Nr. 333
Atlantis-Patrouille Eine Zeitkapsel im Brennpunkt der Interessen von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrungen habe...
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Nr. 333
Atlantis-Patrouille Eine Zeitkapsel im Brennpunkt der Interessen von H. G. Ewers
Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist – in der Form eines plötzlich wiederaufgetauchten Stückes des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der ehemalige Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren der FESTUNG ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die beiden Männer landeten auf einer Welt der Wunder und der Schrecken – mit dem Ziel, die Beherrscher von Pthor schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nahmen, haben Atlan und Razamon zusammen mit ihren neuen Kampfgefährten dieses Ziel inzwischen erreicht. Der Angriff auf die FESTUNG, gemeinsam mit den Kindern Odins vorgetragen, war von Erfolg begleitet. Der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor gefährdet nun die Erde nicht mehr. Er befindet sich nach den vorangegangenen apokalyptischen Ereignissen von Ragnarök, der Stunde der Götterdämmerung, mit Atlan unterwegs auf dem Flug durch fremde Dimensionen. Was aber geschieht nach dem Verschwinden des »Neuen Atlantis« auf der Erde? Hier, rund ein halbes Jahr nach der Entmaterialisierung des mysteriösen Kontinents, erscheint ein neuer Besucher. Er wird zuerst geortet von der ATLANTIS-PATROUILLE …
Atlantis-Patrouille
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Die Hautpersonen des Romans: Algonkin-Yatta - Ein Fremder auf Terra. Loggy - Algonkin-Yattas Partner. Anlytha - Algonkin-Yattas Gefährtin vertreibt sich die Langeweile. James McDuffy und Corda Ragsor - Mitglieder der Atlantis-Patrouille. Allan D. Mercant - Chef der Solaren Abwehr. Tolperkohn - Ein verräterischer Ara.
1. ATLANTIS-PATROUILLE Die vollautomatisierte Orbitstation ARGUS gehörte zu jenen zahlreichen erdnahen Raumstationen, die in rund 36 000 Kilometern Höhe mit der gleichen Geschwindigkeit um die Erde kreisten, mit der Terra um sich selbst rotierte. Man nannte so etwas einen »stationären Orbit«. Was ARGUS von den anderen erdnahen Raumstationen unterschied, war die spezialisierte Aufgabenstellung der IntensivÜberwachung jenes atlantischen Seegebiets, in dem am 30. 8. 2648 unter mysteriösen Umständen ein Teil des vor über zehntausend Jahren untergegangenen Inselkontinents Atlantis aufgetaucht und am 1. September 2648 wieder unter ebenso mysteriösen Umständen verschwunden war. Und mit dem »Neuen Atlantis« war Lordadmiral Atlan verschwunden – oder schon vorher, denn die Verantwortlichen der Erde wußten nur, daß Atlan gemeinsam mit dem geheimnisvollen Razamon in Richtung des Neuen Atlantis aufgebrochen und seitdem verschollen war. Seitdem war genau ein halbes Jahr vergangen. Die zahlreichen leistungsstarken Schutzschirmprojektoren auf dem Meeresboden und im erdnahen Weltraum waren dreieinhalb Monate nach dem Verschwinden des Inselkontinents abgeschaltet worden. Nur selten noch dachten die Terraner an das Auftauchen und Verschwinden jenes nebelverhangenen Landzipfels. Es gab jeden Tag genug andere Meldungen, die über die zahlreichen planetarischen, interplanetarischen und interstellaren Trivideokuben flim-
merten und tönten. Einige Menschen allerdings würden es niemals vergessen. Zu ihnen gehörte Perry Rhodan, Großadministrator des Solaren Imperiums und bester Freund des USOLordadmirals. Perry Rhodan sorgte sich noch immer um seinen Freund und versuchte alles, um Aufklärung über dessen Schicksal zu erhalten. Doch das war nicht alles. Rhodan schätzte die Gefahr, die von dem Neuen Atlantis trotz seines Verschwindens noch immer drohen konnte, relativ hoch ein. Er ließ einen der Projektor-Satelliten zu einem der hochwertigen Überwachungs-Satelliten umbauen, dessen Meß-, Beobachtungs- und Auswertungssystemen nichts entging, was sich in dem kontrollierten Seegebiet abspielte. Eingeweihte hatten mehrmals behauptet, ARGUS würde sogar die minimalsten Schwankungen in der Plankton-Population registrieren.
* Leutnant James McDuffy dachte nicht an derartige Dinge, während er im engen Computerraum seiner alten Space-Jet umherkroch. Der Doughnut, wie das ausrangierte Beiboot eines verschrotteten Schnellen Kreuzers der Imperiumsflotte von den Frauen und Männern der »Atlantis-Patrouille« genannt wurde, sah nur noch äußerlich wie eine Space-Jet aus. In Wirklichkeit war die Jet nicht viel mehr als ein Luftgleiter, der allerdings auch im interplanetarischen Verkehr hätte eingesetzt werden können. Konverter und Funktionssysteme des Lineartriebwerks sowie verschiedene Sektionen des ursprünglichen
4 Bordcomputers waren ausgebaut, überholt und wieder verwendet worden. Der Rest genügte völlig, um Patrouillenflüge über dem Seegebiet durchzuführen, in dem das Neue Atlantis aufgetaucht und wieder verschwunden war. Nur das Relikt des einstigen Bordcomputers streikte manchmal – so, wie an diesem 1. März des Jahres 2649 Erdzeit … Als der Summer des Bordtelekoms die Stille an Bord zerschnitt, verzog Leutnant McDuffy unwillig das Gesicht. »Soll der Teufel sich um den Funk kümmern!« schimpfte er. Der Teufel schien allerdings nicht dazu bereit zu sein. Jedenfalls fiel das Summen dem Leutnant nach einigen Minuten so sehr auf die Nerven, daß er sich ächzend und fluchend in dem nur knapp vierzig Zentimeter hohen Raum drehte und durch die runde Montageluke in die Steuerkanzel kroch. Stöhnend richtete er sich auf und wankte (sein rechtes Bein war eingeschlafen) zum Funkpult. Mit einem Fausthieb auf die betreffende Taste schaltete er den Bordtelekom ein. Die Bildfläche wurde schlagartig hell. Das Gesicht einer jungen Frau mit rotbrauner Haut und kupferfarbenem Haar erschien darauf. Es war ein schönes Gesicht, das allerdings zur Zeit ärgerlich verzogen war. »Haben Sie vielleicht geschlafen, Leutnant, weil Sie so lange brauchten, um sich zu melden?« fragte die Frau mit dunkler Stimme. McDuffys Gesicht lief vor Zorn rot an. »Ich habe mit dem Bordcomputer geschlafen, Captain«, erwiderte er. »Und mein rechtes Bein schläft jetzt noch.« Der Ärger verschwand vom Gesicht des weiblichen Captains. »Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht, McDuffy. Wann ist Ihre Jet einsatzbereit? In zweieinhalb Stunden fängt Ihr Patrouillenflug an.« »Dann besorgen Sie mir inzwischen schon Ersatz für den Doughnut, Captain Ragsor«, erwiderte der Leutnant. »Ich weiß
H. G. Ewers nicht, warum der Bordcomputer streikt – und ohne funktionierenden Computer lassen sich die Ortungsergebnisse nicht vergleichen und auswerten.« Captain Corda Ragsor machte ein betrübtes Gesicht. »Für die Atlantis-Patrouille gibt es keine Ersatz-Fahrzeuge«, erklärte sie. »Für uns ist das Schlechteste noch viel zu gut. Ich wette, der Großadministrator hat keine Ahnung, wie die untergeordneten Stellen seine Anweisung zur permanenten gründlichen Überwachung des Gebiets von Neu-Atlantis ausführen.« »Die Versorgungsbullen sitzen auf ihren Materialbergen und verteidigen sie mit Zähnen und Klauen!« schimpfte Leutnant McDuffy. »Warum beschweren wir uns eigentlich nicht?« Corda Ragsors Gesicht wurde abweisend. »Das zu entscheiden überlassen Sie bitte mir, Leutnant!« entgegnete sie. »Versuchen Sie, den Bordcomputer soweit hinzukriegen, daß Sie den routinemäßigen Patrouillenflug planmäßig absolvieren können! Ist das klar, McDuffy?« Der Leutnant grinste. »Klar, Captain. Warum sollte eigentlich diesmal etwas Besonderes geschehen! Und falls das Neue Atlantis wieder auftaucht, sehe ich es auch mit bloßem Auge.« »Wenn Sie nicht gerade schlafen«, erwiderte Captain Ragsor ironisch und unterbrach die Verbindung. James McDuffy schaltete den Bordtelekom aus, tastete sich am Getränkeautomaten einen Becher Kaffee, setzte sich in einen der fünf Kontursessel und schlürfte das heiße Getränk mit großem Behagen. Nicht zum erstenmal überlegte er, wie er es anstellen sollte, seine Vorgesetzte zu einem Rendezvous zu überreden. Corda Ragsor war eine schöne und interessante Frau – und James McDuffy war jung genug, um sich zu wünschen, Corda in einen der feudalen Clubs in Angra do Heroismo führen zu können und dabei von seinen Kameraden und Freunden gesehen zu werden. Leider
Atlantis-Patrouille hatte sie bisher alle seine diesbezüglichen Einladungen abgelehnt. Verärgert warf Leutnant McDuffy den leeren Kaffeebecher in die Öffnung des Abfallvernichters und kroch abermals auf den Gitterrost aus Metallplastik, der sich unter den Hauptelementen des Bordcomputers befand. Eigentlich, so sagte er sich, war alles gar nicht weiter schlimm. Bevor er zur AtlantisPatrouille versetzt worden war, hatte er als normaler Angehöriger der Küstenwache eine bestimmte Route zwischen den Azoren und der Meerenge von Gibraltar überwacht und dafür gesorgt, daß leichtsinnige Menschen, die sich mit kleinen Segel- oder Motorbooten ins offene Meer gewagt hatten und an der rauhen See scheiterten, vor dem Ertrinken bewahrt wurden. Im Unterschied zu jener Zeit flog er heute wenigstens nicht nur einen gewöhnlichen Flugleiter, sondern ein echtes Raumfahrzeug, wenn auch ein kastriertes, wie Piero Francia, sein Ortungstechniker, zu sagen pflegte. Als der Summer des Bordtelekoms abermals ertönte, zuckte McDuffy so heftig zusammen, daß er sich den Schädel an einem Computerelement anstieß. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen und versetzte ihn in ohnmächtige Wut. Er nahm den unterarmlangen Detektor, mit dem er die Fehlerquelle im Computer gesucht hatte, und stieß ihn wieder und wieder gegen die Stelle, die seinem Kopf so übel mitgespielt hatte. Als er erschöpft innehielt, bemerkte er verblüfft, daß der Summer des Bordtelekoms schwieg. Das war so ungewöhnlich, daß er es zuerst nicht glauben wollte. Doch als er Schritte und danach die Stimme von Captain Ragsor hörte, wußte er, daß sein Gehör noch in Ordnung war. »Kommen Sie heraus, Leutnant!« schrie Corda Ragsor aufgebracht. »Wir müssen sofort starten!« James McDuffy lachte, doch dann wurde ihm klar, daß die Stimme seiner Vorgesetz-
5 ten sich vor Erregung beinahe überschlagen hatte. Corda Ragsor scherzte also offenbar nicht. »Ich komme!« rief er zurück. Als er durch das Montageluk mehr fiel als kroch und sich ächzend aufgerichtet hatte, sah er, daß Captain Ragsor vor dem Hauptsteuerpult saß und die Systeme durchcheckte. »Sie wollen tatsächlich mit mir fliegen – und noch dazu allein, Captain?« sagte er. »Allerdings«, gab Corda Ragsor zurück, ohne den Kopf zu wenden. »Aber geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin, McDuffy. Ich fliege mit Ihnen allein, weil ARGUS das Auftauchen eines verdächtigen Objekts im Gebiet der Atlantis-Patrouille gemeldet hat und weil die übrige Besatzung des Doughnut nicht vor einer Stunde hier sein kann.«
* Die Aussicht, endlich einmal etwas Aufregendes zu erleben, ließ Leutnant James McDuffy handeln, ohne vorher zu fragen. Er unterstützte seine Vorgesetzte beim Durchchecken der Bordsysteme, danach nahm er auf Captain Ragsors Anweisung vor dem Orterpult Platz, vor dem sonst Piero Francia zu sitzen pflegte. Der weibliche Captain übernahm dafür an seiner Stelle die Aufgabe der Steuerung. Erst, als die Space-Jet gestartet war und die oberirdischen Anlagen des Fusionskraftwerks von Ponta Delgada überflog, setzten seine normalen Denkvorgänge wieder ein. »Was soll das für ein Objekt sein, das von ARGUS geortet wurde, Captain?« fragte er. Corda Ragsor lächelte flüchtig. »Ein verdächtiges Objekt, Leutnant.« Sie wurde ernst. »ARGUS konnte weder seine Masse noch seine Formen exakt bestimmen, sondern nur die Position.« »Und woher ist es gekommen?« erkundigte sich McDuffy. »Auch das konnte ARGUS nicht feststellen«, antwortete Captain Ragsor. »Das Ob-
6 jekt war plötzlich da – und ich hoffe, es verschwindet nicht, bevor wir es erreicht haben.« Leutnant McDuffy spürte plötzlich, daß er feuchte Handflächen hatte. Er begriff, daß das, was sie an der durchgegebenen Position erwartete, nicht unbedingt nur aufregend sein mußte. Es konnte durchaus auch gefährlich sein – und vielleicht sogar tödlich. Zum erstenmal fragte er sich, warum die Gesamtleitstelle der terranischen Küstenund Meeresüberwachung ausgerechnet ihn und andere eigentlich ganz gewöhnliche Frauen und Männer zur Atlantis-Patrouille versetzt hatte. Noch dazu, wo es verschiedene Spezialisten der USO gab, die schon zu ihren Lebzeiten einen legendären Ruf erworben hatten und überall dort eingesetzt wurden, wo es brenzlig war. Die Verantwortlichen mußten sich geirrt haben. Offenbar hatten sie niemals damit gerechnet, daß im Überwachungsgebiet tatsächlich noch einmal etwas Besonderes geschehen würde. Aber es war etwas Besonderes geschehen – und er, ein einfacher Leutnant der Küstenwache, sah sich mit diesem Besonderen und Unheimlichen konfrontiert. »Was orten Sie, Leutnant McDuffy?« fragte Captain Ragsor. James McDuffy fuhr zusammen und nahm wahllos einige Schaltungen vor. Er hatte doch tatsächlich vergessen, daß bei diesem Flug ihm die Bedienung der Ortungsinstrumente zufiel. »Wasser, viel Wasser, Captain«, antwortete er, um überhaupt etwas zu sagen. »Dieses Überbleibsel eines hochwertigen Bordcomputers liefert ansonsten nur einen wirren Datensalat.« Er starrte auf das Anzeigefeld des Massetasters, in dem der Leuchtbalken unablässig zwischen Minimum und Maximum pendelte. Die Auswertungsanzeige blieb dunkel, da der Bordcomputer noch immer streikte. McDuffy fuhr ununterbrochen über die Sensorpunkte der Computerschaltungen, aber das Positronengehirn verweigerte weiter den Dienst. Kurz entschlossen versuchte
H. G. Ewers es der Leutnant mit etwas, das unter Computerspezialisten »Wechselbad« genannt wurde. Abwechselnd drosselte und erhöhte er die Energiezufuhr für den Bordcomputer. Captain Ragsor hatte unterdessen eine Funkverbindung zur Orbitstation ARGUS hergestellt und bat um neue Kursdaten. Eine menschlich klingende Stimme gab die Daten durch, obwohl es in ARGUS keinen einzigen Menschen gab. »Wir sind nur noch zwanzig Kilometer von dem Objekt entfernt, Leutnant McDuffy«, sagte Corda Ragsor daraufhin. »Sehen Sie zu, daß Sie das Computerrelikt zur Mitarbeit bewegen können!« »Das Ding will nicht«, stellte McDuffy verbittert fest. Kurz entschlossen tat er etwas, das jeden Kybernetiker in helles Entsetzen gestürzt hätte: Er schaltete die Energiezufuhr für den Bordcomputer vollständig aus. »Was haben Sie getan?« schrie Captain Ragsor. Doch da hatte McDuffy die Energiezufuhr bereits wieder aktiviert. Indem er mit einer Hand die elektronische Plombe auskuppelte, schob er mit der anderen Hand den Schalthebel weit über die rotmarkierte Überlastungslinie hinaus. »Schocktherapie!« erklärte er trocken. »Aber Sie hatten dem Computer die Energie vollständig gesperrt, Leutnant«, erwiderte Corda Ragsor verzweifelt. »Das bedeutet, daß während dieser Zeit seine Speicherfelder zusammengebrochen sind und er weder seine Programmierung noch seine Erinnerungen besitzt.« McDuffy zuckte die Schultern. »Schlechter als vorher können wir gar nicht dran sein«, meinte er gleichmütig. Plötzlich leuchteten seine Augen auf. »Wir sind besser dran, Captain, viel besser!« rief er. »Die Kontrollen zeigen wieder normale Werte an.« »Das ist unmöglich!« protestierte der weibliche Captain schwach. Leutnant James McDuffy hörte schon nicht mehr hin. Sein Blick heftete sich wie
Atlantis-Patrouille gebannt auf die Auswertungsanzeige des Massetasters, die soeben aufgeleuchtet war. »Hochwertiges Metallplastik«, flüsterte er mit heiserer Stimme. »Masse schwankt zwischen plus und minus dreiundvierzig Tonnen.« »Der Computer hat den letzten Rest Verstand verloren, Leutnant«, rief Captain Ragsor. »Einen Minus-Massewert gibt es überhaupt nicht.« »Hier schon«, erwiderte James McDuffy. »Die Schwankungsintervalle werden übrigens immer länger und verlagern sich stärker nach plus.« Er fing einen Plastikstreifen auf, der aus einem Schlitz im Ausgabesektor des Bordcomputers schnellte. Stirnrunzelnd las er die ausgedruckte Information ab. »Das Schwanken der Massewerte zwischen plus und minus resultiert mit großer Wahrscheinlichkeit aus einer verzögert durchgeführten temporalen Anpassung des angemessenen Objekts.« Diesmal hörte Captain Ragsor nicht mehr hin. Sie legte die Space-Jet auf die Backbordseite, bis die beiden Küstenwachleute ohne Instrumentenhilfe auf die langgezogene Dünung des Atlantiks schauen konnten. »Sehen Sie nur, James!« flüsterte Corda Ragsor und nannte ihren Dienstuntergebenen zum erstenmal beim Vornamen. McDuffy merkte es nicht, denn er war völlig von dem Anblick in Bann geschlagen, der sich ihm – zirka hundert Meter unter der Space-Jet – bot. Eine Konstruktion aus silbrig schimmerndem Material, die aus einer zu einem großen Ring geformten Röhre bestand, auf der an Streben ein eiförmiger Körper von der Größe dreier normaler Fluggleiter verankert war … »Unheimlich!« entfuhr es McDuffy. Er sah auf und begegnete Corda Ragsors Blick, in dem deutlich die Angst flackerte. Dennoch sagte der Captain: »Leutnant McDuffy, wir werden dieses Gebilde bergen!«
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2. DER FREMDE Die Erinnerungen kamen und gingen … Jahre waren vergangen, während er den Spuren des Mannes gefolgt war, den er bewunderte. Vieles hatte er in dieser Zeit kennengelernt und erlebt, viel Schönes und viel Häßliches. Während der ersten Phase seiner Suche nach Atlan, dem Kristallprinzen von Arkon und dem Kämpfer gegen Diktator Orbanaschol, hatte er die Zeitkapsel gefunden: Instrument eines längst vergangenen galaktischen Volkes, das bei seinem Pendeln in der Zeit unermeßliches Unheil angerichtet hatte. Oder vielleicht hatte die Zeitkapsel ihn gefunden, denn praktisch benutzten ihn die Nachkommen der Erbauer dieser Kapsel nur als Werkzeug. Allerdings waren ihre Motive selbstloser Natur. Sie wollten die Zeitkapsel auf eine Zeitebene bringen lassen, auf der sie von ihrem Zwang zur Wanderung durch die Zeiten erlöst wurde, denn bei diesen Wanderungen brachte sie jedesmal Unheil über fremde Zivilisationen. Nachdem er ihren Willen vollzogen hatte, wurde er mit der Zeitkapsel in seine Eigenzeit zurückgeschickt – und erhielt die Kapsel als Geschenk. Während dieser »Rückfahrt« in die eigene Zeitebene kam es zu Sprüngen in die Zukunft des Suchers. Er erkannte, daß es sinnlos gewesen wäre, Atlans Spur auf die gleiche Weise wie bisher weiter zu verfolgen. Er würde durch die Zeit reisen müssen, um ihn einzuholen – und er mußte ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt treffen, wenn er ihn vor einer großen Gefahr bewahren wollte. Gelang ihm das nicht, würde die Suche ungeheuer erschwert werden. Das Risiko, Atlan mit einem Sprung in die Zukunft einzuholen, war riesengroß. Schon einmal hatte der Kundschafter feststellen müssen, daß es im Strom der Zeiten Dinge gab, die die Kapsel aus der Zeitbahn schleudern oder zwischen den Zeiten stran-
8 den lassen konnten. Doch erstens liebte der Kundschafter solche Risiken – und zweitens besaß er einen Partner, der selbst über wertvolles Wissen hinsichtlich temporärer Manipulationen verfügte. Unter diesen Umständen konnte der Kundschafter sogar seine widerspenstige Gefährtin Anlytha davon überzeugen, daß das riskante Experiment notwendig war. Und so war Algonkin-Yatta gemeinsam mit Loggy in der Zeitkapsel aufgebrochen, um Atlan in der Zeit zu suchen, während Anlytha mit dem Kundschafterschiff auf einem Planeten zurückblieb, um seine Rückkehr abzuwarten. Algonkin-Yatta erinnerte sich, daß die Reise in die Zukunft überraschend glatt verlaufen war – bis die Kapsel in einen Sturm temporärer Energien geriet, der durch ein unbekanntes gewaltiges Objekt ausgelöst wurde, das mit ungeheurer Energieentfaltung die Dimensionen der Zeit und des Raumes durchbrochen hatte. »Hinter« diesem Objekt waren die »Brüche« teilweise irregulär verheilt, das heißt, die Beziehungen zwischen den räumlichen Kontinua und der Zeit waren teilweise umgekehrt worden. Das führte dazu, daß die Zeitkapsel plötzlich nicht nur durch die Zeitdimension raste, sondern auch durch die räumlichen Kontinua. Während dieses Sturzes konnten der Kundschafter und Loggy feststellen, daß ihr Weg durch Zeit und Raum spiralförmig an den Schlauch an tobender temporärer Energie, dem »Kielwasser« des unbekannten Objekts entlangführte – und zwar in umgekehrter Richtung. Loggy errechnete, daß sie nicht eher zur temporären Ruhe kommen würden, als bis sie die raum-zeitliche Position erreicht hätten, an dem das unbekannte Objekt zuletzt für längere Zeit »materialisiert« gewesen war. Doch weder das grüne Kristallwesen noch Algonkin-Yatta vermochten vorauszuberechnen, wo und wann das sein würde und welche Bedingungen sich dort fänden.
H. G. Ewers Die Ereignisse der letzten Zeit waren zu turbulent gewesen, als daß der Kundschafter von Ruoryc sich an alle Einzelheiten erinnern konnte. Er wußte, daß die Zeitkapsel irgendwo zum Stillstand gekommen war, aber dieser Stillstand war nur selten gleichzeitig räumlich und temporär, sondern meist räumlich oder temporär. Das bedeutete, daß die Kapsel, wenn sie in der Zeit stillstand, räumlich versetzt wurde – und umgekehrt. Wurde sie räumlich versetzt, diente der stillstehende Zeitbezugspunkt sozusagen als Anker mit dehnbarer Kette, der die Kapsel auch räumlich wieder zurückführte; wurde sie zeitlich versetzt, fungierte der räumliche Bezugspunkt als Anker und holte die Kapsel auch temporär wieder zurück. Der Kundschafter vermochte noch festzustellen, daß dieses Hin und Her sich allmählich abschwächte, so daß die Kapsel irgendwann gleichzeitig räumlich und zeitlich stabil bleiben würde, doch dann führten die mehrdimensionalen Pendelbewegungen dazu, daß er jedes Gefühl für Raum und Zeit verlor …
* Captain Corda Ragsor hielt die Space-Jet in zwanzig Metern Höhe über dem in den Wellen schaukelnden Objekt an. Anschließend sprach sie einen knappen Zwischenbericht in den Telekom, der mit der Leitstelle der Atlantis-Patrouille verbunden war. Zu ihrer Überraschung schaltete sich die Verbindung um, was an dem Wechsel der Erkennungssymbole auf dem Bildschirm zu sehen war. Nachdem das neue Symbol ebenfalls erloschen war, zeigte sich das Abbild eines menschlichen Oberkörpers. Es war der Oberkörper eines Mannes in gereiftem Alter, der Zivilkleidung trug und dessen Gesicht ein freundliches Lächeln zeigte, das zu seinem dünnen blonden, an den Schläfen ergrautem Haarkranz paßte. »Ich danke Ihnen für Ihren Zwischenbericht, Captain Ragsor«, sagte der Mann.
Atlantis-Patrouille »Haben Sie daran gedacht, den Mentaltaster Ihrer Space-Jet einzusetzen, um herauszufinden, ob sich Lebewesen in dieser Kapsel befinden?« Leutnant James McDuffy fing einen halb erschrockenen, halb zornigen Blick seiner Vorgesetzten auf und sagte: »Der Mentaltaster arbeitet, aber die Bordpositronik hat seine Meßergebnisse noch nicht ausgewertet. Wer fragt da eigentlich, Captain?« »Solarmarschall Mercant«, flüsterte Corda Ragsor herüber, dann schaute sie wieder auf den Bildschirm des Bordtelekoms und fragte: »Haben Sie die Auskunft Leutnant McDuffys gehört, Sir?« »Allerdings«, antwortete der Chef der Solaren Abwehr. »Und sie befriedigt mich keineswegs. Wenn die Bordpositronik nicht einwandfrei arbeitet, müssen die Meßergebnisse des Mentaltasters eben von einem menschlichen Gehirn ausgewertet werden.« McDuffy errötete leicht. Ohne etwas zu sagen, schaltete er die Aufnahmesektion des Mentaltasters auf einen Info-Schirm. Er war selbst ziemlich verblüfft, als er an der wechselnden elektronischen Linie des Diagramms sofort erkannte, daß sich ein Lebewesen im Erfassungsbereich des Mentaltasters befand, so sehr war er daran gewöhnt, alle Informationen erst dann als Informationen anzusehen, wenn sie von einem Computer sozusagen vorverdaut worden waren. »Ein Lebewesen befindet sich in der Kapsel, Solarmarschall!« rief er aufgeregt. »Aber ich weiß natürlich nicht, ob es ein Mensch ist oder nicht.« »Das ist nicht so wichtig«, erwiderte Allan D. Mercant. »Captain Ragsor, bitte nehmen Sie die Kapsel mit Traktorstrahlen in Schlepp und setzen Sie sie auf der Plattform von Sealab ALBATROS ab. Ich schicke Ihnen jemanden hin, der sich eingehend mit der Kapsel befassen und Kontakt mit ihrem Passagier aufnehmen wird.« »In Ordnung, Sir«, sagte Captain Ragsor, die ihre Selbstsicherheit wiedergefunden hatte. »Möchten Sie mit uns in Verbindung
9 bleiben, bis wir die Kapsel aufgefischt haben?« »Wenn Sie nichts dagegen haben, Miß«, erwiderte Mercant ironisch. Corda nickte und blickte zu McDuffy. »Übernehmen Sie das mit den Traktorstrahlen, Leutnant!« ordnete sie an. James McDuffy schrak leicht zusammen. Er war so in das Studium der Mentaltasteranzeige vertieft gewesen, daß er den Befehl des Captains beinahe überhört hätte. »Ja, sofort«, sagte er und vergaß die Anomalie, die er soeben an dem Diagrammbild des Mentaltasters zu sehen geglaubt hatte. Er schaltete die drei Traktorstrahlprojektoren der Space-Jet ein und richtete die Strahlenkegel so aus, daß sie an drei Punkten der rätselhaften Kapsel faßten, die wie die Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks zueinander angeordnet waren. Als er Corda zunickte, zog der Captain die Space-Jet langsam hoch. Das heißt, er wollte sie langsam hochziehen, aber plötzlich stieg sie ruckhaft um zirka fünfzig Meter. »Haben Sie das Objekt nicht angefaßt, Leutnant?« rief Corda Ragsor verärgert. »Mit seiner Masse im Schlepp hätten wir nur langsam steigen können.« »Fort!« sagte er tonlos. »Das Objekt ist verschwunden, vermute ich«, warf Mercant über Telekom ein. Seiner Stimme war keinerlei Erregung anzumerken. James McDuffy öffnete den Mund, wollte etwas sagen, schluckte dann aber nur, um wenig später zu sagen: »Nicht mehr, Sir. Es war vielleicht zehn Sekunden weg; deshalb rutschte es aus den Traktorstrahlen. Vielleicht will es sich nicht abschleppen lassen.« »Bevor Sie mit vagen Vermutungen um sich werfen, versuchen Sie es lieber noch einmal, Leutnant!« sagte Allan D. Mercant. »Sind Sie denn nicht neugierig darauf zu erfahren, wie das Objekt für zirka drei Sekunden verschwunden ist?« fragte Corda Ragsor. »Können Sie es mir denn sagen?« fragte
10 der Solarmarschall zurück. »Nein, Sir«, antwortete der weibliche Captain. »Dann wollen wir uns darüber nicht schon jetzt die Köpfe zerbrechen«, meinte Mercant. Corda Ragsor nickte, dann ließ sie die Space-Jet langsam absinken, bis sie wieder rund zwanzig Meter über dem Objekt hing. Danach richtete Leutnant McDuffy die Traktorstrahlen abermals auf die Kapsel. Als Captain Ragsor diesmal hochzog, folgte das rätselhafte Objekt der Space-Jet, an die es von den unsichtbaren Trossen der Traktorstrahlen gefesselt war. In achtzig Meter Höhe nahm Corda Ragsor Kurs auf das große Meereslaboratorium ALBATROS, von dem sich rund siebzig Prozent der Anlagen auf dem Meeresgrund befanden. »Vielleicht sollte ich Sie darauf …«, sagte Mercant – und verstummte. Auch sein Bild verschwand aus dem Telekomschirm. »Eine Funkstörung«, sagte Corda verärgert. »Jemand betreibt einen Sender, der fast alle gebräuchlichen Frequenzen überlagert.« James McDuffy starrte fassungslos auf die Anzeigen des Massetasters, dann flüsterte er beklommen: »Die Erde ist weg.« »Sie spinnen ja!« entgegnete Corda Ragsor, dann musterte sie die Anzeigen ihrer Flugkontrollen und wurde trotz ihrer rotbraunen Hautfarbe leichenblaß. Im nächsten Moment kippte sie die Space-Jet so, daß sie direkt auf die Meeresoberfläche hätte sehen können, wenn eine dagewesen wäre. Doch da war nur die Schwärze des Alls, in der schräg über der Space-Jet die Sonne stand, deren Strahlung von keiner Atmosphäre abgefiltert wurde. »Das ist doch …!« stieß der weibliche Captain hervor. James McDuffy eilte zu ihr, schaltete am Funkgerät und als er merkte, daß der Telekom gestört war, aktivierte er den Hyperkom. Der Bildschirm wurde hell, zeigte aber kein Bild, sondern nur »Schnee«. Eine ver-
H. G. Ewers zerrte Stimme sagte auf Interkosmo: »Der Erste Hetran entbietet dem Verkünder …« Corda schrie auf, als schräg unter ihr die Meeresoberfläche die Strahlen der Sonne reflektierte. Die Space-Jet befand sich nur noch in rund zwanzig Metern Höhe, und soeben klatschte die Kapsel ins Wasser. Rasch korrigierte der Captain die Fluglage. Leutnant McDuffy hatte unterdessen den Telekom wieder normal eingestellt. Er atmete kaum merklich auf, als die Bildfläche wieder das Abbild von Allan D. Mercant zeigte. Der Chef der Solaren Abwehr blickte besorgt drein und meinte: »Sie waren für die Dauer von zweiundzwanzig Minuten völlig aus der Ortung verschwunden. Wie ich sehe, haben Sie den Zwischenfall beide heil überstanden.« »Wir waren aber höchstens zehn Minuten weg – beziehungsweise, haben rund zehn Minuten lang die Erde nicht mehr gesehen und geortet!« entgegnete James McDuffy. Mercant lächelte. »Gut, daß Sie das sagten, junger Mann. Ich ahne, was passiert ist. Aber darüber reden wir später. Ich werde nun doch persönlich zum Sealab ALBATROS kommen.«
* Die Landungsplattform von ALBATROS bedeckte zirka achttausend Quadratmeter der Meeresoberfläche. Nur das obere Drittel ragte aus dem Wasser; die unteren beiden Drittel lagen unter der Oberfläche und erlaubten es durch ihre Hohlraumbauweise, daß in ihnen der größte Teil aller Wellenbewegungen ungehindert abliefen und das obere Drittel weitgehend in Ruhe ließen. Captain Ragsor steuerte die Space-Jet dorthin, wo eine Gruppe von Fluggleitern auf dem silbrig schimmernden Deck der Plattform einen Kreis gebildet hatten. Hinter dem Kreis warteten mehrere schwerbewaffnete Soldaten sowie eine ringförmig verteilte Hundertschaft mittelschwerer Kampfro-
Atlantis-Patrouille boter. Im Bordtelekom knackste es, dann erschien auf dem Bildschirm das Gesicht einer vielleicht dreißigjährigen Frau mit brauner Haut und leicht gewelltem schwarzem Haar. »Oberst Eneiki, Solare Abwehr«, stellte sie sich vor. »Bitte, setzen Sie das Objekt in der Mitte des Kreises ab, der von den Fluggleitern gebildet wird!« »Ja, Oberst!« erwiderte Corda Ragsor. Sie steuerte die Space-Jet über den markierten Kreis und ließ sie dann langsam absinken. Als die Kapsel die Landungsplattform berührte, wollte Leutnant McDuffy die Traktorstrahlprojektoren abschalten, doch da bemerkte er, daß die Kapsel in die Landungsplattform einsank, als bestünde diese aus Wasser. »Hochziehen!« rief Oberst Eneiki. Corda gehorchte. Allmählich stieg die Kapsel wieder aus der Landungsplattform. Im nächsten Moment war sie verschwunden. »Sie ist noch da«, rief McDuffy. »Die Traktorstrahlprojektoren zeigen die gleiche Belastung an wie vorher.« »Sie ist nur durchsichtig geworden«, sagte Oberst Eneiki gelassen. »Der Inhalt allerdings auch, sonst müßte er jetzt zu sehen sein.« »Da ist sie wieder!« rief Corda Ragsor aufgeregt. »Die Außenhülle ist nicht mehr silbern, sondern dunkelgrau, fast schwarz«, erklärte Oberst Eneiki. »Bitte, versuchen Sie noch einmal, die Kapsel abzusetzen, Captain!« Langsam ließ Corda die Space-Jet und mit ihr die Kapsel absinken. Als sie diesmal die Oberfläche der Plattform berührte, sank sie nicht ein, sondern setzte ganz normal auf, dann wurde sie wieder silbrig. »Danke!« sagte Oberst Eneiki. »Sie können mit der Space-Jet außerhalb des Kreises landen, Captain Ragsor.« Leutnant James McDuffy schaltete die Traktorstrahlprojektoren aus und meinte: »Bin ich froh, daß wir das Ding los sind!« »Seien Sie sich da nicht so sicher, Leut-
11 nant«, erklärte Oberst Eneiki. »Vorläufig werden Sie und Captain Ragsor noch gebraucht.« Während Captain Ragsor die Space-Jet butterweich aufsetzte, beobachtete McDuffy, wie sich drei von je zwei Kampfrobotern begleitete Personen der Kapsel näherten, die allmählich wieder heller wurde. Zur gleichen Zeit schwebte aus nordwestlicher Richtung eine Korvette heran und landete rund einen halben Kilometer von der Kapsel entfernt auf der Plattform. James nahm an, daß Solarmarschall Mercant mit diesem Raumschiff gekommen war. Als die Jet stand, stiegen Corda und er aus und gingen langsam auf die Kapsel zu. Die drei Personen standen unmittelbar davor und bemühten sich offensichtlich, ein in die Außenhülle der Kapsel eingelassenes Schott zu öffnen. Eine der drei Personen wandte sich um. Es war der weibliche SolAb-Oberst. »Ich freue mich, Ihnen die Hand drücken zu können«, sagte Oberst Eneiki und streckte ihre Hand aus. »Übrigens ist mein voller Name Fangaloa Eneiki.« Nach Corda Ragsor schüttelte auch James McDuffy Fangaloa Eneikis Hand, dann sagte er: »Dem Aussehen und dem Namen nach stammen sie von einer der glücklichen Inseln, Oberst.« »Von Upolu, einer der Samoa-Inseln«, antwortete der Oberst lächelnd. »Aber warum nennen Sie sie die ›glücklichen Inseln‹?« James McDuffy zuckte verlegen die Schultern. »Ich bilde mir nur ein, daß alle Menschen dort glücklich sind«, erwiderte er. »Aber wenn ich mich geirrt haben sollte …« »Sie haben sich nicht geirrt«, sagte Fangaloa Eneiki. »Obwohl es Ausnahmen gibt.« Sie deutete mit der Hand zu ihren beiden Begleitern, die sich den beiden Mitgliedern der Atlantis-Patrouille zugewandt hatten. »Darf ich Professor Gautor Ganski und Professor Petrow Stancovice vorstellen! Profes-
12 sor Ganski ist Hyperphysiker, während sich Professor Stancovice auf einem ganz anderen Gebiet betätigt.« »Ich hoffe sehr, Sie können uns helfen, Captain Ragsor und Leutnant McDuffy«, sagte Prof. Petrow Stancovice mit dunkler Stimme, während er Corda und James abwechselnd durchdringend musterte. James McDuffy lachte ironisch und erwiderte: »Was sollen wir schon helfen können! Wir sind schließlich keine Spezialisten, sondern einfache Angehörige der Küstenwache, die man zufällig zur Atlantis-Patrouille abgestellt hat.« Fangaloa Eneiki blickte den Leutnant forschend an. »Sie spüren demnach nichts, James? Und Sie auch nicht, Corda?« »Nein, was denn?« fragten Corda und James wie aus einem Mund. »Nun, Sie wurden nicht zufällig zur Atlantis-Patrouille abgestellt«, erläuterte Oberst Eneiki und nickte dabei unauffällig Mercant zu, der aus einem Gleiter ausgestiegen war und sich der Gruppe näherte. »Ihre Großmutter, Captain Ragsor, stammte von Zalit und vererbte ihrer Tochter, die Ihre Mutter wurde, eine latente parapsychische Begabung. Auf dem Siedlungsplaneten Voodol wirkte Ihre Mutter bis zu ihrem Tode als Priesterin eines magischen Kults.« Fangaloa Eneiki wandte sich James McDuffy zu. »Und Sie, Leutnant, sind Mitglied eines magischen Zirkels, der den Namen ›Nauacatl‹ trägt …« James grinste. »Ich bin dort, weil es mir Spaß macht, mich mit Pseudomagie zu beschäftigen, Oberst. Bei der Solaren Abwehr nimmt man dieses Hobby doch nicht etwa ernst?« »Allerdings, junger Mann!« fiel Allan D. Mercant ein. »Magie ist nämlich die Alternative zu dem, was wir Wissenschaft und Technik nennen – und die Magie bezieht ihre nur scheinbar geheimnisvollen Kräfte aus formelhaften Überlieferungen, die Relikte
H. G. Ewers eines Wissens sind, die das unsere weit in den Schatten stellen würde, existierte es noch. NATHAN hat ausgerechnet, daß auf Atlantis Magie herrscht. Deshalb stellten wir unter anderem nach reiflicher Überlegung zwei Personen zur Atlantis-Patrouille ab, die echte Beziehungen zur Magie besitzen. Wir hofften, Sie würden auf Magie beruhende Phänomene sofort als solche erkennen.« »Allerdings würde ich das«, sagte James McDuffy. »Aber an der Kapsel ist absolut nichts Magisches, Sir.« »Absolut nichts?« warf Professor Stancovice enttäuscht ein. »Und Sie, spüren Sie auch nichts, Captain Ragsor?« Corda Ragsor schüttelte den Kopf. Ihr waren die Eröffnungen, die Fangaloa Eneiki über ihre Abstammung gemacht hatte, sichtlich peinlich. Stancovice stieß eine Verwünschung aus, aber dann erstarrte er wie alle anderen Anwesenden in konzentrierter Aufmerksamkeit, als das Schott der Kapsel sich öffnete. »Ein Mensch!« rief Corda Ragsor. Das Lebewesen, das aus der Schottöffnung wankte, hatte tatsächlich große Ähnlichkeit mit einem Menschen. Auf jeden Fall war es humanoid und ein Sauerstoffatmer, denn es trug den Druckhelm seines Raumanzugs zurückgeklappt auf dem Rücken. Allerdings war es höchstens 1,60 Meter groß, dafür allerdings recht breit gebaut. Es hatte blauschwarz schimmernde Haut, war haarlos (soweit man das sehen konnte), besaß enganliegende große Ohren, eine breitrückige Nase und Augen mit stahlblauer Iris. »Willkommen auf der Erde!« sagte Oberst Fangaloa Eneiki auf Interkosmo. Das Wesen richtete seine Augen auf die Samoanerin, dann verdrehte es sie, daß nur noch das Weiße der Augäpfel zu sehen war – und brach wie in Zeitlupe zusammen. »So schrecklich sehen Sie aber gar nicht aus, Oberst«, sagte Allan D. Mercant und wandte sich um. »Medoroboter hierher, aber schnell!«
3.
Atlantis-Patrouille AKUL AKIWA MEMORIAL HOSPITAL »Akul Akiwa!« sagte James McDuffy nachdenklich, als er das große Schild neben dem Portal der Spezialklinik für Extraterrestrier in Terrania City gelesen hatte. »Das klingt aber nicht terranisch!« Solarmarschall Mercant lächelte ein wenig wehmütig. »Akul Akiwa war ein Ara-Mediziner, der sich auf die Herstellung synthobiotischer Ersatzkörper spezialisiert hatte«, erklärte er. »Er hatte sich seinerzeit für zehn Jahre auf das Hospitalschiff RUDOLF VIRCHOW verpflichtet, das die Galaxis durchkreuzte und überall medizinische Hilfe leistete, wo es notwendig und erwünscht war. Ich kannte ihn persönlich. Er engagierte sich stark für eine Kooperation zwischen Aralon und Terra, woraus allerdings nichts wurde. Später war er Mitbegründer des Intergalactic Peace Corps, von dem ja auch heute noch viel gesprochen wird. Aber seine größte Leistung war der Aufbau eines medizinischen Dienstes für Extraterrestrier auf den Hauptplaneten des Solaren Imperiums. Er hat uns Menschen dadurch zahlreiche Freunde verschafft. Zum Dank und als Erinnerung an ihn wurde die Klinik für Extraterrestrier nach ihm benannt.« Leutnant McDuffy nickte respektvoll der Statue des Ara-Mediziners zu, nach dem das Hospital genannt worden war. Die lebensgroße Statue aus einer antiquierten MetallLegierung namens Bronze stand mitten in der Empfangshalle auf einem quaderförmigen Sockel aus purem Ynkelonium. Danach schaute der Leutnant zu dem Fremden, der bewußtlos auf der Trage lag, die einer der Medoroboter ausgeklappt hatte. Das Wesen aus der Kapsel war gemeinsam mit den beiden Mitgliedern der AtlantisPatrouille sowie Oberst Eneiki in der Korvette Mercants nach Terrania City geflogen worden. Der Chef der Solaren Abwehr hatte es sich nicht nehmen lassen, den Fremden in die Klinik für Extraterrestrier zu begleiten. Nach einer Fahrt mit dem Expreß-
13 Pneumolift ins 8. Stockwerk übernahmen die Mediziner einer der vielen Sektionen den Patienten. Sie forderten alle Begleiter auf, im Warteraum der Aufnahme zu warten. Auch für Mercant wurde keine Ausnahme gemacht. Als sie alle saßen, blickte James McDuffy den Solarmarschall an und sagte: »Bei unserem Telekomkontakt erklärten Sie, Sie ahnten, was passiert ist, als wir verschwanden – beziehungsweise als für uns die Erde verschwand, Sir.« Allan D. Mercant strich sich bedächtig über seinen Haarkranz, dann nickte er ernst. »Ich nehme an, daß die Kapsel einen Zeitsprung vollführte und daß sie die Space-Jet mitnahm, weil beide Fahrzeuge durch die Traktorstrahlen miteinander gekoppelt waren«, sagte er. »Dabei kam es zu einer Phasenverschiebung, die dazu führte, daß Sie für mich beziehungsweise für das, was man Jetztzeit nennt, zweiundzwanzig Minuten weg waren, während Sie selbst schon nach etwa zehn Minuten zurückkehrten.« »Sie meinen, für uns wäre die Zeit während unserer Abwesenheit langsamer gelaufen als in der Jetztzeit?« erkundigte sich Captain Corda Ragsor. Mercant wiegte überlegend den Kopf hin und her. »Das will ich nicht behaupten, Miß. Es kann ebensogut sein, daß Sie nicht genau in Ihre Jetztzeit zurückkehrten, sondern um rund zwölf Minuten in Ihrer eigenen Zukunft, die natürlich dadurch für Sie zur neuen Jetztzeit wurde.« »Ich habe eine Hyperfunksendung mitgehört – beziehungsweise das Bruchstück einer Hyperfunksendung«, sagte James McDuffy. »Ich glaube, es hieß darin wörtlich: ›Der Erste Hetran entbietet dem Verkünder …‹« »Erster Hetran, – Verkünder …«, meinte Mercant nachdenklich. »Diese Begriffe habe ich noch nie gehört, folglich waren Sie in der Zukunft.« »Woher wollen Sie das wissen, Sir?« warf Corda Ragsor ein.
14 Der Solarmarschall lächelte. »Der Sprecher verwendete Interkosmo, nicht wahr! Das aber ist eine Kunstsprache, die erst nach der Gründung des Solaren Imperiums entwickelt wurde. Da ich aber vom ersten Augenblick des Aufbaus dabei war und noch nie etwas von einem Ersten Hetran oder einem Verkünder gehört habe, muß der betreffende Hyperkomspruch in der Zukunft stattgefunden haben.« Seine Miene verdüsterte sich. »Das würde mich nicht weiter beunruhigen, wenn Sie nicht berichtet hätten, daß die Erde in jener Zeit, in die die Kapsel Sie kurzfristig entführte, nicht an ihrem Platz gewesen sei. Wenn die Erde verschwunden ist, muß etwas noch völlig Unvorstellbares geschehen sein.« Er blickte auf, als die Tür zu der Sektion, in die der Fremde gebracht worden war, sich öffnete und zwei Ärzte die Aufnahmehalle betraten. Einer von ihnen war an seinem Habitus einwandfrei als Ara zu erkennen, also als Angehöriger jenes Volkes, das sich bereits auf die Kosmomedizin spezialisiert hatte, als die Menschen der Erde sich noch in der Steinzeit befanden. Der Ara ging unverzüglich auf Allan D. Mercant zu und sagte mit unüberhörbar starkem Selbstbewußtsein: »Gestatten, Sir, Professor Dr. Tolperkohn. Ich bin Chefarzt dieser Sektion von Akul Akiwa Memorial.« Er deutete zu seinem Begleiter, einem großen schlanken Terraner von höchstens dreißig Jahren. »Das ist Mister Orwell Hynes, einer meiner Assistenten.« Solarmarschall Mercant erhob sich. »Danke, Professor«, erwiderte er steif und ohne dem Ara die Hand anzubieten. »Ich bitte darum, daß alles getan wird, um dem Fremden zu helfen. Gleichzeitig aber sollte versucht werden, anhand seines Knochenbaus, seines Nervensystems und so weiter herauszufinden, ob eine Verwandtschaft mit Angehörigen eines uns bekannten Volkes besteht.« »Vielleicht gibt es das Volk dieses Frem-
H. G. Ewers den noch gar nicht, Sir«, warf James McDuffy ein. »Wie meinen Sie das?« fragte Professor Tolperkohn. »Leutnant McDuffy hat eine blühende Phantasie, Professor«, erklärte der Solarmarschall und lachte, als hätte er einen Witz gehört. McDuffy begriff, daß Mercant nicht wünschte, daß Außenstehende etwas über den Zeitsprung erfuhren. Doch auch ein Allan D. Mercant konnte nicht an alles denken …
* Tolperkohn schaute dem Solarmarschall und seine Begleitung einige Zeit nach, dann wandte er sich um und kehrte in die Überwachungszelle zurück, von der aus er alle körperlichen und geistigen Funktionen des Patienten beobachten konnte. »Zwei Arme, zwei Beine, fünf Finger und fünf Zehen, ein Kopf mit zwei Ohren, zwei Augen, einer Nase und einem Mund, zwei Lungenflügel, eine Wirbelsäule, ein Doppelkammerherz – und auch sonst weist alles auf eine Verwandtschaft mit uns hin«, sagte Orwell Hynes, der dem Chefarzt in die Überwachungszelle gefolgt war. Tolperkohn wandte den Kopf und warf seinem Assistenten einen hochmütigen Blick zu. »Oder auf eine Verwandtschaft mit terranischen Affen«, erwiderte er sarkastisch. »Sie lassen sich wieder einmal zu voreiligen Schlüssen verleiten, Hynes. Das Skelett des Fremden ist viel kompakter und massiver als das von Lemuria-Nachfolgerassen. Das gleiche trifft auf Herz, Lungen, Leber und vor allem auf Muskulatur und Haut zu. Die Haut fasziniert mich geradezu. Haben Sie bei der Durchleuchtung bemerkt, daß die Haut erst von den Röntgenstrahlen durchdrungen wurde, als wir auf die fünffache Dosis schalteten, die wir für Lemurer-Abkömmlinge verwenden?« Orwell Hynes nickte.
Atlantis-Patrouille »Wahrscheinlich gehört der Fremde zu einem Volk, das im Lauf vieler Generationen an eine Extremwelt angepaßt wurde. Deshalb kann er trotzdem zu einer LemuriaNachfolgerasse gehören. Schließlich haben wir bei den Oxtornern schon einmal erlebt, wie stark eine Extremwelt, die den Menschen nicht sofort tötet, die Konstitution verändern kann.« »Vielleicht wäre ich bereit, mich Ihrer Hypothese anzuschließen, wenn ich nicht eine starke Anomalie der Hirnströme festgestellt hätte«, erwiderte der Ara. »Anomalie in dem Sinn, daß sie vom Bekannten abweichen.« Er hob die Hand, als er sah, daß sein Assistent einen Einwand vorbringen wollte. »Ich weiß, der Patient ist bewußtlos, weshalb wir vorsichtig mit Schlüssen auf die Hirnstromkurven sein müssen, die sich zeigen, sobald er das Bewußtsein zurückerlangt hat. Aber ich habe zahllose Erfahrungen gerade auf diesem Gebiet und kann deshalb schon jetzt behaupten, daß der Patient auch bei Bewußtsein eine Anomalie der Hirnströme aufweisen wird.« Seine Augen weiteten sich etwas, als er an einer Anzeige sah, daß der Patient das Bewußtsein zurückerlangte. »Gehen wir zu ihm, Hynes!« sagte er. »Ich möchte wissen, wie unser Patient reagiert, wenn er uns sieht.« Als die beiden Mediziner den hellen Raum betraten, in dem der Fremde aus der Kapsel in einem großen Pneumobett lag, waren die Augen des Patienten geöffnet und sahen ihnen entgegen. Selbstverständlich lag das Bett unter einer Energieglocke, die verhindern sollte, daß der Patient Schaden anrichtete, falls er nach seinem Erwachen aggressiv wurde. Es handelte sich um ein elastisches Prallfeld, an dem sich niemand verletzen konnte. Neben dem Pneumobett lagen auf einem schwenkbaren Tisch die Kleidung und die Ausrüstungsgegenstände, die der Fremde bei sich getragen hatte, als er seine Kapsel verließ.
15 Untersuchungen von Technikern hatten ergeben, daß sich keine Waffe dabei befand – und auch nichts, was man als provisorische Waffe verwenden konnte. Tolperkohn schaltete die Kommunikationsanlage ein, die trotz der Energieschirmabriegelung eine akustische Verständigung erlaubte. Allerdings würde erst noch eine gemeinsame sprachliche Verständigungsbasis gefunden werden müssen. Dazu diente der in die Kommunikationsanlage integrierte Translator. Tolperkohn machte die – fast überall gültige – Geste des Friedens und sprach einige Worte, die lediglich dazu dienten, den Patienten seinerseits zum Sprechen zu bewegen, damit die Positronik des Translators seine Sprache nach und nach analysieren und übersetzen konnte. Zwar gehörte zur Ausrüstung des Fremden ein Armbandgerät, das als Translator identifiziert worden war, aber es konnte nicht halb so leistungsfähig sein wie das große Gerät innerhalb der Kommunikationsanlage. Die stahlblauen Augen des Fremden leuchteten auf. Er ahmte die Geste des Friedens nach, sagte aber nichts. Statt dessen sah er sich aufmerksam um. Als er das Translator-Armband entdeckte, griff er sofort danach. Dabei war deutlich zu sehen, daß er noch ziemlich schwach war. Tolperkohn deutete auf das Armband, machte eine universale verneinende Geste und bewegte anschließend die Lippen, um dem Fremden klarzumachen, daß er sprechen sollte. Der Fremde reagierte nicht darauf. Er schaltete seinen Armband-Translator ein, hielt ihn hoch und bewegte seinerseits die Lippen. »So hören wir ja nichts!« rief Tolperkohn. »Warum redet er nur nicht!« »Er will offenbar, daß wir sprechen«, sagte Hynes. Der Fremde hatte inzwischen am Lautstärkeregler seines Übersetzungsgeräts gedreht – und plötzlich hörten die beiden Mediziner Worte in einer fremden Sprache.
16
H. G. Ewers
»Das ist unmöglich«, sagte Tolperkohn. »Sein Gerät kann niemals so viel besser sein als unseres.« »Warten wir es ab, Chef«, erwiderte Hynes.
* Algonkin-Yatta hatte bei seinem Erwachen sofort begriffen, daß es mit der Zeitkapsel einen Unfall gegeben hatte – und daß er als Folge dieses Unfalls in die Obhut Fremder geraten war. Bevor er länger darüber nachdenken konnte, tauchten zwei Vertreter der fremden Spezies in dem Zimmer auf, in das man ihn gelegt hatte. Der Kundschafter war überrascht. Die Wahrscheinlichkeit, daß er bei einem Unfall mit der Zeitkapsel ausgerechnet dann und dort landen würde, wo es Arkoniden oder Arkonidenähnliche gab, war verschwindend gering – und doch sahen die beiden Fremden Arkoniden verblüffend ähnlich. Sollte er vielleicht doch Atlans Spur wiedergefunden haben? Er blickte sich um und registrierte erfreut, daß sein Raumanzug und die gesamte Ausrüstung, die er am Leib getragen hatte, auf einem schwenkbaren Tisch neben dem Bett lagen. Sogar sein Translator befand sich dabei. Die Fremden schienen also nicht feindselig eingestellt zu sein und suchten offenbar den Kontakt mit ihm. Der Größere und Schlankere (ja, schon beinahe dürr zu nennende) der beiden Fremden hob die Hände und vollführte die Geste des Friedens. Danach sprach er einige Worte in einer für Algonkin-Yatta fremden Sprache. Algonkin-Yatta ahmte die Geste des Friedens nach, sagte aber nichts, denn das hatte wenig Sinn, wenn sein Translator nicht aktiviert war. Er griff nach dem Gerät und schaltete es ein. Dabei merkte er, wie schwach er noch war.
Der bleiche Fremde schien nicht damit einverstanden zu sein, daß der Kundschafter seinen Translator benutzte. Vielleicht wußte er nicht, wozu das Gerät diente. Jedenfalls ließ er durch Gesten erkennen, daß Algonkin-Yatta seinen Translator abschalten sollte. Der Kundschafter wollte es bereits tun, als er aus dem Lautsprecherteil seines Geräts eine Stimme flüstern hörte. Die Stimme war so leise, daß Algonkin-Yatta nur Bruchstücke des Gesprochenen hörte, aber er kannte sogleich, daß es Bruchstücke von Worten seiner eigenen Sprache, des Mathona, waren! Rasch schaltete der Kundschafter die Lautstärke seines Geräts hoch – und plötzlich hörte er deutliche Worte in seiner eigenen Sprache. »Er will offenbar, daß wir sprechen.« Algonkin-Yatta beobachtete die beiden Fremden und sah, daß der Kleinere, aber erheblich kräftiger Wirkende gesprochen hatte. Dieser Fremde hatte auch nicht die weißliche Hautfarbe des Dürren, sondern war hellbraun. »Das ist unmöglich«, sagte der Bleiche. »Sein Gerät kann niemals so viel besser sein als unseres.« »Warten wir es ab, Chef«, erwiderte der Kleinere. Algonkin-Yatta strahlte vor Freude. Dennoch sagte er immer noch nichts, denn erst wollte er herauszufinden versuchen, warum sein Translator die Sprache der Fremden sofort ins Mathona übersetzt hatte. Dafür konnte es eigentlich nur einen einzigen Grund geben: Die betreffende Sprache war bereits vor dem letzten Aufbruch durch Raum und Zeit vom Translator analysiert und gespeichert worden. War es Arkonidisch? Nein, Arkonidisch konnte es nicht sein, denn Algonkin-Yatta beherrschte die Sprache der Arkoniden inzwischen selbst gut genug, um sie auch ohne Translator zu verstehen. Da er die Worte der Fremden jedoch nicht direkt übersetzte, sondern auf den
Atlantis-Patrouille Translator angewiesen war, konnte es sich nicht um Arkonidisch handeln. Es mußte eine Sprache sein, die er nur flüchtig kennengelernt hatte. Algonkin-Yatta aktivierte die MemorySchaltung seines Translators und rief die Information über die Erstbegegnung mit der Sprache der Fremden ab. Nacheinander leuchteten im MemoryFeld die Worte auf: »Captain Ibur Laronge, Raumschiff CORONA im Dienste des Obmanns von Plophos.« Der Kundschafter schloß für einige Sekunden die Augen. Er erinnerte sich an die Begegnung mit dem Raumschiff CORONA und dem Kontakt mit Ibur Laronge. Es war nicht gerade ein erfreulicher Kontakt gewesen, aber er hatte ihm immerhin wertvolle Erkenntnisse vermittelt. Die beiden Fremden sprachen die gleiche Sprache wie Captain Ibur Laronge. Mit großer Wahrscheinlichkeit standen sie demnach ebenfalls im Dienst des Obmanns von Plophos. Wie es die Höflichkeit gebot, sagte der Kundschafter: »Mein Name ist Algonkin-Yatta. Ich grüße Sie, danke Ihnen für Ihre Fürsorge und bitte Sie, Ihrem Obmann die besten Grüße von mir zu übermitteln.« Der Translator übersetzte in die Sprache der Fremden. Er sah, daß die beiden Fremden erst stutzten, dann verwundert zuhörten und zuletzt ratlos wurden. Es war beinahe das gleiche Mienenspiel wie bei Arkoniden, deshalb vermochte er es zu deuten. Nach einer Weile erwiderte der Bleiche: »Ich grüße Sie ebenfalls, Algonkin-Yatta – auch im Namen meines Mitarbeiters. Ich heiße Tolperkohn, und ich freue mich, daß Ihr Translator bereits mit Interkosmo versorgt ist. Aber einen Teil Ihrer Worte konnte ich nicht begreifen. Würden sie so liebenswürdig sein, mir zu erklären, wie der Obmann heißt, dem ich Grüße von Ihnen übermitteln soll.« »Den Namen des Obmanns kenne ich lei-
17 der nicht, Tolperkohn«, erwiderte der Kundschafter verwundert. »Ich weiß aber, daß er Obmann von Plophos ist.« »Obmann von Plophos?« fragte Tolperkohns Mitarbeiter. »Sie kennen den Namen des Obmanns von Plophos nicht und wollen ihm dennoch Grüße bestellen lassen, Sir? Übrigens, ich heiße Orwell Hynes.« »Warum nennen Sie mich ›Sir‹, Orwell Hynes?« erkundigte sich der Kundschafter. »Es handelt sich um eine allgemeine, achtungsvolle Anrede«, antwortete Hynes. »Danke, Sir«, erwiderte der Kundschafter. »Was den Obmann von Plophos betrifft, ich hörte von ihm, als ich ein Funkgespräch mit Captain Ibur Laronge führte, der Kommandant des Raumschiffs CORONA war.« »CORONA …?« dachte Hynes laut. »Das Schiff kenne ich nicht. Aber das ist nicht erstaunlich, denn Plophos besitzt Tausende von Raumschiffen.« »Die CORONA hatte flammendrote Erkennungssymbole auf der Außenhülle«, erklärte der Kundschafter in der Hoffnung, Orwell Hynes damit weiterhelfen zu können. Er malte ein V in die Luft. An dem Mienenspiel der beiden Männer stellte er fest, daß ihnen eine Erleuchtung gekommen sein mußte. Aber es konnte keine angenehme Erkenntnis damit verbunden sein. »Er meint nicht Mory-Rhodan-Abro, sondern Iratio Hondro!« stieß Orwell Hynes aufgeregt hervor. »Nur der Diktator ließ den altterranischen Buchstaben V auf seine Raumschiffe malen!« »Ich weiß«, sagte Tolperkohn. »V stand für das englische Wort ›Victory‹, was ›Sieg‹ bedeutet. Unter diesem Zeichen wäre es Hondros Garde beinahe gelungen, das Solare Imperium zu besiegen.« »Aber Iratio Hondro kam vor dreihundertzwanzig Jahren um«, erklärte Hynes. »Sie müssen demnach mindestens dreihundertfünfzig Jahre alt sein, wenn Sie einem Raumschiff Hondros begegneten, Sir!« Algonkin-Yatta hatte die kurze Diskussion der beiden Männer aufmerksam verfolgt.
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Ihn wunderte es keineswegs, daß er dem Raumschiff eines Obmanns begegnete, der vor mehr als einer mathonischern Lebensspanne gestorben war. Schließlich war er nicht nur durch den Raum, sondern mehr als einmal auch durch die Zeit gereist. Er wußte, was die meisten intelligenten Lebewesen unter dem Begriff »Jahr« verstanden und wußte auch, daß es bei der Länge planetarischer Jahre große Unterschiede gab. Es mochte also sein, daß dieser Iratio Hondro erst seit ein paar Ruoryc-Jahren tot war, obwohl er nach der Rechnung des Volkes, zu dem die beiden Männer gehörten, vor dreihundertzwanzig Jahren den Tod gefunden hatte. Algonkin-Yatta wollte bereits danach fragen, als der Mann, der sich als Tolperkohn vorgestellt hatte, es verhinderte, indem er sagte: »Hynes, wir dürfen den Patienten nicht so sehr beanspruchen. Sie sehen doch, daß er noch sehr schwach ist. Bitte, nehmen Sie die Kristalle mit den bisher gespeicherten physiologischen Werten und fertigen Sie damit im Rechenzentrum eine erste Analyse an!« Der Kundschafter bemerkte, daß Orwell Hynes etwas entgegnen wollte, dann jedoch darauf verzichtete und den Raum verließ. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Tolperkohn ein Steuergerät aus der Magnethalterung an seinem weißen Kittelgurtband zog und mit dem Finger auf zwei Sensorpunkte tippte. Algonkin-Yatta sah, wie auf der Konsole der Kommunikationsanlage die Kontrollichter erloschen. Gleichzeitig spürte er, wie die geringfügige Streustrahlung des Prallfeldschirms, die nur von einem Mathoner wahrgenommen werden konnte, verebbte. Tolperkohn ging auf den Kundschafter zu und blieb erst dicht vor dem Pneumobett stehen. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, Sir«, flüsterte der Ara.
4.
INTRIGENSPIEL Tolperkohn schaltete sofort, als klargeworden war, daß Algonkin-Yatta einem Raumschiff begegnet war, das im Dienst des plophosischen Obmanns Iratio Hondro stand, der vor dreihundertzwanzig Jahren umgekommen war. Das allein hätte jedoch nicht ausgereicht, um einen ganz bestimmten Verdacht in ihm zu wecken. Es war die Erinnerung an eine Bemerkung und eine ganz spezifische Reaktion des SolAb-Chefs gewesen, die ihn an den Faktor Zeit hatten denken lassen. Vielleicht gibt es das Volk dieses Fremden noch gar nicht! hatte ein Leutnant der Atlantis-Patrouille zu Allan D. Mercant gesagt. Der Solarmarschall hatte darauf erwidert, Leutnant McDuffy hätte eine blühende Phantasie – und er hatte darüber gelacht. So, wie Tolperkohn den Chef der Solaren Abwehr einschätzte – und er beurteilte ihn danach, daß er es seit mehr als sechshundert Jahren verstanden hatte, alle subversiven Aktivitäten gegen das Solare Imperium zu verhindern oder schnell genug abzustellen –, hätte Mercant eine derart kühne Hypothese gründlich durchdacht, vorausgesetzt, sie wäre aus völlig neuen Gedankengängen geboren worden. Allan D. Mercant hatte aber offensichtlich keine Sekunde lang nachgedacht, sondern übereilt reagiert, indem er die Idee des Leutnants ins Absurde verwies. Das bedeutete bei ihm, er hatte sich mit den Gedankengängen schon selbst beschäftigt, die dieser Hypothese vorausgegangen sein mußten. War es denkbar, daß dieser Algonkin-Yatta aus der Zukunft stammte? Der Ara-Mediziner hatte sich bisher nie besonders intensiv mit dem Thema Zeitreise befaßt, aber er wußte aus durchgesickerten Informationen über die Hintergründe jener Vorgänge, die mit dem Riesenroboter OLD MAN im Raumsektor Morgenrot begannen und mit der Vernichtung der ULEB im Enemy-System endeten, daß die Zeitreise prinzi-
Atlantis-Patrouille piell möglich war. Und wenn Algonkin-Yatta ein Zeitreisender war, so konnte er durchaus bei Expeditionen in seine Vergangenheit die Zeit tangiert haben, in der ein Obmann namens Iratio Hondro als Diktator eines auf kriegerische Expansion angelegten Sternenreichs geherrscht hatte. Zeitreise! Manipulierung und Beherrschung der Zeit! Tolperkohn wurde es schwindlig bei dem Gedanken daran, was einem Mann möglich sein würde, wenn er in der Lage war, die Zeit zu manipulieren. Er konnte in die Vergangenheit gehen und dort die Voraussetzungen für seinen künftigen eigenen Reichtum schaffen. Mehr noch: Er konnte sich ein Machtpotential aufbauen, mit dem er in seiner Jetztzeit zum Herrscher über alle galaktischen Zivilisationen aufsteigen würde! Oder er konnte das Geheimnis der Zeitreise an den Meistbietenden verkaufen. Nachdem der Ara die Kommunikationsanlage und den Schutzschirm desaktiviert hatte, ging er dicht an Algonkin-Yatta heran. Er war sich klar darüber, was er riskierte, denn noch wußte er nicht, ob der Fremde friedliebend oder aggressiv war. Aber das Ziel schien dieses Risiko zu rechtfertigen. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, Sir«, flüsterte Tolperkohn, während sich in seinem Bewußtsein allmählich Einzelheiten eines Planes herausschälten. »Gestehen?« fragte der Fremde verwundert. »Bitte, sprechen Sie leise, Sir!« flüsterte der Ara. »Sie haben geglaubt, unter Freunden zu sein, denn genau dieser Eindruck sollte bei Ihnen erweckt werden. Aber das Gegenteil ist der Fall. Man will Sie schamlos ausnutzen.« »Warum sollte man das wollen?« erkundigte sich der Fremde. »Ich bin schließlich nur ein einfacher Kundschafter.« »Ein Kundschafter aus der Zukunft, nicht wahr?« flüsterte Tolperkohn verschwörerisch.
19 »Das kann ich noch nicht sagen«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Vorher müßte ich einige Fragen klären. Aber warum verraten Sie mir, daß Ihr Volk mich ausnutzen will, Tolperkohn?« »Weil ich diese Schändlichkeit nicht länger mitmachen kann«, antwortete der Ara heuchlerisch. »Ich gebe zu, daß ich anfangs alles getan habe, was man mir sagte, aber dann sträubten sich mein Stolz und mein Ehrgefühl dagegen. Ich beschloß, den Versuch zu wagen, Ihnen zu helfen. Aber wir müssen leise sprechen, da ich nicht weiß, ob es hier Abhöranlagen gibt.« Er beobachtete den Fremden eindringlich. Das Wesen faszinierte ihn, aber es schien außergewöhnlich naiv zu sein. Als er Betroffenheit in der Miene Algonkin-Yattas zu sehen glaubte, atmete er auf. Anscheinend zweifelte der Kundschafter nicht an seinen Worten. Nach einiger Zeit sagte Algonkin-Yatta: »Wie wollen Sie mir helfen, Tolperkohn?«
* »Ich werde Ihnen helfen, aus diesem Gefängnis zu fliehen, Sir«, erklärte Tolperkohn. Algonkin-Yatta bedauerte es sehr, daß es keine Möglichkeit gab, mit den Verantwortlichen der Welt, auf der er mit der Zeitkapsel gestrandet war, zu beiderseitigem Nutzen zusammenzuarbeiten. Aber die Erlebnisse mit Arkoniden und Maahks hatten ihm gezeigt, daß nicht alle Intelligenzen so uneigennützig dachten und handelten wie die Kundschafter von Ruoryc. »Einverstanden, Tolperkohn«, sagte er. »Für ein Gefängnis ist diese Krankenstation recht kostspielig eingerichtet.« »Es ist ja eigentlich auch als Hospital gebaut worden«, erwiderte Tolperkohn. »Sie befinden sich nur deshalb hier, weil Sie nach dem Verlassen Ihrer Zeitmaschine bewußtlos zusammenbrachen:« Algonkin-Yatta musterte den Mann, der
20 sich Tolperkohn nannte, aufmerksam. »Sie sind Mediziner, nicht wahr!« stellte er fest. »Wieso haben Sie dann so schnell herausgefunden, daß das Gerät, in dem ich auf diese Welt kam, eine Zeitkapsel ist?« »Die Leute, die die Kapsel fanden, erkannten es«, erklärte Tolperkohn. »Einer von ihnen verriet sich mit einer unüberlegten Bemerkung. Gewißheit erhielt ich allerdings erst, weil Sie den plophosischen Obmann Iratio Hondro erwähnten, der vor dreihundertzwanzig Erdjahren umkam.« »Erdjahren«, wiederholte der Kundschafter. »Heißt die Welt, auf der wir uns befinden, demnach Erde?« »Erde oder Terra, das stimmt«, antwortete Tolperkohn. »Und gehört die Erde zum Großen Imperium der Arkoniden?« forschte Algonkin-Yatta weiter. »Wie?« fragte Tolperkohn verblüfft. »Wie kommen Sie darauf, Sir?« Er räusperte sich. »Vor mehr als zehntausend Erdjahren war die Erde ein Kolonialplanet des Großen Imperiums – und es gab arkonidische Stützpunkte auf anderen solaren Planeten. Aber das ist lange vorbei. Die Erde ist die Zentralwelt des Solaren Imperiums, das durch seine maßlose expansionistische Politik inzwischen größer ist, als es das Große Imperium jemals war.« Algonkin-Yatta lauschte dem Klang der Worte des Mediziners nach. Er hörte Haß heraus. Offenbar haßte dieser Mann die Verantwortlichen des Solaren Imperiums, weil sie Eroberungspolitik betrieben. »Vor mehr als zehntausend Jahren beherrschte Arkon die Erde«, sagte er nachdenklich. »Captain Laronge sagte mir, Atlan wäre vor zehntausend Jahren Kristallprinz gewesen. Ich komme demnach nicht aus Ihrer Zukunft, Tolperkohn, sondern aus Ihrer Vergangenheit, denn ich folgte Atlans Spuren, als er noch um die Befreiung des Großen Imperiums vom Joch des Diktators Orbanaschol kämpfte.« Er senkte traurig den Kopf. »Atlan ist also längst gestorben und zu Staub zerfallen. So ist es doch, oder?« Er
H. G. Ewers blickte den Mediziner scharf an. Und er sah, daß Tolperkohn verlegen wurde, sich innerlich wand und mit einem Entschluß rang. Und als Tolperkohn sagte: »Ja, so ist es, Sir«, da merkte der Kundschafter, daß der Mediziner bewußt die Unwahrheit gesagt hatte. Er war sehr verstimmt darüber, aber er beschloß, sich nichts anmerken zu lassen und mit eigenen Informationen zurückhaltend zu sein. Dafür entlockte er im weiteren Verlauf des Gesprächs Tolperkohn zahlreiche Informationen über die Erde, die Menschen und die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit, die von den Menschen als 27. Jahrhundert bezeichnet wurde. Algonkin-Yatta bedauerte nur, daß er noch zu schwach war, um aufzustehen, denn er wäre am liebsten gleich aus dem Hospital geflohen, um sich selbst draußen umzusehen. Aber er spürte, daß er keine drei Schritte würde gehen können. Wahrscheinlich hatte er einen Sextadimschock erlitten, als seine Zeitkapsel im Zeitstrom mit etwas Unerklärlichem kollidiert war. Er wollte nach Loggy fragen, seinem Partner, der die Expedition ins Ungewisse mitgemacht hatte. Doch er schwieg. Irgendwie hatte er das Gefühl, keinem Menschen voll vertrauen zu dürfen. Als Tolperkohn sich verabschiedete und versicherte, er würde erst in sechs Stunden zurückkommen, war der Kundschafter beinahe froh darüber.
* »Ich muß Sie dringend sprechen, Mister Hoa!« sagte Tolperkohn. Das Abbild seines Gesprächspartners auf dem Bildschirm des Videogeräts verriet Unwillen über die nächtliche Störung. Immerhin war es in Terrania City und Umgebung 2.45 Uhr Ortszeit. »Hat das nicht bis morgen Zeit?« erwiderte der mit Hoa Angesprochene. »Auf keinen Fall«, sagte der Ara. »Es
Atlantis-Patrouille handelt sich um etwas ganz Außergewöhnliches, das aber auch außergewöhnlichen Ertrag verspricht.« Hoas Schlitzaugen verengten sich. »Und sicher außergewöhnliche Risiken birgt, Mister Tolperkohn, nicht wahr?« »Soll ich am Videophon darüber reden?« spottete der Ara. »Also, treffen wir uns in der Bar des Zentaur-Clubs oder nicht?« »Schon gut«, erwiderte Hoa. »In einer Stunde bin ich dort.« Tolperkohn schaltete das Gerät aus und ließ sich in einen bequemen Ledersessel sinken. Seine Finger bewegten sich kaum merklich über die Sensorpunkte der kleinen Schaltkonsole, die in die rechte Armlehne eingearbeitet war. Kurz darauf schwebte der Barroboter heran und servierte dem Mediziner einen dreifachen Bourbon auf kleingestoßenem Eis. Tolperkohn trank den Bourbon in kleinen Schlucken. Er war erregt, denn er wußte, daß sich seine großen Pläne nur verwirklichen ließen, wenn Hoa Man-Sum mitspielte. Nur Hoa verfügte über die Organisation, die dazu benötigt wurde. Normalerweise bestanden die Geschäfte zwischen dem Ara und dem Terraner darin, daß Tolperkohn Hoa Man-Sum Organe verstorbener Patienten verkaufte, der sie mit hohem Gewinn auf dem Schwarzen Markt für solche Organe weiterverschob. Tolperkohn riskierte dabei natürlich seine Stellung und seine Freiheit, aber er hatte ein Absicherungssystem für seine Organverschiebungen erfunden, das seiner Meinung nach perfekt war. Nachdem er seinen Bourbon ausgetrunken hatte, erhob sich Tolperkohn, verließ seine komfortable Wohnung und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage, in der sein vollautomatischer Daimler-Expreß stand, ein besonders schneller Gleiter, der für den bodengebundenen Verkehr über unsichtbar verlegten Leitsystemen zugelassen war. Ächzend sank er in die pneumatischen Polster des Wageninnern und sagte: »Zum Zentaur-Club, aber schnell!«
21 »Zum Zentaur-Club – mit der üblichen Geschwindigkeit«, wiederholte der Fahrzeug-Computer und ließ den Gleiter anschweben. »In Ordnung, Sir.« Tolperkohn lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er achtete fast niemals auf seine Umgebung, wenn er den Daimler-Expreß benutzte. Der Ara öffnete die Augen erst wieder, als der Wagen anhielt und der Computer sagte: »Tiefgarage des Zentaur-Clubs, Sir! Wünschen Sie, daß ein besonderer Service geordert wird?« »Nein!« erwiderte Tolperkohn. Er stieg durch die automatisch aufgleitende Tür und ließ sich mit dem Kabinenlift in die 73. Etage fahren, in der sich der Club befand. Da es die oberste Etage war, hatte der Architekt das Dach aus transparentem Metallplastik anfertigen und leicht nach oben wölben lassen, so daß die Besucher des Clubs den Sternenhimmel über sich hatten. Ein Sessel schwebte auf ihn zu, als er den Club betrat. Er setzte sich und ließ sich von dem robotgesteuerten Sitzmöbel in die Bar tragen. Die Bartheke war identisch mit der Wand des runden, zirka hundertzwanzig Meter durchmessenden Raumes. Leise Musik klang aus zahlreichen getarnten Lautsprechern, kleine Gruppen besetzter Sessel ballten sich vor der Thekenwand, einige Paare tanzten auf der gläsernen Tanzfläche in der Mitte des Raumes. Der Zentaur-Club war eines jener Etablissements, die es zu Hunderten in Terrania City gab und in denen es recht konservativ zuging. Hier wurden keine zwielichtigen Gestalten geduldet; wer gegen die geltenden Sitten verstieß, wurde unnachsichtig expediert. Hoa Man-Sum war noch nicht da, also ließ sich Tolperkohn eine Weile ziellos treiben und dirigierte seinen Sessel schließlich an einen freien Thekenplatz. Dort rief er seine Bestellung in die videoplastische, von zuckendem Licht erhellte Szenerie und bekam wenig später von der unsichtbaren
22 »Hand« eines Servo-Kraftfelds einen Bourbon gereicht. Er setzte das Glas gerade an die Lippen, als sich eine schwere Hand auf seine linke Schulter legte. Unwillkürlich zuckte er zusammen. »Warum so nervös, Mister Tolperkohn?« fragte die ölige Stimme seines Geschäftspartners. Doch der Ara hatte sich schon wieder gefangen. Er wandte den Kopf und musterte kühl das Gesicht Hoas. Es war kein auffälliges Gesicht. Auffällig darin waren nur die Augen – und auch nur dann, wenn man sie über einige Zeit genau beobachtete. Sie verrieten nämlich nicht die geringste Gemütsbewegung. Hoa Man-Sum bestellte für sich ein Tonic Water. Er mied Alkohol ebenso wie Tabak. Als er das Glas in der Hand hielt, sagte er: »Nehmen wir einen Schirm, ja?« Tolperkohn stimmte zu. Die beiden Männer ließen ihre Sessel sich zusammenkoppeln – und schalteten ein Verbund-Energiefeld, das sie bis auf optische Eindrücke völlig von ihrer Umwelt abschirmte und dadurch vor Lauschern aller Art schützte. »Also, was gibt es?« fragte Hoa aggressiv. »Ich habe einen Patienten, der mit einer Zeitmaschine aus der Vergangenheit gekommen ist«, erklärte Tolperkohn. Wie er erwartet hatte, reagierte Hoa ManSum höhnisch und zornig darauf. »Ach, nein!« erwiderte er. »Und ich habe einen Regenwurm gefunden, der Interkosmo sprechen kann. Wenn Sie mich für dumm verkaufen wollen, dann pachten Sie sich vorher schon mal eine Grabstelle.« »Habe ich jemals versucht, Sie für dumm zu verkaufen, Mister Hoa?« fragte der Ara kalt. »Nein, das nicht«, gab Hoa zu. »Aber …« »Und hatten Sie schon einmal Grund, mich für einen Spinner zu halten?« unterbrach ihn Tolperkohn. »Auch das nicht«, sagte Hoa ernüchtert. »Eine Zeitmaschine! Mann, ich glaube, ich
H. G. Ewers höre schwer!« »Nein, Sie hören sehr gut«, erklärte Tolperkohn. »Passen Sie auf! Ich werde mit meinem Patienten zu einem absolut sicheren Versteck kommen und ihn dazu bringen, daß er uns die Bedienung der Zeitmaschine erklärt, vorausgesetzt, Sie beschaffen die Maschine.« »Wo liegt sie herum?« erkundigte sich Hoa. »Im Techno-Labor der Solaren Abwehr«, antwortete der Ara. Hoas Gesicht bekam einen Stich ins Grünliche. »Solare Abwehr?« würgte er hervor. »Kein Mann, der seinen Verstand beisammenhat, legt sich freiwillig mit der Solaren Abwehr an.« Der Ara lächelte süffisant. »Ich weiß, daß Sie einen Einbruchsspezialisten unter ihren Leuten haben, der Ihnen sogar das Techno-Labor der Solaren Abwehr öffnen kann«, sagte er. »Jaspers schafft das im Schlaf«, erwiderte Hoa Man-Sum. »Ich bin sicher, daß wir unbemerkt ins Techno-Labor kämen, aber wir würden niemals mit einem größeren Gerät wieder hinauskommen.« »Mit einer Zeitmaschine schon«, erklärte der Ara. Zum zweitenmal an diesem Tag zeigte Hoa tiefes Erschrecken. »Sie wollen, daß ich die Zeitmaschine bediene und vielleicht um Jahrhunderte in die Vergangenheit gehe?« »Nur um neunundvierzig Jahre, Mister Hoa«, erwiderte Tolperkohn. »Vor achtundvierzig Jahren wurde nämlich mit dem Bau des Gebäudekomplexes angefangen, in dem heute das Techno-Labor untergebracht ist. Sie werden einfach in der Umgebung ankommen, wie sie davor war: die Trümmer der alten Markthallen von Terrania City. Von dort aus begeben Sie sich zu dem Versteck und kehren dort wieder in die Jetztzeit zurück.« »Einfach so!« stellte Hoa fest. »Ich bin ja Spezialist für die Bedienung von Zeitma-
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schinen und habe die letzten fünfzig Jahre kaum etwas anderes getan als durch die Zeiten zu reisen. Mann, denken Sie, ich hätte Lust, durch einen Schaltfehler in einer Zeit anzukommen, in der es auf der Erde überhaupt noch keine Menschen gab!« »Ich werde Ihnen sagen, welche Schaltungen Sie vornehmen müssen, um die relativ einfache Manipulation durchzuführen«, sagte Tolperkohn. »Und zwar, sobald ich von meinem Patienten entsprechend informiert wurde.« »Dann wünsche ich Ihnen viel Glück, Mister Tolperkohn!« erwiderte Hoa Man-Sum ironisch. »Was springt eigentlich für mich dabei heraus? Ich werde außer Jaspers noch mindestens vier Leute mitnehmen müssen.« »Zehn Millionen Solar«, antwortete Tolperkohn trocken. »Zehn Millionen …!« Hoa schüttelte den Kopf. »Soviel Geld kriegen Sie niemals zusammen.« »Habe ich schon einmal einen Vertrag verletzt?« fragte Tolperkohn. »Nein? Also, dann ist alles klar, Mister Hoa.« »Einverstanden«, meinte Hoa Man-Sum. »Obwohl eigentlich überhaupt nichts klar ist.«
5. LOGGY Perry Rhodan betrat in Begleitung Geoffry Abel Waringers die Außenkontrolle des Gebäudekomplexes, in dem die Wissenschaftler und Techniker der Solaren Abwehr an allen möglichen Dingen arbeiteten. Einer der Posten salutierte und sagte: »Darf ich Sie bitten, die ID-Zellen aufzusuchen, meine Herren!« »Selbstverständlich«, erwiderte der Großadministrator. »Unsere Namen kennen Sie ja, oder?« Der Posten lächelte flüchtig. »Sogar auswendig, Sir.« Nachdem Perry Rhodan und der Erste Wissenschaftssenator des Solaren Imperiums ihre getrennten Identifizierungszellen
betreten hatten, tippte der Posten ihre Namen in die Eingabe des Überwachungscomputers. Knapp eine Sekunde später jaulte nervenzermürbend eine Alarmpfeife. Kampfroboter schwebten aus Öffnungen, die sich knirschend in den Wänden der großen Halle gebildet hatten. Angehörige einer Kampfeinheit der SolAb stürmten mit schußbereiten Paralysatoren herein. »Was geht hier vor?« rief Perry Rhodan, der seine ID-Zelle verlassen hatte. »Eine unbefugte Person hat versucht, unter falschem Namen einzudringen!« schnarrte eine Computerstimme. »Und wo befindet sich diese unbefugte Person?« erkundigte sich der Großadministrator. »Hier!« rief ein Offizier. Er und ein anderer Bewaffneter führten Waringer aus dessen ID-Zelle und preßten ihm dabei die Mündungen ihrer Paralysatoren in die Seiten. Rhodans Gesicht rötete sich. »Aber das ist doch blanker Irrsinn! Ich weiß, daß diese Person Geoffry Abel Waringer, Erster Wissenschaftssenator und mein Schwiegersohn ist, denn ich bin mit ihm zusammen gekommen.« Der Offizier und der andere Bewaffnete nahmen die Mündungen ihrer Waffen von Waringer weg und traten jeder einen Schritt zurück. Dennoch zielten ihre Paralysatoren weiterhin auf den Hyperphysiker. »Wir dürfen Professor Waringer nicht freilassen, Sir«, wandte sich der Offizier an den Großadministrator. »Wenn der Sicherheitscomputer ihn verdächtigt, nicht er zu sein, dann …« »Hm!« brummte Rhodan. »Ich frage den Sicherheitscomputer, wie der Verdacht zustande gekommen ist!« »Die verdächtige Person hat den Namen des echten Geoffry Abel Waringer nicht korrekt in den Überwachungscomputer eingegeben«, schnarrte die gleiche Computerstimme wie zuvor. »Aber das war doch gar nicht Waringer,
24 das war doch ich!« schrie jemand. Perry Rhodan schaute in das totenbleiche Gesicht des Postens, der ihn und Waringer empfangen hatte. Plötzlich zuckte es verdächtig um seine Mundwinkel. »Wie haben Sie seinen ersten Vornamen geschrieben: Geoffrey …!« Der Posten schluckte. Schweiß rann über sein Gesicht. »Es tut mir fürchterlich leid, wenn ich den Namen falsch eingegeben habe, Sir«, flüsterte er mit bebenden Lippen. »Und ich habe auch noch damit angegeben, daß ich Ihre Namen auswendig kenne.« Plötzlich prustete Waringer los – und da konnte auch Rhodan nicht mehr an sich halten. Ihr Gelächter steckte nach und nach alle übrigen Menschen in der Halle an. »Hu!« sagte Rhodan, als er es nach einiger Zeit schaffte, sich wieder zu beherrschen. Er deutete auf den Posten. »Wie heißen Sie?« »Niuk Morlodaro, Sir«, antwortete der Mann. »Genauer: Sergeant Niuk Morlodaro.« Rhodan nickte, ging zu dem Mann und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Hören Sie bitte genau zu, Sergeant Morlodaro!« sagte er. »In Wirklichkeit haben Sie den Namen gar nicht falsch eingegeben, sondern richtig. Genau so, schrieb sich Professor Waringer nämlich ursprünglich. Doch als er erstmals zur Erde kam und dort eingebürgert werden wollte, druckte die Registrier-Positronik seinen ersten Vornamen ohne dieses e aus – und alle Bemühungen Waringers, diesen Computerfehler nachträglich zu korrigieren, scheiterten an der Sturheit dieser Maschinen, die Geoffrey immer wieder Geoffry schrieben, weil die Registrier-Positronik es so ausgedruckt hatte.« »Und schließlich gab ich es auf«, fügte Waringer hinzu. »Aber niemals werde ich jemandem, der meinen Namen endlich wieder einmal richtig geschrieben hat, deswegen verurteilen. Im Gegenteil. Sergeant Mortadella, ich schicke Ihnen hundert Fla-
H. G. Ewers schen plophosischen Gewürzwein in Ihre Unterkunft.« »Das gibt eine schöne Fete mit meinen Freunden!« rief der Sergeant. »Aber ich heiße nicht Mortadella, sondern Morlodaro. Ich stamme nämlich von Aquomarcharinniepolto, wo man komplizierte Namen liebt.« »Nehmen Sie's nicht tragisch«, meinte Perry Rhodan. »Geoffry, komm, wir haben es eilig!«
* Die Kapsel hing unbeweglich im Griff eines fünfdimensionalen Kraftfelds inmitten einer der saalartigen Hallen des Techno-Labors der Solaren Abwehr. An drei Stellen der Halle standen komplizierte transportable Meßstationen, die mit Paratronfeld-Schildern gegen mögliche Gefahren aus der Kapsel geschützt waren. Sie tasteten das Äußere der Kapsel Millimeter um Millimeter ab und, sofern das möglich war, auch das Innere. An einer anderen Stelle der Halle standen drei Personen. Sie waren dabei, verschiedene Geräte an den Halterungen ihrer Raumanzüge zu befestigen. Die Druckhelme waren noch geöffnet. »Gautor!« rief Waringer. Eine der beiden männlichen Personen drehte sich um. »Hallo, Geoffry!« rief sie. Waringer und Rhodan gingen auf die Gruppe zu. »Professor Gautor Ganski, Oberst Fangaloa Eneiki, Professor Petrow Stancovice«, stellte Waringer die drei Personen vor. Eine Vorstellung des Großadministrators erübrigte sich. »Wir bereiten uns gerade auf den Einstieg in die Kapsel vor, Geoffry«, erklärte Ganski. Er blickte Rhodan an. »Bis vor wenigen Minuten wäre das zu riskant gewesen, Sir. Erst nach drei Stunden Aufenthalt in einem Quintadimfeld hat sich seine Erscheinungsform materiell stabilisiert.« Perry Rhodan nickte.
Atlantis-Patrouille »Hoffen wir, daß die Kapsel stabil bleibt, Professor. Geoffry und ich kommen übrigens mit.« »Ohne Raumanzüge, Sir?« fragte Fangaloa Eneiki. »Ich wollte ja gleich auf die umständliche Prozedur verzichten«, warf Petrow Stancovice ein. Er machte Anstalten, seinen Raumanzug zu öffnen. »Selbstverständlich ziehen wir ebenfalls Raumanzüge an«, sagte der Großadministrator. »Sicherheit ist wichtiger als Bequemlichkeit.« Geoffry Abel Waringer begriff und schaltete sofort. Über seinen Armband-Telekom ordnete er an, daß zwei Raumanzüge in seiner und Perry Rhodans Größe gebracht wurden. Bis die Anzüge kamen, ließ er sich über Details der Ergebnisse berichten, die von den Meßstationen erzielt worden waren. Danach streiften er und Rhodan ebenfalls Anzüge über, schalteten die Helmfunkgeräte ein und testeten die Verbindung. Als sie fertig waren, sagte Waringer: »Wohin ist eigentlich unser Magie-Experte gegangen?« »Petrow?« fragte Gautor Ganski und blickte sich suchend um. »Er wird doch nicht einfach fortgegangen sein.« »Stancovice ist ein undisziplinierter Mensch«, erklärte Oberst Eneiki verärgert. »Ich schlage vor, daß wir nicht auf ihn warten, sondern endlich einsteigen. Meiner Meinung nach brauchen wir sowieso keinen MagieExperten, da Captain Ragsor und Leutnant McDuffy an der Kapsel keine Hinweise auf Magie gespürt haben.« »Gehen wir!« sagte Rhodan. Fangaloa Eneiki eilte voraus. Die Einsatzagentin der Solaren Abwehr hielt es anscheinend für ihre Pflicht, eventuellen in der Kapsel lauernden Gefahren zuerst entgegenzutreten. Perry Rhodan wollte sie zuerst zurückrufen, doch er verzichtete darauf, da Fangaloa Eneiki schließlich hier das Kommando führte und er nur Gast war. Dennoch hielt er sich dicht hinter ihr, um bei einem Zwischenfall sofort eingreifen zu können.
25 Als die vier Personen unter dem eiförmigen Körper vom Volumen dreier normaler Fluggleiter angekommen waren, schalteten sie die Antigravaggregate ihrer Flugtornister ein, stießen sich ab und schwebten zu der Öffnung an einer Seite des Körpers. »Durch diese Öffnung kam der Fremde heraus«, berichtete Oberst Eneiki. »Sie hat sich seitdem nicht wieder geschlossen.« Geschickt steuerte sie durch die Öffnung. Kurz darauf vernahmen die Gefährten ihren Aufschrei in den Helmempfängern der Funkgeräte. Perry Rhodan beschleunigte und raste durch die Öffnung, während er gleichzeitig seinen Paralysator aus dem Gürtelhalfter zog. Doch als er den Innenraum erreichte, bremste er sofort wieder ab und schob die Waffe zurück. Auf dem Boden des ebenfalls eiförmigen Innenraums hockte Professor Petrow Stancovice im Schneidersitz, murmelte unverständliche Sätze und fuchtelte dazu mit seinen überlangen Armen in der Luft herum. Fangaloa Eneiki hing etwa zwei Meter darüber, und Perry Rhodan mußte scharf nach rechts abschwenken, um nicht mit ihr zusammenzustoßen. Dicht vor der gegenüberliegenden Wand konnte er abstoppen. Langsam ließ er sich auf den mit einer rosa schimmernden elastischen Substanz bedeckten Boden sinken, musterte die dunklen ovalen Bildschirme und farbigen Linien, die sich an den Wänden befanden, dann wandte er sich dem Magie-Experten zu und sagte mit unüberhörbarer Schärfe: »Hören Sie bitte mit diesem Humbug auf, mit dem Sie anscheinend Ihre Disziplinlosigkeit überspielen möchten, Professor Stancovice!« Der Magie-Experte unterbrach seine Tätigkeit und schaute den Großadministrator anklagend an. »Sir, bei allem Respekt, aber wenn ich merke, daß irgendwo Magie im Spiel ist, muß ich mich darum kümmern. Und hier ist Magie im Spiel!« Er deutete auf die Wände. »Sehen Sie diese farbigen Linien! Sie bilden
26 symbolhafte ornamentale Muster, die keine andere als eine magische Bedeutung haben müssen.« »Vielleicht haben Sie recht, daß die Muster magische Bedeutung haben«, erwiderte Perry Rhodan. »Dennoch werde ich mich darum bemühen, daß Sie einen schweren Tadel in Ihre Personalakte eingetragen bekommen, denn Sie waren nicht berechtigt, einfach in die Kapsel einzusteigen, ohne zuvor Oberst Eneiki über ihre Vermutungen zu unterrichten und eine Genehmigung einzuholen. Haben Sie mir noch etwas Konkretes zu sagen, Professor?« Petrow Stancovice schüttelte mit betrübter Miene den Kopf und schwieg. Gautor Ganski filmte mit der elektronischen Kamera, die er mitgenommen hatte, das Innere der Kapsel. Geoffry Abel Waringer führte Mehrbereichsmessungen durch. Perry Rhodan musterte in dem aus der Decke strahlenden silbrig schimmernden Licht die ornamentalen Muster an den Wänden. »Was ist Magie eigentlich, Sir?« fragte Fangaloa Eneiki leise neben ihm. Rhodan lächelte. »Magie ist Kenntnis ohne Wissen, meist bruchstückhafte Kenntnis eines ehemals überragenden Wissens, die eine Technik schuf, für deren Funktionsprinzipien uns heute jegliches Verständnis abgeht. Dort, wo Magie als Magie funktioniert, haben sich Teile des Wissens als Kenntnisse von der Behandlung komplizierter Geräte erhalten. – Aber nehmen Sie das bloß nicht als der Weisheit letzten Schluß; es handelt sich nämlich nur um meinen eigenen Versuch einer Definition.« »Geräte!« sagte Petrow Stancovice abfällig. »Magie ist eine Technik ohne Maschinen und ohne Geräte; sie ist die Beherrschung dimensional übergeordneter Energien.« »Aber auch dimensional übergeordnete Energien müssen geschaltet, geleitet und gesteuert werden«, sagte Oberst Eneiki. »Und dazu benötigt man die entsprechenden Ele-
H. G. Ewers mente, also Geräte.« »Magie schaltet ohne Schalter!« verteidigte der Magie-Experte seine Auffassung. »Das mag etwas für sich haben«, sagte Perry Rhodan. »Aber darüber können wir draußen weiterdiskutieren. Ich bemerke soeben, daß Professor Ganski und Geoffry ihre Arbeiten abgeschlossen haben. Die Auswertungen sind Aufgabe eines Positronengehirns, das bekanntlich erheblich schneller arbeitet als jedes menschliche Gehirn.« »Ich bitte darum, noch ein wenig hier sitzen und nachdenken zu dürfen, Sir«, sagte Stancovice. »Lassen Sie das nicht zu, Sir!« rief Fangaloa Eneiki entrüstet. »Professor Stancovice stellt womöglich noch irgendwelchen Unsinn an.« »Er möchte nichts weiter als nachdenken«, erwiderte der Großadministrator. »Und wenn ein Mitarbeiter darum bittet, nachdenken zu dürfen, sollte man ihn nicht daran hindern. Es gibt zu wenige Menschen, die heute noch bereit sind nachzudenken.« Er blinzelte der Einsatzagentin zu. »Aber die Entscheidung liegt bei Ihnen, Oberst.« Fangaloa Eneiki seufzte, dann zuckte sie die Schultern und sagte zu dem MagieExperten: »Also, schön, dann denken Sie nach, bis Sie schwarz sind, Professor!«
* Kaum war Petrow allein, als er sich vorsichtig erhob und durch die Öffnung spähte. Doch seine Befürchtung, jemand würde ihn bespitzeln, war grundlos gewesen. Perry Rhodan, Waringer, Ganski und Oberst Eneiki hatten die Kapsel verlassen und bewegten sich auf den Computer-Anschlußraum des Techno-Labors zu. Der Magie-Experte grinste, wandte sich um und starrte die faustgroße grüne Kristallkugel an, die dort lag, wo er während der Anwesenheit seiner Gefährten so hartnäckig gesessen hatte. »Natürlich schaltet Magie nicht ohne
Atlantis-Patrouille Schalter«, sagte Petrow wie zu sich selbst. »In der Beziehung habe ich dem Großadministrator einen Bären aufgebunden. Nur muß ein magischer Schalter nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem unserer Schalter haben. Ich könnte mir vorstellen, daß ein magischer Schalter etwas sein muß, mit dem der Kundige dimensional übergeordnete Energien konzentriert, fixiert und sich nutzbar macht. Beispielsweise ein solcher Kristall!« Er ging zu dem Kristall zurück, hob ihn mit beiden Händen auf und betrachtete ihn forschend. »Eine einzige – und zwar echte – magische Formel, und ich könnte dich als magischen Schalter benutzen!« klagte er. Etwas lachte in seinem Gehirn, dann dachte er (jedenfalls kam es ihm so vor, als dächte er selbst): »Ich bin zwar kein Schalter, aber ich kann magische Prozesse schalten, wenn ich es will.« Beinahe hätte Petrow Stancovice die Kristallkugel fallengelassen. Entgeistert starrte er sie an. »Ich hätte doch nicht jeden Tag von dem Pflaumenschnaps trinken sollen, den Onkel Kranice mir geschickt hat!« flüsterte er. »Was ist Pflaumenschnaps?« dachte es in seinem Gehirn. Petrow schluckte. Er spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. »Der Kristall läßt mich denken, was er mir mitteilen will«, flüsterte er triumphierend. »Wenn diese Fangaloa Eneiki wüßte, daß ich Kontakt mit einer magischen Kugel habe!« »Du solltest es niemandem sagen, denn man würde dich für verrückt erklären, solange ich nicht mitspiele«, vernahm er. »Und vorläufig spiele ich nicht mit. Ich muß erst wissen, wie es meinem Partner geht.« »Du meinst den kleinwüchsigen Extraterrestrier mit der blauschwarzen Haut, der aus der Kapsel stieg und bewußtlos umfiel?« erkundigte sich der Magie-Experte. »Extraterrestrier?« wurde er gefragt, in-
27 dem er dazu gebracht wurde, diese Frage selbst zu denken. »Ein Intelligenzwesen, das nicht mit Terranern verwandt ist«, erklärte Petrow. »Ich bin übrigens Petrow Stancovice. Hast du auch einen Namen?« »Nenne mich Loggy, obwohl ich inzwischen mehr bin als nur Loggy. Aber ich möchte nicht zu vieles und dadurch gar nichts erklären, Petrow. Algonkin-Yatta ist also bewußtlos umgefallen. Was geschah weiter mit ihm?« »Er wurde in das ›Akul Akiwa Memorial Hospital‹ gebracht, das ist eine Klinik für Extraterrestrier«, antwortete der Magie-Experte. »Dort kann man ihm medizinisch helfen. Du sagtest, er sei dein Partner, dieser Algonkin-Yatta?« »Das stimmt. Wir helfen uns gegenseitig bei der Navigation im Hauptstrom und in den Nebenströmen der Zeit.« »Der Zeit?« entfuhr es Petrow. »Ist das hier etwa kein gewöhnliches Raumschiff, sondern eine Zeitmaschine?« »Es ist eine Kombination von beidem«, antwortete Loggy. »Ich erkenne in dir den Ansatz eines Planes, mit der Kapsel in die Zukunft zu reisen.« »Ist das schlimm?« erwiderte Petrow. »Ich möchte zu gern einen Blick in die Zukunft werfen. Oder bringe mich in die Vergangenheit. Irgendwo in der fernsten Vergangenheit muß die Blütezeit der Magie gewesen sein. Ich würde alles darum geben, wenn ich das Geheimnis der wahren Magie ergründen dürfte.« »Der Preis wäre zu hoch, Petrow«, vernahm er. »Vielleicht kann ich dir einen kleinen Einblick in die Geheimnisse der Zukunft und der Vergangenheit gewähren, aber erst, wenn Algonkin-Yatta wieder an Bord ist. Würdest du zu ihm gehen und ihm ausrichten, daß ich den Instabilitätsschock unversehrt überstanden habe und die Zeitkapsel für ihn hüten werde?« »Ich verspreche es, Loggy«, antwortete Petrow Stancovice.
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H. G. Ewers
* Allan D. Mercant nickte, nachdem er sich den Bericht Waringers aufmerksam angehört hatte. »Die positronische Analyse ist für mich nur die Bestätigung für einen lange vollzogenen logischen Schluß, nämlich für den, daß die Kapsel eine Zeitmaschine ist«, sagte der SolAb-Chef. Er nickte Oberst Eneiki zu und sagte: »Sie sind ja über meine Vermutung informiert. Captain Ragsor und Leutnant McDuffy von der Atlantis-Patrouille wissen ebenfalls Bescheid. Oberst, ich verpflichte Sie, über diese Erkenntnis gegenüber allen Personen, die bis zu diesem Augenblick nichts ahnen, strengstes Stillschweigen zu bewahren! Teilen Sie das gleiche auch Captain Ragsor und Leutnant McDuffy in meinem Namen mit!« Er lächelte flüchtig. »Das gilt auch für uns alle – was eigentlich selbstverständlich ist. Ich erwähne es nur, weil Professor Ganski unsere Spielregeln nicht so gut kennt wie wir.« »Ich werde kein Wort verraten, Solarmarschall«, versicherte Ganski. Mercant nickte und wandte sich an Oberst Eneiki. »Wie steht es mit Professor Stancovice, Oberst? Ahnt er etwas von unserer Erkenntnis?« »Keine Spur, Sir«, antwortete Fangaloa. »Aber ich wäre froh, wenn Sie ihn zu einer anderen Einsatzgruppe versetzen würden. Professor Stancovice stört die Teamarbeit durch sein undiszipliniertes Verhalten.« »Das muß ich bestätigen, Allan«, sagte Rhodan. »Ich habe ihm bereits versprochen, mich um einen schweren Tadel in seiner Personalakte zu bemühen.« Mercant lächelte weise. »Was sein muß, muß sein, Perry«, erwiderte er. »Leider sehe ich vorläufig keine Möglichkeit, Petrow zu versetzen, Oberst Eneiki. Aber da er keine Ahnung davon hat, daß die Kapsel quasi eine Zeitmaschine ist,
kann ja nicht viel passieren.« Er wurde ernst. »Was mir gar nicht gefällt, ist, daß der Fremde sich in der Abteilung von Professor Tolperkohn befindet. Als ich mit dem AraMediziner sprach, habe ich gespürt, daß wir noch großen Ärger mit ihm bekommen werden. Oberst Eneiki, bitte stellen Sie jemanden vom Sicherheitsstab Ihrer Einsatzgruppe für die Überwachung von Professor Tolperkohn ab – mit allen Vollmachten!« »Mit allen Vollmachten?« fragte Fangaloa Eneiki. »Aber das würde ja bedeuten, daß wir den Mann unter die Ausnahmegesetze stellen, Sir!« Mercant nickte. »Was glauben Sie wohl, was es bedeuten würde, wenn er von seinem Patienten erführe, daß er mit einer Zeitmaschine gekommen ist, Oberst Eneiki! Er könnte natürlich uns gegenüber loyal sein und es sofort an mich melden, aber er könnte auch versuchen, Kapital daraus zu schlagen oder die Zeitmaschine für eigene Experimente zu benutzen.« »Aber dann müßte er sie ja erst stehlen«, wandte Gautor Ganski ein. »Und ein Einbruch ins Techno-Labor der Solaren Abwehr dürfte ihm nicht gelingen.« »Ich habe schon Pferde kotzen sehen«, erwiderte Mercant. »Verzeihung, aber das Zeitalter, in dem ich aufgewachsen bin, hatte eine Vorliebe für drastische Ausdrücke.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Und für noch Schlimmeres. Bis später dann, Oberst Eneiki.« Fangaloa Eneiki quittierte die etwas brüske Aufforderung zum Gehen, indem sie aufstand, knapp salutierte und den Besprechungsraum verließ. »Das wird sie dir niemals vergessen, Allan«, meinte Geoffry Abel Waringer schmunzelnd. »Erst gehst du kaum auf Petrows Disziplinlosigkeiten ein, dann wirfst du sie praktisch hinaus. Ihre Seele kocht, mein Lieber.« »Das soll sie«, erklärte der SolAb-Chef. »In ihrem Zorn wird sie die Überwachung Tolperkohns persönlich übernehmen – und
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verpatzen, da der Ara sie bereits kennt. Und genau das will ich, denn sobald Tolperkohn sie durchschaut und abgehängt hat – falls er sie abhängt –, wird er sich in Sicherheit wiegen.« Perry Rhodan erhob sich. »Du kochst wieder mal ein Süppchen nach Art deines Hauses, Allan, ich rieche es förmlich. Ich muß heute noch nach Rofus, komme aber morgen im Laufe des Tages wieder und werde mich bei dir melden, um das Neueste über den ›Fall Zeitkapsel‹ zu erfahren.«
6. DIEBE IM SOLAB-LABOR »Ich vertraue dir voll und ganz, Jaspers«, sagte Hoa Man-Sum zu dem Mann, der neben ihm in der Kanzel eines Fluggleiters saß. »Aber Myrja ist trotz ihrer parapsychischen Begabung ein Kind. Bist du absolut sicher, daß sie genau nach Programm vorgehen wird? Du weißt, die geringste Abweichung brächte uns in Teufels Küche.« Der etwa neunzigjährige Mann, der sich trotz seines »zerknitterten« Faltengesichts noch erstaunlich behende bewegte und vor allem geistig beweglich geblieben war, erwiderte: »Myrja vergißt nichts, Man-Sum.« Er strich dem etwa fünfjährigen Mädchen, das mit seinem seidenen Kleidchen, dem zu zwei Zöpfen geflochtenen blonden Haar und den blauen Lacklederschuhen sehr niedlich aussah, über den Kopf. »Und daß sie mit jedem Menschen machen kann, was sie will, hat sie dir mit ihrer Kostprobe ja heute bewiesen.« »Das hat sie allerdings«, sagte Hoa mit flacher Stimme. »Zum erstenmal in meinem Leben habe ich höllische Angst empfunden.« Er erschauderte. »Soll ich Onkel Man-Sum noch einmal trazzen?« fragte Myrja mit ihrer hellen Kinderstimme. In ihren Augen tanzten dabei funkelnde Irrlichter. »Lieber nicht, Myrja«, erwiderte Jaspers.
»Onkel Man-Sum muß unseren Gleiter steuern, und wenn du ihn jetzt trazzt, stürzen wir wahrscheinlich ab.« »Wäre das spaßig, Jaspers?« fragte die Kleine und kicherte. »Überhaupt nicht«, antwortete Jaspers, der sich bisher geweigert hatte, Hoa mitzuteilen, woher er Myrja hatte. Hoa Man-Sum vermochte sich nicht vorzustellen, daß Jaspers sie ihren Eltern geraubt hatte. Erstens würde der Meister aller terranischen Einbrecher so etwas niemals tun, und zweitens waren die Zuneigung und das blinde Vertrauen Myrjas ihm gegenüber nicht zu übersehen. Hoa schaltete mit Hilfe eines positronischen Elements, dessen Besitz für Zivilpersonen strafbar war, den Polizeifunk ein. Danach wählte er den Kanal, der für sie an diesem Tag in Frage kam. Nach einer Menge anderer Meldungen kam endlich diejenige, auf die er gewartet hatte. »Es klappt, Jaspers«, wandte er sich an seinen Komplizen. »Rufe van Draaken und seine Gruppe an und sage ihnen, sie sollen zum vereinbarten Zeitpunkt losschlagen!« Während Jaspers den Anruf erledigte, steuerte er den Gleiter tiefer. Dabei beobachtete er von Zeit zu Zeit verstohlen das Mädchen, das seinerseits das Telekombild des Funkers eines bestimmten PolizeiFluggleiters beobachtete und dabei vergnügt am Daunen lutschte. Was Myrja »Trazzen« nannte, war die restlose Ausschaltung des Willens anderer Personen und die Fernsteuerung ihrer Handlungen, wobei die Betroffenen genau wußten, daß sie Sklaven eines fremden Willens waren. Mit Hilfe dieser parapsychischen Fähigkeit sollte der Einbruch in das wie eine Festung abgesicherte SolAb-Labor bewerkstelligt werden. Hoa Man-Sum lächelte kalt, als er daran dachte, wie naiv Tolperkohn auf sein Taktieren hereingefallen war. Der Ara-Mediziner mochte auf seinem Fachgebiet Hervorragendes leisten, aber mit einem durchtriebenen und mit allen Wassern gewaschenen terranischen »Geschäftsmann« konnte er es nicht
30 aufnehmen. Er glaubte offenkundig daran, daß Hoa Man-Sum, der König der Unterwelt von Terra, sich mit lumpigen zehn Millionen Solar abspeisen lassen würde, wo er doch leicht das Millionenfache scheffeln konnte, wenn er sich die Zeitmaschine selbst aneignete. Hoa Man-Sum dachte nicht im Traum daran, sich an die Abmachung mit Tolperkohn zu halten. Das wäre schon deshalb unrealistisch gewesen, weil der Diebstahl der Zeitmaschine aus dem Techno-Labor der Solaren Abwehr Regierung und Geheimdienst dazu veranlaßt hätte, das Mutantenkorps einzuschalten – und die Telepathen, Teleporter, Hypnos und anderen »Geheimwaffen Terras« hätten innerhalb weniger Stunden herausgefunden, wer für den Diebstahl verantwortlich war. Tolperkohn hatte das offensichtlich nicht bedacht. Deshalb würde der Ara nach dem geglückten Diebstahl der Zeitmaschine sterben müssen – und sein Tod würde von van Draaken und seinen Leuten so inszeniert werden, als sei er nach dem Diebstahl der Zeitmaschine einem wie auch immer gearteten Unfall zum Opfer gefallen und als sei die Zeitmaschine mit ihm vernichtet worden. Hoa Man-Sum aber würde erst dann wieder in seine Jetztzeit zurückkehren, wenn er in der Vergangenheit mit Jaspers' und Myrjas Hilfe die Voraussetzungen dafür geschaffen hatte, daß das Solare Imperium ein Instrument war, auf dem er nach Belieben spielte. Natürlich würde er nicht demokratisch regieren, sondern als gekrönter Kaiser mit aller Strenge herrschen. Da er ohnehin die Vergangenheit manipulieren würde, fiele es sicher nicht schwer, dort den Grundstein für eine Institution zu legen, die in den Augen der Menschen berechtigt war, die jeweiligen Kaiser des Solaren Imperiums – oder die Kaiser der Galaxis – zu krönen und damit ihre Herrschaft zu legitimieren. Natürlich würde auch diese Institution hinter den Kulissen von ihm gesteuert werden … Er erhaschte einen rätselhaften Blick My-
H. G. Ewers rjas und hatte plötzlich Mühe, ein Zittern seiner Hände zu verhindern, denn ihm war die Frage gekommen, ob diese Gedanken von ihm allein stammten oder ob sie ihm von der Mutantin eingegeben worden waren. Und ich darf nicht einmal daran denken, sie umbringen zu lassen! dachte er verzweifelt.
* Sergeant Harvan Littek blickte stirnrunzelnd auf die Kontrollen des Telekoms, dann drehte er an mehreren Knöpfen, ließ seine Finger über verschiedene Sensorpunkte gleiten und griff schließlich nach dem breiten Metallplastikbügel, in dem die Kopfhörer untergebracht waren. »Was ist mit Ihrem Kasten los, Harv?« erkundigte sich SolAb-Leutnant Aril Weddock. »Der Verstärker scheint ausgefallen zu sein«, erwiderte Harvan Littek, ohne seinen Vorgesetzten anzusehen. »Ich habe auf Kopfhörerempfang umgeschaltet.« Er streifte sich den Metallplastikbügel über den glattrasierten, mit modischen Tätowierungen verzierten Schädel und machte ein Gesicht, als lauschte er angespannt einem Gesprächspartner. »Ja, Sir!« sagte er nach einiger Zeit. Er streifte den Metallplastikbügel wieder ab und erklärte: »Das war die Zentrale, Leutnant. Sie hat uns umdirigiert. Wir sollen am Kalak Place landen und dort auf einen zweiten Gleiter der Abwehr warten.« »Das ist aber sehr ungewöhnlich, Sergeant«, meinte der Leutnant und machte ein bedenkliches Gesicht. »Wer hat das denn angeordnet?« »Der Solarmarschall persönlich«, antwortete Littek. »Aha!« machte Weddock. »Aber warum haben Sie dann noch nicht zurückgerufen, Harv? Wissen Sie nicht mehr, daß eine diesbezügliche Dienstanweisung besteht?« Harvan Littek blickte ihn verständnislos
Atlantis-Patrouille an, dann erschrak er. »Das hatte ich tatsächlich vergessen, Leutnant! Ich werde es sofort nachholen. Landen Sie inzwischen schon mal am Kalak Place.« Aril Weddock blickte den Sergeant verwundert an, dann meinte er: »Sie sollten es besser wissen, Harv. Wir haben drei Schutzhäftlinge zum Techno-Labor der SolAb zu bringen, weil sie dort dringend gebraucht werden. Ich werde den Kurs nicht eher ändern, als bis Sie den Solarmarschall zurückgerufen haben und er seine Anweisung bestätigt hat. Überhaupt verstehe ich nicht, wie Sie eine wichtige Dienstanweisung vergessen konnten …« Sergeant Harvan Littek zog seinen Paralysator und richtete ihn auf Leutnant Weddocks Gesicht. »Landen Sie am Kalak Place!« befahl er mit unbewegtem Gesicht. »Sergeant!« schrie Weddock überrascht und empört. »Stecken Sie sofort die Waffe ein! Bedrohung eines Vorgesetzten! Wissen Sie, daß das das Ende ihrer Laufbahn bei der SolAb ist?« Littek schwenkte den Lauf der Waffe so, daß die Mündung auf eine Stelle dicht neben dem Unterkörper des Leutnants zeigte, dann drückte er auf den Auslöser. Der Schockstrahl fuhr so dicht am rechten Oberschenkel Weddocks vorbei, daß die geringe Streuenergie ausreichte, um das rechte Bein des Leutnants sofort für einige Zeit zu lähmen. Aril Weddock ächzte und wurde bleich. Eine totale Paralyse verursachte keine Schmerzen, eine partielle Lähmung dagegen rief im Schmerzzentrum des Gehirns das Empfinden hervor, als sei der betroffene Körperteil abgerissen worden. »Führen Sie meine Anweisung aus, oder ich werde auch Ihr linkes Bein anschocken!« befahl Harvan Littek. Leutnant Weddock schwankte. Er kämpfte einige Sekunden lang gegen die Bewußtlosigkeit an, die sein Gehirn in tiefe Nacht stürzen wollte – und er blieb Sieger. Wie in Trance nahm er die zur Kursände-
31 rung und Landevorbereitung notwendigen Schaltungen vor. »Das ist Sabotage, Littek«, flüsterte er mit vom Schmerz entstellter Stimme. »Wer hat Sie dazu angestiftet?« Er bekam keine Antwort. Harvan Littek saß mit steinern wirkender Miene auf seinem Platz vor dem Funkpult des Fluggleiters, hielt den Paralysator weiterhin auf seinen Vorgesetzten gerichtet und rührte sich ansonsten nicht. Nur ab und zu veränderten sich seine Augen. Es war, als drücke ihr Blick in diesen Sekunden unvorstellbares Grauen aus. Leutnant Aril Weddock überlegte fieberhaft, wie er sich weiter verhalten sollte. Die Lähmung seines rechten Beines ließ allmählich nach, so daß er sich ausrechnete, zum Zeitpunkt der Landung des Gleiters einigermaßen kampffähig zu sein. Er mußte nur einen Moment abpassen, in dem sein Gegner abgelenkt war. Oder sollte er die Plombe links vor sich abreißen und auf den roten Schalter schlagen, der die Selbstvernichtung des Gleiters auslöste? Bevor er sich überlegen konnte, welche Reaktion der Lage am ehesten gerecht würde, schlich sich etwas Fremdes in sein Bewußtsein. Er empfand die Gegenwart einer anderen Wesenheit sofort, aber er kämpfte nicht gegen sie an, da er nichts wirklich Fremdartiges und weder Bösartigkeit noch Feindseligkeit verspürte, sondern eher Belustigung und Verspieltheit. Als er merkte, wie ihm sein Körper nicht mehr gehorchte, war es für jeden Widerstand zu spät. Wenig später landete der Gleiter auf der Dachplattform des öffentlichen Parkhochhauses am Kalak Place – und in seiner unmittelbaren Nähe ging ein zweiter Gleiter nieder und setzte auf …
* Hoa Man-Sum beobachtete aus der Steuerkanzel seines Fluggleiters, wie zwei in die
32 Uniformkombis der Solaren Abwehr gekleidete Männer ihren Gleiter verließen. Sie gingen zum Heck und öffneten mit Hilfe ihrer Impulskodeschlüssel eine Tür. Zwei hochgewachsene Frauen mit samtbrauner Haut und kupferfarbenem Haar und ein ebenfalls hochgewachsener Mann mit der gleichen Hautfarbe und schwarzem Haar stiegen aus, als die beiden Männer der SolAb entsprechende Befehle in den Mannschaftsraum gerufen hatten. »Akonen!« stellte Hoa fest. »Sehen wir wie Akonen aus, Jaspers?« »Laß das nur Myrja machen, Man-Sum«, erwiderte Jaspers. »Komm jetzt!« Er nahm das fünfjährige Mädchen bei der Hand und verließ mit ihr die Steuerkanzel des Gleiters. Hoa Man-Sum folgte ihm. Draußen warteten sie, bis die beiden Uniformierten die drei Akonen in die Steuerkanzel ihres eigenen Gleiters gesperrt hatten. Das für Schockschüsse charakteristische Knistern verriet, daß die Akonen paralysiert waren und während der nächsten sechs Stunden nichts unternehmen konnten. Als die beiden SolAb-Leute wieder ins Freie kamen, setzten sich Hoa, Jaspers und das Mädchen wieder in Bewegung. Sie stiegen in den Transportraum des SolAb-Gleiters und nahmen auf der breiten gepolsterten Bank an der rechten Seitenwand Platz. Die SolAb-Leute verschlossen das Schott wieder. Kurz darauf spürten sie, wie der Gleiter startete. Schon nach zirka acht Minuten setzte er jedoch wieder auf. Eine Weile rührte sich nichts, dann öffnete sich das hintere Schott. Zwei schwerbewaffnete SolAb-Soldaten schauten durch die Öffnung in den Transportraum, dann rief einer von ihnen über die Schulter zurück: »Quamy von Lutrak, Hely von Ormesch und Aprun von Holledt sind da! Es ist alles in Ordnung.« Das Heckschott schloß sich wieder, und der Gleiter schwebte langsam weiter. Es erfolgten weitere Kontrollen, aber Myrja sorg-
H. G. Ewers te dafür, daß alles reibungslos verlief. Freilich hätten die Fähigkeiten der Mutantin wenig genützt, wenn der Einsatz nicht genau geplant worden wäre. Nur weil der Zeitpunkt ihrer Ankunft und die Anzahl der Personen stimmten, die zudem auf allerhöchsten Befehl zum Techno-Labor der SolAb gebracht wurden, erregte der Vorgang kein Mißtrauen. Kritisch wurde es erst dann, als der Gleiter in die Halle schwebte, in der sich die Zeitkapsel befand. Wenn niemand Alarm geben sollte, dann mußte Myrja die insgesamt vierzehn anwesenden Wissenschaftler und Techniker der Solaren Abwehr innerhalb weniger Sekunden ausschalten. Hoa Man-Sum merkte, daß seine Selbstsicherheit zurückkehrte, als er den kleinen Raketenwerfer zusammensetzte und die Rakete mit dem »Gefechtskopf« mit hochverdichtetem Nervengas aufsteckte. Zwar sollte diese Waffe nur dann eingesetzt werden, wenn die Mutantin versagte, aber es war eine Waffe, mit der der Gangster vertraut war. Er wußte genau, wie sie funktionierte, welche Wirkung sie innerhalb des Gefechtsraums hervorrufen würde und wie groß seine Aussichten waren, ungeschoren zu entkommen. Doch er brauchte nicht einzugreifen. Myrja vermochte zwar nicht, alle vierzehn Personen gleichzeitig unter ihren Willen zu zwingen, aber sie schaffte es bei sechs Personen, die bewaffnet waren. Die Betreffenden – oder Betroffenen – zwangen ihre acht Kollegen dazu, sich passiv zu verhalten, bis auch sie ihren eigenen Willen verloren hatten. Harvan Littek und Aril Weddock rührten sich nicht von ihren Plätzen, als Hoa ManSum den Transportraum ihres Gleiters verließ, gefolgt von Jaspers, der die Mutantin auf dem Arm trug. Mit schußbereiter Waffe stürmte der Verbrecher unter die schwebende Zeitkapsel, schaltete sein Flugaggregat ein und schwebte durch die Öffnung ins Innere des fremden Fahrzeugs. Als Jaspers und Myrja ihm in den eiförmigen Hohlraum folgten, hatte er bereits die
Atlantis-Patrouille Folie vor sich ausgebreitet, auf der ihm Tolperkohn so etwas wie einen Schaltplan gezeichnet hatte. Tolperkohn wiederum hatte die entsprechenden Informationen von dem Fremden, der mit der Kapsel auf die Erde gekommen war. Hoa blickte ständig von seinem Schaltplan auf eine bestimmte Stelle der Innenwandung und musterte angestrengt die farbigen Linien, die sich dort und an anderen Stellen der Innenwandung befanden. Plötzlich heulte eine Sirene los; andere Sirenen fielen ein. »Man hat etwas gemerkt«, stellte Jaspers nervös fest. »Wir müssen verschwinden, Man-Sum. Durch die Zeit können uns die SolAb-Agenten nicht folgen.« »Du störst mich!« fuhr Hoa ihn an. »Solange du niemanden hereinläßt, haben wir nichts zu befürchten. Die SolAb wird sich hüten, die Zeitmaschine zu beschädigen. Laß mich jetzt in Ruhe! Ich muß mich konzentrieren. Oder möchtest du im Trias herauskommen?« »Wo ist das?« fragte Jaspers. »Du solltest lieber darüber nachdenken, wann das war, du Trottel!« schimpfte Hoa. Abermals konzentrierte er sich auf den Schaltplan und auf die zahlreichen, ornamentale Muster ergebenden Linien. Nach einer Weile erhob er sich und schritt auf die bewußte Stelle der Innenwand zu. Er zuckte nur leicht zusammen, als Jaspers mit seiner Schockwaffe ein rasendes Feuer auf Leute eröffnete, die Hoa Man-Sum nicht sah. Im nächsten Moment stolperte Hoa über ein Hindernis. Wütend blickte er zu Boden. Dort lag ein faustgroßer, kugelförmig geschliffener grüner Kristall. Über ihn mußte Hoa gestolpert sein. Hoas Gesicht lief blutrot an. Zornig trat er den Kristall zur Seite, dann setzte er seinen Weg fort. Sekunden später stand er vor dem Linienmuster, an dem er nach Tolperkohns Angaben die Schaltung vornehmen mußte, die die Zeitmaschine um neunundvierzig Jahre in die Vergangenheit versetzen würde. Hinsichtlich eventueller Tricks des Aras war
33 Hoa völlig beruhigt. Tolperkohn wollte die Zeitmaschine haben; folglich durfte er sich nichts erlauben, was zum Verschwinden der Maschine irgendwo im Zeitstrom führen konnte. Doch während seine rechte Hand dem Schaltplan entsprechend über die farbigen Linien fuhr, merkte Hoa Man-Sum, daß die Linien nicht dort aufleuchteten, wo er sie nachgezogen hatte, sondern an anderen Stellen. Er zog seine Hand zurück, als hätte sie ein stromführendes Metallband berührt. »Was ist das, zum Teufel?« schrie er unbeherrscht. »Ich habe diese Linien nicht nachgezogen!« »Mach schneller!« rief Jaspers und feuerte abermals nach draußen, diesmal mit Hoas Raketenwerfer. Aber Hoa hatte bereits begriffen, daß er überhaupt nichts machen konnte, sondern daß jemand die Zeitmaschine nach einem fremden Willen programmierte. Er warf einen Blick auf Myrja, aber die Mutantin schien nicht zu begreifen, worum es eigentlich ging. Außerdem, was hätte sie davon, wenn die Kapsel in eine unbekannte Zeit verschlagen würde? An allen Innenwandungen der Kapsel blitzten goldfarbene Lichtpunkte auf. Mehrere dumpf hallende Schläge dröhnten. Die Bildschirme wurden hell und zeigten die Halle außerhalb der Kapsel. Mehrere Uniformierte lagen paralysiert auf dem Boden, die übrigen wurden soeben vom Nervengas ausgeschaltet und würden alles vergessen. Durch ein Tor schwebten Kampfroboter in die Halle. »Wenn die Roboter angreifen, sind wir verloren«, sagte Hoa. Im nächsten Augenblick legte sich ein Schleier um die Kapsel. Hinter diesem Schleier waren undeutliche Bewegungen zu erkennen, die schneller und schneller abliefen. Hoa Man-Sum begriff, daß sie sich auf der Fahrt durch die Zeit befanden – mit unbekanntem Ziel …
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* Die goldfarbenen Lichtpunkte erloschen; der Schleier um die Kapsel lichtete sich und löste sich schließlich ganz auf. Hoa und Japsers blickten auf die Bildschirme und musterten die parkartige Landschaft, die sich draußen rings um die Kapsel bis zu den Horizonten erstreckte. Direkt unter der Kapsel führte ein zirka zwei Meter breiter Bewässerungskanal entlang. »Wenigstens sind wir nicht in grauer Vorzeit gelandet«, stellte Jaspers erleichtert fest. Hoa Man-Sum runzelte die Stirn. »Aber wir können auch nicht nur neunundvierzig Jahre vor oder hinter dem Zeitpunkt liegen, an dem wir mit der Kapsel starteten«, erwiderte er. »Siehst du etwa irgendwo Häuser? Ich nicht. Folglich ist Terrania City entweder noch nicht gebaut oder schon längst zu Staub zerfallen.« »Als Terrania City noch nicht gebaut war, soll sich hier eine Wüste befunden haben – und der Goshun-See war so salzig, daß die Nomaden kein Salz zu kaufen brauchten, wenn sie ihr Essen kochten«, sagte Jaspers. »Siehst du etwas, das wie eine Wüste aussieht, Man-Sum?« Hoa schüttelte den Kopf. »Da hier offenbar vor unserer Jetztzeit nie etwas anderes war als Wüste, müssen wir uns in der Zukunft befinden«, sagte er. »Die Bäume sind übrigens Obstblume. Wir befinden uns in einer riesigen Plantage.« Myrja musterte mit glänzenden Augen die Umgebung. »Ich will 'raus!« sagte sie. »Was willst du draußen, Kind?« fragte Jaspers. »Spielen – und Obst essen«, antwortete das Mädchen. »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« brauste Hoa auf. »Es reicht mir schon, daß wir in einer unbekannten Zeit gestrandet sind. Ich brauche nicht noch eine verwöhnte Göre, die mich mit allen möglichen Wünschen plagt!«
Myrja verzog weinerlich das Gesicht, doch plötzlich glomm in ihren Augen ein bedrohliches Leuchten auf. Hoa Man-Sum merkte, daß er zu einer Marionette ohne eigenen Willen wurde. Er konnte absolut nichts dagegen tun. Langsam ging er an Jaspers vorbei, öffnete das Schott der Kapsel und sprang. Kurz vor dem Aufprall merkte er, daß er sein Flugaggregat nicht eingeschaltet hatte. In Erwartung des Todes stieß er einen Wutschrei aus. Doch anstatt mit zerschmetterten Gliedern zu sterben, tauchte Hoa unverhofft in kaltes Wasser. Kurz darauf stießen seine Füße schmerzhaft gegen den Boden des Bewässerungskanals. Sekunden später tauchte Hoa prustend wieder auf, schwamm zum Ufer und zog sich mühsam hoch, indem er seine Finger in die Rillen zwischen den Steinen des gemauerten Kanalbeckens krallte. Als er sich aufrichtete, landete Jaspers neben ihm, Myrja auf seinen Armen vor der Brust. »Es tut mir leid, Man-Sum«, sagte Jaspers. »Aber Myrja ist sehr sensibel und reagiert dementsprechend empfindlich auf jede Kränkung.« »Vergiß es!« sagte Hoa sinnierend. »Überlege dir lieber, wie es kommt, daß viele Jahre – vielleicht sogar Jahrtausende – in unserer Zukunft die Becken von Kanälen nicht mehr aus Kunststoffen gegossen, sondern mit Steinen gemauert werden!« Er steckte die kleinen Finger in seine Ohren und bewegte sie heftig hin und her. Jaspers ließ Myrja auf den Boden hinab und sah ihr nach, wie sie zum nächsten Baum eilte. Plötzlich zuckte er zusammen. Auch Hoa Man-Sum zuckte zusammen, aber im Unterschied zu seinem Einbruchsspezialisten wußte er, was die hallenden Töne zu bedeuten hatten, die soeben erschollen. Er schaltete sein Flugaggregat ein und schoß auf die Öffnung in der Zeitkapsel zu. Doch bevor er sie erreichte, schloß sie sich. Hoa bremste mit Maximalwerten ab, prallte
Atlantis-Patrouille dennoch gegen das Schott und wurde jählings in das Vakuum gerissen, das dort entstanden war, wo sich einen Moment vorher noch die Kapsel befunden hatte. Als das Vakuum sich mit Luft gefüllt hatte, stürzte Hoa Man-Sum zum zweitenmal in den Bewässerungskanal. Nach dem Auftauchen blieb er einige Minuten lang am Ufer sitzen und zählte in Gedanken bis hundert, um seine erste Wut abklingen zu lassen. Er war wütend auf die Mutantin, weil sie ihn gezwungen hatte, die Zeitkapsel zu verlassen und weil er deshalb nicht an Bord gewesen war, als die Zeitkapsel sich entfernte. Nur wegen Myrja war er irgendwo in der Zeit gestrandet. Normalerweise hätte Hoa nicht gezögert, Myrja deswegen zu töten. Nur die Erkenntnis, daß seine Überlebenschancen in der unbekannten Zeit mit Myrja erheblich größer waren als ohne Myrja, bewogen ihn dazu, seine Wut niederzuringen und nichts gegen die Mutantin zu unternehmen. Als er wußte, daß er sich würde beherrschen können, erhob er sich und blickte zu Jaspers, der rund zehn Meter entfernt war und Myrja an der Hand hielt. »Ich werde ihr nichts tun, Jaspers«, erklärte er. »Beraten wir gemeinsam, wie wir uns verhalten sollen, denn die Lage, in der wir uns befinden, ist zweifellos ohne Beispiel für uns.« »Du sagst es, Man-Sum«, erwiderte Jaspers erleichtert. Er wandte sich an Myrja. »Onkel Man-Sum wird dir nichts tun, nicht wahr, Kleine?« »Er wird mir nichts tun, Jaspers, denn er braucht mich«, erklärte das Mädchen überraschend ernsthaft. »Aber da ist etwas anderes, vor dem ich mich fürchte.« »Etwas anderes?« fragte Jaspers. »Was ist es denn, Myrja? Oder willst du uns nur erschrecken?« Hoa Man-Sum blickte zum Abendhimmel hinauf, an dem die Sonne sich anschickte, hinter dem Horizont zu versinken. Es war ein für die Erde typischer Sonnenuntergang – und doch war etwas Fremdartiges dabei.
35 Die Dunkelheit legte sich nicht von Osten her über das Land, sondern kroch von Westen her dicht über dem Boden dahin – und sie verschlang alles, was sie streifte. »Sie will uns nicht erschrecken, Jaspers«, sagte Hoa Man-Sum. »Sie hat nur gespürt, daß sich die Überlappungszone eines fremden Universums über die Erde senkt und einen Teil aller Lebewesen entführen wird. Von der Jetztzeit aus betrachtet, muß das vor rund elftausend Jahren geschehen sein.« »Vor elftausend Jahren?« fragte Jaspers. »Du redest, als wüßtest du, wann wir sind und was hier geschieht – und was mit uns geschehen wird.« Hoa sah die Dunkelheit näherkommen und erschauderte. »Die Kapsel hat uns in eine Zeit gebracht, in der die Arkoniden auf Atlantis ihre Stützpunkte unterhalten und innerhalb des Solsystems gegen die Druuf kämpfen«, sagte er. »Wir werden bei den Druuf landen. Was dort aus uns wird, weiß ich nicht. Wahrscheinlich werden wir in dem fremden Universum an den dortigen Zeitablauf angepaßt und leben subjektiv normal weiter. Aber eine Rückkehr zur Erde und in unsere frühere Zeit dürfte ausgeschlossen sein.« Er stand ganz still, als die Überlappungsfront ihn erreichte und er den unerklärlichen Sog des fremden Universums und der fremden Zeit spürte.
7. IM VERSTECK Der Gleiter wurde gestoppt, als er das Mündungsgebiet des Hoang-Ho im Nordosten des Hochlands von Tibet überflog. Angesichts der beiden anderen Gleiter, die nicht nur wendiger als seiner, sondern obendrein mit Strahlkanonen bewaffnet waren, versuchte Tolperkohn gar nicht erst, ihnen durch riskante Manöver zu entkommen. Das Eingehen solcher Risiken lag ohnehin jenseits der Mentalität eines Aras. »Wir müssen landen«, erklärte er Algonkin-Yatta, der neben ihm saß und immer
36 noch recht schwach war. »Hat die Polizei unsere Flucht bemerkt?« fragte der Kundschafter neugierig. Der Ara machte eine verneinende Geste. »Nicht die Polizei, Algonkin-Yatta. Es sind alte Freunde, die uns aufhalten. Ich habe damit gerechnet, denn für den alten Gauner Hoa war die Versuchung viel zu groß, als daß er ihr hätte widerstehen können.« Er steuerte den Gleiter tiefer und landete in einem flachen Tal mit unfruchtbarem Boden. Die beiden anderen Gleiter setzten links und rechts daneben auf. Lächelnd betätigte der Ara eine Schaltung, dann lehnte er sich zurück und wartete, bis vier Männer in die Kanzel stürmten. Sie trugen ausnahmslos Schockwaffen, und einen von ihnen kannte Tolperkohn. »Warum so stürmisch, Mister van Draaken?« fragte der Ara. Van Draaken musterte Algonkin-Yatta, dann blickte er wieder zu Tolperkohn und sagte: »Der Fremde soll aussteigen und mit uns fliegen, Mister Tolperkohn. Mein Chef hat es so angeordnet.« »Und was soll dann nach dem Willen Hoas weiter geschehen?« erkundigte sich der Ara. »Sie fliegen uns voraus zu dem Versteck, in dem wir auf den Chef warten sollen«, antwortete van Draaken. »Und unterwegs schießen Sie mich ab«, meinte Tolperkohn. Er lachte. »Das war natürlich ein Scherz, Mister van Draaken. Sie werden kaum auf mich schießen wollen, wenn ich Ihnen verrate, daß die Luft in meinem Gleiter mit einem Virus angereichert ist, das jeden infizierten Menschen innerhalb von vierundzwanzig Stunden tötet, ohne sich weiter zu verbreiten. Selbstverständlich gibt es in meinem Versteck ein Serum, mit dessen Hilfe die Krankheit gar nicht erst zum Ausbruch kommen wird.« »In Ihrem Versteck bei Allahabad gibt es das Serum?« erkundigte sich van Draaken lauernd. »Natürlich nicht dort«, erwiderte der Ara
H. G. Ewers spöttisch. »Wie könnte es sonst meine Lebensversicherung sein! Sie müssen mir schon wirklich folgen, wenn Sie länger als vierundzwanzig Stunden leben wollen.« Van Draakens Blick verriet Achtung. »Hoa hat Sie unterschätzt«, gab er zu. »Allerdings könnte die Sache mit der virenverseuchten Luft ein Bluff sein.« »Das glaube ich nicht«, warf Algonkin-Yatta ein. »Ich habe einen sehr empfindlichen Geruchssinn und mußte vorhin feststellen, daß die Luft im Gleiter mit gesundheitsbedrohenden Viren verseucht wurde.« »Sie sprechen Interkosmo?« entfuhr es van Draaken. »Ich hatte zwei Tage Zeit, Ihre Sprache zu lernen«, erklärte der Kundschafter. »Es ist eine sehr interessante Sprache. Seltsamerweise habe ich in ihr viele Charakteristika des Mathona gefunden.« »Innerhalb von zwei Tagen könnte ich keine fremde Sprache lernen – jedenfalls nicht ohne Hypnoschulungsgeräte«, meinte van Draaken. »In Ordnung, Mister Tolperkohn. Sie haben gewonnen. Ich hatte sowieso nichts gegen Sie. Es macht mir nichts aus, Sie am Leben zu lassen.« »Wie reizend!« erwiderte der Ara. »Wir machen es so: Ich fliege mit Algonkin-Yatta voraus und lotse Sie zu unserem Versteck. Dort erhalten Sie die notwendigen SerumInjektionen, die den Ausbruch der Krankheit jeweils für vierundzwanzig Stunden verhindern. Nach Abschluß der Aktion und nachdem ich mich mit Hoa Man-Sum geeinigt habe, bekommen Sie die Injektionen, die sämtliche dieser Viren abtöten.« Nachdem van Draaken und seine Leute sich zurückgezogen hatten, wandte sich der Ara an den Kundschafter und fragte: »Haben Sie die Viren tatsächlich gewittert, Sir?« »Ja«, antwortete Algonkin-Yatta. »Aber das ist für einen Mathoner nichts Außergewöhnliches.« Der Ara startete seinen Gleiter wieder und verließ den bisherigen Kurs, indem er nach Südwesten abbog.
Atlantis-Patrouille
37
Nach einigen Stunden schwebte der Gleiter über einen dunklen Berggrat. Vor ihm breitete sich ein fruchtbares Hochtal aus, das optisch von einem gewaltigen altertümlichen Bauwerk beherrscht wurde. Algonkin-Yatta war nicht überrascht, denn er hatte in Terrania City und während des Fluges hierher größere und modernere Bauwerke gesehen. Anders van Draaken. Er meldete sich über Sprechfunk und sagte: »Das ist die Potala – und die Stadt darum herum heißt Lhasa! Mister Tolperkohn, Sie werden sich doch nicht ausgerechnet dort verstecken wollen!« »Lassen Sie sich überraschen!« erwiderte Tolperkohn.
* Algonkin-Yatta sagten die Namen »Potala« und Lhasa nichts. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich um terranische Geschichte zu kümmern. Er verfolgte aufmerksam, wie Tolperkohn den Gleiter an der Potala vorbeisteuerte und ihn sanft im Innenhof eines würfelförmigen Bauwerks absetzte, das auf einer künstlichen Terrasse des gleichen Berges stand, der von der Potala beherrscht wurde. »Wir besuchen Freunde«, hörte er den Ara sagen. »Bitte, entspannen Sie sich, Sir. Sie sind hier absolut sicher.« Algonkin-Yatta war sich da keineswegs sicher, aber er war zu höflich, um Zweifel zu äußern. Diese Terraner schienen ein ganz besonderer Schlag zu sein. Zweifellos gab es zwischen ihnen und den Arkoniden eine ethnische Verbindung, aber die Terraner wirkten vitaler als die Arkoniden, die der Kundschafter bei seiner Suche nach Atlan kennengelernt hatte – und sie schienen überaus listenreich zu sein. Er erinnerte sich an die wenigen Minuten, in denen er mit einem Terraner namens Petrow Stancovice hatte reden können. Dieser Mann, der sich als Experte für Magie bezeichnet, war mit einer Botschaft Loggys
heimlich zu ihm gekommen. Er genoß demnach das Vertrauen der kristallinen Wesenheit. Aber andere Terraner schienen Loggy nicht vertrauenswürdig zu sein. Auf einen Wink des Aras hin erhob sich Algonkin-Yatta von seinem Platz. Hinter Tolperkohn verließ er den Gleiter, während die beiden anderen Gleiter nacheinander ebenfalls im Innenhof landeten. Drei hochgewachsene Gestalten in lehmfarbenen Kutten kamen aus einem Gebäudetrakt und näherten sich dem Ara. »Es sind Insektenabkömmlinge vom Planeten Rachel«, erklärte Tolperkohn. »Sie leben hier als Abgesandte ihres Volkes, und sie sind mir zu Dankbarkeit verpflichtet, weil ich sie gegen die zahllosen Krankheitserreger immunisiert habe, die sich bei den Terranern seltsamerweise immer noch halten. Andernfalls wären sie längst gestorben.« Die drei Insektenabkömmlinge blieben vor Tolperkohn und Algonkin-Yatta stehen, hoben die Hände in Gesichtshöhe und legten die Handflächen zusammen. »Willkommen, Bruder Tolperkohn!« sagte einer von ihnen. An der schwach verzerrten Aussprache war zu merken, daß er sich eines elektronischen Umsetzers bediente. Wahrscheinlich erzeugten seine eigenen Sprechorgane Laute, die über der Hörschwelle der Menschen lagen. »Mögest du immer in der Gunst Amitayus stehen.« Tolperkohn erwiderte den Gruß mit der gleichen Geste und sagte: »Ich danke dir, Bruder Tschamte und deinen Mitbrüdern! Möge Amoghasiddhi stets seine Hand über euch halten! Leider fehlt mir die Zeit, um mit euch zu speisen und Gespräche zu führen. Aber ihr würdet mir und meinen Freunden einen großen Gefallen erweisen, wenn wir die Erlaubnis erhielten, Bruder Bakho-Dari zu besuchen.« »Bruder Bakho-Dari wird sich über euren Besuch freuen«, erwiderte Tschamte. »Ihr wißt ja, daß ihr ihm immer willkommen seid. Ich selbst werde euch zu dem Tor führen, durch das ihr zu ihm kommt.«
38 Unterdessen waren auch van Draaken und seine drei Begleiter herangekommen. Verwundert musterten sie die Umgebung und besonders die drei Gestalten in den Kutten, von denen nur die Gesichter freilagen, aber kaum zu erkennen waren, da die Kapuzen der Kutten sie mit Schatten bedeckten. Van Draaken ging ganz nahe an Tolperkohn heran und flüsterte: »Wissen Sie nicht, welchen Ruf die Insektenabkömmlinge von Rachel genießen? Es sind die hinterhältigsten Mordbuben in dieser Galaxis.« »Seien Sie still!« flüsterte der Ara zurück. »Diese Racheltyks würden nicht einmal eine Stechmücke töten, die ihr Blut saugt. Sie und viele ihrer Artgenossen haben die Lehre der Erleuchtung angenommen.« »Zum Schein vielleicht, um unauffälliger morden zu können«, gab van Draaken aufgebracht zurück. »Ich werde jedenfalls wachsam sein.« Algonkin-Yatta hätte sich zu gern mit den Kuttenträgern unterhalten, denn sie gehörten einem weiteren Volk an, das MYOTEX noch unbekannt war. Aber erstens schien Tolperkohn es eilig zu haben und zweitens fühlte der Kundschafter sich noch immer so schlapp, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Langsam ging er neben dem Ara hinter den drei Racheltyks her. Als sie einen der vier Gebäudetrakte betraten, stellte Algonkin-Yatta verwundert fest, daß die Inneneinrichtung hochmodern war, obwohl die Außenmauern aus gewöhnlichem Schaumbeton bestanden. Die Klimaanlage stieß durch die Lüftungsgitter ab und zu Schwaden duftenden Rauches aus, eine Computerstimme wiederholte Lebensregeln, Ratschläge und Sprüche, hinter den offenen Türen von kleinen Gebetszellen lagen Racheltyks unter hochmodernen Hypnosehauben, die eine Vertiefung der geistigen Versenkung erlaubten und am Ende des Flures befand sich jenes nur wenigen Eingeweihten bekannte Tor, das in Wirklichkeit eine Positronik war. Tschamte sprach leise auf das scheinbar
H. G. Ewers eiserne Tor ein. Nach einer Weile erschienen auf der Oberfläche winzige Lichtblitze. Scharf gebündelte Sondierungsstrahlen tasteten die Gäste der Racheltyks ab. Als die Lichtblitze erloschen, sagte eine dunkle Stimme: »Alle sind zugelassen – außer Jan Kosinke, der seelisch instabil ist und überlegt, ob er den Kundschafter von Ruoryc töten soll.« »Du hast meine Gedanken gelesen!« schrie einer von van Draakens Begleitern auf. Er riß einen Desintegrator aus einem Schulterhalfter und wollte auf Algonkin-Yatta schießen. Doch dann erstarrte er, schrie fürchterlich und brach schlagartig ab. Langsam zerfiel er zu Staub, der sich zu einem relativ kleinen Häufchen ansammelte. Die beiden anderen Begleiter van Draakens nahmen eine drohende Haltung gegenüber den Racheltyks ein, doch keiner wagte es, seine Waffe zu ziehen. Van Draaken wandte sich dem Ara zu und wollte etwas sagen, aber der Mediziner kam ihm zuvor und erklärte: »Weder die Racheltyks noch ich kontrollieren das Tor. Es wäre also sinnlos, ihnen oder mir Vorwürfe zu machen. Außerdem hat das Tor die Ermordung unseres Gastes verhindert – und Algonkin-Yatta ist wertvoller für uns, als es Kosinke gewesen war.« »Das klingt reichlich gefühllos«, meinte Algonkin-Yatta. »Ich trage mich, warum der Mann, der Jan Kosinke hieß, mich umbringen wollte.« Van Draaken und seine Leute sind schließlich Verbrecher! hätte Tolperkohn beinahe gesagt. Er verkniff sich die Bemerkung, denn es hätte bestimmt Algonkin-Yattas Verdacht erregt, wenn sein »Retter« zugab, daß er mit Verbrechern zusammenarbeitete. »Er war geistig instabil, wie das Tor es sagte«, meinte er nur. In diesem Augenblick bildete sich in der Mitte des Tores ein Spalt, der sich rasch vergrößerte, bis eine drei Meter breite Öffnung vorhanden war. Dahinter lag das Innere ei-
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nes Tresors. Jedenfalls sah es so aus. ner, Hoher Bakho-Dari!« Tolperkohn lächelte ironisch und sagte zu »Wie können Sie für mich sprechen, Mivan Draaken: ster Tolperkohn?« fragte Algonkin-Yatta mit »Wenn Sie wollen, können Sie Algonkin-Yat- dem letzten Rest seiner Energie. »Ich bin ta und mich begleiten.« niemandes Diener und werde es niemals »Was bleibt uns anderes übrig, wenn wir sein.« nicht sterben wollen«, erwiderte van DraaTolperkohn lachte höhnisch, zog seinen ken mürrisch. Paralysator und richtete ihn auf den KundAls alle fünf Personen den Tresor betreten schafter. hatten – die drei Racheltyks blieben zurück »Das Spiel ist aus!« rief er. »In wenigen –, schloß sich das Tor hinter ihnen. SekunStunden werden Freunde von mir deine Zeitden später sank der »Tresorraum« rasch abkapsel herbringen, Algonkin-Yatta – und du wärts. wirst mich mit allen Feinheiten ihrer Bedie»Ein getarnter Pneumolift«, erläuterte nung vertraut machen.« Tolperkohn. »Er verbraucht nicht mehr Loggy! dachte Algonkin-Yatta. Er hat mir Energie als eine Robotküche, kann also doch ausrichten lassen, daß er die Zeitkapsel nicht angemessen werden.« für mich hüten würde! Sollte er sein Versprechen nicht eingehalten haben? Laut sagte er: * »Nichts werde ich tun, Verräter!« »Ein Tempel!« flüsterte van Draaken Tolperkohn zog seinen Paralysator und staunend, als sich ein weiteres Tor geöffnet schoß auf den Kundschafter. Er ahnte nicht, hatte. Der Pneumolift und ein kurzer Korridaß Algonkin-Yatta ein paar Sekunden spädor lagen hinter ihnen. ter von allein zusammengebrochen wäre. Algonkin-Yatta versuchte, durch die »So!« sagte der Ara zufrieden. »Den schwarzen Schleier, die vor seinen Augen Kundschafter haben wir. Jetzt kommt es nur wogten, etwas zu erkennen. Er wußte, daß darauf an, ob Hoa Man-Sum seinen Teil ihm ein neuer Schwächeanfall bevorstand ebenfalls erfüllt.« und daß er nicht viel Zeit hatte. Er mußte Er wandte sich den schwarzen Vorhängen sich hinlegen oder wenigstens hinsetzen. zu, die sich geisterhaft bewegten. Undeutlich sah er eine kuppelförmige »Bakho-Dari, hast du Kontakt mit Hoa, Halle mit schwarzen Wänden, einem großen Jaspers und Myrja?« schwarzen Metallwürfel in der Mitte und eiEin Teil des Vorhangs wurde zur Seite ner goldenen Kugel, die dicht unter der geschoben. Der Mann, der an den schwarzen Decke schwebte. Die gegenüberliegende Metallwürfel in der Mitte der Halle trat, war Hälfte der Halle war von schwarzen Vorhängroß und hager, trug eine schwarze Kutte gen verdeckt. und hatte die Kapuze tief in sein Gesicht ge»Willkommen im Tempel Baals, der von zogen. Dennoch war zu sehen, daß es wie den Dienern des Hohen Báalol errichtet wurdas Gesicht eines Totenschädels aussah. Das de!« ertönte eine dumpfe Stimme von übersagte jedoch nichts über das Alter des allher zugleich. Báalol-Priesters aus, denn viele dieser Leute »Ein Anti! Ich werde verrückt!« rief einer bekamen dieses Aussehen schon im besten der Männer van Draakens. Mannesalter, weil sie laufend starke Drogen »Ein Hohepriester des Báalol-Kultes«, einnahmen. entgegnete Tolperkohn und vollführte die ri»Ich hatte Kontakt mit Myrja, bevor die tuellen Bewegungen, mit denen ein Laie des Zeitkapsel startete«, sagte der Priester mit Báalol-Kultes einem Báalol-Priester gegendumpfer Stimme. »Seitdem herrscht überzutreten pflegte. »Wir sind deine DieSchweigen.«
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»Aber das ist doch nicht richtig!« rief Tolperkohn und blickte den Kundschafter an, als erwartete er von einem Bewußtlosen und Gelähmten eine Antwort. »Er sagte, es würde keine Zeitverzögerung geben«, wandte er sich an Bakho-Dari. »Die Kapsel sollte zur gleichen Zeit in die Jetztzeit eintauchen, in der sie aus ihr verschwand.« »Wir werden Algonkin-Yatta fragen müssen, sobald er wieder vernehmungsfähig ist«, erklärte der Anti. »Aber erst wollen wir unsere SerumInjektionen haben!« rief van Draaken. Tolperkohns Gesicht verzerrte sich vor Wut. »Ich sollte sie euch nicht geben, denn vielleicht hat euer Chef Verrat begangen und plant tiefer in der Vergangenheit eine Zukunft, in der für mich kein Platz mehr sein soll.« »Wenn es so ist, dann wissen wir nichts davon«, erwiderte van Draaken. »Aber in dem Fall würde ich Hoa töten – und auch sonst können Sie mich und meine Männer brauchen, wenn es zum Kampf kommt.« Er lachte höhnisch. »Ein Ara ist schließlich kein Kämpfer.« »Da irren Sie sich«, widersprach Tolperkohn. »Aras kämpfen nur mit anderen Mitteln als die Angehörigen anderer Völker. Aber ich erkenne, wer mir nützen kann und wer nicht. Sie bekommen Ihre Injektionen.«
8. ALARM FÜR DAS MUTANTENKORPS »Wie ist es möglich, daß mitten aus dem Techno-Labor der Solaren Abwehr ein Gegenstand gestohlen wird, der die Masse von ungefähr drei normalen Fluggleitern hat?« fragte Perry Rhodan erregt. »So etwas kann man doch nicht in der Hosentasche mitnehmen.« »Auch dann käme niemand durch die Kontrollen«, erklärte Allan D. Mercant. »Aber die Kapsel …«, begann Rhodan. »… wurde nicht durch die Kontrollen geschmuggelt«, beendete der SolAb-Chef den
Satz. »Ach, nein!« erwiderte der Großadministrator. »Dann haben sich wohl auch die drei akonischen Wissenschaftler, die mit ihrer Einwilligung aus der Schutzhaft zur Untersuchung der Kapsel ins Techno-Labor überstellt worden waren, nicht durch die Kontrollen hinausgeschmuggelt?« Mercant zuckte die Schultern. »Sie sind ordnungsgemäß angekommen und mehrfach kontrolliert worden«, erklärte er geduldig. »Demnach müssen sie im Techno-Labor angekommen sein, um unseren Wissenschaftlern und Technikern bei der Untersuchung der Kapsel zu helfen. Und dort müßten sie noch sein, denn sie haben die Kontrollen nicht auf dem umgekehrten Wege passiert.« »Wir beide stehen hier, wo zuvor die Kapsel schwebte«, sagte Perry Rhodan ironisch. »Deshalb wissen wir, daß die drei Wissenschaftler nicht mehr hier sind. Allan, die Kapsel ist eine Zeitmaschine! Folglich liegt doch der Schluß nahe, daß die drei Akonen mit ihr durch die Zeit verschwunden sind. Deshalb brauchten sie keine Kontrollen zu passieren!« »Perry!« erwiderte Mercant beschwörend. »Ich kenne Quamy von Lutrak, Hely von Ormesch und Aprun von Holledt persönlich. Deshalb weiß ich, daß sie keine Verräter sind. Schließlich befanden sie sich in Schutzhaft, weil sie aus Gewissensnot das Energiekommando verlassen und uns über einen geplanten Anschlag informiert haben, bei dem die Bevölkerung der Erde dezimiert werden sollte. Sie haben sich bereit erklärt, ihre Aussagen vor dem Galaktischen Gerichtshof zu wiederholen, damit diejenigen akonischen Geheimdienstoffiziere, die gegen den Willen ihrer Regierung einen Krieg zwischen unseren Völkern provozieren wollen, entlarvt und zur Rechenschaft gezogen werden können. Sie würden niemals absichtlich eine Zeitmaschine stehlen und irgendwann in der Vergangenheit vielleicht Paradoxa erzeugen.« »Wenn nicht absichtlich, dann vielleicht
Atlantis-Patrouille unabsichtlich«, meinte Rhodan. »Oder sollten sie versuchen, in der Vergangenheit die Offiziere des Energiekommandos unschädlich zu machen, die den Anschlag auf Terra planten und ihnen jetzt nach dem Leben trachten?« Mercant blickte mit der Miene eines Unschuldsengels geradeaus. »Ich habe sämtliche verfügbaren Innendienstkräfte angewiesen, alle archivierten und nicht archivierten Aufzeichnungen daraufhin zu untersuchen, ob sie Widersprüche hinsichtlich der Aussagen der drei verschwundenen Akonen und der Tatsachen aufweisen«, sagte er. »Bis jetzt ohne Ergebnis.« Perry Rhodan blickte den Solarmarschall von der Seite an, dann lachte er trocken. »Sie sind noch gewiefter als ich dachte, Allan.« »Ein Geheimdienstchef muß immer gewiefter sein, als andere Menschen denken«, erwiderte Allan D. Mercant. Als sein Armband-Funkgerät summte, schaltete er es ein und winkelte den Unterarm an. »Mercant hier!« meldete er sich. Rhodan beugte sich hinüber, um zu hören, was der Anrufer zu sagen hatte. »Sir, soeben wurde ein privater Fluggleiter auf einem Parkplatz am Kalak Place gefunden – und in seiner Kabine liegen drei paralysierte Akonen, die die Gesuchten sein müssen«, hörte er und wurde blaß. Auch Mercant wurde blaß. »Danke!« sagte er zu dem Anrufer. »Veranlassen Sie, daß der Gleiter und die drei Gesuchten sofort und unauffällig ins Medo-Labor gebracht werden!« Er blickte den Großadministrator an. »Damit bekommt der Fall eine völlig neue Dimension, Perry. Sind Sie sich darüber klar?« Rhodan nickte. »Allerdings, Allan. Die Vermutung liegt nahe, daß es gar nicht die drei Akonen waren, die durch alle Kontrollen bis ins Techno-Labor geschleust und als die Akonen
41 identifiziert wurden. Da die Mitarbeiter der Abwehr aber, wenn schon nicht mentalstabilisiert, so wenigstens durch Hypnoblöcke gegen die Einwirkung von Psychostrahlern immunisiert sind, können sie nur durch Mutanten getäuscht worden sein.« Er blickte auf, als sich ein Mann durch die Menge der herumstehenden Abwehrleute drängte, den er recht gut kannte. Es handelte sich um Oberst Gentro Reiser, einen Einsatzagenten, der zur Elite der Solaren Abwehr zählte. Zur Zeit sah er allerdings nicht nach »Elite« aus, denn seine Kleidung war zerrissen und verschmutzt, und sein linkes Auge verbarg sich hinter einer blaugrünen Schwellung. »Reiser!« stieß Allan D. Mercant hervor. »Was ist mit Ihnen passiert?« Oberst Reiser blieb vor Rhodan und Mercant stehen, salutierte und sagte undeutlich: »Sir, ich muß Ihnen melden, daß Professor Stancovice ein Verräter ist. Er schlug mich nieder, als ich Professor Tolperkohn überwachen wollte, fesselte und knebelte mich und sperrte mich in einen Ölbunker. Ich konnte mich erst jetzt befreien und mußte danach feststellen, daß sowohl Professor Tolperkohn als auch sein extraterrestrischer Patient spurlos verschwunden sind.« »Das wird ja immer schöner!« sagte Rhodan. »Und ich dachte immer, Professor Stancovice würde Ihr volles Vertrauen genießen, Allan.«
* »Er genießt es noch immer«, erklärte der Solarmarschall. Er schaltete sein Armband-Funkgerät ein, rief die Kommunikationszentrale der SolAb und bat darum, Oberst Fangaloa Eneiki zu suchen und ihr auszurichten, sie möchte sich mit ihm in Verbindung setzen. Einige Minuten später erschien das Abbild von Fangaloa Eneikis Gesicht auf dem kleinen Telekom-Bildschirm. »Wo stecken Sie denn, Oberst?« fragte Mercant ungehalten. »Sie hatten den Auf-
42 trag, Professor Tolperkohn überwachen zu lassen.« »Es tut mir leid, Solarmarschall«, sagte Oberst Eneiki. »Professor Tolperkohn muß etwas von meiner Überwachung gemerkt haben. Jedenfalls praktizierte er eine Droge in meinen Drink, die mich für einige Stunden ausschaltete.« »Sie haben sich direkt an ihn herangemacht?« fragte Mercant. »Ich gab ihm die Gelegenheit, mich anzusprechen und mit mir zu flirten«, antwortete Fangaloa Eneiki. »Ein Versteckspiel wäre sinnlos gewesen, da er mich schon kannte. Er wußte also, wer ich war, aber ich hoffte, daß der Anreiz des Weiblichen für ihn stärker sein würde als die Angst vor dem Kontakt mit einem SolAb-Offizier. Leider hatte ich mich getäuscht.« »Ich rechnete damit«, meinte Mercant trocken. »Leider täuschte ich mich in einer Hinsicht auch. Deshalb wissen wir beide nicht, wohin Tolperkohn mit dem Extraterrestrier verschwunden ist.« »Wenn wir Professor Stancovice erwischen, könnten wir es erfahren, Sir«, erwiderte Fangaloa Eneiki eifrig. »Er muß irgendwie in dem Komplott stecken. Jedenfalls, als ich nach meiner Bewußtlosigkeit zur Klinik fuhr, um mich davon zu überzeugen, daß der Extraterrestrier noch dort war, wurde ich Zeuge, wie Tolperkohn in einem Gleiter floh und wie Stancovice ihm in seinem Gleiter folgte. Ich hängte mich an unseren Magie-Experten – und wissen Sie, was der Kerl tat? Er schoß mir eine Störsonde in die Elektronik meines Gleiters, so daß ich über der Region Ala Shan notlanden mußte.« Sie lachte plötzlich triumphierend. »Aber bevor ich abschmierte, habe ich ihm noch eine Detonatorkapsel mit Zeitzünder und Haftkopf hinterhergeschossen. Sie muß vor etwa einer Stunde explodiert sein.« Das Bild auf dem Schirm wackelte, dann schob sich das Abbild von Stancovices Gesicht darüber. »Das ist sie allerdings«, sagte der Magie-
H. G. Ewers Experte erbost. »In der Nähe des Quellgebiets des Hoang-Ho bin ich abgestürzt. Ich habe mir beide Beine gebrochen, weil die Detonation den Antigrav der Rettungskapsel beschädigt hatte. Oberst Eneiki, Sie sind sich hoffentlich klar darüber, daß ich als Vertrauter Loggys eine echte Chance hatte, den Entführern Algonkin-Yattas zu ihrem Versteck zu folgen. Sie haben mir das vermasselt.« »Moment!« rief Rhodan. »Wer ist Loggy – und woher kennen Sie den Namen des Fremden, der uns bis jetzt unbekannt geblieben war?« »Loggy ist ein Partner des Fremden – und von ihm kenne ich den Namen des Fremden«, antwortete Stancovice. »Ein Partner des Fremden?« fragte Allan D. Mercant entgeistert. »Wer soll das sein – und warum wissen wir nichts von ihm, Petrow?« »Weil Loggy nicht wie ein Lebewesen aussieht, sondern ein Kristall ist«, antwortete der Magie-Experte der Solaren Abwehr. »Übrigens wollte er die Zeitkapsel für Algonkin-Yatta hüten.« »Algonkin-Yatta!« sagte Rhodan, an Mercant gewandt. »Allan, Sie haben, wie ich, als Kind des 20. Jahrhunderts noch Dokumentationen und Spielfilme über die Indianerstämme Nordamerikas gesehen. Sagt Ihnen der Name ›Algonkin‹ auch etwas?« Mercant nickte bedächtig. »Der Name Algonkin wurde, soviel ich mich erinnere, von einem einzelnen Indianerstamm am Ottawa entlehnt. Dieser Stamm breitete sich einige hundert Jahre vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus beiderseits der Hudson Bay, im Gebiet der westlichen Großen Seen südwärts bis zum Ohio sowie entlang der atlantischen Küste von Nova Scotia bis North Carolina aus und teilte sich mit wachsender Bevölkerung in viele hundert Stämme auf. Allerdings besaßen die Algonkin keinerlei Ähnlichkeit mit dem schwarzblauhäutigen Fremden, der sich Algonkin-Yatta nennt. Wahrscheinlich gibt es zwischen ihm und den Algonkin keinerlei
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Beziehungen.« Er blickte wieder auf den TelekomBildschirm. »Wo befinden Sie sich jetzt, Petrow?« »In einem Krankenbeförderungsgleiter auf dem Wege nach Terrania City, Sir«, antwortete der Magie-Experte. »Ich hoffe doch, daß ich im SolAb-Hospital aufgenommen werde.« »Absolut klar«, erwiderte Mercant. »Bitte, gehen Sie jetzt aus dem Kanal. Ich erwarte Ihre Meldung, sobald Sie sich in der SolAb-Klinik befinden.« »Ja, Sir!« sagte Petrow Stancovice vergnügt. Im nächsten Moment wurde das Abbild von Oberst Eneikis Gesicht wieder auf dem Bildschirm sichtbar. »Das war doch dieser Hexer!« erwiderte Mercant. »Wissen Sie, daß er sich Ihretwegen beinahe zu Tode gestürzt hatte? Ach, lassen wir das! Jedenfalls beweist mir das ganze Durcheinander, daß Professor Tolperkohn von einer richtigen Organisation unterstützt worden sein muß – und daß es in dieser Organisation wenigstens eine Person mit parapsychischen Fähigkeiten geben muß, sonst wäre die Zeitkapsel nicht gestohlen worden.«
* »Ich gebe Alarm für das Mutantenkorps!« sprach Perry Rhodan in sein ArmbandFunkgerät. »Jeder verfügbare Mutant soll sofort zum Techno-Labor der Solaren Abwehr kommen! Rhodan, Ende!« Er wandte sich wieder an Mercant und sagte: »Ich weiß nur von Goratschin und Son Okura, daß sie auf der Erde sind. Sie haben Urlaub. Alle anderen Mutanten sind im Einsatz außerhalb des Solsystems. Allerdings erwarte ich Kakuta und Betty Toufry in spätestens fünf Tagen zurück. Sie könnten also durchaus noch heute oder morgen eintreffen – oder gerade eingetroffen sein.« Mercant nickte.
»Betty ist meiner Meinung nach die einzige Mutantin, die uns direkt helfen könnte. Ich wette, daß die Entführer der Zeitmaschine früher oder später wieder in der Jetztzeit auftauchen, um Tolperkohn mitzunehmen, der sich irgendwo versteckt haben muß. Sicher hat er Algonkin-Yatta bei sich. Ich frage mich, warum Tolperkohns Assistent keinen Verdacht schöpfte.« »Es sei denn, er gehört dazu und ist geflohen«, meinte Rhodan. »Nein, das ist er nicht«, erwiderte Mercant. »Ich rief ihn vorhin an und bat ihn, herzukommen.« »Hier ist er, Sir!« meldete ein Leutnant und deutete auf einen relativ jungen Mann neben sich. »Guten Tag!« sagte der Mann. »Ich bin Orwell Hynes, Assistent von Professor Tolperkohn am Akul Akiwa Memorial Hospital.« »Was können Sie uns über die Beziehungen zwischen Ihrem Chefarzt und ihrem gemeinsamen Patienten sagen, Doc?« erkundigte sich Mercant freundlich. »Nicht viel, Sir«, antwortete der Mediziner. »Professor Tolperkohn schickte mich nach einem kurzen Einführungsgespräch mit Algonkin-Yatta mit den Speicherkristallen, die die physiologischen Werte des Patienten aufgezeichnet hatten, ins Rechenzentrum, damit ich eine Analyse anfertigte. Das dauerte viereinhalb Stunden, und zwar über den Dienstschluß hinaus. Am nächsten Tage teilte der Professor mich für eine andere Aufgabe ein – und heute habe ich eigentlich meinen freien Tag.« »Es tut mir leid, daß ich Ihnen Ihre Freizeit stehlen muß, aber es ist unumgänglich«, sagte Allan D. Mercant. »Bitte, berichten Sie über das Einführungsgespräch!« Er lächelte den Großadministrator verlegen an. »Es scheint fast so, als wären wir beide die einzigen Menschen gewesen, die über den Fremden Bescheid wußten und seinen Namen nicht kannten, Perry.« Rhodan lächelte seltsam und meinte:
44 »Entweder liegt es daran, daß wir zu beschäftigt sind – oder daran, daß der Fall Algonkin-Yatta eigentlich zu einem anderen Ressort gehört.« »Was uns jetzt nichts mehr nützt«, erwiderte Mercant. »Man hat uns praktisch in den Strudel der anderen Ereignisse hineingerissen, damit wir nicht still vor uns hinrosten.« »Ich verstehe nicht, worüber Sie reden, meine Herren«, warf Orwell Hynes ein. »Sie können es im ›Atlantis-Report‹ nachlesen, der sicher einmal erscheinen wird«, meinte Rhodan. »So ist es«, meinte Mercant. »Und nun berichten Sie bitte, junger Mann!« Hynes nickte eifrig. »Ja, Sir! Also, dieser Algonkin-Yatta analysierte unsere Sprache, ich meine das Interkosmo, nach unseren ersten Worten – und er antwortete in Interkosmo darauf. Er bat uns, ›unserem‹ Obmann die besten Grüße zu übermitteln.« »Dachte er, er wäre auf Plophos?« fragte Rhodan. »Kennt er meine Frau?« Hynes schüttelte den Kopf. »Das dachten wir zuerst auch, Sir. Aber dann beschrieb Algonkin-Yatta uns die Erkennungszeichen des plophosischen Raumschiffs, dem er einmal begegnet war – und wir merkten, daß es ein Raumschiff des Obmanns Iratio Hondro war.« »Iratio Hondro ist seit dreihundertzwanzig Jahren tot!« entfuhr es Rhodan. Hynes nickte. »Demnach muß Algonkin-Yatta sehr alt sein, Sir.« Mercant runzelte die Stirn. »Ist Ihnen noch nicht der Gedanke gekommen, Algonkin-Yatta könnte ein Zeitreisender sein? Und hat er auch nichts Derartiges gesagt?« »Nichts dergleichen, Sir«, antwortete der Mediziner. Seine Augen weiteten sich. Rhodan folgte seiner Blickrichtung mit den Augen und sah, welcher Anblick den Assistenzarzt so überrascht hatte.
H. G. Ewers Soeben war der Mutant Iwan Iwanowitsch Goratschin durch ein Tor in die Halle gekommen. Der »Zünder« wirkte mit seinem 2,75 Meter großen Körper, den beiden dicht zusammenstehenden Köpfen und der grünen Haut auf jeden, der den Anblick nicht gewöhnt war, schockierend. Während die beiden Köpfe sich in einer fremden Sprache (es handelte sich um präkosmisches Russisch) über irgend etwas stritten, stapfte der Gigant näher. In seinem »Kielwasser« ging ein Mann, dessen schmächtiger Körperbau gerade bei der Anwesenheit Goratschins auffiel. Es handelte sich um den »Frequenzseher« Son Okura. »Hallo, die Herren!« dröhnte Iwan Goratschins Stimme durch den Saal. Er baute sich vor Rhodan und Mercant auf. »Ich habe meinem jüngeren Bruder gesagt, daß Atlan eines Tages zurückkehren wird, aber Brüderchen will es nicht glauben. Was meinen Sie dazu?« »Ich habe nicht gesagt, ich würde es nicht glauben, du Wortverdreher!« schimpfte Iwanowitsch. »Ich sagte nur, ich hätte gewisse Zweifel, denn meiner Ansicht nach ist Atlantis nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit verschwunden. Man brauchte schon eine Zeitmaschine, um ihr nachzueilen und Atlan zu helfen.« Rhodan und Mercant blickten sich an, dann meinte der Großadministrator: »Iwan und Iwanowitsch, mein Kompliment! Genau das, nämlich eine Zeitmaschine, haben wir. Das heißt, wir haben sie nicht mehr, denn sie wurde uns aus dem TechnoLabor gestohlen und befindet sich wahrscheinlich in einer anderen Zeit. Aber sie wird in unsere Zeit zurückkehren – und dann müssen wir schnell zupacken.« »Wie können wir dabei helfen, Sir?« fragte Son Okura mit zaghaftem Lächeln und rückte seine Brille gerade. »Wir werden es Ihnen gleich erklären«, antwortete Perry Rhodan. »Vorher aber muß ich Ihnen noch mitteilen, daß ich deshalb Alarm für das Solare Mutantenkorps gegeben habe, weil an dem Raub der Zeitkapsel
Atlantis-Patrouille aus dem Techno-Labor der Solaren Abwehr mit großer Wahrscheinlichkeit eine parapsychisch hochbegabte Person beteiligt war.« »Also ein Mutant, der auf der anderen Seite des Gesetzes steht«, dröhnten Goratschins Stimmen gleichzeitig auf. »Wir werden ihm den Hals umdrehen!« Okura nahm seine Brille ab, putzte die Gläser mit einem Läppchen, setzte sie wieder auf und sagte: »Ich stimme gegen diesen Vorschlag, Großadministrator, denn erstens bin ich prinzipiell gegen die Anwendung von Gewalt jeder Art und zweitens halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß dieser Bruder im Geiste – oder diese Schwester im Geiste – von skrupellosen Verbrechern ausgenutzt wird.« »Die Goratschins haben es nicht wörtlich gemeint, Okura«, warf Allan D. Mercant ein. »Selbstverständlich nicht!« röhrte Iwanowitsch. »Wir werden doch ein Brüderchen oder ein Schwesterchen nicht umbringen, bloß weil es eine dumme Zeitmaschine gestohlen hat!« rief Iwan und wischte sich eine Träne aus dem linken Auge. Perry Rhodan preßte die Lippen zusammen. Er kannte diese Solidarität aller Mutanten untereinander. Sie entsprang der Verbundenheit, die durch ihr gemeinsames Schicksal gewachsen war, denn kein Mutant und keine Mutantin konnten genauso wie normale Menschen leben. Sie mußten ihre Selbstkontrolle und Selbstdisziplin bis zum Extrem steigern, um nicht aufzufallen oder gar Unheil anzurichten – und wenn man ihre Fähigkeiten entdeckte, mußten sie sich entscheiden, ob sie für oder gegen das Gesetz arbeiten wollten. Ein Ausweichen war unmöglich, und manchmal entschied nur ein Zufall darüber, wie ein Mutant sich entschied. »Ich denke, wir verstehen uns«, sagte er. »Ihr wißt, was ihr von Allan und mir zu halten habt. Wir werden nichts von euch verlangen, das ihr nicht freiwillig geben wollt.
45 Es kommt uns nicht darauf an, einen Mutanten oder eine Mutantin einzufangen, sondern darauf, einen Besucher aus der Gewalt seiner Entführer zu befreien und zu verhindern, daß Verbrecher mit seiner Zeitmaschine unermeßlichen Schaden anrichten.« Die Goratschins schluckten. »Ja, Chef, Sie können sich auf uns verlassen«, sagten sie wie aus einem Mund. »Geben Sie mir einen räumlichen Anhaltspunkt, wohin die Entführer sich gewandt haben könnten, und ich werde sie aufspüren!« versicherte Son Okura. »Gehen wir in meinem Büro alles durch!« sagte Allan D. Mercant.
9. RÜCKKEHR ZUR BASIS Anlytha starrte aus ihrem Baumwipfelversteck fasziniert zu dem tropfenförmigen Raumschiff hinüber, das urplötzlich auf einer zirka fünfhundert Meter entfernten Lichtung sichtbar geworden war. Es war keineswegs plötzlich materialisiert, sondern schon vor etwa zehn Minuten gelandet. Die entsprechenden Geräusche waren von Anlytha gehört worden. Sie nahm an, daß die Besatzung ihr Schiff mit Lichtwellenumlenkern unsichtbar gemacht hatte, bis sie sicher war, daß sich auf dem vierten Planeten der beiden blauen Sonnen keine Feinde aufhielten. Anlytha überlegte, ob die Ortungsgeräte des Schiffes das Kundschafterschiff entdecken konnten. Sie kam zu dem Schluß, daß das unmöglich war, denn Algonkin-Yattas Schiff lag in einer Höhle, die rund tausend Kilometer vom Landeplatz des Tropfenschiffs entfernt war und hatte sich außerdem mit je einem Anti-Ortungsschirm und Tarnfeld gegen Entdeckung geschützt. Anlytha war lediglich mit ihrem Tornister-Flugaggregat in diese Gegend gekommen. Sie hatte sich bis zur Ankunft des Tropfenschiffs gelangweilt, denn erstens fehlte ihr Algonkin-Yatta sehr und zweitens gab es nirgends auf diesem Planeten intelli-
46 gente Wesen, die Kunstgegenstände herstellten. Jedenfalls hatte es sie bis jetzt nicht gegeben. Mit der Landung der Unbekannten hatte sich das geändert, denn es war sehr wohl möglich, daß eine raumfahrende Zivilisation auch künstlerische Materialgestaltung praktizierte. Anlytha hielt den Atem an, als sich in dem Schiff eine Luke öffnete. Endlich würde sie sehen, welche Gestalt die fremden Besucher besaßen! Doch als sich nach einer halben Stunde immer noch niemand in der Luke gezeigt hatte, seufzte Anlytha enttäuscht. Offenbar durchlüfteten die Besucher ihr Schiff nur. Das war nicht gerade unterhaltsam für Anlytha. Deshalb beschloß sie, den Fremden einen Besuch abzustatten. Sie konzentrierte sich auf ihre psionische Fähigkeit, anderen Lebewesen etwas vorzugaukeln und gab sich das Aussehen eines großen Laufvogels. Diese Vorstellungsprojektion fiel ihr leicht, da sie selbst einem Volk angehörte, das von vogelartigen Lebewesen abstammte. Allerdings konnte Anlytha das nur vermuten beziehungsweise aus zahlreichen Anzeichen schließen, denn sie besaß keine Erinnerung an ihre Vergangenheit und ihre Herkunft. Algonkin-Yatta hatte sie vor ungefähr einem Sternenjahr in einem havarierten Kleinraumschiff gefunden, das in der Leere zwischen den Sternen trieb. Er hatte sie aus dem Pilotensitz gerettet, doch sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was davor gewesen war. Offenkundig hatte sie bei dem Unfall im Raum ihr Gedächtnis verloren. Seitdem war sie mit dem Kundschafter von Ruoryc zusammengeblieben, hatte sich an der Suche nach Atlan beteiligt und war in zahlreiche gefährliche Abenteuer verwickelt worden. Und als Algonkin-Yatta mit der Zeitkapsel eines ausgestorbenen Volkes zu einer Expedition gestartet war, die ihm neue Hinweise auf Atlans Weg durchs Universum bringen sollte, war Anlytha als Hüterin sei-
H. G. Ewers nes Kundschafterschiffs auf dem Planeten der beiden blauen Sonnen geblieben. Vom Planeten aus konnte man allerdings immer nur die eine der beiden Sonnen sehen, denn obwohl sie beide blau leuchteten, unterschieden sie sich doch fundamental voneinander. Während der eine, am weitesten vom vierten Planeten entfernte Stern ein »gewöhnlicher« blauer Sternenriese war, hatte sein erheblich näherer Begleiter sein Leben sozusagen bereits hinter sich. Er hatte nach der Kristallisation der Kernmaterie eine Beschleunigung des Temperaturabfalls »erlebt«, war über das Stadium des »Weißen Zwergs« gesprungen und gleich zu einem »entarteten Zwerg« von blauer Färbung geworden, dessen Oberflächentemperatur bei knapp tausend Grad Kelvin lag. Algonkin-Yatta und Anlytha hatten ihn nur mit Hilfe der Ortungsinstrumente des Kundschafterschiffs entdeckt, als sie ins System einflogen und nach einem Planeten suchten, auf dem das Kundschafterschiff in Sicherheit war, während der Kundschafter eine Zeitexpedition startete. Völlig in Gedanken versunken, spazierte Anlytha aus dem Wald auf die Lichtung mit dem Tropfenschiff hinaus. Plötzlich erstarrte sie. Wenige Meter neben ihr bewegten sich die Halme des kurzen rötlichen Fächergrases in ganz bestimmter Art und Weise. Während an einer Stelle die fächer- oder büschelförmigen Blattspitzen sich bis dicht über den Boden senkten, wobei sie sich eng aneinanderpreßten, erhoben sie sich an einer anderen Stelle wieder zur normalen Höhe. Und das alles geschah im ständigen Wechsel. Jemand, der zwei Beine besaß, ging über das Gras der Lichtung. Jemand, der sich unsichtbar machen konnte! Im ersten Schreck hätte Anlytha beinahe aufgeschrien und wäre voller Panik geflohen. Gerade noch rechtzeitig dachte sie daran, daß sie selbst nicht als intelligentes Lebewesen zu erkennen war.
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Sie wollte ihren Weg zum Schiff fortsetzen, als sie bemerkte, daß der Unsichtbare stehengeblieben war. Er interessiert sich für mich! dachte sie. Im nächsten Augenblick eilten die Fußabdrücke auf sie zu. Dann spürte sie sich von Greifwerkzeugen gepackt, die sich wie trockener warmer Gummi anfühlten. Da der Unsichtbare nicht sah, wie sie wirklich gebaut war, hätte Anlytha sich leicht aus seinem Griff befreien können. Aber da wurde sie von der anderen Seite von einem zweiten Unsichtbaren gepackt – und gleichzeitig überlegte sie sich, daß es sicher aufschlußreich wäre, sich an Bord des Tropfenschiffs bringen zu lassen, da die Besucher sich dort wohl kaum unsichtbar machen würden. Sie bewegte sich so, daß die Unsichtbaren sie besser packen konnten, und stieß dabei ein vogelartiges Kreischen aus, das den Fremden bestätigen sollte, daß sie es mit einer niederen Kreatur zu tun hatten, vor der sie sich nicht zu fürchten brauchten. Allerdings vermochte sie der Versuchung nicht zu widerstehen, den körperlichen Kontakt mit den Unsichtbaren zu einigen kleinen Diebereien auszunutzen. Sie erbeutete eine Kette mit zahllosen winzigen Metallkugeln, einen Sternchronographen und ein zwiebelförmiges Gebilde, das einen unbeschreiblichen Geruch ausströmte, bei dem es Anlytha übel wurde. Aber Beute war Beute, und der erste Geruch konnte täuschen. Die beiden Unsichtbaren merkten nichts von den Diebstählen. Sie schleiften ihre vermeintliche Beute ziemlich unsanft auf die offene Schleuse des Schiffes zu – und bis sie die Schleuse erreichten, spürte Anlytha die Griffe von mindestens fünf Unsichtbaren. Und als die Schleuse sich hinter ihr und ihren »Einfängern« schloß, wurden die Fremden allmählich sichtbar!
* Fasziniert blickte Anlytha auf die arkonidengroßen, pfahlförmigen Gestalten, die scheinbar allmählich aus dem Nichts heraus
materialisierten. Die dürren Körper wurden von blaßgrauer gummiartiger Haut umspannt. Reptilienhaut! durchfuhr es Anlytha. Und der Anblick der drei Augen, die auf dem lederhäutigen, halb echsen-, halb entenförmigen Schädel gleich den Eckpunkten eines gleichseitigen Dreiecks verteilt waren, bestätigte den Eindruck des Reptilhaftigen. Die dürren Körper besaßen übrigens drei Beine und nicht zwei, wie ihre Fortbewegungsart hatte vermuten lassen. Das dritte Bein wurde offenbar nicht zum Gehen verwendet, denn es endete nicht in einem Fuß, sondern in einer Rosette. Die schlauchdünnen Hälse wiesen am Schulteransatz knotenartige faustgroße Verdickungen auf – und dort, wo der Kopf aufsaß, befanden sich weitere Verdickungen. Die Arme baumelten gleich fadendünnen Dingern zu beiden Seiten der Pfahlkörper herab. Aber Anlytha wußte aus Erfahrung, daß in ihnen und in den noch zarter wirkenden Greiforganen eine gehörige Portion physischer Kraft stak. Nach Geräten, mit denen die Fremden sich unsichtbar machen konnten, schaute Anlytha allerdings vergeblich aus. Am liebsten hätte Anlytha die Fremden gefragt, wer sie waren und von welchem Planeten sie stammten. Sie mußte sich gewaltsam zusammenreißen, um sich nicht als intelligentes Lebewesen zu verraten, denn das hätte ihr den Spaß verdorben. Als die Fremden, die sie bisher festgehalten hatten, sie losließen, stürmte sie kreischend davon. Ungefähr zehn oder zwölf Fremde stürzten ihr so vehement nach, daß sie sich selber behinderten und sich zu einem Knäuel verflochten, das sich nur mühsam wieder auflöste. Das war die Chance, auf die Anlytha gewartet hatte! Sie gaukelte den Fremden das gleiche Aussehen wie sie vor – und ließ damit den »Laufvogel«, den sie bisher dargestellt hatte, wie in einer Versenkung verschwinden. Der Fremden bemächtigte sich große Auf-
48 regung, als sie feststellten, daß das eingefangene »Tier« sich nicht mehr in der Halle hinter der Bodenschleuse befand, sondern offenbar in eine andere Sektion des Schiffes geflüchtet war. Sie verständigten sich mit einer Serie von Zischlauten, bildeten Vierergruppen und stoben auseinander. Anlytha nahm aktiv an der Gruppenbildung teil und gehörte dadurch ebenfalls zu einer Vierergruppe, die den Auftrag hatte, nach ihr zu suchen. Das erheiterte sie dermaßen, daß sie beinahe vergessen hätte, sich ein paar Kleinigkeiten anzueignen. Rasch holte sie es nach. Drei der zahlreichen Taschen auf ihrem breiten schwarzen Hüftgürtel waren nunmehr mit Beute gefüllt. Doch besonders befriedigend fand sie ihre Beute bisher nicht. Sie verlor die Lust, weiter hinter sich herzujagen und blieb hinter den anderen drei Individuen ihrer Gruppe zurück. Sie merkten es überhaupt nicht. Langsam schlenderte Anlytha durch den Hauptkorridor. Sie suchte die Steuerzentrale des Schiffes. Es interessierte sie, woher die seltsamen Wesen kamen und welches Ziel sie verfolgten. Unterwegs begegnete sie mehrmals einzelnen Pfahlwesen, aber sie alle erlagen der psionischen Beeinflussung Anlythas, die ihnen vorgaukelte, sie wäre ein Artgenosse. In der Steuerzentrale angekommen, fand sie neun Reptilienabkömmlinge vor, die entweder in ihrer zischelnden Sprache miteinander redeten oder über die Bordsprechanlage mit anderen Artgenossen in Verbindung standen. Alle wirkten ziemlich aufgeregt. Anlytha nahm an, daß die Aufregung ihretwegen entstanden war. Es mußte schon ganz schön beunruhigend wirken, wenn ein eben erst eingefangenes Tier sich im Schiff jeder Verfolgung entzog. Nach einiger Zeit hatte Anlytha gefunden, was sie suchte: die Kursdatenspeicheranlage im Frontsektor der Bordpositronik. Behutsam schob sie sich an der Wand entlang dorthin. Sie wußte, daß ihr Verhalten auffallen mußte, sobald die Fremden sie beachte-
H. G. Ewers ten. Doch sie hatte Glück. Die Fremden waren so sehr mit ihrem derzeitigen Hauptproblem beschäftigt, daß sie keine Augen für ihre Umgebung hatten. Beim Frontsektor der Bordpositronik angekommen, stellte Anlytha fest, daß es sich um eine ungewöhnlich hochwertige Anlage handelte, die sogar mit einer bionischen Komponente versehen war. Sie war zweifellos besser als die der arkonidischen Raumschiffe, die Anlytha und Algonkin-Yatta bisher kennengelernt hatten. Vorsichtig schob sie die Klappe zurück, die den Kursdatenspeicher verdeckte. In der rechteckigen und zirka dreißig Zentimeter tiefen Nische dahinter blitzten die Speicherkristalle gleich hochkarätigen und exzellent geschliffenen Diamanten in ihren Haltefeldern. Dahinter lagen drei Reihen dichtgepackter Mikroprozessoren, mit denen bestimmte Speicherkristalle zusammengeschaltet wurden, wenn das Schiff im Raum navigierte. Eigentlich hatte Anlytha ja nur den Speicherkristall mitnehmen wollen, der ganz vorn in der Reihe »hing« und demnach den Flug der Fremden von ihrer Heimatwelt oder Basis zu der Welt der zwei blauen Sonnen aufgezeichnet hatte, aber die anderen Kristalle gefielen ihr viel zu gut, als daß sie der Versuchung widerstehen konnte, sie alle mitzunehmen. Fast andächtig zog sie die Kristalle nach und nach mit einem Magnetstift aus ihren Haltfeldern und verstaute sie in zwei ihrer Gürteltaschen. Danach schob sie die Klappe wieder über die Öffnung. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, daß drei der Fremden sie mit ihren Reptilienaugen anstarrten. Da sie aber keine feindselige Haltung einnahmen, waren sie offenbar nur verwundert darüber, daß ein »Artgenosse« sich nicht an der allgemeinen Diskussion über das im Schiff herumirrende »Tier« beteiligte. Anlytha wußte, daß die Lage dennoch kritisch war. Bestimmt bestand die Besatzung der Steuerzentrale nur aus einer bestimmten
Atlantis-Patrouille Anzahl von Individuen. Wenn einer der Fremden nachzählte und feststellte, daß einer zuviel vorhanden war, würde er sich Gedanken darüber machen. Doch daran dachte anscheinend niemand. Zwei der Fremden schauten wieder weg und diskutierten über die Bordsprechanlage mit Artgenossen. Der dritte Fremde deutete auf ein freies Bildsprechgerät und gab eine Folge von zischelnden und knarrenden Lauten von sich. Ohne erst zu überlegen, ahmte Anlytha einige dieser Laute nach. Und plötzlich fuhren die Köpfe aller Anwesenden zu ihr herum. Siebenundzwanzig Reptilienaugen starrten sie an. Anlytha ahnte, daß sie in Unkenntnis der fremden Sprache entweder völligen Unsinn gesagt oder aber etwas Ungehöriges von sich gegeben hatte. Der Fremde, der sie angesprochen hatte, sagte abermals etwas zu ihr. Am Tonfall glaubte Anlytha herauszuhören, daß es sich um eine Frage handelte. Aber diesmal verzichtete sie auf eine Erwiderung, die den Verdacht gegen sie nur hätte verstärken können. Statt dessen konzentrierte sie sich darauf, den Fremden den Eindruck einer transparenten Spirale vorzugaukeln, in der sie sich befanden. Beinahe sofort fingen die Fremden an, wie betrunken in der Steuerzentrale umherzutorkeln. Sie stießen dabei krächzende und fauchende Laute aus, tasteten ziellos umher und prallten immer wieder gegeneinander, da Anlytha ihnen viel größere Entfernungen vorgaukelte, als es der Wirklichkeit entsprach. Behutsam stieg Anlytha über drei ineinander verknotete Fremde, die sich auf dem Boden wälzten. Sie wich den herumfuchtelnden dünnen Armen eines anderen Fremden aus und erreichte schließlich das nach außen führende Schott. Gerade öffnete sich das Schott vor ihr, als es einem der Fremden gelang, durch Druck auf eine Schaltplatte Alarm auszulösen. Anlytha warf sich schnell durch die Öffnung.
49 Im nächsten Augenblick schloß sich das Schott hinter ihr. Sie erschrak, als sie kurz darauf das Rumoren hochgeschalteter Kraftstationen vernahm. Die Fremden wollten starten und diese Welt verlassen – und sie würde unfreiwillig mitfliegen, da während des Alarms sämtliche Schotte zentralverriegelt wurden, also auch die Schleusenschotte. Das Rumoren steigerte sich zu einem fast infernalischen Tosen, dann brach es schlagartig ab. Anlytha überlegte, ob sich das Schiff schon im Raum befand und deshalb der Antrieb ausgeschaltet worden war. Doch nach einer Weile war sie sicher, daß das Schiff nicht abgehoben hatte. Als erfahrene Raumfahrerin hätte sie das gespürt. Plötzlich wurde ihr klar, daß das Schiff überhaupt nicht hatte starten können, denn sie hatte ja sämtliche Speicherkristalle gestohlen – und dazu gehörten auch die Speicherkristalle für Starts und Landungen. Sie kicherte. Die Fremden würden einige harte Nüsse zu knacken haben, bevor sie neutrale Speicherkristalle so programmiert hatten, daß mit ihrer Hilfe die Mikroprozessoren befähigt wurden, alle erforderlichen Manöver zu steuern. Zufällig blickte sie auf eine polierte Metallplatte der Korridorwand – und sah sich so, wie sie wirklich war: 1,33 Meter groß, humanoid, fliederfarbene porzellanartige Haut, statt Haarwuchs ein weißer Federkamm auf dem Kopf, enganliegende silberfarbene Kleidung und breiter schwarzer Gürtel. Ihr Kichern brach ab. Sie hatte vergessen, ihre psionische Ausstrahlung aufrecht zu erhalten, und das war ein Verstoß gegen ihre eigenen Regeln. Außerdem konnte es gefährlich werden, wie sie gleich erfuhr. Einer der Fremden trat aus einem Seitengang, erblickte Anlytha, stieß einen schrillen Pfiff aus und zog seine Strahlwaffe. Der Energiestrahl zuckte knapp einen halben
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Meter an Anlytha vorbei. Anlytha pfiff ebenfalls, aber voller Empörung. Jemand hatte gewagt, auf sie zu schießen – und noch dazu mit einer tödlichen Waffe. Eine Front psionischer Energie verließ ihr Gehirn und traf in Form einer dimensional übergeordneten Schockwelle die Gehirne der Fremden. Sie gaukelte ihnen eine totale Instabilität der Materie vor, die ihre Umgebung bildete. Anlytha hatte keine Mühe, in dem folgenden chaotischen Durcheinander aus dem Schiff zu entkommen. Aber der Schuß, der sie fast getroffen hätte, war zuviel für sie gewesen. Er hatte sie nicht nur erschreckt, sondern auch gekränkt. Mit Wesen, die auf eine unbewaffnete Besucherin schossen, wollte sie nichts mehr zu tun haben. Sie schaltete ihr Flugaggregat ein und flog dicht über dem Boden davon.
* Als sie sich dem Versteck des Kundschafterschiffs näherte, sah sie schon von weitem die silberfarbene Konstruktion der Zeitkapsel darüber schweben. »Algonkin!« rief Anlytha entzückt und beschleunigte. Ihr Herz klopfte heftig, als sie die Zeitkapsel erreichte. Hastig betätigte sie den Öffnungsmechanismus der Schleuse. Sie dachte überhaupt nicht an die Möglichkeit, daß die Zeitkapsel leer zurückgekehrt sein könnte. Deshalb schaute sie sich ungläubig im Innenraum um, nachdem sie das Schleusenschott geöffnet hatte. »Algonkin …?« rief sie zaghaft. »Algonkin ist nicht mitgekommen, Anlytha«, glaubte sie sich selbst sagen zu hören. Aber dann merkte sie, daß sie die Worte nur gedacht hatte – und daß die Gedanken ihr von einer anderen Wesenheit eingegeben worden waren. »Loggy!« sagte sie. Der kugelförmige Kristall, der nach eigenen Aussagen ursprünglich ein Orientie-
rungselement des Zeitauges gewesen war, das vom Luna-Clan gebaut wurde und das durch die Begegnung mit einem Psi-Roboter und zuletzt mit etwas Unbekanntem zwischen den Zeitströmen modifiziert und auch äußerlich verwandelt worden war, schwebte in Anlythas Blickfeld. »Ich bin allein zurückgekehrt, weil Algonkin-Yatta ohne unsere gemeinsame Hilfe nicht befreit werden kann«, ließ Loggy die Freundin des Kundschafters denken. »Er befindet sich auf einem Planeten namens Erde und ist zwischen die Intrigen von Menschen geraten, die unsere Zeitkapsel an sich reißen wollen.« »Menschen?« wiederholte Anlytha. »Bösartige Lebewesen?« »Teils, teils«, erwiderte Loggy. »Sie werden mich kennenlernen!« erklärte Anlytha. »Kannst du uns überhaupt wieder in den richtigen Raum und in die richtige Zeit bringen, damit wir Algonkin nicht verfehlen?« »Ich kann es, weil ich festgestellt habe, daß ich auf dem Mond dieses Planeten entstanden bin – in meiner ursprünglichen Form. Das ist eine gute Orientierungshilfe für mich.« »Ausgezeichnet«, sagte Anlytha. »Ich hole nur schnell meine Sonderausrüstung aus dem Kundschafterschiff, dann können wir aufbrechen. Warte hier auf mich, ja?« »Selbstverständlich«, formte sich die Antwort in ihren Gedanken. »Ich bin ja nicht gekommen, um allein wieder aufzubrechen.« »Schon gut!« erwiderte Anlytha, während sie zum Versteck des Kundschafterschiffs flog. »Menschen! Ha, diesen Wesen werde ich es zeigen! Wartet nur, bis Anlytha kommt!«
ENDE
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