich nichts! Er ist, was er ist. Das hängt nicht mit meinen Zauberkräften zusammen.“ Andrina seufzte schwer und blickte zu Boden. Sie machte noch einen Versuch: „Aber es geht doch wirklich nicht um sie!“ sagte sie. „Nicht um die Leute von Sykand! Es geht um a Fries, Renika, Jandhar, die Leute in a Fries Haus, seine Frau...“ „Belder hast du vergessen, mein Herz!“ Sie ließ den Kopf hängen., Ja. Und um Belder.“ Sirah saß nur da, fixierte Andrina mit unmutigen Blicken. „Tut mir leid“, sagte sie dann. „Das ist ausgeschlossen. Nach Sykand gehe ich nie wieder!“ Andrina hob den Kopf. „Es gibt da noch etwas, was ich dir sagen muß“, erklärte sie. Sirah verschränkte die Arme vor der Brust. „So? Da bin ich aber gespannt!“ Andrinas Stimme wurde ganz leise. „Eigentlich ist alles meine Schuld ...“, begann sie. „Glaub bloß nicht, daß du mich umstimmen, kannst!“ drohte Sirah. „Ja, schon gut. Ich muß dir bloß noch was erklären ...“ Belder spähte aus dem Fenster. Die Rufer dort draußen hatten zur Zeit eine Pause eingelegt den Zwölfen sei Dank. Sie hatten sich auf ziemlich garstige
Rufe eingestimmt; über die Hexe, die sie steinigen wollten, über ihn, der mit ihr Dämonen zeugte, und über a Fries, den Verräter, den man ... ach, er mochte gar nicht mehr daran denken. Er fragte sich, wo all dieser Haß herkam. Im Moment gaben sie Ruhe, wohl aber nur, um wieder Luft zu holen. Renika und Jandhar standen im oberen Stockwerk an den Fenstern und hielten sie mit Pfeilen vom Haus fern. Gegen Zombies halfen Pfeile nichts, wohl aber gegen die Leute. Der einzige wirkliche Schwachpunkt am Haus war die Eingangstür, die heute nacht schon zwei Mal von den Zombies aufgebrochen worden war. A Fries und seine Freunde hatten sie nach Kräften wieder verrammelt, aber sie war weit davon entfernt, noch so solide zu sein wie am gestrigen Tag. Wenn sie nur mehr Pfeile hätten! Belder war immer noch hundemüde, mehr als drei Stunden Schlaf - und das nach dieser Nacht - hatten sie ihm nicht gegönnt. Schon am Vormittag waren sie wieder angerückt, natürlich mit Zappsteen, Threll und diesmal auch Jachoch an der Spitze, die sich offenbar neue Berufe zugelegt hatten. Sie hätten sich nun mit Fug und Recht auch als Hexenjäger bezeichnen dürfen. A Fries kam ins Eßzimmer. „Renika und Jandhar haben nur noch ein Dutzend Pfeile“, sagte er. „Ein Wunder, daß die da draußen noch nicht auf die Idee gekommen sind, uns zum Schießen zu provozieren. Sie müssen doch ahnen, daß ich hier kein Waffenlager unterhalte!“ „Die haben doch nur ihr Gold im Kopf, diese Irren“, knurrte Belder. „Ich glaube immer noch, daß sie es waren, die das Gold von der Dinia Tjerbus geholt haben. Wer hätte es sonst tun sollen?“ A Fries schüttelte den Kopf. „So mutig sind sie nicht. Sie hatten zu dem Zeitpunkt schon über ein Dutzend Leute auf dem
Schiff verloren!“ Belder schnaufte. „Was tun wir. wenn uns die Pfeile ausgehen?“ A Fries trat neben ihn und sah ebenfalls hinaus. „Weiß ich nicht. Wir müssen irgendwie bis heute nacht durchhalten. Und dann abhauen, wenn es dunkel geworden ist.“ „Ha? Bei den Zombiemassen? Und wohin? Zum Hafen?“ A Fries starrte ihn streng an. „Ich hab an die Dinia Tjerbus gedacht“, sagte er. Belder dachte kurz nach und nickte. „Gar keine schlechte Idee. Vielleicht schaffen wir es mit dem Kahn hinauf auf See.“ „Es würde schon reichen, wenn wir erst mal vom Pier wegkämen.“ Belder brummte. „Wäre ein bißchen wenig, meinst du nicht? Irgendwo müssen wir hin. Wir werden kaum für drei Wochen Proviant und Wasser mitschleppen können.“ „Wie lange dauert es bis Neersand? Das schafft man doch an einem Tag, oder?“ fragte a Fries. Belder nickte wieder. „Ja, wenn man Segel hat. Hast du das Schiff nicht gesehen? Da hängt alles in Fetzen. Außerdem ...“ „Was?“ „Na ja. Du hast ja gesehen, was gestern abend passiert ist. Wie schnell die Zombies kamen. Ich weiß nicht, ob wir es überhaupt bis zum Schiff schaffen können!“ „Wir haben gute Kämpfer unter uns. Hast du vielleicht einen anderen Vorschlag?“ Belder deutete in die andere Richtung. „Wir könnten es mit den Bergen versuchen.“ „Mit den Bergen?“ „Warum nicht. Da hinten ist freies Land ...“ A Fries nickte verstehend. „Du machst dir Sorgen um das
Mädchen. Willst nach ihr sehen, was?“ Belder starrte a Fries an, dann nickte er. „Ja, stimmt. Ich mach mir Sorgen.“ A Fries klopfte Belder mitfühlend gegen den Arm. „Verstehe ich. Aber bleib ruhig. Sie wird schon noch kommen, du wirst sehen. Bis zur alten Sirah ist es weit. Es wundert mich gar nicht, daß sie heute nacht nicht zurückkam, weißt du? Man kann nachts nicht so einfach durch die Berge stiefeln! Wenn du dich da verläufst, dann gute Nacht!“ Belder staunte über a Fries' Reaktion, .obwohl er natürlich auch erleichtert war. Er mußte sich ermahnen, endlich einmal den Gedanken abzulegen, daß Andrina etwas Minderwertiges war, auch wenn das für ihn selbst nicht galt. Er wußte, daß er sie mochte, ging aber nicht davon aus, daß auch jemand anders so denken könnte. Dabei hatte er es doch deutlich genug erlebt. Alle hier behandelten Andrina wie ihresgleichen. Es war für a Fries überhaupt kein Problem, daß Belder sich Sorgen um sie machte. Wahrscheinlich tat er das sogar selbst. Belder wandte sich ab und starrte wieder zum Fenster hinaus. Verdammt, sagte er sich, diese verfluchte Stadt hat schon zu sehr auf dich abgefärbt. „Abgesehen davon“, sagte a Fries, „hat deine Idee einen Haken.“ Belder sah ihn wieder an. „Die Berge da droben - das sind die Walberge. Du weißt selbst, was das heißt. Unerforschtes Gebiet. Und eine Menge Geschichten über ungutes Volk und üble Kreaturen, die sich dort herumtreiben. Niemand kennt einen Weg hindurch. Und dort oben, jenseits des Kammes, liegt vermutlich schon der erste Schnee.“ Er schüttelte den Kopf. „Das würde übel ausgehen, fürchte ich.“ Belder nickte. A Fries hatte recht. Die Dinia Tjerbus schien der einzig gangbare Weg zu sein. Im übrigen sah es insgesamt
sehr schlecht aus. Ihre Chancen, von der Meute umgebracht oder von den Zombies zerrissen zu werden, standen bestens. „Sieh mal“, sagte er und deutete hinaus. „Sie bauen einen Scheiterhaufen auf!“ A Fries fluchte. „Wenn sie ihn fertig haben, werden sie angreifen“, fügte Belder hinzu. A Fries trat wieder neben ihn, starrte hinaus und nickte finster. Dann warteten sie. Die Zwerge beschäftigten sich damit, die Eingangstür noch weiter zu verbarrikadieren, und die Frauen stellten überall Eimer und Krüge mit Wasser auf, damit sie löschen konnten, falls es den Leuten doch gelang, irgendwo Feuer zu legen. Renika und Jandhar beschäftigten sich damit, aus irgendwelchen Stöcken und Holzleisten Behelfspfeile zu basteln, aber das Ergebnis sah nicht sehr ermutigend aus. „Verdammt“, sagte Belder. „Ich hab keine Lust, hier abgestochen zu werden. Wenn bloß Andrina wiederkäme!“ Irgendwann erhob sich draußen wieder Lärm. Belder spähte hinaus und sah, daß sie den Scheiterhaufen fertig hatten. Es war Nachmittag. Noch ein paar Stunden bis zur Dunkelheit. Wenn Threll mit seiner Meute entschlossen angriff, dann würden sie in einer Stunde hier eingedrungen sein. Es waren inzwischen über hundert Leute dort draußen. „Jetzt wird es ernst“, sagte a Fries irgendwann. Gleich darauf ging es los. Etliche Männer dort draußen hatten sich aus einfachen Brettern Holzschilde gebaut, um die Pfeile abwehren zu können. Belder sah genau hin - und fluchte. Sie hatten sogar eine Ramme. Einen kurzen Baumstamm, den sie an Seilen trugen, um ihn schwingen zu können. Sie bildeten einen Trupp,
der aus sechs Mann bestand, die die Ramme trugen. Weitere vier deckten sie mit den Schilden, die sie klugerweise sehr groß gebaut hatten, nach oben hin ab. Belder wandte sich um, verließ das Eßzimmer und rannte die Treppe hinauf. „Renika!“ rief er, als er nach oben kam. „Ja?“ Renika hatte in seinem Schlafzimmer Stellung bezogen. Er deutete zum Fenster hinaus. „Wenn sie die kleine Treppe da am Garten heraufkommen, haben sie mit ihrem Baumstamm ganz gut was zu schleppen. Der sieht hübsch schwer aus. Wie viele Pfeile hast du noch?“ „Acht. Jandhar hat auch acht. Er ist drüben, im Kinderzimmer.“ „Gut. Schieß ganz von hier außen. Und zwar auf die Träger der Ramme, wenn du kannst. Wenn sie das Ding dort fallen lassen müssen, können wir sie vielleicht daran hindern, es später wieder aufzunehmen. Und es würde die Treppe blockieren, so daß sie mit einer neuen Ramme nicht dran vorbei kämen!“ Renika bedachte ihn mit zweifelnden Blicken. Belder wußte, daß seine Idee nicht gerade eine Wendung in der Schlacht herbeiführen würde. Aber vielleicht gewannen sie etwas Zeit. Jede Minute war kostbar. Er ließ sie stehen und lief zu Jandhar, um ihn das gleiche zu sagen. „Verdammt“, klagte Jandhar und zielte umständlich. „Wir sind beide Rechtshänder. Und einer von uns muß von hier aus durch das Gitter nach rechts schießen. Ich komme kaum herum!“ Belder sah, was er meinte. Er war selber Rechtshänder. Dann ließ Jandhar seinen Pfeil abgehen, und von draußen ertönte ein Schmerzensschrei. Belder sah hinaus. „He!“ rief er und klopfte Jandhar auf die Schulter. „Du
schaffst das ja doch!“ Dann hörte er plötzlich ein Sirren, und nur weil er gerade das rechte Ohr dem Fenster zuwandte, hörte er es früh genug, um schnell den Kopf einzuziehen. Jandhar bekam es zu spät mit. Ein Pfeil schoß herein und traf ihn mitten im Halsansatz. Gurgelnd sank er zusammen. „Jandhar!“ schrie Belder entsetzt und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Der riesige Thorwaler lag röchelnd am Boden, seine Glieder zuckten unkontrolliert. Und Renika hatte es auch gehört Sekunden später war sie da. Mit einem Aufschrei stürzte sie zu ihm. Belder vergaß für Momente das Atmen. Nein, das durfte nicht sein! Nicht Jandhar! Er hatte mit diesen ganzen verfluchten Scheiß-Sykand nichts zu schaffen, er war nur zu Besuch hier! Der Pfeil ragte seitlich aus seiner Halsbeuge, und er konnte kaum mehr atmen. Belder sprang auf und rannte hinaus. Mit drei Sätzen war er die Treppe hinunter, aber da hörte er schon den ersten Schlag der Ramme gegen die Tür. A Fries, drei weitere Zwerge und zwei der Sägewerksleute standen kampfbereit und mit gezückten Waffen in der Halle. „Wo ist Trine?“ rief Belder. „In der Küche! Was ist los?“ Belder wandte sich und rannte los. „Jandhar hat's erwischt!“ Als Belder die Küche erreichte, kam ihm die Zwergenfrau schon entgegen. „Los, Trine! Komm mit deinem Verbandszeug! Jandhar hat einen Pfeil im Hals!“ Trine wurde grau im Gesicht. Aber sie wandte sich sofort um, nahm einen Korb, in dem Tücher und Salben lagen, und eilte Belder hinterher. Als sie oben ankamen, hatte sich unter Jandhar schon eine
Blutlache gebildet. Er röchelte, und Renika kniete, in Tränen aufgelöst, über ihm. „Der Pfeil!“ jammerte sie. „Ich weiß nicht, wie wir den Pfeil da wegkriegen sollen! Er kann nicht atmen!“ Trine ließ sich eilig neben ihm nieder. Aber sie blieb nur knien, wußte nicht, was sie tun sollte. Belder kniete nun auch neben Jandhar. Die Pfeilspitze war ganz eingedrungen, und Belder wußte nicht, ob sie oval war oder Widerhaken besaß. Wenn letzteres der Fall war, konnte man sie nicht herausziehen, ohne Jandhars Hals zu zerfetzen. Belder sah, daß es schlimm um den Thorwaler stand. Dann krachte es unten in der Halle, und plötzlich war Geschrei zu hören. Er mußte runter. „Verflucht!“ brüllte er und sprang auf. „Ich werde jedem einzelnen von denen mit eigenen Händen das Herz rausreißen!“ Er stürmte hinaus, rannte die Treppe hinab und sah ein halbes Dutzend Leute, die gerade durch die Tür eindrangen. A Fries und seine Leute warfen sich ihnen entgegen. Belder stieß das fürchterlichste Kriegsgebrüll seit Jahren aus, sprang über das Treppengeländer in die Halle und war schon mitten im Kampf. Und er wütete wie ein Wahnsinniger. Bald schon merkte er, daß er gegen menschliche Gegner bei weitem nicht so wirkungsvolle Treffer anbringen mußte wie gegen Zombies. Jeder, den er verletzte, war sofort wesentlich geschwächt. Belder trieb die Eindringlinge fast allein zurück, sein Schwert blitzte durch die Luft, und die im Kampf ungeübten Sykander kamen gegen ihn nicht an. Sie zogen sich wieder nach draußen zurück. Dann mußten sie in Deckung gehen, als der Weg nach draußen frei wurde, denn eine Serie von Pfeilen prasselte herein. A Fries schrie auf, als ihn einer in den Oberschenkel traf, und einer der Menschen, Belder wußte bloß, das er Gernot hieß, wurde in die Brust getroffen und sank zusammen. Und
dann ertönte wildes Geschrei, und eine große Zahl von Leuten stürmte herein. Belder sah, daß es das Ende war. Es machte Sirah beinahe Spaß. Sie kniff ein Auge zusammen, wie um Maß zu nehmen, konzentrierte sich dann genauestens und hob die rechte Hand. Ihre Lippen formten leise den arkanen Wortlaut eines lange nicht mehr gebrauchten Zaubers, aber irgendwie wußte sie, daß er noch funktionieren würde - ganz besonders jetzt. Er hätte vom Dschinn - nein, von Baldur stammen können. Dann formte sich vor ihr ein seltsam milchiges Gebilde in der Luft, und sie lächelte. Das Ding verharrte für einen Moment vor ihr, und fasziniert betrachtete sie seine inneren Strukturen. Es war wie ein kleiner Wirbel von unendlich feinen Linien, ganz harmlos aussehend; eine Spirale, die sich immer weiter in sich selbst hineindrehte, und Sirah fragte sich verwundert nach einigen Augenblicken, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Dann aber war es endlich soweit. Das Ding schoß los, mit unheimlicher Wucht, und ihre Haare wehten auf, um dem Luftzug zu folgen, den das milchige Ding aufbrachte. Luftzug, dachte sie noch amüsiert. Nein, Luftzug war wohl nicht das richtige Wort. Es war ein Orkan, ein kleiner nur, auf einen bestimmten Bereich begrenzt, aber sicher nicht weniger heftig. Nein, sicher nicht. Er traf die Leute in den Rücken, und sie wurden wie von einer riesigen Faust gepackt und durch den Eingang hineingeweht. Sie hörte es krachen und bersten, und mit Sicherheit waren eine Menge brechender Knochen dabei, die diese Geräusche erzeugten. Sie war nicht unbedingt versessen darauf, jemanden zu töten, aber eine ordentliche Anzahl anständiger Knochenbrüche und eine Woche heftiges Schädelweh für jeden dieser Mistkerle, das wäre eine hübsche Rache. Ja, das wäre es!
Sekunden später erhob sich überraschtes Geschrei, und augenblicklich hob sie die Hand gegen den Rest der Leute, die links von ihr standen. Sie sah, daß Andrina schon auf das Haus zueilte und über einige stöhnende Gestalten im Eingang hinwegsprang. Sogleich entstand wieder einer dieser milchigen Wirbel vor ihrer Hand. Aber sie schaffte das kleine Kunststück, ihn zu stabilisieren, so daß er nicht von selber losstob. Sie ging davon aus, daß die Leute mitbekommen hatten, was hier geschehen war, und daß sie den Wirbel gut sehen konnten. Sie hob die Hand ein bißchen höher und peilte darunter hinweg. „Wollt ihr auch mal?“ rief sie herausfordernd. Ein langgezogenes Oooh lief durch die Menge, und Sirah behielt die Leute scharf im Auge. Sie hatte gesehen, daß Bogenschützen unter ihnen waren, und vielleicht war sie gezwungen, ihren Zauber zu entfesseln, um auf sie abgeschossene Pfeile davonzuwirbeln. Das aber würde den Leuten ziemlichen Verdruß einbringen. Und sie schienen es zu wissen. Niemand schoß auf sie. „Ah! Zappsteen!“ rief sie. „Kennst du mich noch, alter Geldsack? Es wundert mich nicht, dich hier zu finden! Und da neben dir, ist das nicht Threll, dieser Gierschlund? Wo habt ihr diesen ...“ Sie dachte nach, nur der Vorname fiel ihr noch ein. „... diesen Hippolyth gelassen? Wie hieß er doch gleich?“ Niemand antwortete ihr. „Ich will, daß ihr nach Hause geht!“ rief sie so laut, daß es jeder verstehen konnte. „Und zwar gleich. Ich kann dieses Ding hier nicht mehr lange halten!“ Die Menge wich zurück. Es waren mindestens fünfzig Leute. Sirah empfand ein heimliches Vergnügen über ihre spektakuläre Rückkehr nach Sykand. „Und laßt euch sagen, daß ein Verräter unter euch ist! Die braven Leute da in dem Haus haben mit dem Dämon nichts zu tun!“
„Lüge!“ schrie einer. „Jetzt haben sie noch eine Hexe mehr in ihrer Bande!“ „Nein, keine Lüge. Und das werden wir euch auch beweisen. Bald werden wir ihn haben, euren Verräter! Und nun ab nach Hause! Mein Arm fängt an, mir weh zu tun!“ Sie ließ ihn ein Stück sinken, und die Leute stöhnten auf. Verdammt hartnäckige Bande, dachte sie, als sich die Menge immer noch nicht zerstreute. Dann ließ sie den Zauber los. Er war noch kräftiger als der erste, zischte aber über die Köpfe der Leute hinweg. Kein einziger Hut blieb, wo er war, und einige Leute wurden von dem Sog emporgehoben und fielen hin. „Fort mit euch!“ schrie Sirah. Diesmal genügte es. Mit entsetztem Geschrei stob die Menge in alle Richtungen davon. Eine Minute später war der Platz vor dem Haus wie leergefegt. Nun ein seltsames Gebilde stand da noch, und Sirah trat zu ihm hin. „Ein Scheiterhaufen!“ stieß sie fassungslos hervor. Dann hörte sie einen Schrei und fuhr herum. „Sirah! Schnell!“ Es war Andrinas Stimme. „Du mußt helfen! Wir haben Verletzte!“
16
Schattenmann
„Du bist ein Glückskind, weißt du das?“ Belder hatte Andrina an sich gedrückt, ihre Füße baumelten ein paar Handbreit über dem Boden, und sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen. Ihre Augen leuchteten, und ihr Gesicht strahlte, als sie ihren Kopf von seiner Schulter hob und ihn ansah. „Du hast nicht anständig gekämpft!“ beklagte sie sich. „Wenn du jetzt noch Kraft hast, mich hochzuheben, dann hast du nicht anständig gekämpft, du Faulpelz.“ Belder grinste. „Wozu auch? Ich hab ja dich!“ A Fries kam die Treppe heruntergehumpelt. „Es geht ihm schlecht“, preßte er hervor. „Ziemlich schlecht.“ Belder fuhr ein Schauer über den Rücken. Jandhar. „Renika pustet ihm Luft in die Lugen, sein Hals ist...“ „Verdammt!“ Es war fast ein Schrei, den Belder ausstieß. „Ich hab ihn ganz vergessen!“ A Fries nickte und deutete hinauf. „Noch lebt er!“ sagte er, aber da stürmte Belder schon an ihm vorbei. Andrina folgte ihm. Kurz darauf waren sie oben. Jandhar lag noch an der gleichen Stelle, die Blutlache unter seinem Hals hatte sich vergrößert, aber seine Augen waren offen. Der Pfeil ragte seitlich aus seiner Halsbeuge auf. Renika kniete über ihm, das Gesicht vor Anstrengung gerötet, und holte Luft. Auf der anderen Seite knieten die alte Sirah und Trine. Jandhars Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig, ein Röcheln drang aus seinem Mund. Seine Augen waren weit aufgerissen, und der Pfeil ragte noch immer aus seinem Hals. „Puste weiter, Kindchen!“ sagte Sirah. „Du mußt ihn am
Leben halten. Sein Hals ist schon ganz zugeschwollen! Ich brauche noch ein paar Minuten!“ Belder und Andrina knieten sich auch noch hin. „Bei Rondra, hoffentlich schafft er es noch!“ stieß Belder hervor. Sirah schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Wir werden ihn nicht sterben lassen!“ Sie tastete vorsichtig seinen Hals ab, während Renika sich wieder über ihn beugte, ihren Mund auf den seinen legte und kräftig blies. Sie hob den Kopf und ächzte. „Ich schaff es fast nicht mehr“, keuchte sie. „Komm, ich löse dich mal ab“, sagte Andrina und erhob sich. Belder hielt sie fest. „Laß mich das machen. Ich hab größere Lungen und mehr Kraft als du.“ Andrina starrte ihn erstaunt an. Belder stand auf und ließ sich neben Jandhar nieder, wo Renika ihm Platz machte. Auch sie sah ihn erstaunt an. Belder holte Luft, hielt Jandhar die Nase zu, beugte sich über ihn und legte seinen Mund auf den des Thorwalers. Gleichmäßig und kräftig pumpte er Luft in ihn. Jandhars Brustkorb hob sich merklich. Belder kam wieder hoch und maß die beiden jungen Frauen mit strengen Blicken. „Glotzt nicht so! Ist nicht das erste Mal, daß ich das mache. Auf dem Schlachtfeld gibt es nun mal keine Frauen.“ Er pumpte Jandhars Lungen ein weiteres Mal auf, und die bläuliche Farbe im Gesicht des Thorwalers wich ein wenig. Renika stieß ein Seufzen der Erleichterung aus. „Gut so“, lobte Sirah Belder und maß ihn kurz mit Blicken. Offenbar auch kritisch. Sie sah kurz zu Andrina und wandte sich dann wieder Jandhars Hals zu. Der Pfeil steckte zum Glück nicht genau in der Mitte, sondern etwas rechts, am
Halsansatz. „Der Pfeil hat Widerhaken“, sagte sie mit ernstem Gesichtsausdruck. „Es hilft nichts - wir müssen ihn durchstoßen! Mit Glück kommen wir aber an der Schlagader vorbei.“ Nun stieß Renika ein Stöhnen aus. Dann erschien a Fries wieder. „Hier ist die Zange“, sagte er. „Mach du das, du bist Handwerker!“ befahl Sirah. „Ein kurzer, glatter Schnitt. Ungefähr hier!“ A Fries nickte und kniete sich hin. „Und möglichst, ohne den Pfeil tiefer zu stoßen, ja?“ „Schon gut, schon gut. Ich bin ja nicht blöd!“ Dann setzte a Fries seine Zange an, spreizte kurz die Finger und zwickte dann den Pfeil -Knack!- an der entsprechenden Stelle ab. Jandhar krächzte, aber es hatte offenbar gut geklappt. Belder gab ihm daraufhin gleich wieder Luftnachschub. „Machen wir's sofort“, sagte Sirah. „Es bringt nichts, länger zu warten.“ Sie nickte, stellvertretend für alle. „Du, Mädchen“, sagte sie zu Renika und deutete neben Belder. „Und du auch, Andrina. Dorthin. Du hältst seinen Kopf, und du hebst seine Schulter ein wenig. Wir brauchen Platz, hinter seinem Hals, wenn der Pfeil kommt!“ Andrina und Renika folgten befangen den Anweisungen. „Er wird wahrscheinlich bewußtlos werden, Belder“, sagte Sirah. „Dann ist es an dir, verstanden?“ Sie hat einen ziemlichen Befehlston, dachte Belder, aber das ist gut so. Zaudern war jetzt keine Lösung mehr. Die Mädchen hoben Jandhar seitlich an, und er stöhnte. Belder pustete ihm noch zweimal kräftig die Lungen auf, dann begann Sirah. Sie mußte ein wenig stochern, um den Pfeil
drehen und an der Schlagader vorbei richten zu können. Renika und Andrina wurden grün im Gesicht. Dann schob Sirah den Pfeilstumpf stetig voran, gnadenlos, ohne nachzulassen, obwohl Jandhar ganz jämmerlich stöhnte und krächzte. Er hob seine Arme, und Belder reagierte schnell genug - er hielt Jandhar mit aller Kraft fest. Der Thorwaler besaß Muskeln, mit denen er sie alle hätte zurückwerfen können. Als sich der Pfeil schräg hinten aus seinem Hals bohrte, verlor Jandhar das Bewußtsein. Nun tat Belder was er konnte. Er mußte den jungen Krieger so lange aufpumpen, bis er selber wieder zu atmen begann. Dann hatte Sirah den Pfeil heraus und hielt gleich die blutende Wunde zu. „Los jetzt!“ rief sie. „Einen sauberen Verband! Kühlt ihm mit kaltem Wasser die andere Halsseite!“ Eine Viertelstunde kämpften sie noch um Jandhars Leben, dann schlug er die Augen wieder auf und begann rasselnd zu atmen. Renika liefen Tränen die Wangen herab. Sie seufzten alle erleichtert und gratulierten sich. Nun war das Wichtigste getan. Nach einer Weile hatten sie Jandhar etwas weicher gebettet, und nachdem der Verband ein paar Mal gewechselt war, versiegte auch die Blutung. Er war schwach, aber er lebte. Belder und Andrina gingen in die Küche, wo die gute Trine bereits wieder Tee gekocht hatte. A Fries saß mit verbundenem Oberschenkel da, sein Gesicht allerdings zeigte keine große Erleichterung. „Gernot ist tot“, sagte er. „Erst Hendrikk und dann Gernot. Verfluchte Drecksbande!“ „Vielleicht werden wir alle zur Rechenschaft ziehen können, die dafür verantwortlich sind!“ sagte Andrina hoffnungsvoll. „Sirah hat das Buch entziffert. Es ist ein Orkbuch, von einem Schamanen. Der Dämon ist ein Goldfresser!“ „Ein ... Goldfresser?“ Andrina erzählte Belder und a Fries alles, was sie wußte. Ein
paar andere kamen herein und hörten ebenfalls zu. „Wir müssen dieses Buch zurück auf das Schiff bringen und es dort wieder hinlegen!“ sagte sie aufgeregt. „Sirah hat herausgefunden, daß dieses Artefakt allein nicht genügt, um den Dämon erstarren zu lassen. Der Verräter, den es hier in der Stadt gibt, braucht außerdem eine Formel, um seinen Gegenzauber auszusprechen und an das Gold zu gelangen Und diese Formel steht in dem Buch . Er wird versuchen, es sich von der Dinia Tjerbus zu holen. Wenn wir es wieder hinbringen und dort auf ihn warten, können wir ihn stellen und herausfinden, wer es ist!“ „Und dann können wir auch den Dämon wieder verschwinden lassen? Und die Zombies?“ fragte a Fries. Andrina nickte eindringlich. „Ja, ganz sicher. Man braucht dazu das Buch und das Artefakt. Und dieses Artefakt - das muß der Verräter haben!“ Die Männer sahen sich an. „Klingt wie eine gangbare Lösung“, meinte a Fries. „Wir sollten es versuchen. Als letzten Ausweg, bevor wir die Stadt verlassen müssen.“ Diesmal waren Ongluk und Gruulf nicht so früh gekommen. Obwohl es für Ongluk nichts änderte. Ob er nun hier wartete oder woanders - es war nur ein endloses Warten, und es gab kaum etwas, was er mehr haßte, als zu warten. Die Praiosscheibe ging gerade unter, und die alten Mauern der Ruine warfen einen langen Schatten über die Hügelkuppe, der langsam mit der hereinbrechenden Dunkelheit verschmolz. Ongluk wollte nun darauf drängen, daß es endgültig losging; wollte wissen, wann er mit seinen Leuten endlich zuschlagen konnte. Er stand da, trat von einem Bein aufs andere und maß immer wieder mit Seitenblicken den stoisch ruhig dastehenden Gruulf,
der wahrscheinlich noch bei der nächsten Toten und Wiedergeborenen Mada so dastehen würde, wenn man ihn nicht kräftig in den Hintern trat. Ongluk stieß ein unmutiges Grunzen aus. Es verging noch eine Weile, dann erschien endlich, wie verabredet, der Mann. Wie schon zuvor kam er in seiner weiten Kutte mit der Kapuze den Hang herauf und trat dann ruhig vor die beiden Orks. „Wann Kampf?“ brummte Ongluk. „Morgen!“ sagte der Mann mit ungewohnter Festigkeit. „Morgen abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Ich habe alles vorbereitet. Zu dieser Zeit werden sich viele Leute im Norden der Stadt befinden, und sie werden glauben, daß die Gefahr vorüber ist.“ „Uund?“ Der Mann nickte. „Dann werden die Zombies kommen. Die Leute werden überrascht sein, und es wird einen Kampf geben. Ich gebe dir ein Zeichen, wann du dich mit deinen Leuten auf den Weg machen mußt. Ein Feuer. Entweder hier oben auf dem Hügel oder an irgendeiner anderen Stelle an der Küste, wo ihr es sehen könnt. Macht euch auf den Weg, wenn ihr das Feuer seht, nicht früher! Wenn ihr Sykand dann erreicht, werdet ihr ein leichtes Spiel haben. Die Leute werden mit den Zombies beschäftigt sein, und ihr könnt in die Stadt eindringen. Und dann ... kannst du Schluß machen mit ihnen.“ „Zzombies!“ knurrte Ongluk. „Orks nix käämpfen Zombies!“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Ich werde sie dann zurückrufen. Das muß ich ja, haha. Sonst kommen wir nicht an das Gold!“ „Ich halb, du halb!“ Wieder nickte der Mann. „Ja, so war es abgemacht. Ich muß
jetzt weg, habe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Vergiß nicht: Achtet morgen abend auf das Feuer! Kommt erst, wenn ihr das Feuer seht, und nicht früher! Sonst geht alles schief. Wenn alles klappt, werde ich es entzünden, wenn die Praiosscheibe den Horizont berührt!“ Der Ork brummte eine Bestätigung, dann wandte er sich um, wollte diesmal derjenige sein, der den Platz zuerst verließ. Der Mann in der Kutte blickte ihm und seinem Begleiter hinterher, bis die beiden in der beginnenden Nacht verschwunden waren. Dann wandte auch er sich um und schritt den Hügel hinab. Für den Rest des Nachmittags erholten sie sich, und als der Abend anbrach, gingen sie los - Belder, Andrina und Sirah. Man war zu der Auffassung gelangt, daß diese drei die schlagkräftigste Truppe darstellten. Sie waren am wenigsten verletzt und sollten gute Aussichten haben, den Verräter, wer immer es auch war, stellen zu können. Niemand hatte ausgesprochen, daß sie schon gehöriges Glück haben mußten, damit er ausgerechnet in dieser Nacht auf die Dinia Tjerbus kam. Vielleicht war er bereits gestern dagewesen und hatte nichts gefunden. Oder er würde erst morgen kommen. Jeder Tag und jede Nacht, die verstrich, ließ die Sache gefährlicher werden. Aber ihnen blieb kaum etwas anderes übrig. Eine Flucht in die Berge war so gut wie selbstmörderisch, das bekräftigte auch Sirah. Sie kannte die Region dort oben gut, und nicht weit jenseits ihres Hauses begann eine völlig unerforschte Wildnis, deren Hauptmerkmale steile Felswände, bodenlose Schluchten, Schnee, Eis und eine Menge unangenehmer Kreaturen waren. Es gab keinen bekannten Weg durch diese Gegend. Von den inzwischen siebzehn Leuten, die sie waren, würden sich mit Glück vielleicht die drei oder vier stärksten durchschlagen können - mit unbekanntem Ankunftsort. Der verwundete
Jandhar hatte keine Chance, ebensowenig a Fries mit seinem verletzten Oberschenkel, und die drei Kinder schon lange nicht. Das war einfach nicht hinnehmbar. Es war außerdem so gut wie unmöglich, für alle Leute ausreichend Proviant und Ausrüstung mit hinaufzuschleppen, ganz abgesehen davon, daß sie all das überhaupt nicht in ausreichendem Maß besaßen. Der Weg übers Wasser erschien aussichtsreicher. Aber auch da gab es schier unüberwindliche Schwierigkeiten. Eine Gruppe von siebzehn Leuten war weder tagsüber noch nachts ohne Verluste durch die Stadt zu bringen. Und sie waren kein Soldatentrupp, den man mit dem Wissen losschickte, daß einige auf der Strecke bleiben würden. Nein, es mußten alle durchkommen, besonders die Kinder. Und selbst wenn alle siebzehn es schafften, befänden sie sich auf einem möglicherweise seeuntüchtigen Schiff- ohne Proviant, ausreichende Waffen und nicht einmal mit brauchbaren Segeln. Dieses Abenteuer war nicht ebenso riskant wie der Weg über die Berge, aber dennoch auf keinen Fall aussichtsreich. Andrinas Einfall schien der erfolgversprechendste. Selbst wenn sie einen gewissen Glücksfaktor voraussetzen mußten. So gingen sie davon aus, daß sie möglicherweise in den kommenden drei Nächten auf die Dinia Tjerbus schleichen mußten. Wenn es ihnen gelang, jedes Mal unbehelligt dorthin und wieder zurückzukommen, dann mußten sie es nur noch schaffen, den Hauseingang so solide zu verbarrikadieren, daß er sowohl nachts den Zombies als auch tagsüber den Sykandern widerstand. Dann hatten sie eine Chance. Kaum war der Entschluß gefaßt, machten sich alle Leute mit handwerklichen Fähigkeiten im Haus daran, den Hauseingang zu verstärken. A Fries verteilte alles an Werkzeug, was er besaß, und das war zum Glück eine ganze Menge. Sie demontierten Holzvertäfelungen, zogen Nägel und trugen sogar im oberen Stockwerk eine kürzlich erst von a Fries
eingezogene Wand ab, um die Steine im Eingang aufschichten zu können. Sie achteten darauf, ein Schlupfloch zu lassen, das man jedoch möglichst leicht dichtmachen konnte. Hier zeigte sich, daß die anwesenden Handwerker ihr Fach verstanden. Renika nahm das Wagnis auf sich, durch die Röhre nach draußen zu kriechen, wie zuvor Andrina, und im Schutz der Dämmerung zu a Fries' Sägewerk zu schleichen, um dort so viele Nägel und dünne Rundleisten zu holen, wie sie tragen konnte. Sie machte den Weg dreimal, leerte ihre Fracht jeweils in die Röhre, und kehrte erst nach ihrer dritten Tour ins Haus zurück. Das Sägewerk war nicht weit, und die Zeit der Dämmerung war gut geeignet, da sich die meisten Leute dann schon wieder in ihren Häusern verbarrikadierten und die Zombies noch nicht ihr Unwesen trieben. Mit den Nägeln und allem Holz, das sie im Haus fanden, schafften sie es, den Eingang wirklich massiv zu verrammeln leider würde a Fries, sofern man dies alles überstand, sein Haus von Grund auf erneuem müssen. Es sah dort aus wie auf einer Baustelle. Aber das nahm er gern in Kauf. Die Frauen wollten die ganze Nacht über Pfeile basteln, und die schmalen Rundleisten, die Renika brachte, waren gut geeignet. Die Pfeile würden zwar keine metallenen Klingen haben, sondern nur zugespitzt sein, aber zur Not würde es gehen. Es sah so aus, als würden sie daraus viele Dutzend Pfeile herstellen können. Gerade, als Renika ihre dritte Tour vollendet hatte und ins Haus zurückkehrte, machten sich Belder, Andrina und Sirah auf den Weg. Andrina, die diesmal für Renika an der Röhre gestanden, und auf sie gewartet hatte, half der jungen Halbelfin, sich anzuziehen, umarmte sie noch einmal und berichtete ihr, daß Jandhar auf seinem Bett inzwischen schon wieder aufrecht sitzen konnte. Dann verabschiedete sie sich; Belder und Sirah warteten schon.
In der Dunkelheit der anbrechenden Nacht verließen sie das Haus. Normalerweise benötigte man für den Weg zum Hafen nur kurze Zeit, und sie beeilten sich. Selbst wenn sie von einzelnen Sykandern gesehen worden wären, hätte das nicht einmal sonderliche Schwierigkeiten bedeutet. Die Leute waren nur gefährlich, wenn sie als Mob auftraten, und das war um diese Tageszeit nicht mehr zu befürchten. Nur auf die Zombies mußten sie achten. Auf ihrem Weg trafen sie einzelne der Monstren an, aber die umgingen sie. Es waren zum Glück noch nicht viele. Aber es stand zu befürchten, daß ihre Zahl schon auf über sechzig angewachsen war - selbst abzüglich derer, die sie letzte Nacht und in den Nächten davor erledigt hatten. Wenn sie den Dämon nicht vernichten konnten, würde es bald nur noch Zombies in Sykand geben. Am Hafen angelangt, mußten sie sich ein Versteck suchen. Heute hatte niemand mehr Feuer in den Kohleschalen angezündet, aber es war immer noch nicht dunkel genug, als daß sie unbemerkt hätten an Bord gehen können. Der Verräter oder jemand, der ihm möglicherweise half, hätte sie vielleicht sehen können, wenn er selbst gerade irgendwo wartete und das Schiff beobachtete. Sie blieben noch eine gute halbe Stunde hinter einem Holzschuppen nahe am Wasser in Deckung, ehe sie es wagten, zum Schiff zu schleichen. Das Madamal war um diese Stunde noch nicht aufgegangen, und die Nacht war finster wie Tinte. Heute war das Wasser im Hafen etwas bewegter, und die Dinia Tjerbus neigte sich knarzend hin und her. Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht und schlichen, mit einer mitgebrachten Kerze bewaffnet, leise hinab in den Frachtraum. Sie zogen sich in den Gang zurück, der zu Andrinas ehemaligem Versteck führte, und legten sich dort auf
die Lauer. Die Kerze ließen sie brennen, wollten sie aber augenblicklich ausblasen, wenn sie irgendwas hörten. Nach einer Weile flüsterte Andrina: „Wir sollten uns aufteilen.“ „Aufteilen?“ „Ja. Wenn dieser... Verräter einen Funken Hirn im Kopf hat, ist er längst hiergewesen. Er braucht ja das Buch! Er wäre doch blöd, wenn er nicht sofort versuchen würde, es zu kriegen! Seit die Sache mit dem Dämon losging, ist dies die vierte Nacht! So lange würde er doch nicht warten, sein Buch zu holen, oder?“ „Worauf willst du hinaus, Andrina?“ fragte Belder streng. „In der ersten Nacht hat er sich vielleicht noch nicht hierher getraut. Und vorgestern haben wir es hier gefunden! Also kann er vorgestern nur noch nach uns hier gewesen sein. Aber das geht kaum - der Tag brach schon an, als wir hier waren. Also kam er gestern nacht. Und wo hat er es gesucht? Hier im Frachtraum ...“ „Oder in der Kapitänskajüte!“ sagte Belder. „Ja genau! Die hab ich auch außer acht gelassen, als ich das erste Mal hier war!“ Andrina nickte. „Vielleicht hat er auch nicht daran gedacht. Es könnte sein, daß er diesmal zurückkommt, weil er oben nachsehen will! Versteht ihr? Er könnte uns durch die Lappen gehen, weil er vielleicht gar nicht mehr hier herunterkommt!“ Belder nickte nachdenklich. „Ja, das stimmt.“ „Es ist nicht ungefährlich“, meinte Sirah, „wenn wir uns aufteilen! Sollen wir das wirklich tun?“ „Bleibt ihr zwei hier unten!“ sagte Belder. „Ich gehe rauf. Da höre ich auch, wenn jemand kommt, und kann ihm folgen, wenn er hier heruntergehen sollte! Und Licht brauche ich auch nicht. Oben in der Kapitänskajüte wird es große Fenster nach hinten raus geben. Das ist ja immer so. Da kann ich auch die
Mole beobachten.“ „Soll ich nicht mitkommen?“ fragte Andrina. „Nein, bleib hier bei Sirah. Das ist sicherer. Ich komme schon zurecht.“ Damit erhob er sich und schlich davon. Andrina sank seufzend zurück. Nach einer Weile flüsterte Sirah: „Du hattest gehofft, daß wir uns anders aufteilen würden, was? Er mit dir und dafür ich allein.“ Andrina nickte. „Ich bin ein offenes Buch für dich.“ Sirah lächelte zurück. „Tja, so eine ganze Nacht mit ihm ... wer weiß, wie lange wir warten müssen.“ Dann verzog sie leicht das Gesicht. „Aber vielleicht ist es besser so. Ihr hättet nur angefangen, euch zu küssen, und wärt vielleicht von dem Verräter überrascht worden ...!“ Andrina schnaufte. Selbst bei dem schwachen Kerzenlicht konnte man ihrem Gesicht ansehen, daß sie darauf gar nicht erst zu hoffen wagte. Auf das Küssen. „Du bist eifersüchtig!“ stellte Sirah fest. „Eifersüchtig?“ „Aber ja!“ Sirah hatte ein listiges Gesicht aufgesetzt wie eine kleine Schulgöre. „Er hat Jandhar geküßt!“ Andrina mußte fast laut loslachen. Sie schlug die Hand vors Gesicht. „Ein schwerer Fall von Verliebtheit“, stellte Sirah dann mit ernstem, heilerhaftem Kopfnicken fest. „Endstadium. Keine Hoffnung mehr.“ Andrina mußte wieder kichern. Dann fragte sie: „Wie findest du ihn?“ Sirah spitzte gutmütig die Lippen. „Ein großer, starker Junge. Etwas unerfahren mit dem weiblichen Geschlecht, würde ich sagen.“
„Ein ... Junge?“ ächzte Andrina. „Und unerfahren?“ „Er dürfte kaum älter sein als du. Nicht mal dreißig. Wie alt bist denn du?“ „Zweiundzwanzig ... glaube ich.“ „Na siehst du. Du mußt ihm nur mal ein bißchen ... Feuer machen, verstehst du? Trau dich was. Er war lange bei der Armee, nicht? Da wird er nicht viel Erfahrung mit Frauen gesammelt haben.“ Andrina starrte Sirah unschlüssig an. Sie hätte eher gedacht, daß man als Soldat viele Erfahrungen mit Frauen sammelte. Sie stellte sich die Soldaten vor, wie sie jeden Abend in einer anderen Kneipe becherten, weit herumkamen, daß viele Frauen einen gestandenen Kämpfer zum Mann haben wollten solcherlei Dinge eben. „Er ist auch nur ein Mann, weißt du? Und du bist ein hübsches Kind. Das war doch gelacht, wenn du ihn nicht... na ja, du weißt schon.“ Andrina hätte Sirah umarmen können. Sie machte ihr Mut. Jedenfalls dieses Mal. „Ich wünschte, ich ...“ Plötzlich hörten sie etwas. Sirah blies sofort die Kerze aus. Mit pochenden Herzen warteten sie in der Dunkelheit. „Ob das Belder ist?“ flüsterte Andrina so leise sie konnte. „Belder hat kein Licht!“ gab Sirah zurück und deutete zum rechten der beiden Niedergänge, wo sich langsam ein Lichtschein erhob. Ein entsetzlicher Schreck durchzuckte Andrina. Sie waren zwar vorgestern dem Dämon hier unten nicht begegnet, das hieß aber nicht, daß er niemals hierher kommen würde! Für Momente wagte sie nicht zu atmen, dann aber entspannte sie sich wieder ein wenig. Nein, das war nicht das goldene Licht des Dämons. Leise und geräuschlos zog sie ihr Schwert. „Bist du bereit?“
flüsterte sie. „Das muß er sein!“ Sirah erwiderte nichts, aber an einem leisen Rascheln in der Dunkelheit glaubte Andrina abmessen zu können, daß sie genickt hatte. Dann erschien eine Gestalt oben auf der Rampe, direkt oberhalb des Niedergangs. Sie trug eine Laterne an einem Henkel, aber man konnte nicht erkennen, wer es war. Die Gestalt war in einen weiten Umhang mit Kapuze gewandet, zweifellos, um sich zu verhüllen. Dann kam die Gestalt herunter. Es mußte ein Mann sein, normal groß, normal schwer. Andrina strich im Geiste alle kleinen, dicken, langen und weiblichen Personen weg, die in Frage gekommen wären. Es blieben eine Menge übrig - und sie kannte ja nicht mal alle. „Könnte von Thralbeg sein“, flüsterte Sirah kaum hörbar. „Dieser verfluchte Hund!“ „Von Thralbeg?“ Andrina starrte zu dem Mann hinüber, der rückwärts den Niedergang herabgestiegen war und nun die Laterne in die Höhe hielt. Er befand sich etwa zwölf Schritt entfernt von ihnen. Der Erste war ihr als möglicher Verräter gar nicht in den Sinn gekommen. Sie hätte eher auf Jachoch, Threll oder Zappsteen getippt. Allerdings kam fast jeder in Sykand in Frage. Jeder, der reich oder noch reicher werden wollte. Und das wollten sie alle. Andrina spürte eine leise Wut in sich hochkommen. Sie würden es gleich wissen. Der Mann hob seine Laterne höher, aber außer seiner Hand, die die Laterne hielt, war kein Stück Haut von ihm zu sehen. Dann begann er zu suchen. Er ging umher, schob Dinge mit dem Fuß davon und blieb stehen, als er die verkohlte'. Leiche sah, offenbar erschrocken. Ein leichtes Zittern lief durch seinen Körper. Gleich darauf aber beugte er sich nieder und begann die Leiche zu durchsuchen. Mit einem plötzlichen Schwung erhob sich Sirah und trat aus
ihrem Versteck hervor. „Suchst du vielleicht das hier?“ fragte sie scharf und hielt das Buch hoch. Der Mann schoß in die Höhe. Sirah trat auf ihn zu. „Runter mit der Kapuze!“ befahl sie. „Jetzt haben wir dich, du verdammter ...“ In diesem Moment zuckte der andere Arm der Gestalt hervor, und lauter Knall ertönte, im nächsten Augenblick von einem blendenden Blitz gefolgt. Andrina, die Sirah gefolgt war, krümmte sich zusammen. Für Augenblicke sah sie nur heiße, grelle Flecken, und ihre Ohren pfiffen nur so. Dann wehte ein ätzender Gestank über sie hinweg, und sie mußte gräßlich würgen, fiel auf die Knie und kämpfte um ihre Besinnung. Es verrannen wertvolle Sekunden. Sie kämpfte sich in die Höhe, tappte fast blind umher und stürzte im nächsten Moment über Sirah, die ebenfalls zu Boden gegangen war und hustend und keuchend versucht hatte, sich aufzurichten. Dann hörte Andrina ein heftiges Poltern, einen lauten Krach und einen Schrei. Endlich war sie wieder so weit bei sich, daß sie sich mühevoll orientieren konnte, aber es war wieder fast vollständig dunkel. Nein, dort oben, jenseits des Zugangs zum Frachtraum, war ein Licht. Sie schnappte sich ihr Schwert und rannte zum Niedergang. Zwei Sekunden später war sie oben, stürmte durch die Gangöffnung, wandte sich nach links - und wäre beinahe über Belder gefallen. Belder lag am Boden, keuchte und würgte, und unweit von ihm lag die Laterne auf den Holzplanken. Es stank bestialisch, und von dem geheimnisvollen Fremden war nichts zu sehen. „Verdammt!“ schrie sie. Belder kämpfte sich hoch. „Was... was ist passiert?“ Andrina hatte Tränen der Wut in den Augen. „Wir haben es versaut! Es darf nicht wahr sein! Wir haben es versaut!“ Voller
Zorn stampfte sie mit dem Fuß auf und warf ihr Schwert zu Boden. Belder rieb sich die Augen, stöhnte und wandte sich um. Unten im Frachtraum erhob sich gerade Sirah. „Das Buch! Er hat das Buch!“ rief sie. „Ich bin eine dämliche alte Ziege!“ knirschte Sirah. „Alt geworden und nichts dazugelernt! Hab mich unbesiegbar gefühlt, nachdem ich heute nachmittag diesen Pöbel verjagt habe!“ „Nun beruhige dich wieder!“ sagte Belder milde. „Es ist nun mal passiert. Es hilft nichts, wenn du dich selbst zermürbst.“ Sie hielten sich in der Kapitänskajüte auf, hatten die Dinia Tjerbus nicht verlassen können. Es war stockfinster im Hafen, aber sie konnten all die Zombies hören, die dort umhertappten. Wollten sie mit der Laterne nach dort draußen gehen, hätten sie im Nu zwanzig von ihnen auf dem Hals gehabt, und gingen sie in der Dunkelheit, waren sie ihnen ebenso ausgeliefert. Gut möglich, daß sie gar nicht in a Fries' Haus hineinkamen, selbst wenn es geschafft hätten, bis dort hin zu gelangen. A Fries konnte die Tür gar nicht öffnen - letzte Nacht hatten die verfluchten Zombies das Haus geradezu belagert. Heute nacht würde es ebenso sein. „Ich bin ihm gegenübergetreten wie eine Anfängerin“, begann Sirah nun wieder. „Hätte mir doch denken können, daß er irgendwas dabei hatte, um sich verteidigen zu können!“ „Was war das eigentlich?“ fragte Andrina leise. „Irgendein Pulver, was weiß ich. Alchimie. Es hat jedenfalls genügt. Und sogar das Buch habe ich mir wegnehmen lassen!“ Sie klatschte sich wütend mit der Hand vor die Stirn. Andrina stand auf und ging zu ihr. Mitfühlend legte sie den Arm über ihren Rücken. „Nun laß es doch gut sein, Sirah“,
sagte sie sanft. „Wir haben alle schon was falsch gemacht. Mich könntest du gar nicht mehr überholen - so alt kannst du gar nicht werden!“ Sirah seufzte und warf Andrina einen mißmutigen Blick zu. Dann ließ sie sich auf einen geflochtenen Stuhl sinken, der nahebei stand. Andrina setzte sich wieder zu Belder. „Was tun wir jetzt?“ fragte er. „Es ist noch nicht spät. Wir werden die ganze Nacht hier warten müssen.“ Sirah erhob sich wieder. „Ich werde draußen Strafwache schieben“, sagte sie und nickte entschlossen. „Als Sühne für meine Dummheit. Ihr zwei legt euch hin und schlaft!“ „Nein, nein“, sagte Belder und erhob sich. „Kommt nicht in Frage. Ich ...“ Sirah trat auf ihn zu und schob ihn zurück. „Keine Widerrede“, sagte sie. „Ich bin nicht so müde wie ihr. Ihr habt tagelang gekämpft!“ Sie bugsierte Belder zur Kapitänskoje und schob ihn so weit, daß er sich zurücksinken lassen und auf die Kante setzen mußte. „Wenn ich müde werde, kann ich ja einen von euch holen!“ Sie blieb mit in die Hüfte gestemmten Fäusten so lange vor Belder stehen, bis der schließlich die Achseln zuckte, und sich dann hintenüber gegen ein paar Kissen fallen ließ. „Na gut“, sagte er. „Ein bißchen Schlaf täte vielleicht ganz gut.“ Sirah nickte, wandte sich um und verließ die Kajüte. Sie schloß leise die Tür hinter sich. Für eine Weile saßen sie schweigend da, Andrina auf dem kleinen Diwan, der in der Backbordwand stand und Belder auf der Koje, die nahe der hinteren Fenstergalerie stand. Das Ding war ziemlich schmal, und Andrina hegte keine Hoffnung, daß sie in dieser Nacht an seiner Seite schlafen konnte. Es herrschte nur schwaches Licht im Raum, Belder hatte die Laterne so weit heruntergedreht, wie es gerade ging. Die Stimmung war gedrückt.
Nach einer Weile richtete Belder sich auf. Sie konnte seinen Umriß gegen das schwache Licht sehen, das von außen durch die großen Fenster, die es in der Rückwand gab, hereindrang. „Andrina, ich möchte dich was fragen“, sagte er. „Ja?“ „Wie kommt es, daß du dir so sicher warst? Das ihr euch so sicher wart? Mit diesem ... Verräter. Und auch mit dem Buch, daß du hier so treffsicher vermutet hast - und das dann tatsächlich auch hier war. Es hätte doch alles mögliche sein können! Woher soll man schon wissen, woher ein Dämon stammt?“ Andrina schluckte. „Na ja, es lag doch auf der Hand, oder? Ich meine ... Dämonen müssen herbeibeschworen werden. Das ist nun mal so ...“ Belder deutete in Richtung der Tür. „Also - wenn sie das behauptet hätte, dann wäre es in Ordnung. Sie ist eine Zauberkundige. Aber du? Kannst du dir wirklich so sicher sein?“ „Aber es war doch tatsächlich hier, das Buch!“ erwiderte sie. „Was soll das beweisen? Daß du es deswegen hättest wissen können?“ Sie sah, wie er in der Dunkelheit den Kopf schüttelte. „Nein. Und dann noch die Sache mit dem Kerl heute! Daß es einen Verräter geben müsse und er hierher kommen würde, um das Buch zu holen!“ Andrina versuchte, sich zu verteidigen. „Ich ... ich wußte ja nicht, ob er wirklich heute kommen würde. Es war Zufall.“ „Das meine ich nicht. Es geht um den Verräter, den es ja nun tatsächlich zu geben scheint. Woher wußtest du das? Es hätte alles mögliche sein können. Ein Ole Jannek, der sich ein Buch besorgt hatte, ohne wirklich zu wissen, was dahintersteckte. Vielleicht glaubte er, das Gold damit vermehren zu können. Oder jemand von der Besatzung. Jannek wurde schließlich aufgeknüpft. Es gibt eine Unzahl von Möglichkeiten, was hätte
sein können. Aber die eine Möglichkeit, und zwar die, die der Wahrheit entspricht, hast du haargenau vorausgesehen. Wie kann das sein?“ Andrina fühlte sich lausig. „Ich weiß auch nicht. Ich ...“ „Andrina! Verschweigst du mir etwas?“ Plötzlich brach sie in Tränen aus. Der Druck war nicht mehr auszuhalten, aber sie wollte nicht, daß er dahinterkam, was in Wahrheit geschehen war. Er hätte sie für alle Zeiten gehaßt. Zusammengekrümmt saß sie da, vergoß bittere Tränen und schluchzte. Plötzlich war er bei ihr, nahm neben ihr Platz und legte ihr den Arm über die Schulter. Er war wie der gütige Vater, der seiner Tochter das Leben erleichtern wollte, in dem er sie mit sanftem Zwang dazu brachte, die Wahrheit zu beichten. Sie sah auf zu ihm, konnte in der Dunkelheit nur seine harten Gesichtszüge erkennen. Aus und vorbei, dachte sie. Sie wischte sich die Tränen fort und holte tief Luft. Ihre Stimme zitterte, als sie begann. „Ich ... habe das Buch besorgt“, sagte sie. „Ich habe es an Bord gebracht.“ „Du?“ Sie nickte. „Ja. Aber ich wußte nicht, was das für ein Buch war, ich schwöre es. Ich ... ich hatte nur einen Auftrag.“ Ihre Wangen brannten, fühlten sich wund an von den Tränen. „Ein Auftrag“, wiederholte er tonlos. Sie nickte voller Schuldbewußtsein. „Ich hatte nichts, weißt du? War immer nur herumgejagt worden. Ich hab dir die Wahrheit erzählt - über meine Vergangenheit. Daß ich von zu Hause verjagt wurde, bei Belzer war, bis er starb, und dann im Wald lebte ...“ „Und was hast du mir nicht erzählt?“ Die Treffsicherheit und die Härte seiner Vermutungen schnitten ihr wie Messer ins Fleisch. Sie spürte, wie ihre Augen wieder feucht wurden, und starrte dann in die Dunkelheit zu Boden. „Ich war eine Zeitlang in Neersand“, sagte sie dann. „In einer Hafenkneipe.“ Ihr Kopf fuhr hoch. „Nicht als Hure, versteh das nicht falsch, ich ...“
Er schüttelte den Kopf. „Ich hab nichts gegen Huren“, erwiderte er. Das verwirrte sie. Sie forschte in seinem Gesicht, konnte es aber kaum erkennen. „Ich war da so etwas wie ... ein Kuriosum.“ Er schüttelte leise den Kopf. „Ein Kuriosum?“ „Ja. Ich tanzte ein bißchen, machte blöde Witze, verführte die Männer zum Trinken ... solche Sachen halt. Seeleute sind da ziemlich ungeniert, weißt du? Sie machten sich nichts aus meinen roten Haaren. Fanden es lustig, verrückt, was weiß ich. Ins Bett wollte nie einer mit mir. Das war ihnen dann doch zuviel. Zum Glück.“ Sie hörte nur, wie er schnaufte. „Ich dachte mir nichts dabei, verstehst du? Ich hatte ja oft nicht mal was zum Essen ...“ Er hob die Hand. „Schon gut. Wie war das dann mit dem Buch?“ Sie suchte nach Worten. „Es ergab sich eines Tages. Einfach so. Da kam dieser Pjorek, der war schon öfter dagewesen ...“ „Der Steuermann der Dinia TjerbusT Sie nickte. „Ja. Ich kannte ihn. Eines Tages bot er mir etwas an. Ich sollte etwas für ihn erledigen.“ „Das Buch besorgen?“ ,Ja. Von einem Ork. Er gab mir eine Handvoll großer, blauer Edelsteine. Es waren genau zehn Stück. Die sollte ich dem Ork bringen. Er würde mir dafür das Buch geben.“ Belders Hand sank von ihrer Schulter. „Du bist zu einem Ork gegangen?“ Andrina wäre am liebsten gestorben. Sie wußte, daß Orks für Belder der niedrigste Abschaum waren. Er hatte jahrelang gegen sie gekämpft. Und sie hatte mit einem von ihnen ein Geschäft gemacht!
Nun wußte sie, daß es endgültig aus war zwischen ihnen. Er würde sie nicht mal mehr ansehen. Es war, als hätte sie gemeinsame Sache mit den Zombies und dem Dämon gemacht. „Was geschah dann?“ fragte er. Seine Stimme klang hart und gefühllos. Sie weinte wieder. Schluchzend erklärte sie: „Ich mußte weit fort von Neersand. Nach Nordwesten. Pjorek hatte mir eine Karte mitgegeben. Eine Woche bin ich marschiert.“ Ihre Energie und ihr Mut waren verbraucht. Sie gab sich gar keine Mühe mehr, ihre Tat noch rechtfertigen zu wollen. „Dann kam ich bei dem Ork an“, fuhr sie fort. „Es war ein Schamane, ein uralter häßlicher Kerl. Wir konnten uns nicht mal verständigen. Ich gab ihm die zehn Edelsteine, und er gab mir das Buch. Dann ging ich zurück nach Neersand.“ Belder sog Luft durch die Nase ein. Es war ein schreckliches Geräusch der Mißbilligung. Es wäre Andrina lieber gewesen, er hätte sie geschlagen. Aber dann beschloß sie, reinen Tisch zu machen. Es hatte keinen Zweck mehr, irgend etwas beschönigen zu wollen. Belder war nicht dumm, er würde sein Urteil fällen - sie konnte sich allenfalls noch helfen, wenn sie jetzt aufrichtig war. „Ich wußte, daß dieses Buch nichts Gutes beinhaltete“, erklärte sie und richtete sich auf. „Ich ahnte es. Pjorek hatte mir gesagt, daß ein ... Kunde es bestellt hätte. Und er hatte mir gutes Geld für meinen Dienst geboten. Ich wollte weg aus dieser dreckigen Kneipe, wollte mit dem Geld auf ein Schiff nach Süden, irgendwohin, wo ich einen neuen Anfang machen konnte. Also hab ich es getan.“ „Wie bist du auf die Dinia Tjerbus gekommen?“ „Pjorek ließ mir eine Nachricht überbringen. Er hatte sich einen Strafdienst eingefangen, konnte nicht an Land. Er ließ mir ausrichten, ich solle es bringen.“ „Es bringen?“
„Ja. Die Dinia Tjerbus lag draußen, eine Meile vor Neersand, auf Reede. Der Käpt'n wollte die Hafengebühr sparen, weil er nur vorhatte, Wasser und Proviant aufzunehmen. Also hab ich mir das Buch umgebunden und bin hingeschwommen.“ „Wirklich eine ganze Meile? Ziemlich mutig.“ Er schnaufte. „Ab da deckt sich ja deine Geschichte wieder mit dem, was du mir vorher erzählt hast.“ Sie blickte wieder auf, zu seinem dunklen Gesicht. Sie hätte ihm gern erklärt, daß sie ihn nie hatte anlügen wollen, daß sie immer darauf geachtet hatte, ihm nie die Unwahrheit zu sagen, daß sie nur ... ein paar Sachen weggelassen hatte. Sie seufzte. Eine idiotische Idee zu glauben, daß es deswegen keine Lüge gewesen wäre. „Ich bin eine gute Schwimmerin“, sagte sie statt dessen. „Aber ich konnte nicht mehr zurück. Der Wind frischte auf, und die See ging höher. Ich hab es kaum bis zur Dinia Tjerbus geschafft.“ „Und dort hast du Pjorek das Buch gegeben?“ „Ja. Er hat mich dann in dem Stauraum versteckt. Der Rest hat sich so zugetragen, wie ich es dir erzählt habe.“ „Bist du sicher? Genau so?“ Sie nickte. „Und dein Geld?“ Sie hob die Achseln. „Hab ich nie gekriegt. Bin auch froh drum. Heute würde ich es wegwerfen.“ Belder erhob sich langsam. Er begann im Raum hin und her zu marschieren, setzte sich dann auf seine Koje und starrte in die Dunkelheit. „Darf ich noch was sagen?“ fragte sie leise. „Natürlich“, sagte er seufzend. „Du hast kein Redeverbot.“
„Ich ... es tut mir leid. Wirklich. Ich hab die ganze Zeit versucht, es irgendwie wiedergutzumachen. So weit es mir möglich war.“ Sie sah ihn nicken, aber es war nur zu deutlich, daß er schrecklich enttäuscht von ihr war. Sie erhob sich. „Ich werde Sirah ablösen. Ich möchte jetzt lieber allein sein.“ Wieder nickte er. Dann ging sie hinaus.
17
Nacht über Sykand
Es mußte eine Stunde nach Mitternacht sein, als Sirah wieder herauskam und sie ablöste. Andrina hatte die ganze Zeit auf einem Faß neben der Reling gehockt, dort, wo die Planke auf die Pier führte. Es kam sogar einmal ein Zombie, aber sie versteckte sich hinter dem Faß, und die Kreatur tappte an der Planke vorbei. Einige Minuten später kam sie zurück und verschwand wieder in Richtung der Stadt. Das war der einzige Moment, in dem sie von ihren trüben Gedanken abgelenkt war. Sie hatte immer gehofft, daß Belder nicht hinter die Wahrheit kommen würde, aber jetzt war sie doch froh, daß es heraus war. Sie hatte einfach zuviel in ihrem Leben gelogen, und es war wie ein Stück wiedergewonnener Freiheit, wenn man die Last einer großen Lüge loswurde. Gut, sie hatte Belder nun als Freund verloren, aber das war immer noch besser, als mit ihm zusammen zu sein und immer dieses dunkle, häßliche Gefühl einer Lüge über sich schweben zu haben. Ein paar Mal weinte sie, aber letztlich siegte doch dieses Gefühl der Befreiung. Es machte ihr Mut. Sie wußte es nicht, aber sie hoffte, sie hätte es ihm eines Tages auch von sich aus erzählt - wenn er nicht jetzt von selbst darauf gekommen wäre. Hätte sie das wirklich getan? Nun hatte sie es schmerzlich gelernt, und ab heute würde sie sicher nie wieder jemanden betrügen, der ihr wichtig war. Und nach Möglichkeit auch niemanden sonst. Es war kalt hier draußen, und sie zog sich ihre Weste enger um den Leib. Mehr als diese Weste von Renika hatte sie nicht. Ja, Renika würde sie es auch erzählen, das war sie ihr schuldig. Sie würde es allen erzählen, gleich wenn sie morgen früh in a Fries' Haus zurückkam. Sie hatte nicht mehr die geringste Lust, mit dieser beschissenen Lüge weiterzuleben. Dann kam Sirah
wieder, und Andrina wunderte sich, daß es nicht Belder war, der die dritte Wache übernehmen wollte. Sirah schickte sie nur wortlos hinein, und Andrina schwante Schlimmes. Belder wollte sicher mit ihr reden. Na gut, sagte sie sich. Nicht so schnell aufgeben. Sie hatte sich diese Suppe eingebrockt, und jetzt war es nur recht, daß sie sie auch wieder auslöffeln mußte. Das würde sie auch noch überstehen. Danach konnte sie vielleicht wieder ein bißchen besser schlafen. Als sie in die Kajüte kam, saß Belder wieder auf der Bettkante. Er klopfte neben sich auf die schmale Matratze und sagte: „Komm mal her zu mir.“ Genau das hatte er schon mal getan. Vorgestern abend, als er sie zur Rede stellte. Andrina gehorchte wieder und setzte sich neben ihn. „Sirah wußte Bescheid, was? Du hast ihr alles erzählt. Oben, in ihrer Hütte, als du bei ihr warst.“ Andrina schluckte. „Ja. Es tut mir leid. Ich ... ich hätte es dir auch sagen sollen, ich ...“ „Dann hast du ja gar nicht gelogen, oder?“ Sie zog die Stirn kraus. „Nicht gelogen?“ Belder holte Luft. „Sirah wußte es. Und sie hätte es uns gesagt - sie hätte gar nicht anders gekonnt. Also hattest du, ganz von selbst, die Wahrheit über diese Geschichte bereits erzählt.“ Ein leichtes Frösteln fuhr ihr über den Rücken. „Ist doch eigentlich egal, wem du es zuerst sagst“, meinte Belder und zuckte die Schultern. Andrina starrte ihn ungläubig an. Er zog die Beine an, drehte sich auf dem Hintern herum und streckte sich dann hinter ihr auf der Koje aus. Als er sie an der Schulter zu sich herabzog, wurde ihr fast schwindelig. Wenige Augenblicke später lag sie schon bei ihm, genau so wie in der
letzten Nacht, eng an ihn geschmiegt. Das Herz pochte ihr bis zum Hals; sie wagte nicht, sich zu rühren, als könnte sich dies als ein flüchtiger Traum erweisen, der bei der geringsten Bewegung zerplatzte. „Du ... du bist mir nicht böse?“ flüsterte sie vorsichtig. Er lachte leise auf. „Was denkst du, was ich alles auf dem Kerbholz habe! Wieviel Mist ich schon gebaut habe!“ Er blickte über seine Brust zu ihrem Gesicht. „Das glaubst du nicht? Dann frag mich was. Los, mach schon!“ Andrina war reichlich verwirrt. Sie fragte das erste, was ihr in den Sinn kam. Rein zufällig. „Warum ... warum warst du im Gefängnis?“ „Ha!“ lachte er auf. „Treffer. Mitten ins Schwarze. Weißt du es etwa schon?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wirklich nicht.“ Er kaute für Momente auf der Lippe. Inzwischen schien das Madamal durch die Fenster herein, und sie konnte sein Gesicht ganz gut erkennen. „Ich hab jemanden erschlagen.“ Andrina erschauerte. Sofort wußte sie, daß es nicht in der Art war, wie er einen Zombie erschlagen hatte oder einen der Leute, die sie verfolgt hatten, um sie zu töten. Aber sie sagte nichts, wollte es lieber gar nicht wissen. „Willst du nicht erfahren, wie es passiert ist?“ fragte er. „Na ja ...“, meinte sie unsicher. „Es war in der Weißen Möwe“, sagte er. „Der Kerl hieß Isham.“ „Isham?“ „Ja.“ Das Wort hatte er kurz und knapp ausgesprochen, wie beim Militär. „Ich hab mich alle paar Wochen mal in diesen Laden verirrt. Wollte meinen Kummer im Branntwein ersäufen.“
Sie zögerte. „Welchen Kummer?“ Er hob den Arm und fuchtelte mit der Hand in der Luft herum. „Na, den Kummer halt. Den man so hat, wenn man in Sykand lebt und weder reich noch beliebt ist. Jedenfalls gab es da immer welche, die mich wieder raus haben wollten aus ihrer Kneipe.“ Er nickte finster. „Ich schätze, ich bin weniger wegen des Branntweins dorthin gegangen, als wegen der Kerle. Eine Schlägerei war immer zu haben, weißt du?“ Sie schluckte. „Eine Schlägerei?“ Er schnaufte lang anhaltend. „Nicht daß du denkst, ich schlage mich gerne. Aber wenn du mal wieder ein paar Wochen lang all die kleinen Gemeinheiten dieser Leute hier einstecken mußtest, dann kochst du irgendwann über, verstehst du? Wenn dir der Krämer nichts verkauft, dir sagt, er hätte nicht mehr das, was du brauchst - dabei siehst du es hinter ihm im Regal liegen! Oder wenn der reiche Edelsteinschleifer sich plötzlich nicht mehr daran erinnern kann, daß er bei dir Steinplatten für seinen Gartenweg bestellt hat - und zwar besonders glatte, für die du dir eine Woche lang die größte Mühe gegeben hast, und sie ihm auch noch besonders günstig verkaufen wolltest. Solche Sachen eben. Dutzende.“ Sie nickte. So etwas kannte sie. Wenn jemand glaubt, Macht über einen anderen zu haben, und dabei weiß, daß der andere sich nicht wehren kann. Dann kamen solche Sachen heraus. Wenn sie bei solchen Gelegenheiten die Statur von Belder gehabt hätte, wäre ihr vielleicht auch einmal die Hand ausgerutscht. „Aber ich glaube nicht mal, wenn ich mich zurückerinnere, das ich an diesem Abend dort war, um mit irgendwem zu raufen. Ich wollte einfach nur was trinken.“ „Und dann kam dieser Isham“, folgerte Andrina. „Nicht nur der. Sondern noch andere. Gerrot war auch dabei. Und noch zwei, glaube ich. Ich war schon etwas betrunken.“
„Gerrot? Dieser Kerl, der ...?“ Belder nickte schwer. „Ja. Jetzt ist er tot. Wenn nicht er, dann wir.“ Andrina erinnerte sich noch gut an den Kampf von vorgestern abend, als a Fries ihr das Leben gerettet hatte. Und Belder natürlich auch. Dieser Gerrot war ein besonders widerlicher Kerl gewesen. „Wir sind dann raus, vor die Kneipe. Haben wir immer so gemacht.“ „Du gegen vier?“ ,Ja, meistens gegen drei oder vier. Sie waren mir nie gewachsen. Ich hab meistens auch ziemlich was abgekriegt, aber sie hatten zuletzt immer die blutigeren Nasen.“ „Und dieser Isham?“ „Tja, der hatte Pech. Wir haben uns geschlagen, wie immer. Ich fing nie an, es waren immer sie! Aber immer das gleiche Schauspiel.“ Er überlegte. „Nein, natürlich nicht immer. Manchmal ging ich freiwillig. Ich glaube sogar - meistens. Aber manchmal eben nicht. Da gab ich nicht nach. Un sie taten es sowieso nie. Und dann gab es draußen eine Keilerei. Hab keinen Grund, stolz darauf zu sein, nein. Und dieses eine Mal, da erwischte es eben Isham.“ Andrina drückte sich mitfühlend an ihn. Sie wußte, daß es ihm leid tat, daß er es hätte ungeschehen machen wollen, wenn es ihm irgendwie möglich gewesen wäre. Belder starrte zum Fenster hinaus. „Ich hab es nicht mal mitgekriegt. Irgendwann lagen wir alle auf dem Boden, hatten uns die Seelen aus dem Leib geprügelt. Ich stand nach einer Zeit auf und schleppte mich nach Hause. Am nächsten Morgen holten sie mich und warfen mich in den Kerker. Ich sollte auf den Provinzrichter warten. Der kommt nur alle paar Monate mal hierher.“
Andrina wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hatte das Bedürfnis, ihn zu trösten, ihm irgendwas Nettes zu sagen - aber sie war zu befangen. Noch wußte sie nicht, wieviel zwischen sie gekommen war; ob sie es sich erlauben durfte, ihm näher zu kommen, als sie es im Moment war. So tat sie nichts und blieb einfach ruhig liegen. „Ich schätze, ich mochte diesen Mistkerl sogar irgendwie“, sagte Belder versonnen. „Er war ein übler Schläger und voller Haß. Aber man konnte sich wenigstens auf seinen Haß verlassen. Er sagte es einem gerade ins Gesicht. Und kam einem nicht auf die widerliche Art wie dieser Krämer oder die anderen Leute.“ Wieder lagen sie eine Weile still und sagten nichts. Andrina lauschte nur auf sein Atmen und hörte auf den Herzschlag in seiner mächtigen Brust. Sie war unendlich froh, daß er sie nicht verstoßen hatte, hatte dabei aber das unangenehme Gefühl, daß sie es gar nicht verdient hatte. Sie hatte diesen Dämon nach Sykand eingeschleppt. Er erriet ihre Gedanken. „Du hast nichts Böses getan, Andrina“, sagte er. „Daß in diesem Buch so eine Gefahr steckte, konntest du nicht ahnen. Du hast auch nur versucht, dich irgendwie durchzuschlagen.“ Sie begann zu zittern, als er dies sagte. Hatte sie das verdient? Soviel Nachsicht? „Aber es gibt hier jemanden“, fuhr Belder fort, „irgendeinen miesen Dreckskerl, der die wahre Schuld trägt. Und den werden wir uns schnappen!“ Belder lag noch für einige Momente still, dann richtete er sich auf. „Schlaf noch ein bißchen. Ich werde Sirah ablösen gehen. Beim Morgengrauen wecke ich euch.“ Andrina sah ihm noch hinterher, bis er die Kajüte verlassen hatte. Kurz darauf kam Sirah herein und steuerte auf den
Diwan zu. Andrina zog die Decke unter sich hervor und brachte sie Sirah. Die alte Dame bedanke sich mich einem freundlichen Lächeln. Dann ging Andrina zurück, rollte sich in dem übriggebliebenen Laken ein und schloß die Augen. Ein seltsamer Gedankenstillstand hatte Besitz von ihr ergriffen. Dinge waren mit ihr geschehen, die völlig außerhalb ihrer Kontrolle lagen, und wiewohl sie glaubte, unfaßbares Glück gehabt zu haben, war ihr das alles fast schon ein wenig unheimlich. Irgendwann, nach langer Zeit, schlief sie ein wenig ein; und sie schlief nur schlecht und wachte häufig auf. In den Fetzen ihrer Träume, die sich wie eine Plage aneinanderreihten, war sie immer auf der Flucht. Manchmal sah sie Belder, wollte sich an ihm festhalten, und manchmal gelang es ihr auch für kurze Zeit, aber dann war er wieder weg, und die Hetzerei begann aufs neue. Der zerrissene Schlaf mit diesen häßlichen Traumfragmenten erschöpfte sie mehr, als daß sie Erholung darin hätte finden können. Es war noch fast dunkel, als Sirah sie an der Schulter rüttelte. „Komm, Kindchen. Wir müssen los. Ich brauche ein richtiges Bett. Ich habe kein Auge zutun können.“ Andrina stöhnte. Als sie Belder ansah, der auch hereingekommen war, wurde ihr klar, daß er überhaupt nicht geschlafen hatte. In dieser Nacht waren sie zwar nicht überfallen worden, aber es wurde Zeit, daß er sich mal wieder richtig ausruhen konnte. Sie hatte immerhin in der vorletzten Nacht fabelhaft schlafen können - in Sirahs Bett. Sie raffte sich hoch, nahm ihre paar Habseligkeiten und folgte Belder und Sirah hinaus. Ebenso wie vorgestern am frühen Morgen zeigte sich eben erst ein heller Streifen über dem Meer. „Die Zombies zischen immer ziemlich früh ab“, bemerkte
Belder und deutete auf die Mole, die verlassen im trüben Morgenlicht lag. „Kommt. Mit Glück sind wir in ein paar Minuten bei a Fries.“ Er balancierte die Planke hinab, und Andrina folgte ihm, danach kam Sirah. Dann eilten sie über das Anlegepier auf die Hafenmole und von dort über die Treppchen und durch die Gassen zu a Fries' Haus. Belder sah es schon von weitem - auch in dieser Nacht hatte es wieder Kämpfe gegeben. Mindestens einmal mußten die Zombies durchgebrochen sein, denn vor der Eingangstür lagen ein paar enthauptete Leichen, vermodernd und stinkend. Aber die Türbarrikade war in Ordnung, obwohl sie anders aussah als gestern abend. Als sie hereingelassen wurden, sahen sie sich einem müden und griesgrämigen a Fries gegenüber. „Wie war's heute nacht?“ fragte Belder. A Fries winkte ab. „Die Hölle“, sagte er. „Für einen echten Sykander wie mich - die Hölle.“ „Wie meinst du das?“ Jandhar trat aus dem Hintergrund hinzu. Wacklig und mit einem riesigen Verband am Hals, aber er grinste. Renika stützte ihn. „Er ist sein ganzes Gold los!“ sagte der Thorwaler mit krächzender Stimme. „Hat den Dämon damit füttern müssen“, sein Grinsen wurde noch breiter. „Stück für Stück flog das Zeug aus dem Fenster. Erst die Münzen, dann die Barren, zuletzt die Kerzenleuchter. Sogar Bilder, haha! Sofern sie einen Rahmen mit Blattgold hatten!“ Belder konnte sich fast ein Lachen nicht verbeißen. A Fries hingegen sah fürchterlich wütend aus. „Das findest du zum Lachen, ja? Dann sag mir mal, womit wir ihn nächste Nacht füttern sollen!“ Jandhar winkte ab. „Da kommt er doch gar nicht mehr, Dummkopf! Es sei denn, du hast irgendwo noch etwas
versteckt!“ A Fries blickte verblüfft auf. „So hab ich das noch gar nicht gesehen“, gab er zu. „Mit Glück werden die Zombies auch nicht mehr kommen“, fügte Sirah hinzu. „Es sind seine Zombies, verstehst du? Die des Goldfressers! Wenn es hier nichts mehr zu holen gibt...“ „Du meinst, die Zombies wollen auch das Gold?“ fragte a Fries. Sirah nickte bedächtig. „Nicht in der Art wie der Dämon. Aber nach allem, was ich über die Zauberei weiß, sind sie auf der magischen Ebene mit ihm verwoben. Sie kämpfen mit ihm zusammen. Wegbereiter oder Schergen. Nenn es, wie du willst!“ „Warum hast du das nicht früher gesagt, alte Frau?“ fragte a Fries empört. „Nun halt mal die Luft an!“ herrschte sie ihn an. „Alter Zwerg! Es kann einem nicht alles sofort einfallen!“ A Fries brummte nur und wandte sich ab. Er winkte. „Kommt, Trine hat gerade was zum Frühstück gemacht.“ Dann saßen sie in der Küche, und Belder berichtete, was ihnen auf dem Schiff widerfahren war. Die Enttäuschung war groß, als sie hörten, daß ihnen der geheimnisvolle Verräter durch die Lappen gegangen war. Andrina steckte sich ein Stück Brot in den Mund und verabschiedete sich. Sie wollte ins Badehaus. A Fries nickte nur. „Das Wasser ist aber kalt“, rief er ihr hinterher. Aber da war sie schon weg. „Ein bißchen was wissen wir ja jetzt über diesen Kerl“, sagte Belder. „Er ist keine Frau, mittelgroß, nicht dick, nicht dünn, und er kennt sich mit Alchimie aus.“ „Wie weit soll uns das schon bringen?“ fragte a Fries missmutig.
Belder schnaufte leise. „Ich kann gar nicht mehr denken“, sagte er. „Ich brauche ein paar Stunden Schlaf. Danach fällt mir vielleicht was ein.“ Allgemeines Nicken ergab sich. Von diesen Leuten hier hatten nur wenige heute nacht Schlaf bekommen. Jandhar erbot sich, an einem Fenster im ersten Stock Wache zu halten, und auch die Kinder wollten dabei mithelfen. Einer der Zwerge und einer der Sägewerksleute waren noch einigermaßen frisch, und sie versprachen, sich mindestens bis Mittag um alles zu kümmern. Dann ging man auseinander. Als Belder oben in ihrem Schlafzimmer ankam, ging draußen gerade die Praiosscheibe auf. Er trat zu den Fenstern und zog die schweren Vorhänge vor. Irgendeine mitfühlende Seele hatte im Kamin ein Feuer entzündet, wahrscheinlich Trine, diese fabelhafte Frau. Er ging hin und warf ein paar Scheite nach. Dann zog er sich die Stiefel aus und ließ sich ächzend auf das Bett fallen. Er beschloß, ab jetzt nicht mal mehr den kleinen Finger zu bewegen, und blieb so liegen wie er war. Ein paar Minuten später kam Andrina zurück. Sie hatte sich in ein riesiges Handtuch gewickelt und trug auf dem Arm ihre nassen Kleider - offenbar hatte sie sie gewaschen. Belder wandte den Kopf zur Seite und beobachtete sie. Andrina warf ihm ein scheues Lächeln zu, zog dann einen Stuhl ans Feuer heran und breitete ihre Kleider zum Trocknen darauf aus. Dann kam sie zögernd zum Bett, krabbelte darauf und blieb unschlüssig sitzen. Belder wandte müde seinen Kopf zu ihr und öffnete dann, nach einigen Augenblicken, seine Hand, die in ihrer Richtung ausgestreckt lag. Er wußte, daß sie es liebte, sich an ihn zu schmiegen. Zaghaft streckte sie ihre Hand nach der seinen aus. Als sie
darin lag, schloß er sie und zog sie ein kleines Stück in seine Richtung. Andrina verstand das Signal, und gleich darauf lag sie wieder an seiner Seite. Sie ist wie ein kleines Kätzchen, dachte er. Fehlte nur noch, daß sie zu schnurren anfing. „Du riechst gut“, brummte er. Sie nickte. „Danke. Du leider nicht.“ Er hob den Kopf. „Wirklich?“ Sie schnitt eine kleine Grimasse des Bedauerns, daß sie es gewagt hatte, dies zu äußern. Belder ließ den Kopf wieder sinken und stöhnte. „Ich bin völlig erledigt“, sagte er. „Weiß nicht mal, ob ich es bis zum Badehaus schaffe.“ „Probier es“, meinte sie, unsicher lächelnd. Wieder sah er sie an. „Also gut“, ächzte er dann. „Wenn ich noch einen Tag in dem Zeug verbringe, verlassen mich noch meine Flöhe.“ Mühsam kämpfte er sich hoch. „Handtücher sind dort, ja?“ fragte er und deutete in Richtung des Badehauses. Sie nickte aufmunternd. „Auch Seife. Nur Mut!“ Belder merkte, daß sie in Stimmung war, ein bißchen Blödsinn zu treiben. Aber er war einfach zu müde. Vielleicht würde ihn das kalte Wasser ein bißchen aufmuntern. Dann stemmte er sich hoch und verließ schlurfend den Raum. Im Badehaus angekommen, schälte er sich mühsam aus seinen Kleidern, nahm dann kurz Maß, holte tief Luft und ließ sich einfach in das große Wasserbecken hineinfallen. Mit einem gewaltigen Platschen schlug er auf, tauchte unter und kam dann prustend in die Höhe. Ja, das machte wach! Er schüttelte sich und tauchte gleich wieder ein, um sich an die Kälte des Wassers zu gewöhnen. Bibbernd blieb er unten, bis es ihm nicht mehr so kalt vorkam.
Er hatte eine ziemliche Überschwemmung verursacht, das würde a Fries sicher nicht gefallen. Aber das war ihm jetzt egal. Er suchte nach der Seife, fand sie auch und wusch sich gründlich. Dann überlegte er kurz und zog auch seine Kleider herein. Es machte nicht viel Sinn, danach wieder in die schmutzigen und stinkenden Sachen zu steigen. Es dauerte eine Weile, bis er fertig war. Er seifte alles ordentlich ein, wusch es aus und warf es dann an den Beckenrand. Als er wieder aus dem Wasser war, fand er auch eines der großen Handtücher. Was jedoch bei Andrina um den ganzen Leib reichte, paßte bei ihm gerade mal um die Hüfte. Er wrang noch seine Sachen aus und machte sich dann auf den Rückweg. Als er in ihrem Zimmer ankam, schien Andrina schon zu schlafen. Er schloß leise die Tür, zog einen weiteren Stuhl ans Feuer, hängte seine Sachen ebenfalls auf und legte abermals ein paar Scheite nach. Er hoffte, daß die Sachen rasch trocknen würden. Niemand konnte sagen, ob sie noch mal ein paar Stunden haben würden, um sich auszuruhen. Als er dann zum Bett kam, sah er, daß Andrina diesmal auf seiner Seite lag, drüben bei den Fenstern. Nun ja, da hatte er sie ja auch zurückgelassen. Sie hatte sich die Decke übergezogen und wandte ihm den Rücken zu. Leise kroch er aufs Bett und schlüpfte ebenfalls unter die Decke. Als er endlich dort war, wo er seit Stunden hinwollte, nämlich in bequemer Lage in einem weichen Bett, seufzte er lange und zufrieden. Jetzt müßte nur noch ... Er merkte, daß ihm etwas fehlte. Er hatte sich schon, ebenso wie Andrina, ein bißchen daran gewöhnt, daß sie an seiner Seite lag. Sie lag ein ganzes Stück entfernt von ihm, und er betrachtete eine Weile ihren Rücken. Ohne weiter nachzudenken, robbte er ein wenig zu ihr heran, streckte den Arm aus und berührte ihre
Schulter. Andrina drehte sich sofort herum und sah ihn an. Belder schluckte. Er hatte gedacht, sie schliefe, und wußte eigentlich gar nicht, warum sie so rasch auf ihn reagierte, wußte nicht einmal recht, warum er sie berührt hatte. Dann plötzlich kroch sie unter der Decke schnell an ihn heran, und als sie da war, setzte ihm für einen Moment der Herzschlag aus - sie war völlig nackt. Sie drückte sich an ihn, und da wurde ihm die nächste Katastrophe klar: Er hatte ebenso wenig an, sein Handtuch war irgendwo hinter ihm unter der Decke zurückgeblieben. Und dann geschah das Schlimmste: Er spürte ihren ganzen Körper, ihre warme, weiche Haut, sie drückte sich an ihn, und ehe er es verhindern konnte, hatte sie ihr Knie zwischen seine Beine gedrängt. Als er dann den sanften Druck ihres wannen Oberschenkels an seinen Hoden spürte, ging es viel zu schnell, als daß er sich noch irgendwie oder irgendwohin hätte retten können. Sein bestes Stück schwoll in rasender Geschwindigkeit an. Er ächzte, wollte zurück, sich irgendwie von ihr lösen, aber sie klammerte sich an ihn, und dann war es schon zu spät - sie mußte es gemerkt haben. Schlimmer noch, sie drückte ihren Unterleib gegen den seinen, widerstand seinen Bemühungen zurückzuweichen. Dann lag er still, mit bis zum Hals klopfenden Herzen. Sie war ganz nah bei ihm, auf sehr sanfte Weise, aber doch so, daß er nicht entkommen konnte. „Schick mich nicht weg, Belder, bitte“ , flüsterte sie. Er atmete schwer, sagte nichts. Schwindelnd kam ihm in den Sinn, daß Andrina alles andere als nur ein kleines, nettes Mädchen war, das er beschützen wollte. Sie war, das merkte er momentan ziemlich deutlich, eine Frau, und zwar mit allem, was dazugehörte. Nein, er selber, Belder der Dummkopf, hatte es gar nicht gemerkt, dafür aber sein Körper. Der Beweis dafür
bäumte sich zwischen ihnen, in Unterleibshöhe, protestierend auf. Und dann spürte er sie. ihre kleine, warme Hand, die er so sehr liebte, und sie begann sehr sanft seinen schmerzhaft harten Penis zu streicheln. Belder war noch immer voller Panik, wußte nicht, was er tun sollte, spielte für Augenblicke mit dem Gedanken, einfach aus dem Bett zu springen und abzuhauen, aber dann bekam er Skrupel; sie hätte sicher vor Enttäuschung geweint. Nein, das wollte er nicht, das hätte er ihr keinesfalls antun wollen, und verzweifelt suchte er nach irgendeinem Ausweg. Aber dann endlich wurde ihm klar, daß er, verdammt noch mal, überhaupt keinen Grund hatte abzuhauen. Sie streichelte ihn noch immer, und von Sekunde zu Sekunde schmolz sein Widerstand; Andrina war unendlich liebevoll und sanft zu ihm, und es fühlte sich, das begann er endlich zu spüren, unglaublich gut an. Eine riesige Welle wie warmes Öl durchspülte seinen Körper. Unwillkürlich entfuhr ihm ein leises, langes Seufzen, und dann gab er endlich auf und entspannte sich. Ihr Gesicht tauchte vor dem seinen auf, und es strahlte, war unendlich glücklich. Dann hob er die Hände, umarmte sie auch und küßte sie auf die Stirn. Endlich hatte er begriffen, was passiert war. Das alles war kein Zufall gewesen, und er mußte leise lachen. „Du kleines Biest“, sagte er. „Das hast du geplant, was? Hast mich ins Badehaus geschickt...“ Sie nickte, er spürte es an seiner Brust. Ihre Hand streichelte noch immer sein hartes Ding, und ein Zittern durchlief ihn, das er gar nicht kontrollieren konnte. „Ich liebe dich, Belder“, flüsterte sie. „Noch nie war jemand so gut zu mir wie du. In meinem ganzen Leben nicht.“ Belder gab es auf, sein Inneres mit Befehlen kontrollieren zu wollen, wie er es seit langer, langer Zeit gewöhnt war. Es gab
keine Worte und keine Methoden, dessen Herr zu werden, was mit ihm passierte. Er schloß einfach die Augen und ließ sich treiben. Für einige Zeit lagen sie nur da, sie streichelte ihn weiter, unglaublich sanft, und immer wieder erfaßten ihn diese Schübe nie gekannten Wohlbefindens, in denen sein ganzer Leib erzitterte. Dann begann sie wieder seine Brust zu küssen, und endlich tat er auch etwas, er streichelte ihren Körper und wunderte sich über ihre unglaublich zarte und weiche Haut. Dann plötzlich richtete sie sich auf, schlug die Decke zurück, und Augenblicke später saß sie auf seinen Oberschenkeln. Sie nahm seinen Penis in beide Hände, dieses riesige Ding, das wie ein Hindernis zwischen ihnen aufragte, und fuhr mit diesem unglaublich sanften Streicheln fort. Wieder durchführen ihn diese Schübe, dieses Erschauern, und er starrte eine Weile die Decke an, schloß immer wieder die Augen. Dann betrachtete er ihren Körper. Sie war etwas ganz anderes als seine gute Anna von damals. Sie war sehr viel zierlicher und schlanker, aber sie gefiel ihm. Ihr Gesicht mit der kleinen Stupsnase, den grauen Augen und dem niedlichen Schmollmund erschien ihm plötzlich unglaublich schön. Sie hatte kleine Brüste, aber sie waren wunderschön rund und mit kleinen, mädchenhaften Brustwarzen, genau in der Mitte. Zwischen ihren Brüsten begann eine zarte Linie, die senkrecht bis fast zum Bauchnabel abwärts reichte, und das schwache Licht, das von der Seite her durch die Fenster fiel, warf einen wunderschönen Schatten über ihren Bauch. Mit plötzlicher Verträumtheit fuhr er mit dem Zeigefinger diese Linie nach. Darunter lag ihr Nabel, eine sanfte, kleine Vertiefung. Dort, wo die Schamhaare hätten sein müssen, besaß sie nur ein winziges bißchen rötlichen Flaums, darunter lagen ihre Schamlippen, völlig frei davon. Sie waren klein, zart und zum Küssen schön. Belder holte tief und langsam Luft. Er konnte sich plötzlich nicht mehr erklären, wie er dieses Mädchen je für häßlich hatte
halten können. Sie war geradezu engelhaft schön, und er dankte den Göttern, daß sie selbst diesen Schritt getan hatte, ihn zu verführen. Er selbst wäre womöglich nie auf die Idee gekommen. „Möchtest du mit mir schlafen, Belder?“ fragte sie leise. Er hätte beinahe aufgelacht. Natürlich wollte er das, er hätte sich auf der Stelle hier in einen Ziegenbock verwandeln wollen, wenn er sich nicht mit jeder Faser seines Körpers danach sehnte. Aber dann kapierte er plötzlich, daß sie ihre Frage ganz anders gelautet hatte, daß sie eigentlich damit gefragt hatte: Liebst du mich auch. Belder? „Ja“, krächzte er, und wiederholte es dann noch einmal nach einem Räuspem. Sie lachte leise. „Ja. Aber ich ... ich weiß nicht...“ Andrina lächelte nur. Sie erhob sich, richtete seinen Penis auf und ließ sich langsam und vorsichtig darauf gleiten. Schon im ersten Moment drohte er zu explodieren. Er hielt die Luft an, rührte sich keinen Fingerbreit und überließ es ihr. Es ging, sie glitt immer weiter auf ihn, und die weiche und feuchte Wärme, die ihn dann umfing, drohte ihm fast Atem zu nehmen. Sobald es ging, zog er sie zu sich herab und begann sie leidenschaftlich zu küssen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er dankte abermals den Göttern, daß es funktionierte, daß er nicht zu groß für sie war, und dann begann sie sich leicht zu bewegen, und Belder könnte sich nicht mehr zurückhalten. Viel zu früh ergoß er sich in sie, fluchte und schimpfte dabei leise. Andrina kicherte nur. Sie blieb auf ihm liegen, küßte seine Brust und hatte anscheinend überhaupt kein Problem damit, daß es so schnell vorbei war. „Bei allen Göttern“, ächzte er, „ich ...“ Sie legte ihm den Finger auf den Mund. „Sei leise“, flüsterte sie. „Und freu dich nicht zu früh. Der Tag ist noch lang.“
Er wandte den Kopf zum Fenster und stöhnte leise. Ja, sagte er sich, dieser Tag kann meinetwegen ewig dauern. Dann zog er sie ein Stück hoch und begann sie zu küssen.
18
Wagnis
Belder und Andrina schliefen lange, und sie schliefen gut. Das Schicksal schien ein wenig Mitgefühl mit ihnen haben zu wollen. Als sie dann aber erwachten, sah es eher nur noch so aus, als wäre ihnen ein wenig Erholung vor der nächsten Heimsuchung zugestanden worden. Es waren Geschrei, wütende Rufe und Sprechchöre, die sie aus dem Schlaf holten. Andrina erwachte zuerst, stellte mit einem wohligen Seufzen fest, daß sie eng bei Belder lag, wieder in seiner Armbeuge, einem Platz, den sie inzwischen lieben gelernt hatte und an dem sie am liebsten für den Rest ihrer Tage, so ging es ihr durch den Kopf, erwacht wäre. Als ihr der Grund für ihr Erwachen klar wurde, der Lärm, der von draußen durch die Fenster hereindrang, verband sich ein fader Geschmack mit den Worten '... der Rest meiner Tage'. Sie richtete sich auf und sah zum Fenster, zu den zugezogenen, schweren Vorhängen, durch deren Ritzen das Licht der spätnachmittaglichen Praiosscheibe von Südwesten hereindrang. Es war eigentlich ein warmes, freundliches Licht, das aber nicht zur Wirkung kommen wollte. Das Geschrei von der Straße dort unten war gemein und feindselig. Andrina erhob sich und trat beklommen zum Fenster. Vorsichtig lugte sie zwischen den Ritzen des Vorhangs hindurch. Da unten standen an die hundert Leute, zwar in respektvollem Abstand zum Haus, aber offenbar wütend bis zur Weißglut. Viele hoben immer wieder die Fäuste, schrien Flüche und Verwünschungen in Richtung des Hauses, und Freimark Threll hatte eine Kiste erklommen und rief in die Menge hinein; was er sagte, das konnte sie nicht verstehen. Dann klopfte es leise, und ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sich die Türe. Andrina wollte schon zurück ins Bett
fliehen, aber dann sah sie, daß es nur Renika war. Als junge Halbelfin sah, daß Andrina nackt war, warf sie nur einen Blick auf das Bett, in dem Belder noch immer schlief, und hatte die Situation schon erfaßt. Sie kam herein, schloß die Tür leise hinter sich und näherte sich Andrina auf Zehenspitzen, mit einem vieldeutigen Lächeln im Gesicht. „Na, ist er gut im Bett?“ flüsterte sie grinsend. „Freches Stück!“ zischte Andrina. „Aber bestimmt besser als dein Thorwaler!“ „Mein Thorwaler?“ fragte Renika und verschränkte die Arme vor der Brust. „Woher willst du wissen, ob zwischen uns was ist?“ „Na, so wie der immer an dir rumfummelt!“ Renika seufzte und ließ die Arme fallen. „Ja, du hast recht. Das sieht wohl jeder.“ Sie blickte zu Belder. „Leihst du ihn mir mal? Mit meinem ist zur Zeit nichts los!“ Andrina schüttelte grinsend den Kopf. „Den geb ich nicht mehr her!“ „Wär‘ ja nur für eine Stunde. Danach kannst du ihn zurückhaben, Ehrenwort!“ Andrina lachte leise. Renikas Unverfrorenheit imponierte ihr irgendwie. Ein Mädchen wie sie hätte jederzeit jeden Mann haben können, aber sie fragte brav wie ein kleines Mädchen, das sich eine Puppe ausleihen wollte. Andrina wandte sich um und wühlte unter der Bettdecke nach ihrem Handtuch. Sie fand es und hängte es sich um. Dann wandte sie sich wieder zum Fenster. Sie strich eine Vorhangbahn zur Seite und sah erneut hinab. Renika trat zu ihr, legte ihr freundschaftlich eine Hand auf die Schulter und blickte auch hinunter. „Sie schreien schon seit einer Stunde“, berichtete sie flüsternd. „Sirah hat sich ihnen mal kurz gezeigt, da wurden sie
ruhiger. Aber dann ging es wieder los.“ Andrina nickte. Renikas Hand auf ihrer Schulter ließ sie an Belder denken. Am liebsten hätte sie sich wieder zu ihm unter die Decke verkrochen und wäre für die nächsten drei Wochen dort geblieben. Sie zog sich das Handtuch enger um den Leib. „Was machen wir jetzt?“ fragte sie leise. Renika schnaufte. „Keine Ahnung. Wir müssen Kriegsrat halten.“ Andrina starrte verdrossen nach unten. Die Lage in Sykand wurde nicht besser. Nein, im Gegenteil. Sie spürte ein übermächtiges Bedürfnis, sich mit Belder an irgendeinen ruhigen Ort zurückzuziehen, an dem sie durchatmen und sich ihm widmen konnte. Sie hatte Lust, ihn zu verwöhnen, in jeder Hinsicht, aber dazu brauchte sie Ruhe. Was ihnen hier jedoch drohte, war ein ständig wachsender Mob, der sie umbringen wollte, und nachts kamen die Zombies und der Dämon. Wenn sich nicht bald etwas änderte, dann konnten sie die Tage an einer Hand abzählen, die sie noch zu leben hatten. Renika erahnte ihre Gedanken. „Vielleicht sollten wir heute abend, wenn die Dämmerung beginnt, versuchen, zum Hafen durchzubrechen. Oder morgen, ganz früh. Auf das Schiff - und dann von hier verschwinden.“ Andrina wandte sich um. „Wie geht es Jandhar?“ „Er ist schwach“, antwortete Renika. „Kämpfen kann er nicht. Er hat zuviel Blut verloren. Aber immerhin - die Wunde scheint heilen zu wollen.“ Andrina ließ die Frage unausgesprochen, wie man Jandhar in seinem Zustand überhaupt auf das Schiff bringen sollte. Wieder strich sie den Vorhang beiseite und sah ratlos hinab. In diesem Moment stieg Freimark Threll von seinem Faß herab, und einige Leute traten zu ihm. Gemeinsam wandten sie sich um und gingen ein Stück auf das Haus zu.
„Schau mal!“ sagte sie und deutete hinab. Renika reckte den Hals. Die Gruppe kam näher an das Haus heran, als es angesichts der Bogenschützen eigentlich gesund für sie gewesen wäre, aber sie schienen darauf zu vertrauen, daß man sie als Parlamentäre ansehen würde. Andrina sah, daß Salis von Thralbeg auch dabei war. Ebenso Zappsteen, Jachoch und Threll. Sogar Abbot Melkor stand dabei, etwas im Hintergrund. Die Obersten der Stadt. „He da!“ rief Zappsteen. Belder regte sich hinter ihnen, und Andrina sah sich kurz um. Er saß aufrecht im Bett und blickte zu ihnen. Dann hörte sie Zappsteens Stimme wieder und sah hinaus. „Wir wollen die Hexe!“ schrie er. Andrina trat vor Schreck ein kleines Stück zurück. „Wir haben Beweise gefunden, daß sie hinter der Sache steckt!“ „Blödsinn!“ hörte sie eine Stimme. Es war offenbar a Fries, der aus einem der Fenster im unteren Stockwerk zurückschrie. Dann spürte Andrina Belder hinter sich. Er war an sie herangetreten, und sie sah über die Schulter kurz zu ihm auf. Er hatte sich in die Decke gewickelt und hob den Vorhang ein Stück weiter an, um sehen zu können. „Jawohl! Beweise!“ Diesmal war es Jachoch, der brüllte. „Sie ist eine Naturbegabte, eine Dämonenhexe! Sie hat die Bestie in unsere Stadt gebracht - um uns mit ihrer Hilfe auszurauben! Der Dämon dringt in die Häuser ein, tötet die Bewohner, und danach raubt sie mit ihren Zombies alles Gold!“ Andrina begann vor Angst und Entsetzen über Jachochs Behauptung zu zittern, aber in diesem Moment hob Belder die große Decke und schloß sie mit sich darunter ein. Als sie seinen warmen Leib spürte, beruhigte sie sich wieder ein wenig.
„Heute, bei Einbruch der Nacht“, brüllte Zappsteen wieder, „wollen wir sie haben! Dann wird sie brennen - dort!“ Damit wies er auf den Scheiterhaufen, der noch immer hinter ihm stand. Andrina erschauerte, spürte Tränen in den Augenwinkeln. Belder hielt sie ganz fest und sagte leise: „Keine Angst, Andrina.“ Sie holte tief Luft, und auch Renika, die noch immer nahe bei ihr war, schien mit ihrem grimmigen Gesicht sagen zu wollen: Nur über unsere Leichen! „In der Dämmerung?“ war wieder a Fries' Stimme zu hören, „Ha! Da habt ihr euch doch längst in eure Löcher verkrochen! Da kommen die Zombies wieder raus!“ „Heute nacht nicht!“ rief Zappsteen zurück. „Heute nacht wird es keine Zombies mehr geben!“ Er wies auf Abbot Melkor, der neben ihm stand. Er schien ihm etwas zuzuzischen. Was er sagte, war nicht zu verstehen, aber Melkor hob zögernd den Arm in die Höhe. Und in seiner Hand befand sich etwas eine Schriftrolle. „Hier!“ rief Zappsteen. „Wir haben in der Schriftensammlung des Tempels ein Mittel gegen ihre höllischen Umtriebe gefunden! Einen uralten magischen Spruch! Damit werden wir den Dämon in ihr austreiben!“ Andrina beugte sich vor und starrte angestrengt hinab. Sie glaubte, etwas gesehen zu haben. „Wenn ihr sie nicht ausliefert, werden wir das ganze Haus anzünden!“ rief Jachoch wieder. „Seht!“ Damit wies er zurück auf die Menge der Leute, die im Hintergrund warteten. Gute zwei Dutzend von ihnen erhoben in diesem Moment Lanzen und Bögen mit Pfeilen, deren vordere Enden mit schwarzen Tüchern umwickelt waren. „Brandpfeile!“ stieß Belder leise hervor. Sie wußten alle, was das hieß. A Fries‘ Haus anzuzünden war nur eine Frage der Mittel, die man verwendete. Belder deutete hinab. „Da! Die
Bottiche und Kübel! Da ist Öl drin oder Teer!“ „Überlegt es euch!“ rief Zappsteen. „Wenn die Dämmerung beginnt, kommen wir zurück!“ Damit schienen die Männer dort unten ihren Auftritt beendet zu haben und wandten sich um. Sie marschierten auf die Menge zu, besprachen sich kurz untereinander, und dann löste sich die Menge auf, langsam und zögernd. In alle Richtungen strebten sie davon, aber etwa zwei Dutzend blieben zurück und verteilten sich rund um das Haus. Andrina atmete schwer. „Wir ... wir müssen raus!“ sagte sie und drehte sich zu Belder um. „Schnell!“ Sie befreite sich von seiner Decke, lief zu dem Stuhl, auf dem ihre Kleider lagen, und begann sich, vor Angst und Entsetzen zitternd, anzuziehen. Renika eilte zu ihr, umarmte sie von der Seite und versuchte sie sanft festzuhalten. „Bleib ruhig, Andrina“, sagte sie. „Wir können nicht raus. Das Haus wird bewacht!“ „Dann ... dann müssen wir durchbrechen!“ erwiderte Andrina. Sie schien völlig durcheinander zu sein und suchte nach ihrem Hemd. Nun trat auch Belder zu ihr und versuchte sie zu beruhigen. „Andrina - Renika hat recht! Wir kämen da niemals durch! Jandhar ist viel zu schwach, a Fries ist verletzt, und dann die Frauen und Kinder...!“ Andrina fuhr herum. Sie war gerade erst in ihre Hose geschlüpft. „Ihr versteht nicht!“ sagte sie eindringlich. „Nicht alle - nur ein paar!“ „Nur ein paar?“ Andrina schluckte verkrampft und nickte. „Ja. Du, ich, Renika oder Sirah! Nur ein paar von uns. Ich ... ich glaube, ich weiß jetzt, wer es ist. Wie wir den Verräter finden können!“ „Aber... wie sollen wir hier heraus?“ rief a Fries und warf die
Arme in die Luft. Alle Bewohner des Hauses hatten sich unten in der Vorhalle versammelt. Andrina stand zitternd vor ihnen und blickte sie hilfesuchend an. „Ich ... ich weiß nicht. Dann muß ich allein gehen! Durch die Röhre!“ „Allein? Runter in die Stadt, zum Hafen?“ Belder glaubte nicht richtig gehört zu haben. „Die werden dich zerreißen! Nein, Andrina - allein laß ich dich nicht gehen! Auf gar keinen Fall!“ „Aber wir haben nur noch Zeit bis zur Dämmerung! Dann werden sie kommen und das Haus anzünden!“ rief sie und hob die Arme. „Ich muß jetzt raus!“ „Warum sagst du uns nicht endlich, wen du verdächtigst?“ verlangte a Fries zu wissen. Andrina holte Luft. „Ihr ... ach, ihr würdet mir nicht glauben“, rief sie und winkte verzweifelt ab. „Ich bin nicht mal ganz sicher, aber es ist unsere einzige Chance!“ A Fries starrte zu Belder, dann zu Jandhar. Beide zuckten die Schultern. Dann trat Renika zu Andrina. „Ich vertraue ihr!“ sagte sie entschlossen. „Und ich gehe mit ihr! Durch die Röhre passe ich auch!“ Jandhar humpelte einen Schritt vor. „Renika, ich ...“ Sie hob abwehrend die Hand. „Sei still! In zwei Stunden sind wir alle tot, wenn wir hierbleiben und nichts wagen! Ich gehe mit! Und zwar jetzt gleich!“ „Wie breit ist sie denn, eure Röhre?“ fragte Sirah. Renika maß die alte Zauberin mit einem grimmig-vergnügten Blick. „Dich würden wir da auch noch durchbekommen!“ sagte sie. Nun wurde es a Fries zuviel. Er trat vor, deutete fassungslos auf die drei und sah die anderen an. „Das sind ... wir können doch nicht drei Frauen ...“
Renika trat an a Fries heran und packte ihn am Kragen. Die schlanke, hochgewachsene Halbelfin war mehr als zwei Köpfe größer als der Zwerg. „Schluß jetzt!“ herrschte sie ihn an. „Wir gehen jetzt, ob es dir gefällt oder nicht, Onkel Geri! Verstanden?“ Belder kratzte sich am Kopf. „Los jetzt!“ sagte Andrina. „Wir haben keine Zeit mehr!“ Sie wandte sich um und setzte sich eilig in Richtung Badehaus in Bewegung. Der ganze Troß folgte ihr. „Wir werden alle drei patschnaß sein, bis wir oben sind“, sagte Renika unterwegs. „Oder willst du dich wieder ausziehen?“ Andrina blickte zu Sirah, die mit ihnen lief, und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Die Zeit ist zu knapp. Wir müssen ...“ „Wenn wir naß da raus kommen, werden wir's schwerer haben. Wohin wir auch gehen!“ sagte Renika. Trine a Fries, die das Gespräch mitbekommen hatte, drängte sich nach vorn, bis sie hinter den dreien war, wandte sich dann um und breitete die Arme aus. „Haaalt!“ rief sie. „Alle Männer - kehrt marsch! Wir sind zwar im Krieg, aber das ist kein Grund, allen Anstand fallen zu lassen!“ Verblüfft blieben die Leute stehen. Jandhar, der mit einigem Abstand hinterhergeschlurft war, kam mit vor Anstrengung rotem Kopf hinter ihnen zum Stehen. Belder ging zu ihm und stützte ihn. „Wird nichts, Jandhar“, sagte er mit grimmigem Lächeln. „Wird nichts? Womit?“ Belder schnitt eine Grimasse. „Nackte Mädchen anglotzen.“ Jandhar schnaufte. „Gut“, sagte er und sein Gesicht war ernst. „Glotzen wir später. Wenn sie nur heil wieder zurückkommen!“
Sie benötigten fast eine Viertelstunde, ehe sie alle drei draußen waren. Die Praiosscheibe stand nicht mehr allzu hoch, als Sirah durch die Röhre heraufkam - mit Unterstützung von Andrina und Renika, die beide noch in dem kleinen Teich schwammen und gemeinsam am Seil zogen. Sirah erschien in der Röhre, mit einem vor Kälte und Anstrengung verzogenen Gesicht, und ließ sich erleichtert in den Teich gleiten. Hinter ihr kam das Öltuch mit den Kleidern von allen dreien. „Alles klar?“ zischte es herauf. „Wir sind noch heil, Trine!“ flüsterte Renika zurück. „Wünsch uns Glück!“ „Ja, tue ich. Und die anderen auch!“ Renika und Andrina hatten sich gründlich umgesehen, aber diese Röhre hier oben an dem kleinen Teich schien noch immer niemand entdeckt zu haben. Obwohl sich die Leute eigentlich hätten fragen müssen, wie es Andrina vorgestern geschafft hatte, das Haus zu verlassen. Schließlich war sie, in Begleitung von Sirah, später wieder vorn herum hineingegangen. „Los jetzt, mir wird kalt“, zischte Renika. Sie kletterten aus dem Teich, und die beiden Mädchen halfen der alten Dame. Andrina wunderte sich, daß die alte Sirah trotz ihres Alters von etwa sechzig Jahren noch immer eine durchaus ansprechende Figur besaß. Sirah bemerkte Andrinas Blicke. Als sie heraus war, seufzte sie: „Tja, Kindchen, man wird alt. Lange her, daß ich so eine Figur besaß wie ihr zwei.“ „Ich hoffe, ich sehe noch so gut aus wie du“, erwiderte Renika auf ihre typisch bissige Art, „wenn ich mal hundert bin!“ „Hundert? Na hör mal! So alt bin ich nun wirklich nicht
Andrina verspürte keine Lust auf Scherze. Sie hob das Bündel aus dem Wasser und schob damit beide vor sich her. „Los jetzt. Wir haben nicht mehr viel Zeit!“ Sie verschwanden zwischen den Bäumen, zogen sich an, und Renika und Andrina überprüften Bogen und Schwert. Sirah hatte augenscheinlich nichts dabei außer einem kleinen Umhängebeutel, in dem aber kaum eine Waffe hingepaßt hätte. Andrina vertraute auf ihre magischen Fähigkeiten. „Ich weiß, wie wir von hier ungesehen zum Sägewerk kommen können“, sagte Renika leise. „Los, folgt mir!“ Sie lief voraus und tauchte durch ein paar Büsche hinweg. Sirah und zuletzt Andrina folgten ihr. Andrina wußte längst, daß Sirah keine hinfällige alte Frau war; den Marsch von ihrer Hütte bis hierher nach Sykand hatte sie klaglos hinter sich gebracht. Sie erreichten bald einen der kleinen Wege am Rande von Sykand, die sich irgendwo den nahen Berghang hinauf in Richtung der zahllosen kleinen Minen zogen, die die Sykander dort oben an den Ranken der Vorberge des Walsteingebirges in die Hänge gebohrt hatten. Mit ihren scharfen Elfenaugen durchforschte Renika die Umgebung und winkte sie dann weiter. Sie überquerten den Weg, liefen unter den hochgewachsenen Hecken eines Grundstückes entlang und kamen zu einem alten Turm, der nicht mehr bewohnt war. Renika deutete zu einer Mauer, die, ein paar Dutzend Schritte entfernt, in einem Obstgarten begann. Sie eilten im Schutz von Apfelbäumen dorthin. Dann ging es entlang der Mauer weiter bis zu einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern und weiter durch ein paar Gärten hin zu einem großen Steingebäude, das am nordöstlichen Rand von Sykand stand. Allein schon am Holzgeruch erkannte Andrina, daß sie da waren. Sie überquerten gebückt rennend einen schmalen Weg, sprangen
über einen niedrigen Lattenzaun und huschten in das offene Holzlager hinein. Augenblicke später kauerten sie sich zwischen großen gelüfteten Betterstapeln nieder. Bisher hatten sie noch keine Seele gesehen. „Da liegt der Hafen!“ flüsterte Andrina und deutete zwischen den Stapeln hindurch zu einer Gasse, die vor dem Sägewerk begann und schnurgerade den leichten Hang hinab bis zur Hafenmole lief. Ein paar Leute waren dort zu sehen. „Wir könnten einfach aufstehen und gemütlich dort hinunterspazieren“, sagte Sirah. „Wir sind einfach nur drei Frauen. Kein a Fries und kein Belder. Das sind ja ihre Lieblingsfeinde.“ Andrina und Renika starrten sie unentschlossen an. „Ich bin ihr Lieblingsfeind!“ sagte Andrina dann. Sirah nickte. „Ja. Aber nach allem, was du mir erzählt hast, haben dich hier noch nicht allzu viele Leute genauer betrachten können. Wer weiß schon, daß dieses Mädchen, das dort so harmlos entlangläuft, die so schrecklich gefürchtete Hexe ist!“ Andrina schnaufte. „Rote Haare!“ sagte sie und hob eine Strähne in die Höhe. Sirah schüttelte den Kopf. „Dunkle Haare! Sie sind noch naß - sieh selbst!“ Andrina wandte den Blick zu der Strähne, die sie hoch hielt, aber es überzeugte sie nicht. „Daß sie rot sind, sieht man dennoch irgendwie.“ Sirah kramte in ihrer Umhängetasche und holte ein Tuch hervor. „Hier. Es ist zwar eines meiner Zauberutensilien, aber für diesmal wird es als Kopftuch dienen müssen.“ Andrina schnaufte wieder - tief und angespannt. Sie blickte unsicher die Gasse zum Hafen hinab und dann wieder zu Sirah. „Wenn ich ein Kleid anhätte - ja, dann würde das vielleicht gehen mit dem Kopftuch. Aber so?“ Sie wies auf die derbe
Kleidung, die sie trug, die lederne Hose und die Stiefel. „Es kommt darauf an, wie man das Tuch bindet!“ sagte Sirah und kroch auf Knien an Andrina heran. Sie begann, ihr das Tuch über den Kopf zu binden. „Vertrau mir, Kindchen“, sagte sie, während sie hantierte. „Ich kenne die Sykander, Das sind Leute ohne Mitgefühl und Mut. Die tun nur etwas gemeinsam, wenn sie mindestens fünfzig Mann stark sind. Ehe sich die paar, denen wir vielleicht komisch vorkommen, zusammengetan haben, sind wir längst am Hafen.“ Sirah war fertig, und Renika nickte anerkennend, als sie Andrina betrachtete. Sie steckte ihr mit dem Zeigefinger noch eine hervorstehende Locke unter das Kopftuch. Sirah hatte das Tuch auch hinten heruntergebunden, so daß es wie eine Kapuze wirkte. Es war ein dunkles Tuch, und wenn man viel Phantasie besaß, konnte man Andrinas Aussehen vielleicht als eine Art Modeerscheinung deuten. Sie war ja eine junge Frau. „Geht schon“, sagte Renika zuversichtlich. „Du wirst zwar, bis wir am Hafen sind, keine Heiratsanträge von jungen Prinzen bekommen, aber das wollen wir ja auch vermeiden, oder?“ Andrina streckte beide Hände aus und zog Renikas lange, weißblonde Haare hinter ihren Ohren hervor. „Und dir schneiden wir besser die spitzen Ohren ab, du Elfenbestie“, sagte sie. Renika zeigte ihr die Zähne. „Wir sind auf dem besten Wege, uns herzlich anzufreunden!“ zischte sie. Andrina streckte ihr die Zunge heraus und erhob sich dann. Renika kicherte leise. „Also los“, sagte sie. „Augenblick“, meinte Sirah und hob beide Hände, als sie aufgestanden waren. Andrina sah sie fragend an. „Also“, begann Sirah. „Die Männer sind nicht hier. Keiner
da, der uns dreinreden könnte. Wo geht es nun hin, Andrina?“ Andrina senkte den Blick zu Boden und faßte sich verlegen an die Nase. „In den Tempel. Den Efferd-Tempel.“ „Den Efferd-Tempel?“ sagten beide im Chor. „Was suchst du denn da?“ „Folgt mir einfach“, sagte Andrina, wandte sich rasch um und marschierte los. Renika und Sirah hatten gar keine Gelegenheit mehr, sie zurückzuhalten. Nach ein paar Schritten schon war sie aus der Deckung der riesigen Bretterstapels heraus und steuerte auf die breite, offene Torzufahrt des Sägewerks zu - offenbar dem hiesigen Endpunkt der Gasse, die hinab zum Hafen führte. Renika und Sirah beeilten sich aufzuholen. „Was willst du im Efferd-Tempel?“ zischte Renika, als sie gemeinsam das Gelände des Sägewerks verließen. In der Nähe standen zwei Männer, die miteinander sprachen. Sie sahen kurz zu ihnen herüber, beachteten sie aber dann nicht weiter. Andrina schritt flott voran. „Ich muß mit dem Abbot reden“, sagte Andrina leise. „Er weiß etwas!“ „Der Abbot Melkor?“ fragte Sirah. „Was kann der wissen? Der ist ein Mann, der nur für die Zwölfe lebt!“ Andrina antwortete nicht, beschleunigte nur ihren Schritt. Renika und Sirah hatten Mühe, ihr zu folgen, selbst Renika mit ihren langen Beinen. Sie schritten zügig die Gasse hinab und näherten sich einer Gruppe von drei Frauen, die ihnen schon aus der Ferne entgegensahen. „Wenn du mir Belder leihst, kannst du Jandhar auch mal haben, wenn er wieder gesund ist“, sagte Renika von der Seite her und grinste breit. Andrina glotzte sie verblüfft an, sah dann aber mit einem Seitenblick zu den drei Frauen, die ihnen entgegenstarrten. Die
drei - zwei Ältere und eine dicke, junge - sahen so aus, als suchten sie wie die Habichte nach etwas, über das sie sich das Maul zerreißen konnten. Andrina kapierte. „Wie lang ist der von Jandhar?“ fragte sie zurück. Renika lachte auf und hielt sich die Hand vor den Mund -nein, vor das halbe Gesicht. „Sooo ...!“ sagte sie, und hielt die Hände eine glatte Elle auseinander. Dann hielt sie wieder die Hand vor ihren lachenden Mund. „Paßt der bei dir überhaupt, du dürres Ding?“ Sirah knuffte sie beide von hinten, und als sie über die Schulter sahen, grinste die alte Zauberin breit. „Habt ihr keine anständigen Scherze auf Lager, ihr Biester?“ fragte sie. Andrina lachte auch und sagte: „Das sind die anständigen! Gleich kommen wir zu den schlimmen!“ Nun lachten sie zu dritt, gaben vor, ziemlich mit sich selber beschäftigt zu sein, und passierten im nächsten Moment die drei Frauen, die ihnen kopfschüttelnd hinterhersahen. „Uff‘, flüsterte Renika. „Glaubt ihr, das hat gewirkt?“ Andrina schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht.“ Sie blödelten weiter, und selbst Sirah begann mit zotigen Sprüchen über a Fries und dann über Thralbeg und Threll mit einzusteigen. Sie achteten darauf, nach außen hin nicht übertrieben albern und durchgedreht zu wirken, was nur darin gipfelte, daß sie mit vor Lachen tränenfeuchten Augen unten im Hafen ankamen und sich kaum noch beherrschen konnten, lauthals herauszuplatzen. Die meisten Leute hatten ihnen hinterhergesehen, aber niemand hatte Anstalten gemacht, ihnen zu folgen. Andrina wischte sich die Tränen weg. „Los, da ist der Tempel!“ sagte sie. Sie deutete auf eine Gasse, die hinter einer Häuserzeile im Hafen zu einem Platz auf einer kleinen Anhöhe führte. Dort erhob sich der Efferd-Tempel, kein allzu gewichtiger Bau, eher bescheiden und mit zwei steinernen Statuen links und rechts des Eingangs als einziger Zierde ausgestattet. Eine Reihe von weißen Halbsäulen bildete die Front des Gebäudes und bemühte sich, einen Arkadengang
vorzugeben. Über dem flachen Dach erhob sich die typische Steinkuppel. Andrina sah sich verstohlen um. Hier und dort standen Leute in kleinen Gruppen herum und sprachen miteinander - das schien im Moment in Sykand die Regel zu sein. Der Abend nahte und mit ihm der Dämon und die Zombies, und die Leute hatten Angst und berieten, wie man sich verhalten sollte. Dann stiegen sie die sieben oder acht flachen Treppenstufen zum Eingang hinauf. Oben, im Eingang, stand Abbot Melkor mit priesterlich unter den Ärmeln seiner Kutte verschränkten Händen und sah ihnen erstaunt entgegen. „A Fries! Du mußt mir helfen!“ flüsterte Belder. „Ich brauch selber wen, der mir hilft!“ brummte der Zwerg und zog mit schmerzverzerrtem Gesicht eine frische Bandage stramm um seinen verletzten rechten Oberschenkel. „Im Ernst, a Fries! Ich muß hier raus!“ A Fries stöhnte und blickte auf. „Du auch noch?“ Belder nickte und sah sich um. Niemand sonst war in der Küche, und draußen im Gang näherte sich auch keiner. „Ich hab Angst... um die drei.“ „Wohl mehr um eine, was?“ „Ja, natürlich. Besonders um eine“, zischte Belder ärgerlich. „Aber um die anderen auch. Renika ist ein verdammt nettes Mädchen, und es würde mir stinken, wenn ihr was passierte. Und selbst für die Alte würde ich mich mit einer Horde Zombies anlegen! Genügt dir das?“ A Fries verzog betont anerkennend das Gesicht und nickte. „Ja, genügt mir. Renika ist mir wie eine Tochter, weißt du. War mir recht, wenn jemand auf sie aufpassen würde.“ „Ja doch!“ knurrte Belder. „Wenn du mich hier irgendwie unbemerkt rausbringen kannst, dann bring ich sie dir heil zurück! Versprochen!“
A Fries nickte und dachte kurz nach. „Vielleicht wüßte ich was. Für einen einzelnen Mann. Aber es ist riskant!“ „Und?“ A Fries erhob sich. „Komm mit!“ Er humpelte aus der Küche, sah sich auf dem Gang um und marschierte nach links. Belder folgte ihm. „Wir müssen hoch“, sagte er und deutete hinauf. Belder nickte. Nach kurzer Zeit hatten sie über zwei Treppen den Dachboden erreicht. Ein weit gestreckter Raum unter einem Balkenwerk, das mit Schieferschindeln gedeckt war. Es roch muffig und war ziemlich dunkel. A Fries durchquerte den Raum, öffnete die Tür eines Verschlages und winkte Belder hinein. „Das hier war mal ein Taubenschlag“, sagte er und begann an ein paar schräg eingesetzten Balken zu zerren. „Von meinem Vater.“ Belder sah, daß in der Dunkelheit dahinter eine kleine Dachgaube lag, die vernagelt und verkeilt war. Er half a Fries. Nach einer Weile hatten sie den Zugang freigelegt, und a Fries machte sich mit einem abgebrochenen Kantholz an den Brettern zu schaffen, die die Einflugöffnung verschlossen. Schließlich brach Licht herein, und a Fries bemühte sich, leiser vorzugehen. Dann lag die Öffnung frei - ein Viereck, durch das Belder sich gerade so würde hindurchzwängen können. Vorsichtig lugte a Fries hinaus. „Da steht einer“, sagte er leise, als er zurückkam. Er deutete nach links unten. „Aber wenn du auf dem Bauch hinauskriechst, hast du Chancen, daß er dich nicht sieht. Das hier ist die Rückseite des Hauses. Das Dach ist nach hinten raus etwas flacher. Du mußt nach rechts kriechen, dann kommst du an einen Seitengiebel, der runter zum Dach des Badehauses führt. Die Rinne dazwischen führt steil zur Dachkante, aber darunter ist eine Hausecke, eine innenliegende. Er grinste. „Mit einem Mords-Rosenbusch von
meiner Liebsten. Jede Menge Dornen und so - verstehst du?“ „Ich muß springen?“ „Sanft wie eine Feder. Zwischen der Hauswand und dem Busch ist eine Handbreit Platz. Vielleicht zwei.“ „Nett.“ „Wenn du auch nur eine der Rosen zerknickst, wird Trine dich kastrieren, verlaß dich drauf!“ Er grinste noch breiter. „Also paß auf!“ Belder nickte angriffslustig. „Ich werde sie bitten, mir was anderes abzuschneiden, wenn ich's nicht schaffen sollte. Meine Kampfausrüstung brauche ich noch.“ A Fries' Gesicht wurde ernst. „Du liebst sie, was? Deine kleine Rothaarige.“ „Paß auf, was du sagst, du Gnom!“ drohte Belder mit erhobenem Finger. „Sonst kannst du später mit mir einen Verein der Geschlechtslosen aufmachen, verstehst du?“ „Schon gut, du Barbar. Los, raus jetzt mit dir! Wenn du nur halb so gut bist, wie ich bisher glaubte, kommst du unten an, ohne daß dich einer hört oder sieht. Und paß mir auf Reni auf, ja?“ Belder nickte und trat zu der Öffnung. Er sah sich um und stellte fest, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb. „Hast du n' e Vorstellung, wohin die Weiber gegangen sind?“ fragte er. „Zum Hafen. Immer den rumliegenden Leichen nach. Dann kannst du sie nicht verfehlen.“ Belder stieß ein leises Auflachen hervor und machte sich daran, durch die Öffnung zu kriechen. Als er draußen war und bäuchlings auf dem leicht abschüssigen Dach lag, hörte er a Fries' Stimme. „Was ist?“ „Nimm deiner Kleinen 'ne Rose mit, Barbar. Ich werd's auf meine Kappe nehmen.“
19
Der Verräter
Abbot Melkor winkte sie zum Eingang des Tempels herein. Als sie sich in der relativen Sicherheit des nur schwach beleuchteten Tempelinneren befanden, trat der Geweihte zu ihnen. „Dies ist ein heiliger Ort“, sagte er mit ernstem Gesichtsausdruck. „Euch wird hier nichts geschehen. Aber dennoch - ich möchte wissen, was euch hierher treibt!“ Er sah Andrina an, die sich des Kopftuchs entledigt hatte. „Du bist dieses Mädchen vom Schiff, nicht wahr?“ Dann sah er zu Sirah. „Und dich kenne ich auch!“ Sirah nickte. „Lange ist's her, Abbot Melkor.“ „Ja, du bist Sirah. Die man eine Hexe nennt. Du wohnst da oben, auf der kleinen Hochebene am Dicken Mann. Früher lebtest du hier in Sykand.“ „Ja, bis man mich verjagt hat. Ihr wart damals auch dabei, Melkor!“ „Mit Recht!“ sagte der Efferdgeweihte. „Du hast dich etlicher Handlungen schuldig gemacht, die in keinem Fall im Sinne der Zwölfgötter sind!“ Sirah seufzte. „Ich habe nur ein paar Kranke geheilt, die nirgends sonst eine Linderung erfuhren. Auch hier nicht, in Eurem Tempel!“ Melkors Miene wurde noch strenger. „Wenn Peraine nicht gewillt ist, einem Kranken zu helfen, dann hast auch du dies als ein göttliches Urteil anzunehmen, Sirah! Es steht dir nicht zu, dich über die Entscheidung eines Gottes hinwegzusetzen!“ Sirah winkte ab. „Ich sehe das anders.“ Abbot Melkor nickte streng. „Das ist mir bekannt.“ Dann wandte er sich wieder Andrina zu. „Was wollt ihr nun, ihr
Frauen?“ Andrina sah kurz zu Renika und Sirah. „Es geht um die Anschuldigung gegen mich“, sagte sie und blickte den Geweihten an. „Gegen mich und ...“ „Oho! Du kannst also doch sprechen!“ bemerkte Melkor. Andrina nickte brav. „Ja, kann ich.“ Sie schwieg einen Moment. „Also - es geht um den Verdacht gegen mich und gegen Belder“, fuhr sie fort. „Und alle, die verdächtigt werden, mit uns unter einer Decke zu stecken. Ich bin unschuldig! Ich habe nichts mit dem Dämonen zu schaffen und auch nicht mit den Zombies.“ Abbot Melkor sog scharf die Luft durch die Nase ein und hob das Kinn. „Selbst angenommen, deine Behauptung stimmt. Wie könnte ich dir da helfen? Ich bin nur ein Geweihter, der Efferd dient.“ „Ich dachte, Ihr könntet ... nun vielleicht versuchen, meinen...“ Sie schnaufte angespannt und unterbrach sich. Renika und Sirah sahen sich fragend an. „Was?“ fragte der Abbot scharf. „... versuchen, meinen reinen Geist zu erspüren“, beendete Andrina ihren Satz. „Und dann den Leuten sagen, daß ich keine Zauberin bin. Dessen seid Ihr doch fähig, oder?“ „Deinen ... reinen Geist erspüren?“ Das Gesicht des Geweihten zeigte nun eine Spur von Spott. „Wie soll das gehen. Mädchen?“ Sie hob die Schultern. „Ich dachte, Geweihte könnten das. Mit ihren Geisteskräften die Gutartigkeit von Wesen erspüren. Durch Körperkontakt.“ Sie streckte ihre rechte Hand aus. Abbot Melkor wich zurück, starrte auf die Hand. „Was soll das?“ stieß er hervor. „Willst du mich ... mit deinen dämonischen Kräften übermannen?“ „Aber nein!“ Andrina verzog elend das Gesicht und stampfte
mit dem Fuß auf. „Ich hab damit nichts zu tun! Ihr solltet das doch erspüren können!“ Melkor schüttelte heftig den Kopf. Er wich noch weiter zurück. Seine Hände hielt er noch immer unter seinen weiten Ärmeln verschränkt, machte keine Anstalten, Andrina die Hand zu reichen. „Nein - das werde ich nicht tun! Niemals!“ Wieder starrten sich Sirah und Renika verblüfft an. „Andrina! Was tust du da?“ fragte Renika. „Was soll das?“ Andrina sah ärgerlich zu ihnen. „Ich will, daß er mir die Hand gibt!“ sagte sie. Und wieder wich der Abbot zurück, schüttelte nach wie vor den Kopf. „Ich will jetzt deine Hand, Efferdgeweihter!“ schrie Andrina plötzlich, streckte ihre Hand vor und starrte Melkor voller Zorn an. „Bei allen Teufeln, dreht sie jetzt durch?“ flüsterte Renika. Sirah trat vor. „Andrina, so beruhige dich doch!“ sagte sie. „Wie soll uns das denn helfen ...?“ Andrinas Kopf fuhr herum, und ihre Augen starrten Sirah giftig an. In ihrem Gesicht stand so etwas wie heiliger Zorn. Sirah hätte gar nicht gedacht, daß Andrinas Gesicht je einen solch abgründigen Ausdruck hätte annehmen können. Die roten Haare, schon wieder halb trocken, wallten über ihre Schultern herab, und mit einem Mal sah sie aus, als wäre sie selbst eine Dämonin - eine wilde, zu allem entschlossene Bestie. Sirah schluckte. Ein gräßlicher Verdacht stieg in ihr auf. Renika sprang auf sie zu und versuchte sie zu halten, sie irgendwie zu beruhigen, und Sirah wollen noch schreien, daß sie es lassen sollte, aber da war es schon zu spät. Mit einer Bewegung schüttelte sie Renika ab, sprang dann mit einem Satz auf Melkor zu und hieb ihm mit aller Kraft die Faust in den Magen.
Der Geweihte stieß ein Röcheln aus, krümmte sich zusammen, taumelte zurück und breitete die Arme aus, um irgendwie das Gleichgewicht halten zu können. Sirah schrie auf, aber da sprang Andrina schon wieder auf den Geweihten zu, behende wie eine Katze, holte aber erstaunlicherweise nicht zum Schlag aus, sondern packte seine rechte Hand, wirbelte zu einer Rolle vorwärts über seinen Arm und verdrehte ihn dabei so, daß der Geweihte mit einem Aufschrei nachgeben mußte und selber zu Boden ging, um seinen Arm davor zu bewahren, ausgekugelt zu werden. Sirah keuchte. Andrina schoß schon wieder in die Höhe, kniete, hielt noch immer Melkors Hand umklammert und starrte angestrengt darauf. Dann fuhr ihr Kopf hoch. „Er ist es!“ schrie sie. „Ich hatte recht! Er ist es!“ Renika, die Andrina hinterhergestürzt war, blieb wie angewurzelt stehen. Im nächsten Moment erhielt Andrina einen heftigen Tritt von hinten, von Melkor, der am Boden lag. Sie mußte ihn loslassen und krachte, mit dem Kopf und der Schulter voran, gegen einen steinernen Sockel, der direkt vor ihr stand. Sie fand keine Zeit mehr, die Arme schützend hochzureißen. Ein markerschütterndes Krachen ertönte, als man Knochen brechen hörte. Andrina sackte zusammen und blieb auf der Stelle liegen, ein furchtbarer Schwall Blut ergoß sich aus einer schrecklichen Kopfwunde. Renika und Sirah standen wie erstarrt. Melkor rappelte sich auf. „Diese Hexe!“ kreischte er wie von Sinnen. „Diese dreimal verfluchte Hexe!“ Renika stürzte zu Andrina, die leblos am Boden lag. „Oh nein!“ schrie sie. „Er hat sie umgebracht!“ „Geschieht ihr recht, dieser Hexe!“ schrie Melkor zurück. Renika ließ sich neben Andrina auf den Boden fallen, wagte nicht, sie anzurühren. Die Blutlache auf dem Boden wurde größer.
Sirah trat einen Schritt um den anderen auf Melkor zu. „Was ist da?“ fragte sie und ihre Stimme klang kalt und drohend. „Was ist da an deiner Hand?“ „Ha!“ schrie Melkor. „Was da ist? Mein goldener Ring natürlich! Mein Efferd-Ring!“ Sirah ging weiter auf Melkor zu. „Dein Ring?“ „Haha. Natürlich - mein Ring!“ Melkor hielt seine rechte Faust in die Höhe, an der ein großer, goldener Ring mit einem wasserblauen Stein in der Mitte leuchtete. „Die verdammte kleine Hure muß ihn irgendwo gesehen haben, was?“ „Ja!“ schrie Sirah plötzlich. „Ich hab ihn auch gesehen! Auf dem Schiff!“ Sie deutete mit weit vorgerecktem Finger auf seine Faust. „Das ... ist die Hand, die die Laterne hielt! Da unten im Bauch des Schiffes! Letzte Nacht! Als ein Fremder auf das Schiff kam, uns blendete und das Buch stahl!“ „Haha! Alte Hexe! Kommst du auch endlich dahinter?“ Melkor stand nun wieder, wich aber Schritt um Schritt zurück - je weiter Sirah auf ihn zukam. Von hinten war nur Renikas Schluchzen zu hören, die über Andrina kniete. „Willst du noch eine Portion haben, alte Hexenhure?“ Sirah reagierte zu spät. Sie schaffte es zwar noch, die Augen zu schließen und den Arm hochzureißen, aber sie konnte Melkor nicht mehr erwischen. Wenige Schritte vor ihr explodierte mit einem lauten Knall ein weiteres Mal jenes stinkende und blendende Pulver, mit dem er sie schon einmal, an Bord der Dinia Tjerbus, überrascht hatte. Sirah ließ sich fallen, um der ätzenden Wolke des Teufelszeugs zu entgehen. Hustend lag sie am Boden, und nur ihr Gehör funktionierte noch einigermaßen. Was sie vernahm, war verwirrend. Es waren Schritte, die Schritte des fliehenden Melkor, aber da kamen noch andere, schwere Schritte, aus der
entgegengesetzten Richtung. Sie hörte einen Schrei und Schluchzen, Renikas Schluchzen, aber der Schrei - das konnte nur Belders Stimme gewesen sein. Sie hob den Kopf, versuchte Orientierung zu gewinnen, und endlich sah sie ihn. Wo kam er her? Er und Renika knieten über Andrinas Körper, dann schoß Belder in die Höhe und stieß einen schrecklichen Schrei aus. Einen Schrei voller tödlicher Wut, und Sirah wußte, daß sich ihm nun niemand mehr in den Weg stellen durfte. Plötzlich schien auch a Fries da zu sein. Er zeigte in ihre Richtung, über sie hinweg, und Augenblicke später rasten die beiden los, sprangen in einem weiten Satz über sie hinweg, sogar der Zwerg mit seinen kurzen Beinen und dem verletzten Oberschenkel, und dann waren sie weg. Hustend, und mit schmerzenden und tränenden Augen schleppte sich Sirah in Richtung der noch immer am Boden knienden und in Tränen aufgelösten Renika. „Seit wann haben solche Tempel Keller?“ knurrte a Fries. „Seit sich so ein Abschaum wie dieser Melkor darin eingenistet hat!“ Belders Stimme mit wütend zu beschreiben, wäre eine schlimme Untertreibung gewesen. Er war wie ein Vulkan vor dem Ausbruch. Tränen des verzweifelten Zorns liefen seine Wangen herab. Melkor hatte seine Andrina umgebracht, und a Fries wußte, daß der Efferdgeweihte jetzt mindestens zehn Dämonen und tausend Zombies brauchen würde, um noch lebend davonzukommen. Nein, einen Belder in so einer Verfassung überlebte niemand. Hinter dem Gebetssaal hatte eine schmale Treppe in die Tiefe geführt, und jetzt schlichen sie durch einen langen Gang. An den Wänden flackerten ein paar kleine Öllampen. „Melkor, du Dreckskerl!“ brüllte Belder. „Wo steckst du, Feigling! Glaub nicht, daß du mir entkommst!“
A Fries verzog das Gesicht - klug war das nicht gewesen, was Belder gerade getan hatte. Aber da hörte er schon ein irres Gekicher vom anderen Ende des Ganges zu ihnen dringen. „Du solltest mir dankbar sein, Belder! Durch mich hat Sykand endlich das bekommen, was es verdient!“ „Du hast Andrina getötet, du Schwein!“ Belder schrie vor Zorn. „Von dem kleinen Schubs ist sie gleich tot? Ha! Dann war sie nicht viel wert!“ Nun verlor Belder die Fassung. Mit einem Aufschrei gab er jede Vorsicht auf und stürmte voran. „Belder, du Narr!“ rief a Fries, aber sein Gefährte war nicht mehr zu halten. Er verschwand am Gangende nach links, und a Fries beeilte sich, ihm hinterherzukommen. Als er um die Ecke kam, war der Kampf bereits voll im Gange. Es waren Zombies - Belders Schwert kreiste und zuckte durch die Luft, und für einen Augenblick blieb a Fries verblüfft stehen. Nun sah er, womit sich Belder seinen angeblich legendären Ruf bei der Armee verdient hatte. Er war nun ganz offensichtlich wieder in Übung, so wie früher, und er beherrschte die Kunst, sich trotz seines überaus muskulösen und schweren Körperbaus so flink und geschickt zu bewegen wie ein Krieger, der nur die Hälfte seines Gewichts besaß. Ja, wie Andrina; a Fries hatte sie kämpfen sehen. Das arme Mädchen. Für Belder mußte gerade eine Welt untergegangen sein. Ja, es waren Andrinas Schnelligkeit und Gewandtheit, die Belder besaß, zusammen mit der Kraft seiner gewaltigen Muskeln. A Fries hatte Jandhar kämpfen sehen, aber gegen Belder würde er keine Chance haben. Sie befanden sich in einer kleinen, unterirdischen Halle, die teils direkt in den Felsen gehauen, teils ausgemauert war. Etwa so groß wie der
Gebetssaal oben im Tempel, aber nicht so hoch. Auch hier brannten Öllampen und Fackeln. In der Mitte zog sich ein fünf oder sechs Schritt breiter Abgrund quer durch den Raum; wie tiefer war, konnte a Fries nicht sehen. Jedenfalls stand Melkor dort drüben, jenseits des Abgrunds, und hielt irgendwas in der Hand. Um ihn herum türmten sich seltsame Dinge. Hausrat wie es schien; nein, alte Möbel, Stühle, Tische, Sessel, Teppiche, an den Wänden hängende Bilderrahmen, teils leer, Kerzenleuchter, lauter altes Zeug, aber Massen davon. A Fries schüttelte verblüfft den Kopf. Belder hieb mit aller Kraft um sich, und a Fries dachte, es würde langsam Zeit, ihm zur Seite zu stehen. Er hob seine Kriegsaxt, stieß ein Gebrüll aus und stürzte sich auf seine Feinde. Dann zog er mächtig durch - und holte gleich zwei oder drei der Bestien von den Füßen. Er verteilte mit den nächsten beiden Bewegungen zwei tödliche Axthiebe auf die Hälse zweier zu Boden gestürzter Zombies. Ein unerhörtes Triumphgefühl stieg in ihm auf. Zwei tote Zombies - kaum daß er sich ein paar Augenblicke im Kampf befand! Er hob die Axt und stieß einen Jubelschrei aus. Im nächsten Moment tat es knapp hinter ihm einen heftigen Schlag, und er fuhr herum. Dann war Belders Gesicht plötzlich ganz nah bei seinem und knurrte in heißer Wut: „Paß auf deine Haut besser auf, Gnom!“ A Fries winkte ab und hob wieder die Axt. „Wozu hab ich dich dabei, Barbar?“ Dann warf er sich wieder in den Kampf. Er wußte, daß ihm morgen früh alle Knochen weh tun würden, aber für den Moment machte es ihm richtig Spaß. „Müssen wir öfter mal spielen, Belder!“ rief er zwischen zwei flach und waagerecht angesetzten Axtstreichen. „Zombies in Stücke hauen!“ Sie kämpften sich gemeinsam gegen eine augenscheinlich zu hohe Zombie-Übermacht voran, aber sie spotteten der Zahl
ihrer Feinde. Zusammen kämpften sie so verläßlich und wirkungsvoll wie eine Maschine. A Fries schlug sich in Kniehöhe eine Bahn durch seine Gegner, und Belder mähte oben mit seinem Schwert hindurch und enthauptete, was durch a Fries' Angriffe von den Beinen geholt worden war. Binnen kürzester Zeit hatten sie zwölf oder fünfzehn Zombies niedergemacht. Einen Teil davon hatte Belder mit Tritten in den Abgrund befördert. Dann waren die Zombies besiegt. Belder hob sein Schwert wieder und ging langsam auf das breite Brett zu, das als Brücke über den Abgrund führte. „Warum?“ brüllte er zu Melkor. „Warum hast du das getan?“ „Warum?“ Der Geweihte ließ ein Ding, das wie ein Buch aussah, sinken. „Haha! Liegt das nicht auf der Hand? Hast du den Tempel oben nicht gesehen?“ „Was ist mit deinem verfluchten Tempel?“ brüllte Belder. Abbot Melkor hob abwehrend die Hand. „Ich würde an deiner Stelle nicht weitergehen, Belder! Nein, das würde ich sein lassen!“ Belder blieb sechs, sieben Schritte vor dem Brett stehen und musterte es mißtrauisch. „Der Tempel ist leer!“ schrie Melkor. „Ein verfluchtes Figürchen aus Katzengold hab ich, und das hat mir Ole Jannek besorgt! Ein gestohlenes Figürchen!“ „Na und?“ „Was, na und?“ kreischte Melkor. „Ganz Sykand ist voller Gold und Reichtümer, bloß im Tempel, da ist nichts! Gähnende Leere! Niemand kommt mehr, und wenn ich mal eine Spende von diesen verfluchten Geizhälsen kriege, dann sind es ein paar lumpige Heller! Das ist los! Der Efferd-Tempel in dieser Stadt ist ein Armenhaus, und die Bürger dieser dreckigen Stadt baden in Gold!“ Belder hatte verblüfft sein Schwert sinken lassen.
„Deshalb habe ich mir den Dämon geholt, haha! Übrigens mit Hilfe deiner kleinen Hexe, wußtest du das?“ Belder knirschte mit den Zähnen. „Ja, das hat sie uns gesagt. Aber sie ist keine Hexe! Sie wußte nicht mal, was in dem Buch stand, und auch nicht, daß es für dich bestimmt war!“ „Ha! Woher auch! Sie war nur eine dumme, kleine Botin! Aber trotzdem, sie hat es geschafft. Und jetzt ist der Dämon hier! Haha!“ „Das wird dir nun auch nicht mehr helfen, du Drecksack!“ brüllte Belder und setzte sich wieder in Bewegung. „Doch“, kreischte er, „wird es!“ In diesem Moment hob Abbot Melkor wieder das Buch. Er schloß die Augen, vollführte eine weitschweifende Geste und stieß drei seltsame Laute aus. „Belder! Vorsicht!“ rief a Fries. Aber Belder hatte es selber gemerkt. Er ließ sich fallen und kugelte zurück, als vor ihm, direkt an der Kante des Abgrundes, mit einem Knistern in der Luft etwas entstand. Etwas Strahlendes, hell Goldenes. A Fries stieß einen Fluch aus. Belder kam vor seinen Füßen zum Stillstand und sprang gleich wieder auf. Dann war er da, der Dämon. Hatte er vor Tagen noch dürr und spinnenbeinig ausgesehen, so wirkte er jetzt fett und aufgeblasen. Vollgefressen mit unserem Gold, dachte a Fries. Er hockte da, in seiner typisch wiegenden Art, sein ekliger Insektenkopf wippte von links nach rechts, und seine stechenden Augen musterten a Fries und Belder. Plötzlich schritt Melkor dort drüben zu einem der Tische und griff sich einen fünfarmigen Kerzenleuchter, der dort stand. Er nahm Anlauf, holte aus und schleuderte das Ding über den Abgrund hinweg zu ihnen. An der flachen und trägen
Flugbahn, die er besaß, sah a Fries, daß er schwer war. Gold. Dann polterte der Kerzenleuchter vor ihnen auf den Boden. Gleich darauf kam noch einer. Jetzt ist es aus, dachte a Fries. Im nächsten Augenblick wippte der Dämon ein wenig tiefer, setzte zum Sprung an und schoß auf sie los.
20
Titanenkampf
A Fries schloß nur noch die Augen, seine Axt hob er gar nicht mehr. Daß er irgendwas gegen die Bestie hätte ausrichten können, war unmöglich, das wußte er. Trotzdem kam das Monstrum nicht bei ihnen an. Ein Donnerschlag hallte durch die unterirdische Halle, und dann war ein gräßliches Fauchen zu hören, so als kämpften zwei gigantische Katzen in der Nacht gegeneinander. Als a Fries die Augen wieder öffnete sah er, daß Belder neben ihm auf dem Boden saß und entsetzt rückwärts robbte. Und vor ihnen, nur wenige Schritte entfernt, war ein mörderischer Kampf im Gange. Jemand kämpfte gegen den Dämonen, aber a Fries wußte nicht, wer es war. Es handelte sich um einen unglaublich riesigen Kerl, der sich zu Belder in der Größe unterschied wie er, a Fries, zu Belder. Der Kerl kämpfte mit einer Streitaxt, auf deren Blatt a Fries ein Mittagsschläfchen hätte halten können, und sein Oberkörper war nackt, die Haut von schimmernder, bronzener Farbe. Auf seinem Kopf befand sich nichts außer einem kuriosen Haarbüschel, das in der Mitte entsprang, zu einem unendlich langen Zopf verwunden war und sich mehrfach um den Hals des Riesen schlang. Er trug eine Hose aus braunem Leder und riesige Stiefel. Der Dämon, dessen bloße Berührung allein hätte tödlich sein müssen, schien dem Giganten nichts anhaben zu können. Der holte mit wütendem Gebrüll eins ums andere Mal aus und ließ seine gewaltige Axt niederfahren. Aber der Dämon war trotz seines aufgeblasenen Äußeren unglaublich flink und wich immer wieder aus. Zugleich stieß er immer wieder mit seinen langen, insektenhaften Beinen nach vorn, die, wie a Fries nun
sah, vorn mit einer einzigen, leicht gebogenen und gülden schillernden Klaue versehen waren. Der Dämon hatte den Riesen schon einige Mal getroffen, aber nur unerheblich. Der Riese ließ in seinen Anstrengungen nicht nach, den Dämon mit seiner gewaltigen Axt erwischen zu wollen. Dann sah a Fries links eine Bewegung. Sein Kopf fuhr herum, und er erkannte Sirah, die seitlich auf sie zutrat, dabei den Kampf genau im Auge behielt. Sie hielt ein kleines, helles Figürchen mit beiden Händen umschlossen. Offenbar ein kleiner Drache. A Fries deutete auf den Giganten. „Kommt der ... von dir?“ Sirah nickte. „Ein Dschinn. Aber er wird dem Dämonen nicht standhalten können! Wir müssen etwas unternehmen! Ich brauche das Buch!“ A Fries sah zu Belder hinunter, aber der schien vor Schreck erstarrt zu sein. Augenblicklich faßte er den Entschluß, daß er nun den Rest besorgen mußte. Langsam begann er sich nach rechts in den Schatten zu schieben. Er mußte hinüber, zu Melkor. Melkor aber sah, was sich auf ihrer Seite tat. Eine Übermacht des Dämonen war im Moment nicht zu erkennen, im Gegenteil, der Dschinn schien die Oberhand zu gewinnen. Melkor begann dort drüben wütend zu schreien. Auf seinem Tisch standen weitere Kerzenleuchter, und dann sah a Fries, daß dort auch Münzen und kleine Barren lagen. Melkor begann, das Zeug unter Flüchen auf die beiden kämpfenden Titanen zu werfen. Der Kampf schien seinem Höhepunkt entgegenzustreben. Der Dämon kam mit den Angriffen seiner Klauen nun öfter durch, dafür hackte ihm der Riese eines seiner Beine ab, das auf dem Boden umherzuckte und sich unter Zischen und Dampfen in nichts auflöste. Drüben gingen Melkor langsam die Wurfgeschosse aus. Der
Dämon indes verleibte sich alles ein, was auf diese Seite flog. Es war so etwas wie ein Rüssel, den er ausfuhr, und zwar jedes Mal, wenn er in die Nähe eines Gegenstands aus Gold kam. Und das tat er ständig, während der Kampf andauerte. Dann war alles weg. A Fries schob sich immer weiter nach rechts, aber da sah ihn Melkor und begann schreiend andere Sachen auf ihn zu werfen, eine Vase, ein kleine Schatulle - er schien nichts mehr aus Gold zu besitzen. A Fries hielt kurz inne, dann schob er sich weiter. Doch Melkor kam ihm zuvor. Er hüpfte los, begann an seiner Seite des Brettes zu ziehen, und Augenblicke später polterte es in den Abgrund hinab. A Fries fluchte. Und dann geschah das Befürchtete: In dem Augenblick, da der Dschinn einen mächtigen Treffer mit seiner Axt auf dem Leib des Dämonen erzielte, zuckte eine der Klauen des Dämons vor und durchbohrte den Riesen mitten in der Brust. Der Dschinn stieß ein unirdisches Brüllen aus, seine Knie gaben augenblicklich nach, und er sank zusammen. Alle drei, Belder, a Fries und Sirah stießen ein verzweifeltes, hilfloses Stöhnen hervor. Gleich darauf stand der Dämon allein vor ihnen. In der Oberseite seines insektenhaften Rückenpanzers klaffte ein breiter Spalt, durch den irisierendes, hellgoldenes Licht nach außen drang. Der gefallene Dschinn, ein wahrer Titan, aber völlig reglos und seine gewaltige Axt am Boden liegend, löste sich in einer seltsamen und zugleich faszinierend anzusehenden Wolke von unzähligen rosa Fünkchen auf. Immerhin schien der Dämon schwer getroffen zu sein, denn von seiner anfänglichen Beweglichkeit und Schnelligkeit war nur noch ein schwerfälliges Pumpen übriggeblieben. Belder und Sirah wichen zurück. Auf der anderen Seite kicherte Melkor wie irre. A Fries, der sich schon etliche Schritt zur Seite abgesetzt
hatte, maß die Entfernung über den Abgrund. Es war zu weit, das wußte er. Früher, in seiner Jugend, hätte er es vielleicht geschafft, nicht aber heute. Er sprang trotzdem. Er ließ seine Axt fallen, nahm mit aller Kraft Anlauf, stieß einen verzweifelten Schrei aus und sprang. Als er auf der anderen Seite aufkam und Melkor mitten vor die Beine purzelte, konnte er gar nicht glauben, daß er tatsächlich hinübergekommen war. Als er dann aber hochkam, stand Melkor über ihm, und irgendwoher hatte er ein Messer. Er hielt es in der hoch erhobenen Rechten, sein Ring blitzte im Licht der Öllampen auf. „Verfluchter Zwerg! Sterben sollst du!“ kreischte er. In dem Moment, da a Fries sich zur Seite kugeln ließ, blitzte ein Gedanke in seinem Hirn auf, ein Gedanke, den er gar nicht so schnell fassen konnte, wie er wieder weg war. Aber es gab jemand anderen, der diesen Gedanken auffing. Melkers Hieb ging ins Leere, a Fries rollte davon, und als er wieder auf die Beine kam, stemmte sich der Dämon gerade mit seinen langen Beinen, aber ziemlich schwerfällig über den Abgrund herüber. Belder und Sirah riefen und gestikulierten aufgeregt. Melkor hingegen hatte noch gar nicht mitbekommen, was sich da tat, und schritt abermals drohend auf a Fries zu. „Da, Geweihter! Dein Freund verlangt nach dir!“ sagte a Fries hämisch grinsend und deutete über Melkors Schulter hinweg. Schritt für Schritt zog er sich dabei zurück. Melkor fuhr herum und starrte den Dämonen mit weit aufgerissenen Augen an. „Aber ...“ keuchte er. „Bin mal gespannt“, knurrte a Fries voller Wut und Befriedigung, „ob du dir noch schnell deinen Finger abschneidest! Ein Messer hast du ja!“
Melkor starrte mit Entsetzen auf seine Hand, an der der große goldene Efferdring mit seinem blauen Stein prangte. Einen Augenblick später begann er daran zu zerren, aber da war es schon zu spät. Eine Kralle des Dämons schoß vor - nein, es war eine Schere, wie von einem Krebs. Bei der ersten Berührung, die Melkor gegen die nahe Wand schmetterte, schrie der Efferd-Geweihte voller Schmerz auf, versuchte sich taumelnd wieder in die Höhe zu stemmen, aber der Dämon war mit einer raschen Bewegung bei ihm und drückte ihn mit einer Klaue zu Boden. Dann packte er mit der Schere seinen Arm. Ein zweites Mal schrie Melkor auf, dieses Mal kreischend dann war sein Arm ab. Ein heftiger Blutstrahl pulste seitlich davon, und Melkor sank schreiend zusammen. A Fries wandte sich angeekelt ab. „Das Buch!“ hörte er Sirah herüberschreien. „Schnell! Das Buch!“ A Fries sah sich voller Panik um. Ja, sie hatte recht, nun war er allein hier drüben mit dem Dämon, und obwohl er keinen goldenen Ring trug wie Abbot Melkor, wußte er dennoch nicht, was der Dämon tun würde, wenn er mit Melkor fertig war. Der hiesige Teil der unterirdischen Halle war fünfzehn Schritt breit und vielleicht dreißig Schritt lang. Melkor, der gerade seinem Ende entgegenröchelte, hatte hier ein kurioses Sammelsurium vermeintlichen Wohlstands zusammengetragen; es sah aus wie in der Werkstatt eines Irren. „Und das Artefakt!“ rief Sirah. „Da muß ein Artefakt sein! Ohne das Artefakt kann ich den Dämon nicht stoppen!“ A Fries drückte sich an die Wand. Das Buch sah er - es lag allerdings gefährlich nahe bei dem Dämon. Den durfte er nicht berühren. Was einem dann geschah, das konnte man bestens an Melkor mitverfolgen, der sich in diesen Augenblicken in einen Zombie zu verwandeln begann. „Ein Artefakt?“ rief a Fries. „Wie sieht denn überhaupt ein
Artefakt aus?“ „Weiß ich nicht!“ rief Sirah zurück. Sie stand nun drüben an der Kante, neben ihr Belder. „Irgendwie nach einem magischen Gegenstand. Oder einem Kunstgegenstand. Ein Amulett, eine Figur, irgend so etwas!“ Der Dämon ließ in diesem Moment von Melkor ab und tappte wankend nach links - weg von a Fries. Der Zwerg nutzte die Gelegenheit und eilte zu Melkor. Er packte ihn und zerrte ihn am Kragen hoch. „Das Artefakt! Wo ist das Artefakt, du Scheißkerl!“ Melkor kicherte und röchelte zugleich. Das Blut, das noch immer aus seinem Armstumpf pulste, hatte sich inzwischen schwarz verfärbt und wurde langsam zu einem dickflüssigen Brei. A Fries verzog angewidert das Gesicht. „Das Artefakt?“ röchelte Melkor. „Haha. Ist in dem Buch, Zwerg! Hol dir nur dein Gold! Wird dir aber nichts mehr nützen, euch allen nicht! Heute nacht, wenn die Orks kommen, seid ihr alle tot!“ Dann fiel mit einem rasselnden Atemzug sein Kopf mit seiner sich langsam ausbildenden grinsenden Zombievisage zurück, und seine Augen erstarrten. Angeekelt ließ a Fries von dem Kerl ab. Das Buch lag nicht weit von ihm, aber der Dämon war ihm gefährlich nahe. A Fries holte tief Luft, nahm allen Mut zusammen und rannte los. Er zischte an dem Dämon vorbei, grapschte nach dem Buch, startete zur Kante vor dem Abgrund durch und warf das Buch hinüber. „Das Artefakt ist darin, sagt Melkor! Los - beeilt euch!“ Er flitzte gleich weiter, so weit weg wie möglich von dem Dämon zur rechten Wand. Dort duckte er sich hin, schwer atmend und zu der golden strahlenden Bestie gewandt. Der Dämon schien durch a Fries' Bewegung aufgestört worden zu sein. Er wandte die gräßliche Visage in seine
Richtung. A Fries stöhnte auf. „Los, macht schnell - das Biest kommt auf mich zu!“ Mit einem Seitenblick sah er, daß sich Sirah in das Buch vertieft hatte. Belder hingegen hatte sich von ihr entfernt und kam nun auf die Seite der unterirdischen Halle zu, wohin sich a Fries vor dem Dämon gerettet hatte. Allerdings befand er sich in relativer Sicherheit auf der anderen Seite. „Verflucht - das Vieh kommt näher!“ jammerte a Fries und drückte sich gegen die Wand. „Spring!“ rief Belder. „Spring wieder herüber!“ A Fries schüttelte heftig den Kopf. „Das schaffe ich nicht noch mal. Unmöglich. Hast du gesehen, wie tief das ist?“ „Willst du drüben krepieren?“ „Soll ich da unten krepieren?“ gab a Fries zurück. Belder stand nun auf seiner Höhe auf der anderen Seite des Abgrunds. Der Dämon, vom Treffer des Dschinns schwer angeschlagen, tappte auf a Fries zu - langsam, aber trotzdem, er kam. „Verdammt! Was soll ich tun!“ „Gold!“ stieß Belder hervor. „Er ist scharf auf Gold! Hast du irgendwas aus Gold an dir?“ „Gold? Ich ...“ A Fries begann an seinem Kragen zu nesteln. , Ja, hier ist was - ein winziges Kettchen ... von Trine...“ „Wirf es um Himmels willen weg! Wirf es dem Dämon zu!“ A Fries riß sich das Kettchen vom Hals und schleuderte es von sich. Der Dämon erzitterte, blieb kurz stehen. Er fuhr seinen ekligen Rüssel aus, und dann - Schlupp! - war das winzige Kettchen weg. Man hatte es kaum sehen können. Kurz darauf setzte er sich wieder in Bewegung. „Sirah!“ rief a Fries verzweifelt. „Was ist los? Schaff mir dieses Monstrum vom Leib!“
„Ich tue was ich kann! Ich brauche noch einen Moment!“ kam es zurück. Die Zauberin hatte sich in einen Schneidersitz niedergelassen, hielt mit der linken Hand irgendein Ding an einer Schnur in die Höhe und fuhr mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die hölzernen Tafeln des Buches, dabei angestrengt murmelnd. Der Dämon tappte weiter auf a Fries zu. Und zu allem Unheil richtete sich am anderen Ende der Halle nun auch noch der tote Abbot Melkor wieder auf. Der Zwerg begann unkontrolliert zu zittern. „Du mußt noch irgendwas aus Gold an dir haben, a Fries!“ rief Belder. Dann deutete er auf a Fries' Wams. „Die Knöpfe da! Aus was sind die?“ A Fries starrte zitternd an sich herab. Die Knöpfe seines Wamses waren kostbare kleine Kunstwerke, die Oberfläche mit tiefgrünen und einigen kleinen, goldenen Kordeln dekoriert. „Ich weiß nicht“, rief er zurück. „Irgendwas...“ „Ihr verdammten reichen Säcke!“ rief Belder wütend. „Tragt Zeug für Unsummen am Leib und wißt nicht mal, was es ist! Weg damit!“ Er winkte heftig und deutete dann in die Tiefe. „Zieh das Ding aus! Wirf es in den Abgrund - da, neben dem Dämon! Vielleicht springt er hinterher!“ Voller Panik schälte sich a Fries aus seinem Wams und schleuderte ihn in den Abgrund - so weit weg von sich wie möglich. Der Dämon tappte weiter auf ihn zu. Es waren nur noch zehn Schritte. A Fries begann vor Angst zu jammern. „Du mußt noch irgendwas an dir haben! Deine Hose!“ „Aber...“ „Da ist doch auch ein Knopf! Oder deine Gürtelschnalle! Weg mit dem Zeug!“ A Fries glaubte wirklich nicht, daß da noch irgendwelches Gold war - seine Gürtelschnalle war, soweit er wußte, aus Eisen -ja, er hatte sie doch neulich noch poliert... Die Bestie
kam immer näher. Voller Panik riß er sich die Hose herunter, stand dann nur noch in Unterwäsche da, am ganzen Leib zitternd, und warf die Hose ebenfalls in den Abgrund. Der Dämon kümmerte sich nicht darum, kam weiter auf ihn zu. Melkor am anderen Ende der Halle stand bereits wieder. „Verflucht!“ schrie a Fries. „Was soll ich tun?“ „Vielleicht hast du gülden in deine Unterhosen geschissen, du reicher Sack!“ schrie Belder - und er meinte es nicht als Witz. A Fries riß sich, ohne etwas zu erwidern, auch noch die Unterwäsche vom Leib, stand nun ganz nackt da, warf das Zeug von sich, aber der Dämon tappte weiter. Es waren nur noch fünf Schritt. A Fries schloß vor Entsetzen die Augen. „Spring!“ schrie Belder. „Bei Rondra - spring!“ Da plötzlich schoß Sirah aus dem Schneidersitz hoch, hielt das Amulett in die Höhe, ließ das Buch fallen und rief, während sie eine entschlossene Geste mit der Rechten machte, eine Reihe von unverständlichen Wörtern. Ein scharfes Knistern ertönte. Als a Fries nach langer Zeit, während der er den Prankenhieb des Dämons erwartete, die Augen angstvoll öffnete, stand vor ihm eine riesige, bewegungslose Statue. Und Melkor, der weiter hinten losgetappt war, lag ebenfalls regungslos am Boden. Belder stieß ein Ächzen aus und ließ sich auf den Hintern fallen. Dort drüben kauerte der nackte a Fries an der Wand, abwehrend die Arme erhoben, und vor ihm befand sich der riesige, zu Gold erstarrte Dämon. Wenn es auf dieser Welt irgendein Bild der Lächerlichkeit gab, das ein Künstler unbedingt auf ein Gemälde hätte bannen sollen, dann war es dieses. Belder hatte Tränen der Verzweiflung in den Augen, aber er mußte kichern.
Sirah kam zu ihm geeilt und kniete sich vor ihn. „Belder! Du mußt mit mir hinauf! Andrina lebt!“ Sein Kopf fuhr herum, und er packte Sirah am Kragen und zog sie zu sich. Seine Augen waren groß und rund, und sein Mund formte ein riesiges, ungläubiges O. „Was sagst du da?“ keuchte er. „Andrina lebt?“ „Ja. Es geht ihr sehr schlecht. Ein Schädelbruch. Aber ich hab sie halten können. Wir müssen uns um sie kümmern! Renika ist bei ihr geblieben!“ Mit einem Satz war Belder auf den Füßen und stürmte los. Er erreichte den Gang, bevor sich Sirah überhaupt hatte erheben können. Sie beeilte sich, ihm zu folgen. „He!“ kreischte der Zwerg. „Was ist los? Wo wollt ihr hin? Was wird aus mir?“ „Zieh dir was an!“ rief Sirah über die Schulter. Dann war auch sie verschwunden. Als sie oben ankam, waren einige Leute da, Bewohner von Sykand, die verblüfft und unschlüssig im Eingang des Tempels standen und leise tuschelten. Andrina lag noch immer an der gleichen Stelle am Boden, Renika und Belder knieten bei ihr. Renikas Oberkörper war entblößt. Sie hatte ihr Hemd in Streifen gerissen und Andrinas Kopfwunde damit verbunden, war immer noch damit beschäftigt. Sirah eilte zu einer der umstehenden Frauen und forderte ihre Wolljacke. Die Frau zögerte, gab sie dann aber Sirah. Die Zauberin trat zu den dreien, hängte Renika die Wolljacke um die Schultern und kniete sich dann zu Andrina. Belder weinte wie ein kleines Kind und flüsterte Andrina leise, verzweifelt aufmunternde Worte zu. Renikas Tränen waren bereits getrocknet, aber ihr Gesicht war rot und heiß. Andrina lag bewegungslos auf dem Rücken, aber ihre Augen waren offen. Sie sah nicht gut aus. Sirah fühlte ihren Puls. Er war flach und kraftlos, aber immerhin, sie lebte.
Die alte Zauberin hob den Kopf. „Wo ist euer Heiler?“ fragte sie die Leute. „Holt um Himmels willen euren Heiler! Schnell!“ Die Leute zögerten abermals. Sie sahen sich gegenseitig an, es war offensichtlich, daß ihnen nicht klar war, was hier geschehen war. Und schließlich handelte es sich hier auch noch um Belder, Sirah und Renika, die ihre Hilfe forderten, während die schlimmste von allen, die rothaarige Hexe, am Boden lag. Belder erhob sich und wischte sich die Tränen weg. „Verdammt,“ sagte er und hob hilflos die Arme. „Um unserer gemeinsamen Heimatstadt willen, vertraut mir - nur dieses eine Mal! Euer Geweihter war es, der hinter allem steckte! Und dieses Mädchen hat alles aufgedeckt! Sie hat euch von dem Verräter befreit! Ihr werdet sie doch jetzt nicht hier sterben lassen wollen!“ Noch immer herrschte eine Stimmung mißtrauischen Zweifels unter den Leuten, dann aber begannen sie noch einmal miteinander zu tuscheln, und schließlich verschwanden zwei von ihnen - die Gruppe schien sich einen Ruck gegeben zu haben. Die anderen aber, die zurückgeblieben waren, erweckten eher den Eindruck, als würden sie Belder und seine Freunde bewachen und nicht begaffen wollen. Sirah wandte sich Andrina wieder zu. „Ich muß dich in Schlaf versetzen, Kindchen! Halte durch, und bewege dich auf keinen Fall, ja?“ Andrinas Antwort war ein langsames Augenblinzeln. Sie schaffte es sogar, ihre Mundwinkel zur Andeutung eines Lächelns zu verziehen. Sirah begab sich in Konzentration. Sie besann sich auf einen uralten Heilzauber, den sie seit Ewigkeiten nicht mehr angewandt hatte. Er würde das Mädchen müde machen, aber gleichzeitig ihr Herz wieder kräftigen. Als sie den Kontakt zur astralen Energie des Limbus
verspürte, murmelte sie leise die Silben des Spruches und spürte dann, wie sich magische Fäden ineinander verflochten und eine Verwebung ergaben, die sich, unsichtbar für die Augen der Umstehenden, über Andrina senkten. Sie hielt noch immer Andrinas Hand und hatte das Gefühl, daß ihr flacher Puls ein wenig auflebte. Als sie die Augen öffnete und Andrina ansah, waren die ihren geschlossen. Sie sah zu Belder auf. „Ihre Schulter ist auch gebrochen“, sagte sie ernst. „Es geht ihr sehr schlecht, und es kann noch immer schnell zu Ende gehen mit ihr, Belder. Wir können nur die Götter anflehen, ihr zu helfen.“ Belder schluckte. Er hielt Andrinas andere Hand. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, das darf nicht sein“, sagte er leise, und wieder sah sie Tränen in seinen Augen. „Ich liebe sie.“ Sirah seufzte schwer und nickte. Daß Belder, dieser harte, kantige Kerl, so etwas sagte, wo es doch alle hören konnten, bedeutete viel. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Hör nicht auf damit“, sagte sie. „Das wird ihr helfen.“ Renika legte Belder die Hand auf die Schulter, und Belder sah wieder zu Andrina hinab. Sie lag völlig reglos da, die Augen geschlossen. Er blickte fragend auf Sirahs Hand, die immer noch Andrinas Puls umschloß. Sirah nickte. „Ihr Herz schlägt, Etwas besser als zuvor. Ich werde ihr nicht von der Seite weichen.“ Sie saßen noch eine Weile schweigend bei Andrina, dann kamen Leute. Unter ihnen der Heiler, den Belder bisher nur zwei, drei Mal gesehen hatte. Er war ein kleiner, rundlicher Mann gesetzten Alters mit gütiger Miene, aber er hatte sich dennoch bisher immer geweigert, Belder zu behandeln, wenn er ihn mit seinen Blessuren, die er von seinen Schlägereien davongetragen hatte, um Hilfe gebeten hatte. Belder sah ihn nicht an.
Der Heiler, er hieß Prander Thallis, ließ sich neben Andrina nieder und mied Belders Blick ebenfalls. „Was ist geschehen?“ fragte er. „Sie hat wahrscheinlich einen Schädelbruch. Melkor hat sie gegen diesen Sockel hier gestoßen.“ Thallis sah ernst in die Runde, zu Renika, Sirah und dann schließlich auch zu Belder, und nickte. Es mußte sich langsam das eine oder andere herumgesprochen haben, anders war es nicht zu erklären, daß die Leute nun tatsächlich zu helfen begannen. „Ich habe einen Zauber gewirkt“, sagte Sirah und nickte in Richtung Andrina. „Um ihr Herz in Gang zu halten. Aber mit Knochenbrüchen kenne ich mich nicht aus.“ Thallis nickte wieder. Vorsichtig löste er einen Teil ihres Kopfverbandes und blickte darunter, Mit aller Sanftheit drehte er ihren Kopf leicht hin und her und tastete die Schädeldecke rund um die Wunde ab. „Das Mädchen kriegen wir schon wieder hin!“ sagte er zuversichtlich und nickte abermals. Belder ließ ein Seufzen hören. „Aber sie wird erst einmal hier liegenbleiben müssen. Wir können sie nicht transportieren, ehe es ihr nicht besser geht. Sie braucht Wärme, frische Verbände und eine etwas weichere Unterlage.“ Er wandte sich um und sah zu den Frauen. „Los, ihr Damen! Ihr habt es gehört!“ Wieder gehorchten einige der Leute, strebten fort, um das Verlangte zu holen, und Belders Erleichterung wuchs. Nur ein paar Männer blieben und starrten zu ihnen. Es wurde langsam dunkel. Draußen schickte sich die Praiosscheibe gerade an, hinter den westlichen Felsen der Hafeneinfahrt unterzugehen. „Ihr könnt hier nichts mehr tun“, sagte der Heiler und nickte Belder und Renika zu. „Wir kümmern uns schon um sie.“ Belder nickte, wich aber nicht von der Stelle.
Thallis starrte ihn an, sein Blick spiegelte Verlegenheit. „Ich meine ...“ „Was?“ Thallis verzog das Gesicht. „Ich war heute nachmittag auch dabei. Am Haus von a Fries. Vielleicht solltest du mit ein paar Leuten, die das hier mitgekriegt haben, hinaufgehen und ...“ Renika schoß in die Höhe. „Jandhar!“ rief sie. „Und die anderen!“ Belder stand nun auch auf. „Es wird gleich dunkel! Sie wollen das Haus stürmen!“ Renika schlüpfte nun ganz in die Wolljacke, die ihr bisher nur über den Schultern gehangen hatte. „Los! Sonst kommen wir noch zu spät!“ Belder wandte sich um und trat zu einer Gruppe von vier Männern, die gerade aus den Katakomben kamen und sich leise unterhielten. „Was ist?“ fragte er sie mit finsterem Gesichtsausdruck. „Werdet ihr mir diesmal helfen?“ Die Männer starrten ihn kurz an, dann nickten sie und folgten Belder und Renika nach draußen. Bald darauf verfielen sie in Laufschritt, denn die Helligkeit des Tages ließ nun schnell nach. Aber es dauerte nicht lange, da erreichten sie a Fries' Haus. Wie erwartet, hatte sich schon eine größere Menge von Leuten dort eingefunden. Sie riefen und schimpften durcheinander, viele hatten schon Fackeln entzündet, und Jachoch, Threll und Zappsteen waren natürlich mittendrin. Als man Belder erkannte, erscholl ein vielstimmiges „Ah!“ und „Oh!“, und die Menge wich auseinander. Er trat, Renika im Arm und unter dem Schutz der vier Männer, die sie begleitet hatten, mitten unter die Leute. „Da ist Belder!“ rief Threll mit seiner zittrigen Stimme. „Ergreift ihn!“
Einer ihrer vier Begleiter, ein großer, rundlicher Mann, den Belder nur vom Sehen kannte, trat mit hoch erhobenen Händen vor und rief: „Haltet ein! Belder ist unschuldig! Und das Mädchen auch! Wir sind Zeugen!“ Wieder erhob sich heftiges Gemurmel und Gerede, und der Mann sah Belder unschlüssig an. „Na los!“ zischte Belder. „Auf mich hören sie nicht. Wenn du mir helfen willst, dann verschaff dir Gehör!“ Der Mann musterte Belder, dann nickte er. „Also gut,“ sagte er. „Ich glaube, du bist im Recht.“ Die Menge umringte nun Belders Gruppe und er holte tief Luft. Dann aber trat der Mann mutig vor und hob die Hände. „Der Dämon ist besiegt!“ rief er entschlossen. „Und die Zombies auch! Es war ...,“ er senkte die Stimme und sah kurz Belder an, „... nun ja, ob ihr es glaubt oder nicht, es war unser Efferdgeweihter.“ „Was?“ rief Jachoch wütend und trat vor. „Hat er dich nun auch schon umgarnt, Till?“ Der große Mann mit Namen Till schüttelte den Kopf. „Nein, nein, Jachoch, glaub mir! Es stimmt wirklich. Ich war zwar nicht dabei, aber wir waren danach unten - in den Katakomben!“ Er sah unsicher in die Runde. „Unter dem Tempel gibt es geheime Räume. Unser guter a Fries steht da splitternackt, aber er hat uns einen großen Dienst erwiesen!“ „Bei Efferd!“ rief Belder aus. „A Fries - er ist ja immer noch da unten!“ Es ergab sich ein kurzer Tumult, als Belder wieder verschwinden wollte, aber Till erwies sich dann doch als wortgewaltig genug, um die Menge zu beruhigen. Renika wollte hierbleiben, zurück zu Jandhar gehen, aber Belder zog es zum Tempel, zu Andrina und natürlich auch zu a Fries. Der Zwerg hatte sie alle durch seine mutige Tat gerettet. Aber er brauchte etwas zum Anziehen. Es wurde noch etwas kompliziert, all die widerstreitenden
und verwirrten Gemüter zu besänftigen, aber keiner wollte mehr den Kampf. Alle schienen irgendwie erleichtert, daß die Sache offenbar ausgestanden und der Dämon besiegt war. Belder rief zu den Fenstern hinauf, daß die Gefahr vorüber wäre und man aufmachen könnte. Renika fiel Jandhar erleichtert um den Hals, und Belder schickte Trine, um Kleidung für ihren Liebsten zu holen. Fünf Minuten später waren sie wieder auf dem Weg zurück zum Hafen. Ein Teil der Menge hatte sich inzwischen aufgelöst, ein paar Neugierige jedoch waren bei ihnen geblieben und begleiteten sie. Gemeinsam mit Trine und dem Troß der Neugierigen eilten sie zurück zum Hafen und betraten den Efferd-Tempel. Belders Herz schlug bis zum Hals, als er zu Sirah und Thallis trat, die mit ernsten Minen neben Andrina knieten. „Wie geht es ihr?“ fragte er voller Angst. „Schlecht, aber dennoch ein bißchen besser“, sagte Thallis. „Wir müssen sehen, ob sie die Nacht übersteht. Wenn sie es bis morgen früh schafft, dann besteht Grund zu guter Hoffnung.“ Belder holte tief Luft. Dann piekste ihn etwas, und ihm fiel ihm etwas ein. Er öffnete seine Weste, langte darunter und zog eine Rose hervor. Sie war arg zerknittert und mitgenommen, und mit einem verlegenen Lächeln strich er. sie glatt. Dann legte er sie Andrina in die Hand. Sirah lächelte ihn so glücklich an, als hätte sie die Rose erhalten. „Ich muß nach a Fries sehen“, sagte er und erhob sich. „Ich bin gleich wieder da.“ Trine und ein paar andere Leute waren schon vorausgegangen, und Belder wäre am liebsten bei Andrina geblieben, aber er konnte a Fries nicht einfach dort unten schmoren lassen. Er stieg die Treppenstufen hinab, durchquerte den Gang und erreichte schließlich die unterirdische Halle. Er waren mehr Leute da, als Belder vermutet hatte, und sie hatten bereits einen Balken heruntergetragen, über den a Fries
gerade fluchend zurück in die Welt der Lebenden balancierte. Drüben stand, beeindruckend groß und noch immer irgendwie beängstigend, der goldene Dämon. A Fries trug eine Hose, die Trine ihm hinübergeworfen haben mußte. Es gab eigentlich niemanden hier unten, der nicht irgendwie grinste oder leise lachte. Außer dem fluchenden a Fries natürlich. Als er drüben war und Belder erblickte, kam er forsch auf ihn zumarschiert und riß unterwegs Trine ein Hemd aus den Händen, in das er hineinschlüpfte. „Du scheinheiliger Mistkerl!“ rief er Belder entgegen. „Ich hatte recht: du bist ein Barbar! Erst beschimpfst du mich aufs übelste, bringst mich dann dazu, mich nackt auszuziehen, so daß nachher jeder über mich lachen kann, und zuletzt läßt du mich hier auch noch allein zurück! Ich hätte gülden in meine Unterhosen geschissen! Paß bloß auf, daß ich dir nicht irgendwohin scheiße!“ Die Leute kicherten, Trine auch, aber a Fries schien stinkwütend zu sein und baute sich vor Belder auf, die massigen Zwergenfäuste in die Hüften gestemmt. „Irgendwas aus Gold mußt du noch an dir gehabt haben!“ beharrte Belder. „Sonst wäre dir der Dämon nicht immer näher gekommen!“ A Fries warf die Faust in die Luft. „Papperlapapp!“ rief er. „Du wußtest, daß Sirah es schaffen würde, und wolltest mich bloß der Lächerlichkeit preisgeben! Wahrscheinlich steckt ihr unter einer Decke!“ Belder schüttelte den Kopf. „Stimmt nicht.“ „Klar stimmt das! Barbar!“ Belder beugte sich hinab zu a Fries. „Grins mich mal an. Gnom!“ „Was?“
„Du sollst mich mal angrinsen!“ A Fries zog unwillkürlich die Mundwinkel hoch, sog dann aber vor Schreck Luft ein. „H-hhh!“ Er schlug die Hand vor den Mund. Belder nickte. „Dachte ich mir's! Aber zugegeben, den Goldzahn hättest du dir kaum mit bloßen Händen rausreißen können. Bedank dich bei Sirah!“ Belder wandte sich mit ernstem Gesicht ab, aber kaum war er herum, huschte ein Lächeln des Triumphes über sein Gesicht. Nun begann auch noch Trine mit a Fries zu schimpfen: sie hätte ihm schon immer gesagt, daß einem all das Gold den Charakter verdürbe ... Belder ließ sie stehen und machte sich auf den Rückweg. Andrina bereitete ihm Sorgen. Unterwegs holte ihn a Fries wieder ein. „Andrina lebt?“ fragte er. Belder maß ihn mit einem Seitenblick und nickte. A Fries hob entschuldigend beide Hände. „In dem Fall... nehme ich alles zurück und behaupte das Gegenteil. Tut mir leid. Ich wußte nicht, warum ihr so rasend schnell abgezischt seid.“ „Es geht ihr schlecht. Vielleicht schafft sie es nicht.“ A Fries bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten. „Klar schafft sie es. Ist Sirah bei ihr?“ „Und der Heiler. Wenn sie die Nacht übersteht, steigt die Hoffnung.“ Dann waren sie oben, und Belder und a Fries näherten sich dem Ort, an dem Andrina noch immer lag. Leise knieten sie sich dazu. „Alles in Ordnung?“ fragte Belder. Thallis und Sirah nickten. Dann sah Belder, daß man inzwischen das Blut weggewischt hatte und Andrina einen
neuen Kopfverband trug. Sie lag unter einer Wolldecke und war offenbar von Wärmflaschen eingerahmt. „Ich wünschte, wir könnten sie anheben“, sagte Thallis leise, „damit sie nicht auf dem harten und kalten Boden liegen muß. Aber vor morgen wage ich nicht, sie zu bewegen.“ „Ich werde heute nacht Wache bei ihr halten“, erklärte Belder. Sirah seufzte. „Keine Sorge, Belder“, sagte sie. „Dafür ist gesorgt. Ich werde ihr selber nicht von der Seite weichen.“ Thallis blickte auf. „Ich auch nicht“, sagte er und blickte wieder zu Boden. „Es tut mir leid“, fügte er dann hinzu. „Ich hab dich schlecht behandelt, Belder. Ich war bei der Meute dabei, die euch umbringen wollte.“ Belder erwiderte nichts. A Fries zupfte ihn am Ärmel. „He - komm mal mit!“ „Was denn?“ Als sie etwas abseits standen, sprach a Fries leise weiter. „Mir ist was eingefallen. Melkor sagte etwas von Orks, bevor er starb.“ „Von Orks?“ Belder maß seinen Zwergenfreund mit scharfen Blicken. „Verdammt!“ zischte a Fries. „Ich weiß, daß ihr alle glaubt, ich hätte einen Ork-Fimmel. Aber es ist wahr! Er sagte, es wäre egal, wenn wir den Dämon stoppten. Heute nacht, wenn die Orks kämen, wären wir ohnehin alle tot!“ Belder starrte a Fries an. Dann sah er zum Tempeleingang und deutete hinaus. „Heute nacht? Die Nacht hat bereits angefangen.“
21
Orks
Ongluk stand auf dem Felsen, von dem aus er schon seit Tagen immer und immer wieder Ausschau hielt, und starrte hinüber zum Land. Die Praiosscheibe war hinter dem Meer versunken, und spätestens jetzt hätte dort drüben auf der Landzunge, oder wenigstens oben bei der Ruine, ein Feuer aufleuchten müssen. Der Mann hatte es versprochen. Wie immer konnte er nicht stillhalten, tänzelte auf der Stelle hin und her und wäre lieber auf dem Boden gewesen, wo er mehr Platz gehabt hätte, hin und her zu laufen. Immer wieder kam ein unwilliges Grunzen über seine wulstigen Lippen. Er hatte seinen Leuten verboten, Feuer zu machen, denn das hätte man vielleicht vom Land aus sehen können. Die Überraschung war, wie er als erfahrener Kämpfer wußte, ein viel zu wertvolles Gut, als daß man es bedenkenlos wegwerfen konnte. Kurz ließ er seine Blicke über die Streitmacht schweifen, die zu seinen Füßen unter dem Felsen ausharrte. Das Geräusch von Wetzsteinen auf Metall klang zu ihm herauf, Gemurre und Geplapper - eine Orkhorde, die sich auf den Angriff vorbereitete. Dreimal fünfzig Mann, mehr hatte Rhussoi ihm nicht zugestanden. Hundert mehr, und er hätte die Stadt auch ohne diesen Dämonen-Trick angegriffen. Mit hundertfünfzig aber wollte er lieber auf der sicheren Seite sein. Er stand in Ungnade und mußte einen überzeugenden Sieg vorweisen. Wieder suchten seine Augen die Küste ab, aber da war kein Feuer zu sehen. Er fluchte auf Ologhaijan; wüste, harte Laute kamen über seine Lippen. Sie würden mit ihren großen Auslegerbooten vielleicht noch eine Stunde rudern müssen zuerst in den Schutz der Felsen neben der Hafeneinfahrt, dann
direkt in den Hafen hinein. Zu dieser Zeit sollte die Schlacht der Sykander mit den Zombies im Norden der Stadt in vollem Gange sein, wie der Mann gesagt hatte - was es ihnen erleichtern würde, an Land zu gehen. Er wußte, wie schwierig es sonst für sie werden würde er kannte keinen einzigen seiner Leute, der gern aufs Wasser ging. Sie alle haßten das Wasser. Aber das alles wurde nur funktionieren, wenn er das Feuer sah. Wenn der Mann da drüben in der Stadt wirklich alles so vorbereitet hatte, wie er es ihm, Ongluk, versprochen hatte. Aber das Feuer wurde nicht angezündet. Ongluk wartete. Aber er wartete nicht lange. Er hatte keine Geduld. Ein kleine Weile dauerte es noch, dann brach seine Kampfeslust, sein Siegesdrang, durch. Er stieß einen durchdringenden Laut aus und winkte. Das letzte Licht des Tages würde gerade noch ausreichen, daß ihn jeder sehen konnte. Mit einem gemeinsamen Aufheulen erhoben sich die hundertfünfzig Krieger, reckten ihre Waffen in den Abendhimmel und drohten der kleinen Stadt mit Waffen, Fäusten und Gebrüll. Dann setzten sie sich in Bewegung und schoben ihre Boote ins Wasser. Belder stand zusammen mit a Fries mitten auf der Hafenmole. Beide drehten sich langsam im Kreis, musterten mit scharfen Blicken die umliegenden Hügel und die hinter der Stadt aufsteigenden Hänge, auf denen gerade das letzte Tageslicht verblaßte. Alles war ausnehmend ruhig. „Wo sollen die denn herkommen?“ fragte Belder leise. „Keine Ahnung.“ „Die Orks können auch nicht zaubern“, meinte Belder.
.Jedenfalls nicht so.“ Er hob die Hand und deutete auf die Gipfelkette, die sich im Norden erhob. „Die Walberge sind für sie nicht leichter zu überwinden als für uns. Da gibt es keinen einzigen Pfad! Wenn sie das versucht haben, müssen sie mit dreitausend Mann losmarschiert sein, um mit dreihundert durchzukommen! So blöd sind selbst die Orks nicht!“ A Fries schnaufte. „An der Küste entlang ...?“ Belder winkte ab. „Ach, das ist doch dasselbe! Klippen, Felsen, Berge ... Sykand kann man vernünftigerweise nur übers Meer erreichen!“ Sie sahen sich an. „Übers Meer“, wiederholte a Fries. „Orks kommen nicht übers Meer“, sagte Belder, allerdings ohne große innere Überzeugung. „Sie hassen Wasser wie die Pest. Hast du mal einen Ork in einem Boot stehen sehen?“ A Fries wandte den Kopf und spähte in Richtung der Hafeneinfahrt. Belder folgte seinem Blick. „Ja, hab ich. Ist zum Kaputtlachen“, antwortete a Fries. Belder sagte eine Weile nichts, starrte währenddessen ebenfalls hinaus aufs Wasser. Es war nun schon fast völlig dunkel, nur noch am Horizont war auf dem Meer ein ganz schwacher, hellerer Streifen zu sehen. „Ist aber die einzige Möglichkeit“, fügte er dann hinzu. „Sie müßten ein verdammt großes Schiff haben, um eine Streitmacht nach Sykand bringen zu können. Zwei-, dreihundert Leute müßten sie mindestens aufbringen. Hab noch nie von einem Orkschiff gehört, auf das so viele Leute passen würden.“ Nein, das hatte Belder auch nicht. Und er kannte sich aus mit den Orks. Er hatte den Großteil seiner Militärzeit gegen sie gekämpft, kannte sämtliche taktischen Tricks und sonstigen Gemeinheiten der Schwarzpelze. „Wenn wir den Leuten jetzt mit Orkgeschichten kommen,
wo gerade dieser Mist mit dem Dämon vorbei ist, werden sie uns schlicht davonjagen“, stellte Belder trocken fest. „Du wirst lachen - das sehe ich auch so.“ Belder sah a Fries ins Gesicht. „Ein letztes Mal: Du bist absolut sicher, daß er von Orks sprach!“ „Ja, bei allen Göttern! Er sagte: Heute nacht, wenn die Orks kommen, seid ihr sowieso alle tot!“ Belder nickte, „Gut. Dann machen wir's so: Ich bleibe hier und passe auf. Du läufst zu deinem Haus und holst deine Leute zusammen. Auch Jandhar und Trine, jeden, der laufen kann und der dir gehorcht. Am besten auch deine Kinder! Schick sie zu dritt an irgendeinen halbwegs sicheren Ort, wo dem aus sie was sehen können. Vielleicht in den alten Turm neben dem Sägewerk. Ihr Zwerge seht ja nachts gut! Wir brauchen eine Alarmkette. Wenn irgendwer auch nur den Schwanz von einem Ork sieht, soll er schreien, als wäre er ... hm, einem Ork begegnet!“ Belder grinste schief. „Toller Scherz“, brummte a Fries. „Abgesehen davon haben Orks keine Schwänze. Bist du jetzt hier der Anführer?“ Belders Miene verfinsterte sich. Er legte die Hand auf seinen Schwertknauf. „Ja, bin ich. Zisch ab, sonst mach ich dir Beine! In fünf Minuten bist du wieder hier!“ A Fries warf ihm einen säuerlichen Blick zu, drehte sich dann aber um und trabte los. „Schneller!“ rief Belder ihm hinterher. „Im Krieg gibt es keine Fußkranken!“ Hätte jemand Belder in diesem Moment ins Gesicht blicken können, hätte er sich gewundert, daß da nichts mehr von seiner Sympathie für a Fries zu sehen war. Der Zwerg hatte ihm selbst das Stichwort gegeben. Anführer. Ja, jetzt war er wieder Anführer. Irgendwer mußte es sein. Im Krieg gegen die Orks hatte er nicht selten Stoßtrupps oder gar ganze Hundertschaften
angeführt. Er wußte, daß er in solchen Momenten gut daran tat, nur noch eine wilde, mitleidslose Kampfsau zu sein. Sollten die Orks wirklich angreifen, tat ein jeder Sykander, der ein Schwert in die Hand nahm, gut daran, Belders Befehlen augenblicklich und widerspruchslos zu gehorchen. Belder erinnerte sich an den einen Soldaten, der ihm damals in einer solchen Situation Widerstand geleistet hatte. Er hatte den Mann entwaffnet und ins Lager zurückgeschickt. Später hatte er persönlich dafür gesorgt, daß er aufgeknüpft worden war. Mit finsterem Gesichtsausdruck blickte er wieder hinaus aufs Meer. Es dauerte eine Viertelstunde, bis a Fries wieder da war. Dafür brachte er aber sechs Leute mit. Drei Zwerge, zwei Menschen und Renika. Sie trugen Fackeln. Belder brummte anerkennend und nickte. „Ich habe sechs Wachposten aufgestellt“, erklärte a Fries sachlich. „Alle mehrfach bemannt. Jandhar sitzt mit den Kindern auf dem Dach meines Hauses. Sie achten auf die Nordwesthänge der Vorberge. Zwei Sägewerksleute sind im alten Turm.“ Er deutete in die Richtung. „Sie behalten die Nordosthänge im Auge. Mein Neffe Grimor und zwei weitere Männer hab ich rauf zu der alten Ruine geschickt. Da oben!“ Er deutete direkt nach Osten, wo ein kleiner, bewaldeter Hügel anstieg. Belder sah hinauf und nickte wieder. „Trine und ihre Cousinen Nina und Ferlis sind nach Nordwesten zur alten Mühle gegangen. Da ist freies Feld, da kann man Leute, die sich nähern, schon von weitem sehen. Und dann haben sich uns noch zwei Nachbarssöhne angeschlossen. Sie sind nach Westen unterwegs - zu den Klippen an der Hafeneinfahrt. Und die Leute hier - das ist Gruppe sechs. Ich hab sie hier für den Hafen vorgesehen. Wer
auch immer was sieht, pfeift.“ „Pfeift?“ A Fries nickte und hielt ein längliches, geschwungenes Instrument in die Höhe. Belder kannte so etwas von der Seefahrt, das Ding ähnelte einer Pfeife. Er nahm es und drehte es unschlüssig in der Hand. „Sieht unscheinbar aus, macht aber ganz schön Lärm“, erklärte a Fries. „Wir verwenden es beim Holzfällen. Zur Sicherheit, damit niemand unter einen fallenden Baum gerät. Und auch im Sägewerk, wenn gesägt wird. Der Umgang mit Holz ist eine gefährliche Sache.“ Belder nickte und reichte ihm die Pfeife zurück. „Behalt sie. Ich hab noch ein paar.“ „Gute Arbeit, a Fries. Ich brauche noch ein paar Unteroffiziere. Und zwei Abschnittskommandanten. Willst du einen davon machen?“ A Fries brummte eine Bestätigung. Belder wandte sich einem der drei anderen Zwerge zu. „Du bist doch Ingard, nicht? Du hast gut gekämpft.“ „Es geht“, erwiderte der Angesprochene. Er war ein kräftiger Kerl aus a Fries' Verwandtschaft, ein wenig jünger als der Sägewerksbesitzer, aber nicht viel. „Machst du den zweiten Abschnittskommandanten?“ Ingard nickte. „In Ordnung.“ „Gut. Ich bleib hier in der Mitte, im Hafen. A Fries kümmert sich um den Westen der Stadt, du um den Osten. Sollten wirklich Orks kommen, dann pfeifen wir. Dreimal - immer wieder! Ihr müßt dann zusehen, daß ihr die Leute aus den Betten trommelt. Mit Gewalt, wenn es sein muß. Schärft ihnen ein, daß sie sich bewaffnen und immer zu zweit kämpfen sollen! Niemand allein und auch niemand in Dreier- oder Fünfergruppen. Immer zwei - kapiert? Wegen mir dann mehrere Zweiergruppen gemeinsam, aber es müssen immer Zweiergruppen sein.“ „Wozu soll das gut sein?“ fragte Ingard.
„Zwei, die aufeinander aufpassen“, erklärte Belder. „Wir haben es hier mit unerfahrenen Leuten zu tun, die wir in Windeseile zu einer Truppe formen müssen, die wenigstens eine winzige Überlebenschance hat. Da ist keine Zeit, Rotten oder Züge aufzustellen, Unteroffiziere zu bestimmen oder Parolen auszugeben. Wir müssen auf allereinfachster Stufe kämpfen. Da ist diese Lösung am besten. Immer zwei, die aufeinander achten. Wer seinen Gefährten verliert, muß sich zuerst einen neuen suchen, bevor er weiterkämpft. Wenn das nicht klappt, wird es ein Gemetzel geben. Dann haben wir innerhalb von Minuten hundert Mann verloren. So werden es vielleicht nur fünfzig sein. Die Orks, die kommen werden, sind mit Sicherheit erfahrene Krieger. Wenn sie kommen.“ Alle Anwesenden nickten verstehend. „Nächster Punkt: Ihr zwei sucht euch jetzt gleich Unteroffiziere! Jeder von euch zwei Stück. Ich schlage vor, ihr nehmt euch gleich diese vier hier.“ Belder deutete auf die zwei Zwerge und die zwei Menschen, die a Fries mitgebracht hatte. „Erstens: Wenn der Kampf losgehen sollte, müssen sie als Kuriere dienen! Und zwar ständig - ich will sie laufen sehen! Andauernd - vom Abschnittskommandanten hierher zu mir in den Hafen und wieder zurück! Wenn einer nicht mehr kann, übernimmt der andere! Ich muß wissen, was in der Stadt vor sich geht. Sonst haben wir gleich von Anfang an verloren!“ Die Männer starrten ihn nur ernst an. „Zweitens - das gilt für die Zeit vor dem Kampf, also für jetzt: Geht sofort mit ihnen los, und zieht in eurem Bereich durch die Straßen. Ruft in die Häuser hinein, daß die Leute sich bewaffnen sollen. Erzählt nichts von den Orks, sonst gibt es Tumult.“ „Die Leute werden wissen wollen, warum sie sich bewaffnen sollen“, gab einer der Menschen zu bedenken. „Wie heißt du, Unteroffizier?“ fragte Belder.
Der Mann schluckte. „Jachor.“ „Gut, Jachor. Sag ihnen, es wäre eine reine Vorsichtsmaßnahme. Nichts Besonderes. Sag ihnen, sie sollen wieder schlafen gehen.“ „Aber ... wäre es nicht besser ...“ Belder schnaufte. „Siehst du! Genau das müssen wir vermeiden! Wenn du es zuläßt, daß die Leute mit euch zu diskutieren beginnen, werden sich die ersten Gruppen bilden. Die einen meinen dies, die anderen das. Zuletzt hast du einen Haufen unentschlossener Idioten am Hals, die wahrscheinlich einen Ausschuß bilden wollen, der mit den Orks diskutieren soll!“ Jachor nickte. „Die Orks werden nicht diskutieren!“ fuhr Belder fort. „Sie werden zuschlagen. Und zwar gnadenlos. Sie werden jede Frau und jedes Kind abschlachten! Unsere einzige Chance ist, ihnen sofort und zu allem entschlossen entgegenzutreten. Macht die Leute sauer, indem ihr ihnen nicht sagt, was los ist! Sie werden sich zusammentun und wütend auf euch Ruhestörer werden. Aber das macht nichts - ihre Wut können sie dann ablassen, wenn die Orks kommen! Kapiert?“ Allgemeines Nicken in der Runde. „Los jetzt!“ sagte Belder. „Ab mit euch! In zehn Minuten will ich die ersten Rückmeldungen von euch haben. Renika, du bleibst bei mir!“ Für einen Moment starrten ihn alle an, aber nur für einen Moment. Dann rückten sie alle ab, im Laufschritt. Belder nickte zufrieden. Dann blickte er Renika an, nahm ihr die Fackel, die sie trug, aus der Hand und deutete in Richtung des Tempels. „Tu mir einen Gefallen, Mädchen, und sieh, ob du Sirah loseisen kannst“, sagte er zu der jungen Halbelfin. „Wenn es zum Kampf kommt, wäre sie eine gewaltige Hilfe. Wenn die Orks kommen, haben sie mit Sicherheit einen Schamanen dabei!“ Renika nickte und wandte sich um. „He!“ rief Belder ihr
hinterher. Renika blieb stehen. Sie sah, daß sein Gesicht bei weitem nicht mehr den harten Ausdruck trug, den es eben noch, bei der Einweisung der Männer, gezeigt hatte. „Ich weiß schon, Belder“, sagte sie und nickte verstehend. „Ich bringe Sirah nur mit, wenn sicher ist, daß Andrina auch ohne sie die Nacht übersteht!“ Belder warf ihr ein schmerzliches Lächeln zu. Renika wandte sich wieder um und verschwand mit ihrem typischen, federleichten Laufschritt in der Dunkelheit. Belder wandte sich um und starrte aufs Meer hinaus. Die hölzerne Pier, die von der gemauerten Hafenmole aus weit hinaus ins Wasser ragte und an der immer noch die Dinia Tjerbus dümpelte, war seine große Sorge. Sie bot eine Menge Angriffsfläche, falls sie Orks übers Wasser kamen. Wenn a Fries wirklich recht hatte, würde wahrscheinlich keiner vor ihnen den nächsten Morgen erleben. Nicht ganz eine Stunde später ertönte der erste Pfiff. Belder, der im Hafen auf einer kleinen Kiste gesessen hatte, sprang auf. Dann hörte er den Pfiff wieder - er war nicht laut und kam offenbar von den Klippen im Westen der Hafeneinfahrt. Also kamen sie doch übers Meer! Angestrengt starrte er hinaus, konnte aber kein Schiff erkennen. Renika und Sirah, mit denen er die ganze Zeit über durch die Gassen im Hafenviertel gezogen war, um die Leute in ihren Häusern aufzuscheuchen, traten an seine Seite, und Renika hakte sich an seinem Arm ein. „Siehst du was?“ fragte er. Wieder erklang der Pfiff. Langsam streckte sie den Arm aus und deutete weit hinaus
aufs Wasser. „Ist das nicht... ein Boot?“ Ein Boot? Die Orks würden doch nicht mit Booten übers Meer kommen! Dann sah er es auch. Die Nacht war sternenklar, aber das Madamal war noch nicht aufgegangen. Trotzdem konnte er ein paar dunkle Flecken weit draußen auf dem Wasser erkennen. „Die Felseninsel!“ rief er aus. „Verdammt, die Felseninsel! Da müssen sie gewartet haben!“ Renika und Sirah starrten ihn nur an. „Los, Mädchen!“ rief er und deutete ostwärts. „Lauf so schnell du kannst zu deinem Onkel! Er soll Stangen aus dem Sägewerk holen! Lange Stangen! So viele es geht! Und seine beiden Unteroffiziere sollen die Leute aus den Betten trommeln! Zisch ab!“ Renika zögerte keine Sekunde und rannte los. Sie konnte auch ziemlich schnell rennen, stellte Belder fest. Er wandte sich um und rannte selbst zu den Häusern, die sich am Rande des Hafens nebeneinander aufreihten. Sirah folgte ihm, lief dann weiter nach links. Unterwegs zog er seine Pfeife heraus und begann dreimal zu pfeifen, dann wieder dreimal und noch mal. Dann erreichte er das erste Haus und trat mit dem Stiefel lautstark gegen die hölzerne Haustüre. „Raus mit euch, Sykander!“ brüllte er, so laut er konnte. „Raus mit euch! Die Orks kommen!“ Er rannte zur nächsten Tür. Sirah tat es ihm nach, er hörte ihre helle Stimme durch die Nacht hallen. Eine halbe Minute dauerte es, dann wurden die ersten Fenster hell, Läden klappten auf, und Leute schauten heraus. Aus einer Tür kam sogar ein junger Mann heraus. „Los, Junge!“ rief Belder. „Schnapp dir ein paar Leute und hol mir die Ölkübel her, die vor a Fries' Haus stehen! Beeilung!“
Nun hörte er auch Pfiffe aus anderen Richtungen, und die ersten Leute erschienen hier und da auf dem freien Platz an der Hafenmole. „Die Orks kommen!“ schrie Sirah und deutete hinaus aufs Meer. „In Booten! Bewaffnet euch und kommt heraus!“ Die ersten Leute, die die Situation erfaßten, kamen zu Belder. „Es wird Ernst, Leute!“ sagte er. „Trommelt alle Männer und Frauen zusammen, die ein Schwert halten können. Versteckt eure Kinder so gut ihr könnt, aber so, daß sie entkommen können, wenn es brennt! Wer von euch viel Kraft hat und schweres Werkzeug besitzt, der soll es holen und herkommen. Vorschlaghämmer, schwere Äxte und Sägen! So schnell es geht! Wir müssen die Pier abreißen!“ „Was? Die Pier abreißen?“ „Nur das erste Stück! Die Verbindung zur Mole. Die Pier ist zu lang, die können wir so nicht verteidigen! Wenn die Schwarzpelze erst mal darauf sind, ist es aus mit uns! Los, zischt schon ab!“ Die Sykander kamen überraschend schnell in Fahrt. Es muß an all den Kämpfen der letzten Tage liegen, dachte Belder. Immerhin, nun hatte auch das sein Gutes. Die Leute hatten wenigstens eine Vorstellung davon, was nun kommen würde. Die ersten Männer begannen zu rennen, liefen in die Häuser zurück, überall flammte Licht auf. Andere kamen mit Waffen wieder zum Vorschein, und Belder staunte: So mancher schien sich vorsorglich ordentlich gerüstet zu haben, sogar Frauen tauchten in derben Hosen und mit Messern und Stöcken bewaffnet auf, und Kinder wurden zu Gruppen zusammengetrieben und von Frauen im Laufschritt aus dem Hafen geschleust - irgendwohin in Richtung der Mitte von Sykand - oder gar nach Norden aus der Stadt heraus. Belder hoffte nur, daß die Orks nicht auch von dort kamen.
Dann aber sah er Jachor, der auf ihn zugerannt kam. „Renika kam zu uns“, keuchte er, als er da war. „Sie ist mit ein paar Leuten losgegangen, um Stangen aus dem Sägewerk zu holen. Was ist denn hier los?“ „Da!“ sagte Belder und deutete aufs Meer. „Sie kommen mit Booten. Wie ist Lage bei euch? Gab es Alarm? Aus dem Norden? Oder Nordosten?“ Jachor keuchte und schüttelte den Kopf. „Nein, alles ruhig. Wir trommeln gerade die Leute aus den Betten. Es geht überraschend gut.“ „Ja, hier auch. Renn zurück und laß a Fries ein Drittel seiner Leute hierher schicken. Mit den anderen soll er auf sein Gebiet achtgeben. Wenn sich rausstellt, daß die Orks wirklich nur übers Wasser kommen, fordere ich später den Rest auch noch an! Los, ab mir dir!“ Jachor machte sofort kehrt, und kaum war er weg, kam aus der anderen Richtung einer von Ingards Unteroffizieren. Belder verhandelte mit ihm das gleiche, dann war auch er wieder weg. Dann kamen die ersten Männer mit Werkzeug zurück, und Belder übertrug wahllos einem von ihnen das Kommando. Er rannte mit ihnen an die Stelle, wo an der Steinmauer der Hafenmole das schwere Balkenwerk der hölzernen Pier befestigt war, das von dort aus in rechtem Winkel ins Wasser hinauslief. „Hier!“ rief er. „Setzt hier an! Und da drüben auch! Holt euch noch mehr Leute, wenn ihr mehr braucht. Das Verbindungsstück muß im Wasser liegen, ehe die Boote da sind!“ Die Männer zögerten nicht lange, und die Blätter ihrer Äxte blitzten in der Luft auf. Das schnell aufeinander folgende Tock-Tock-Tock der Äxte und Hämmer begann durch den Hafen zu hallen. Belder hatte keine Ahnung, ob sie es noch rechtzeitig schaffen würden. Dann wandte er sich um, trat in die Mitte der Mole und hob
die Arme. „Hört mich an, Leute!“ rief er laut. „Ich will, daß sich jeder von euch einen Freund sucht! Habt ihr verstanden? Einen Freund! Ihr werdet zu zweien kämpfen, jeder paßt auf den anderen auf! Wer seinen Freund verliert, sucht sich zuerst einen anderen, bevor er weiterkämpft. Wen ich allein oder in Dreier-Gruppen erwische, dem trete ich persönlich in den Arsch, verstanden? Fragt nicht lange, tut es einfach!“ Natürlich erhob sich Gemurmel, aber es trat tatsächlich niemand vor, um irgendwie Protest anzumelden. Belder atmete auf - er konnte es kaum glauben. Für Sykander Verhältnisse lief das alles hier schon fast zu gut. Belder spähte aufs Meer hinaus. Nun war es für keinen mehr zu übersehen - dort draußen kamen mindestens zehn Auslegerboote hereingerudert. Die Geschwindigkeit der Axtschläge an der Mole erhöhte sich abermals. Dann kehrte Renika zurück und hatte sieben Leute im Gefolge, von denen jeder mindestens zehn Holzstangen trug, in allen möglichen Stärken und Längen. Und gleich darauf erschienen junge Leute, die ein Dutzend Bottiche und Kübel mit schwarzem Öl und zähem, öligem Teer heranschleppten. „Wir brauchen Tücher!“ rief Belder. „Tränkt sie mit dem Zeug! Und noch mehr Öl! Wer Öl hat, soll es bringen!“ Inzwischen herrschte hektisches Treiben auf der Mole mindestens fünfzig Leute liefen durcheinander. Aber jeder schien irgend etwas Vernünftiges zu tun. Belder sah wieder aufs Meer. Es wäre besser gewesen, sie hätten sich verbergen können, um die Orks überraschen zu können, aber dazu war die Zeit zu knapp. Die ersten Orkboote waren jetzt nur noch eineinhalb Steinwürfe entfernt, und sie konnten schon das Kriegsgebrüll der Schwarzpelze hören. Renika trat neben Belder. „Du lieber Himmel!“ keuchte sie. „Das müssen mindestens hundertfünfzig sein!“ Belder nickte sorgenvoll.
Dann begann er, die Leute im Hafen aufzuteilen. Er schickte Frauen weg, um Faßdeckel und große Kochtopfdeckel zu holen, die sie als Schilde gegen Pfeile verwenden konnten. Er ließ sogar nahe Türen aushängen, um sie als Deckung einsetzen zu können. Sie würden, solange die Orks noch auf dem Wasser waren, gute Dienste für die wenigen Bogenschützen leisten, die die Sykander hatten. Die Stangen, Bottiche, Kübel und ölgetränkten Tücher wurden verteilt, und man kippte noch zwei Wagen direkt an der Hafenmauer um, wo Treppen hinab zum Wasser führten. Alles an Kisten und Fässern wurde aufgestapelt, um die Hafenmauer zu erhöhen, damit die Schwarzpelze nicht an Land gelangen konnten. Belder beschwor die Leute, die Orks so lange wie irgend möglich auf dem Wasser zu halten. Orks würden im Wasser oder in Booten so gut wie hilflos sein. Man sollte ihnen brennendes Öl in die Boote gießen, sie mit den Stangen ins Wasser stoßen oder mit Pfeilen beschießen. Jemand kam auf die Idee, sie mit Steinen und anderen Wurfgeschossen einzudecken, und Belder lobte den Mann. Er schickte mehrere Leute los, alles zu holen, was als Wurfgeschoß dienen konnte. Dann trafen Leute von a Fries ein und gleich darauf Leute von Ingram. Der Hafen war von Fackeln und Kohlefeuern hell erleuchtet, und Belder nutzte jede Sekunde, um Anweisungen zu erteilen. Dann waren sie einigermaßen vorbereitet, und dies keine Sekunde zu früh. Nur die Männer an der Verbindungsstelle zur Pier hackten und schlugen noch, was das Zeug hielt. Die Orks waren fast heran - ihr Kriegsgebrüll hallte durch den Hafen. Es waren vierzehn Boote, und Belder zählte tatsächlich an die hundertfünfzig Kämpfer. Hier im Hafen hatte er inzwischen hundert Leute, die mehr oder weniger gut bewaffnet waren. Es würde eine mörderische Schlacht werden. Und er hatte leider nicht viel Hoffnung, daß sie als Sieger daraus hervorgehen würden. Sein letzter Blick, bevor die ersten
Orkpfeile über ihre Köpfe sausten, galt dem Tempel, in dem Andrina auf dem Boden lag und um ihr Leben kämpfte.
22
Die Schlacht um Sykand
Jede Schlacht beginnt mit einem ersten Toten, und der war bezeichnenderweise auf ihrer Seite. Und es war auch noch Helmar Zinner, der Kupferschmied, der in einen Pfeil hineinlief, als er kurz aufstand und irgendwohin rennen wollte - es war ganz in Belders Nähe. Zinner wurde mitten ins Herz getroffen, das war gleich zu sehen, und er sackte ohne einen Laut zusammen und blieb reglos liegen. Belder fluchte verzweifelt, und ein Stich zuckte durch sein Herz - das war immer so, wenn er den ersten Toten sah. Schon früher in den Schlachten gegen die Orkhorden, an denen er teilgenommen hatte, war ihm der Verlust des ersten Mannes immer wie der Anfang vom Ende vorgekommen. Er hatte seine Truppe immer besonders sorgfältig vorbereitet und sie zu größtmöglicher Vorsicht ermahnt, damit sich der erste Verlust so weit wie möglich hinauszögerte. Erst wenn er ohne eigene Verluste dem Feind schon einen wahrnehmbaren Schaden zugefügt hatte, löste sich seine Verkrampfung. Manchmal war es ihm durch diese übermäßige Sorgfalt und Vorsicht geglückt, eine ganze Orkbande bei minimalen oder gar keinen Verlusten zu überrennen, aber manchmal war es genau andersherum verlaufen. Da sah er seine Leute fallen und den Gegner immer stärker werden. Davor hatte er Angst. Die Boote der Schwarzpelze waren noch ein, zwei Dutzend Schritt von der Mole entfernt, und seine Leute hackten immer noch wie vom Namenlosen gehetzt auf die Verbindungsstützen der Pier ein. Immer mehr Pfeile flogen, auch von ihrer Seite, und das Kriegsgeschrei der Orks war ohrenbetäubend. „Du, du und du!“ wählte er drei Leute aus. „Kommt mit!“ Er erhob sich, rannte voraus und hob eine von zwei Türen auf, die
noch auf dem Boden lagen. „Los!“ rief er. „Wir müssen die Männer an der Pier decken! Wenn die das Ding nicht niederhauen können, haben wir gleich verloren!“ Zu viert und mit zwei Türen bewaffnet stürmten sie zur nahen Pier, an den Arbeitern vorbei, und stellten die Türen schützend zwischen die Orks und die schwitzenden Männer. Dennoch wurde gleich darauf einer von einem Pfeil getroffen. Er schrie auf, ließ seine Axt fallen und rannte voller Panik zurück auf die Mole. Der Pfeil steckte in seiner Seite. Eine Frau, die rasch reagierte, rannte zu Belder und half, die Tür aufrecht zu halten. Belder bemächtigte sich der hingefallenen Axt und machte da weiter, wo der Getroffene aufgehört hatte. Nun waren die ersten Orkboote heran und der Kampf ging los. Belder zwang sich, nur auf seine Arbeit und seine Deckung zu achten. Von überall her ertönten Schreie, und er wußte, daß etliche seiner Leute in diesen ersten Momenten starben; nein, ganz abgesehen von Zinner würde diesmal nichts daraus werden, die ersten Verluste für längere Zeit aufzuschieben. Ein Pfeil klatschte gegen seinen Unterschenkel, aber es war ein schlechter; er hatte sich in der Luft gedreht und verletzte ihn nicht. Belder hackte und hackte, seine Kerbe war schon tief, und weiter vorn, an der anderen Seite, hackten zwei Männer in rascher, stetiger Folge abwechselnd auf die gleiche Stelle ein und trieben ihre Kerbe tiefer und tiefer. Vor ihnen stand eine Frau mit zwei großen Kochtopfdeckeln und wehrte einen um den anderen Pfeil ab, Dann wurde sie getroffen und sank gurgelnd um, stürzte von der Pier und mitten in ein Orkboot. Das Ding geriet aus dem Gleichgewicht, die Orks in dem Boot brüllten und grunzten, zwei fielen ins Wasser, aber das Boot kenterte nicht - es besaß einen Ausleger. Die Orks begannen, mit Lanzen heraufzustechen, und Belder ließ seine Axt fallen, zog sein Schwert und stürmte nach vorn.
Noch bevor er ankam, sah er mit einem Seitenblick, daß an einer der Treppen, die zum Wasser führten und oberhalb derer ein umgekippter Wagen stand, ein heißer Kampf entbrannt war. Eines der Orkboote brannte, jemand hatte erfolgreich brennendes Öl hineingekippt, und einige Orks standen teilweise in Flammen, hatten aber offenbar noch mehr Angst vor dem Wasser und versuchten, das brennende Öl auszuklopfen. Schließlich sprangen sie doch. Ein halbes Dutzend drängte, wild um sich schlagend, die Treppe hinauf, und die Menschen stießen brüllend mit Stangen hinab und hieben mit Schwertern oder Knüppeln über die Kante des Wagens nach unten. Immer wieder fiel ein Ork ins Wasser. Überraschend erfolgreich waren die Wurfgeschosse, die in diesen Momenten immer stärker eingesetzt wurden. Die Menschen warfen mit wütendem Gebrüll Steine, Flaschen, Krüge und andere Gegenstände, und als die ersten Erfolg damit hatten, besannen sich andere Leute darauf, ihrem Beispiel zu folgen. Kurz darauf prasselte eine ganze Breitseite von Wurfgeschossen auf die Orks nieder, und es gingen eine erhebliche Menge der Schwarzpelze getroffen über Bord. Belder schöpfte Hoffnung. Dann aber versiegte dieser Angriff. Offenbar hatten die Menschen in der kurzen Zeit nicht genügend Gegenstände zum Werfen auftreiben können, um diese Taktik länger aufrechterhalten zu können. Aber immerhin, ein guter Erfolg war erzielt worden. Dann war Belder bei den beiden Axtschwingern, umrundete sie und konnte gerade noch einen Ork zurückwerfen, der es fast bis herauf geschafft hatte. Er kniete sich hin und hieb mit dem Schwert nach den Orks, die am Gebälk heraufdrängten, erwischte zwei, die loslassen mußten und ins Wasser fielen. Ein Ork im Wasser war ungefähr so gefährlich wie ein Zaunkönig. Mit Glück soff er auf Nimmerwiedersehen ab. Dann tat es einen Krach, und die Männer neben ihm wippten. Belder sah auf- sie hatten es geschafft, den rechten
tragenden Balken zu durchtrennen. Auf der linken Seite war das offenbar schon geschehen, und nun hing das letzte Verbindungsstück der Pier zur Mole nur noch an den beiden Balkenenden direkt an der Mauer. Und dort gab es bereits tiefe Kerben! Belder sprang auf und hüpfte hinüber - das ganze Stück Pier wippte bereits um einen Spann auf und ab. „Los, weg hier!“ rief Belder, und die beiden Männer folgten ihm. Vorn waren sie noch am Hacken - mit Glück hatten sie es in kurzer Zeit geschafft. Dann hörte Belder Geschrei und fuhr herum. Es war, wie er gedacht hatte. Die Orks waren weiter vorn auf die Pier geklettert und kamen nun brüllend und ihre Waffen schwingend auf sie zugerannt. Die Pier war breit genug, daß sechs oder sieben Männer nebeneinander kämpfen konnten, und das wäre ein Geschenk an die Orks gewesen - wenn die Pier noch stand! „Hackt weiter!“ rief Belder und trat dann ein paar Schritte nach vom. Prüfend wippte er auf und ab. Die heranstürmenden Orks waren noch drei Dutzend Schritte entfernt. Dann knackte es vernehmlich im Gebälk, und das schwebende Verbindungsstück sackte um eine gefährliche Handbreit ab. „Halt!“ schrie Belder nach hinten zu seinen Leuten. „Das reicht! Haut ab!“ Die Leute schienen zu kapieren und hörten sofort auf „Paß auf dich auf, Belder!“ riefen sie. Belder hob gefährlich grinsend sein Schwert und starrte den Orks entgegen. „Paßt selber auf euch auf, murmelte er. Es waren wenigstens ein Dutzend, und mit Glück konnte er es schaffen, sie alle in die Tiefe zu schicken. Und mit ein bißchen mehr Glück brachen sich ein paar davon gleich den Hals. Und mit noch ein bißchen mehr Glück schaffte er es, im letzten Moment an Land zu springen.
Er wartete mit klopfendem Herzen. Dann waren die Orks da, und das Verbindungsstück hielt brav, bis alle hinaufgerannt waren. Belder stand auf dem, allerletzten Stück, drehte sich um und sprang in Richtung Mole. Aber er schaffte es nicht mehr. Unter dem Gewicht der Orkhorde barsten die angekerbten Tragebalken, und das ganze Stück Pier, vielleicht zwölf Schritt lang, krachte auf einen Schlag und schneller, als Belder es gedacht hätte, in die Tiefe. Er streckte noch im Fallen die Hand nach der rettenden Kante aus, verfehlte sie aber. Dann schlug das Pierstück flach auf dem Wasser auf. Es war ein mächtiger Krach mit einer Menge zur Seite spritzendem Wasser und noch mehr erschreckten Rufen von oben und von den Orks. Das Hafenwasser lag etwa anderthalb Mannshöhen unterhalb der Mole, und Belder ging von dem heftigen Aufprall zu Boden. Er schlug jedoch auf den Planken des Pierstücks auf und fiel nicht ins Wasser. Benommen rappelte er sich wieder auf. Als erstes griff er zu seinem Schwert, das er neben sich liegen sah, und das war sein Glück. Im nächsten Augenblick erkannte er aus den Augenwinkeln einen Ork, der auf ihn zugeflogen kam, und er wälzte sich zur Seite und riß das Schwert hoch. Der Ork war dumm genug gewesen, sich ohne Waffe auf ihn zu stürzen, und das Schwert bohrte sich mitten in seinen ungeschützten Bauch. Er grölte auf, überschlug sich, als Belder mit einem Ruck das Schwert wieder hervorzog, und stürzte dann ins Wasser. Belder sprang auf die Füße. Das Pierstück war nach Osten von der Pier weggebrochen und trieb langsam von der Mauer weg, in eine Richtung, in der es keine Orkboote gab - die waren alle auf der anderen Seite der Pier. Über ihm ragte dunkel und drohend die Dinia Tjerbus auf; noch vier Orks waren auf dem floßähnlichen Pierstück
geblieben, und nur einer davon war bewaffnet. Belder kannte ihn von irgendwoher. Er sah kurz zur Mole. Dort war der Kampf in vollem Gange. Überall versuchten Orks die Hafenmauer zu erklimmen, und es war ein Glück, daß Sykand in dieser kleinen Bucht lag, in der es nirgends sonst eine Möglichkeit gab über ein flaches Uferstück an Land zu gelangen. Man hatte es überall mit Felsen, Klippen oder Hafenmauern zu tun. Die Sykander wehrten sich verbissen, stachen mit ihren Stangen herab, übergossen die Orks mit brennendem Öl und deckten sie mit Pfeilen ein, so gut sie konnten. Das Pierstück trieb langsam ostwärts von der Hafenmauer fort. Belder sah, daß er hier für eine Weile beschäftigt sein würde. Er sah Renika dort oben stehen und ein Orkboot auf der anderen Seite in schneller Folge mit Pfeilen eindecken. „Renika!“ brüllte er hinauf, und die Halbelfin sah zu ihm. Sie unterbrach ihr Schießen und kam zur Kante geeilt, wo, sie sich hinkniete. „Belder!“ rief sie. Belder sah nach seinen Widersachern, die aber vorerst nur in zusammengekauerter Angriffshaltung dastanden. „Übernimm das Kommando!“ rief er über die Schulter. „Ich hab zu tun! Und schick' nach a Fries und Ingram! Alle sollen in den Hafen kommen!“ Dann konzentrierte er sich wieder auf die Orks. Sein Glück bestand darin, daß nur einer von ihnen noch bewaffnet war - der aber trug eine ziemlich gemeingefährlich aussehende Axt. Und er war auch sehr groß und kräftig Belder glaubte wirklich, ihn schon mal gesehen zu haben. Die Axt baumelte an seiner Seite, er stand breitbeinig im Hintergrund und hatte seine Daumen, oder wie auch immer man das bei den Orks nennen mußte, in den Gürtel gehakt.
Da tauchte plötzlich neben Belder ein Mensch aus den Fluten auf, warf sein Schwert auf die Planken und stemmte sich aus dem Wasser. Es war ein junger Kerl. Belder kannte sein Gesicht, nicht aber seinen Namen. Der Bursche hob sein Schwert auf und ging, tropfnaß wie er war, neben Belder in Stellung. „Sag bloß, du bis extra wegen mir gekommen?“ zischte; Belder. „Bin ich. Soll ich wieder gehen?“ „Wie heißt du, Junge?“ „Temmark. Und du?“ „Witzig bist du auch noch“, knurrte Belder. „Das da drüben sind keine Spaßmacher! Ich hoffe, du bereust nicht, daß du gekommen bist!“ Dann war Temmaks kleiner Auftritt vorbei, denn die Orks griffen an. Zwei von ihnen hatten Knochenmesser gezogen, ein dritter griff mit bloßen Händen an; der vierte, der bewaffnete, blieb einfach stehen. Belder war sich jetzt ganz sicher, daß er ihn kannte. Temmark erwies sich als flink. Der waffenlose Ork griff ihn an, und Temmark hob gar nicht sein Schwert, sondern duckte sich dem Ork entgegen, hakte sich mit dem freien Arm unter seiner Achsel ein und warf den Schwarzpelz mit enormer Wucht über seinen Rücken. Der Ork wußte gar nicht wie ihm geschah, überschlug sich und krachte auf die Planken. Dann war Temmark schon über ihm und bohrte ihm sein Schwert in die Brust. Belder hatte es schon schwerer, denn die beiden messer bewaffneten Orks griffen ihn zugleich an. Er ließ sein Schwert kreisen, doch im gleichen Moment kugelte einer der Orks auf ihn zu und riß ihn von den Füßen. Trotzdem behielt Belder die Orientierung. Im Sturz machte er selber eine Rolle vorwärts,
zog damit sein Schwert nach hinten durch und traf den Ork offenbar schwer. Der Schwarzpelz stieß ein Gurgeln aus und rollte ins Wasser. Gleich darauf versank er zappelnd und schreiend. Belder war dem vierten, dem bewaffneten Ork, gefährlich nahe gekommen und sprang weg von ihm, sobald er wieder auf die Füße gekommen war. Mit einem Seitenblick erfaßte er, daß der Kerl trotz allem ungerührt stehengeblieben war. Temmark machte einen Ausfallschritt von der Seite auf den verbliebenen, messerbewaffneten Ork hin, lenkte diesen für einen Moment ab, und Belder nutzte diese Sekunde, um sein Schwert durchzuziehen. Er traf den Ork tödlich am Hals - es war fast ein Abschlachten. Belder verzog das Gesicht. Warum der große Kerl seinem Artgenossen nicht zur Hilfe gekommen war, verstand er nicht. Der getroffene Ork taumelte stöhnend über das Pierstück und kippte dann über den Rand ins Wasser. Nun waren sie nur noch zu dritt auf den Planken - inzwischen schon ein ganzes Stück von der Hafenmauer weg. Und es war nicht mehr allzu hell hier bei ihnen. Vor ihnen stand, immer noch breitbeinig und mit den Daumen im Gürtel, der einzelne große Ork. „Besser du gehst jetzt“, sagte Belder leise zu Temmark. „He!“ beschwerte sich der Junge. „Ist das der Dank?“ „Du warst gut“, knurrte Belder. „Aber das hier ist was für Männer. Geh!“ Er konnte es nicht sehen, aber er spürte, daß Temmark neben ihm vor Wut aufkochte. Und dann machte Belder seinen Fehler. Er hätte sich in diesem Moment aufrichten, zu Temmark gehen und ihn mit einem derben Tritt von den Planken befördern sollen. Aber er tat es nicht, kam einfach zu spät auf den Gedanken.
Temmark war schneller. Er wollte beweisen, wie mutig er war, und das war er ja auch. Er war auch gewitzt und sehr beweglich. Aber er war nicht auf einen Gegner wie diesen Ork vorbereitet. Er tänzelte auf den ruhig dastehenden, riesigen Schwarzpelz zu, und Belder zuckte vor, wollte ihn festhalten, aber da war es schon zu spät. Temmark machte einen Ausfall nach vorn, da hatte der Ork auch schon seine Streitaxt in der Hand. Belder hatte gar nicht sehen können, wie er die so schnell hatte ziehen können. Dann wirbelte die Axt blitzend durch die Luft, einmal, zweimal, und traf. Temmark stieß ein Röcheln aus und fiel wie ein Sack zu Boden. Als er herumrollte, sah Belder, daß der Ork ihm mit seiner Axt die Brust gespalten hatte, das Gesicht noch dazu. Der Ork beförderte ihn mit einem Tritt und einem verächtlichen Grunzen ins Meer. Belder schloß für einen Moment verzweifelt die Augen. Innerlich stieß er einen Schrei aus. Solche Jungen wie Temmark gab es immer wieder. Talentiert, schnell und mutig, aber leider viel zu schnell tot. Und es war nicht mal seine eigene Schuld gewesen. Er, Belder, hätte ihn halten müssen. Jungen wie Temmark brauchten einen eisenharten und vor allem reaktionsschnellen Lehrer. Sonst starben sie im ersten Moment, da sie auf einen erfahrenen Krieger trafen. Belder öffnete die Augen wieder. Der Ork stand ihm bewegungslos gegenüber, diesmal in Kampfhaltung, mit erhobener Streitaxt. Er war groß, dieser Kerl, so groß wie Belder. Er kannte ihn. „Du bist Ongluk, nicht wahr?“ fragte Belder. „Kriegshäuptling unter Marschall Rhussoi!“ „Du ... Belder!“ Belder nickte. Ja, sie kannten sich. Waren sich schon ein, zwei Mal begegnet, auf den Schlachtfeldern nahe des Orklands, bei Rondras Wehr oder sonstwo. Belder konnte sich nicht mehr
an den Ort erinnern. An Ongluk aber schon. Der Kerl kämpfte wie ein Wirbelwind, und wenn er, Belder, einen legendären Ruf in der Armee besaß, dann galt das nur für einen winzig kleinen Teil davon, für seinen Zug, sein Regiment. Ongluk hingegen war überall bekannt - im gesamten Orkenheer. Er taugte nicht viel als Anführer, deswegen war er auch nie sehr hoch gekommen - ein ungeduldiger, hitzköpfiger und viel zu schnell handelnder Kerl. So gesehen hatte Sykand nun wieder eine Chance - wenn er hier der Anführer war. Dafür aber sanken seine, Belders, Chancen erheblich. Denn Ongluk war einer der tödlichsten Krieger, die das gesamte Orkenheer aufzubieten hatte. Belder packte sein Schwert fester. Jachor war gerade wieder losgerannt, und Renika hatte auch Karlo losgeschickt, den rennenden Unteroffizier von Ingard. Die beiden konnten schon fast nicht mehr vor lauter Herumgehetze. Aber das würde nun aufhören. Renika hatte entschieden, bis auf eine kleine Wachtruppe alle Leute von Onkel Geri und Onkel Ingard in den Hafen abzuziehen. Im Moment hielten sie sich einigermaßen gut gegen die Orks. aber wenn die Schwarzpelze irgendwo durchbrachen und Fuß fassen konnten, dann würde es übel werden. Sie brauchte Leute, um die Orks wieder zurückdrängen zu können. Renika wünschte sich, Jandhar wäre bei ihr. Jandhar war ausgebildeter Jungoffizier und kannte sich bestens mit Kampftaktik aus. Sie selbst verstand zwar auch etwas davon, aber Jandhar wußte viel mehr. Sie hätte ihn holen lassen können, aber wer sich hier im Hafen aufhielt, mußte wenigstens ein Schwert heben können. Jandhar war noch viel zu schwach. Sirah lieferte sich links an der Mole ein heftiges magisches
Duell mit anderthalb orkischen Schamanen; anderthalb deswegen, weil der Orkschamane Unterstützung von einem verkrüppelten Gnom erhielt, irgendeinem häßlichen Winzling, der offenbar auf Händen durch die Gegend lief. Sirah hielt sich gut, doch es knisterte und krachte nur so aus ihrer Richtung. Ein paar Kämpfer hielten ihr zwei Orks vom Leib, die es irgendwie auf die Mole geschafft hatten. Renika legte noch einen Pfeil auf und schickte einen seilschwingenden Ork dort unten in seinem Boot schreiend ins Wasser. Es war ein Glück - die Schwarzpelze stellten sich ausgesprochen dämlich an, wenn sie keinen festen Boden unter den Füßen hatten. Sie überlegte, daß sie wohl die besten Chancen gehabt hätten, wären sie ihnen entgegengerudert! Hier und da war mal einer der Orks durchgebrochen, und in einem Fall hatte einer sieben oder acht Sykander getötet, bevor sie ihn hatten niederringen können. Ansonsten aber stürzten sich sofort mehrere Leute auf jeden, der es schaffte, die Hafenmauer zu erklimmen. Dann bekam Renika für einen Moment Luft. Um sie herum tobte an mindestens zehn verschiedenen Stellen der Kampf, und sie versuchte sich zu orientieren. Die Leute hielten sich ziemlich strikt an Belders Befehl, zu zweit zu kämpfen. Belder! schoß es ihr durch den Kopf. Sie rannte nach links und starrte suchend in die Dunkelheit über dem Hafenbecken, wo das riesige Stück Pier hingetrieben war. Dann sah sie es. Es war schon halb hinter der Dinia Tjerbus verschwunden. Sie rannte weiter nach links und sah nur noch zwei Personen auf dem floßartigen Gebilde stehen. Einer von ihnen mußte Belder sein. Sie beobachtete für kurze Zeit den Kampf- und war dann froh, hier auf der Pier zu sein. Der Ork war riesig - so groß wie Belder -, und er schwang seine Axt so schnell und so weit, daß auf dem ganzen Pierstück kaum Platz war, um auszuweichen.
Belder kam gar nicht dazu, zum Gegenangriff überzugehen. Dann kamen plötzlich, direkt vor ihr, zwei Schwarzpelze über den Rand der Hafenmauer geklettert. Sie schrie auf, legte schnell einen Pfeil auf, zielte kurz und ließ ihn sofort abgehen. Er ging vorbei, verschwand in Belders Richtung in der Dunkelheit. Renika keuchte, wich zurück, zog schnell einen zweiten Pfeil hervor, legte ihn auf- und diesmal traf sie. Der rechte der beiden Orks brüllte auf, als der Pfeil mitten in sein Gesicht traf, und kippte zur Seite weg. Renika ließ den Bogen fallen, suchte verzweifelt nach ihrem Messer, aber da war der andere Ork schon da. Sie ließ sich mit einem Aufschrei fallen, als er sein Schwert waagerecht durchzog, aber schon als sie fiel, wußte sie, daß sie so gut wie tot war. Hinter den beiden sprangen drei weitere Orks über die Hafenmauer herauf. Irgendwie hatte niemand gemerkt, wie sie an diese unbewachte Stelle vorgedrungen waren, und sie stand im Moment ganz allein gegen diese Übermacht, hatte nicht einmal ein Messer. Sie rollte auf dem Boden davon, kam zum Sitzen, und da war der Ork schon wieder über ihr. Er stand widerlich grinsend und breitbeinig über ihr. Sie robbte voller Panik rückwärts, als er sein Schwert hob, und verzweifelte Tränen Schossen ihr ins Gesicht. Verdammt, sie würde Jandhar nie wieder sehen. Einen Augenblick bevor sein Schwert hätte niederfahren müssen, blitzte etwas in der Luft über ihr auf. Mit einem häßlichen Schmatzen traf den Ork etwas im Gesicht, etwas Großes und Tödliches. Renika schrie auf, als der Ork über ihr zusammenbrach und auf sie fiel; ein spitzes Stück Metall bohrte sich in ihre linke Brust, und sie schrie vor rasendem Schmerz auf. Dann wurde alles dunkel um sie herum. Sirah focht den Kampf ihres Lebens.
Sie hatte noch nie gegen einen anderen Magier gekämpft,
und bei diesen beiden Orkschamanen hatte sie nicht die geringste Vorstellung über das, was da eigentlich geschah. Zwei junge Männer halfen ihr. Sie kämpften tapfer, mußten aber Stück um Stück vor den beiden Orks zurückweichen, die viel bessere Kämpfer waren. Wenn die beiden geschlagen wurden, wären die zwei Orks in Augenblicken bei ihr, und dann mußte sie sich gegen die beiden auch noch wehren - das würde ihr Ende sein. Sirah hatte sich nie großartig im Kampf erprobt. Wenn es heikel geworden war, hatte sie sich immer auf ihren Dschinn verlassen, auf Baldur, den Ärmsten, der jetzt tot war. Der kleine, zornige Elemtarsturm, den sie an a Fries' Haus losgelassen hatte, war ihr Geheimrezept gewesen, etwas, das sie sich schon vor langer Zeit einmal zurechtgelegt hatte, sollte sie jemals in einen Kampf geraten. Viel mehr aber hatte sie nicht. Dieser Sturm entsprach ihrem Naturell. Sie hatte sich niemals verstellen können, mit einer wirklich tödlichen Zauberei auf jemanden loszugehen, mit Feuerblitzen oder was es da auch immer geben mochte. Sie hatte zeitlebens nur nützliche Zauber gewirkt, Heilungen oder Dinge für den Hausgebrauch, eine Kampfmagierin war sie nie gewesen. Immerhin beherrschte sie eine Magie des Feuerschutzes, und das rettete ihr im Moment das Leben. Irgendwie hatten sich die beiden Schamanen schon ganz zu Beginn des Kampfes hier auf der linken Seite des Hafens, wo es vergleichsweise ruhig war, mit ihren beiden Orkkämpfern an Land geschlagen und waren prompt auf sie gestoßen. Sie hatten es mit seltsamen Zaubereien versucht, bei denen Sirah das Gefühl hatte, mit Holzstücken bombardiert zu werden, die vor ihr in der Luft materialisierten, aber sie hatte sich durch einen einfachen Schildzauber helfen können, obwohl das Gedröhn des seltsamen Holzzeugs reichlich angsteinflößend gewesen war. Danach hatten die Schamanen es mit Feuer probiert, was ihr
nicht einmal Zeit gelassen hatte, einen ihrer kleinen wilden Stürme zu entfachen. Vielleicht hätte der gegen die beiden geholfen. Dann kam schon wieder ein Feuerblitz des großen Schamanen herangeknattert - er hatte sich aus seiner Deckung hinter einem Kistenstapel erhoben und hielt die Hand in die Höhe, während er mit der anderen eine Geste vollführte und irgend etwas schrie. Sirah hatte kaum noch Kraft. Sie warf schnell ihren Arm in die Höhe, und ein bläulicher Funkenregen entstand vor ihr, aber in diesem Moment erkannte sie voller Entsetzen, daß sie sich nicht mehr ausreichend hatte konzentrieren können. Ihr Zauber verpuffte ohne Wirkung, und der Feuerblitz des Orkschamanen durchschlug ihre Funkenbarriere. Sie ließ sich fallen, hoffte, daß sie so dem Schlimmsten würde entgehen können. Der Feuerstrahl fauchte sengend heiß über sie hinweg, ihre Haare knisterten, und ihr war, als würde ihr beim Einatmen die Lunge ausgebrannt. Dann wurde einer ihrer beiden tapferen Verteidiger von einem Schwert durchbohrt, und als einer der kämpfenden Orks zu ihr durchbrach, schrie der kleine, verkrüppelte Orkschamane irgend etwas. Über ihr tauchte ein monströser Schatten auf. Dann verlor sie die Besinnung. Belder konnte nicht mehr. Ongluk stand vor ihm und wankte. Von irgendwoher hatte ihn ein Pfeil in die Schulter getroffen, aber der Ork war so unglaublich stark, daß es Belder allein diesem Pfeil zu verdanken hatte, daß er selbst noch am Leben war. Er hatte Ongluk nur ein paar Mal erwischt, der beste Treffer war noch einer auf den Oberschenkel gewesen, wo eine blutende Wund klaffte. Alle anderen Treffer waren nicht der Erwähnung wert. Ongluk hatte ihn, Belder, noch überhaupt nicht getroffen, aber das hieß nichts. Es würde bald soweit
sein. Und wenn ihn diese Axt auch nur einmal erwischte, dann war es aus mit ihm. Belder hatte alle Kräfte und alles Geschick darauf verwendet, Ongluk auszuweichen. Und der riesige Ork hatte nur deswegen nicht mit voller Kraft kämpfen können, weil ihm dieser Pfeil tief in der Schulter saß. Er mußte das Herz knapp verfehlt haben, aber mit Sicherheit war er äußerst schmerzhaft. Belder stand gebückt da, stützte sich mit den Händen auf die Knie und keuchte. „Du gleich tott“, ächzte der Ork mit einer Stimme, die an das Zermahlen von Eis erinnerte. Belder richtete sich auf und begann zu tänzeln, obwohl ihm jeder Knochen und jeder Muskel einzeln weh taten. „Bist du sicher, großer Meisterkämpfer?“ spottete er so gut er konnte, aber er bezweifelte die Glaubwürdigkeit seiner Worte. „Du hast mich noch nicht ein Mal getroffen!“ „Du gleich tott“, wiederholte Ongluk. Dann hob er seine Axt, holte mit einem Aufbrüllen aus und ließ sie in Gürtelhöhe einmal mit mörderischer Gewalt im Kreis um sich fahren. Belder kam immer in Nöte, entscheiden zu müssen, ob er sich fallen ließ oder in die Höhe sprang. Diesmal sprang er, hatte wieder Glück, denn die Axt senkte sich, als sie herum kam. Hätte er sich fallen lassen, wäre das sein Tod gewesen. Dann war die Axt vorbei, und Belder entschied sich blitzartig zum Angriff. Er hatte sein Schwert nicht in Position für einen Streich, aber er rannte los, als die Axt auf die andere Seite herumfuhr, und sprang Ongluk direkt an. Der Ork brüllte auf, als Belder auf ihn traf. Die Axt entglitt seinen Händen und verschwand in der Nacht. Aber auch Belder verlor bei dem Zusammenprall sein Schwert. Immerhin saß er nun dem Ork im Nacken, winkelte den linken Arm um Ongluks Hals und begann mit der rechten Faust mit aller Kraft auf das Gesicht des Orks einzudreschen.
Ongluk brüllte auf, griff mit beiden Händen hinter sich und erwischte Belders Kopf. Seine Orkpranken schlossen sich wie Schaubstöcke um seinen Schädel, und er zog Belder hinter sich über Kopf in die Höhe. Belder brüllte vor Schmerz, Ongluks Griff drohte ihm die Ohren abzureißen. Er zog sein Knie durch, traf Ongluk direkt in den Nacken. Der Ork ächzte und ließ sich mit Belder zusammen nach vom fallen. Es tat einen furchtbaren Krach, als sie auf die Planken schlugen. Belder gelang es, sich abzurollen, und stand taumelnd wieder auf. Seine Ohren waren blutig und schmerzten ungeheuerlich. Ongluk hielt sich mit beiden Händen den Nacken. „Du tott!“ kreischte der Ork mit mörderischer Wut und stürzte auf ihn los. Belder konnte nicht mehr ausweichen, und Ongluk rammte ihm die Schulter in den Magen. Ächzend taumelte Belder nach hinten, fing sich kurz, schaffte es, einem weiteren Stoß Ongluks auszuweisen, und hieb ihm dafür die gefalteten Fäuste in den Nacken, als der Ork an ihm vorbeistürzte. Wumm - da lag Ongluk wieder, aber Belder mußte sich auf den Hintern fallen lassen, denn ihm war von dem Stoß in den Magen die Luft weggeblieben. Sie brauchten beide einige Augenblicke, ehe sie wieder einigermaßen bei sich waren. Verflucht, dachte Belder, so kriege ich den Kerl nie. Er hat Muskeln wie aus Eisen. Dann wurde es heller. Ein brennendes Boot trieb heran, aber niemand war darin. Sie sahen beide auf. Der Hafen war hell erleuchtet, überall wurde gekämpft, aber mit einem Mal wurde auch klar, daß die Übermacht der Orks gebrochen war. Eben stürmten aus den Gassen vom rechten wie auch vom linken Ende des Hafens Scharen von Leuten heran, während sich der Nachschub der Orks erschöpft hatte. Viele der Boote brannten und waren leer,
die meisten der noch kämpfenden Orks waren auf die Mole vorgedrungen, gerieten dort aber rasch dramatisch in die Unterzahl. Alles, was in Sykand Beine hatte - und Belder glaubte sogar, in diesem Moment ein paar halbwüchsige, knüppelbewaffnete Knaben und Mädchen und sogar den alten Jachoch mit einem Stock gesehen zu haben -, warf sich den Orks entgegen. Sie zählten vielleicht noch fünfzig oder sechzig Mann. Im Hafen mußten aber im Moment über zweihundert Sykander sein, und sie tobten und wüteten. Belder versuchte den Blick zu schärfen, und da schien sogar der Dschinn zu sein. Unglaublich, dachte er, der ist doch von dem Goldfresser getötet worden! Die ersten Orks begannen zu fliehen. „Du bist einfach ein Scheiß-Stratege!“ knurrte Belder, sich den Magen haltend. Sie saßen noch immer beide schwer atmend auf den Planken. „Übers Wasser angreifen! Mit deiner verfluchten, wasserscheuen Ork-Bande!“ Ongluk grunzte irgendwas in der Sprache der Orks. Belder kämpfte sich ächzend in die Höhe, konnte sich nicht richtig aufrichten, so sehr tat ihm der Magen weh. Er wies auf die Mole, die inzwischen einen ganzen Steinwurf entfernt vor ihnen lag. „Da siehst du's! Du hast verloren, blöder Orksack! Hoffentlich brät dich dein Kriegsmarschall dafür in seiner Frühstückspfanne!“ Nun erhob sich lautes Geschrei im Hafen, und die Orks wurden von der schieren Masse der Leute zurückgedrängt. Immer mehr flohen, beeilten sich, noch ein schwimmfähiges Boot zu erreichen, manche sprangen sogar ins Wasser. „Du tott!“ keuchte Ongluk. Belder winkte ab. „Hast du schon mal gesagt, Fliegenhirn. Ich geh jetzt. Sei froh, daß ich keine Waffe mehr habe.“ Belder humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zum vorderen Rand des Pierstücks und drehte sich noch einmal um.
„Das nächste Mal, wenn wir uns treffen, wirst du sterben, Ork! Das ist ein Versprechen!“ Er stöhnte. „Aber diesmal...“ Er ließ sich ächzend auf die Kante des Pierstücks fallen. „... diesmal hab ich einfach keine Kraft mehr. Mir tut alles weh.“ Ongluk grunzte noch etwas, ohne diesmal allerdings das Wort tott zu bemühen. Belder ließ sich ins Wasser gleiten. Als er darin war, kniff er die Augen zu und begann mit langsamen und vorsichtigen Zügen davonzuschwimmen. Er blickte noch einmal hinter sich, aber Ongluk saß immer noch auf seinem Fleck. Belder seufzte erleichtert. Wäre er noch bei der Armee gewesen, hätte er diesen Kampf wohl bis zum bitteren Ende ausgetragen. Aber Ongluk war geschlagen, und das reichte ihm. Er wollte einfach Andrina wiedersehen. Die Liebe für sie, die er in sich entdeckt hatte, überwog sämtliche Bedürfnisse, einen vollständigen Sieg erringen zu müssen, und, verdammt, er hatte ein Recht darauf, sie wiederzusehen! Er wollte es weder sich noch ihr antun, selbst vielleicht noch draufzugehen, wenn ihn das Glück jetzt verließ. Niemand in Sykand würde ihm ein Kupferstück für diesen Sieg geben, also hatte auch niemand das Recht, von ihm zu fordern, daß er jetzt noch mal sein Leben riskierte, um diesen Ork umzubringen. Er hätte es vielleicht sogar getan, wenn er irgendeine gangbare Möglichkeit gesehen hätte. Aber einen Kerl wie Ongluk konnte man nicht mit bloßen Händen umbringen. Nein, der Bursche hatte Muskeln aus Eisen, eine Haut aus gegerbtem Leder und einen Knochenbau wie eine Eiche. Nicht mal mit einem Schraubstock hätte man den erwürgen können. Und in seiner Verfassung, wo ihm alles weh tat, hätte es Belder einfach nicht schaffen können. Er schnaufte und schwamm langsam zur Mole. Dann sah er die Boote der fliehenden Orks auf sich zukommen, holte tief
Luft und ließ sich ein Stück hinabsinken. Aus der Wassertiefe heraus spähte er mit aufgeblasenen Wangen nach oben und sah die Lichter im Hafen, dann klatschten die Ruder der Orkboote über ihn hinweg. Es waren nur wenige. Er wartete noch ein paar Momente, dann tauchte er wieder auf und sah ihnen hinterher. Sein Herz schlug ruhig. Sykand hatte gewonnen.
Epilog
Es war ein bitterer Sieg, aber es war ein Sieg. Sechsundneunzig Sykander hatten bei dem Orkangriff sterben müssen, 49 Frauen und 47 Männer. Kaum ein Sykander Bürger hatte sich ängstlich versteckt, sie alle waren mit Knüppeln, Messern und Stecken in den Kampf gezogen und hatten dabei einem erfahrenen Orkkrieger eigentlich nur ihren Mut entgegenzusetzen gehabt. Ja, es stimmte, dachte Belder, am Mut mangelte es den Sykandern beileibe nicht, aber was man auch noch brauchte, war Kampferfahrung. Woher hätten sie die haben sollen? Ihnen war es ergangen wie Temmark, dem armen Teufel. Sykand hatte nur deshalb gewonnen, weil es ihnen gelungen war, die Schwäche der Orks auf dem Wasser nach Kräften zu nutzen. Ein Überraschungserfolg waren die Wurfgeschosse gewesen. Die bei weitem meisten Orks waren unterhalb der Hafenmauer gestorben - durch Pfeile, Steine, brennendes Öl oder durch Ertrinken. Der alte Jachoch war tot, auch Ingram war umgekommen, ebenso Zappsteen, der sich, wie Belder hörte, mutig mit in den Kampf geworfen hatte. Sirah war von ihrem Dschinn gerettet worden, den sie freigegeben hatte, nachdem er von dem Dämon besiegt worden war. Niemand hatte Sirahs Tat mitbekommen, und Sirah wiederum hatte nicht gewußt, daß ein Dschinn auf diese Weise gar nicht sterben konnte. Er war von dem Dämon besiegt worden, und Sirah hatte dann, so glaubte sie, seine Seele freigegeben. Doch der Dschinn hatte sich aus freien Stücken dazu entschieden, Sirah aus ihrer Not zu retten, und die beiden Orkschamanen in Stücke gehauen. Nun war er wieder fort und würde wohl nie zurückkehren. Renika hatte eine schmerzhafte Brustverletzung davongetragen, als a Fries' Axt, im Gesicht eines Orks steckend, mit ihrer rückseitigen Spitze auf sie gefallen war. A
Fries ging es gut. Jandhar hatte das Freilos gezogen, denn er hatte am Kampf überhaupt nicht teilgenommen. Aber an einer ehrenvollen Kampfverletzung mangelte es ihm dennoch nicht. Und dann war da noch Andrina. Sie hatte die Nacht überstanden, Thallis an ihrer Seite, und Thallis hatte durch diese Tat, was Belder anging, alles zehnfach wiedergutgemacht, was er ihm früher angetan hatte. Andrina war noch immer nicht transportfähig, aber sie war wach, ansprechbar und lächelte sogar ab und zu wieder. Eine der ersten Maßnahmen war, die Dinia Tjerbus, beladen mit fast einhundertzehn Orkleichen, die meisten durch Ertrinken umgekommen, hinaus aufs Meer zu schleppen und sie dort anzuzünden. Das Feuer brannte bis in die Abendstunden. Erst dann versank das Schiff weit draußen im Meer. Die Aufräumarbeiten schritten voran, und am Abend kam Salis von Thralbeg zu Belder, entschuldigte sich im Namen der gesamten Stadt bei ihm und bot ihm den Posten des Wachkommandanten von Sykand an. Belder lehnte ab. Er hatte vor, von hier zu verschwinden, sobald es Andrina besser ging, und dabei blieb es. Zwei Tage später verlegte man sie in die Krankenstube von Sykand, wo sie auch Jandhar und Renika wiedertraf. Die Krankenstube war eine Neuerung, die Belder in mißtrauisches Staunen versetzte. Sie wurde gemeinsam von Prander Thallis und Sirah geführt, und es schlichen eine Menge Leute leise herum, die beängstigend viel Interesse daran zeigten, daß die Krankenstube immer über frische Wäsche, Kräuter, Wasser, Arzneien und Verpflegung verfügte. Sogar ein Hort für kleine Kinder war eingerichtet worden, und Sirah schien ihre neue Arbeit zu lieben. Als Belder sie fragte, was der ganze Firlefanz sollte, sagte sie, es wäre nur vorübergehend, und sie würde sicher bald wieder zurück in ihre Hütte ziehen. Er bedachte sie mit einem mißtrauisch-ungläubigen Naserümpfen. Dann ging es um das Gold. Man berief eine Sitzung ein und
begann darüber zu verhandeln, zu welchen Teilen man das Gold des Dämonen, nachdem es eingeschmolzen und zu Barren gegossen war, an die Geschädigten zurückverteilen sollte. Belder hielt sich dieser Versammlung so fern wie er nur konnte. Schließlich kam a Fries zu ihm. Belder war bei Andrina in der Krankenstube. „Hör zu, Belder“, sagte er. „Du hast dich um die Stadt sehr verdient gemacht. Wir haben dir einen Vorschlag zu machen.“ Belder schüttelte den Kopf. „Abgelehnt“, sagte er. „Ich bleibe nicht hier.“ A Fries holte tief Luft. „Hör doch erst mal zu.“ Belder winkte ab. „Ich kenne deinen Vorschlag jetzt schon. Ihr wollt mir ein Bein oder einen Fühler dieses Ungeheuers geben und mich zu einem reichen Mann machen. Vergiß es. Ich bleibe nicht hier!“ A Fries schüttelte den Kopf. „Du kriegst nichts von diesem Dämon. Niemand kriegt etwas. Hörst du? Niemand!“ Belder runzelte die Stirn. „Niemand?“ A Fries schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Sogar ich nicht. Ich habe nicht mehr das kleinste Goldstück. Nicht mal mehr das Kettchen von Trine.“ Er breitete die Hände aus. „Nur noch mein Sägewerk. Ich fange neu an - nur mit dem, was ich noch habe. Jeder hier wird das tun.“ Belder lachte spöttisch auf. „Na, da habt ihr ja was vor! Nachbarschaftshilfe, was? In Sykand!“ A Fries nickte nun entschlossen. „Richtig. So haben wir's beschlossen! Der Dämon bleibt, wo er ist. Sozusagen als, nun ... als Mahnmal.“ Belder staunte etwas, aber der Spott wollte nicht aus seiner Seele weichen. „Als Mahnmal! Sieh an! Auf daß die Kinder folgender Generationen immer vor Augen haben: Die Goldgier
hätte Sykand um ein Haar verschlungen!“ „Verspotte uns nicht, Belder!“ knurrte a Fries. „Du bist auch nicht ohne Fehler. Du hättest deine Andrina nicht, wenn sie dir nicht so manches verziehen hätte!“ Belder richtete sich auf und starrte a Fries scharf an. Er sah zu Andrina, die nun zurückblickte, freundlich, aber nicht eben so, als würde sie das bestreiten wollen, was a Fries eben gesagt hatte. „Paß auf, was du sagst, Gnom!“ sagte Belder gefährlich leise. „Ich hab keine Angst vor dir, Barbar!“ erwiderte a Fries. „Aber du hast anscheinend Angst! Vor dir selbst!“ Belder schnaufte ärgerlich. Er starrte den Zwerg lange an, dachte nach, aber langsam, er wußte auch nicht warum, versiegte sein Spott. A Fries war ein anständiger Kerl, das wußte er tief in seinem Inneren. Und a Fries war kein Dummkopf. Er hatte Freunde wie Ingard oder Gernot und all sein Gold verloren, sein Haus war eine halbe Ruine, er war von den Sykandem gejagt worden, und vielleicht hätte er noch mehr Gründe gehabt, Sykand den Rücken zu kehren als er, Belder. „Glaubst du etwa, du hättest alles richtig gemacht, in den letzten Tagen?“ fragte a Fries herausfordernd. „Glaubst du, du wärest jetzt plötzlich das Maß aller Dinge - hier, in diesem verrotteten Sykand?“ Belder mußte unwillkürlich an Temmark denken, diesen mutigen jungen Kerl, den er hatte sterben lassen. Und daran, daß er Andrina anfangs beinahe nicht in sein Haus gelassen hatte. „Nein“, sagte er. „Das glaube ich natürlich nicht. Aber warum, zum Henker, wollt ihr mich hier überhaupt haben? Wo ich doch nur ein unbequemer Störenfried bin?“
„Weil du hierher gehörst, Belder. Weil Sykand deine Heimat ist und weil wir dir was schulden. Wenn du jetzt gehst, läßt du uns in unserer Schande zurück. Gib uns eine Chance und bleib hier. Wir helfen dir, dein Haus wieder aufzubauen. Du sollst hier einen anständigen und angesehenen Beruf ausüben. Wir wollen dich einfach haben, verstehst du? Weil wir kapiert haben, daß du ein wertvoller Mann bist. Und ein guter Mensch.“ Er nickte in Richtung Andrina, die in ihrem Bett lag, zu Belder aufblickte und seine Hand hielt. „Und das gilt natürlich ganz besonders für Andrina.“ Belder sog langsam Luft ein, atmete wieder aus und musterte dabei a Fries. Der Zwerg war sein Freund, das wußte er. Sie hatten ein rauhes, aber herzliches Verhältnis, ganz so, wie Belder Freundschaften mochte. Das wäre mal ein kleiner Grund hierzubleiben, dachte er. Dann sah er zu Andrina. Für sie bestand jetzt die Chance, eine echte Heimat zu finden. Das konnte er ihr eigentlich nicht vorenthalten. „Was meinst du?“ fragte er sie. Sie drückte nur seine Hand und lächelte. Das Sprechen fiel ihr noch schwer. Er sah a Fries lange an, und schließlich entspannte er sich und seufzte. „Also gut. Andrina braucht noch eine Weile, ehe sie wieder auf dem Damm ist.“ Dann nickte er langsam. „Wir werden es uns überlegen.“