Marcello Argilli
Der Kinderbuchverlag Berlin
Übersetzung aus dem Italienischen von Egon Wiszniewsky Originaltitel:...
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Marcello Argilli
Der Kinderbuchverlag Berlin
Übersetzung aus dem Italienischen von Egon Wiszniewsky Originaltitel: Atomino Illustrationen von Vinicio Berti
Gescannt von c0y0te.
Nicht seitenkonkordant.
Dieses e-Buch ist eine Privatkopie und nicht zum Verkauf bestimmt!
Alle Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic Lizenz-Nr. 304-270/26/70-(20) Satz und Druck: Leipziger Druckhaus, Grafischer Großbetrieb Verarbeitung: VEB Interdruck, Leipzig • 1. Auflage ES 9C 3-Preis 4,80 Für Leser von 10 Jahren an
Liebe Kinder! Bei Geschichten, die in fremden Ländern spielen, ist es immer schwierig, die Eigennamen richtig auszusprechen. Und das wollt Ihr doch. Deshalb ein Hinweis. Im Italienischen werden die meisten Wörter auf der vorletz ten Silbe betont. Ihr habt gewiß schon von den bekannten Makkaroni gehört. Nach derselben Regel heißen die Haupt personen der vorliegenden Erzählung also Ato-míno, Smeral dína, Zacca-ría, Fanta-sío und Sime-óne. Und nun viel Spaß mit ATOMINO
Erstes Kapitel Eines Tages in einer Atomzentrale Es ist meine eigne Schuld. Man hätte eben eine klare Abma chung treffen, ja mehr noch, vor Zeugen einen Vertrag mit Stempel unterzeichnen müssen. Dabei schienen es so nette Leutchen zu sein, statt dessen … Nicht etwa, daß sie unfreund lich wären, das nicht, aber immer so zerstreut, so beschäftigt. Nie krault mich einer oder wirft mir gar einen Papierball zum Spielen zu. Wenn sie auch Professoren von Rang sind, sie würden dabei nichts von ihrer Würde einbüßen. Aber sie be achten mich überhaupt nicht. Schaut sie euch doch an! Seit Stunden stehen sie da und starren auf die Schalttafeln oder schreiben Zahlen in ihre Hefte. Was finden sie nur so interes sant daran? Mit mir spielen wäre bestimmt hundertmal lusti ger für sie. Schließlich bin ich kein gewöhnlicher Kater, o nein! Ich will mich zwar nicht rühmen, aber ich bin reinrassig, hun dert Prozent reinrassig. Na schön, sagen wir neunzig Prozent. Immerhin, ob neunzig oder achtzig Prozent reinrassig – ein bißchen Aufmerksamkeit hätte ich schon verdient. Das scheint mir nicht zuviel verlangt … Wenn ich wenigstens zum Zeitver treib Mäuse fangen könnte! Aber an diesem sterbenslangweili gen Ort mit all den emaillierten Armaturen würde man nicht einmal mit einer Laterne eine Maus finden. Von einem Vögel chen ganz zu schweigen. Könnte ich doch bloß eins bewun dern, wenn es auf einem niedrigen Ast hockt, könnte ich sei nem entzückenden Zwitschern lauschen, mich an dem be zaubernden Tirili ergötzen! O ja, ich habe eine dichterische Ader. Dasitzen und ihm voller Verzückung lauschen, und 7
wenn es dann den höchsten und feinsten Triller erreicht hat – schwups! es mit den Krallen packen. Die schmecken ja so gut, die Vögelchen, aber hier findet man nicht die Spur von ihnen. Da fällt mir ein, hoffentlich vergißt der Koch meine Lunge nicht. Zugegeben, was das Essen betrifft, so kann ich mich nicht beklagen. Wenn sie bloß nicht die dumme Angewohnheit hätten, die Lunge zu kochen! Sie wollen einfach nicht kapieren, daß ein Kater sie lieber roh mag. Aber mal sehen, was die Ge lehrten heute wieder austüfteln, fürs Essen ist es ohnehin zu früh. Unter einer großen Rechenmaschine zusammengekauert, belauerte der Kater, was sich in dem großen Versuchssaal ab spielte. Das war der einzige Raum der Atomzentrale, in den er nicht hinein durfte. Denn auf dem Schildchen an der Tür stand: Unbefugten ist der Zutritt strengstens verboten! Als ob er nicht zum Haus gehörte! War er der Kater der Atomzentrale, oder war er es nicht? Deshalb hatte er durchaus das Recht, wenn auch heimlich, zu kontrollieren, was die Wis senschaftler hier drin ausheckten. Die Dummköpfe! In ihren weißen Kitteln glotzten sie mit verliebten Augen die komische Maschine mitten im Saal an. Sie sah aus wie ein Riesenkoch topf, besonders wegen ihres Deckels, und glich haargenau dem Gefäß, in dem in der Küche täglich seine Portion Lunge zubereitet wurde. Bei dem Gedanken daran leckte er sich den Schnurrbart. Er war jedoch kein nur aufs Fressen versessener Kater. Für eine einzige Liebkosung seiner Herrchen hätte er sogar auf die Lunge verzichtet. Schön, nicht auf die ganze, aber auf ein paar Happen schon. Todernst wie Schulkinder lauschten alle dem Professor Senior, dem Direktor, dem mit dem Bart. Dabei war der Gelehrte mit dem niedrigsten Bildungsgrad unter ihnen immerhin Doktor. Es waren lauter Professoren, Ingenieure, Chemiker, Physiker, und alle hatten mindestens zwei oder 8
drei Diplome. Was für ein langweiliges Volk, dachte der Kater, die Kinder sind tausendmal lustiger. Sie wollen wenigstens immer spielen, auch wenn sie es bisweilen zu toll treiben und unsereins am Schwanz ziehen. „Werte Kollegen“, sagte unterdessen der Professor Senior, „das Experiment, das wir heute zu Ende bringen werden, stellt eine Wende in der Geschichte der Menschheit dar. Bis lang wurde Atomenergie aus den Atomen des Urans gewon nen, da sie am leichtesten zu spalten sind. Wir dagegen wer den zum erstenmal versuchen, sie nicht nur aus den Atomen des Urans zu gewinnen, sondern auch aus allen anderen Ele menten, aus Eisen, Plutonium, Zink, Radium, Thor …“ Der Direktor zeigte dabei auf lange mechanische Arme, die über dem riesigen, säulenförmigen Topf schwebten. Am Ende eines jeden Arms war ein kleines Gefäß befestigt, das ein Eti kett mit der Aufschrift trug: Eisen, Plutonium, Zink oder Ra dium. Der Kater warf einen Blick auf die sonderbaren Arme. Wirklich verrückt! Wegen dieses Humbugs schlössen die sich in den Versuchssaal ein. Jeden Tag heckten sie was Neues aus. Statt ihre Zeit mit so einem Unsinn zu vergeuden, dachte er, sollten sie lieber eine Maus erfinden. Meinetwegen eine von den kleinen, flinken Feldmäusen, die zu fangen so viel Spaß macht. „Wir werden diese Elemente in den von uns gebauten Atomreaktor hineingeben“, fuhr der Direktor fort, „und mit Hilfe einer Kettenreaktion werden wir eine gewaltige Menge Atomenergie erhalten. Ein jeder dieser Knöpfe“, er zeigte auf eine Schalttafel vor sich, „wird einen mechanischen Arm in Bewegung setzen. Der wird dann Atome eines unterschiedli chen Elementes in den Reaktor einführen.“ Der Kater streckte den Kopf vor, um besser sehen zu kön nen. 9
Auf dem Schaltpult waren viele bunte Knöpfchen. „Kollegen, wenn dieses außergewöhnliche Experiment ge lingt, werden wir über gewaltige Mengen Atomenergie verfü gen. Die können wir dann für das Wohl der Menschheit ein setzen.“ „Dann werden wir unzählige Fabriken mit Elektrizität belie fern können“, sagte ein Ingenieur. „Wir werden Tausende von Atomschiffen antreiben kön nen“, meinte ein anderer. „… so viel Wärme erzeugen, daß wir damit die Eisfelder der Antarktis zum Schmelzen bringen können“, bemerkte ein Geologe. „Die Menschheit wird dann über einen neuen Konti nent verfügen.“ „Wir werden die Wüsten fruchtbar machen…“ „… und Atomraketen zur Erforschung des Weltalls bauen.“ Der Kater gähnte gelangweilt. Diese Reden kannte er aus wendig; in der Atomzentrale sprach man von nichts anderem als vom Wohl der Menschheit, dem Fortschritt, der schöner werdenden Welt. Nie, daß sich einer Gedanken über das Wohl der Katzenheit machte. Diesmal gebärdeten sich die Gelehrten im übrigen alberner als sonst. Immer so ernst und gesetzt. Die würden nicht einmal aus dem Häuschen geraten, wenn sie hundert Millionen im Fußballtoto gewönnen. „Werden wir auch die Nester der Vögel erwärmen kön nen?“ fragte ein junges, schüchternes Doktorchen, „damit sie im Winter nicht frieren und nicht wegzufliegen brauchen?“ „Gewiß“, sagte der Direktor. Der Kater spitzte die Ohren. Das schüchterne Doktorchen schien ein freundliches Gemüt und mehr Phantasie als die an deren zu haben. Wer weiß, ob er außer an die Vögel auch an die edle Rasse der Katzen dachte? „Kann man dann auch kleine Raketen für Kinder bauen“, 10
fuhr das Doktorchen voller Eifer fort, „damit sie eine halbe Stunde länger schlafen können, ohne zu spät zur Schule zu kommen?“ „Freilich.“ „Würde auch noch ein wenig Atomenergie übrigbleiben, um die Mädchen von den Sommersprossen zu befreien und um die allzu klein geratenen Kinder wachsen zu lassen?“
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Welch eine Enttäuschung, die Katzen erwähnte er mit keiner Silbe. Und dabei gab es so viele Katzenwünsche zu erfüllen: Kräftigungskuren für die Krallen, damit man es mit der verhaßten Hunderasse aufnehmen konnte, oder die Konser vierung von Innereien und von Lunge für Hungerszeiten. „Kollegen“, sagte der Professor Senior, der Direktor, „wenn das Experiment gelingt, werden sich alle unsere Träume ver wirklichen lassen. Aber jetzt ist der große Augenblick ge kommen, wir müssen anfangen.“ Die Wissenschaftler wurden wieder todernst. Jahre der Ar beit und des Studiums waren nötig gewesen, um dieses Ziel zu erreichen. In einer feierlichen Stille streckte der Direktor die Hand zum Schaltpult aus, und alle starrten auf die Hand, auf den Finger, der sich auf ein rotes Knöpfchen zubewegte. Das Experiment begann, und die Herzen der Gelehrten klopften wie bei einer der wichtigsten Prüfungen im Leben. Man hörte keine Fliege surren. „ALLE WISSENSCHAFTLER ZUM APPELL!“ Eine Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher im Saal. „Professor Senior so fort zu mir!“ Die Gelehrten drehten sich zum Lautsprecher um und schauten ihn an wie einen Störenfried, der eine so feierliche Handlung zu unterbrechen wagte. Das Doktorchen machte sogar „Pst!“ Nur der Professor Senior blieb unerschütterlich, als hätte er überhaupt nichts gehört; sein Zeigefinger senkte sich auf das rote Knöpfchen. Aber bevor er darauf drücken konnte, dröhn te es abermals aus dem Lautsprecher: „Professor Senior! Ach tung! Vorwärts, marsch! Sofort zu mir! Das ist ein Befehl!“ Unwillig zog der Direktor den Finger von dem roten Knöpf chen zurück. Der Kater hatte ihn noch nie so ärgerlich gese hen, nicht einmal damals, als er ihn in die Hose gebissen hatte, 12
hatte, während er gerade eine Atomberechnung, das heißt ei ne Gleichung mit zwölf Unbekannten löste. „Flegel, uns in so einem Augenblick zu stören!“ sagte der Professor Senior und eilte mit wehendem Kittel der Tür zu. Alle Wissenschaftler folgten ihm. Im Handumdrehen, lag der große Saal einsam und verlas sen da. Der Kater nutzte die Gelegenheit, um aus seinem Versteck hervorzukriechen. Er reckte und streckte sich und warf einen Blick in die Runde. Er schnupperte an dem riesigen Topf. Wie er sich’s gedacht hatte: keine Spur von Lunge oder Innereien. Dafür die Haupt elemente der Welt, wichtiger als Uran. Vom Hof her drangen erregte Stimmen herein. Merkwür dig, wo doch in der Atomzentrale nie jemand laut zu sprechen wagte. Aber die Knöpfchen interessierten den Kater weit mehr, und er sprang auf den Schalttisch. Er erblickte eine Un menge Knöpfchen, alle in einer Reihe, in vielen Farben: rote, gelbe, grüne, blaue. Unverzüglich beschnupperte er die roten; sie waren jedoch nicht aus Fleisch und dufteten schwach nach Emaille. Während er über den Tisch spazierte, stellte er fest, daß die Knöpfchen nachgaben, wenn er die Pfoten darauf legte. Das war drollig! Er drückte auf ein gelbes, es senkte sich mit einem leisen Klick und schnellte gleich danach wieder hoch. Er drückte ein grünes: Klick, auch dieses verschwand und tauch te wieder auf. Dann drückte er das rote, das orangefarbene, das blaue und das schwarze. Es machte so viel Spaß, wie auf einer Ziehharmonika zu spielen. Er bearbeitete die Knöpfchen ausgelassen, drückte sie rauf und runter, sie versanken und schnellten hoch, und es schien, als tanze er auf einer Tonleiter mit vielen bunten Stufen. Hingerissen machte er tipp und 13
tapp, oh, er wußte sich schon zu belustigen, anders als die langweiligen Professoren. Juchhe, bewundert mich! Bin ich nicht ein großartiger Tänzer? Doch ein dumpfes Geräusch ließ ihn jäh innehalten. Über seinem Kopf bewegten sich die mechanischen Arme, als wä ren sie aus dem Schlaf erwacht. Sie reckten sich in den Gelen ken: knarr-knack-krach! Im Nu machte er einen Buckel, streckte die Krallen heraus und kniff die Augen zu zwei schmalen gelben Schlitzen zu sammen. Hatten sie es auf ihn abgesehen? Aber die Arme schwenkten auf den großen Kochtopf zu. Jeder von ihnen umklammerte ein kleines Gefäß. Demnach galt das also nicht ihm. Aber man konnte nicht genug auf der Hut sein! Mit einem gewaltigen Knall sprang plötzlich der Deckel des Topfes auf. Vorsichtig! Wollten sie ihn vielleicht da hineinwer fen? Mit einem Riesensatz schoß er geradenwegs unter die Re chenmaschine und verkroch sich dort. Die mechanischen Arme reckten sich immer mehr aus. Dann ließ einer das an seinem äußersten Ende befestigte Gefäß in den geöffneten Topf fallen. Dann ein anderer und noch ein anderer. Jeder Arm ließ ein Gefäß hineinfallen. Und im Topf begann es merkwürdig zu zischen und zu brodeln. Der Deckel klappte mit einem Knall zu, und die mechani schen Arme schwenkten zurück. Das Brodeln im Topf schwoll an und wurde zu einem Brausen, als ob sich Heuschrecken wie toll im Kreise drehten. Ach was, Heuschrecken – Rennautos, Düsenflugzeuge, die immer schneller wurden. Es sah aus, als wollte der riesige Behälter jeden Augenblick explodieren, und aus dem Deckel quoll seltsamer Rauch. Hin und her schwan kend, puffte der Topf wie ein Vulkan, der ausbrechen will. 14
Der arme Kater dachte nicht mehr an die Knöpfchen, das Tipp-Tapp, seine Herrchen und hatte sogar die Lunge verges sen, die in der Küche kochte. Das Rumoren in dem Topf wur de furchterregend. Ein immer stärker flimmernder Rauch puffte unter dem Deckel hervor. Der explodiert, dachte der Kater, der geht in die Luft. Und er explodierte tatsächlich mit einem Knall, der den Ka ter einen Schreckensmauzer ausstoßen ließ. Er sah gerade noch, wie der Topfdeckel in die Luft flog und eine schillernde Wolke aufwallte. Dann verbarg er den Kopf zwischen den Pfo ten. Miau! Immer schrecklichere Alpträume wirbelten ihm durch den Kopf. Leb wohl, Lunge! Verbrecher, das war ein Attentat! Was hatten sie mit ihm vor? Ihn in die Jauchegrube werfen, ihm das Fell über die Ohren ziehen? Miau! schrie er nochmals, und das war ein verzweifelter Hilferuf nach der Katzenmutter. Doch, sonderbar, es geschah nichts; es wurde vielmehr mucksmäuschenstill. Und ein ungewöhnlicher Geruch stieg ihm in die Nase. Es mußte jemand im Saal sein. War jemand gekommen, ihn zu holen, um ihm den Schwanz abzuschnei den? Er machte einen Buckel, streckte die Krallen heraus und hielt vorsichtig Umschau. Es war tatsächlich jemand da. Er stand neben dem deckello sen rauchenden Topf. Ob er da herausgekommen war? Aber was war das? Ein Mensch? Nein, das heißt doch; es konnte einer sein, wenngleich nicht größer als ein Kind. Aber einem solchen Kind war er noch nie begegnet. Er hatte zwar Arme und Beine, glich jedoch nicht den menschlichen Zwei beinern, die er zeit seines Lebens kennengelernt hatte. Ande rerseits wieder besaß er Augen, Nase, Mund, Arme und Beine. Der merkwürdige Körper, rund wie eine Kugel, schien nicht 15
aus Fleisch und Blut zu sein. Und auf seinem Kopf schließlich wippte ein komischer Wedel, wie er ihn zuvor noch bei nie mand gesehen hatte. Sein Gesichtsausdruck war jedoch genau wie der eines Jungen, der ratlos um sich schaut. Der Kater schnupperte. Es ging kein Menschengeruch von dem Wesen aus. Aber einen Geruch hatte es. Vielleicht konnte man etwas mehr herausbekommen, wenn man es aus der Nä he beschnupperte. Neugierig und ängstlich zugleich wagte er sich, die Krallen heraus und den Schwanz steil erhoben, ein paar Schritte vor. Mach keine Witze, du Dingsda! Langsam und behutsam schlich der Kater näher. Das Wesen zeigte keine feindliche Gesinnung, bewegte aber eine Hand. Der Kater drückte sich fauchend platt an den Boden, bereit, mit den krallenbewehrten Pfötchen zu kratzen. Das Wesen beugte sich jedoch seelenruhig zu ihm herab und streckte die Finger nach ihm aus. „Wenn du mir weh tust, kratze und beiße ich. Nimm dich in acht!“ Die Finger berührten den eingezogenen Kopf des Katers und kraulten ihn sanft zwischen den Ohren, dort, wohin er selbst mit den Pfoten nicht gelangte und wo er doch so schrecklich gern gestreichelt werden wollte. Oh, wie ange nehm das war. Er sträubte nicht länger das Fell und zog die Krallen ein. Niemand hatte ihn je so herrlich gekrault. Demnach war das Wesen gut. Aus der Nähe beschnuppert, hatte es auch einen einladenden Geruch. Wonach nur? Das war schwer zu sagen; es roch nach vielem zusammen. Der Kater stand auf und rieb sich an den Beinen des We sens. „Wer du auch sein magst, kraul mich noch einmal, das tut so gut.“ Da drangen Schreie durch die riesigen Fenster. Das Wesen drehte sieh um. „Kümmer dich nicht drum, mach weiter. Warum gehst du 16
fort? Bitte, bleib doch und kraul mir den Kopf!“
Aber das Wesen ging davon, angelockt von den Stimmen.
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Zweites Kapitel Ein General ist eingetroffen „Alles stehenbleiben!“ brüllte General Simeone auf dem Hof. „Es hat eine Explosion gegeben“, widersprach der Professor Senior. „Wir wollen nachsehen, was vorgefallen ist.“ „Stehengeblieben! Ruhe!“ brüllte der General. „Achtung!“ Er ließ sich auf keine Einwände ein. Die Soldaten General Simeones, die einen Kreis um die Wissenschaftler bildeten, traten einen Schritt vor. Wie eine Schar Kücken drängten sich die Gelehrten um den Professor Senior. Unerschrocken blick ten sie den General an und den Mann neben ihm, einen vier schrötigen Kerl in schwarzem Kittel mit einem dicken Buch unterm Arm. „Ich bin hergekommen, um euch einen Befehl zu erteilen“, brüllte der General. „Seid ihr gewillt, mir zu gehorchen, oder nicht?“ Keine Antwort. „Ach so. Rührt euch! Ihr könnt sprechen, aber ich befehle euch, nur mit ja zu antworten.“ Das junge Doktorchen trat schüchtern einen Schritt vor. „Verzeihung“, sagte er liebenswürdig, „aber gerade ja, das können wir nicht sagen. Denn mit der Atomenergie, die wir mit Hilfe unserer Erfindung gewinnen werden, haben wir uns bereits vieles vorgenommen: die Vogelnester erwärmen…“ „Was?“ brüllte der General. „… den Kindern kleine Raketen für den Schulweg bauen …“ Blau vor Wut, schnappte General Simeone nach Luft, aber 19
das Doktorchen fuhr unbeirrt fort: „Wenn Sie wüßten, wieviel Pläne wir haben: Verwendung von Atomen, um zu klein gera tene Kinder wachsen zu machen, um Sommersprossen zu be seitigen, um Ziegenpeter zu heilen …“ Vor Zorn war der General drauf und dran, in die Luft zu gehen, als … „Ciao“, sagte ein Stimmchen.
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Das seltsame Wesen, das den Kater gekrault hatte, kam lä chelnd daherspaziert. Ohne die verdutzten Blicke zu beachten, ging es auf den General zu. ,,Ciao“, sagte es noch einmal, und das in einem Ton, als wollte es sagen: Wie geht's dir? Ich grüße dich. Aber der General war nicht zu Höflichkeit aufgelegt. ,,Wer bist du?“ brüllte er. „Vor- und Zuname, Dienstgrad?“ ,,Ich?“ Das Wesen schien die Fragen überhaupt nicht zu ver stehen. „Professor von Botto“, brüllte der General. Der Mann im schwarzen Kittel knallte die Hacken zusammen. „Wer ist die ses merkwürdige Geschöpf?“ „Offen gestanden … Man könnte meinen …“, stammelte Professor von Botto. „Ich würde sagen … Also … Sehen Sie …“ „Man könnte meinen, es sei ein Atom“, murmelte der Pro fessor Senior verdutzt. „Richtig“, rief von Botto wie ein Schüler, dem endlich etwas eingefallen ist. Er schlug das Buch auf, das er unter dem Arm trug, blätterte es hastig durch und schaute abwechselnd die Bilder darin und das Wesen an. „Herr General“, sagte er schließlich, „es ähnelt tatsächlich den Atomen.“ „Und was ist ein Atom?“ fragte der General. Von Botto blätterte hastig in dem Buch, und als er die Seite gefunden hatte, las er laut vor: „Ein Atom ist ein unendlich kleines Teilchen der Materie. Es besteht aus einem Kern und aus Elektronen, die ihn umkreisen. Ein Atom ist unendlich klein und auch mit dem stärksten Mikroskop nicht zu erken nen …“ ,,Es kann kein Atom sein, dafür ist es zu groß“, sagte unter dessen der Professor Senior, „und dann, habt ihr nicht gehört? Es spricht.“ Das Wesen, verlegen, weil alle es anstarrten, drehte den 21
Kopf nach rechts und nach links und lächelte schüchtern. „Was ist es also?“ wandte sich der General an von Botto. „Hm… Ich denke… Ich würde sagen, daß es kein Atom sein kann. Haben Sie nicht gehört? Es spricht.“ „Kurz und gut, was ist es?“ brüllte der General ungeduldig. Professor von Botto blätterte fieberhaft in seinem Buch. „Mal sehen. Schlagen wir nach.“ Als er genug in dem Buch geblättert hatte, sagte er im Brust ton der Überzeugung: „Es kann kein Atom sein, denn dieses Lehrbuch der Atomphysik berichtet nichts darüber, daß die Atome reden und Kindern ähneln.“ Da trat der Professor Senior vor. „Herr General, im Namen der Wissenschaft bitte ich darum, die Erscheinung untersuchen zu dürfen. Es geschehen die merkwürdigsten Dinge. Zuerst diese geheimnisvolle Explosi on, und nun taucht dieses sonderbare Wesen auf. Ich glaube, wir stehen einem Fall gegenüber, der von größtem Interesse für die Atomwissenschaft ist. Wenn es nämlich tatsächlich ein Atom wäre…“ „Wozu ist ein Atom nutze?“ fragte der General barsch. „Die Atome schließen eine riesige Energie in sich ein, die vielfältig verwendet werden kann. So kann man zum Beispiel mit Atomenergie Elektrizitätswerke betreiben, Fabriken mit .Strom versorgen, Eisbrecher fahren …“ „Schnickschnack“, sagte der General. „Offen gestanden“, mischte sich von Botto ein, „auch die Fertigung von Atom- und Wasserstoffbomben beruht auf dem Atom.“ General Simeone strahlte über das ganze Gesicht, als hätte man ihm soeben verkündet, er habe einen Thron geerbt. „Wenn also das Ding da irgend etwas Atomares an sich hat, dann könnte es, groß wie es ist, äußerst nützlich sein für …“ 22
… die Wissenschaft“, fiel ihm der Professor Senior feierlich ins Wort. „Jawohl, aber für die Militärwissenschaft. Du“, sagte der General zu dem seltsamen Wesen. „Bitte, Sie wünschen?“ erwiderte es zuvorkommend lä chelnd. ,,Du bist für die Armee beschlagnahmt.“ „Wirklich?“ entgegnete das Wesen unbefangen und lie benswürdig. „Das ehrt mich ungemein. Aber, entschuldigen Sie, was heißt ,für die Armee beschlagnahmt’?“ „Ruhe! Generale geben keine Erklärungen ab, sie erteilen nur Befehle.“ „Aber ich, offen gestanden …“ „Was, du wagst, meinen Befehlen zu widersprechen? Wa che, nehmt ihn in Gewahrsam!“ Ein Schwarm Soldaten stürzte sich auf das Geschöpf. Aber kaum daß sie es berührten, krümmte es sich vor Lachen. Aus seinem Kugelleib sprühte ein Funkenregen, und alle prallten zurück wie Gummibälle, die gegen einen Torpfosten ge schleudert werden. „Es ist elektrisch geladen!“ rief der Professor Senior ver blüfft. Aber noch verblüffter war General Simeone. „Du wagst zu rebellieren?“ brüllte er. „Ich rebelliere nicht, ich kann nur das Kitzeln nicht vertra gen, es wirkt eben so bei mir. Habt ihr euch weh getan, ihr Ärmsten?“ Besorgt eilte es zu den noch benommenen Solda ten, um sie aufzurichten. „Achtung!“ brüllte Simeone. „Du hörst auf mein Komman do.“ Wie ein Rekrut, der bemerkt, daß er es allzu toll getrieben hat, knallte das Wesen die Hacken zusammen. 23
„Jawohl, Herr General“, sagte es schüchtern. „In die Zentrale zurück! Vorwärts, marsch! Links, zwei drei-vier! Links zwei-drei-vier!“ (iehorsam setzte sich das sonderbare Wesen in Marsch. „Professor von Botto, ich vertraue es euch an. Untersucht es gemeinsam mit dem Professor Senior und seinen Kollegen und holt etwas für mich Nützliches aus ihm heraus.“ „Jawohl, Herr General“, sagte von Botto. „Nein, Herr General“, entgegneten der Professor Senior und alle seine Kollegen. Wegen dieses mutigen Neins landeten der Professor Senior und seine Kollegen hinter Schloß und Riegel. Professor von Botto aber mußte das seltsame Geschöpf, das er aus Furcht, es könnte entwischen, in eine Zelle eingesperrt hatte, nun allein untersuchen. Doch so verzweifelt er auch sein Physikbuch zu Rate zog – er begriff rein gar nichts. Alle Augenblicke tauchte der General bei ihm auf. „Nun, was ist? Wozu kann es nützlich sein?“ „Also … Offen gestanden …“, stotterte von Botto, „ich würde sagen … Vielleicht … Es könnte immerhin sein …“ „Hornochse, wer hat dich nur zum Wissenschaftler ge macht? Streng deinen Grips gefälligst an!“ Von Botto knallte die Hacken zusammen. „Jawohl, Herr General.“ Aber er war nicht der einzige, der sich den Kopf über das seltsame Wesen zerbrach. Auch der Professor Senior und seine Kollegen, bewacht von den Soldaten des Generals, fragten sich, wer es wohl sein mochte. „Wenn wir es doch untersuchen könnten!“ „Ob es ein Ergebnis unseres Experiments ist? Man hat eine Explosion gehört.“ „Aber niemand hat die Hebel betätigt. Im Versuchssaal ist 24
keine Menschenseele zurückgeblieben.“ „Auf jeden Fall werden wir nie jawohl zu General Simeone sagen.“ „Nie!“ rief das schüchterne Doktorchen mit seiner Pieps stimme. „Schwören wir es!“ Sie gelobten es feierlich. Alle waren neugierig zu erfahren, wer dieses sonderbare Geschöpf war; sogar der Kater. Er hatte den Wissenschaftlern zweierlei voraus: Erstens war er nicht eingesperrt, und zweitens konnte er mit seinem Spürsinn he rausfinden, wo der Jemand gefangengehalten wurde, der ihm so herrlich den Kopf gekrault hatte. Der schaute sich unterdessen mit großen Augen in der Zelle um. Die Luft, die Sonne, der Himmel hatten ihm so gut gefal len, und nun fand er sich zwischen engen Mauern wieder. Vom Himmel konnte er nur ein winziges Stück sehen, noch dazu durch dicke eiserne Gitterstäbe. Er begriff nicht, warum er hier drinnen sitzen mußte, während es draußen so wunder schön war. Vieles andere begriff er ebensowenig. „Für die Armee beschlagnahmt“, was hieß das? Und warum brüllte der Herr in Uniform so viel? Er hörte ein Miauen und erblickte den Kater zusammenge kauert zwischen den Stäben. „Ciao“, sagte das Wesen traurig. Darauf sprang der Kater herein und rieb sich an seinen Bei nen. Wie erhofft, kraulte ihm der Jemand den Kopf. Er war wirklich nett. Der Kater reckte und streckte sich und dachte: Wer mag das sein? In der Zentrale habe ich ihn noch nie gese hen. Wo mag er her sein? Ob er tatsächlich aus dem Topf ge kommen ist? Für ihn war er jedoch vor allem das erste Ge schöpf, das sich nicht bitten ließ, ihn zu kraulen. Aus der Küche ertönte ein lockendes Pss! Pss! Der Koch rief zum Mittagessen. 25
Na schön, Tischzeit. Aber er wollte nicht auf das Kraulen verzichten. Und wenn dieses seltsame Wesen nun mit ihm in die Küche käme? Der Kater machte ein paar Schritte auf das Gitter zu. Aber der Jemand rührte sich nicht vom Fleck. „Na, komm schon! Worauf wartest du?“ Er sprang zwi schen die Stäbe und forderte ihn durch Schnurren auf, ihm zu folgen. Nichts, der andere blieb traurig sitzen. Hatte er denn kein bißchen Phantasie? Abermals lockte der Koch. „Was ist? Kommst du nun?“ Der Kater sprang hinaus. Der andere schaute verdutzt auf das Gitter. Wo war der Ka ter geblieben? Er stand auf, um einen Blick durch die Stäbe zu werfen. Draußen schien die Sonne, gab es Luft und blauen Himmel. Schön war es draußen. Wenn der Kater dorthinaus verschwunden war, dann hieß das, daß es auch für ihn mög lich sein müßte. Aber da waren die Eisenstäbe, er konnte nicht zwischen ihnen hindurch wie der Kater. Wütend packte er sie, denn sie waren es, die ihm den Weg versperrten – so glaubte er wenigstens. Doch kaum berührten seine Hände das Gitter, da schmolzen die Stahlstangen wie Eis in der Sonne, geradeso als hätte ein übermächtiges Sauerstoffgebläse auf sie einge wirkt. Das Wesen sprang hinaus und befand sich wieder im hellen Tageslicht unter freiem Himmel. Der Horizont mit seinen far bigen Wiesen, Wäldern und den in weiter Ferne in Grün ge betteten Häuschen lud ihn ein. Die Freiheit war schön, und so machte er sich frohgemut auf den Weg. Der Kater, der sich gerade in die Küche begeben wollte, sah ihn. „Miau“, rief er, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber das seltsame Wesen ging unbeirrt weiter. 26
„Nicht da entlang, komm hierher, Dingsda! Geh bitte nicht weg!“ Es war das erste freundliche Geschöpf in der Zentrale, das ihm den Kopf kraulte, und er wollte es nicht verlieren. Und wenn er nun mit ihm fortginge? Ein Kater ist frei, er kann gehen, mit wem er will; schließlich hatte er keinen Vertrag mit den Wissenschaftlern geschlossen. Aus der Küche lockte abermals das ungeduldige Pss! Pss! des Koches. Auch geschmort schmeckte die Lunge nicht schlecht, und die Portionen waren immer reichlich. Wenn das Wesen blieb, konnten sie teilen. Halbpart, nein, das nicht, aber ein paar Brocken konnte er ihm schon abgeben. „Miau! Miauuu!“ rief er. „Komm her, komm!“ hieß das in der Katzensprache. Der Jemand drehte sich um. Einladend bewegte der Kater den Schwanz. Doch der andere winkte und sagte: „Ciao.“ Dann setzte er seinen Weg fort, schneller, immer schneller, bis er zu guter Letzt anfing zu laufen. „Miau!“ Und wenn ich mich nun zusammen mit ihm da vonmachte? Er könnte ein gutes Herrchen sein. „Pss! Pss!“ Der Koch rief wieder. Eine schwerwiegende Frage: Liebe oder Lunge? „Miau!“ Aber der andere blieb nicht stehen. Im Gegenteil! Er rannte mit einer phantastischen Geschwindigkeit davon, wie eine Rakete, so daß er im Handumdrehen am Horizont ver schwunden war. „So ein Dummkopf!“ sagte der Kater. „Na schön, gehen wir essen.“ Unterdessen rieb sich General Simeone die Hände. Die Dickschädel von Wissenschaftler weigern sich, für mich zu arbeiten. Aber vielleicht habe ich dennoch etwas gefunden, 27
was jeder General nur allzugern haben möchte. Etwas Atomares, etwas Super-Atomares zu besitzen – das war der größte Traum seines Lebens. Und vielleicht sollte er endlich in Erfüllung gehen. „Wenn das Ding für diesen Zweck zu verwenden wäre, dann wäre ich der mächtigste General der Welt.“ Noch wußte er nicht, daß sein „Für die Armee beschlag nahmt“ bereits viele Kilometer entfernt war.
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Drittes Kapitel
Ich kenne dich! Eine große Stadt. Hoch oben vom Himmel leuchtete die Sonne herab auf die Dächer, die durch die Straßen fahrenden Autos und auf die Menschen, die, ohne Schatten zu werfen, dahinha steten. Es war Samstag, die Stunde, da die Angestellten aus den Büros, die Kinder aus der Schule kommen. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen hatten es eilig. Zu Hause warte te das Mittagessen auf sie. In der Hauptstraße der Stadt flute te, ein Menschenstrom über den Gehsteig. „Eine Kateridee, sich jetzt noch zu maskieren. Karneval ist doch längst vorbei“, sagte ein Herr. Er drehte sich um und blieb erstaunt stehen. „Der ist nicht maskiert“, erwiderte ein anderer Herr, blieb ebenfalls stehen und vergaß das Essen, das daheim auf ihn wartete. „Vielleicht ist er von Natur aus so.“ „Unmöglich, sol che Kinder gibt es nicht.“ „Der sieht aus wie ein Mars mensch“, meinte ein Junge. „Ein Marsmensch?“ Die Mutter, die ihn an der Hand hielt, zuckte zusammen. „Das hat uns ge rade noch gefehlt! Rasch, nach Hause!“ „Er ist drollig und so niedlich“, bemerkte ein Fräulein. Der Flüchtling aus der Atomzentrale, denn er war es und kein anderer, schlenderte dahin und ließ einen Schwall Menschen hinter sich, die sich umdrehten und ihn anschauten. Die Stadt lag meilenweit von der Zentrale entfernt, er aber war schon hier, und sein Atem ging nicht einmal schneller, trotz des raschen Laufes. Er trotte te dahin und schaute sich zufrieden um. Für ihn war alles neu, er sah alles zum erstenmal, und alles gefiel ihm: die Häuser, 29
die Autos, die Ampeln, die Menschen. „Ciao“, sagte er, wenn ihn jemand mit weitaufgerissenen Augen anstarrte. Er grüßte alle, weil sie ihm sympathisch wa ren. „He, guckt mal!“ Eine Gruppe Schulkinder versperrte ihm den Weg und zwang ihn stehenzubleiben. „Ciao“, sagte er. „Ciao“, erwiderten die Jungen. „Wer bist du?“ Das Wesen lächelte, gab jedoch keine Antwort. „Bist du ein Mensch? Sprich, brauchst keine Angst zu ha ben.“ „Das ist ein Liliputaner“, meinte ein anderer. „Ein Verrückter, der sich verkleidet hat.“ Die Menge drängte sich zusammen, auf dem Gehsteig war kein Durchkommen mehr. „Verdammter Mist!“ rief ein blondes Mädchen. Insgeheim überlegte sie: Ich irre mich nicht, es ist tatsächlich so. Der Auflauf war so groß, daß selbst die Autos anhalten mußten. Da nahte ein Polizist. „Weitergehen!“ befahl er streng und bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Aha, du bist es also, der den Verkehr stört.“ Für den Polizisten war der Ver kehr heilig; er mußte immer fließen, und wenn ihn irgendwer behinderte – ob Mensch, ob Hund oder sonstjemand –, dann spürte der Ordnungshüter schon den Vorgeschmack einer ge bührenpflichtigen Verwarnung. „Warum hältst du den Verkehr auf?“ fragte er den Jemand. „Ciao“, sagte der und schaute ihn lächelnd an, als hätte er einen lieben alten Freund getroffen. „Er ist wirklich ungewöhnlich“, meinte eine Frau. Sie hatte recht. Ein Verdacht durchzuckte den Polizisten. Das Geschöpf war wirklich ungewöhnlich. Wenn es nun ver kleidet war! Es konnte ein Verbrechen begangen haben, aus 30
einem Gefängnis ausgebrochen sein… „Wie heißt du?“ wollte der Polizist wissen. „Vor-undZunamen-Vaters-und-Muttersnamen-Geburtsdatum-und-ort.“ Er holte tief Luft Aber der Jemand sagte nichts, er lächelte nur. „Du weigerst dich zu antworten?“ Für solche Fälle hatte der Polizist seine geheime Waffe in Reserve: „AUSWEIS!“ „Ausweis?“ Das sonderbare Wesen riß die Augen sperran gelweit auf, und der Wedel auf dem Kopf begann zu wippen. „Was ist das?“ fragte es unschuldsvoll. Alle Umstehenden lachten. Der Kerl hält den Verkehr auf, begrüßt mich mit „Ciao“, will mir Vor-und-Zunamen-Vaters-und-Muttersnamen-Geburts datum-und-ort nicht nennen, weigert sich, mir den Ausweis zu zeigen – das sind ohne Frage lauter Vergehen. Diese Ge danken schossen dem Polizisten durch den Kopf, und er ent schied: „Du kommst mit mir zum Revier!“ „Einen Augenblick. Sie dürfen ihn nicht verhaften.“ Das blonde Mädchen, das vorhin verdammter Mist gesagt hatte, trat näher. „Er ist mein Bruder. Achten Sie nicht auf sei ne Worte; er ist ein bißchen einfältig. Ich bring ihn sofort nach Hause.“ Und in einem Ton freundlichen Tadels wendete sie sich an den Knirps. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst nicht allein auf die Straße laufen.“ „Ist das deine Schwester?“ fragte der Polizist mißtrauisch. Der Knirps schaute sich ratlos um, dann blickte er das Mäd chen an. Er begriff lediglich, daß sie ihm helfen wollte. Das war ein wunderschönes Gefühl, es war ebenso wohlig wie die wärmende Sonne. „Ciao“, sagte er lächelnd zu ihr und hatte den Polizisten schon vergessen. Schlagfertig antwortete das Mädchen für ihn. „Ich schwöre, er ist mein Bruder. Und das ist ja auch nicht schwer zu kapie 31
ren. Sehen Sie sich doch nur die Ähnlichkeit mit mir an.“ „Das stimmt“, pflichtete ein Junge ihr bei. Er hatte sofort verstanden, daß sie dem Unbekannten helfen wollte. „Das ist doch sonnenklar. Sie ähneln sich tatsächlich.“ Ringsum stimmten alle zu, auch die Erwachsenen. Der Poli zist war sprachlos. Für derartige Fälle gab es keine Vorschrif ten. Ob es wohl besser wäre, sich ratsuchend an das Revier zu wenden? Aber das Mädchen ließ ihm keine Zeit, einen Entschluß zu fassen. Sie nahm den Knirps bei der Hand, sagte: „Komm!“ und führte ihn weg. Der Polizist wußte nicht ein noch aus. Die Sache wurde immer verzwickter. Zum Glück konnte er nichts falsch ma chen, wenn er die gaffende Menge aufforderte: „Weitergehen! Halten Sie den Verkehr nicht auf!“ Das Mädchen hatte sich unterdessen mit dem sonderbaren Geschöpf entfernt. „War das nicht schlau von mir, he? Wenn ich dich nicht für meinen Bruder ausgegeben hätte, dann hät ten sie dich verhaftet.“ „Wohin bringst du mich?“ fragte der Kleine. „Nach Hause. Glaub ja nicht, daß du mich täuschen kannst. Ich hab dich sofort erkannt.“ „Wirklich?“ Es freute ihn, von dem blonden Mädchen sofort erkannt worden zu sein. Zwar wußte er nicht, was sie erkannt hatte. Er folgte ihr willig und ließ sich gern von ihr an der Hand führen. „Ciao“, sagte er. „Ciao“, entgegnete sie. „Kannst du nichts anderes sagen? Los, beeil dich, ich kann’s gar nicht erwarten, dich Papa zu zeigen.“
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„Papa?“ „Ich bin hier im Laboratorium, Smeraldina.“ Smeraldina stürmte ins Laboratorium. Ihr Vater im weißen Kittel wendete ihr den Rücken zu. Ein Stück Kreide in der Hand, starrte er auf eine riesige Wandtafel voller Zahlen, Brü che, Gleichungen. Seit Tagen versuchte er, eine äußerst ver zwickte Aufgabe zu lösen. „Papa, rat mal, was ich auf der Straße gefunden habe – ein Atom!“ „Red keinen Unsinn“, erwiderte der Vater, ohne sich um zudrehen. „Atome sind so winzig klein, daß du sie nicht ein mal mit dem stärksten Mikroskop der Welt sehen könntest.“ Und in Atomen kannte sich Zaccaria aus. Er war Professor für Atomphysik und beschäftigte sich seit Jahren mit ihnen. Auch jetzt war er wieder bemüht, eine knifflige Atomberechnung herauszubekommen. „Ich weiß, daß sie unsichtbar sind“, entgegnete Smeraldina, „schließlich bin ich nicht die Oma, die von Atomen keine Ah nung hat. Und doch ist das hier ein Atom. Ich hab’s auf der Straße gefunden und mitgebracht. Vielleicht ist es ein Atom, das zu rasch gewachsen ist.“ Widerwillig wendete Professor Zaccaria den Blick von der Wandtafel ab. Smeraldina war zwar überaus klug, aber zuwei len hatte sie ihre Mucken. „Heute bist du aber ganz und gar nicht witzig“, sagte er, „und ich möchte bei der Arbeit nicht gestört werden^“ Als er jedoch erkannte, was Smeraldina an der Hand hielt, wurden seine Augen groß wie kleine Luftbal lons. „Nun sag bloß, das ist kein Atom“, bedeutete ihm Smeral dina triumphierend. Doch der Vater sah und hörte nichts, er hatte seine Berech nungen, seine Tochter, sich selbst, die ganze Welt vergessen. 33
Er war wie geblendet, als sähe er ein überirdisches Wesen. „Ein A…, ein A…“, stotterte er und brachte kein Wort heraus. „Es ist tatsächlich ein Atom, so groß wie ein Kind.“ Er befühlte es, klopfte ihm mit den Fingerknöcheln auf die Brust, beschnupperte es. „Unglaublich…, unmöglich…, un faßbar…“ Und dennoch existierte es, war kein überirdisches Wesen. „Ich hab's dir gleich gesagt, es ist klar, daß es ein Atom ist“, bemerkte Smeraldina mit selbstgefälliger Miene. Zaccaria holte schleunigst einen Geigerzähler herbei, um die Radioaktivität zu messen. Aber als er ihn dem Körper des sonderbaren Geschöpfes näherte, pardauz! da zersprang der Zähler. „Unvorstellbar! Es ist über und über mit Radioaktivität ge laden; es ist eine Fundgrube an Atomenergie.“ Professor Zac caria griff zu einem Metermaß, zu einem Stethoskop, zu einem Mikroskop und begann, den Knirps mit der ihm eigenen gro ßen Begeisterung des Wissenschaftlers abzuhorchen, zu mes sen und zu untersuchen. Der Gegenstand all dieser Aufmerksamkeiten rührte sich nicht, so sehr war er eingeschüchtert. Nur seine Augen beweg ten sich, und zwar blickte er immer dorthin, wo sich Smeral dina aufhielt. „Wo kommst du her?“ fragte sie. Der Kleine antwortete nicht, er schien überhaupt nicht ver standen zu haben. „Wo wohnst du? He, warum guckst du mich so an? Ein Zu hause wirst du wohl haben…“ „Ein Zuhause? Was ist das?“ Schüchtern hatte er sich ent schlossen zu sprechen. Zaccaria sprang verdutzt auf. „Es spricht! Ein sprechendes Riesenatom! Wunderbar! Sen sationell!“ Und er stürzte sich wieder auf das Wesen, um es zu 34
untersuchen. Diesmal wollte er herausfinden, woher die Stimme kam. „Du bist wirklich zu dumm“, sagte Smeraldina. „Solltest du wirklich nicht wissen, was ein Zuhause ist? Wo lebst du? Wohnst du mit deiner Mama zusammen?“ „Der Mama?“
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„Ja, mit der Mama, mit dem Papa“, wiederholte Smeraldina ungeduldig. „Wo sind sie ? Jeder hat eine Mama und einen Papa. Du wirst sie auch haben.“ „Vielleicht habe ich sie, wenn du es sagst. Aber du mußtest mir erklären, was sie sind.“ Blitzartig hatte Smeraldina begriffen und schlug einen an deren Ton an. „Du Ärmster, verzeih. Jetzt versteh ich, du bist ein armes Waisenatom, ohne Dach über dem Kopf, allein auf der Welt… Wie heißt du? Antworte, ich frage dich: Wie ist dein Name?“ „Name? Was ist das?“ „Das ist das Wort, mit dem man einen Menschen ruft.“ Untröstlich schüttelte der Knirps den Kopf und schämte sich. Nicht einmal einen Namen hatte er. Aber Smeraldina war noch mehr erschüttert. „Ärmster, du hast rein gar nichts. Aber mach dir nichts draus. Du bleibst bei uns, da hast du ein Zuhause, und wir werden dir auch einen Namen geben. Nicht wahr, Papa? Wie könnte ich ihn nennen?“ Aber Zaccaria hörte sie nicht; er war ganz vertieft, ihn mit dem Stethoskop abzuhorchen. „Warte mal…“ Smeraldina überlegte. „Wir brauchen einen schönen Namen. Ich kann dich schließlich nicht Mario oder Giovanni nennen. Wir brauchen einen Namen mit Atom…Ich hab's! Ich werde dich Atomino nennen. Gefällt er dir?“ „Atomino? Der ist schön. Das wäre also das Wort, mit dem man mich rufen wird. Wirst sehen, sobald du es aussprichst, komme ich angerannt.“ „Erzähl mir ein wenig über dich, Atomino. Was kannst du?“ Atomino machte ein Handbewegung, als wollte er sagen: vieles. 36
„Angeber! Ich wette, du weißt nicht einmal, wieviel zwei plus zwei ist.“ Atomino warf einen Blick auf die riesige Wandtafel voller Zahlen, Brüche, Gleichungen, Logarithmen und griff ein Stückchen Kreide. Damit schrieb er ganz unten, dort, wo die Summe stand, hin: 43768914,000000005. Zaccaria prüfte die Rechnung nach und rief dann verblüfft: „Wunderbar! Für diese Lösung hätte ich Monate gebraucht. Du hast mich erleuchtet.“ „Möchten Sie gern erleuchtet werden?“ fragte Atomino eil fertig. „Ich kann es noch besser.“ Er legte eine Hand auf einen metallischen Einrichtungsge genstand. Der strahlte sogleich ein blendendes Licht aus wie der Faden einer Glühlampe. „Potz Blitz und tausend Elektronen! Du entwickelst Energie wie ein E-Werk. Du bist phantastisch!“ „Verdammter Mist!“ rief Smeraldina erstaunt. „Wer weiß, wie stark du bist.“ Zum Glück war auch ihr Vater so erstaunt, daß er den Aus druck „Verdammter Mist“, den er für überaus unangebracht hielt, überhörte. „Ein bißchen Kraft hab ich schon“, sagte Atomino. Dabei klopfte er mit einem Finger leicht auf den Tisch. Der Tisch zersplitterte, als hätte er einen Felsbrocken darauf geworfen. „Ich kann noch mehr“, sagte er. „Um Gottes willen, ich glaub dir aufs Wort“, rief Zaccaria. „Wenn schon die Atome, die doch winzig klein sind, gewalti ge Mengen Energie in sich bergen, dann mußt du, der so groß ist, ungeheuer stark sein. Seit Jahren beschäftige ich mich mit allen nur möglichen Atomen, ohne sie je gesehen zu haben. 37
Und jetzt habe ich das außerordentliche Glück, ein lebendes, noch dazu so großes wie du, vor mir zu haben und sogar mit ihm sprechen zu können. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du bei uns bliebest. Du wirst der Wissenschaft äußerst nützlich sein.“ „Reden wir klipp und klar, Papa“, wandte Smeraldina ein. „Atomino habe ich gefunden, und deshalb gehört er mir. Wenn du ihn untersuchen willst, werde ich ihn dir hin und wieder mal ausborgen. Aber, damit wir uns recht verstehen: Er gehört mir, und ich spiele mit ihm.“ Atomino schaute beide an. Die allgemeine Bewunderung ließ ihn kalt. Nur eins machte ihn wirklich glücklich: Er durfte in diesem Haus bleiben bei dem Mädchen, das ihn bei der Hand genommen und ihm sogar einen Namen gegeben hatte.
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Viertes Kapitel Eine fliegende Straßenbahn Die ganze Nacht hindurch untersuchte Professor Zaccaria Atomino in seinem Laboratorium. Er maß, wog, befragte ihn und sagte immer wieder: „Wunderbar! Außergewöhnlich!“ Atomino schien es indessen, als wenn er überhaupt nichts Außergewöhnliches an sich hätte. Er fühlte sich völlig normal. Wie dem auch sein mochte, er saß gesittet auf einem Schemel und unterzog sich willig allen Experimenten. Aber am Morgen sprang er auf die Füße, als hätte er einen Trompetenstoß gehört. Smeraldina hatte ihn gerufen. Nach dem Aufstehen und Waschen hatte sie binnen zehn Minuten schon die ganze Woh nung in Ordnung gebracht. Da Sonntag war, brauchte sie nicht zur Schule. Sie stürzte ins Labor und sagte: „Schluß, Pa pa. Jetzt gehört Atomino mir.“ „Hast recht“, erwiderte Zaccaria. Und zu Atomino: „Ver gnüg dich ein wenig, geh nur mit Smeraldina.“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. „Spielen wir?“ schlug Smeraldina vor. „Weißt du, ich bin fast immer allein. Geschwister habe ich keine, und meine Mut ter ist gestorben, als ich noch ganz klein war. Hin und wieder treff ich mich mit Freunden, aber im großen ganzen langwei len sie mich. Sie sind so blöd! Oder ich geh die Oma besuchen, die Mutter von meiner Mama. Sie ist reizend, aber Ideen hat sie! Du mußt wissen, daß ich sehr klug und darum auch ein bißchen schwierig bin. Aber von jetzt an leistest du mir Gesell schaft. Wir werden unseren Spaß haben, wirst sehen. Wollen 39
wir mit dem Stabilbaukasten spielen?“ Atomino wäre mit jedem Spiel einverstanden gewesen, wenn er Smeraldina damit zufriedenstellen konnte. Leider kannte er kein einziges. „Wir wollen ein schönes Haus bauen“, sagte Smeraldina und öffnete den großen Stabilbaukasten. „Aber nicht irgend eins, wir wollen eine hochmoderne Wohneinheit bauen.“ „Laß mich nur machen“, erwiderte Atomino, griff sich eine Handvoll Teile aus dem Kasten und begann zu arbeiten. Smeraldina erblaßte. Atomino ging mit den Eisenteilen um, als wären sie aus Plastilin. Er schmolz sie mit einem einfachen Händedruck und hatte im Nu ein Gebäude errichtet. „Gefällt es dir?“ fragte er freudestrahlend. „Wie dumm du doch bist“, schalt Smeraldina. „Das ist nicht hochmodern. Das ist ein ganz gewöhnlicher häßlicher Kasten. Von Architektur hast du keinen blassen Schimmer, und statt mit dem Stabilbaukasten zu spielen, hast du dich als Grob schmied betätigt.“ Atomino war bestürzt. „Macht nichts“, sagte Smeraldina, „wenn du schon kein gu ter Architekt bist, wirst du zumindest ein guter Sportler sein. Wir wollen Tischtennis spielen.“ Aber beim ersten Schlag zerschmetterte Atomino den Ball. „Ich weiß, daß du Bärenkräfte hast“, rief Smeraldina erbost, „deswegen brauchst du jedoch nicht gleich wie ein Tobsüchti ger zu wüten.“ „Versuchen wir es mit einem anderen Spiel“, stammelte Atomino kleinlaut. „Wirst sehen, ich werde mich höllisch in acht nehmen.“ „Nein, mir ist die Lust am Spielen vergangen. Komm, wir wollen einen Stadtbummel machen.“ 40
Smeraldina steckte den Kopf durch die Tür des Laboratori ums, wo Professor Zaccaria damit beschäftigt war, die in der Nacht zusammengetragenen Daten zu sichten. Sie bedeutete ihm, daß sie ausgehen wollten. „Nur zu“, antwortete der Professor, ohne den Kopf zu he ben. „Er ist der beste Papa der Welt“, erklärte Smeraldina Ato mino. , Je klüger die Väter sind, um so mehr Freiheit hast du. Dann kannst du tun, was du willst.“ „Das stimmt“, erwiderte Atomino, obwohl er sich in Vätern überhaupt nicht auskannte. Aber er wollte Smeraldina kei neswegs verärgern. Sie verließen das Haus, und Smeraldina sagte: „Wir wollen dort drüben die Straßenbahn nehmen.“ „Bemüh dich nicht, darum kümmere ich mich“, entgegnete Atomino sogleich. Er rannte zur Haltestelle, hob den Wagen aus den Schienen und beeilte sich, ihn vor der verblüfften Smeraldina abzusetzen. Noch verblüffter waren die Fahrgäste und der Fahrer. „Was machst du da?“ schrie Smeraldina. „Bist du ver rückt?“ „Du hast doch selbst gesagt, wir wollen die Straßenbahn nehmen. Da hab ich sie genommen.“ „Du begreifst rein gar nichts. Ich meinte damit, daß wir auf steigen wollten. Bring sie sofort wieder dahin zurück, wo du sie hergeholt hast.“ Atomino gehorchte auf der Stelle. Dabei wurden die Fahr gäste in dem Wagen hin und her geworfen. Der stand jedoch bald wieder auf den Schienen. „Verzeih, ich kenn mich wenig aus“, rechtfertigte sich Ato mino. „Aber jetzt weiß ich, was du meinst. Du hast gesagt, daß wir aufsteigen wollen, nicht wahr?“ Er packte Smeraldina beim Arm und hob sie mit einem Satz aufs Wagendach. „So, 41
jetzt sind wir aufgestiegen.“ Warum schaute ihn Smeraldina nur so an, und warum schimpften Fahrer und Fahrgäste? Diesmal hatte er doch aufs Wort gehorcht. „Der elektrische Strom“, schrie der Fahrer. „Wir können nicht fahren, wenn kein Strom da ist.“ Tatsäch lich war die Rolle des Stromabnehmers von der Oberleitung abgeglitten. „Keine Aufregung, lassen Sie mich nur machen“, sagte Atomino zuvorkommend.
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Er packte den Stromabnehmer wie eine Lenkstange, und hui! sauste die Straßenbahn ab. Es war jedoch keine Straßen bahn mehr, sondern eine Rakete. Denn Atomino beschickte den Stromabnehmer mit so viel Energie, daß sich die Räder wie wahnsinnig drehten. Zuerst brauste die Bahn noch auf den Schienen dahin, dann aber erhob sie sich mit Schwung wie ein Flugzeug in die Luft, stieg höher als die umstehenden Gebäude und schwebte über den Dächern dahin. Diesmal schimpfte Smeraldina nicht; dafür schimpften die Fahrgäste um so mehr. Sie schrien vor Entsetzen, aber Smeral dina achtete nicht auf ihr Zetern. Zum erstenmal in ihrem Le ben flog sie, und das war wunderschön. Im übrigen handhab te Atomino den Stromabnehmer so geschickt, daß die Stra ßenbahn Kurven und Schleifen beschrieb wie ein richtiges Flugzeug. „Guck mal“, sagte Smeraldina, „unser Haus. Und da unten, da wohnt die Oma. Das da ist der Friedhof, wo meine Mutter liegt. Flieg noch ein Stückchen höher!“ Atomino gehorchte, glücklich darüber, daß er es ihr endlich einmal recht machen konnte. „Du bist großartig“, jauchzte Smeraldina. „Ich glaube tat sächlich, daß wir gute Freunde werden. Das heißt, wir sind es ja schon.“ Vor lauter Freude ließ Atomino die Straßenbahn eine Reihe Kunststückchen vollführen. Sie sauste in die Wolken hinein, ging im Sturzflug herunter und stieg dann kerzengerade wie der in die Höhe. Dabei streifte sie sogar ein vorbeifliegendes Flugzeug. „Hilfe!“ schrie der Pilot und sprang mit dem Fallschirm ab. „Ich sehe Gespenster! Eine fliegende Straßenbahn!“ Es war jedoch tatsächlich eine fliegende Straßenbahn. Aber die Fahrgäste klammerten sich schreiend an den Griffen fest 43
und flehten, daß sie wieder auf die Erde zurückwollten. Schließlich hätten sie ja nur für eine einfache Fahrt auf der Er de bezahlt. „Die Angsthasen“, sagte Smeraldina. „Schön, kehren wir wieder auf die Erde zurück.“ Atomino landete genau auf den Schienen, und Smeraldina zog ihn schleunigst mit sich fort, bevor die Fahrgäste ausge stiegen waren. „Verdammter Mist“, lobte sie. „Du bist großartig. Du kannst Eisen kneten, eine Straßenbahn hochheben, Elektrizität sprühen …“ „Und auch Atomenergie“, warf Atomino bescheiden ein. „Verlang von mir, was du willst, ich werde es tun.“ Er wünschte nichts sehnlicher, als sie zufriedenzustellen. Das war jedoch recht schwierig, obwohl er sich die größte Mühe gab. Bei Tisch zum Beispiel war er bestrebt, so gesittet dazusitzen, wie sie es ihm befohlen hatte. Aber sobald er ein Messer oder eine Gabel in die Hand nahm, zerbrach er sie. Eisen war für ihn wie Wachs. „Sei vorsichtig, Atomino, sonst zerquetschst du noch das ganze Besteck, das wir im Haus haben. Das Glas mußt du be hutsam anfassen. Stütz dich nicht auf den Tisch auf, sonst geht er in Stücke. Guck dir das an, Papa. Der scheint noch nie in seinem Leben gegessen zu haben.“ Über die Maßen beschämt stellte der arme Atomino fest, daß er alles falsch machte. „Warum sagst du nichts? Iß sofort den Teller Spaghetti auf!“ Er beeilte sich zu gehorchen. Er ergriff den Teller und verschlang ihn mitsamt den Spaghetti. „Du Trottel, du begreifst aber auch gar nichts.“ „Schilt ihn nicht, Smeraldina“, bedeutete ihr Zaccaria. „Du darfst nicht vergessen, daß er ein Atom ist. Er ist eben noch 44
unerfahren und muß erst lernen.“ „Ich werde lernen“, entgegnete Atomino eifrig. „Ich werde mich mit Architektur befassen, mit dem Stabilbaukasten, mit Tischtennis, mit guten Manieren und werde alles tun, was ihr von mir verlangt.“ Nach dem Abendessen stellte Smeraldina den Fernseher an. Es wurde ein Boxkampf übertragen. Ein mageres Kerlchen, blond wie Smeraldina, hatte eine Art haarigen Gorilla zum Gegner. Sofort ergriff Smeraldina Partei für den Blondschopf. „Los, gib ihm Saures, hau ihn k.o.!“ Aber der Blondschopf zog den kürzeren. „Los doch! Verdammter Mist. Immer feste aufs Kinn. Nein, nein, er ist schon wieder zu Boden gegangen. Der widerliche Kerl schlägt ihn doch tatsächlich zusammen!“ Der Blondschopf schwankte hin und her wie ein Pendel, flog gegen die Seile, federte zurück gegen die Boxhandschuhe seines entfesselten Gegners, und dann noch einmal. Statt auf den Bildschirm schaute Atomino auf Smeraldina. Es tat ihm weh, daß sie so sehr litt. „Dieser widerliche Gorilla. Verdammter Mist, wenn er doch bloß einen anständigen Schwinger auf die Nase bekäme!“ „Laß mich nur machen“, sagte Atomino und war mit einem Satz an der Tür. „Wo willst du hin?“ rief Smeraldina ihm nach. „Komm so fort zurück !“ Aber Atomino war schon so weit weg, daß er sie nicht mehr hören konnte. Wenige Sekunden genügten, bis Smeraldina wußte, wohin er geeilt war: zum Sportpalast. Sie sah auf dem Bildschirm, wie er sich einen Weg durch die Zuschauermenge bahnte und in den Ring sprang. „Etwas höchst Merkwürdiges ist passiert“, rief der Fernseh ansager. „Ein Überfall auf den Ring. Ein komischer Kauz ist 45
eben zwischen die Seile geklettert.“ Die beiden Boxer und der Ringrichter schauten Atomino verblüfft an. Der zeigte sich jedoch nicht im geringsten einge schüchtert. Im Gegenteil! „Du Flaps“, wandte er sich an den haarigen Boxer, „wieso unterstehst du dich, Smeraldinas Liebling zu verprügeln?“ Smeraldina hörte es, und auf dem Bildschirm sah sie auch aus allernächster Nähe den klassischen rechten Geraden, den Atomino gegen den haarigen Boxer abfeuerte. Wie eine Bil lardkugel prallte der Ärmste sechsmal zwischen den Seilen hin und her und landete dann k.o. auf dem Boden. Darauf ergriff Atomino die Hand des Blondschopfs und hob seinen Arm in die Höhe. „Smeraldina“, rief er, „dein Boxer hat gewonnen.“ Dann sprang er aus dem Ring, und Smeraldina sah auf dem Bildschirm, wie er abermals die Menge zerteilte. Wenige Se kunden nachdem er von der Mattscheibe verschwunden war, hörte sie das Zischen einer Rakete, das Schlagen einer Tür, und Atomino stand neben ihr. „Zufrieden?“ fragte er strahlend. „Du hast einen Wunsch geäußert, und ich habe ihn dir sofort erfüllt.“ Aber Smeraldina war ganz und gar nicht begeistert. „Schäm dich! Das war gegen die Regeln. Du bist kein Sportler. Marsch, ins Bett!“ Atomino begriff nichts mehr. Hatte sie nicht gewünscht, daß der haarige Gorilla einen Puff auf die Nase bekäme? Kleinlaut ging er zu Bett. Wie merkwürdig war doch die Welt der Menschen! Er mußte wirklich vieles lernen. Smeraldina kam ins Zimmer und legte sich ins Bettchen ne ben dem seinen. „Bist du mir noch böse?“ fragte Atomino zaghaft. „Nein, aber jetzt wollen wir schlafen. Es ist schon spät. Ich 46
muß morgen früh zur Schule.“ Atomino konnte nicht einschlafen; er war traurig und dach te nach. Smeraldina war so klug und wußte soviel: über Archi tektur, wie man mit dem Stabilbaukasten spielt, wie man sich anständig benimmt und auch über die Regeln des Boxsportes. Und gut war sie auch. Sie hatte ihn vor dem Polizisten in Si cherheit gebracht und mit nach Hause genommen; sie hatte ihm sogar einen Namen gegeben. Es war wirklich ein Glück, daß er ausgerechnet ihr begegnet war. Er dagegen hatte – schöne Dankbarkeit! – an einem einzigen Tag allerlei Unheil angerichtet. Ob es ihm wohl je gelingen würde, sie zufrieden zustellen ? Smeraldina schlief ebensowenig. Er ist großartig, dachte sie. Welch ein Glück, daß ich ihn getroffen habe. Papa hat recht: Er ist unerfahren und muß noch eine Menge lernen. Ich wird’s ihm beibringen, da geb ich mein Wort drauf!
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Fünftes Kapitel Smeraldinas Wesensart Smeraldina war – wir sagen es am besten gleich – zuweilen unausstehlich. Zum Beispiel in der Schule. Sie wußte einfach alles. Nie hatte ein Lehrer die Gelegenheit, ihr eine Drei, gott bewahre! oder gar eine Vier zu geben. Die schlechteste Zensur, die sie bekam, war eine Zwei. Der Lehrer brauchte nur zu sagen: „Wer weiß…?“ Schon sprang Smeraldina auf, noch bevor sie die ganze Frage kannte, und erwiderte: „Ich!“ Und sie wußte auch tatsächlich immer die richtige Antwort. Und das nicht etwa, weil sie von früh bis spät lernte oder ihr kluger Vater ihr alles beibrachte. Nein, sie hatte eine leichte Auffassungsgabe, und sie war überzeugt, daß ein jeder alles begreifen könnte. Sie dachte auch nie: Das ist zu schwierig für mich! oder: Ich bin ein Mädchen, dazu reicht mein Verstand nicht aus! „Nicht doch, Smeraldina“, sagten einige Klassenkamera dinnen, „gewisse Fächer sind nichts für uns; zum Beispiel Physik, Mathematik, Politik, die Wissenschaft überhaupt.“ Sobald sie solche Reden hörte, wurde sie wütend. „Ver dammter Mist, haben wir Mädchen nicht ebensoviel Grips wie die Jungs! Aber ich weiß, ihr strengt ihn nur an, wenn es um Schlager, um Liebesgeschichten, um blöde Schauspieler geht. Gack-gack-gack, ihr habt nichts anderes im Sinn, als über sol chen Schnickschnack zu schnattern.“ Es war nur zu natürlich, daß sie mit solchen Ansichten bei vielen ihrer Mitschülerinnen unten durch war; aber sie benei 49
deten sie auch. Denn sie interessierte sich für alles, sie lang weilte sich nie, sie sagte und tat stets das, was ihr paßte. An dererseits mußte sie vieles mit ihrem eigenen Verstand er gründen, weil sie keine Mutter hatte. Hatte sie auch keine Mama, so hatte sie wenigstens eine Oma, die Mutter ihrer Mutter. Die aber wohnte („Gott sei Dank“, pflegte Smeraldina zu sagen) nicht mit ihnen zusam men. Smeraldina hatte ihre Oma lieb; sie besuchte sie jeden Sonntag und verbrachte die Sommerferien mit ihr, damit der Papa in der Stadt ruhig arbeiten konnte. Und die Großmutter freute sich jedesmal, daß sie mit ihr aufs Land fuhr. Allabend lich, wenn Smeraldina in dem Gasthof zu Bett ging, wollte die Oma ihr ein Märchen erzählen. „Kennst du das von Rotkäppchen?“ „Aber ja, Oma.“ „Und das von Dornröschen?“ „Klar, ich kann’s auswendig.“ Das Ende vom Lied war stets, daß die Großmutter ihr trotz dem ein Märchen erzählte, ganz gleich, ob Smeraldina es kannte oder nicht. Sie erzählte es mit großer Hingabe, denn sie war überzeugt, daß die Enkelin froh war, es zu hören. Doch Smeraldina gefielen Märchen überhaupt nicht, zumindest nicht diejenigen, die ihr die Oma erzählte und in denen es von engelgleichen Feen und Prinzessinnen nur so wimmelte. Die waren so gut, daß ihre Güte schon an Dummheit grenzte; sie warteten nur darauf, von einem edlen Prinzen oder einem hübschen Ritter geheiratet zu werden. Dabei fragte sich nie eine von ihnen, ob der Prinz oder der Ritter auch klug wäre. Er brauchte nur tapfer, schön und reich zu sein. Genauso ur teilten auch einige ihrer Mitschülerinnen. Aber das war doch, verdammter Mist! lauter ungereimtes Zeug aus der Zopfzeit, während wir jetzt im Atomzeitalter leben! Wenn sie diese 50
langweiligen Märchen hörte, schlief sie unweigerlich ein, eben vor Langeweile. Hin und wieder erzählte jedoch Smeraldina der Großmutter eins von ihren eigenen Märchen: Geschichten von Wunderma schinen, von Elektrohirnen, die besser denken konnten als die Philosophen, oder Abenteuer von Gelehrten wie ihr Vater – ja, das waren wenigstens richtige Zauberer –, von Mädchen, die Minister wurden und wunderschöne Gesetze verabschiedeten. Sie schafften zum Beispiel das Kriegsministerium ab und setz ten an seiner Stelle ein Friedensministerium ein, oder sie wur den Kosmonautinnen und landeten mit atomgetriebenen Weltraumschiffen auf der Venus. „Ach so, dieser Teufelskram von heute“, pflegte die Groß mutter dann zu sagen, und die Augen fielen ihr vor Müdigkeit zu. Wir sind grundverschieden, dachte Smeraldina. Die Groß mutter war zwar lieb und gut, aber Ansichten hatte sie! Sie schien sie aus einer alten, verstaubten Truhe hervorzukramen, denn sie änderten sich nie, waren immer dieselben. Sie begannen samt und sonders mit: Das darfst du nicht! Sag nicht immer! Das schickt sich nicht! Ein Mädchen sollte! Gib dich nicht mit Jungen ab, Smeraldina, das gehört sich nicht! Warum nicht, dachte Smeraldina. Einige Jungen sind zwar dämlich, andere aber um so sympathischer und oft interessan ter als Mädchen. Smeraldina, du bist jetzt schon ein großes Fräulein, benimm dich gefälligst danach! Verdammter Mist! Sich wie ein Fräulein benehmen, das hieß für die Oma wie eine Mumie dasitzen, das neue Kleid nicht zerknittern, kerzengerade, mucksmäuschenstill und mit einem Gesicht wie ein versteinertes vorweltliches Wesen auf dem Stuhl hocken. 51
Was, du redest von Politik? Das sind keine Gespräche für junge Mädchen! Und warum nicht? Lebe ich vielleicht auf dem Mond? Papa sagt immer: Alles, was sich auf der Erde ereignet, geht uns alle an. Groß und klein. Wie sonderbar du doch bist, Smeraldina. Mit deinem Cha rakter und deinen Ansichten wirst du nie einen Mann finden! Wieso? Muß man dumm sein und zu allem ja und amen sa gen, um heiraten zu können? Und warum gilt man als sonder bar, wenn man offen und ehrlich ist und seinen Verstand ge braucht? Dann will ich, verdammter Mist! eben sonderbar sein. Papa gefällt es übrigens, daß ich sonderbar bin, denn es macht ihm Spaß, sich mit mir zusammenzuraufen.
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Aber es hatte keinen Zweck, mit der Oma zu reden. Deshalb beschränkte sich Smeraldina darauf – teils aus Höflichkeit, teils, um sie nicht zu ärgern –, gewisse Antworten nur in Ge danken zu geben. Genauso verhielt sie sich auch, wenn sie der Großmutter eine Freude bereiten wollte. Wie tüchtig du bist, Smeraldina. Schon das Bett gemacht und sauber ausgefegt. Du bist fürwahr eine richtige kleine Hausfrau! Verdammter Mist! Hausfrau bin ich nur, weil ich muß, nicht aus Vergnügen. Es gibt nichts Blödsinnigeres auf der Welt, als seine Zeit mit Hausarbeiten zu vergeuden. In ei ner halben Stunde wird alles erledigt, und dann denk ich nicht mehr dran. Smeraldina, hast du den Artikel über die Hochzeit der Prin zessin von Habenichts gelesen? Schau mal, welch prächtiges Brautkleid sie anhatte! Jawohl, Oma, es ist wirklich hübsch, (insgeheim dachte sie jedoch: Wie kann man sich bloß mit so einem Quatsch abge ben? Wen interessiert, daß die Prinzessin Tunichtgut den Ba ron Don Blödian geheiratet, die Königin von Baybay einen kräftigen Jungen von 3,567 Kilogramm entbunden, die be kannte Schauspielerin Ypsilon Zet erklärt hat, daß sie Spaghet ti in Öl vorzieht? Verdammter Mist! Was für ein Quatsch!) Jawohl, die Oma war recht lieb und gut, aber wie langweilig waren die zwei Monate Ferien bei ihr. Warum vergeudest du deine Zeit damit, Geschichtsbücher zu lesen, Smeraldina? Vergnüg dich lieber, hör zu! (Schönes Vergnügen, ihr zuzuhören, wenn sie mit ihren Freundinnen endlos darüber redete, daß die Enkelkinder einen Bock gehabt, die Hosen vollgemacht, ein neues Zähnchen bekommen hat ten.) Smeraldina, unterhalt dich mit der Tochter meiner Freun din, das ist ein aufgewecktes Mädchen! (Von wegen aufge 53
weckt, eine Transuse ist sie. Sie weiß nicht einmal, daß heute eine Rakete zum Mond geschossen wurde.) Liebe Oma, dachte sie, wenn ich dir die Wahrheit sagte, würde sie dir weh tun. Ich würde nämlich viel lieber in ein Ferienlager gehen, in dem viele Kinder sind. Oder mit der Mama verreisen. Die Mutter fehlte ihr. Es war wie eine Lücke in ihrem Da sein, wie das merkwürdige Gefühl, in einen Spiegel zu blicken und sich nicht zu sehen. Welch großes Unrecht, daß sie ge storben war! Es mußte herrlich sein, mit einer Mutter zusam men zu leben, die einen verstand. Sie wäre bestimmt ganz an ders gewesen als die Oma und wie viele andere Mütter, die Smeraldina kannte. Der Vater mit seiner großen Klugheit hätte sicherlich keine Frau geheiratet, die nur dummes Zeug redete. Doch auch Mütter können sich irren, davon war Smeraldina überzeugt. Es ist zwar sonnenklar, daß sie uns lieben, aber deshalb brauchen sie noch lange nicht immer recht zu haben. Ebensowenig wie die Väter und die Erwachsenen im allge meinen. Sie haben nur dann recht, wenn sie wirklich recht ha ben. Wenngleich sie keine Mutter hatte, so hatte sie dafür einen Vater, einen Papa, ein Papachen, den lieben Herrn Zaccaria, den gelehrten Professor, den überaus rechtschaffenen Wissen schaftler. Was war er nicht alles für sie: ein Vater, ein Freund, ein Lehrmeister, ein Ratgeber, zuweilen sogar ein Spießgeselle, der ihr zum Beispiel half, Aprilscherze auszuhecken. Sie konn te mit ihm über alles sprechen, er nahm alles ernst, sogar ihre Märchen. Welch ein Glück, einen klugen Vater zu haben, dachte sie. Er erklärt mir die Atome, die Astronomie, die Politik und so gar die Fußballregeln. Denn obwohl er ein großer Gelehrter ist, so ist er noch lange kein Trauerkloß. Wenn er Zeit hat (lei 54
der hat er nur wenig!), spielt er mit mir. Beim Schach gewinnt er zwar immer, aber beim Toreschießen schlage ich ihn. Wie ihn das wurmt! Aber auch noch aus einem anderen Grund habe ich ihn schrecklich lieb: weil er Mama so sehr nachtrauert. Wie oft schaut er ihr Foto an, das seinen ständigen Platz auf seinem Arbeitstisch hat! Aber ich habe mir geschworen, ihn so wenig wie möglich spüren zu lassen, daß sie nicht mehr da ist. Ich will all das erledigen, was die Mama für ihn erledigt hätte: die Wohnung sauberhalten, kochen, die Wäsche in die Wäscherei bringen und auch das Ausgabenbuch führen, denn vom einfa chen Rechnen hat Papa keine Ahnung. Er versteht nur etwas von Gleichungen und Logarithmen an aufwärts. Mit diesen Verrichtungen darf ich jedoch nicht großtun. Ich bin im Ge genteil froh, wenn er mich nicht dafür lobt. Er ist wirklich ein großartiger Mann. Ihm gefallen die Märchen, die ich mir aus denke und bei denen die Oma einschläft. Er behauptet auch nicht, daß ich sonderbar bin, wenn ich ihm zum Beispiel die Frage stelle: Stimmt es, daß ein Volk ein Volk von Dummköp fen ist, wenn es sich der vielen Kriege rühmt, die es vom Zaun gebrochen hat? Kurz, einerseits war Smeraldina unausstehlich, andererseits wiederum äußerst sympathisch. Sie war beides zugleich, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. „Was hast du bloß in deinem Dez – Sägemehl?“ sagte sie zu einer Klassenkameradin. „Wenn deine Eltern dir manches nicht erklären, dann tun sie Unrecht, großes Unrecht sogar. Auch wir müssen gegen die Atombombe protestieren. Wenn die Erwachsenen das nicht begreifen, sind sie Hornochsen. Ich kenn mich nämlich aus in Atomen, Atombomben und – zentralen.“ Das stimmte, und deswegen hatte sie Atomino auch sofort 55
erkannt. Atomino! Jetzt war er in ihr Leben getreten, und sie hatte sich vorgenommen, ihm alles beizubringen. – Das kann ich. Schließlich bin ich ja keine alberne Schnattergans. Ich bin sehr gescheit, verdammter Mist!
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Sechstes Kapitel Smeraldina gibt ein Fest Smeraldina brachte Atomino bei, mit der Gabel umzugehen, die Teller nicht aufzuessen, sein Bett selber zu machen und auf Telefonanrufe zu antworten. Sie begann mit dem Einfachsten, denn Atomino mußte sehr viel lernen, praktisch alles. Streng und gebieterisch verlangte sie, daß er ihr aufs Wort folgte. „Schluß mit dem Spielen, jetzt fängt der Unterricht an! Lach nicht, jetzt wird es ernst! – So, nun wird gespielt, sei lu stig! – Genug jetzt! Hilf mir bei den Hausarbeiten!“ Atomino gehorchte zwar stets äußerst eilfertig, richtete je doch viel Unheil an. So sagte ihm Smeraldina zum Beispiel, daß er sich nach dem Aufstehen gründlich waschen müsse. Was machte er? Er kroch in die Waschmaschine und zerbrach sie. Kam sie aus der Schule, rannte er ihr freudig entgegen, um ihr zu öffnen. Dabei behielt er die Türklinke in der Hand. Für jeden Fehler bestrafte ihn Smeraldina, doch er beklagte sich nie. Denn er hatte es wirklich gut bei ihr, und er wäre gern immer mit ihr zusammen gewesen. Aber Smeraldina mußte zur Schule gehen und ließ ihn stets einen halben Tag allein. Dann wartete er voll Ungeduld auf ihre Heimkehr; die Uhrzeiger bewegten sich aber so langsam, daß ihn die Versu chung anwandelte, sie vor zu stellen. War Smeraldina in der Schule, dann blieb Atomino bei Zac caria, der ihn untersuchte. Im Gegensatz zu seiner Tochter war der Professor ziemlich duldsam und einsichtig. Während der kurzen Arbeitspausen im Laboratorium redete er mit Atomino wie mit einem Sohn. „Sei nicht traurig, wenn Smeraldina dir 57
Vorwürfe macht. Im Grunde ist sie herzensgut. Sie ist zwar ein bißchen sonderbar, aber versetz dich in ihre Lage. Sie ist von jeher allein gewesen, ohne Geschwister, und von klein auf hat sie keine Mutter gehabt.“ „Ich verstehe“, erwiderte Atomino, obgleich er in Wirklich keit nicht den blassesten Schimmer von Müttern hatte. Er be griff jedoch, daß Smeraldina etwas fehlte, und schon deshalb war er immer geduldig um sie bemüht. „Ich weiß, daß ich Opfer von dir verlange, Atomino“, fuhr Zaccaria fort, „und daß es bei mir nicht lustig zugeht. Du bist ein Atom, aber ein Atomkind, und es ist daher nur zu natür lich, daß du spielen und dich vergnügen möchtest. Ich dage gen muß dich gründlich untersuchen. Denn gerade du hast mich auf einen großartigen Gedanken gebracht. Der Traum eines jeden richtigen Wissenschaftlers ist es, der Menschheit zu einem besseren Leben zu verhelfen. Und die Atomenergie kann dazu dienen, neue Industrien aufzubauen, den Men schen Wärme zu spenden, ihre Ernährung zu verbessern, sie zu heilen und sie auf Reisen zu schicken. Du hast viel von die ser Energie, und ich möchte sie zum Nutzen aller verwenden. Davon träume ich, und dank deiner Unterstützung kann ich meinen Traum verwirklichen. Du hilfst mir doch dabei, nicht wahr?“ „Klar!“ sagte Atomino. Aber Zaccaria beschäftigte sich nicht nur mit seinem Plan, er half Atomino auch, vieles zu verstehen. „Ihr Atome schließt eine ungeheure Kraft in euch ein, vor allem jedoch du, Atomino, bei deiner Größe. Eure Kraft kann entweder gut oder böse sein, je nach dem Gebrauch, den man von ihr macht. Leider gibt es Menschen, die sie zum Schlech ten verwenden möchten. Sie wollen Kriegswaffen mit ihr her stellen. Und da du dich in der Welt nicht auskennst, mußt du 58
auf der Hut sein. Du darfst nie zulassen, daß deine Energie für Gewalttaten oder für die Bedrohung des Lebens mißbraucht wird.“ „Jetzt verstehe ich“, erwiderte Atomino, „das war es also, was ein gewisser General Simeone und ein Wissenschaftler namens von Botto von mir wollten. Sie sprachen von Bomben, von Atomwaffen …“ „Von Botto! Ich kenne ihn dem Namen nach“, wandte Zac caria verächtlich ein. „Er ist ein gewissenloser Wissenschaftler, einer von denen, die immer jawoll zu den Generalen sagen statt zur Wissenschaft. Leuten wie ihnen darfst du nie helfen; viele Mütter, Väter und viele Kinder würden darunter zu lei den haben.“ „Auch Smeraldina?“ „Allerdings.“ „Dann schwöre ich Ihnen“, versicherte Atomino, „daß ich nie etwas tun werde, was jemand, vor allem jedoch Smeraldi na, schaden könnte.“ „Bravo! Denk stets daran, daß ein Atom Außerordentliches leisten, aber zugleich auch viel Unheil anrichten kann.“ Obwohl Atomino so bedeutend war, wurde er keineswegs hochmütig. Nur Smeraldinas Lob hätte ihm Freude bereitet. Deshalb bemühte er sich, es ihr in allem recht zu machen. Aber sosehr er sich auch anstrengte, es wollte ihm nicht gelin gen. Eines Tages fragte Smeraldina ihren Vater, ob sie eine kleine Festlichkeit geben dürfe. Sie wollte Atomino ihren Klassen kameraden vorstellen. Für Atomino war das eine herrliche Of fenbarung. Dann schämte sie sich also seiner nicht, obwohl sie ihn stets tadelte! Er war ein Atom, mutterseelenallein auf der Welt, eine Waise, ohne festen Wohnsitz, und sie hatte ihm ei nen Namen, ein Zuhause, eine Familie gegeben; jetzt veran 59
staltete sie sogar ein Fest ihm zu Ehren. Zaccaria sperrte sich in sein Laboratorium ein, und Smeral dina bereitete einen Berg belegter Brote vor und stellte einen ganzen Tisch mit Limonadenflaschen voll. Bevor die Gaste eintrafen, schüttete Smeraldina einen Sack voll Ermahnungen über Atomino aus. „Sei nicht übermütig! Drück niemand die Hände zu stark! Verbrenne keinen! Mach keinen Unfug mit der Elektrizität!“ „Smeraldina, ich versprech dir, ich blamier dich nicht.“ Als an die Tür geklopft wurde, öffnete Smeraldina rasch, während Atomino aufgeregt im Wohnzimmer zurückblieb. Vom Eingang her drangen zahlreiche Stimmen herein. „Ciao, Smeraldina, wo ist das Atom, von dem du uns er zählt hast?“ Alle waren neugierig, besonders die Mädchen. „Wie ist er? Blond? Groß? Schlank? Welchem Schauspieler sieht er ähnlich?“ Atomino betrachtete sich im Spiegel. Er war weder blond noch groß noch schlank. Smeraldina würde sich seiner gewiß schämen. Er hörte sie jedoch sagen: „Er ist großartig. Kommt, ich stell ihn euch vor. Er ist im Wohnzimmer.“ Wie lieb sie doch war! Schade, daß sie so etwas nie zu ihm sagte. Als die Kinderschar eintrat, zitterte Atomino vor Aufre gung. „Ciao“, grüßte er zaghaft. „Wie drollig er ist!“ rief ein Mädchen. „Sympathisch!“ „Bezaubernd!“ meinte eine dritte. „Wieviel hast du für ihn bezahlt, Smeraldina? Verkaufst du ihn mir?“ Atomino blickte verzweifelt Smeraldina an. Wenn sie ihn nun tatsächlich verkaufte? Aber sie erwiderte: „Bist du ver rückt! Für alles Gold der Welt würde ich ihn nicht hergeben.“ „Wieviel Tamtam um ein Atom“, bemerkte Armando, der größte und stärkste von allen. „Seht ihr denn nicht, wie ko 60
misch er ist? Guckt euch bloß seine Ärmchen an!“ „Hüte dich, Armando“, warnte Smeraldina unwillig. „Ato mino ist eine Million Mal stärker als du.“ „Dieser Hampelmann?“ Armando grinste. „Das werden wir gleich sehen. Willst du mit mir ringen, Atomino, oder lieber boxen ?“ Er baute sich vor ihm auf. „Los, oder hast du Angst?“ Als Atomino die Fäuste sah, die Armando ihm unter die Nase hielt, schaute er Smeraldina an. Was sollte er tun? „Wehe, wenn du ihn auch nur mit dem kleinen Finger an faßt!“ sagte sie. Sofort trat Atomino einen Schritt zurück. „Sie hat Angst, daß ich ihren Hampelmann übel zurichte.“ Armando grinste. „Er ist wirklich nur ein Spielzeug für kleine Mädchen.“ Tatsächlich scharten sich alle Mädchen um Atomino. Sie wollten wissen, ob er Beatmusik gern hätte, welches seine Lieblingssänger seien und welche Schauspieler ihm am mei sten gefielen. Atomino wußte nicht, was er sagen sollte. Von alldem hatte er noch nie etwas gehört. „Er ist ein richtiges Dummchen“, meinte eins der Mädchen. „Er muß äußerst romantisch sein.“ „Für mich ist er ein Stiesel“, bemerkte Armando. „Ver plempern wir keine Zeit mit ihm! Geh aus dem Weg!“ Damit schob er Atomino unsanft beiseite. „Wollen wir tanzen, Mäd chen?“ „Ja, aber mit Atomino.“ Alle wollten mit ihm tanzen, dabei wußte Atomino nicht einmal, was das Wort „tanzen“ bedeute te. „Er ist wirklich ein Blödian“, sagte Armando. Giftig trat Smeraldina einen Schritt vor. „Der Blödian bist du. Atomino kann so Ungewöhnliches leisten, was dir nicht einmal im Traum einfallen würde. Beweis es ihm, Atomino!“ Wenn Smeraldina auf ihn rechnete, um sich nicht zu bla 61
mieren, dann wollte er sie nicht enttäuschen. Dabei erinnerte er sich, daß sie in einer Zeitung die Fotografie eines Gauklers bewundert hatte, der Feuer spie. Ihm wollte er es gleichtun. Doch statt einer Flamme schoß ein Atompilz aus seinem Mund. Der war natürlich unschädlich, aber es sah tatsächlich wie eine Kernexplosion im kleinen aus. Und der dazugehörige Knall fehlte auch nicht. Dennoch erzielte er eine Wirkung, wenngleich eine verhee rende. Denn alle verkrochen sich erschreckt unter den Tisch und die Stühle. „Schäm dich!“ rief Smeraldina. „So was macht man nicht einmal im Scherz. Marsch, in die Ecke! Und ihr kommt heraus, habt keine Angst. Atomino ist zwar dumm, aber harmlos. Auf jeden Fall beachtet ihn nicht mehr.“ Tief gekränkt ging Atomino ins Eckchen. Vor lauter Scham hätte er am liebsten den Kopf gegen die Wand geschlagen. Ob er es wohl je fertigbrachte, etwas Vernünftiges anzustellen? „Wir wollen tanzen“, sagte Armando und legte eine Platte auf. Im Tanzen war er wirklich ein Meister. Er hüpfte und wand sich wie ein Aal. Und je mehr er sich wiegte und drehte, um so mehr bewunderten ihn die Mädchen. Die Musik dröhnte im Zimmer, alle hopsten ausgelassen; Atomino in seinem Eckchen beobachtete wehmütig Smeraldi na, die mit Armando tanzte. Er tanzte wirklich abscheulich gut. Schließlich war tanzen gar nicht mal so schwierig. Man brauchte nur herumzu-hüpfen und Arme und Beine nach hier und nach dort zu schlenkern. Atomino hätte schrecklich gern mit Smeraldina getanzt. Aber sie war wütend und würdigte ihn keines Blickes. Doch als die Musik zu Ende war, kam sie auf ihn zu. „Ich hab dir verziehen“, sagte sie streng. „Forderst du mich dafür zum Tanz auf?“ „Das macht doch keinen Spaß mit dem Blödian“, sagte Ar 62
mando. „Tanz lieber mit mir!“ Er gab Atomino, der herange treten war, einen Schubs. Atomino juckte es dermaßen in den Händen, daß sie Fun ken sprühten. Er mochte alle gut leiden, aber er duldete nicht, daß sich jemand zwischen ihn und Smeraldina drängte. Sie hatte ihn gebeten, und es kam ihm zu, mit ihr zu tanzen. Auch Smeraldina schien verärgert zu sein. Als sie aber sah, daß Atomino die Hände hob, sagte sie: „Denk dran, nicht einmal mit dem kleinen Finger darfst du ihn anfassen.“ Atomino beherrschte sich. Smeraldinas Anweisungen dul deten keine Widerrede. Aber dieser Flegel mußte verschwin den. Deshalb beschränkte sich Atomino darauf, leicht zu pu sten. Wie von einem Wirbelwind gepackt, flog Armando durch die Luft, brach durch die Tür, sauste über den langen Korridor und segelte durchs Fenster. „Hast du gesehen, ich habe dir gehorcht“, sagte Atomino mit Unschuldsmiene. „Ich habe ihn nicht einmal mit dem klei nen Finger berührt.“ Smeraldina konnte ein Lachen nicht verbeißen. Sie tanzten, aber es fiel ihr schwer, sich ihm anzupassen. Atomino hopste und wand sich wie ein Tobsüchtiger. Er wollte zeigen, daß er es besser konnte als Armando. „Wie gut er tanzt! Was für ein Rhythmus!“ Alle waren ste hengeblieben, um ihm zuzusehen. Atomino legte noch mehr zu. Bei seinem rasenden Tempo erzitterte der Boden, wackelten Decke, Wände und Möbel. „Du bist fabelhaft, aber jetzt ist’s genug“, bedeutete ihm Sme raldina. Atomino jedoch, von der Musik berauscht, dachte gar nicht daran, aufzuhören. Er wollte, daß sie ihn bewunderte. Von der Decke löste sich der Putz, und ein Schrank, den er gestreift hatte, zerfiel in Splitter. 63
„Schluß jetzt!“ schrie Smeraldina. Atomino, außer Rand und Band, achtete nicht darauf. „Schau, wie fabelhaft ich tanzen kann!“ rief er und riß Stüh le und Tisch um. Alle Limonadenflaschen gingen in Scherben, der Kronleuchter stürzte herunter, aber Atomino fuhr fort, sich zu drehen wie eine Wasserhose. Dabei rammte er die er schrockenen Gäste und schleuderte sie gegen die Wand. „Genug!“ brüllte Smeraldina, die nun auch koppheister her umgewirbelt wurde. Schließlich kam Atomino wieder zur Vernunft. Aber da wa ren nur noch die abgebröckelten Wände und auf dem Fußbo den ein Haufen Schutt übrig, aus dem die Kinder, verbeult und zerschunden, mit Müh und Not hervorkrochen. „Ein schönes Fest“, sagte eins der Mädchen, „sehr aufre gend.“ „Wir haben uns köstlich amüsiert, aber jetzt müssen wir ge hen.“ „Du hattest recht, Smeraldina. Atomino ist wirklich großar tig. Ein bißchen wild, aber ansonsten ein lieber Kerl.“ Staubbedeckt und mit zerrissenen Kleidern verschwand ei ne nach der anderen. Kaum allein, platzte Smeraldina los: „Du hast mir mein schönes Fest verdorben. Und das Zimmer hast du zugrunde gerichtet. Du bist ein Atom ohne einen Funken Anstand.“ „Verzeih mir, ich wollte niemand zu nahe treten. Es ist nicht meine Schuld, daß ich so stark bin. Unter euch Menschen komme ich mir ein wenig fehl am Platz vor.“ „Von wegen fehl am Platz! Du bist ein Schafskopf, ein toll wütiger Trottel, eine öffentliche Gefahr. Ich schäme mich dei netwegen.“ Atomino hatte sie nie zuvor so wütend gesehen. Den gan zen Tag über sprach sie kein Wort mit ihm. Zum Glück mach 64
te ihm Zaccaria keine Vorwürfe und verzieh ihm den Schaden, den er angerichtet hatte. Als sie schlafen gingen, schlüpfte Smeraldina ins Bett, ohne Atomino gute Nacht zu sagen. Er war dem Weinen nahe. „Sei ehrlich“, flüsterte er, „hast du es schon bereut, daß du mich in euer Haus aufgenommen hast? Wenn es so ist, sag es. Dann geh ich, und du brauchst dich meinetwegen nicht mehr zu schämen. Das heißt, wenn du willst, kannst du mich auch verkaufen. Mit dem Geld könnte ich dazu beitragen, den Schaden wiedergutzumachen, den ich angerichtet habe.“ „Red nicht solchen Unsinn“, entgegnete Smeraldina, „ein Brüderchen kann man doch nicht einfach aus dem Haus ja gen.“ Ein Brüderchen? Hatte sie das wirklich gesagt? Trotz allen Unheils, das er anstiftete, hatte Smeraldina ihn gern. Das war herrlich, er war nicht mehr allein auf der Welt, jetzt hatte er ein Schwesterchen. „Smeraldina, eben hast du etwas Wunderschönes gesagt. Ich bin glücklich, auch wenn dir vielleicht ein richtiges Brü derchen aus Fleisch und Blut lieber wäre.“ „Mir gefällst du, so wie du bist, auch wenn du viele Fehler hast.“ „Ich weiß, ich habe keine Manieren, bin einfältig, liederlich und dumm. Stimmt’s?“ „Nun ja, es stimmt.“ „Und stimmt es auch, daß ich Unterricht nehmen und noch viel lernen muß?“ „Du hättest es nötig.“ Vor Freude hopste Atomino ins Bett und versprühte dabei eine elektrische Ladung, die das ganze Zimmer erhellte. „Hurra! Dann mußt du mich mit in die Schule nehmen.“ Das war sein sehnlichster Wunsch, denn dadurch wäre er den 65
Vormittag über nicht mehr von ihr getrennt. „Papa braucht dich aber für seine Forschungen.“ „Ich werde nachmittags, abends, die ganze Nacht mit ihm zusammenarbeiten.“ „Na schön“, sagte Smeraldina.
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meinen militärischen Plänen zu helfen.“ Da erinnerte sich Atomino an das, was Zaccaria ihm immer wieder ans Herz gelegt hatte: Niemals sollte er den Generalen helfen und auch nicht den Wissenschaftlern, die jawoll zu den Generalen sagten. „Hast du verstanden?“ fragte Simeone. „Ja“, erwiderte Atomino, „aber ich denke nicht daran, Ihnen zu helfen.“ „Nichtswürdiges Atom, du wagst es, mir den Gehorsam zu verweigern? Sperrt ihn ein!“ Aber ihn noch strenger einzu sperren, als er schon war, das ging einfach nicht. „Es ist meiner Ansicht nach besser, ihn zu überreden“, meinte von Botto und wandte sich schmeichlerisch an den Ge fangenen. „Atomino, ich bin dein Freund und will dein Bestes. Sei lieb, tu mir einen ganz kleinen Gefallen und gib mir ein wenig von deiner Atomenergie.“ Was wollte der widerwärtige Kerl von ihm? Er hatte jawoll zu General Simeone gesagt, deshalb konnte er kein rechtschaf fener Wissenschaftler sein wie Zaccaria. „Warum willst du nicht, Atomino? Was macht’'s dir aus, wenn du mir ein wenig von deiner Atomenergie abtrittst? Du hast doch soviel davon … Ich bezahl sie dir auch, ich geb dir viel, viel Geld dafür.“ Von Botto hielt ihm ein Bündel Millio nenlirescheine unter die Nase. „Da, nimm, es gehört dir.“ Das Geld hätte gereicht, um eine Tonne Bücher für Zaccaria zu kaufen und jedes Jahr einen Sommerurlaub für Smeraldina zu bezahlen, und das ihr Leben lang. Smeraldina würde ihm zulächeln, und sie würden sich wieder vertragen … Aber was kam ihm bloß in den Sinn? Ein Atom verkauft sich nicht. „Oder ist dir was zum Naschen lieber?“ fuhr von Botto be harrlich fort. „Ich habe einen wahren Leckerbissen für dich, den König der Atome. Schau her, Uran erster Güte.“ Er zeigte 148
ihm ein prächtiges Stück Uran auf einem Teller. Ein köstliches Gericht für ein Atom und auch ein ausgezeichneter Energie spender, ein wahrer Lebenswecker. Aber Atomino schluckte das Wasser hinunter, das ihm im Munde zusammenlief, und sagte: „Nein!“ „Vielleicht magst du es nicht trocken? Möchtest du es lieber mit zerlassener Butter und Kaviar? Den werd ich dir zentner weise beschaffen.“ „Nein!“ „Vielleicht ist er ein ehrgeiziges Atom“, wandte General Simeone ein, der sich in Ehrgeiz auskannte. „Wenn du mir hilfst, werde ich dich zum Geheimrat ernennen.“ Das wäre wunderschön, vor Smeraldina hinzutreten und ihr zu sagen: „Wir wollen uns wieder vertragen. Ich bin ein bedeutendes Atom geworden, der Geheimrat Atomino.“ Dann würde sie ihm nicht mehr vorwerfen, daß er häßlich und herz los sei. Aber er dachte an Zaccarias Ermahnungen und erwi derte: „Nein!“ Lieber Atomino bleiben, und damit hat sich’s. „Ich verstehe“, entgegnete Simeone, „auch du schätzt die militärischen Ehren höher. Darum ernenne ich dich vorerst zum Hauptmann.“ „Nein!“ „Zum Oberst.“ „Nein!“ „Ich werde dir eine Goldmedaille an einem schönen rot blauen Band verleihen.“ „Nein!“ „Merkwürdig“, äußerte von Botto. „Niemand würde sol che Auszeichnungen und Ehren zurückweisen. Ob er kein gewöhnliches Atom ist und irgendeinen inneren Fehler hat?“ 149
Er holte ein Röntgengerät und untersuchte Atomino gründ lich. Aber trotz seiner Größe schien Atomino ein kerngesundes Atom zu sein, bei dem alle Neutronen, Elektronen, Protonen in Ordnung waren und der Kern … „Der Kern!“ rief von Botto. „Schauen Sie, Herr General, jetzt ist mir alles klar. Er ist ein Atom mit einem Herzen.“ Tatsäch lich hatte Atominos Kern, im Gegensatz zu dem aller anderen Atome, die Form eines regelrechten Herzens und war auch von schöner blutroter Farbe.
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„Er hat ein Herz, deshalb gehorcht er nicht. So ein Pech!“ Für Atomino war es dagegen eine wunderbare Entdeckung. Wie oft hatte Smeraldina ihm vorgeworfen, er habe kein Herz. Oh, könnte er doch zu ihr eilen und ihr zurufen: „Smeraldina, ich habe auch ein Herz. Schau es dir mit Hilfe der Röntgen strahlen an. Ich habe genauso eins wie du. Es ist nicht wahr, daß ich herzlos bin.“ Aber er war in einer Zelle angekettet, und wer weiß, wann er zu ihr zurückkehren konnte. Vielleicht würde er sie sogar nie mehr wiedersehen. Er ließ den Kopf sinken und war dem Weinen nahe. Doch er erinnerte sich an das, was Zaccaria ihm gesagt hatte, und beherrschte sich. Der Professor hatte ihm eingeschärft, nie zu weinen. Seine Tränen waren radioaktiv und lebensgefährlich. Wie schwer ein Atom es doch im Leben hatte! Atomino konnte seinem Herzen nicht einmal durch Tränen Luft ma chen. Und dabei wollte er doch so gern weinen. Smeraldina hatte ihn schlecht behandelt, Fantasio hatte ihn gekratzt, und die beiden hier hörten nicht auf, ihn zu piesacken. Vor lauter Kummer merkte er überhaupt nicht, daß von Botto eine großartige Idee in die Tat umgesetzt hatte: Da er ihn nicht zu überreden vermochte, hatte er ihn in eine riesige Presse eingespannt, denn er hoffte, die Atomenergie aus ihm herauszuquetschen wie den Saft aus einer Zitrone. Aber das Experiment mißlang. Atomino war so in seine traurigen Gedanken versunken, daß er den gewaltigen Druck überhaupt nicht spürte. „Was bist du bloß für ein Wissenschaftler!“ tadelte ihn Ge neral Simeone. „Laß dir was anderes einfallen!“ Von Botto knallte die Hacken zusammen. „Jawoll!“ Derweile zerbrach er sich den Kopf, eine andere „großartige Idee“ zu finden. „Ich hab's!“ rief er. „Ich wird’s mit dem 151
Kochverfahren versuchen. Ich lasse Atomino schmoren wie ein Suppenhuhn, und die Atombrühe, die ich dabei gewinne, werde ich in die Bombe füllen.“ Er legte Atomino in einen Topf, aber für Atomino war das lediglich ein mollig warmes Bad. „Du Hornochs, ich befehle dir, werd doch endlich gescheit“, brüllte General Simeone. „Jawoll!“ Erschrocken knallte von Botto die Hacken zu sammen. Aber selbst bei bestem Willen hätte er einen solchen Befehl nicht ausführen können.
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Neunzehntes Kapitel Ein Name wird an den Himmel geschrieben Zaccaria und Smeraldina warteten, daß Atomino zum Abend essen käme, aber er kam nicht. Sie warteten, daß er zum Schla fen käme, aber er kam nicht. Was mag mit ihm sein? fragte sich Smeraldina beunruhigt. Es ist sonnenklar, man hat ihn entführt, dachte Fantasio. Aber ich halt mich da raus, es könnte Scherereien mit der Poli zei und womöglich mit dem Tierschutzverein geben. Als Atomino auch am späten Abend noch nicht heimge kehrt war, gingen Zaccaria und Smeraldina ihn suchen. Sie durchstöberten die ganze Stadt, fragten beim Rettungsamt und sogar beim Fundbüro nach. Nichts, niemand hatte Ato mino gesehen. Er war spurlos verschwunden. Als sie sich untröstlich wieder auf den Heimweg machten, sagte Smeraldina niedergeschlagen: „Papa, ich fürchte, er ist ausgerissen.“ „Wo denkst du hin. Atomino hat uns gern, warum sollte er da weglaufen?“ „Und ich sage dir, er ist ausgerissen, meinetwegen. Er konn te mich nicht mehr ausstehen.“ Smeraldina brach in Tränen aus. Sie, die nie weinte und die ihre Freundinnen immer auf zog, wenn sie plärrten, wimmerte jetzt wie ein Blasebalg. „Ich war häßlich zu ihm, überheblich, hochnäsig“, jammerte sie unter Schluchzen. „Ich habe ihn gehänselt und ihm vorge worfen, daß er einfältig und herzlos sei, daß er überhaupt nichts kapiere. Dabei war er seelensgut, anhänglich, gescheit.“ Zaccaria nahm sie in die Arme. Wenn Smeraldina so heftig 153
weinte, dann mußte ihr Atominos Verschwinden wirklich na hegehen. „Wie gut es für dich ist, mit Atomino zusammen zu leben. Vorher hattest du kein Mitgefühl, jetzt dagegen hast du sehr viel. Aber laß den Mut nicht sinken. Ich bin sicher, daß Atomino dich noch liebhat. Wenn er nicht zurückkommt, ist ihm gewiß etwas zugestoßen. Morgen früh werden wir ihn überall suchen und ihn bestimmt finden.“ Smeraldina konnte sich jedoch nicht beruhigen. Fantasio schaute sie nachsichtig an. Was für ein Getue we gen des Dingsda. Ja, wenn er ein Kater wäre, dann könnte ich es noch verstehen. Aber er ist ja nur ein Atom. Wenn ich auf und davon ginge, dann hättest du Grund zu weinen. Aber keine Angst, ich verlasse dich nicht, denn an Lunge mangelt es hier nicht, wenngleich sie gekocht ist. Immerhin hat mich Atomino schön gekrault, darauf verstand er sich. Und jetzt habe ich ihn verloren. In jener Nacht nahm Smeraldina den Kater mit in ihr Bett. Es war das erste Mal. Sie drückte ihn an die Brust, streichelte ihn und sprach mit tränenerstickter Stimme: „Weißt du schon, daß Atomino ausgerissen ist? Ich bin nun mutterseelenallein und todunglücklich. Er war so gut, so nett, so lieb … Aber ich gebe nicht auf, ich habe nicht eher Ruhe, als bis ich mein liebes Brüderchen wiedergefunden habe… Jawohl, ich werde ihn wiederfinden und dem Schafskopf die Lust am Ausreißen aus treiben. Ich werde ihm ein paar Takte blasen und ihm auch eine runterhauen. Klatsch! Warum bist du weggerannt? Klatsch! Warum magst du mich nicht mehr? Klatsch! Das soll dir zur Lehre dienen … Aber, was red ich da? Ich werde ihn im Gegenteil um Verzeihung bitten und ihm versprechen, daß ich ihn von nun an stets aufs freundlichste behandeln werde. Ich werde nie wieder böse und streng zu ihm sein, nie wieder, das schwöre ich.“ 154
Fantasio tat, als hörte er ihr zu, dabei genoß er nur ihr Strei cheln und die mollige Bettwärme. Nie zuvor war Smeraldina so zärtlich zu ihm gewesen. Hoffentlich findet sie ihn nicht, dachte er, sonst ist es näm lich aus mit diesem Wohlleben. Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob ich hier in diesem Bett schlafe oder in meinem Körbchen. Am nächsten Morgen schwänzten Smeraldinas Klassenka meraden samt und sonders die Schule. Sie wollten ihr helfen, Atomino wiederzufinden. Sie sahen sich überall um, und auch die Arbeiter der Propp-Werke schlossen sich ihnen an, sobald sie erfahren hatten, was geschehen war. Denn alle hatten Atomino liebgewonnen. Selbst die Eskimos wären herbeige eilt, um mitzusuchen, wenn sie es gewußt hätten. Aber sosehr sie auch überall nachforschten, Atomino fan den sie nicht. Denn der war noch beim Oberkommando des Generals Simeone in eine Zelle gesperrt, und von Botto wand te seine wer weiß wievielte Methode an, ihn zu überreden. „Atomino, du hast ein Herz“, sagte er. „Wir haben es beim Durchleuchten festgestellt. Deshalb mußt du ganz einfach die Menschheit lieben. Aber wer dient dem Fortschritt und dem Wohl der Menschheit? Die Wissenschaft. Sie hilft dem Men schen, schön, stark, gesund zu sein. Deshalb mußt du, wenn du ein Herz hast, der Wissenschaft helfen. Und wenn du der Wissenschaft helfen willst, mußt du mir helfen. Gemeinsam könnten wir …“ ,,… eine prächtige Superatombombe bauen!“ fiel ihm Si meone begeistert ins Wort. Daraus kann man ersehen, daß er keine Ahnung hatte, wie man jemand überreden muß. Doch auch wenn er es gewußt hätte, so wäre Atomino dennoch bei seinem Nein geblieben. Und dieses Nein wiederholte er seit zwei Tagen ständig. 155
Darauf nahm General Simeone seine Zuflucht zu dem ent scheidenden Überzeugungsmittel. „Das Vaterland!“ sagte er feierlich und knallte die Hacken zusammen. Das tat er immer, wenn er dieses Wort aussprach. Aber Atomino schaute ihn nach wie vor gleichgültig an. Dieses Wort hatte er zu Hause bei Smeraldina und Zaccaria noch nie gehört. „Alle, auch die Atome, müssen eine heilige Verpflichtung unserer großen Mutter gegenüber verspüren. Das Vaterland“, General Simeone knallte die Hacken zusammen, „ist unsere Mutter. Es befiehlt, und wir gehorchen. Und wer könnte bes ser in seinem Namen sprechen als ein General? Das Vater land“ – Hackenzusammenschlagen – „braucht immer einen großen Feldherrn, und ein großer Feldherr braucht unbesieg bare Waffen. Sobald du die Atomwaffen mir gibst, gibst du sie dem Vaterland.“ Hackenzusammenschlagen. „Nun?“ „Nun, nein!“ sagte Atomino, der sich inzwischen seine ei genen Gedanken über das Vaterland gemacht hatte. Für ihn verbanden sich mit dem Begriff Vaterland Smeraldina, Zacca ria, die Kinder und die Arbeiter, die er kennengelernt hatte. Und sie wollten keine Atombomben von ihm. „Du bist ein saft- und kraftloses unpatriotisches Atom!“ brüllte der General. „Von Botto, zwing ihn zum Gehorsam. Ich befehle dir, komm endlich mit deiner großartigen Idee her aus!“ Und von Botto hatte eine Idee. „Atomino, du bist zu gutmütig“, sagte er. „Dein Herz ist so weich wie Quark. Gute Menschen sind Schwächlinge, Charak ter- und willenlose Memmen. Im Leben dagegen muß man energisch und entschlossen sein. Die Welt gehört den Starken. Ein richtiges Atom muß mannhaft, erbarmungslos sein. Sei hinterlistig, anmaßend, gewalttätig.“ 156
„Soll ich wirklich?“ fragte Atomino. „Er kommt zur Einsicht“, rief von Botto begeistert. „Aber ja, Atomino. Du mußt böse, rücksichtslos, überheblich sein.“ „Dann … da!“ Mit dem nicht angeketteten Fuß versetzte ihm Atomino einen heftigen Tritt gegen das Schienbein. „Aua, aua!“ jammerte von Botto und hüpfte wie ein Kranich auf einem Bein herum. „Das war keine großartige Idee von mir.“ „Doch, sie war es“, sagte der General. „Atomino wird all mählich böse. Wir wollen gleich zu den Experimenten über gehen. Fangen wir mit dem einfachsten an, mit der Rakete.“ Sie brachten Atomino zum angrenzenden Startplatz und banden ihn an eine Rakete. Von Botto hatte versucht, ver schiedene Typen davon zu erfinden: Atom- und HolzkohleRaketen, aber alle hatten Fehler. Denn unmittelbar nach dem Abschuß plumpsten sie stets wie reife Birnen auf die Erde. Ein Raketenfriedhof ringsumher war der Beweis dafür. „Auch was die Raketen betrifft, ist von Botto ein Hornochs“, erklärte der General Atomino. „Du wirst jetzt mit dieser Rake te hochfliegen. Füttere sie mit deiner Energie und sag uns dann, wie wir sie einstellen müssen. Und noch eins: Die Rake ten sind mein ein und alles. Selbstverständlich denke ich nicht daran, sie zu vergeuden. Deshalb werde ich sie auch nicht zum Mond schicken oder ins Weltall, das möchte ich gar nicht erforschen. Die Raketen dienen weit nützlicheren Zwecken. So will ich sie zum Beispiel auf jede beliebige Stadt in der weiten Welt abschießen können.“ Für Atomino war es ein Kinderspiel, die Rakete zu starten, und im Hui sauste er hoch. Aber er tat das nicht dem General Simeone zuliebe. Ihm war vielmehr etwas eingefallen. Als er ganz hoch am Himmel war, begann er auf und nieder zu kur ven wie eine Feder, die über Papier gleitet. Ihm war nämlich 157
eingefallen, daß er schreiben konnte, was er nicht sagen durf te. Nur mit dem Unterschied, daß er nicht auf einen Briefbo gen schrieb, sondern auf die Himmelsbläue, und nicht mit Tinte, sondern mit dem Kondensstreifen der Rakete. Mit Riesenbuchstaben schrieb er an den Himmel über der Stadt den Namen, den er im Herzen trug: SMERALDINA „Atomino“, rief ihm General Simeone durch Funk zu, „sei nicht kindisch. Halte dich an meine Befehle!“ „Wenn Sie es wirklich wünschen, werde ich sie befolgen“, erwiderte Atomino. Sie wollten, daß er böse würde. Nun gut, sie sollten es haben. Er richtete die Spitze der Rakete auf das Oberkommando und ging im Sturzflug hinunter. Damit ihr wißt, was es heißt, wenn einem eine Rakete auf den Kopf fällt! dachte er. Er zielte zwar nicht genau auf die Köpfe, aber auf einen Punkt nicht weit von Simeone und von Botto entfernt. Mit ei nem fürchterlichen Knall zerbarst die Rakete in tausend Stük ke, und die beiden erhoben sich zerschunden und versengt. Atomino wurde selbstverständlich wieder ins Gefängnis ge sperrt und angekettet. Den an den Himmel geschriebenen Namen hatten auch Fanta sio und Smeraldina gesehen. Das muß Atomino gewesen sein, dachte Fantasio, der gera de auf dem Dach war und den Himmel absuchte. Statt seine Zeit mit solchen Firlefanzereien zu verplempern, sollte er lie ber nachschauen, wohin sich der Mond verkrochen hat. Ich möchte nur wissen, warum er sich tagsüber immer versteckt. Smeraldina dagegen: „Er ist’s, Atomino!“ rief sie. „Papa, komm rasch ans Fenster. Er hat meinen Namen an den Him mel geschrieben.“ 158
„Das kann niemand anders getan haben als er“, sagte Zac caria. „Er grüßt dich. Siehst du nun, daß er dich nicht verges sen hat?“ „Du hast recht.“ Smeraldina war überglücklich. ,,Er grüßt mich, er denkt an mich.“ Aber dann überlegte sie und brach in Tränen aus. „Das ist kein Gruß, das ist ein Abschied. Das heißt, daß er fortgeht und niemals wiederkehrt.“ Atomino dachte in diesem selben Augenblick an sie, und ihm war, als hätte er sein Testament an den Himmel geschrie ben. Er war felsenfest davon überzeugt, daß er aus dem Ge fängnis General Simeones nie mehr würde herauskommen. Der sagte seinerseits wohl zum hundertsten Male zu von Botto: „Hornochse!“ Der Professor knallte die Hacken zusammen und suchte krampfhaft nach einer anderen großartigen Idee. Dieser Ato mino brachte ihn zur Verzweiflung! Er nahm weder Geld noch Uran oder Auszeichnungen an; er gehorchte nicht den Befeh len und wollte nicht richtig böse werden. Er war tatsächlich ein vom rechten Weg geratenes, ein verführtes Atom. „Verführt? Ich hab die Idee!“ rief von Botto. „Herr General, ich bin hinter Atominos Geheimnis gekommen. Jemand muß ihn verführt haben. Jemand hat ihn auf den schlechten Weg der Güte gelenkt. Wir müssen unter allen Umständen heraus finden, wer es gewesen ist.“ Unverzüglich rannte er in Atomi nos Zelle. Dieser hockte traurig an der Erde. „Arme, verlassene Atomwaise“, sagte von Botto mit schein heiliger Freundlichkeit. „Das Herz dreht sich mir im Leibe um, wenn ich dich so betrübt sehe. Was kann ich für dich tun? Möchtest du deine Freunde wiedersehen, sie in die Arme schließen, mit ihnen reden? Verrate mir ihre Namen, und ich verspreche dir, daß sie dich besuchen werden.“ 159
„Wirklich?“ fragte Atomino. „Bestimmt. Sag mir ihre Namen, und ich werde sie sofort holen lassen.“
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Zwanzigstes Kapitel Atominos bittere Tränen „Polizei! Stehenbleiben! Hände hoch!“ Scharen von Polizisten drangen durch Tür und Fenster ein und stiegen durch den Rauchfang von oben ins Zimmer hinab. Im Handumdrehen war Zaccarias Wohnung so voll von ih nen, daß sie eine meterhohe Schicht bildeten. Als der Professor aus dem Haufen Polizistenbeine, -köpfe und -arme auftauchte, sah er sich einem Wachtmeister von Angesicht zu Angesicht gegenüber. „Sind Sie Professor Zaccaria, Atominos Freund? Ich erkläre Sie für verhaftet.“ „Bei Ihnen piept’s wohl“, rief Smeraldina wütend, die eben falls gerade aus dem Polizistenhaufen hervorkroch. „Bist du Smeraldina, Atominos Freund? Ich erkläre dich für verhaftet. Du bist auch angegeben worden.“ Die Polizisten schleppten Vater und Tochter mit sich. In der verlassenen Wohnung blieb nur der entrüstete Fantasio zu rück. Das ist widerrechtlich! Ich protestiere! So mir nichts, dir nichts einfach abführen! Wer gibt mir jetzt zu fressen? Zaccaria und Smeraldina wurden zum Oberkommando Si meones gebracht und in die Zelle gestoßen, in der sich der General, von Botto und der angekettete Atomino befanden. Kaum erblickte dieser sie, da stürzte er auf sie zu und woll te sie umarmen. Aber er vergaß die Kette, die ihn am Knöchel zurückhielt, und fiel auf die Nase. Die Gesichter Zaccarias und Smeraldinas erschienen ihm darauf wie von einem Kranz bunter Sterne umgeben. Sie wa 161
ren jedoch merkwürdig ernst. „Warum schaut ihr mich so an? Ich freue mich riesig, euch wiederzusehen. Euch habe ich als erste genannt, weil ich euch so schrecklich gern hier haben wollte.“ Sie sollten wissen, daß er sie als seine besten Freunde betrachtete. Aber sie waren ihm wohl nicht einmal dankbar dafür. Smeraldina starrte ihn viel mehr mit finsteren Augen an, die gelber waren als die Fantasi os, wenn man ihm auf den Schwanz trat. „Professor Zaccaria“, sagte General Simeone, „Atomino hat gestanden, daß du kein rechtschaffener Wissenschaftler, son dern ein Verführer der Atome bist.“ Smeraldina brauchte keinen weiteren Beweis. Dann war es also Atomino, der sie hatte verhaften lassen. Und der Heuch ler lächelte auch noch Und freute sich, daß sie im Gefängnis gelandet waren. „Verräter!“ rief sie. „Deshalb bist du also von zu Haus weggerannt, nur um Papa anzuzeigen!“ Sie ging auf ihn zu und gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Petze! Spitzel!“ „Führt sie ab!“ befahl Simeone. „Mit dem Mädchen weiß ich nichts anzufangen. Mir ist lediglich an Professor Zaccaria ge legen.“ Unverzüglich jagten die Polizisten Smeraldina aus dem Oberkommando hinaus. Atomino war sprachlos. Er hatte so sehnsüchtig auf Sme raldina gewartet. Er wollte sich mit ihr aussöhnen, statt dessen ohrfeigte sie ihn. Und es kümmerte sie auch nicht im gering sten, daß er sie unter all seinen Freunden als erste genannt hat te, in einem Atemzug mit Zaccaria, noch vor den Mitschülern, den Arbeitern, den Badegästen, den Eskimos und noch vor Fantasio und Jonas. Aber der Ahnungslose wußte ja nicht, daß sie alle verhaftet worden waren, sogar die Eskimos. Nur Fan tasio und Jonas nicht. Denn es hatten sich keine Dolmetscher gefunden, die bei den Verhören hätten übersetzen können. 162
Aber nur einer hatte von Botto interessiert: Das war Profes sor Zaccaria, denn er war ein Wissenschaftler, der nie etwas von Atomwaffen und -bomben hatte wissen wollen. Alle an deren waren freigelassen worden, und nun befand sich Ato mino allein noch Zaccaria gegenüber. „Herr Professor, ich schwöre Ihnen“, sagte er, „ich habe nichts Unrechtes getan.“ „Das stimmt, Atomino trifft keine Schuld“, pflichtete von Botto ihm bei. „Er ist nur dein Opfer. Du bist es gewesen, Zac caria, der ihn verführt und vom Weg der ehrbaren Atome ab gebracht hat.“ „Hast du das gesagt?“ rief Zaccaria. Zum ersten Mal sah Atomino ihn furchtbar streng. „Ich wundere mich über dich. Du bist ein Erzlügner.“ „Das ist nicht wahr, ich habe nicht gelogen, ich habe viel mehr immer deine Anweisungen befolgt.“ „Hast du gehört, Zaccaria?“ Von Botto triumphierte. „Er hat zugegeben, daß du ihn gelehrt hast, ein liederliches und schlechtes Atom zu sein.“ Zaccaria wurde abgeführt, und Atomino blieb allein. Er verstand überhaupt nichts mehr. Ungeachtet aller Drohungen und Versprechen Simeones und von Bottos hatte er sich wie ein braves Atom benommen. Smeraldina ohrfeigte ihn dafür, und Zaccaria nannte ihn einen Lügner. Es war klar, sie hatten ihn nicht mehr lieb. Er brauchte nur daran zu denken, und schon fühlte er sich als das einsamste und unglücklichste Atom der Welt. Unterdessen verhörten in einer unterirdischen Zelle der General und von Botto den Professor. „Gesteh dein Verbrechen! Du hast Atomino verführt. Nur ein Atomwissenschaftler konnte das fertigbringen. Du hast ihn von seiner natürlichen Aufgabe als kriegerisches Atom abge 163
lenkt und ein friedliebendes, saft- und kraftloses Atom aus ihm gemacht.“ Der finstere Gesichtsausdruck Zaccarias schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. Allmählich ging ihm ein Licht auf. „Streite es nicht ab! Du hast ihn mit Hinterlist dazu überre det, uns nicht ein Atom seiner kostbaren Energie abzugeben.“ „Ist das die Anklage, die ihr gegen mich erhebt?“ „Jawohl, atomare Verführung Atominos.“ „Aber dann ist er unschuldig!“ Zaccaria sprang auf und rannte zur Tür. „Ich will ihn sehen und umarmen.“ „Überrede ihn, daß er uns gehorcht, und ihr seid beide frei.“ Die Tür war abgeschlossen. Zaccaria trommelte mit den Fäu sten dagegen. „Atomino“, rief er, „du bist gar kein Lügner. Ich hab dich schrecklich lieb. Auch Smeraldina wird stolz auf dich sein, wenn sie die Wahrheit erfährt.“ „Zaccaria, befiehl ihm, eine prächtige Atombombe für uns auszubrüten !“ „Haha, Bomben! Hörst du mich, Atomino? Ich bin stolz auf dich. Es macht mir gar nichts aus, daß ich im Gefängnis sitze. Es ist schön, ,nein, Herr General!' zu sagen.“ Aber sosehr er auch schrie, Atomino konnte ihn nicht hören. Als der General einsah, daß er Zaccaria nicht umstimmen konnte, kehrte er zu Atomino zurück. „Du hast ein Herz“, schmeichelte er sanft. „Da weißt du, daß man immer das tun muß, was das Herz befiehlt. Hast du Zaccaria lieb?“ „Und wie, auch wenn er mich für einen Lügner hält.“ „Wieso kannst du dann zulassen, daß er seine Tochter nicht mehr wiedersieht, daß er in einer finsteren Zelle schmachtet, darin es von Mäusen wimmelt. Dort wird er vor Hunger, vor Durst oder an gebrochenem Herzen sterben. Nie wieder kann er einen Schlager hören oder ein Fußballspiel im Fernsehen 164
miterleben. Wenn du ihn wirklich liebhast, dann kannst du nicht mit ansehen, daß er so leidet. Folge deinem Herzen, be freie ihn. Hilf mir, und ich entlasse ihn augenblicklich aus dem Gefängnis, zusammen mit dir.“ Welch furchtbare Entscheidung: Konnte er dulden, daß Zaccaria zu solch einer schrecklichen Strafe verurteilt wurde? Und was würde aus Smeraldina werden? Sollte sie jetzt auch noch ihren Vater verlieren, wo sie ohnehin schon keine Mutter mehr hatte? Er versuchte sich auszumalen, was Zaccaria ihm wohl raten würde. „Befreie mich, Atomino, laß mich nicht hier im Ge fängnis bei den Mäusen sterben!“ Würde er das gesagt haben? Oder vielmehr: „Ein Atom und ein Wissenschaftler, die auf sich halten, sagen nicht jawoll zu einem General.“ Zaccaria war schmächtig und trug eine Brille. Bei einer Prügelei würde er stets den kürzeren ziehen, aber keiner war mutiger als er. Eins stand fest: Ehe er gegen seine Überzeugung handelte, ließ er sich lieber von den Mäusen auffressen. „Nun?“ fragte Simeone. „Was sagt dein Herz?“ „Es sagt: ,Nein, Herr General!' Zaccaria und ich bleiben im Gefängnis.“ Der General ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Obwohl Atomino sicher war, daß er im Sinne Zaccarias ge antwortet hatte, fühlte er sich dennoch höchst unglücklich. Es ist nämlich schwer, ein Held zu sein, wenn niemand davon erfährt. Noch schwerer ist es, wenn die liebsten Freunde schlecht von einem denken. Er kam sich vor wie ein Schiffbrü chiger, der mutterseelenallein und von allen vergessen auf ei ne einsame Insel verschlagen wurde. Ein Schrei ließ ihn aufhorchen. Das konnte nur Smeraldina sein. Sie hatte ihn nicht aufgegeben, sie kam, ihn zu retten. Sie rief ihn von der Straße her, und ihre Stimme dröhnte so stark, 165
daß sie bis zu seiner Zelle im letzten Stock drang. „Atomino, hörst du mich? Ich spreche zu dir.“ Sie war zurückgekehrt, sie wollte ihn bestimmt trösten und ihm sagen, daß sie ihm unrecht getan hatte, daß er ein Held war. Welch eine Wonne, sie zu hören. Sie würde ihn um Ver zeihung bitten wegen der Ohrfeige, sie würde ihm sagen … „Du bist ein Verräter!“ rief Smeraldina statt dessen lauthals durch ein Megaphon, das sie aus dem Laboratorium ihres Va ters geholt hatte. Nach ihrer Entlassung war sie in größter Wut schnurstracks nach Hause gerannt und hatte alles zerbrochen, was Atomino gehörte: seinen Teller, sein Glas, und sein Bett zeug hatte sie durchs Zimmer gepfeffert. „Er ist ein Verräter!“ Sie klagte Fantasio ihr Leid, während sie Atominos Serviettenring zertrampelte. „Wenn du ihn siehst, dann kratz ihn. Es ist seine Schuld, daß Papa einge sperrt wurde.“ Nachdem sie vernichtet hatte, was Atomino gehörte, ergriff sie das Megaphon und eilte hinaus. „Halt, meine Lunge“, mauzte Fantasio ihr nach. „Heute hast du mir noch keine gegeben. Sie steht mir von Rechts wegen zu, auch wenn dein Vater im Gefängnis sitzt.“ Dann lief er ihr hinterdrein. So waren sie gemeinsam vor dem Oberkommando ange langt. „Atomino, du hast den Einfältigen gespielt, dabei bist du ein Spitzel“, schrie Smeraldina durch das Megaphon. „Du hast mich in den Ferien zum Nordpol gebracht und hattest schon im Sinn, Papa zu verraten. Du bist nicht mehr mein Brüder chen, ich verleugne dich. Gib mir auch den Namen wieder, den ich dir gegeben habe. Wehe, wenn du es wagen solltest, dich weiterhin Atomino zu nennen. Du bist ein Verräter, du hast kein Herz.“ 166
„Das ist nicht wahr, ich habe ein Herz!“ rief Atomino zu dem kleinen Gitter hoch oben an der Wand hinauf. „Ich tue auch meine Pflicht als Atom, denn ich verhalte mich so, wie Zaccaria es will.“ Auch der Professor in seiner unterirdischen Zelle hörte seine Tochter und rief ihr zu: „Sag so was nicht! Atomino ist unschuldig. Ich bin stolz, daß ich ihm im Gefäng nis Gesellschaft leisten kann.“ Alle drei schrien, aber Atomino und Smeraldina konnten Zaccaria nicht hören, und Smeraldina hörte Atomino nicht. So fuhr sie fort, ihn zu beschimpfen. Vergebens stopfte er sich die Ohren zu. Ihr Geschrei drang ihm wie Dolchstiche ins Herz. Verzweifelt versuchte er, die Kette zu sprengen. Er wollte sich am Gitter hochziehen und sich bemerkbar machen. Aber die Kette gab nicht nach. Er hielt es nicht länger aus. Smeral dinas Stimme marterte ihn; ihm war zumute, als befände er sich in einer Wüste und sie stieße mit einem Flugzeug im Sturzflug auf ihn hernieder. Dabei beschoß sie ihn erbar mungslos mit einem Maschinengewehr. Unterdessen hatte sich Fantasio, der den unverkennbaren Geruch Atominos geschnuppert hatte, durch ein Gitter ge zwängt und war in das Oberkommando eingedrungen. Dem Geruch folgend, stieg er die Treppe hinauf. Er gelangte zum letzten Stock, wo Simeone und von Botto den Gefangenen durch das Guckloch beobachteten. „Das Mädchen bringt ihn noch zur Raserei“, sagte der Ge neral. „Das beste ist, man schickt sie weg.“ Aber zum erstenmal in seinem Leben hatte Professor von Botto wirklich eine Idee. Er flüsterte sie dem General zu, der ebenfalls statt des üblichen Hornochse bravo sagte. Und deshalb konnte Smeraldina ungehindert weiterschrei en. „Du bist ein gemeines Atom ohne Herz. Kein anständiger 167
Mensch wird dich mehr angucken, nicht einmal Jonas.“ Ohne daß Atomino es merkte, traten zwei Tränen in seine Augen, die einen eigenartig schillernden Dunst aussandten. Diese beiden Tränen nun sah von Botto. Er ergriff eine Scha le und stürzte in die Zelle. „Hörst du, Atomino? Sie haßt dich. Auch Zaccaria sagt, daß du verlogen und widerwärtig bist. Alle hassen dich. Weine, laß deinen Tränen freien Lauf.“ „Smeraldina, warum behandelst du mich so?“ schluchzte Atomino. „Ich bin kein Lügner, und ein Herz habe ich auch. Ihr tut mir schrecklich weh!“ Die beiden Tränen rollten ihm über die Wangen und fielen, wie Säure zischend, in die Schale. „Los, wein dich aus!“ forderte ihn von Botto auf. Nun weinte Atomino bitterlich. Er begriff überhaupt nichts mehr. Die Tränen rannen ihm unentwegt über die Wangen und dann rauchend in die Schale. Auf der Schwelle machte Fantasio erschreckt einen Buckel, als hätte er eine fürchterliche Bulldogge geschnuppert. Die Tränen hatten einen beängstigenden Geruch: nach Kummer, nach Trauer, nach Tod, als hätte sich alles Leid der Welt in ih nen gesammelt. „Miau!“ schrie er, damit Atomino nicht mehr weinen sollte. Aber der hörte nur Smeraldinäs Stimme. „Miau!“ schrie Fan tasio abermals. Es war das verzweifelte Mauzen eines Katers, der eine weltweite Katastrophe wittert, in die auch das ganze Katzengeschlecht mit hineingerissen werden kann. „Gewonnen!“ rief von Botto und hob die mit Atominos Tränen gefüllte Schale in die Höhe. „General Simeone, ich hab’s geschafft.“
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Einundzwanzigstes Kapitel Start zur Sonne Gefolgt vom General, rannte von Botto mit wehendem schwarzem Kittel in die Waffenkammer. Durch einen Trichter goß er Atominos Tränen in den Mantel einer riesigen Bombe und verbeugte sich dann feierlich vor Simeone. „Herr General, ich habe Ihre Befehle ausgeführt. Hier haben Sie, ganz für sich allein, die stärkste Bombe der Welt. Sie ent hält eine höchst konzentrierte Atomenergie: die gallebitteren Tränen Atominos.“ Das Herz des Generals begann wie wild zu schlagen. Es machte nicht mehr tack-tack-tack, sondern hämmerte ein krie gerisches Peng-peng-peng. Der Traum seines Lebens erfüllte sich. Er besaß die Superbombe! Einmalig, unvergleichlich, sie kam ihm schöner vor als die bezauberndste Schauspielerin der Welt. Augenblicklich verliebte er sich in sie. Kurzerhand um armte er sie und gab ihr viele Küßchen. „O meine Bombe, wie ich dich liebe!“ Närrisch vor Freude, tanzte er um sie herum; bald küßte er sie, bald von Botto. „Du bist ein Genie“, lobte er ihn. „Sie ist die Schönste der Schöpfung! Ich bin mächtig, unbesiegbar. Von Botto, ich wer de dich mit Reichtümern überschütten. Wie sie mir gefällt! Welche Linie, welcher Ausdruck!“ Von Botto ließ Zaccaria und Smeraldina holen. „Ich habe eine große Entdeckung gemacht“, bedeutete er ihnen. „Man kann Bomben aus dem Kummer der Atome herstellen. Und ungewollt habt ausgerechnet ihr mir dabei geholfen. Euretwe gen hat Atomino so sehr geweint, daß ich mit seinen Tränen 169
diese Bombe füllen konnte. Es sind so viele darin, daß man damit die ganze Welt zum Weinen bringen kann.“ „Armer Atomino“, sagte Zaccaria, „wie sehr muß er gelitten haben. Er war unschuldig, Smeraldina. Deshalb hat er ge weint.“ In eben diesem Augenblick ließ ein Schrei das ganze Ober kommando erzittern. „Gebt mir meine Tränen wieder!“ Es war Atomino. Kaum hatte von Botto die Zellentür hinter sich zugeschlagen, da hatte sich Fantasio auf Atomino ge stürzt, um ihn zu beißen und ihm die Beine zu zerkratzen. Denn selbst in einem Kater, der so oft seine Meinung wechsel te, regte sich das Bewußtsein. „Ich habe alles geduldig hingenommen“, mauzte er aufge bracht, „angefangen bei der gekochten Lunge bis zu den ver patzten Ferien. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Was hier ge schieht, ist ein Verbrechen gegen die gesamte Katzenheit.“ Atomino faßte sich wieder. Er hörte die Jubelschreie von Bottos und Simeones und stellte fest, daß seine Augen noch feucht waren. Er dürfe nie und nimmer weinen, hatte Zaccaria ihm ans Herz gelegt, und nie den Jawoll-Wissenschaftlern hel fen, sonst müßten alle darunter leiden, auch Smeraldina. Er aber hatte geweint, und man hatte ihm seine Tränen gestoh len. Die Wut darüber verhundertfachte seine Kräfte. Mit ei nem wilden Ruck zerriß er die Kette. „Bravo“, mauzte Fantasio, „laß dir das nicht gefallen. Rette die Katzenheit. Vielmehr, retten wir sie gemeinsam!“ Atomino warf sich gegen die Tür und brach sie mit einem Kopfstoß auf. „Gebt mir meine Tränen wieder!“ schrie er. Unverzüglich schrillten im Oberkommando hundert Alarmglocken, und Scharen von Soldaten stürzten herbei, die ihm den Weg versperrten. Fantasio folgte dem Geruch der Tränet und führte Atomino geradenwegs zur Waffenkammer. 170
Wie eine Lawine walzte Atomino eine erste Barrikade von Menschenleibern nieder, sah sich jedoch dahinter einer weite ren Mauer von Soldaten gegenüber. Mit einer elektrischen La dung warf er sie rücklings zu Boden. Bei dem dritten Hinder nis brauchte er überhaupt nichts zu tun. Er blickte die Solda ten nur an, und vor lauter Angst fielen sie in Ohnmacht. Der Weg war frei. Mit einem Fausthieb schlug Atomino die Tür zur Waffenkammer ein und sah General Simeone, der eine Riesenbombe zärtlich umarmte. In einem Winkel zitterte Pro fessor von Botto. „Atomino, mein Lieber!“ rief Smeraldina, und ihre Augen strahlten vor Freude. Sie schaute ihn wieder an wie ihr liebes Brüderchen. Von der einsamen Insel, auf der er sich in seiner Verzweiflung gewähnt hatte, kehrte Atomino zurück in den Schoß der lieben Familie. Alles wurde klar und einfach: Er würde die Bombe Zaccaria übergeben, damit sie kein Unheil anrichten konnte, dem widerwärtigen Simeone und von Botto eine Lektion erteilen und mit Smeraldina fortgehen. „Simeone“, sagte er, „gib mir meine Tränen wieder!“ „Die Bombe? Nein!“ Der General drückte sie zitternd an sich. „Die kriegst du nie! Sie gehört mir!“ „Sei nicht eigensinnig“, entgegnete Atomino, „sonst reißt mir die Geduld.“ Aber als er die Hand hob, um den General beim Rockaufschlag zu packen, spürte er, daß der Boden unter seinen Füßen nachgab. Mitsamt der Bombe entschwand Si meone seinen Blicken. Von Botto hatte nämlich blitzschnell einen Hebel betätigt, und unter Atomino hatte sich eine Falltür geöffnet. Während er in die Finsternis stürzte, hörte er Sme raldina und Zaccaria seinen Namen rufen, Fantasio mauzen, und dann nichts mehr. Er fiel zu Boden, vermochte sich jedoch nicht aufzuraffen. Er war auf irgend etwas Beweglichem ge landet, auf einem Fließband. Das beförderte ihn pfeilge 171
schwind in eine enge Röhre. In der Dunkelheit überschlug er sich, bis er schließlich in eine Art Kabine geschleudert wurde. Eine Klappe schloß sich hinter ihm. Er tastete die Seiten ab, nichts als Stahlwände. Wo bin ich? fragte er sich. Vom Fenster der Waffenkammer aus zeigte von Botto un terdessen dem General eine startbereite Rakete auf einer Ab schußrampe. Eine Röhre führte bis zum Eingang des Leitstan des. „Er ist da drin!“ verkündete von Botto triumphierend. „Und wissen Sie, Herr General, wohin die Rakete bestimmt ist? Sie wird in die Sonne fliegen. Auf diese Weise sind wir Atomino los, und niemand anders kann seine Tränen ausnützen.“ Zaccaria und seine Tochter wurden blaß. Atomino sollte zur Sonne hochgeschossen werden, um sich in ihrer Glut zu spal ten. „Weh dir, wenn du ihm etwas antust!“ rief Smeraldina und stürzte sich auf General Simeone. Aber während sie von einer Backpfeife zurückgeschleudert wurde, startete die Rakete mit einer Rauchfahne. „Mörder un schuldiger Atome!“ schrie Smeraldina und begann zu weinen. Zaccaria drückte sie an sich; auch er hatte Tränen in den Au gen. Die himmelwärts fliegende Rakete verschwand schon in den Wolken. Der gute Atomino, den er liebte wie einen Sohn, war zum Tode verurteilt und schied aus dieser Welt. „Bravo, von Botto“, sagte General Simeone. „Wenn Atomi no erst einmal aus dem Weg geräumt ist, dann bin ich der ein zige, der über die Superbombe verfügt.“ Dann brüllte er aus voller Kehle: „Alles antreten! Endlich kann ich die Welt erobern.“ Im,Hui schoß Fantasio durch die Tür, raste die Treppe hin unter und floh aus dem Oberkommando. „Katzen, rettet euch, rettet euch schnell!“ mauzte er und sah 172
sich verzweifelt nach einem Unterschlupf um. „Ich wittere ei nen Atomkrieg. Rette sich, wer kann!“
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Zweiundzwanzigstes Kapitel General Simeone bei der Eroberung der Welt General Simeone Jieß die Bombe auf einen Wagen heben und nahm in einem vergoldeten Sessel neben ihr Platz wie ein Herrscher an der Seite der Königin. Hinter dem Wagen schrit ten Zaccaria und Smeraldina in Handschellen einher, dann folgte das gesamte Heer in Marschordnung. Der General schaute ungeduldig auf die Uhr. „Noch wenige Sekunden … Vier, drei, zwei, eins! Hurra, in diesem Augenblick ist Atomino in der Sonne gelandet. Es gibt keinen Atomino mehr. Nun kann niemand atomarer sein als ich. Trompeter, blast! Wir rücken vor!“ An der Spitze seines Heeres setzte sich General Simeone in Marsch, um die Welt zu erobern. „Papa“, sagte Smeraldina, „ist es wirklich wahr, daß es kei nen Atomino mehr gibt?“ „Leider, mein Kind. Soeben ist er in der Sonne untergegan gen.“ Mit Atomino hatte er nicht nur einen Sohn verloren, son dern auch seine Hoffnungen waren geschwunden, dessen Energie zu nutzen. „Verdammter Mist!“ schimpfte Smeraldina und weinte vor Schmerz und Wut. Zum erstenmal tadelte der Vater sie nicht. Auch er hatte Lust zu weinen. Atomino war tot. Ein niederträchtiger Wis senschaftler hatte eine schreckliche Bombe hergestellt, ein Ge neral ohne Verstand war im Begriff, sie einzusetzen. Viele Menschen würden ohne eigenes Verschulden sterben müssen, 174
und er konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern. „Du hast recht, Smeraldina“, erwiderte er. „Verdammter Mist! Mehr noch: dreimal verdammter Mist!“ Das Heer marschierte. Überall, wo es vorüberkam, schlos sen die Menschen die Fenster und flüchteten vor Furcht und Verzweiflung in die Keller, um sich dort einzuriegeln. Die Sonne ging unter. „Ist er tatsächlich da oben?“ stammelte Smeraldina. „Ja“, sagte Zaccaria, „er ist da oben.“ Die Sonne verschwand am Horizont. Sie hatte Atomino mitgenommen, für immer. Smeraldina brach erneut in Tränen aus. Der Himmel verdunkelte sich, und das Heer setzte seinen Marsch schweigend fort. Auch die Soldaten hatten Angst, aber sie mußten dem Ge neral folgen. Die ersten Sterne funkelten trübselig wie Tränen. Das ganze Weltall schien zu weinen über das, was auf der Erde geschah. Doch mit einemmal leuchtete ein lustiger Funke auf, eine Sternschnuppe huschte am Himmel dahin. Sofort wünschte sich Smeraldina: Wenn doch nur Atomino gesund und munter zurückkäme! Auch General Simeone sah den Meteor und dachte: Wenn ich doch nur recht bald Beherrscher der Welt würde! Die Sternschnuppe erlosch, und nur der spärliche Mond schein erhellte den finsteren Himmel. Am Horizont tauchte ein Wölkchen auf. Irgend etwas, viel leicht ein Auto, näherte sich mit rasender Geschwindigkeit. „Keine Angst“, sagte General Simeone, „das sind bestimmt die ersten Generale, die sich unterwerfen wollen.“ Die Staubfahne näherte sich rasch, man sah schon, daß es kein Auto war. Aber ebensowenig konnte es ein Mensch sein, 175
denn kein Läufer, mochte er noch so schnell sein, war imstan de, eine solche Geschwindigkeit zu entwickeln. „Papa“, wandte sich Smeraldina an den Vater, „nur Atomi no kann so rennen. “ „Mach dir keine Hoffnung, mein Kind, den gibt’s nicht mehr.“ „Vielleicht träume ich, dennoch … Schau nur, Papa, das kann wirklich nur Atomino sein.“ „Red keinen Unsinn, Smeraldina, Atomino ist tot.“ „Aber guck doch richtig hin, Papa. Jetzt kommt er genau auf uns zu. Ich sage dir, daß …“ Die Staubwolke hielt mit einem Ruck vor dem Wagen des Generals, und jemand tauchte aus der Wolke auf. „Es ist Atomino“, rief Smeraldina. „Atomino lebt!“ Simeone auf seinem Wagen starrte zitternd auf das Wesen, das ihm den Weg versperrte. „Wer bist du?“ stotterte er. Von Botto eilte herbei. „Es kann nicht sein. Atomino ist tot, er hat sich in der Sonne gespalten. Es ist nur sein Geist.“
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Dreiundzwanzigstes Kapitel Abenteuer im Weltraum War er es wirklich, oder war es nur sein Geist? Um das zu er gründen, müssen wir zu dem Augenblick zurückkehren, da Atomino mit dem Kopf gegen die Metallwand der dunklen Kabine stieß. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er war, und mühte sich vergeblich ab, einen Lichtschalter zu finden. Es gab keinen. Er rief, aber niemand antwortete. „Merkwürdig, ich habe das Gefühl, allein zu sein.“ Er ahnte ja nicht, wie sehr allein er war. Er war nämlich un terwegs ins Weltall. Die Wände erwärmten sich, und die Temperatur stieg un aufhaltsam. Ich muß die Fenster öffnen, dachte er. Aber sosehr er auch alles ringsum abtastete, er fand keine. Man hat vergessen, sie einzusetzen. Hier drinnen ist es schrecklich heiß. Dann muß ich eben eins machen. Ein Faustschlag genügte, um eine Wand zu durchbrechen. Durch das Loch drang eine Fülle von Licht herein. Atomino schaute hinaus und war sprachlos. Vor ihm, so groß, wie er sie nie zuvor erblickt hatte, die Sonne. Sie näherte sich zusehends. Er guckte in die entgegengesetzte Richtung und erkannte die Erde, so klein wie eine Murmel. Er befand sich im Weltall. Atomino kletterte aus der Kabine. Die Rakete zielte mit ih rer spitzen Schnauze genau auf die Sonne zu. „Kehr um!“ schrie er und bearbeitete sie mit den Füßen. „Ich wohne da unten, auf der Murmel. Kehr um, hab ich gesagt.“ 177
Aber Professor von Botto hatte die Steuerung der Rakete auf „immer geradeaus“ eingestellt, und niemand vermochte ihren Flug aufzuhalten oder ihre Richtung zu ändern. In dem von Sternen und Planeten wimmelnden Weltall setzte die Rakete stur ihren Weg zur Sonne fort. Unablässig flammten Atomexplosionen auf, und die Sonnenglut streckte bereits ihre Fangarme nach dem Mückchen aus, das sich mit Überschallgeschwindigkeit näherte. Blitzartig fiel Atomino alles wieder ein: Simeone neben der Bombe; Smeraldina, die ihn, Atomino, anfeuerte; von Botto, der heimlich einen Hebel betätigte; die Falltür, die sich auf tat … Jetzt versteh ich. Sie haben mich in eine Rakete verfrachtet mit einer einfachen Fahrkarte ohne Rückfahrt. Ich bin zum Tode verurteilt. Sie haben gewonnen, dieser ekelhafte Simeone und von Botto. Vor Wut trommelte sich Atomino mit den Fäu sten auf den Kopf. Die Hitze wurde unerträglich. Immer näher reckten sich die feurigen Sonnenarme nach ihm aus. In Kürze würde er in die sen riesigen Glutofen stürzen, auf der Erde würde General Simeone jubeln, die Träume Zaccarias würden zerrinnen, und seine Atomtränen würden Millionen Menschen zum Weinen bringen. Ich muß auf die Erde zurück, muß sie mir zurückholen! Aber wie? Verzweifelt bearbeitete er weiterhin seinen Kopf mit den Fäusten. Auf einmal verspürte er einen großen Schmerz. Er betastete den Kopf und stellte fest, daß er eine gewaltige Beule hatte. Sie rührte jedoch nicht von einem Faustschlag her. Zischend fauchte etwas an ihm vorüber: ein Meteorit. So einer hatte ihn also getroffen! Wie ungezogen! Nicht einmal in Ruhe sterben kann man! Daß er sterben mußte, stand fest. Noch ein paar Minuten, 178
und die Sonnenglut würde ihn verschlingen. Welch ein Tod! Nicht einmal ein Grab, auf das Smeraldina einen Blumen strauß legen konnte, würde an ihn erinnern. Er duckte sich gerade noch rechtzeitig, um einem anderen Meteoriten auszuweichen. „Wollt ihr mich endlich in Frieden lassen! Nehmt Rücksicht auf einen Todgeweihten!“ Ein Meteorit … Warum nicht? Das war eine Idee. Die Flammen der Sonne beleckten ihn fast. Jawohl, ein Me teorit. Es war keine Zeit zu verlieren. Atomino setzte sich auf der Rakete zurecht, so wie sich ein Torwart klopfenden Herzens aufstellt, um bei einem Elfmeter die richtige Ecke vorauszuahnen. Da kam ein Meteorit. Er näherte sich schneller als eine Ka nonenkugel. Er war der einzige Ausweg, sich von der Sonne zu entfernen. Mit vorgestreckten Armen sprang Atomino von der Rakete auf ihn über. Er schaffte es. Atomino umklammerte die Kugel und wurde mit ihr fortgerissen. Nachdem er es sich auf ihr bequem ge macht hatte, sah er, wie seine Rakete in der Sonnenglut ver schwand und schmolz. Er war gerettet. Er blickte sich um und suchte die Erde. Sie war weltenweit entfernt, so klein wie eine Murmel, und er flog, rittlings auf dem Meteoriten, in entgegengesetzter Rich tung. Gerettet? Nein, noch lange nicht. Er war zu einem noch schlimmeren Ende verurteilt: Er sollte im Weltall zwischen Milliarden Sternen elend zugrunde gehen. „Schafskopf, ich muß zur anderen Seite. Dreh dich, kehr um!“ Aber wie alle Meteoriten flog auch seiner blind und stur dahin. Er hatte weder Steuer noch Lenkrad, und nichts hätte vermocht, seine Richtung zu ändern. Atomino erblickte noch viele Meteoriten, und alle rasten 179
schnurgerade dahin wie eine Büffelherde beim Angriff. Sie kreuzten einander sogar, und ohne sich zu grüßen, zogen sie ihre Bahn. Und wenn ich nun auf einen anderen umstiege? dachte Atomino. Ich könnte einen nehmen, der in geeigneterer Rich tung fliegt. Im All reist man ohnehin umsonst, ohne Fahrschein. Ich muß besser auf die Anschlüsse achten. Endlich sah er einen Meteoriten daherkommen, der den Weg seines eigenen kreuzte und auf die Erde zusteuerte. Atomino sprang hinüber und setzte sich auf ihm zurecht. Sie näherten sich zwar der Erde, aber sie war noch so weit von ihnen entfernt, daß sie aussah wie ein Tennisball. Der Meteorit flog auf einen komischen Planeten zu, der von einem Ring umgeben war. Jetzt habe ich doch wieder die falsche Linie erwischt. Sie führt zum Saturn. Ich muß noch einmal umsteigen. Er bereite te sich auf einen neuen Fahrzeugwechsel vor, und als ihm der Anschluß günstig schien, sprang er auf einen anderen Meteo riten über. Sie näherten sich der Erde mehr und mehr, so daß sie jetzt schon nicht mehr die Größe eines Tennisballs, sondern die ei nes Fußballs hatte. Aber der Meteorit flog auf den Mond zu. Was für eine schlechte Verbindung! Die klappt auch noch nicht. Ich muß bis zur nächsten Haltestelle weiterfahren, bis zur Erde! Endlich sah er einen Meteoriten ankommen, der genau auf die Erde zusteuerte. Atomino sprang rittlings hinauf und at mete erleichtert auf. Jetzt erst war er gerettet. Bald würde er mit Simeone ab rechnen. Die Erde schien ihm so groß wie die Kuppel der Pe terskirche, und sie wurde immer größer. Nun konnte man 180
schon die einzelnen Kontinente erkennen. Aber der Meteorit, den er zwischen den Beinen hatte, wur de allmählich immer wärmer, obwohl es nicht der Sonne ent gegenging. Das ist wirklich eine elende Verbindung! dachte er und hat te große Lust, sich zu beschweren. Aber er wußte nicht, bei wem. Der Meteorit wurde heißer und heißer, bis er schließlich beim Eindringen in die Erdatmosphäre zu glühen begann. „Was soll der Unsinn? Mein Fahrzeug fängt Feuer!“ Oben drein nutzte sich der Meteorit beim Verbrennen ab und wurde immer kleiner. Während Atomino anfangs rittlings bequem Platz auf ihm gehabt hatte, konnte er sich nun kaum noch oben halten. Und wollte er nicht herunterfallen, dann mußte er wie ein Seiltänzer auf einem dünnen Seil balancieren. Als der Meteorit noch mehr abnahm, klammerte er sich mit den Händen an ihm fest wie an einem Geschoß. Bald wir,d er ganz verschwunden sein, und ich liege auf der Nase, das heißt, ich schwebe im Ungewissen, ich meine, ich falle auf die Erde, kurzum, ich sitze ganz schön in der Patsche! Der Meteorit war nun nahezu ausgebrannt. Gerade das beobachteten Smeraldina und der General am Himmel: Sie sahen das letzte Aufflackern eines Meteors, einer sogenannten Sternschnuppe. Simeone dachte: Wenn ich doch nur recht bald Beherrscher der Welt würde! Smeraldina hingegen wünschte sich: Wenn doch nur Ato mino gesund und munter zurückkäme! Sie ahnte nicht im ent ferntesten, daß sich ausgerechnet auf dieser Sternschnuppe Atomino befand. Er war auf dem Wege zu ihr, er kehrte in ra sender Geschwindigkeit zu ihr zurück, aber koppheister! Denn als der Meteorit völlig verbrannt war, stürzte Atomino ins Leere. Er sauste in solch einem Tempo hinab, daß er in der Erdoberfläche versank wie ein katapultierter Stein in der Butter. 181
Er fand sich mehrere Meter tief in der Erde wieder. Unver drossen begann er mit den Händen zu graben, denn er wollte so rasch wie möglich wieder an die Oberfläche gelangen. Dabei legte er das Skelett eines Dinosauriers frei, fiel in die Höhle von Urmenschen, dann in ein etruskisches Grab und stieß auf die Überreste eines römischen Amphitheaters. Aber er kümmerte sich nicht im geringsten um diese außergewöhn lichen archäologischen Entdeckungen, die er dabei machte. Er dachte nur an General Simeone und klomm weiter empor. Zwischen den Schienen einer Eisenbahnstrecke kam er wie der ans Tageslicht. Im selben Augenblick raste ein D-Zug mit höchster Geschwindigkeit heran. „Zu spät!“ rief der Lokomotivführer. „Ich kann nicht mehr rechtzeitig bremsen.“ Aber das war gar nicht nötig. Denn Atomino rannte so schnell zwischen den Gleisen dahin, daß kein Zug der Welt, nicht einmal einer mit Düsenantrieb, ihn hätte einholen kön nen. Er hatte es furchtbar eilig. Um rascher vorwärts zu kom men, schlug er den kürzesten Weg ein, die gerade Linie. Er durchquerte Landschaften und Städte, durchbohrte Berge, übersprang Flüsse und ließ eine Rauchfahne hinter sich, ähn lich einer Lunte, die mit rasender Geschwindigkeit abbrennt. Diese Wolke sahen Simeone, Zaccaria und Smeraldina nä herkommen, bis Atomino selbst daraus auftauchte. Mit erho bener Hand rief er wie ein Polizist Simeone zu: „Halt!“ Das war kein Geist! Das war Atomino, wie er leibte und leb te. Smeral-dinas Wunsch war in Erfüllung gegangen.
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Vierundzwanzigstes Kapitel Ein General in Unterhosen ist kein General mehr „Halt!“ schrie Atomino, und sobald er bemerkte, daß Smeral dina und Zaccaria Handschellen trugen, sprengte er im Hui ihre Ketten. „Atomino, mein Befreier!“ sagte Smeraldina so, wie sich die Heldinnen in gewissen Romanen bei ähnlichen Gelegenheiten stets auszudrücken pflegten. Dann gab sie ihm einen Kuß. Atomino wurde rot, stotterte ein paar Worte und begann vor lauter Freude zu tanzen. Er war auf die Erde zurückge kehrt, hatte den General noch rechtzeitig erwischt, und Sme raldina hatte ihm sogar einen Kuß gegeben. Das Leben war schön, wunderschön, selbst für ein Atom. Doch General Simeone rief ihn in die Wirklichkeit zurück. „Wenn du kein Geist bist“, brüllte er, „so wirst du einer werden. Und da die sicherste Art, ein Geist zu werden, der Tod ist, wirst du sterben. Soldaten, legt an! Erschießt Atomi no!“ Aber die Soldaten, die es schon leid waren, dem General zu folgen, rührten sich nicht. „Ich werde euch alle bestrafen, ich werde euch einsperren, ich bring euch vors Gericht!“ brüllte Simeone. „Ich habe euch einen Befehl erteilt, führt ihn sofort aus! Eins, zwei, drei – Feu er!“ Doch niemand schoß. Simeone glaubte verrückt zu werden. Die Welt stand auf dem Kopf, die Soldaten gehorchten einem General nicht mehr! „Regen Sie sich nicht auf!“ sagte Atomino. „Ich werde sie 183
schön umstimmen. Los, Jungs, weigert euch nicht länger, macht dem General keinen Kummer.“ „Wir wollen dir nichts Böses antun“, rief ein Soldat als Ant wort. „Wir wollen niemand etwas Böses antun“, sagte ein ande rer. „Vor lauter Marschieren tun mir schon die Füße weh“, be klagte sich ein dritter. „Ich bitte euch um diesen persönlichen Gefallen“, erwiderte Ato-mino, „stellt den General zufrieden, dieses eine Mal noch!“ Er bettelte so lange, bis sich die Soldaten endlich herbeilie ßen zu schießen, aber die Kugeln prallten an Atominos Körper ab wie Murmeln. Selbst eine Granate hätte ihn nicht zu ritzen vermocht. Voll Bewunderung rief Smeraldina: „Verdammter Mist, wie stark du bist, mein lieber Atomino.“ „Du sollst nicht immer diesen häßlichen Ausdruck gebrau chen“, tadelte Zaccaria. Nun, da Atomino gesund und munter zurückgekehrt war, kehrten auch Hoffnung und Freude zu rück und damit die erforderlichen guten Sitten. „Atomino, es ist Zeit, du mußt dich mit Ernsterem beschäftigen. Die Bombe da ist bis obenhin mit deinen Tränen angefüllt.“ „Laßt mich nur machen“, entgegnete Atomino. Er wandte sich General Simeone zu, der, kreideweiß im Gesicht, auf sei nem Wagen hockte. „Schluß jetzt mit dem Affentheater! Gib mir die Bombe!“ „Nie und nimmer!“ brüllte Simeone. „Du kriegst sie nicht. Sie ist meine ganze Liebe, der Traum meines Lebens.“ Nachdem sich Atomino vergewissert hatte, daß es hier kei ne Falltüren gab, trat er einen Schritt vor und sagte: „Sei nicht eigensinnig, gib sie her!“ 184
„Sie gehört mir, und solang ich sie habe, bin ich der Stärk ste. Wenn dich die Gewehrkugeln nur kitzeln, dieser Bombe wirst du nicht widerstehen. Ich werde dich vernichten, in Stücke reißen, und die Welt wird mein sein, mit oder ohne deinen Geist.“ Er streckte die Hand nach dem Knopf aus, der die Bombe auslöste. Dabei brüllte er: „Du wirst für immer verschwinden, Ato mino, und ich setze meinen Marsch fort.“ „Nein, Herr, nein!“ schrie von Botto. „Wenn die Bombe ex plodiert, dann wird uns allen der Trauermarsch geblasen werden.“ „Er ist übergeschnappt“, rief Zaccaria, der Smeraldina an sich drückte. „Wir fliegen alle in die Luft.“ Die Soldaten warfen sich zu Boden und stopften sich die Ohren zu. „Rette sich, wer kann! Das ist der Weltuntergang.“ Nur Atomino blieb seelenruhig. Er erhob eine Hand und schnippte mit Daumen und Zeigefinger gegen General Simeo ne. Dadurch wurde eine elektrische Ladung ausgelöst. Wie vom Blitz getroffen, flog Simeone von seinem Wagen herunter und stürzte, eine Rauchfahne hinter sich her ziehend, zu Bo den. Als er dort landete, war er nicht wiederzuerkennen. Seine Uniform war verbrannt, und er hatte nur noch Unterhosen an. Die Soldaten brachen in schallendes Gelächter aus. Ein Mann in Unterhosen wirkt immer komisch, und erst ein Gene ral! Aber war Simeone überhaupt noch ein General? Versengt und halbnackt hampelte und strampelte er mit den Füßen wie ein kleines Kind. „Die Bombe gehört mir“, plärrte er. „Ich brauche sie. Ich muß den allerschönsten Krieg führen. Ihr Bösewichte, gebt sie mir wieder! Wie soll ich ohne die Bombe die Welt beherr schen?“ 185
Alle schauten ihn verwundert an. Die Menschen steckten schon wieder die Köpfe aus den Fenstern und lachten. „Das ist ein Fall von atomarem Wahn“, erklärte Zaccaria, „eine Krankheit, die Generale heimsucht.“ „Atomino“, schmeichelte Simeone, „wollen wir tauschen? Ich geb dir drei Murmeln, und du läßt mir die Bombe. Ist dir das zuwenig? Nun gut, dann geb ich dir ein Katapult und zehn Bilder von Fußballspielern. Ich bitte dich, ich muß näm lich den Kriegspfad beschreiten.“ „Wenn du das durchaus willst“, entgegnete Zaccaria sanft mütig, „so sollst du es sofort haben. Ich werde die beiden gro ßen Indianerhäuptlinge Rotkreuz und Weißkittel rufen lassen, die werden dich begleiten.“ 186
Er telefonierte mit der Irrenanstalt. Im Nu traf ein Kran kenwagen mit zwei Wärtern ein. Überaus liebenswürdig ga ben sie Simeone sofort eine Waffe. „Damit kannst du Krieg führen“, sagten sie und drückten ihm ein Holzgewehr in die Hand. „Bist du nun zufrieden?“ Sie luden ihn in den Kran kenwagen und führten ihn ab. Die Menschen kamen auf die Straße und feierten Atomino als ihren Retter. Die Soldaten schüttelten ihm die Hand und kehrten nach Hause zurück. Simeones Heer löste sich auf. Zaccaria kletterte auf den Wagen. „Steigt ein, Kinder“, for derte er Atomino und Smeraldina auf. „Wir fahren zur Aka demie der Wissenschaften.“ In höchster Geschwindigkeit durchquerte der Wagen mit der Atombombe die Stadt. Aber nun jagte sie niemand mehr Angst ein. In der Hand Zaccarias war sie harmloser als ein Osterei. Unterdessen hatte sich Fantasio, den Kopf zwischen den Pfoten, in der finstersten Ecke eines finsteren Kellers verkro chen. Er wartete auf den schrecklichen Knall, auf den Weltun tergang, auf die Ausrottung des edlen Katzengeschlechtes. Und da behaupten die Menschen, wir Tiere seien grausam, mauzte er. Aber was sind sie denn? Wenn sie sich wenigstens nur untereinander umbrächten! Aber nein, auch wir Katzen sollen dran glauben. Ich bin hübsch, jung, zu neunundneunzig Prozent reinrassig und soll schon sterben. Das ist ungerecht. Aber komisch, warum geht denn dieser Krieg noch nicht los? Ob ich noch Zeit habe, mein Testament zu machen ? Was ist denn ? Warum hört man noch nichts? Ob ich einen Blick hi nauswerfe? Vielleicht habe ich das Glück, einer Maus zu be gegnen. Auch ein dem Tod geweihter Kater hat das Recht auf einen letzten Wunsch, auf die Henkersmahlzeit. 187
Fünfundzwanzigstes Kapitel Alle sind zufrieden, nur Fantasio nicht Die Akademie der Wissenschaften war unter der Leitung des Professors Senior zu einer Sondersitzung zusammengetreten. „Werte Kollegen“, begann er, „ich muß euch eine schreckliche Mitteilung machen: Es wurde eine Superatombombe herge stellt, und sie befindet sich zur Zeit in der Hand eines Gene rals.“ „Aber es ist doch verboten, Generalen Bomben zu geben“, un terbrach ihn ein junges Doktorchen schüchtern. „Der Kollege hat recht. Und der General will sich ihrer be dienen zur Eroberung …“ „…des Mondes?“ fragte das Doktorchen hoffnungsvoll. „Nein, der Erde.“ „Dann ist er verrückt!“ rief das Doktorchen aus. „Ich stimme der Diagnose des werten Kollegen zu“, fuhr der Professor Senior fort. „Und ich habe euch eben deshalb hierher gebeten, weil wir verhindern müssen, daß eine solch ungeheure Bombe …“ In diesem Augenblick preschte der Wagen mit der Super bombe wie eine von Indianern verfolgte Postkutsche in die Akademie und hielt vor dem Vorstandstisch. „Schämen Sie sich!“ rief der Professor Senior. „So einfach mir nichts, dir nichts mit dem Beweisstück vor einer Ver sammlung von Wissenschaftlern zu erscheinen! Professor Zaccaria, ich entziehe Ihnen die Zulassung als Wissenschaft ler.“ Aber Zaccaria erklärte, daß er ja gerade gekommen sei, um 189
den Gelehrten die Superbombe zu überreichen, die allen soviel Sorgen machte. „Die darin enthaltene Atomenergie werden wir nutzen“, er läuterte er. „Und falls sie nicht ausreichen sollte“, sagte Atomino, der sich bei diesen Worten vordrängte, „werde ich euch soviel ge ben, wie ihr braucht.“ „Aber das ist doch …“, stotterte der Professor Senior, „das ist doch das Ding … Ich meine, das Atom … Ohne Zweifel, das ist das Atom, das in unserer Atomzentrale auftauchte.“ „Ganz recht“, bestätigte Zaccaria. „Ich stelle euch Atomino vor. Ihm haben wir es zu verdanken, daß diese Bombe wieder in anständige Hände gelangt ist.“ Alle klatschten Beifall, auch Smeraldina, und Atomino ver beugte sich verlegen. „Das sind jedoch noch längst nicht alle seine Verdienste“, fuhr Zaccaria fort. „Er hat mir auch geholfen, einen herrlichen Plan auszuarbeiten. Wir werden damit die Atomenergie zum Nutzen aller Bürger einsetzen …“ „Ich hoffe“, unterbrach ihn das Doktorchen, „daß in Ihrem Plan auch die Beheizung von Vogelnestern vorgesehen ist, damit die Vögel im Winter nicht mehr nach dem Süden fliegen müssen. Wir brauchen auch kleine Raketen für die Kinder, denn keins soll mehr zu spät zur Schule kommen.“ „Ich pflichte dem Vorschlag des Kollegen bei“, sagte Sme raldina im Tonfall eines großen Gelehrten, „ich und mein Va ter sind damit einverstanden.“ Mit diesen Ergänzungen wurde der Plan einstimmig ange nommen, und Zaccaria baute sofort einen riesigen Atomreak tor. Er schüttete die Tränen aus der Bombe hinein, und Ato mino hockte sich darauf und füllte ihn bis zum Rand mit Atomenergie. 190
Sobald alles fertig war, hielt Zaccaria eine Rede im Fernse hen. „Bürger“, begann er. „Bravo!“ riefen Smeraldina und Atomino daheim vor dem Empfänger und klatschten stürmisch Beifall. „… wir haben einen großen Atomreaktor gebaut. Er wird für euch in Betrieb genommen, um allen Licht, Wärme und Arbeit zu geben …“ „Bravo!“ riefen Smeraldina und Atomino, und mit ihnen riefen es die Menschen in ihren Wohnungen. „Ich erwarte euch noch heute“, fuhr Zaccaria fort. „Bringt ein Stück Draht und einen Bananenstecker mit. Ihr könnt so viel Energie haben, wie ihr wollt.“ Eine gewaltige Menschenmenge eilte zum Atomreaktor. Al le steckten ihre Bananenstecker hinein und hatten auf diese Weise soviel Energie zu Hause, wie sie nur wollten. Sogar für die Bestrahlung mit künstlicher Höhensonne reichte es, so daß sich jeder nach Belieben braunbrennen lassen konnte. In Zaccarias Plan war jedoch noch mehr vorgesehen: die taghelle Beleuchtung der Straßen, Keller und Berggipfel der ganzen Welt; die Beheizung von Häusern, Schulen und Vo gelnestern; die Errichtung vieler neuer Fabriken, in denen oh ne Tick-tack gearbeitet wurde; Kuren für Kranke; Bereitstel lung von Energie, um Schiffe, Züge, Flugzeuge und natürlich auch die vom freundlichen Doktorchen vorgeschlagenen Kin derraketen anzutreiben. Die Stadt wurde zum Paradies, wie es in jeder Stadt der Welt der Fall sein könnte, wenn Minister und Generale so dächten wie Zaccaria oder wie der Professor Senior. Atomino und Zaccaria wurden weltbekannt. Die Zeitungen berichteten über sie. Sie veröffentlichten sogar Fotos von Sme raldina und der Großmutter mit der Unterschrift „Die Tochter 191
des berühmten Professor Zaccaria“ oder „Die Schwiegermut ter des großen Wissenschaftlers“. Smeraldinas Oma wurde unentwegt um Interviews gebe ten, die sie bereitwillig gab. Sie empfing Journalisten und Fo tografen im Wohnzimmer, in dem jetzt neben dem Foto der verstorbenen Tochter das Bild von Zaccaria einen Ehrenplatz einnahm. „Ich hab ja gleich gewußt, daß er ein Genie ist“, sagte sie zu den Reportern, „deshalb war ich auch heilfroh, als er meine Tochter heiratete. Er ist ein bewundernswerter, außergewöhn licher Mann mit den klügsten und modernsten Ansichten. Und was für ein Vater! Sie sollten mal sehen, wie er seine Tochter erzogen hat. Er hat ein weltgewandtes, gefühlvolles Mädchen aus ihr gemacht … Sie wollen mich fotografieren? Nur zu gern, aber hier neben meinem lieben Schwiegersohn.“ Sie setzte sich zurecht, wobei sie liebevoll das Bild Zaccarias anschaute. „Ich bin ja so stolz auf ihn!“ Jeden Sonntag begab sie sich zum Mittagessen in die Woh nung des Professors. Sie traf dort immer nach der neuesten Mode gekleidet ein und vergaß auch nie, ein kleines Geschenk für Atomino mitzubringen. „Ich habe jetzt lauter neue Möbel, Smeraldina. Den alten Plunder hatte ich über. Ich kann nämlich alles, was unmodern ist, nicht ausstehen. Nebenbei bemerkt, du könntest dir dein Haar auch etwas modischer schneiden lassen. Entschuldige, meine Liebe, aber du hast einen recht altertümlichen Ge schmack. Du müßtest dich viel hübscher anziehen. Bei einem so modernen Vater und einer so modernen Großmutter müß test du dir Mühe geben, ebenfalls modern zu sein.“ Smeraldina mußte herzhaft lachen. Sie freute sich, daß die Großmutter eingesehen hatte, daß man nicht wie in einem Museum leben und seine Ansichten aus alten, verstaubten 192
Truhen hervorkramen kann. Natürlich verlangte die alte Dame, daß auch Atomino sie mit Oma anredete. „Du hast mir auf den ersten Blick gefallen“, sagte sie zu ihm. „Ich hätte mir kein besseres Brüderchen für Smeraldina wünschen können. So verständig und natürlich und dazu noch weltberühmt. Im übrigen, wo wollt ihr im nächsten Jahr in euren Ferien hin? Wieder zum Nordpol oder diesmal lieber zum Südpol?“ Atomino hatte sich dagegen überhaupt nicht verändert; ihm war auch nicht der Kamm geschwollen. Das einzige, mit dem er sich Smeraldina gegenüber brüstete, war, daß er auch ein Herz hatte. Akademien und Atomzentralen machten ihm eine Unmen ge Angebote. Man versprach ihm Millionen Dollar, wenn er nach Amerika übersiedelte. Selbstverständlich lehnte er das ab. Er wollte zu niemand jawoll sagen, und im übrigen lebte er ausgezeichnet mit Zaccaria und Smeraldina zusammen. „Ver dammter Mist“, meinte Smeraldina, „dann hast du uns also wirklich lieb. Du hast tatsächlich ein Herz.“ „Ich verbiete dir zum letztenmal, diesen häßlichen Aus druck zu gebrauchen!“ schimpfte Zaccaria. „Du hast recht, Papa. Ich werde ihn nie mehr aussprechen, ich schwöre es dir, verdammter Mist.“ – Und Fantasio? Als Zaccaria, Smeraldina und Atomino von der Akademie heimkehrten, fanden sie ihn zu Hause vor. Nachdem er aus dem Keller hervorgekrochen, war er vergeblich umherge streunt, um Mäuse zu suchen. Und als er erkannte, daß die Vernichtung der Welt und des edlen Katzengeschlechtes nicht eintrat, war er heimgekehrt, denn er wollte sich wenigstens seine Tagesration Lunge sichern. Er war nach wie vor unzufrieden und nörgelte: Man lebt nicht nur von Lunge allein, sondern auch von Höherem. Zu 193
gegeben, als Hausgenosse von Professor Zaccaria bin ich der meistfotografierte Kater der Welt. Alle Kollegen aus der Nachbarschaft begrüßen mich ehrerbietig mit „Miau, Profes sor Fantasio“. Wenn ich mich an Atominos Beinen reibe, krault er mich, und das kann er wirklich prima. Aber das rich tige Katzenglück ist mir nicht vergönnt: eine Maus zu fangen. Verdammter Mist, wie Smeraldina immer sagt. Muß ich denn stets in Häuser geraten, wo von Mäusen nicht einmal die Spit ze eines Schwanzes zu sehen ist! Über kurz oder lang werde ich eine Anzeige in einer Zeitung aufgeben: Verzweifelter Ka ter tauscht großen Batzen Lunge (gekocht) gegen lebende Maus. – Und dann versteht mich niemand in diesem Haus. Dieser Schafskopf von Zaccaria könnte Milliardär werden und mir sogar eine Reise zum Mond bezahlen, statt dessen denkt er unentwegt an das Wohl der Menschheit. Atomino treibt sich ständig mit Smeraldina herum. Jetzt, wo er berühmt ist, hat er es sogar geschafft, in dieselbe Klasse zu kommen wie sie. Aber nie nehmen sie mich mit. Vor allem dann nicht, wenn sie aufs Land fahren. Dort könnte ich endlich Mäuse ja gen. Doch Pustekuchen! Er hat nichts anderes im Sinn, als mit dem Mädchen zusammen zu sein. Freilich, sie ist nicht mehr so widerborstig wie früher, aber für meine Begriffe ist sie noch reichlich dreist. Und Atomino, so bedeutend er auch ist, gibt ihr immer recht. Schwesterchen hier, Schwesterchen da. Mich dagegen sieht er nicht einmal als Cousin dritten Grades an. Ich hab’s wirklich satt. Über kurz oder lang mach ich mich auf und davon, denn schließlich bin ich ein freier, unabhängiger Kater. Wäre mir doch nie eingefallen, in der Atomzentrale auf den bunten Knöpfchen herumzutanzen! Da ist was Schönes bei herausgekommen. Und was habe ich dabei gewonnen? Im übrigen bin ich kein Freund von Geschichten mit glücklichem Ausgang. Ein wenig Phantasie, verdammter Mist! 194
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