Fred McMason
Auch ein Bastard wird begraben „Profos", sagte Francis Drake knapp und hart. „ Walten Sie Ihres Amtes. Al...
26 downloads
684 Views
705KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Fred McMason
Auch ein Bastard wird begraben „Profos", sagte Francis Drake knapp und hart. „ Walten Sie Ihres Amtes. Als oberster Gerichtsherr an Bord der ,Marygold' erkläre ich Gordon Brown der ihm zur Last gelegten Verbrechen für schuldig und befehle, ihn zu Tode zu bringen. Er soll an der Rah hängen." „Nein!" schrie Gordon Brown. „Nein! Gnade! Ich bin unschuldig! Der verdammte Spanier hat mich verführt - ah..." „Du Stinktier!" fuhr ihn der Profos an. „Du hundsgemeines, dreckiges Stinktier! Jetzt stirb wenigstens wie ein Mann!" Er band den brüllenden Gordon Brown los und stieß ihn zum Mitteldeck hinunter. Kräftige Fäuste packten zu. Sie fierten die Großrah weg, legten dem tobenden Mann eine Schlinge um den Hals, befestigten sie an der Rahnock und hievten die Rah hoch. Das Brüllen brach abrupt ab. Gordon Brown hatte seine Schulden bezahlt. Eine halbe Stunde später wurde er der See übergeben. So geschehen im Oktober 1576 an Bord der „Marygold" unter dem Kommando von Francis Drake. Aber Gordon Brown schien zweiundzwanzig Jahre später von den Toten auferstanden zu sein, um seine Rache zu nehmen . . .
Die Hauptpersonen des Romans: Gordon Brown - ein Kerl, an dem alles schmierig ist, außen und innen, außerdem wird er von Haß zerfressen. Nathaniel Plymson - der Kneipenwirt der „Bloody Mary" bricht eine Lanze für die Arwenacks, obwohl sie mal wieder alles kurz und klein geschlagen haben. Edwin Carberry - der Profos guckt einer Sängerin tief in die Augen und wird zu einem Stelldichein eingeladen, das sich als die reine Hölle entpuppt. Mac Pellew - Der Zweitkoch entdeckt eine neue Nahkampfwaffe, die er mit Erfolg einsetzt. Philip Hasard Killigrew- ist fast geneigt, an „Geisterschiffe" zu glauben, findet dann aber des Rätsels Lösung.
1. März 1598. Die spanische Silbergaleone „Fidelidad" gab zwar ihr Bestes und wurde auch von hervorragenden Seeleuten gesegelt, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß sie trotz allem eine „lahme Ente" blieb. Mit ihrer schweren Last - Gold, Silber, Perlen und Kleinodien - rollte sie behäbig durch die aufgetürmte See und legte sich schwerfällig von einer Seite auf die andere. Die Prise, die die Arwenacks den Spaniern abgenommen hatten, war für London bestimmt, sozusagen als Gastgeschenk für Ihre Majestät, die Königin von England. Schließlich wollte man nicht mit leeren Händen erscheinen. Die ,,Fidelidad", jetzt besetzt mit zwölf Arwenacks, segelte etwa drei Kabellängen voraus. Auf der Galeone war jeder Fetzen Tuch gesetzt worden. Die Schebecke segelte, seitlich versetzt im Kielwasser, hinterher. Sie hatte nur wenig Tuch gesetzt, nur ein
paar Lappen, damit sie nicht ständig an der Galeone vorbeisegelte. „Heilige Bramstenge", sagte der Profos Edwin Carberry und rang die Hände. Gleichzeitig schickte er einen gottergebenen Blick zum wolkenverhangenen Himmel. „Kann dieser Zossen denn nicht etwas schneller durch die See törnen! Das ist ja nicht zum Aushalten, ist das. Jeder Pißrinnenkapitän segelt hundertmal schneller." „Na, na", ließ sich Philip Hasard Killigrew vernehmen. „Das wird Juan aber gar nicht gern hören. Er segelt die Galeone hervorragend, oder willst du das etwa bestreiten, Ed?" „Es liegt nicht an ihm, ich weiß, es liegt an dem lausigen Schiff." „Eben! Weil es voll abgeladen ist, und daher kannst du es nicht mit der leeren Schebecke vergleichen. Die da vorn geben sich wirklich alle Mühe, doch mehr ist nicht herauszuholen. Aber wie ich dich kenne, verfolgst du einen ganz anderen Gedanken, nicht wahr?" „Iiich?" fragte der Profos langgezogen. „Ich doch nicht, Sir." Er setzte ein Gesicht wie ein Heili-
5 ger auf, der beschuldigt wurde, gerade eine Kirche geplündert zu haben. „Du kannst es kaum erwarten", sagte Hasard lächelnd, „endlich in Plymouth einzulaufen. Du siehst in Gedanken nur noch Plymmies Kneipe vor dir und überlegst wahrscheinlich, wie du es am besten anstellen kannst, sie in Trümmer zu legen„Plymmies Kneipe in Trümmer?" sagte der Profos fassungslos, als sei das der größte Frevel auf Erden. „Aber Sir, wir wollen doch nur Erinnerungen austauschen, bei einem kleinen Plausch, versteht sich. Niemals hätte ich den Gedanken erwogen, die gute alte ,Bloody Mary' in Trümmer zu legen. Ich bin doch kein Kneipenzerklopper, da sei Gott vor, Sir." „Wenn ich mich recht entsinne, war die Kneipe jedes Mal nach eurem Besuch so gut wie abgewrackt. Das ist doch heilige Tradition." „Ja, ja, die Tradition!" Carberry seufzte. „Das ist so ein Ding mit Haken und Ösen. Da sitzt man in anheimelnder Atmosphäre beschaulich und völlig friedfertig beim alten Plymson, und schon taucht so ein schlitzohriger Bastard auf, der Streit anfängt. Was tut man als friedfertiger und frommer Pilger? Man läßt sich eins auf die Glocke hauen und wehrt sich erst dann, wenn hundert Kerle auf einen einstürmen. Das bezeichne ich als reine Notwehr zur Erhaltung des eigenen Lebens, Sir, denn man will ja noch was leisten auf dieser schönen Welt." „Fehlt nur noch, daß jetzt Englein um dich herumtanzen, um dir einen Heiligenschein aufzusetzen", murmelte Hasard. „Du spielst also nicht
mit dem Hintergedanken, bei Plymmie wieder mal Stunk anzufangen?" „Bewahre, Sir. Ich bin mitunter regelrecht entsetzt, daß man so von mir denkt." „Wir sollten ihn ein bißchen beweihräuchern", schlug Ben Brighton vor. „Oder ihn zumindest heilig sprechen lassen. Aber leider kann ihn nur der Papst kanonisieren." „Lieber lasse ich mich dreimal kielholen!" rief der Profos. „Kanonisieren ist eine hundsgemeine Sache. Das haben die Türken in Istanbul auch getan - einfach einen Kerl vor eine Kanone gebunden und sie dann abgefeuert. Wenn ich euch nicht mehr wert b i n . . . " Edwin Carbery sah in grinsende Gesichter. Ganz besonders der Kutscher grinste wieder einmal sehr infam. „Ist was?" fragte Carberry verwirrt. „Du hast wieder mal was in den falschen Hals gekriegt", erklärte der Kutscher. „Kanonisieren hat absolut nichts damit zu tun, vor eine Kanone gebunden zu werden. Kanonisation ist eine Heiligsprechung." „Hört sich trotzdem gemein an", beharrte Carberry. „Zu was benutzt man unverständliche Fremdwörter, wenn man das auch einfacher ausdrücken kann?" „Das tut man sehr oft." „Und warum?" fragte der Profos angriffslustig. Es sah ganz danach aus, als würden sich die beiden wieder mal in die Haare geraten, aber dann winkte der Kutscher fast entsagungsvoll ab, als die Haarspaltereien begannen. „Der Klügere gibt nach", sagte er lässig. „Wenn der Klügere immer nach-
6 gibt", sagte der Profos mit einem hinterhältigen Grinsen, „dann würden nur noch die Dummen die Welt regieren, oder sehe ich das falsch?" Der Kutscher wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, aber dann schluckte er sie doch hinunter. „Damit hast du gar nicht mal so unrecht", gab er zu. „Das solltest du allmählich anerkennen." „Und ihr hört jetzt mit eurem Streit auf", sagte der Seewolf. „Sonst lassen wir Plymouth an Backbord und segeln gleich durch nach London." Dem Profos hätte er damit wirklich nichts Schlimmeres antun können, denn der war schon ganz wild darauf, endlich wieder mal das alte Schlitzohr Nathaniel Plymson zu sehen. Und nicht nur das, denn schließlich war in der alten Spelunke an der Ecke Millbay Road und St. Mary Street immer etwas los. Ein bißchen Heimweh war natürlich auch dabei. „Aber nicht doch, Sir", sagte der Profos bescheiden. „Der Kutscher und ich streiten doch nicht. Wir tauschen nur gegenseitige Erfahrungen aus, oder stimmt das nicht, mein liebes Kutscherlein?" Das „liebe Kutscherlein" nickte augenzwinkernd. „Natürlich", versicherte er. „Ein reiner Erfahrungsaustausch, mehr steckt nicht dahinter." Die beiden waren wieder ein Herz und eine Seele, wie Hasard lächelnd feststellte. Wenn es bei Carberry um Plymouth ging, dann war er recht schnell zu besänftigen, besonders dann, wenn ihm angedroht wurde, an dem Städtchen vorbeizusegeln. „Nun gut", meinte der Seewolf. „Dann bleiben wir also auf dem Kurs. Zwei oder drei Tage können wir in
Plymouth verbringen, wenn ihr alle einverstanden seid." Sie waren alle einverstanden, ganz besonders der Profos, der sich grinsend die Hände rieb und schon riesig auf das alte und ausgekochte Schlitzohr Plymmie freute. Aber dann kam doch noch etwas dazwischen.
Die Bewegungen der voraussegelnden Galeone wurden träger. Sie wälzte sich jetzt buchstäblich durch das Meer. Auch die Schaumkronen der hochgehenden Dünung verschwanden nach und nach. Leichter Dunst lag in der Luft, ein Dunst, der scheinbar aus dem Nichts entstand. „Wir kriegen Nebel", erklärte Smoky. „Ich rieche das ganz deutlich." „Seit wann kann man Nebel riechen?" fragte Luke Morgan. „Das ist doch nichts weiter als Stuß." „Ich kann das aber", behauptete der Decksälteste. „Die Luft hat dann einen ganz besonderen Geruch, aber dafür muß man eine feine Nase haben. Wollen wir wetten, daß es bald Nebel gibt?" „Nein", sagte Luke, „lieber nicht. Im Wetten hast du immer die Nase vorn, da bleibe ich draußen." Schon nach einer knappen Stunde stellte sich heraus, daß Smoky recht hatte. Die Luft war noch dunstiger geworden, und der Wind stellte langsam sein Fauchen ein. Nach einer weiteren halben Stunde bewegten sich Schebecke und Galeone mit der gleichen Geschwindigkeit, obwohl Hasard etwas mehr Tuch setzen ließ. „Nebel", sagte auch Hasard. „Nicht
7 mehr lange, und wir geraten in eine ganz besonders dicke Suppe. Wir werden versuchen, zur Galeone hin aufzuschließen." „Noch besser wäre, wir blieben zusammen", schlug Dan O'Flynn vor. „Sollten wir die Galeone aus den Augen verlieren, kann es vielleicht Schwierigkeiten geben. Allein ist das schwerbeladene Schiff ziemlich hilflos." „Das stimmt allerdings", gab Hasard zu. „Auch hier treiben sich ein paar Schnapphähne herum. Wir werden also aufschließen und bei der ,Fidelidad' längsseits gehen." Der Dunst schien jetzt direkt aus dem Wasser zu wachsen. Leichter Wind verwirbelte ihn zu abstrakten Gebilden, die sich an manchen Stellen wie Kreisel drehten. Old O'Flynn starrte wie gebannt auf diese Nebelfetzen und dachte dabei wieder an Wassergeister, die ruhelos aus der Tiefe nach oben strebten. Er sagte jedoch nichts, denn er sah den grinsenden Blick Edwin Carberrys, der nur auf ein Wort von ihm zu lauern schien. Ganz unmerklich begann der Wind einzuschlafen. An der Dünung änderte sich jedoch nichts. Sie blieb weiterhin langgezogen und träge. Die Schebecke segelte der Galeone von achtern auf, schob sich immer näher heran und ging schließlich längsseits. Leinen flogen hinüber und wurden an den Holzpollern belegt. „Es ist besser, wenn wir zusammenbleiben", rief Hasard zu Don Juan hinüber. Der hochgewachsene Spanier mit dem kühn geschnittenen Gesicht hatte das Kommando über die Silbergaleone. „In spätestens einer Stunde ist der Nebel so dicht, daß
wir die Hand nicht mehr vor den Augen erkennen." „Und der Wind läßt uns ebenfalls im Stich!" rief Don Juan zurück. „Es sieht nach einem längeren Aufenthalt aus." „Das befürchte ich auch." Hasard blickte zu den Segeln hinauf. Sie wurden zusehends schlaffer, nur ein kleiner Windstoß beulte sie noch aus. Mit den Flögeln war es nicht anders. Die Windbüdel fielen in sich zusammen. Die ersten Nebelbänke begannen über dem Wasser zu schweben. Sehr schnell wurden sie dichter und kompakter. Manche sahen wie unheimliche schwimmende Inseln aus. Es dauerte nur noch eine halbe Stunde, dann hingen die Segel wie Leichentücher von den Rahen. Auf der Schebecke trat derselbe Zustand ein. Auch hier war kein Leben mehr in den Segeln. Auf dem Meer breitete sich eine unnatürliche Stille aus. Kein Wind sang mehr im laufenden oder stehenden Gut, kein Plätschern von Wasser war mehr zu hören. Beide Schiffe liefen keine Fahrt. Die einzigen Geräusche waren das Knarren und Ächzen von Blöcken und Taljen und das leise Aneinanderreihen der Bordwände. Immer dichter wurde der Nebel, der jetzt in langen dicken Schwaden über das Wasser trieb und es einhüllte, bis die Wasseroberfläche unter einem dunklen Grauschleier verborgen war. „Dann können wir ja gemeinsam kochen", schlug der Kutscher vor. „Zeit genug haben wir." Der Vorschlag wurde mit Begeisterung aufgenommen, und so gingen die Männer bald darauf ans Werk. Trotz der Kühle aßen sie an Deck.
8 Inzwischen war der Nebel so dicht geworden, daß man vom Vorschiff aus das Achterdeck nicht mehr erkennen konnte. Die Arwenacks waren zu Schemen geworden, die in den Konturen immer wieder zerflossen oder sich aufzulösen schienen. Immer noch ging die Dünung langgezogen, und hin und wieder klatschte es zwischen den Bordwänden, wenn Wasser emporstieg. Das Essen verlief recht schweigsam. Die meisten hingen ihren Gedanken nach und dachten an England, wo sie lange nicht mehr gewesen waren. Eine kompakte Nebelwand schob sich heran. Sie sah wie ein riesiger Berg aus Watte aus, der jede Gestalt in sich aufzusaugen schien. Bald waren auch die Umrisse der Männer nicht mehr zu erkennen. „Verdammte Nebelsuppe", brummte Al Conroy mißmutig. „Hoffentlich hält sie nicht zu lange an." Seine kraftvolle Stimme klang ganz weit entfernt, als spräche er aus einer anderen Welt. Es ließ sich auch nicht feststellen, aus welcher Richtung seine Stimme ertönte. „Scheint aber doch noch eine ganze Weile zu dauern", erwiderte der Decksälteste Smoky. „Man kennt das ja in dieser Ecke. Wenn der Nebel sich erst einmal festgesetzt hat, dann verschwindet er auch nicht mehr so schnell." Smoky war für sein Gegenüber nur noch ein heller dunstiger Fleck, gesichtslos, zerfließend wie ein Geist, der sich unruhig bewegte, obwohl er ganz still saß. Seine Stimme schien aus einer tiefen Gruft an die Ohren der anderen zu dringen. Old O'Flynn schüttelte sich unbehaglich und sah sich in dieser „Gei-
sterrunde" immer wieder nach allen Seiten um. Ein bißchen fröstelnd zog er die Schultern hoch. Er gewahrte, daß etwas auf ihn zukroch und ihn mit kalten feuchten Fingern anzufassen schien. Nebelgeister, tanzende Kobolde und Gnome aus einer schattenreichen Welt, die ein normaler Mensch nicht begriff. Nach dem Essen standen sie auf und wanderten auf dem Schiff umher. Ein paar Arwenacks standen am Schanzkleid und starrten in die fast greifbare Suppe, die sie wie ein eisiger Hauch von allen Seiten berührte. Klamm und feucht war es. Selbst das Wasser war nicht zu sehen. Die Umgebung erweckte den Eindruck, als schwebten beide Schiffe irgendwo zwischen Himmel und Erde. Es gab kein Oben und Unten mehr, keine Richtung ließ sich bestimmen. Sie waren in einer Materie gefangen, die sie nie mehr freizugeben schien. Ein paar Stunden lang ging das so. Sie verharrten offenbar immer auf demselben Fleck, wurden von der Dünung nur leicht angehoben und dann wieder abgesetzt. Viel später war ein weit entferntes leises Winseln zu hören, das ebenfalls aus dem Nichts ertönte. Ein kaum spürbarer Hauch fuhr über sie hinweg, der das Frösteln noch verstärkte. „Wind", sagte Don Juan leise. „Es kommt Wind auf, aber er scheint uns noch nicht zu erreichen." „Jetzt wird es nicht mehr lange dauern", erwiderte Hasard. „Wir sind nur noch nicht richtig in der Windzone drin." Sie lauschten angestrengt in den Nebel. Das leise Winseln wiederholte sich. Dann glaubten sie, einen langgezogenen Seufzer zu hören, der klagend über der See verhallte.
9 „Unheimlich ist das", murmelte Old ,,Nein, das war nicht bei uns", sagte O'Flynn beklommen. „Als sei hier je- er bestimmt. „Der Nebel verzerrt mand ganz in der Nähe. Wenn mich zwar die Geräusche, verfälscht sie nicht alles täuscht, dann habe ich und schwächt sie ab, aber das erklang eben sogar Stimmen gehört." aus einer anderen Richtung, da muß „Dich täuscht vermutlich alles", ich dir recht geben, Donegal." meinte der Seewolf. „Oder hat noch „Aber es kann kein anderes Schiff jemand Stimmen gehört?" sein", protestierte Smoky leise. „Donegal hört immer Stimmen im „Wenn wir nicht segeln können, dann Nebel", versicherte der Profos mit ei- kann es auch kein anderer." nem schiefen Grinsen. „Wahrschein„Da wäre ich mir nicht so sicher", lich haben sich ein paar Wassermän- meinte Hasard, während er aufmerkner unterhalten oder gefragt, ob sie sam in die wabernden Schleier an Bord aufentern dürfen." blickte und sie zu durchdringen verSie grinsten alle ein bißchen über suchte. „Luke hat das doch gerade geDonegal, weil der immer was hörte sagt, daß wir das Schiff schon in die oder sah, was kein anderer wahr- Windzone ruderten und sich diese nahm. Ganz besonders stark ausge- Windzone nur ein oder zwei Meilen prägt waren seine Sinne bei Nebel. Da weiter weg befand. Möglicherweise hörte er sogar die Seegurken husten. weht in einer Meile Entfernung ein „Der Wind streicht in einiger Ent- Wind, der uns nicht erreicht. Folglich fernung an uns vorbei", murmelte kann es auch ein anderes Schiff geFerris Tucker. „Das haben wir schon ben, das noch bequem zu segeln veroft erlebt. Hier die totale Flaute, et- mag." was weiter ein frischer Wind, von Smoky nickte gedankenverloren dem wir nicht einmal berührt wer- vor sich hin. Ihm war das irgendwie den." unheimlich, aber er sagte nichts. „Das ist richtig", pflichtete Luke Nach einer Weile hatten sie alle das Morgan bei. „Aus eben diesem Grund eigenartige Gefühl, als halte ein grohaben wir das Schiff auch schon in ßes, unsichtbares Schiff genau auf sie die Windzone gerudert." zu. Sie stierten sich die Augen aus, Als sie wieder schwiegen und in den doch sie sahen in der zähen Suppe Nebel horchten, knarrte irgendwo ein nicht einmal die Andeutung eines Block. Ein Windgeräusch war zu hö- Schattens. ren, als blähe sich ein Segel ganz Dafür waren unheimliche und verplötzlich. zerrt klingende Stimmen zu hören. „Das war nicht bei uns", sagte Old Old O'Flynn lehnte am Schanzkleid Donegal heiser. „Das weiß ich genau." und bekreuzigte sich. „Wo soll es denn sonst gewesen „Ein Geisterschiff", murmelte er. sein?" „Die tauchen immer im Nebel auf, Noch bevor der Alte etwas erwidern man hört sie, aber man sieht sie nie. konnte, war wieder undeutlich ein Und wenn der Nebel dann weg ist sind Knarren zu hören. Wasser rauschte sie ganz plötzlich verschwunden." leise, aber die Richtung ließ sich nicht „Erzähl keinen Stuß", sagte Carbestimmen. berry grob. „Geisterschiffe gibt es Jetzt wurde auch Hasard hellhörig. nicht, auch nicht im Nebel."
10 „Gibt es doch. Ich bin solchen Schiffen schon mal begegnet, und jedes Mal gab es danach ein Unglück." „Und warum tauchen die nur im Nebel auf?" fragte Carberry. „Das weiß niemand. Aber es ist nun mal so." Carberry zuckte leicht zusammen, denn jetzt war ganz deutlich ein lautes Knarren zu hören. Es schien sich direkt vor ihnen zu befinden. Und dann rauschte es, als segele ein Schiff unmittelbar neben ihnen vorbei. Dieses Geräusch war nicht zu überhören. Hasard stand gespannt und sehr aufmerksam am Schanzkleid und blickte in die wabernden Bänke, in das Wallen, Kochen und Brodeln, das aus tausend Kesseln dampfte. „Feuert mal einen Schuß aus einer Muskete oder Pistole ab", sagte er laut. „In unserer Nähe befindet sich zweifellos ein Schiff. Ich möchte nicht, daß wir miteinander kollidieren." Dan O'Flynn zog seine doppelläufige Radschloßpistole, hielt sie hoch und feuerte einen Schuß in die Luft ab. Gleich darauf folgte ein zweiter. Der Knall war sehr dumpf und klang matt und gedämpft, als ersticke das Echo in einem riesigen Berg aus Watte. Nicht einmal das Aufblitzen des Mündungsfeuers war zu sehen. Die Antwort erfolgte ein wenig später und bestand zur Verblüffung der Arwenacks aus einem verzerrten und ebenfalls sehr dumpf klingenden „Hohoho!" Dann folgte noch ein Zusatz, der sich verblüffend nach „englischen Kanalratten" anhörte. Die Arwenacks, die sich unmittelbar gegenüberstanden und sich schemenhaft in den Umrissen erkennen konnten, blickten sich entgeistert an.
Der Seewolf holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. „Ich habe mich wohl verhört", sagte er verdutzt. „Aber der verdammte Nebel verzerrt alles. Habt ihr die Stimme auch gehört, oder bilde ich mir das nur ein?" Die anderen bestätigten, daß sie die Stimme ebenfalls gehört hätten. „An wen hat euch die Stimme erinnert?" fragte Hasard. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „An den Wikinger Thorfin Njal", sagte Ferris Tucker entschieden. „Dieses ,Hohoho' war unverkennbar, und dann vernahm ich noch etwas von ,englischen Kanalratten'." Die Verblüffung war groß, zumal auch alle anderen glaubten, die Stimme des Wikingers eindeutig erkannt zu haben. Nur Old O'Flynn hielt eisern an seiner Theorie von einem Geisterschiff fest. „Das ist doch nicht möglich", sagte Hasard beeindruckt. „Sicher ist der Nebel daran schuld, der alles anders klingen läßt. Thorfin befindet sich in der Karibik und wird nicht ausgerechnet gerade jetzt unseren Kurs kreuzen. Das wäre schon mehr als ein unglaublicher Zufall." Seine Worte verklangen. Sie lauschten weiter und glaubten einmal, ganz deutlich das rauhe Gelächter von ebenso rauhen Kerlen zu hören. Es waren mehrere, die da lachten. „... sich im Nebel versteckt, die Kanalratten", war ganz dumpf und verzerrt zu vernehmen. „Hohoho!" „Thorfin Njal!" brüllte Hasard mit einer Stimme, die meilenweit zu hören sein mußte. „Bist du es, Wikinger? Melde dich!" Er ließ zwei weitere Schüsse ab-
11 feuern, doch so angestrengt sie danach wieder lauschten, es erfolgte kein Echo. Nur das Rauschen einer Bugwelle war noch zu hören, ein Ächzen und Knarren wie es alle Schiffe von sich gaben, dann herrschte Ruhe. Sie waren wieder allein in der Nebelwand. 2. In Hasards Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er war sich ganz sicher, die Stimme des Wikingers gehört zu haben, jenes Poltermannes und nordischen Schrats, der den Schwarzen Segler „Eiliger Drache über den Wassern" befehligte. Er konnte sich nicht irren - oder? Wenn nur dieser verdammte Nebel nicht wäre! Er spürte am ganzen Körper ein unangenehmes Kribbeln. Sie lagen hier und konnten sich nicht bewegen. Offenbar steckten sie in einer dichten Nebelbank, während ein paar Kabellängen weiter die Sonne schien und ein lauer Wind wehte. Der Seewolf wollte hinterher, um der Sache auf den Grund zu gehen, doch der Nebel hatte sie in seiner Gewalt und ließ sie vorerst nicht los. Nicht einmal die Richtung ist zu bestimmen, in die der Wikinger segelte, überlegte er. Er sah Ben Brighton an, der mit merkwürdig starrem Gesicht dicht neben ihm stand, und er warf auch einen Blick auf Don Juan und Dan O'Flynn, die ebenfalls nichtbegreifend in den Nebel starrten. „Was haltet ihr davon?" fragte er rauh. „Haben wir uns getäuscht, oder war das Wirklichkeit? Ich weiß jetzt selbst nicht mehr, was ich denken soll."
„Ich glaube nicht, daß wir uns getäuscht haben", sagte Ben in seiner bedächtigen Art. „Ich würde darauf keinen Eid leisten, aber dem Klang der Stimme nach könnte es Thorfin gewesen sein. Ich frage mich nur, was er hier vor Englands Küste zu suchen hat." „Das weiß ich auch nicht. Aber wenn er es wirklich war, dann haben wir eine einmalige Gelegenheit verpaßt, um Neuigkeiten über unseren karibischen Stützpunkt zu erfahren." „Das war nicht der Wikinger", meldete sich Old Donegal. „Das war Blendwerk des Teufels oder was auch immer. Es muß ein Geisterschiff gewesen sein. Die Stimmen haben längst Verstorbenen gehört und existieren nur in unserer Einbildung." „Dann haben sich aber alle an Bord eine Menge eingebildet", entgegnete Hasard. „Außerdem möchte ich dich bitten, Mister O'Flynn, mit deinem Gefasel über Geisterschiffe endlich aufzuhören. Mir tun davon schon die Ohren weh." Donegal schwieg beleidigt und ließ die Unterlippe hängen. Hasard überlegte weiterhin, ob sie alle das Opfer einer Halluzination geworden waren. Er konnte es sich nicht vorstellen, weil es zu unwahrscheinlich war. Noch immer glaubte er ganz deutlich, das „Hohoho" des Wikingers im Ohr zu haben. „Ich möchte fast beschwören, daß er es war", sagte jetzt auch Dan. „Alle können sich doch nicht so geirrt haben." „Eigentlich nicht", erwiderte Hasard, „trotzdem ist das alles so unwahrscheinlich." „Es gibt eine Möglichkeit, um das genau festzustellen", sagte Don Juan, „nämlich die, die Luke vorhin ange-
12 schnitten h a t Wir rudern beide Schiffe aus der Nebelkalme, in der wir liegen, heraus. Sobald wir die Windzone erreicht haben, wissen wir, ob er es war oder nicht." „Weißt du, wie lange das dauert, bis wir allein den Vorspann zusammenhaben? Und wie lange es noch dauert, bis wir uns in der Windzone befinden? Bis dahin ist der Schwarze Segler längst hinter irgendeiner Kimm verschwunden." „War nur ein Vorschlag", sagte der Spanier. „Gewiß, das dauert eine ganze Weile. Ich ging nur davon aus, daß sich der Nordmann mit seinem Schwarzen Segler nicht besonders schnell bewegen kann, denn es ist nicht anzunehmen, daß ein paar Kabellängen weiter ein scharfer Wind weht. Es wird nicht mehr als ein Lüftchen sein. Deshalb haben wir ihn auch eine Weile lang gehört." Als Don Juan geendet hatte, begann sich eins der Segel an der Galeone leicht zu bewegen, als beule es eine unsichtbare Hand aus. Gleich danach sank es jedoch wieder in sich zusammen. Hasard war das nicht entgangen. Dieser kleine Windstoß erfüllte ihn wieder mit etwas Hoffnung. Vielleicht riß der Nebel doch bald auf, und dann konnten sie sehen, ob sie etwas genarrt hatte, oder ob es tatsächlich „Eiliger Drache über den Wassern" war, den der Zufall über ihre Route geführt hatte. „Warten wir noch ein paar Minuten", entschied Hasard. „Es hat ganz den Anschein, als käme leichter Wind auf. Die Schiffe aus dem Nebel zu rudern, erscheint mir zu zeitraubend. Selbst wenn wir noch eine ganze Stunde warten müßten, könnte Thorfin nicht verschwunden sein. Zumin-
dest an der Kimm wäre er dann noch zu sehen, und für die Schebecke ist es keine Schwierigkeit, ihn dann noch einzuholen." Mit dem nächsten Luftzug erklang gleichzeitig ein verschwommener Glockenton. Noch einer war zu hören. Es war wie das Bimmeln eines winzigen und weit entfernten Glöckleins. Das Geräusch erstarb sofort wieder und wiederholte sich auch nicht. „Da ist geglast worden", sagte Carberry aufgeregt. „Sehr weit weg kann es nicht gewesen sein. Die Luft trägt das Gebimmel ziemlich weit über das Wasser. Demnach stecken nur wir noch in einer Nebelbank." „Möglich", sagte Hasard. „Das Glasen war eindeutig. Daran gibt es keinen Zweifel. Land ist nicht in der Nähe, also stammt es auch von einem Schiff, nicht von einem Kirchturm." Ein zweiter Windstoß, diesmal etwas länger als zuvor, fuhr in die Segel. In der Takelage entstand ein leises Raunen. Ein dichter, kompakter Nebelfetzen trieb Hasard ins Gesicht. Er fühlte sich kalt und sehr feucht an. Dahinter wurde die Suppe etwas durchsichtiger und auch heller. Dichte Schwaden wurden in die Höhe getragen. Es war wie das letzte Aufwallen aus einem mächtigen kochenden Kessel. „Warum brüllen wir nicht aus vereinter Lungenkraft unseren alten Schlachtruf?" sagte der Profos. „Der ist meilenweit zu hören, und falls es Thorfin ist, wird er sofort wissen, wer da brüllt." Einen Augenblick war Hasard belustigt über diesen Vorschlag. Was mochten die anderen denken, wenn sie aus mehr als dreißig Kehlen ihr „Ar-we-nack" in den Nebel brüllten? Aber die Idee war nicht schlecht.
13 Wenn es Thorfin war, dann mußte er sie einwandfrei erkennen. Darin hatte der Profos ganz recht. „Na, dann brüllen wir mal", sagte Hasard. „Aber möglichst alle auf einmal und nicht durcheinander." Der Profos Edwin Carberry gab das Kommando, und nach ein paar Sekunden donnerte der Schlachtruf der Seewölfe über das Meer. Sie brüllten aus voller Kraft und hätten mit dem Kampfruf jeden Gegner verscheucht. „Ar-we-nack!" Dreimal hintereinander ertönte der Ruf, der so laut war, daß er fast den Nebel aufriß. Als er verklungen war, lauschten sie angespannt. Auf beiden Schiffen wurde es totenstill. Nichts verriet, daß jemand den Ruf gehört hatte. Es erfolgte kein Echo, keine Reaktion. Nach zwei Minuten gab es enttäuschte Gesichter. Die Arwenacks wirkten etwas ratlos, als sie sich ansahen. „Verdammt, das hat man bis nach Plymouth gehört", knurrte Carberry. „Dieser nordische Elchbulle hat anscheinend Wanzen in den Ohren, oder ihm ist der Helm über seinen Quadratschädel gerutscht." „Das verstehe ich auch nicht", sagte Hasard kopfschüttelnd. Er hielt den Kopf immer noch lauschend zur Seite geneigt. „Nichts mehr", brummte Carberry. Er war ebenfalls enttäuscht, als auch weiterhin alles still blieb. „Der behelmte Nordpolaffe ist vermutlich inzwischen taub geworden. Aber zumindest müssen es die anderen gehört haben - Barba oder der Stör mit seinen Luchsohren." In dem zähen Nebel entstand übergangslos eine schmale Gasse, die ei-
nen Blick auf das Wasser freigab. Überall tanzten kleine weiße Teufelchen ihren gespenstischen Reigen. Das Meer schimmerte dunkel und geheimnisvoll. Die Dünung war flacher geworden. Sie spähten durch die Schneise, in die ein kleiner Sonnenstrahl fiel. Allerdings gab es nichts zu sehen. Auch als der Nebel noch weiter aufriß, war nichts anderes zu erkennen als eine große Wasserfläche, auf der die Sonnenstrahlen glitzerten. Hin und wieder sahen sie andere Nebelbänke wie hingemalte Tupfer auf einer riesigen Fläche. Ganz unmerklich kam Wind auf. In der Takelage begann es zu ächzen. Beide Schiffe bewegten sich langsam über das Wasser. Dann glitten sie aus der Nebelbank heraus. Es war, als hätten sie eine andere Welt verlassen. Der Nebel saß an einer Stelle wie ein behäbiges Ungeheuer auf dem Meer, das immer mehr in die Breite ging und von Sonne und Wind langsam verschlungen wurde. Hier und da gab es noch dichte Stellen, aber auch die lösten sich langsam auf und trieben wie Fetzen durch die Luft. Hasard sah sich zunächst einmal gründlich nach allen Seiten um. Von einem Schiff war jedoch in weitem Umkreis nichts zu sehen. Das Meer war wie leergefegt. Etwas ratlos und verwundert blickte er Dan O'Flynn an, der langsam die Schultern hochzog und damit andeutete, daß er genauso ratlos sei. „Sehr weit kann er noch nicht sein", sagte Don Juan in die Stille hinein. „Es ist etwas mehr als eine halbe Stunde vergangen, seit wir das Glasen gehört haben. Vermutlich hängt
14 das Schiff jetzt selbst in einer der Nebelbänke." Die Nebelbänke, die wie hingestreut auf dem Wasser lagen, waren allerdings nicht mehr groß. Im Norden und Westen konnten sie jetzt bereits bis an die Kimm blicken, aber da zeigte sich keine Mastspitze. Hasard entschloß sich schnell. Er tippte Don Juan auf die Schulter. „Ich werde lossegeln und nach ihm suchen. Vermutlich steckt er tatsächlich in einer Nebelbank. Wenn nicht, kann er nur nach Süden oder Osten gesegelt sein. Dort ist es noch ziemlich diesig. Aber wir werden ihn ganz sicher finden, denn sein Vorsprung ist gering." Don Juan nickte. Er hatte einen langen Blick durch den Kieker geworfen, aber ebenfalls nichts entdeckt. Er schob nachdenklich das Spektiv zusammen und steckte es in den ledernen Köcher. „Dann könnten wir inzwischen weitersegeln", sagte er. „An der Suche müssen wir uns nicht beteiligen, dazu sind wir zu langsam." „Bleibe auf dem alten Kurs", empfahl der Seewolf. „In ein paar Stunden sind wir wieder zusammen." „In Ordnung." „Leinen los!" rief Ben Brighton. „Seht nach, ob alle Mann wieder an Bord sind!" Sie waren alle wieder auf der Schebecke. Smoky löste vorn die Leinen, achtern tat es Gary Andrews. Pete Ballie übernahm das Ruder. Der Schwede Stenmark und Luke Morgan bezogen Ausguck. Hasard ließ ihnen Spektive aushändigen, damit sie ein weiteres Blickfeld hatten. Die Schebecke löste sich von der schwerfälligen Galeone und nahm langsam Fahrt auf. Der Wind war nur
mäßig, aber er frischte seitlich auf. Gleichzeitig trieb er dabei auch die Nebelhaufen immer weiter auseinander. „Bin gespannt, ob wir ihn finden", sagte Carberry. „Wir finden ihn nicht", behauptete Old Donegal hartnäckig. Dabei schüttelte er gleichzeitig den Kopf. „Und warum nicht?" fragte Carberry herausfordernd. „Weil es ein Geisterschiff war und nichts anderes. Ich weiß", sagte der Alte abwinkend, „ihr hört das nicht gern, aber ich weiß es ganz genau. Es gibt solche Schiffe, auch wenn ihr das hundertmal nicht wahrhaben wollt." „Will ich auch nicht wahrhaben", knurrte der Profos. „Mehr als dreißig Leute haben die Stimme, das Knarren und das Glasen gehört. Das Schiff segelte ganz dicht an uns vorbei, also muß es auch in der Nähe sein." „Dann sucht nur", sagte Old Donegal hämisch grinsend. „Suchet, so werdet ihr finden." Carberry ließ ihn einfach stehen. Er preßte die Lippen zu dünnen Strichen zusammen und ging nach vorn, wo Luke und Stenmark standen und sich unterhielten. Unablässig suchten sie dabei die See ab. „Hier geht irgendwas mit dem Teufel zu", meinte Stenmark. „Der verdammte Torfkahn kann sich nicht einfach in Nichts aufgelöst haben. Das gibt es nicht." „Scheint aber so", widersprach Luke. „Im Süden reißt der Nebel immer mehr auf. Man kann fast die Kimm sehen, nur kein Schiff." „Bliebe noch der Osten", sagte der Profos bedächtig. Er sah interessiert zu, wie die Schebecke auf Hasards Anweisung Kurs in eine kleinere Nebelbank nahm. Sie
15 war gerade so groß, daß ein Schiff darin verschwinden konnte. Gleich darauf umgaben sie wabernde Fetzen. Spinnige Nebelfinger tasteten nach ihnen. Augenblicklich wurde es kühl. Sie waren schneller wieder draußen, als sie gedacht hatten. Der Nebel war auch nur noch sehr dünn. Er zerfaserte weiter, als Wind und Sonne ihre Macht demonstrierten. Nichts - keine Spur von einem Schiff. Zumindest hätte man jetzt die Umrisse eines Schiffes erkennen müssen. Carberry warf einen Blick über die Schulter nach achtern, wo Old O'Flynn wie unbeteiligt am Schanzkleid lehnte. Seine Lippen in dem Pergamentgesicht hatten sich zu einem dünnen Lächeln verzogen. Sein Blick traf sich mit dem Carberrys, was diesen leise seufzen ließ. „Alter Hexenmeister", murmelte er vor sich hin. „Was ist los?" fragte Stenmark. „Ach nichts, gar nichts. Ich habe nur laut gedacht." „Du sagtest etwas von Hexen, oder so." „Von einem Hexenmeister murmelte ich etwas." „Meinst du Old Donegal damit?" Der Profos zuckte nur mit den Schultern und schwieg. Aber sein Blick streifte erneut den Alten, der immer noch vor sich hingrinste. Die Arme hatte er jetzt über der Brust verschränkt, er stand so unbeweglich da wie eine Statue. Nach Süden hin war der Blick jetzt frei. Aber auch dort war bis zum Horizont kein Schiff zu sehen. Die Schebecke luvte an und ging hoch an den Wind. Etwas später lag sie auf Gegenkurs und segelte auf
Ostkurs weiter, um dem Phantom nachzujagen. Weit im Norden lief die „Fidelidad" unter schwach geblähten Segeln weiter. Auf dem Achterdeck herrschte eine gewisse Nervosität, weil sich niemand erklären konnte, wo das Schiff geblieben war. Thorfins „Eiliger Drache über den Wassern" war zwar ein rahgetakelter Viermaster, aber deshalb lief er keineswegs schneller als die ranke und schlanke Schebecke der Seewölfe, selbst dann nicht, wenn er nichts geladen hatte. Zumindest mußte er irgendwo an der Kimm zu sehen sein. Hasards Gesicht wurde immer kantiger, und es ärgerte ihn, daß Old Donegal mit einem geradezu höhnischem Grinsen über die See starrte. Der Nebel im Osten war merklich dünner und schwächer geworden, als die Schebecke noch weit davor war. An einigen Stellen war der Blick schon bis zum Horizont frei. „Eine winzige Möglichkeit besteht noch", sagte der Seewolf verbissen. „Und zwar jener Nebelstreifen im Osten, der noch ziemlich dicht ist. Wenn er darin auch nicht steckt, dann..." „Was dann, Sir?" fragte Dan O'Flynn. „Dann zweifele ich an meinem eigenen Verstand, oder ich pflichte deinem Alten widerwillig bei, daß es doch Geisterschiffe gibt." „Scheint mir auch fast so. Ich finde jedenfalls keine vernünftige Erklärung mehr." „Er muß in dieser Wolke drinstekken", sagte Ben, „er muß. Wir haben ja nicht mit offenen Augen geträumt." Je näher sie dem Nebel kamen, desto dünner und durchsichtiger
16 wurde er. Teilweise waren es nur noch wabernde Streifen. Sie erinnerten an zerfetztes Segeltuch, das in langen Bahnen durch das Wasser trieb. Wind und Sonne sogen die Reste immer gieriger auf. Da war nichts anderes als die leicht bewegte See, so sehr sie auch alles absuchten. Niemand hatte eine Erklärung dafür. Als einziges sichtbares Schiff weit und breit segelte nur die Silbergaleone behäbig und langsam ihren Kurs. Nach allen vier Himmelsrichtungen war der Blick frei. Da Hasard es immer noch nicht glauben wollte, nahm er das Spektiv und suchte gründlich alles ab. „Zwecklos", kommentierte Dan O'Flynn trocken. „Ich habe mir schon die Augen ausgestarrt und nichts gefunden. Wo nichts ist, da ist nichts." „Sehr treffend", spottete Hasard. „Bliebe noch die Möglichkeit, daß Thorfins Geisterkahn sang- und klanglos abgesoffen ist. Viel mehr fällt mir dazu leider nicht ein." Wenn Dan nichts sah, dann konnten die anderen suchen, bis sie schwarz wurden. Sie würden erst recht nichts entdecken. Dan hatte unwahrscheinlich scharfe Augen, denen meilenweit nichts entging. Old Donegal stand immer noch mit diesem impertinenten Grinsen an Deck. Spöttisch, fast herausfordernd, sah er den Seewolf an. Hasard gab den Blick mißmutig zurück. „Du kannst doch immer hinter die Kimm peilen, Donegal", sagte er. „Ist da nichts zu entdecken?" „Geisterschiffe sind überall und nirgends", erklärte der „Admiral" gelassen. „Ist das deine ganze Erklärung?" „Hast du eine bessere, Sir? Daß Thorfins Kahn untergegangen ist,
dürfte wohl eine weithergeholte Vermutung sein, oder nicht? Der ist aus besonderem Holz gebaut und säuft auch nicht ab, wenn ihn die Kugeln von allen Seiten durchbohren." „Klammern wir mal aus, daß es sich um ein Geisterschiff gehandelt hat. Welche Vermutung hast du noch?" Old O'Flynn sann den Worten nach und hob die Schultern. „Muß wohl so was wie eine Fata Morgana gewesen sein", murmelte er vage. „Genau weiß ich das auch nicht. Manchmal sieht man etwas, was es gar nicht gibt. Diesmal haben wir etwas gehört, was es auch nicht gab. Ich nehme an, daß dieser Nebel uns genarrt hat. Der hat den Schall vielleicht meilenweit herangetragen und uns getäuscht. Kann ja sein, daß da wirklich ein Schiff war, allerdings Meilen entfernt." Hasard war mit der Vermutung auch nicht zufrieden, denn normalerweise verschluckte und dämpfte der Nebel alle Geräusche. Er erstickte sie eher, als daß er sie weitertrug. Auch der Kutscher, der belesenste Mann an Bord, mußte achselzuckend aufgeben. „Ich will erst gar keine Vermutungen anstellen", sagte er, „weil sie ja doch bloße Theorien sind und zu nichts führen. Um es in aller Bescheidenheit zu sagen, Sir: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Es ist nur sehr merkwürdig." Der Profos näherte sich mißtrauisch. Immer wieder blickte er dabei verstohlen über das Wasser und ließ auch den Horizont nicht aus. „Keine Ahnung, was, wie?" grollte er. „Dabei hätte ich zumindest von dir erwartet, daß du etwas weißt. Du hast schließlich eine Menge schlauer
17 Bücher, in denen du jeden Tag schmökerst. Da sollte man wohl schon etwas genauer Bescheid wissen." Dem Profos war es sehr unbehaglich zumute. Er hatte das Gefühl, als müsse dieser „Geisterkahn" jeden Augenblick neben ihnen aus der See auftauchen. Im Geist sah er Knochenmänner lautlos über die Planken gehen, die ihn aus leeren Augenhöhlen furchterregend anstarrten. „In meinen Büchern steht darüber nichts", sagte der Kutscher etwas von oben herab. „Schon gar nichts über Thorfins Schwarzen Segler, der im Nebel auftaucht und wieder spurlos verschwindet. Ich glaube, du hast von Büchern nicht die richtige Vorstellung. Da steht nicht einmal drin, welche Augenfarbe deine Großmutter hatte." Es geht schon wieder los, dachte Hasard. Nur weil der Profos keine Erklärung hatte, mußte er den Kutscher anblaffen, und der ließ sich das natürlich nicht gefallen und zahlte überlegen zurück. „Schluß der Debatte", sagte Hasard sehr bestimmt. „Wir sind einer Halluzination zum Opfer gefallen, einer Einbildung offenbar. Wir gehen wieder auf den alten Kurs zurück und folgen der Galeone. Jede weitere Suche ist zwecklos, auch wenn das keiner wahrhaben will. Vermutlich klärt sich das niemals auf." Ein letzter Rundumblick. Der Nebel war verschwunden, nur noch lächerlich kleine Fetzen trieben in der Luft, aber darin konnte sich ein Schiff von der enormen Größe des Schwarzen Seglers nicht verbergen. Die Schebecke schloß auf und segelte der Silbergaleone nach, bis sie auf Rufweite heran war. Drüben war man ebenso erstaunt
und verwundert. Sie versuchten zwar, das Rätsel mit den unmöglichsten und haarsträubendsten Argumenten zu lösen, doch es gab keine Lösung. Schließlich akzeptierten sie sehr widerwillig Old Donegals Theorie, die da besagte, es müsse sich um ein „Geisterschiff" gehandelt haben. Bei mäßigem Wind wurde die Reise fortgesetzt. 3. Sie nannten ihn nur „den Bastard", und er wußte es. Er scherte sich allerdings den Teufel darum, auch, daß manche behaupteten, er sei ein bißchen wirr im Schädel und man müsse ihm aus dem Weg gehen. Gordon Brown war ein Bastard, genau wie sein Vater, den man Anno 1576 an Bord der „Marygold" gehängt hatte. Er war ein schmieriger, mittelgroßer Mann, mit schmierigen unordentlichen Haaren, einem schmierigen Grinsen in dem lauernden Gesicht und schmierigem Hemd und ebensolchen Hosen. Auch darin glich er seinem verblichenen Alten, der ein heimtückischer und hinterhältiger Kerl gewesen war. Gordon Brown war etliche Jahre zur See gefahren. Als man ihm einmal wegen einer angezettelten Meuterei den Hals langziehen wollte, war es ihm gelungen, zu entwischen. Seitdem mied er die Seefahrt wie die Pest und trieb sich nur noch an Land herum. Da war es ihm allerdings nicht viel besser ergangen. Er hatte wegen Schlägereien, Diebstahl und etlicher anderer Delikte ein paar Jahre im Gefängnis gesessen, und diese Zeit hatte
18 den Bastard ganz besonders geprägt. Er war ein von Haß auf sich selbst und die anderen zerfressener Kerl, der auch heute noch davon lebte, daß er andere betrog oder bestahl. Seit Jahr und Tag hockte er jeden Abend bei Nathaniel Plymson in der „Bloody Mary", einer übel beleumdeten Spelunke an der Ecke Millbay Road und St. Mary Street in Plymouth. Seine Mutter - eine englische Hafenhure aus Bristol, die ebenfalls längst das Zeitliche infolge einer Lungenentzündung gesegnet hatte hatte ihm von seinem Vater erzählt. Er hatte ihn selbst noch gekannt, und die Erinnerung an ihn war nicht verblaßt. Im Gegenteil: Gordon Brown sah seinen Alten als einen strahlenden Helden, den man heimtückisch und hinterhältig „ermordet" hatte. Seine Mutter hatte ihm auch erzählt, daß ein Mann namens Edwin Carberry, seinerzeit Profos auf der „Marygold" unter dem Kommando des legendären Sir Francis Drake, den Alten aufgehängt hätte. Daß der Alte die übelste Ratte an Bord gewesen war, hatte die Mutter schamhaft verschwiegen, auch daß er sie einfach hatte sitzenlassen. Seit jenem Tag hatte Gordon Brown beschlossen, den Tod seines Alten zu rächen und den Profos Edwin Carberry umzubringen. So wartete er Jahr um Jahr in der Schenke des dicken Plymson, nahm die anderen Schnapphähne aus und betrog ehrliche Leute. Ein paarmal hatte ihn Nathaniel Plymson wegen Randalierens und provozierter Schlägereien schon hinausgeworfen, aber Gordon Brown kehrte immer wieder mit entschlossener Hartnäckigkeit zurück, bis der dicke Plymson es
schließlich aufgab. Immerhin gab es noch mehr üble Kerle in seiner Kneipe, und die ließen alle ihr Geld bei ihm. Den Profos kannte Gordon Brown auch. Er hatte ihn und die anderen Kerle, die man Seewölfe nannte, schon oft gesehen, aber das lag einige Jahre zurück. Seitdem waren die Kerle in Plymouth nicht mehr aufgetaucht und galten als verschollen. Der Bastard wartete trotzdem geduldig, denn der dicke Plymson, der davon nichts wußte, erklärte immer wieder, daß das alles nur Gerüchte seien und die Arwenacks eines Tages wieder wie aus dem Nichts in Plymouth erscheinen würden. Das sei schon immer so gewesen, und so würde es auch bleiben. Amen. Je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde sein Haß. Er konnte kaum noch den Tag erwarten, an dem dieser Carberry wieder auftauchte. Mehr als tausendmal hatte er sich vorgestellt, was er alles mit ihm anstellen würde, bevor er ihn endgültig umbrachte. Das mußte allerdings unauffällig geschehen und nicht vorsätzlich wirken, denn wenn sie ihm einen Mord anhängten, dann war auch sein Hals in Gefahr, in die Länge gezogen zu werden. Er hockte wieder in der „Bloody Mary", soff und würfelte und nahm zwei englische Seeleute aus, die naiv darüber staunten, was für ein Glück der Kerl beim Würfeln hatte. Fast jeder Wurf gelang ihm. Von den präparierten Würfeln ahnten sie nichts. Als sie die Kneipe angeduselt verließen, waren sie ihr ganzes Geld los. Gordon Brown grinste schmierig hinter ihnen her und freute sich über seine Einnahmen. Damit konnte er
19 eine ganze Woche lang leben und brauchte nicht einmal zu knausern. Der dicke Plymson blickte flüchtig zu ihm herüber. Gordon Brown hatte wieder ein hübsches Sümmchen eingestrichen, und die Seeleute nach Strich und Faden betrogen. Aber das war ihm egal. Den größten Teil seiner unredlichen Einnahmen ließ der Kerl ohnehin bei ihm, und dagegen war aus seiner Sicht absolut nichts einzuwenden. Der Bastard schwankte bereits und war stark angetrunken. Das war meist der Zeitpunkt, daß er mit den Gästen Streit anfing oder sie zumindest anstänkerte. Jetzt ließ er sich gerade unaufgefordert an einem Tisch nieder, wo ein paar Kerle würfelten. Zwei aufgedonnerte Frauenzimmer waren auch dabei. Sie lachten jedesmal grell, wenn ein paar zotige Witze erzählt wurden. „Behalte den Bastard mal ein bißchen im Auge", sagte Plymson zu seinem vierschrötigen Schankknecht, den sie in Plymouth nur den Groben Johann nannten. „Ich will nicht, daß der Kerl wieder Stunk anfängt. Schmeiß ihn raus, wenn es losgeht." „Is' gut", sagte der Grobe Johann mit dem Holzhackergesicht. Er sprach nur selten ein paar Worte, weil ihm das Denken schwerfiel. Mit den Fäusten konnte er dagegen besser umgehen. Da brauchte man nicht solange zu überlegen. Die Gelegenheit ergab sich schon ein wenig später, als Gordon Brown es wieder mal besser wußte als die anderen und einem Kerl den Würfelbecher entriß. „Du verstehst doch gar nichts davon", sagte er lallend. „Du bist viel zu dämlich zum Würfeln." Der Fuhrknecht wollte das nicht
auf sich sitzen lassen. Er stand auf und hielt Brown die Faust unter die Nase. Gordon Brown griff nach seinem Messer und stand ebenfalls auf. Da stand der Grobe Johann plötzlich hinter ihm und umklammerte seinen rechten Arm. Er bog ihn ein bißchen zurück, bis Gordon Brown schmerzhaft das Gesicht verzog. „Hau jetzt ab", knurrte er tief aus der Kehle. „Wenn du nicht abhaust, schlag ich deinen Schädel platt." Gordon Brown wankte haßerfüllt hinaus. An der schweren Eichentür blieb er noch einmal stehen und schüttelte die Faust. „Dich blöden Hund stech ich eines Tages noch mal ab!" zischte er. „Darauf kannst du dich sogar verlassen, du miese Ratte." Der Schankknecht zuckte nur mit den Schultern. Gordon Brown hatte schon viel versprochen. Er würde sich an ihn nicht heranwagen. Hinter dem Bastard donnerte die Tür zu. Betrunken wankte er in die Nacht hinaus.
Die Märzsonne schickte gerade ihre ersten zaghaften Strahlen über die östliche Kimm, als die englische Küste auftauchte. Keiner der Arwenacks verschlief diesen Zeitpunkt. Es war noch sehr frisch an diesem Morgen, und ein fast unangenehm kalter Wind wehte über das Meer. Doch das störte keinen. Dem Profos wurde beim Anblick der englischen Küste sogar ganz warm ums Herz, wie er versicherte. „Endlich sind wir wieder mal da", sagte er. „Darauf habe ich direkt sehnsüchtig gewartet."
20 „Auf Plymmies Kneipe?" fragte Stenmark anzüglich. „Darauf natürlich ganz besonders", gab Carberry grinsend zu. „Heute abend werden wir mal wieder so richtig an Land törnen und die Sau rauslassen." „Was verstehst du darunter genau?" erkundigte sich der Seewolf. „Hast du vor, die Kneipe zu demolieren? Wenn du mit der Absicht zu Plymmie törnst, dann teile ich dich für die Deckswache ein, und zwar von acht bis Mitternacht." „Ich doch nicht, Sir, als friedliebender Mensch." „Ach ja, richtig. Du wolltest dich gemütlich in anheimelnder Atmosphäre entspannen und Erinnerungen austauschen. Aber läßt man denn die Sau raus, in friedvoller und anheimelnder Atmosphäre?" „Nur so ein Ausdruck von mir, wenn man sich ganz besonders wohlfühlt", versicherte der Profos treuherzig. „Sozusagen sauwohl." Carberry nickte grinsend. „Genau Sir." Hasard warf dem Profos noch einen nachdenklichen Blick zu. Aber Carberry gab sich ganz bescheiden, bieder und brav, als könne er kein Wässerchen trüben. Aber er sah die Ungeduld in seinen Augen. Der Profos konnte es kaum noch erwarten, an Land zu törnen. Sie näherten sich jetzt immer rascher dem Hafen von Plymouth, wo wenig Verkehr herrschte. Die Stadt wirkte noch unausgeschlafen. Hasard segelte mit der Schebecke voraus. Die Silbergaleone folgte in einem Abstand von etwa einer halben Meile. Hasard hatte das Gefühl, als
laufe sie unter vollem Preß immer langsamer. Als sie auf eine Pier zusteuerten und die Segel wegnahmen, erwachte Plymouth ziemlich schnell zum Leben, als habe der Ort nur auf ein Ereignis dieser Art gewartet. Vom Markt her liefen Männlein und Weiblein zusammen, um das recht ungewöhnliche Schiff zu begaffen. Die meisten wußten nicht, daß es sich um ein Barbareskenschiff handelte. Sie hatten noch nie eine Schebecke gesehen. Als sie an der Pier vertäut hatten, stand die Menge glotzend herum. Kaum einer rührte sich. Sie starrten nur das Schiff an und die Männer, die sich darauf befanden. Ein kleiner schmutziger Köter kläffte das Schiff wütend an, doch als die Bordhündin einmal kurz bellte und dabei über das Deck fegte, zog der Pinscher eingeschüchtert den Schwanz zwischen die Beine und verdrückte sich in der Menge. Hasards Söhne grinsten sich eins. Plymmie, nach dem alten Schlitzohr Nathaniel Plymson benannt, war schon ein beeindruckender Hund. Bei dem Anblick verzichteten die meisten Köter darauf, sich mit ihr anzulegen. „Helft Juan beim Leinen wahrnehmen", sagte Hasard. „Die Galeone läßt sich im Hafen nur schwer manövrieren." Ferris Tucker, Carberry, Matt Davies und Luke Morgan sprangen an Land und gingen zu der anderen Pier hinüber, wo Juan anlegen würde. Das Silberschiff schob sich gerade in den Hafen. Die Aufmerksamkeit der Gaffer wandte sich jetzt der schwerbeladenen Galeone zu, wo man gerade die ersten Segel wegnahm.
21 Die Leinen wurden wahrgenommen und an den hölzernen Pollern belegt. Die Segel wurden aufgepackt. Kurz darauf erschien auch der Hafenmeister. Hasard kannte ihn nicht. Es war ein anderer als damals. Argwöhnisch betrachtete er die Schebecke. Dann faltete er die Hände über dem Bauch, sah zu den Masten und ging auf der Pier auf und ab. Das Schiff musterte er dabei, als sei es gerade vom Mond gefallen. Hasard sah dem merkwürdigen Treiben eine Weile zu. „Wenn Ihnen das Schiff nicht gefällt, brauchen Sie es auch nicht zu kaufen", sagte er spöttisch. Der Hafenmensch blickte hoch und sah in zwei eisblaue Augen, die belustigt funkelten. Der schwarzhaarige Riese an Deck schien sich über ihn zu amüsieren. „Was ist das für ein Schiff?" fragte er unfreundlich. „So was gibt's hier nicht. Seid ihr etwa Spanier und habt die Frechheit..." „Das ist eine Schebecke", erklärte Hasard freundlich. „Und Spanier sind wir auch nicht. Mein Name ist Killigrew, ich bin der Kapitän dieses Schiffes. Ich nehme an, Sie sind der Hafenmeister und haben vermutlich auch einen Namen." „Tamper", knurrte der schmächtige Mann mit dem flachen Gesicht und den mißtrauischen Blicken. „Das - das ist recht ungewöhnlich, daß eine Peschecke hier einläuft." „Schebecke", verbesserte Hasard. „Natürlich ist das ungewöhnlich, aber wir sind Engländer, und jene Galeone gehört auch zu uns. Wir legen hier nur eine kleine Zwischenstation ein und segeln dann weiter nach London, wenn Sie gestatten."
„Wie, sagten Sie, war Ihr Name?" fragte der Hafenmensch. „Philip Hasard Killigrew." „Ah, ich verstehe. Also - sagten Sie wirklich Killigrew?" „Tut mir leid, aber ich kann mit keinem anderen Namen aufwarten." Dem Hafenmeister fielen offenbar die Holzschindeln jetzt reihenweise vom Dach. Er steckte den rechten Zeigefinger ins Ohr und starrte die Arwenacks total entgeistert an. „Der Seewolf", sagte er andächtig. „Mann, Sir, daß ich Sie nicht gleich erkannt habe. Das ist mir direkt peinlich." „Endlich hat's bei ihm geglast", murmelte der Profos. „Deshalb stierte er auch dauernd so." „Halb so wild", sagte Hasard, „ich habe Sie ja auch nicht erkannt." „Ich bin nur vertretungsweise hier für ein paar Tage. Mit was kann ich Ihnen dienen, Sir?" Hasard lud ihn an Bord ein. Mister Tamper, wie er sich nannte, versank vor lauter Ehrfurcht und Respekt fast in den Planken. Einen nach dem anderen musterte er immer wieder verstohlen, wie er glaubte. „Wir haben keine besonderen Wünsche", sagte Hasard. „Wir wollen hier nur zwei oder drei Tage bleiben, ein wenig ausruhen, bummeln und einkaufen. Danach segeln wir weiter nach London." „Außerdem werden wir unsere beiden Köche etwas entlassen", sagte Ben Brighton, „indem wir heute und morgen an Land essen, damit sich die armen Kerle auch mal erholen können." Der Hafenmeister kriegte einen eingeschenkt, noch einen und noch einen. Er revanchierte sich anschließend mit einer Flasche „Echt Schotti-
22 sehen", der den Arwenacks wie Öl runterging. Dann wünschte er ihnen einen guten Aufenthalt und verschwand wieder. Kurze Zeit später hatte es sich in Plymouth wie ein Lauffeuer herumgesprochen: Der Seewolf ist wieder da! Die Nachricht drang natürlich auch sofort bis zur „Bloody Mary" durch, wo der feiste Nathaniel Plymson einen Schreck kriegte, als die Tür aufgerissen wurde und ein dürrer Kerl hereinstolperte. „Der Seewolf ist da!" brüllte er so laut, als sei ein Feuer ausgebrochen. Die Nachricht haute den dicken Plymson fast um. Er kratzte an seiner schwarzen, etwas schmierigen Perücke und verschob sie dabei bis seine Glatze erschien. Dann blickte er gottergeben zur Decke und schob dem Dürren ein Bier hinüber. „Er ist mit einer Galeone und einer Schrecke nach Plymouth gesegelt", wußte der Dürre aufgeregt zu berichten. „So ein Schiff hast du noch nie gesehen, Nat." „Was für 'n Ding?" fragte Plymson entgeistert. „Ne Schrecke oder so." „Dem Satansbraten traue ich alles zu", sagte Plymson, „aber von 'ner Schrecke habe ich noch nie was gehört." „Vielleicht meint der 'ne Schnecke", sagte ein anderer, der schon etwas glasige Augen hatte. „Hast du schon mal 'ne Schnecke zur See fahren sehen, du Blödmann?" fuhr Plymson ihn an. „Du meinst vielleicht eine Schnigge", sagte er dann zu dem Dürren. „Das ist so ein RuderSegelboot, ein kleines Ding, das sich ziemlich schnell bewegt."
Der Dürre überlegte angestrengt und schüttelte den Kopf. „Nee", sagte er entschieden, ,,'ne Schnigge ganz bestimmt nicht. Dann doch eher 'ne Schrecke, weil sie wirklich schrecklich aussieht..Sie hat drei Masten mit Lateinersegeln und auf jeder Seite mindestens sechs oder sieben Kanonen. Ganz schlank, ziemlich groß, wie 'ne Schrecke eben aussieht." Kein Mensch in der Spelunke wußte, wie 'ne „Schrecke" eben aussah, und so zerbrach sich der dicke Plymson den Kopf über das merkwürdige Schiff. „Hast du die Kerle an Deck gesehen?" fragte er den Dürren. „Hab ich, hab ich", versicherte der eifrig. „Riesige Burschen mit Kreuzen so breit wie eine Rah und wilden, rollenden Augen. Einer war so ein schwarzhaariger Teufel mit Eisaugen, und ein anderer hatte wüste Narben im Gesicht, und ein Kinn hatte der, wie . . . " „Wie 'n Amboß?" fragte Plymson. „Dann war's der Profos. Und der schwarzhaarige Teufel, das war der Seewolf persönlich. Den Namen hat er von mir, damals, vor langer Zeit", fügte er stolz hinzu. „Da hat er die Kerle, die ihn schnappen wollten, nur so zusammengeprügelt und dabei noch gelacht, mit weißen blitzenden Zähnen. Er hat sie verdroschen, daß sie nicht mehr laufen konnten. Jaja", schwärmte Plymson mit einem verklärten Blick zur dunklen Decke. „Das waren noch Zeiten, da war noch was los." Im Hintergrund erhob sich ein schmieriger Mann mit unstet wirkenden Augen. Gordon Brown hörte sein Herz überlaut unter seinem dreckigen Hemd klopfen. Wie ein Hammer
23 schlug es, immer schneller und so laut, daß er glaubte, die anderen würden es hören. Plymson beachtete ihn nicht. Er erging sich in Schwärmereien über die alten Zeiten, wo alles schöner, besser und goldener gewesen war. Seine Schweinsäuglein schlossen sich vor Wonne, während er erzählte. Der Dürre, der auf den Namen Hank hörte, nahm die Gelegenheit wahr und bediente sich immer dann aus dem Krug auf der Theke, wenn der Dicke die Augen geschlossen hatte, um die alten Zeiten im Geist besser vor sich zu sehen. „Erzähl nur weiter, Nat, das interessiert mich gewaltig", animierte er den Wirt. Und Plymson berichtete weiter. Der Dürre hustete, sah Plymson an und füllte sein Glas aus dem Krug wieder auf. Er hustete etliche Male, um das leise Plätschern zu übertönen. Gordon Brown aber ging still und unauffällig hinaus. 4. Er überquerte die St. Mary Street, wandte sich den Great Western Docks zu und marschierte zum Hafen, wo immer noch etliche Leute herumstanden und die beiden eingelaufenen Schiffe betrachteten. Gordon Brown blieb stehen und mischte sich unters Volk, um alles beobachten zu können. Das tat er dann auch sehr ausgiebig. Zuerst sah er sich die spanische Galeone an und stellte fest, daß sie sehr tief geladen war. Offenbar war das eine Prise die der Seewolf da geschnappt hatte, und sie schien sehr wertvoll zu sein, denn ein paar Kerle
achteten streng darauf, daß ihr niemand zu nahe geriet. Er musterte die Männer sehr sorgfältig, die sich an Bord der Galeone befanden. Ein paar von ihnen hatte er bereits gesehen, einige andere kannte er nicht. Aber den ehemaligen Schmied von Arwenack, einen mächtigen Mann mit silbergrauem Bart, den hatte er schon oft gesehen. Da war Gordon Brown etwa dreizehn Jahre alt gewesen. Nach einer Weile wechselte er seinen Standort, um die Schebecke besser betrachten zu können. Er hatte so ein Schiff ebenfalls noch nie gesehen, aber es sah rank und schlank aus, hatte etliche Kanonen an Deck und schien ein sehr schneller und wendiger Segler zu sein. Dann sah er den Seewolf und hielt für ein paar Augenblicke die Luft an. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, damit er besser gegen die Sonne sehen konnte. Der Kerl hatte sich fast gar nicht verändert, fand er. Er war immer noch von riesenhafter Statur, katzenhafter Geschmeidigkeit und hatte weiße Zähne - eben ein Raubtiergebiß. Die eisblauen Augen standen in einem eigenartigen Kontrast zu den schwarzen Haaren. An den Schläfen waren die Haare silbergrau. Die Erscheinung dieses Mannes war noch imposanter und eindrucksvoller, als er sie in Erinnerung hatte. Der Kerl strotzte nur so von Kraft und hatte von seiner Überlegenheit absolut nichts eingebüßt. Im Gegenteil - er sah fast noch gefährlicher aus als früher. Die beiden Hakenmänner kannte er auch. Einer befand sich an Bord der Galeone, der andere stand dicht neben dem Seewolf. Er hatte die beiden
24 mal bei einer Schlägerei gesehen und an ihm. Diesen Augenblick hatte er sich immer als den Höhepunkt seines sich damals sehr gefürchtet. Dann tauchte der Alte mit dem Lebens vorgestellt, und jetzt sollte alHolzbein auf, ein Rauhbein, dessen les umsonst gewesen sein? Gesicht noch zerfurchter geworden „Er muß an Bord sein", murmelte war, ein unerschrockener Kämpfer, er. „Wahrscheinlich hält er sich nur der es spielend mit jedem Jüngeren unter Deck auf." aufnahm, ohne sich dabei sonderlich „Der große Rothaarige ist auch anzustrengen. nicht zu sehen", meinte Cooper. „DaEr schluckte trocken. Seine Blicke bei waren die beiden doch immer ein brannten sich an den Männern fest, Herz und eine Seele." die an Deck standen und sich unter„Wenn er nicht da ist", sagte Brown hielten. keuchend, „dann knöpfe ich mir eiWo, zum Teufel, aber war dieser nen der anderen vor, die damals bei Drake mit dabei waren. Die sind alleProfos Edwin Carberry? Er konnte ihn nirgendwo entdek- samt schuldig." ken. Möglicherweise befand er sich „Wird schwierig werden", sagte unter Deck. Cooper. „Sich mit den Kerlen anzuleEin hämisch grinsender Kerl schob gen, bringt nicht viel ein." sich neben ihn, der ihn leicht in die „Hast du etwa Schiß?" Rippen knuffte und beim Grinsen „Das nicht gerade", sagte Cooper schadhafte Zähne entblößte. Es war zögernd. „Aber das ist schließlich Frank Cooper, ein übler Herumtrei- deine Sache. Meinen Alten hat ja keiber und Schlagetot, der einst mit Gor- ner aufgehängt, der ist an der don Brown zur See gefahren war. Die Schwindsucht abgenippelt." beiden kannten sich seit Jahren. Coo„Du hast versprochen, mir zu helper wußte Bescheid, was Gordon fen." Brown vorhatte. Auch er kannte die „Ja, gegen einen, aber nicht gegen meisten der Seewölfe. alle. Das sind Kerle aus Eisen, und „Dein Freund scheint nicht mehr da von denen ist jeder so gut wie zwanzu sein", sagte er. „Vielleicht hat dir zig andere." ein anderer schon die Arbeit abge„Die haben eine Prise", sagte nommen." Brown nach einer Weile. „Die GaGordon Brown hatte diese Möglich- leone hat ganz sicher Gold und Silber keit noch gar nicht in Betracht gezo- an Bord. Da könnte eine Menge für gen. Er schluckte hart. uns herausspringen. Ich kenne die „Das würde ich bedauern, sehr so- Kerle doch, die geben sich nicht mit gar. Immerhin habe ich jahrelang auf ein paar lumpigen Sachen zufrieden." diesen Tag gewartet." „Viele warten auf einen bestimmFrank Cooper tippte sich an die ten Tag, und dann kommt er nicht. Stirn. Ich sehe fast alle Kerle von damals, „Also hör mal", sagte er fast entrüaber dein Freund ist nicht dabei." stet. „Daß du dich mit dem einen der Gordon Brown wurde blaß. Die Kerle anlegen willst, verstehe ich ja Enttäuschung, daß dieser „Mörder" noch, aber gegen alle diese Eisenfresnicht mehr dabei war, nagte und fraß ser zusammen — nicht mit mir, mein
25 Lieber. Das ist und bleibt ein Wunschtraum. An das Zeug kommst du nie im Leben heran. Du kannst doch nicht mitten in ein Rudel wilder Seewölfe stoßen, um Beute zu reißen. Bleib mal auf dem Teppich, Mister." „Wir werden ja sehen. Vielleicht habe ich eine Idee. Aber wenn ich das allein durchziehe, gehst du natürlich leer aus." „Was für 'ne Idee denn?" Er sah Gordon Brown von der Seite her an, doch er erhielt keine Antwort, denn Browns Gesicht veränderte sich schlagartig. Sein Mund öffnete sich, seine Augen wurden ganz schmal, und ein leichtes Zittern durchlief seinen Körper. Den Grund dafür erkannte Cooper Augenblicke später. Aus einem achteren Schott trat ein Mann an Deck, der seinen mächtigen Brustkasten reckte. Es war ein gewaltiger Kerl mit einem riesigen Kinn, harten Augen und wüsten Narben in einem wüsten Gesicht. Das Leinenhemd spannte sich über seinen gewaltigen Schultern wie ein Großsegel, das jeden Augenblick mit berstendem Knall auseinanderfliegen konnte. Der Kerl stemmte die Arme in die Seiten und blickte zum Land hin. Dann sagte er etwas zu dem Rothaarigen. „Das ist das Schwein", keuchte Gordon Brown. Seine Stimme klang heiser vor Erregung. „Das ist er, der meinen Alten umgebracht hat. Ich habe gleich gewußt, daß er noch lebt." Jäher Zorn flammte in seiner schmierigen Visage auf. Mit fahrigen Fingern griff er nach der Pistole im Hosenbund. Carberry stand so günstig, daß er ihn vielleicht erwischen konnte.
Frank Cooper schlug seinem Kumpan auf die Finger. „Bist du verrückt, du Idiot?" zischte er. „Wenn du ihn jetzt triffst, überlebst du das keine Minute. Die Kerle reißen dich in tausend Fetzen. Die verarbeiten dich zu Hackfleisch. Du mußt das ruhiger und überlegter tun, nicht vor den Augen aller Leute." Gordon Brown sah das schließlich ein. Es fiel ihm schwer, beherrscht zu bleiben. Er sah nur immer wieder diesen gewaltigen Kerl vor sich und stellte sich vor, wie er seinem Vater die Schlinge um den Hals gelegt und zugezogen hatte. Dann hatte der Alte noch ein bißchen qualvoll gezappelt und war gestorben. Die Kerle hatten ihn daraufhin über Bord geworfen. Aus diesem Blickfeld sah Gordon Brown die Szene. Wie es wirklich einmal gewesen war, konnte oder wollte er sich nicht vorstellen, auch nicht, daß sein Alter den Tod hundertmal verdient hatte. Zudem hatte Francis Drake das Urteil gesprochen und verhängt. Der Profos in seiner Eigenschaft als Zuchtmeister, war nur die Exekutive. Aber das ging in Browns Schädel nicht hinein, und es interessierte ihn auch nicht im mindesten. Er wollte nur noch seine Rache. „Laß dir Zeit", riet Cooper. „Rache muß man kalt genießen. Der Kerl wird dir nicht mehr entgehen. Früher hast du immer gesagt, du wolltest ihn nicht sofort umlegen, sonst wüßte er nicht einmal, bei wem er sich zu bedanken hätte." „Du hast recht, Frank. Ja, ich will ihm erst noch die Hölle auf Erden bereiten, damit er weiß, was Angst ist. Ganz sicher läßt er sich in der ,Bloody Mary' blicken, und da werde ich schon eine Gelegenheit finden, ihm
26 ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen. Los, wir gehen jetzt, ich kann seinen Anblick nicht mehr ertragen, ich werde noch verrückt." „Vielleicht bist du schon verrückt und weißt es nur noch nicht", sagte Cooper grinsend. „Es bleibt also bei den drei Pfund, die du mir versprochen hast, wenn ich dir helfe?" „Das ist abgemacht, und dabei bleibt es. Aber erst will ich diese Ratte tot vor mir liegen sehen." „Wird gar nicht mehr so lange dauern", versprach Cooper. „Einen Mann allein kann man sich immer schnappen, aber bei einer ganzen Mannschaft von wahren Teufeln haut das nicht hin. Gibst du jetzt einen aus?" Gordon Brown nickte. Er hatte eine trockene Kehle und brauchte ebenfalls etwas zu trinken. Nachdem er den Profos noch eine längere Zeit stumm und haßerfüllt gemustert hatte, zogen die beiden ab zu Plymson.
Edwin Carberry hatte nicht die geringste Ahnung, daß es in Plymouth einen Kerl gab, der ihn umbringen wollte, und wenn er selbst dabei draufging. Die Sache mit Gordon Brown war zweiundzwanzig Jahre her, und er hatte sie längst vergessen. Er wußte auch nicht, daß Gordon Brown einen Sohn gehabt hatte. Er verschwendete überhaupt keinen Gedanken daran, und so bemerkte er ihn natürlich auch nicht, als er in der Menge stand und ihn fixierte. Er blickte zum Kutscher, der ausnahmsweise heute mal grämlich in die Gegend blickte, wie es sonst meist nur Mac Pellew tat. ,,Was ist?" fragte Carberry. „Hast
du Zitronen gelutscht? Du siehst ja noch saurer aus als Mac, wenn der seinen schlechten Tag hat." Der Kutscher war gerade an Land gewesen und befand sich seit ein paar Minuten wieder an Bord. Etwas betrübt schüttelte er den Kopf. Dabei blickte er auf die Planken. „Ich wollte Doc Freemont einen Besuch abstatten. Du weißt doch, Sir Anthony Abraham Freemont, bei dem ich früher Kutscher war, den ich immer zu den Kranken fuhr. Ich hatte mich schon auf das Wiedersehen gefreut." „Ist er etwa gestorben?" fragte Carberry entsetzt. „Natürlich erinnere ich mich an ihn. Wir haben ihm viel zu verdanken." „Nein, er lebt noch, Gott sei Dank. Aber er ist nicht da. Ist gestern abgereist, ausgerechnet einen Tag, bevor wir hier eintreffen. Seine neue Haushälterin sagte mir, er habe sich nach London begeben, wo er sich zwei oder drei Wochen aufhalten würde." „Nach London segeln wir doch auch", sagte Carberry tröstend. Er legte dem betrübten Kutscher die Hand auf die Schulter. „In ein paar Tagen sind wir da, und dann kannst du ihn immer noch treffen. Wir werden uns alle ein bißchen nach ihm umhören, und ich halte jede Wette, daß wir ihn auch finden." „London ist verdammt groß", murmelte der Kutscher. „Die Welt ist groß", widersprach Carberry, „London ist nur ein größeres Kaff, mehr nicht. Und da Doc Freemont eine Berühmtheit ist, wird es nicht schwerfallen, ihn zu finden." Da war der Kutscher einigermaßen beruhigt, denn er hätte zu gern mit
27 seinem früheren Arbeitgeber ein paar Worte gewechselt. „Ja, ich glaube auch, daß wir ihn finden." Der Kutscher ging etwas gebeugt, wie es schien, in die Kombüse und begann da zu werken. Carberry blickte noch einmal zu den Gaffern hinüber, aber da gab es nichts zu sehen, und die beiden Männer, die langsam davon gingen, bemerkte er auch nicht. Dafür spitzte er die Ohren, als sich Hasard mit Ben und Dan O'Flynn unterhielt. „... mal rübergehen zum alten Schlitzohr und hören, was es so an Neuigkeiten in Plymouth gibt", sagte der Seewolf gerade. Carberry schob sich schnell näher heran. Das war Musik für seine Ohren. „Darauf bin ich auch gespannt", sagte er eifrig. „In der Zwischenzeit muß sich hier ja eine ganze Menge getan haben. Und das erfährt man natürlich am besten beim alten Plymmie." „Ganz recht." Hasard nickte zustimmend. „Fehlt dir etwas?" fragte er dann. „Ich - ich wollte gern mit, Sir. Nur wegen der Tradition dachte ich, und damit es keinen Ärger gibt." „Wieso soll es denn Ärger geben?" „Weiß nicht, Sir, aber da hocken immer so viele Schnapphähne und Gauner herum. Ich könnte auf euch aufpassen." „Glaubst du, das können wir nicht selbst?" fragte Dan anzüglich. „Dazu sind wir ja schließlich alt genug, außerdem wissen wir uns unserer Haut zu wehren." Der Profos wand sich, aber er hatte keine weiteren Argumente. „Na gut", sagte Hasard schnell. „Nicht, daß dir noch die Tränen aus
den Augen laufen. Ich gehe mit Dan hinüber, du kannst mit. Aber es gibt keinen Stunk, verstanden?" Carberrys Narbengesicht strahlte vor Verzückung. „Ich bin friedfertig wie ein Osterlamm", tönte er. „Eher beiße ich mir was ab, als daß ich Streit anfange. Und beim lieben Plymmie schon gar nicht." Hasard war ganz sicher, daß es keinen Streit gab, solange er den Profos im Blickfeld hatte. Schließlich wollte der heute abend ja auch noch an Land und würde sich vorsehen, damit ihm der heiß ersehnte Landgang nicht gestrichen wurde. „Na, dann ist ja alles gut. Gehen wir." Der Profos war selig, als sie loszogen. 5. In der „Bloody Mary" schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Alles war so vertraut wie immer. Das galt auch für die Millbay Road und die St. Mary Street. Dieselben hingeduckten Häuser mit denselben klapprigen Fensterläden - und dieselben scheinheiligen Bürger, die verstohlen aus den Fenstern blickten, als die drei Männer auf die Spelunke des alten Plymson zuhielten. Hier hatte für Hasard und Dan O'Flynn alles einmal begonnen. Aber das war schon lange her. Und doch fühlten sich Hasard und Dan schlagartig wieder in die alte Zeit zurückversetzt, denn hier hatte Nathaniel Plymson einst versucht, sie auf ein Schiff zu pressen und wie menschliche Ware zu verhökern. Hier hatte es auch die wüste Keilerei gegeben, die
28 längst in die Geschichte von Plymouth eingegangen war. Hasard seufzte leise, als er die dicke Bohlentür aufstieß. Die Erinnerung überfiel ihn wie eine Horde wilder Reiter. Nein, auch in der Kneipe hat sich nichts verändert, dachte er. Sogar der mumifizierte Stör hing noch immer über dem Tresen und schaukelte bei jedem Luftzug hin und her. Es schien noch derselbe Stör von damals zu sein. Plymson hatte ihn zwar mal gegen einen getrockneten jungen Hai ausgewechselt, aber jetzt hing wieder der Stör da. Die Tür schlug wieder zu. Plymson war so gut wie unsichtbar. Hinter dem Tresen war nur seine schmierige schwarze Perücke zu sehen. Er hatte sich gebückt und wischte etwas auf dem Boden auf. Als er mit rotem Schädel auftauchte, blickte er genau in die Gesichter von Carberry, Dan O'Flynn und Hasard. Plymmie kriegte prompt die Maulsperre. Seine Schweinsäuglein wurden kugelrund, während er von einem zum anderen starrte. Er wußte längst, daß die Seewölfe in Plymouth waren, trotzdem war die Überraschung perfekt. Anschließend schnappte er hörbar nach Luft und schluckte. „Ah, Sir!" rief er dann erfreut, griff nach Hasards rechter Hand und bewegte sie wie einen Pumpenschwengel. Dann war Dan an der Reihe und schließlich der Profos, aber dem gab er die Hand nur zögernd, weil er Angst hatte, sie würde nach dem Händedruck total verformt sein. „Welche Freude!" sagte er. „Ich habe schon gehört, daß ihr wieder im Lande seid, und da gehört es ja schon
zur Tradition, daß ihr euch bei mir mal sehen laßt." „Zur Tradition gehört noch mehr", sagte der Profos grinsend. „Ich weiß, ich weiß", beeilte sich Plymson zu versichern. „Die erste Runde geht selbstverständlich auf mich." Carberry hatte wegen der „Tradition" zwar etwas anderes gemeint, aber das verschwieg er lieber. Er sah schon an Plymmies Nasenspitze, daß der wieder mal erbärmliche Angst um seine Kneipe hatte, die in schöner Regelmäßigkeit in Trümmer gelegt wurde. Er gab Rotwein aus - vom Besten selbstverständlich, wie ihn nur sehr wenige Gäste zu sehen kriegten. Dann prosteten sie sich zu, und es wurde erzählt. Carberry hatte nach einer Weile das Gefühl, als werde sein Genick von einer glühenden Nadel durchbohrt. Er fühlte, daß ein Blick auf ihn gerichtet war. Er spürte das fast körperlich. Ganz langsam drehte er sich um. Ziemlich weit hinten, dicht neben einem Pfeiler, hockten zwei Kerle an einem rohen Holztisch. Der eine stierte in seinen Humpen, aber der andere hatte den Blick in hinterhältiger und provozierender Weise auf ihn gerichtet. Carberry glaubte abgrundtiefen Haß in den Augen zu sehen. Der Kerl war schmierig, hatte strähnige fette Haare, ein schmieriges Hemd und schmierige Hosen. Alles an ihm war schmierig. Er wirkte heimtückisch, gefährlich und unberechenbar. Carberry gab den Blick gelassen zurück. Er konnte sich nicht denken, was den schmierigen Kerl veran-
29 laßte, ihn derart giftig und haßerfüllt anzustarren. Als er sich gleichgültig wieder umwenden wollte, blitzte es in seiner Erinnerung auf. Es war wie ein scharfer greller Strahl. Verdammt, dachte er, diese schmierige Visage habe ich doch schon irgendwo mal gesehen. Aber wo nur? Ein Schatten huschte über das Gesicht des Profos'. Vergeblich sann er darüber nach, woher er den Kerl kannte. Aber soviel er auch grübelte, es fiel ihm nicht mehr ein. Und dennoch - ganz tief unten, in einer Schublade seines Gedächtnisses war etwas, etwas Unangenehmes, dessen war er sich ganz sicher. Es mußte eine üble Geschichte gewesen sein. Die Unterhaltung plätscherte an seinen Ohren vorbei. Er kriegte kaum ein Wort mit von dem, was Plymson, Hasard und Dan besprachen. Der Schmierige stierte ihn weiter an, haßerfüllt, gemein, auch ein wenig abschätzend, aber doch sehr boshaft, als bereite es ihm Freude, ihn umzubringen. Erst als Carberrys Gesicht kantiger wurde und er unbewußt die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff, da wandte der andere den Blick ab und nahm einen Schluck aus dem Humpen, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Der Profos drehte sich erneut um. Er trank ebenfalls einen Schluck, fühlte aber sofort wieder die Blicke in seinem Nacken. Ebenfalls unbewußt nahm er eine drohende Haltung ein - wie, um eine plötzliche Gefahr von sich abzuwenden. „Hörst du überhaupt zu, Ed?" fragte Hasard. „Wir haben gerade über Hesekiel Ramsgate gesprochen."
„Ja, ja, der alte Hesekiel Ramsgate", sagte der Profos zerstreut. „Wie geht es ihm denn?" Nathaniel Plymson sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Auch Hasard und Dan musterten den Profos besorgt. „Was ist denn mit dir los?" fragte Hasard grob. „Wie es Hesekiel geht, müßtest du doch besser wissen als Plymson. Schließlich ist Ramsgate in der Karibik." „Habe den Namen falsch verstanden", murmelte Carberry. „Tut mir leid." „Na, trink mal noch einen", schlug Hasard vor. „Das hilft dir vermutlich besser auf die Sprünge." Er drehte sich ebenfalls um und blickte genau in die Augen von Gordon Brown. Der Kerl grinste jetzt höhnisch und überlegen, als er sah, daß der Seewolf nachzudenken schien, woher er ihn kannte. Dann stand Gordon Brown auf, trank im Stehen seinen Humpen leer und ging zum Tresen. Dort warf er ein Geldstück auf die Theke, blickte die drei Seewölfe durchdringend an und ging hinaus. Hinter ihm knallte die Bohlentür mit einem donnernden Schlag zu. Sein Kumpan verschwand gleich darauf ebenfalls in auffallender Eile. Hasard blickte stirnrunzelnd zur Tür. Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn und hatte schmale Augen. „Den Kerl habe ich schon mal gesehen", sagte er nachdenklich. „Ein widerlicher, schmieriger Typ, mit dem es mal Ärger gab. Aber so richtig kann ich mich nicht mehr daran erinnern." „Ich kenne ihn auch", sagte Dan,
30 Deutlich sichtbar lief dem Profos „aber ich weiß im Augenblick nicht, wo ich ihn unterbringen soll." ein Schauer über den Rücken, und er Carberry sagte gar nichts. Er schüttelte sich. starrte nur schweigend und sehr „Verdammt", entfuhr es Hasard. nachdenklich in seinen fast leeren „Bei dem Anblick eben wurde mir diHumpen. rekt unbehaglich. Aber ich sehe das „Wie heißt der Kerl?" fragte Ha- jetzt alles so deutlich vor mir, als sei sard in die Stille hinein. es erst gestern passiert. Der Kerl Sie waren fast die einzigen Gäste wurde auf Befehl Drakes gehängt, um diese Zeit, bis auf einen älteren weil er den Kapitän umbringen Burschen, der still und friedlich hin- wollte. Er hatte noch eine ganze ter einem Pfeiler vor sich hindöste. Menge mehr auf dem Kerbholz, aber „Gordon Brown", sagte Plymson. der versuchte Mord war ausschlagge„Den Bastard nennen sie ihn nur. Er bend." ist wirklich ein schmieriger, hinter„Jedenfalls erwacht ein Toter nicht hältiger und bösartiger Kerl und mehr zum Leben", sagte Dan entTrunkenbold, der nur herumstänkert schieden. „Es ist nur eine verblüfund sich prügelt. Früher ist er mal fende Ähnlichkeit." längere Zeit zur See gefahren, aber „Wie alt ist er denn?" fragte Hada wurde ihm das Wasser wohl zu sard. heiß, und er ließ sich an Land nie„Keine Ahnung", erwiderte Plymder." son. „Er hockt schon seit Jahren hier, „Gordon Brown", wiederholte der spielt, säuft und klaut oder bescheißt Seewolf, und dann durchzuckte ihn andere Leute. Eines Tages war er das Licht der Erkenntnis. „Auf der plötzlich hier und scheint ständig auf ,Marygold' bei Francis Drake gab es etwas zu warten. Es läßt sich auch einen Gordon Brown." schlecht schätzen, wie alt er ist. Er Bei Carberry schlug jetzt auch der kann vierzig sein - oder auch sechzig. Blitz ein. Er spürte plötzlich am gan- Seine Visage ist ziemlich verlebt." zen Körper ein ekelhaftes Kribbeln. „Und du bist sicher, daß er zur See „Heilige Seeschlange - Gordon gefahren ist?" Brown", ächzte er. „Aber - aber der „Ganz sicher, das weiß ich genau." ist doch auf Befehl von Drake ge„Donegal hat mal was von Seelenhängt worden. Ich erinnere mich jetzt wanderung gesagt", murmelte der sehr deutlich an die schmierige Vi- Profos unbehaglich. „Da sind Tote sage." wieder auferstanden und umherge„Dann hat Drake ihn offenbar nicht geistert." richtig gehängt", meinte Plymson mit „Was mein Alter schon sagt", einem schiefen Grinsen. meinte Dan. „Das ist wieder mal ty„Ich habe ihn selbst gehängt", sagte pisch für ihn. Ich war damals selbst der Profos grimmig. „Und ich weiß dabei, als die Ratte gehängt wurde. genau, daß er tot war. Er hat gebrüllt Da habt ihr mich noch das Bürschund getobt, und dann war er still, als chen genannt, und ich habe zugeseer an der Rah hing. Nach einer halben hen, wie er an der Rahnock zappelte. Stunde haben wir ihn der See überge- Danach lag er tot an Deck." ben." „Stimmt, so war es", bekräftigte
31 Hasard. „Vielleicht ist es ein Zwillingsbruder von ihm." „Ha-ha-ha", sagte der Profos. „Und alle beide heißen Gordon mit Vornamen, was, wie?" „Verzeihung, daran habe ich eben nicht gedacht", murmelte Hasard. „Das kann ja schlecht der Fall sein." „Eben. Du hättest mal sehen sollen, wie hundsgemein und hinterhältig der Kerl mich gemustert hat. Er drohte mir stumm mit Blicken, als wollte er mich abmurksen." In der Kneipe wurde es wieder still, bis Plymson sagte: „Das ist schon wirklich sehr unheimlich. Vielleicht hat ihn die See ja wieder ausgespruckt. Das hat's alles schon gegeben." „Nun macht euch mal nicht verrückt", meinte der Seewolf. „Es wird eine ganz einfache und einleuchtende Erklärung geben. Der Kerl ist jedenfalls nicht mit jenem Brown identisch, der damals gehängt wurde, und der haßvolle Blick kann etwas ganz anderes bedeuten. Möglicherweise hast du ihm früher mal die Klüsen dichtgeschlagen, Ed, und die Angelegenheit längst vergessen. Er hingegen vergaß sie nicht, weil er ein nachtragender Kerl ist. Mehr steckt vermutlich nicht dahinter." Carberry wollte das jedoch nicht wahrhaben. Gedankenverloren sah er den älteren Burschen an, der sich hinter dem Pfeiler erhob, zum Tresen latschte und ebenfalls ein Geldstück hinwarf. Dabei grinste er blöde vor sich hin, bevor er grußlos hinausging. Keiner der drei ahnte, daß er sich schon ein paar Minuten später mit Gordon Brown traf und ihm in allen Einzelheiten von dem seltsamen Gespräch berichtete. Gordon Brown grinste noch schmieriger, als er das
hörte, und gab dem Alten ein paar Münzen. In der „Bloody Mary" unterhielten sie sich inzwischen weiter. Aber der Profos war nicht richtig bei der Sache und hörte nur mit halbem Ohr hin. Ihn beschäftigte immer noch dieser merkwürdige Gordon Brown, für dessen Existenz er keine Erklärung fand. Von den Toten wieder auferstanden? überlegte er. Solche Vermutungen paßten zwar zu Old O'Flynn, der das sicher akzeptiert hätte. Aber er selbst wollte nicht daran glauben. Wieder stand ihm die damalige Szene klar und deutlich vor Augen, wie Hasard dem Kerl ins Hemd gegriffen und einen mit Golddublonen gefüllten Lederbeutel hervorgezogen hatte. Der Judaslohn für Gordon Browns Hilfe, damit Francis Drake umgebracht werden konnte, der Lohn dafür, daß Brown bei Sabotageakten auf der „Marygold" mitgeholfen hatte, die Mannschaft und Schiff in höchste Gefahr brachten. Da war für Francis Drake das Maß voll gewesen, und er hatte befohlen, den Kerl zu hängen. „Profos! Walten Sie Ihres Amtes!" dröhnte es überlaut in Carberrys Ohren. Dann wurde die Großrah abgefiert und dem tobenden Gordon Brown die Schlinge um den Hals gelegt. Und dann - und dann . . . Carberry wurde das taube Gefühl im Nacken nicht los, und er konnte es nicht ändern, daß er sich noch unbehaglicher fühlte als vorher. Auch der Rotwein schien ihm nicht mehr zu schmecken. Drei Fischer kamen herein, dann noch ein mickriges kleines Kerlchen mit einem Zickenbart und traurigem Gesicht.
32 Die Fischer wirkten bedrückt und flüsterten leise miteinander. Es waren grobe hochgewachsene Burschen mit wettergegerbten Gesichtern und schwieligen Händen. Sie sahen noch übermüdet aus, aber sie schluckten trotzdem recht kräftig. „Morgen nacht fahre ich nicht raus", sagte einer von ihnen leise. „Das hat mir gereicht. Ich habe sonst nie so richtig an den Teufel glauben wollen, aber heute nacht habe ich ihn mit eigenen Augen gesehen, und das reicht mir." Er schüttelte sich unbehaglich. „Ja, da ist was dran", murmelte der andere. ,,Es roch plötzlich nach Schwefel, dann glühte es überall. Ich habe noch nie solche Angst in meinem Leben gehabt." Dem stimmte auch der dritte zu. „Zum Glück hat Old Nick uns nicht bemerkt, sonst säßen wir jetzt nicht hier." Hasard hatte amüsiert zugehört. Fischer waren abergläubisch, das wußte er, aber jetzt übertrieben sie doch gewaltig. Andererseits aber wirkten die drei Kerle wirklich verstört. „Bringe ihnen mal eine Runde", sagte Hasard zu dem Wirt. „Was hat euch denn so erschreckt?" fragte er die Fischer. „Oh, vielen Dank, Sir, vielen Dank", murmelten die drei und wurden sofort gesprächig, als Plymson ihnen die Humpen füllte. „Wir sind heute nacht dem Satan begegnet, Sir. Er fuhr auf einem riesigen Schiff lautlos an uns vorbei. An Bord waren glühende Augen zu sehen, die uns angestarrt haben. Aber es war ein bißchen neblig, und so hat uns der Teufel nicht gesehen." Hasard wollte erst grinsen, doch
schon der Ansatz dazu erstarb. Sein Gesicht blieb unbewegt. Die Leute erzählten viel und bildeten sich auch viel ein, aber hier war das etwas anderes, das spürte er ganz deutlich. Den drei Kerlen stand die Angst noch immer in den Gesichtern. „Auf einem Schiff fuhr er also", sagte er bedächtig. „Wie sah das Schiff denn aus?" „Wir konnten es nicht genau sehen, Sir. Aber es war ein riesiges, pechschwarzes Schiff mit vier Masten." „Und es hatte ganz schwarze Segel", warf ein anderer hastig ein. „Und auf den Segeln tanzten wilde Drachen mit glühenden Augen." Plymson bekreuzigte sich hastig. „Es segelte ziemlich dicht an uns vorbei, obwohl kaum Wind wehte", berichtete der erste Fischer weiter. „Und dann sahen wir ihn ganz hinten auf dem schwarzen Schiff sitzen. Es war ein Kerl, der mindestens vier Yards groß war, und er trug die Felle von wilden Tieren. Auf dem Schädel trug er gewaltige Hörner wie ein Stier. Sie können uns glauben, Sir, daß wir unheimliche Angst hatten, denn auch sein Schädel glühte in allen Farben." „Und dann?" fragte Hasard atemlos, der bereits etwas ahnte. „Dann war der Spuk auch schon vorbei. Wir hörten nur noch ein teuflisches Gelächter, bis das Schiff im Nebel verschwand." Dan O'Flynn begann breit zu grinsen. „Das darf nicht wahr sein", sagte er lachend und schlug sich auf die Schenkel. „Das darf wahrhaftig nicht wahr sein." „Es ist aber wahr, Sir", sagte der Bursche beleidigt. „So wahr wir hier sitzen, es war der Teufel persönlich."
Hier ist die Fortsetzung des Briefes von A W , gasse , 8721 Heidenfeld, dessen ersten Teil wir im letzten Forum veröffentlichten: .. Als Leser verspürt man immer wieder den Wunsch, sich mit dem einen oder anderen Helden zu identifizieren. Die Seewölfe sind als solche Vorbilder natürlich hoch im Kurs - aber ich nehme mir lieber Leute wie Balnave, Philarios (aus dem hätte man auch was machen können), Willard Summerfield, aber auch Albert (der Bucklige von Quimper), so komisch das auch klingt. Sie erscheinen mir persönlich menschlicher - oder würden es sein, wenn man sie (eben in Zyklen) genauer beschreibt, ihre Charakterzüge ausbauen kann (Albert ist die Ausnahme, er wurde ja schon im Frankreich-Zyklus beschrieben). Bis jetzt ist schon viel Wasser am Ruderblatt vorbeigeflossen, und deshalb will ich dieses Thema schließen: Schreibt wieder Zyklen, es kann nicht langweilig werden - nur eben anders. Überlegt's Euch mal! Nun werfe ich das Ruder herum und nehme Kurs auf den dritten Grund meines Briefes: die Autoren. Zur Vorgeschichte: Vor einigen Wochen kaufte ich auf einem Flohmarkt die SeewölfeNummern 101,103,108-111,114,115 und 118. Dabei stieß ich auf einen weiteren Autor: Kelly Kevin. Somit sind mir acht Seewölfe-Autoren bekannt. Von diesen acht schreiben aber nur noch vier. Nun, die Mitteilung über den Tod von Herrn Curtis habe ich gelesen, aber was ist aus Frank Moorfield, John Roscoe Craig und Kelly Kevin geworden? Seit ich mir darüber Gedanken gemacht habe, kamen auch noch andere Fragen auf, die sich um die Autoren drehen. Und zwar: Wie wird man eigentlich Autor bei den Seewölfen? Kommen in absehbarer Zeit Autoren nach oder bleiben es nur vier? (Das soll auf keinen Fall irgendeine Beleidigung sein.) Wie kamen eigentlich die einzelnen Autoren zu der Seewölfe-Reihe? Fragen über Fragen... Vielleicht könnten Sie im Forum oder auch im Brief etwas über die Entstehungsgeschichte der Seewölfe erzählen. Schreibt weiterhin so gute Romane, zeichnet wei-
terhin gute Titelbilder und laßt die „Seewölfe" noch lange leben! Mit einem ,,Arwenack" verabschiedet sich -A W .P.S.: Fassen Sie diesen Brief nicht als Beleidigung (wegen „Gummi-Zyklus") auf, sondern als das, was er sein soll: emste Kritik, Stellungnahme eines Lesers zu „seiner" Serie. Sehr herzlichen Dank für Ihre ausführlichen Zeilen, lieber Herr W . Was die Zyklen betrifft, stecken wir ja nun mitten in der Diskussion, und wir sind keineswegs beleidigt, wenn Sie von „Gummi- Zyklen" sprechen. Nur - Zyklus oder Einzelroman, beide können langweilig sein, so oder so. Es gibt spannende Einzelromane, und es gibt spannende Zyklen - oder umgekehrt. Eine Garantie für Spannung ist weder der Zyklus noch der Einzelroman. Im Grunde hängt das von den Autoren ab (oder vom Salz in der Suppe), von ihrer Kunst, einen bestimmten Stoff gut und spannend darzustellen. Da sind wir schon bei Ihren Fragen über die Autoren. Frank Moorfield schreibt wieder mit, wie Sie sicher bemerkt haben, John Roscoe Craig wurde Redakteur in einem anderen Zeitschriftenverlag und kann daher aus erklärlichen Gründen nicht für unseren Verlag schreiben, und Kelly Kevin war eine Autorin, von der wir uns aus internen Gründen trennten. Ein neuer Autor kam hinzu: Sean Beaufort. Eine „Conditio sine qua non" (unerläßliche Bedingung) für den Autoren eines Seeabenteuer-Romans ist die Forderung, daß er weiß, was sich auf See abspielt, das heißt, er muß wissen, wie Seemannschaft betrieben wird. Er kann nicht wie ein Blinder von der Farbe reden. In unserem Fall muß er sich auch mit der Geschichte des 16. Jahrhunderts beschäftigt haben (was gab es da für Waffen, was für Schiffe usw., usf.?). Zur Seewölfe-Serie stießen jene Autoren, die sowieso für den Verlag schrieben und nachweisen konnten, daß sie von der Seefahrt etwas verstanden (sie sind dünn gesät!!). Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
In der letzten Seemannskiste berichteten wir über die beiden niederländischen Marine-Maler Willem van de Velde, der Ältere und der Jüngere. Vom jüngeren van de Velde stammt auch das Bild auf den beiden vorigen Seiten, das er um 1654 gemalt hat. Bezeichnenderweise hat es den Namen „Windstille". Von links nach rechts liegen drei Schiffe auf Reede: eine Staats-Yacht sowie zwei Zweidecker - jedes der drei Schiffe hat eine andere Position zum „Wind", das typische Bild bei einer Flaute. Die Flaggen hängen schlaff nach unten, die Segel flappen, die See ist glatt. Auf dem Bild liegt eine Stimmung, die fast zum Gähnen ist. Van de Velde hat sie etwas abgefangen, indem er in der Mitte vorn wenigstens etwas Bewegung darstellt: eine stark besetzte Jolle, die von acht Rudergasten gepullt wird. Der Mann achtern an der Pinne, stehend, scheint eine Anweisung zu geben. Der Blick des Betrachters wird auf den Zweidecker rechts im Bild gelenkt. Auch dort ist Bewegung zu erkennen: Fünf Männer am Großmarssegel sind damit beschäftigt, das Marsegel aufzutuchen. Die Position der beiden Männer außen ist eindeutig: sie hocken rittlings auf der Marsrah und raffen das Segel hoch. Ob die drei Männer innen auf Fußpferden stehen, ist nicht klar zu erkennen, weil sie vom Segel verdeckt werden. Schiffshistoriker nehmen an, daß die Fußpferde, die ein besseres und sicheres Arbeiten von der Rah aus ermöglichten, um 1660 aufkamen - möglicherweise schon früher. Fock, Vormarssegel und Lateinerbesan sind noch gesetzt, allerdings ist die Vormarsrah deutlich abgefiert, das Vormarssegel hängt zum Teil schlaff über dem Vorstag. Alle anderen Segel sind bereits sauber aufgetucht und mit Zeisingen beigebändselt. Bei dem Zweidecker rechts handelt es sich um das niederländische Flaggschiff „Eendracht", das 1653 erbaut wurde. In der Schlacht von Lowestoft 1665 - dem Eröffnungsgefecht des zweiten Englisch-Niederländischen Krieges, das an der Ostküste Englands stattfand - wurde die „Eendracht" von zwei Seiten unter Feuer genommen und flog mit ihrem Befehlshaber, Admiral van Wassenaer, sowie fast der gesamten Besatzung in die Luft. Die Holländer verloren in diesem Gefecht durch Artillerie, Enterung oder Brander 17 Schiffe. Der englische Verlust betrug 2 Schiffe. Bei dem mittleren Schiff handelt es sich um die „Huis te Zwieten", von der nichts Weiteres bekannt ist. Die Staats-Yacht links im Bild zeigt auf ihrem Spiegel das Wappen des Hauses von Oranien, das von Löwenfiguren umrahmt wird. Dieses Schiffchen, ein Einmaster mit Sprietsegel - das Großsegel wird von einer Spriet ausgespreizt -, war ursprünglich für den Prinzen Frederick Hendrik bestimmt, wurde jedoch erst nach dessen Tod im Jahre 1647 für Wilhelm II von Oranien fertiggestellt. Bei dieser Yacht ist deutlich das reichverzierte Heck zu sehen sowie an Steuerbord das aufgeholte Seitenschwert. Wie bei der „Eendracht" hängt an ihrem Heck ein Beiboot.
37 Hasard stieß tief die Luft aus. „Es war schwarz, hatte vier Masten und schwarze Segel", zählte er auf. „Und auf den Segeln tanzten glühende oder wilde Drachen?" „Wilde Drachen mit glühenden Augen, Sir. Ich werde den Anblick mein Lebtag nicht vergessen." Die drei Fischer zuckten zusammen, als Carberry plötzlich laut lachte. „Das war der Wikinger!" brüllte er und hieb dem verdutzten Plymson auf die Schulter. „Der Teufel soll mich holen, es war wahrhaftig der Wikinger Thorfin Njal, der behelmte Nordpolaffe. Wir sind ihm begegnet, und jetzt seid ihr ihm begegnet. Das ist ja ein Ding!" „Es war der Teufel", wiederholte der Fischer entsetzt, „und damit soll man keine Späße treiben." Hasard versuchte erst gar nicht, ihnen den Teufel auszureden. Seine Worte wären auf keinen fruchtbaren Boden gefallen. Die Kerle waren fest davon überzeugt, dem Satan persönlich begegnet zu sein. „Wikinger gibt's längst keine mehr", sagte ein anderer lahm. „Ha, ein paar gibt es noch, Relikte aus längst vergangener Zeit", sagte Dan lachend. „Nordmänner nennt man sie. Die Kerle sind nach dem Norden aufgebrochen, und im Nebel sind sie ebenfalls an uns vorbeigesegelt." „Dann bleibt immer noch die Frage offen, wie Thorfin so plötzlich verschwinden konnte", sagte der Seewolf nachdenklich. „Aber ich zweifele nicht daran, daß er es war." Er gab für die Fischer noch eine Runde aus, die auch dankbar angenommen wurde. „Die glühenden Augen sind auch
ganz einfach zu erklären", sagte Ed. „Der Kerl hat die Angewohnheit, nachts Laternen in den Wanten aufzuhängen, um die Leute ein bißchen zu erschrecken. Das ist eine verdammte Marotte von ihm. Wenn ihm das Erschrecken gelungen ist, lacht er sich anschließend halbtot. Er hat nämlich auf seinen schwarzen Segeln wahrhaftig Drachen aufgenäht und deren Augen funkeln, wenn das Licht sie nachts beleuchtet." Die Stimmung hatte sich schlagartig verbessert. Nur die Fischer konnten sich mit dieser einfachen Erklärung nicht abfinden. Für Hasard, Dan und Ed war die Sache jedenfalls klar: Thorfin Njal befand sich irgendwo auf dem Weg nach Norden, und es war durchaus möglich, daß sie ihm noch begegneten. Nur - wie hatte er sich so blitzschnell davonschleichen können im Nebel, daß sie ihn nicht mal mehr mit der schnellen Schebecke eingeholt hatten? Diese Frage beschäftigte Hasard noch sehr lange. Nachdem sie die Fischer noch intensiv ausgefragt hatten, brachen sie auf und kehrten an Bord zurück. Dort wurde das Ereignis noch einmal gründlich durchgesprochen. Gordon Brown war wieder in Vergessenheit geraten. 6. Am Abend desselben Tages fanden sich die meisten der Arwenacks bei Plymson ein. Hasard hatte wieder einmal fast väterlich gemahnt, ja keine Schlägerei anzufangen, aber das hatten die Ar-
38 wenacks auch nicht vor - so man sie in Ruhe ließ. Auf Carberrys fromme Beteuerungen gab der Seewolf nicht viel, denn der hatte wieder von frommen Pilgern und friedfertigen Mönchen gesprochen, die nur still dasitzen sollten - weiter nichts. Ein knappes Dutzend Arwenacks war also losgezogen, allen voran Edwin Carberry mit einem lüsternen Grinsen im Gesicht. Bevor sie eintraten, hieb der Profos übermütig gegen das Eichenschild, auf dem die ,Worte „Bloody Mary" eingebrannt waren. Als die Tür aufsprang, drang gleichzeitig ein Schwall kühler Luft herein, die den mumifizierten Stör über der Theke heftig schaukeln ließ. Nathaniel Plymson blickte auf. Er verzog sein Gesicht zu einem freundlichen Grinsen, aber in den Augen las Carberry eine unbestimmte Angst. Der Dicke ahnte offenbar, daß heute wieder etwas los sein würde, wenn gleich ein Dutzend Arwenacks seine Spelunke beehrten. Die Kneipe war ziemlich voll. Aus allen Ecken hörte man Stimmengewirr, Gemurmel oder Gelächter. Plymson begrüßte jeden einzeln mit Handschlag und zuckte nur einmal leicht zurück, als Matt Davies ihm grinsend die Hakenprothese hinhielt. Plymson ergriff den Eisenhaken, als wäre er eine Hand. Er drückte sogar kräftig mit seinen fleischigen Fingern. „Au, nicht so hart", sagte Matt, „du tust mir ja weh, Plymmie." Ferris Tucker warf einen Blick in die Runde, um nach einem freien Tisch Ausschau zu halten.
„Da hinten an dem Pfeiler", sagte er, „der langt für uns." Plymson eilte beflissen herbei. An dem Tisch hockten nur zwei Kerle. „Ich werde die Gents woanders hinsetzen", sagte er. Die Gents waren ganz sicher keine. Sie sahen eher wie ordinäre Straßenräuber aus. Aber sie verließen sofort den Tisch und nahmen an einem anderen Platz, als Plymson ein paar Worte zu ihnen sprach. Als der Profos sich setzte, sah er Gordon Brown, und schlagartig fiel ihm wieder alles ein. Brown warf ihm einen fast gleichgültigen Blick zu, doch er konnte den Haß in seinen Augen nicht verbergen. Dann blickte er schnell zu einem anderen Tisch hinüber und nickte einem schwarzhaarigen wilden Kerl zu, der mit einer Horde Seeleute zusammenhockte. Der Schwarzhaarige nickte kurz zurück, als habe eine geheime Absprache zwischen den beiden stattgefunden. Carberry nahm das zur Kenntnis und setzte sich so, daß er Gordon Brown im Blickfeld hatte. Plymson ließ es sich nicht nehmen, seine Gäste höchstpersönlich zu bewirten. „Richtiges kühles Bier haben wir schon lange nicht mehr getrunken", sagte Carberry. „Fangen wir mit einem kleinen Fäßchen an. Du kannst es gleich auf den Tisch stellen, wir zapfen dann selbst." „Und bring noch zwei Gallonen Schottischen", sagte Ferris Tucker. „Dann staubt das Bier nicht so." „Wieder alles versammelt, was Rang und Namen hat", sagte Gary Andrews nach einem Rundblick. „Weiberchen hat's auch genug." „Fromme Pilger schielen nicht
39 nach Weibern", rügte Luke Morgan, während er selbst einer reichlich aufgetakelten und verwegen gepuderten Lady zublinkerte. In der Tat hatte sich bei Plymson einiges versammelt. Namen hatten sie zwar, aber die Ränge ließen doch sehr zu wünschen übrig. Zu den Gästen zählten etliche Seeleute, ein paar Fischer, Knechte, ein knappes Dutzend Frauenzimmer und das übliche Halsabschneiderpack - Gesindel aus der Gosse, das seinen letzten geklauten Cent versoff. Sie hatten ihr Getränk gerade auf dem Tisch, und Plymson verteilte die Humpen, als sich auch schon die ersten „Damen" bei ihnen, niederließen und beim Trinken halfen. Plymson hatte auch noch eine neue Attraktion aufzuweisen, vielleicht war deshalb die Kneipe besonders voll. Er hatte zwei Musikanten engagiert, einen Flötenspieler und einen langen dürren Kerl mit einer Fiedel. Die eigentliche Attraktion aber war die dunkelhaarige Sängerin mit sinnlichen Lippen, geheimnisvollen dunklen Augen und schlanken Beinen. Auch alle anderen Formen stimmten an ihr. Vielleicht war sie ein klein wenig zu üppig, aber das war Geschmackssache. Die Musikanten hatten gerade eine Pause eingelegt, aber jetzt spielten sie wieder auf, und sofort wurde auf dem engen Raum zwischen Bänken und Tischen getanzt. Die Sängerin hatte eine etwas aufreizende und etwas rauhe Stimme, aber das ließ die Kerle nur noch lüsterner blicken. Als sie ihr Lied beendet hatte, wurde geklatscht und gebrüllt. Sie mußte gleich noch eins singen. „Da ist ja wirklich was los", sagte
Carberry genüßlich. „Wenn mich nicht alles täuscht, hat die Tante mir eben einen Blick zugeworfen." „Der Blick galt mir", sagte Mac Pellew entschieden, der sich für einen großen Frauenbetörer hielt. „Sie hat mir zugeblinzelt." „Vieleicht hatte sie was im Auge", meinte Smoky. „Ich glaube aber auch, daß der Blick Ed galt." Wem nun der Blick galt, wurde nicht restlos geklärt, es fiel nur auf, daß sich der Zweitkoch Mac Pellew daraufhin etwas seltsam benahm. Er wirkte auf einmal geziert und spreizte beim Trinken den kleinen Finger ab, weil er der Ansicht war, das wirke vornehm. Auch sein Hals wurde immer länger, und er schob die Schultern vor. Sobald die Sängerin in die Runde blickte, veränderten sich Mac Pellews Gesichtszüge. Sein Blick wurde melancholisch, und er grinste gekünstelt. „Er nun wieder", sagte der Profos, „spielt hier den großen Aufreißer. Aber an die Lady kommst du nicht ran, Mackileinchen. Die ist 'ne Nummer zu groß für dich und kein so liederliches Frauenzimmer wie die anderen hier." Mac drückte die Brust raus, bis sich seine Rippen unter dem Hemd abzeichneten. Er hätte gern seine Muskeln spielen lassen, aber die waren offensichtlich noch nicht ganz ausgereift. Er plusterte sich jedenfalls wie ein Gockel auf, um der Lady zu imponieren. Als die, Arwenacks den zweiten Humpen gelenzt hatten, mischte sich die Sängerin unters Publikum und berührte beim Singen den einen oder anderen, was Mac mit saurem Gesicht quittierte. Am Tisch der Arwenacks blieb sie
40 stehen. Sie sang gerade das irische Lied von den Auswanderern. Dazu fiedelte der eine Kerl und der andere blies hingebungsvoll auf der Flöte. Vor Carberry blieb sie stehen und blickte ihn lange an. Der Profos räusperte sich verhalten, und als sie ihm dann die Hand auf die Schulter legte, wurde Mac Pellew ganz zappelig. Noch einmal traf den Profos ein langer und intensiver Blick, dann ging sie weiter. „Na?" sagte Carberry provozierend und grinste Mac an. „Jetzt dürfte ja wohl klar sein, wen sie meinte. Ganz bestimmt nicht dich doppelsauren Zitronenlutscher." „Das war nur eine Verlegenheitsgeste von ihr", behauptete Mac kühn. „In Wirklichkeit galt das mir. Sie hat mich nämlich dabei angesehen." Dem Profos blieb die Luft weg. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Als Plymson wieder an den Tisch trat und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigte, sprach ihn der Profos auf die Sängerin an und fragte den Dicken, ob er die Lady wohl einladen dürfe. „Selbstverständlich", dienerte Plymmie. „Ich werde es ihr nach ihrer nächsten Darbietung sofort sagen." „Wie heißt denn die Schöne?" „Jenny O'Hara." „Eine Irin?" „Sie hatte eine irische Mutter." „Die kommt nicht", lästerte Mac, als Plymson. weg war. Sie kam aber doch, als die Musikanten wieder eine längere Pause einlegten, und sie nahm neben dem Profos Platz, der sich artig vorstellte. Mac Pellew kriegte Stielaugen und blies sich noch mehr auf. Aber Jenny hatte nur Augen für den Profos, der
ihr offenbar ausnehmend gut gefiel. Da half auch Macs Herumnölen nichts, und daß er sich wie ein balzender Auerhahn aufführte. Aus den Augenwinkeln sah der Profos, daß Gordon Brown schmierig und hinterhältig zu grinsen begann. Er wandte jedoch schnell den Kopf weg und gab sich betont gleichgültig. Der Profos ließ eine Runde springen. Dabei raunte er der Sängerin zu: „Wann können wir uns denn mal treffen?" Mac Pellew spitzte eifersüchtig die Ohren, aber er kriegte nichts mit. „Wäre es dir morgen mittag recht? Aber nicht hier, ich bin nicht so eine wie die anderen." „Das sah ich auf den ersten Blick. Und wo?" „Vielleicht am Marktplatz", flüsterte sie. „Dann werden wir weitersehen." Der Profos war zufrieden. Nein, sie war nicht „so eine", das hatte er längst mit weltmännischem Blick herausgefunden. Deshalb wollte sie sich ja mit ihm auch nicht in der Kneipe treffen. Nach einer Weile mußte sie wieder singen, aber sie kehrte jedesmal an den Tisch zurück und setzte sich neben den Profos. „Ein Scheißladen", maulte Mac, der immer noch sauer war, daß ihm Carberry die Sängerin weggeschnappt hatte. „Überhaupt nichts los. Am besten, ich hau wieder ab." Mac zog ein Gesicht, als hätte man ihm ein ganzes Faß recht sauren Essig eingetrichtert. Aber dann war für Mac Pellew doch noch was los, denn eins der Frauenzimmer nahm neben ihm Platz. Von Abhauen war keine Rede mehr, zumal die Lady einen üppigen
41 wogenden Busen hatte und sicherlich noch mehr Vorzüge, die Mac gründlich zu erforschen gedachte. Leider kam es wieder mal anders.
Die Arwenacks waren so mit sich selbst und den Ladys beschäftigt, daß niemand Gordon Brown Aufmerksamkeit schenkte. Der Bastard und sein Kumpan Frank Cooper standen auf und nahmen gleich darauf an dem Tisch Platz, wo der Schwarzhaarige mit seinen Kerlen hockte. Die meisten waren schon leicht angetrunken. „Hör mal zu, Langer", sagte Brown verärgert. „Ich habe euch dafür bezahlt und freigehalten, daß ihr endlich mal die Kerle aufmöbelt. Aber ihr hockt nur da und sauft auf meine Kosten. Jetzt tut mal was für euer Geld, oder ihr könnt die Zeche selbst bezahlen." „Nun reg dich mal nicht auf", sagte der Lange. „Wir werden schon loslegen, aber den Zeitpunkt mußt du, bitte schön, mir überlassen. Es dauert nicht mehr lange, ich warte nur noch auf drei weitere Männer. Dann spielen wir zum Tanz auf, klar?" „In Ordnung, aber ich halte mich da raus." „Schon gut." Die beiden kehrten wieder an ihren alten Platz neben dem Pfeiler zurück und setzten sich. „Wie willst du das jetzt anstellen?" fragte Cooper. „Ich warte, bis es losgeht. Wenn die Prügelei im Gange ist, stecke ich ihm unauffällig ein Messer zwischen die Rippen und verdufte. In dem Getümmel wird das nicht auffallen." „Und die Sängerin?"
„Darauf hat er angebissen. Die habe ich nur in Reserve, wenn es nicht klappen sollte. Ich habe ihr zwei Pfund gegeben, damit sie den Hund in die alte Mühle lockt. Dort lauern wir dann. Sie weiß nicht, um was es geht. Habe ihr nur gesagt, wir wollten uns einen kleinen Spaß mit einem alten Bekannten erlauben, und das hat sie gefressen. Du kannst mich ja ein bißchen von der Seite her abdecken, wenn ich dem Mistkerl das Messer reinschiebe, damit es keiner sieht. Dieser Kerl kostet mich noch ein Vermögen." „Du hast ja in letzter Zeit ziemlich viel eingenommen." „Das ist aber fast schon wieder weg." Sie tranken weiter und warteten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis endlich die drei erwarteten Kerle eintrafen. Auch sie schienen schon etwas angetrunken zu sein, wie ihr unsicherer Gang verkündete. „Na, endlich", raunte Gordon Brown. „Allmählich wird's Zeit." Von den drei Kerlen war einer fast so breit wie Carberry. Die beiden anderen waren hager und geschmeidig. Sie schienen eine ganze Menge vom Kämpfen zu verstehen. Alle drei trugen Messer in einer Lederscheide am Hosenbund. „Nicht mehr lange", flüsterte Gordon Brown, „dann ist das Narbenschwein in der Hölle." Er tastete nach seinem spitzgeschliffenen Dolch und grinste hämisch. 7. Etwa eine halbe Stunde später begann der Stunk. Die Sängerin und die
42 Musikanten hatten aufgehört zu spie„Hast du eben zu meinem Freund len und waren verschwunden. Aber rothaariger Affe gesagt?" fragte er in der Kneipe des dicken Plymson freundlich. ging es immer noch hoch her. „Habe ich. Und zu dir kann ich auch Da stand der Schwarzhaarige auf noch einiges sagen. Wie wär's denn und schlenderte zu einem anderen mit narbiger Hurensohn?" Tisch hinüber. Er ging an Mac Pellew „Klingt nicht schlecht", erwiderte vorbei und strauchelte. Im letzten der Profos gelassen. „Und nun habt Augenblick hielt er sich an der Tisch- ihr genug herumgestänkert. Wir platte fest. schlucken die Beleidigung ausnahms„Du suchst wohl Streit, du Würst- weise, denn heute ist unser friedlichen!" sagte er hitzig. „Mir ein Bein cher Tag. Verpißt euch!" zu stellen, was? Entweder du entEin Kerl mit vorstehenden Schneischuldigst dich, oder du hast gleich dezähnen beugte sich grinsend vor. eine platte Visage." „Ihr habt wohl nur friedliche Tage, „Ich hab' dir kein Bein gestellt", ihr Hosenscheißer, was?" sagte Mac erbost. „Meine Knochen „Was, wie, heißt das", sagte Carhabe ich unter dem Tisch, und dann berry. kann ich dir ja schlecht ein Bein stel„Hä?" fragte der Kerl. len, wenn du dich bitte überzeugen „Ich kannte mal einen", sagte Carwillst." berry „der hätte genauso ausgesehen Mac schob die Lady vorsichtshal- wie du. Schiefes Maul, gespaltene ber zur Seite, denn der Kerl sah ganz Lippen und Rattenzähne. Aber zum danach aus, als würde er seine Dro- Glück hat seine Mutter den Bastard hung in die Tat umsetzen. noch rechtzeitig in den Brunnen geDer Kerl griff zu und zog Mac am worfen, sonst gäbe es zwei von deiner Ohr in die Höhe. Mac mußte mit, ob Sorte." er wollte oder nicht, denn es tat verDer Kerl zog blitzschnell ein Mesdammt weh, und sein Ohr wollte er ser, aber er war doch zu langsam. nicht unbedingt in der Hand des Matt Davies trat in Aktion, als er Schwarzhaarigen lassen. das Messer sah. Er schlug mit der „Laß ihn los", sagte Ferris Tucker Rückseite seiner Hakenprothese einheiser. „Er hat dir kein Bein gestellt, mal hart und schnell zu. Es krachte, das weiß ich genau. Geh an deinen als sei der Haken zersplittert. Aber es Platz zurück und sei friedlich. Wir waren die Rattenzähne des Messerwollen keinen Streit." helden. Jetzt hatte er keine mehr und „Halt du dich da raus, du rothaa- sah viel manierlicher aus. riger Affe!" brüllte der Kerl. „Ich Er flog quer über den nächsten hab's mit dem da, nicht mit dir!" Tisch und räumte sämtliche Humpen Zwei weitere Kerle erschienen an ab, die auf der Platte standen. Als er ihrem Tisch. Sie grinsten dreckig. auf dem Boden landete, hatte er seine Der Profos erhob sich langsam und eigenen Zähne verschluckt. stemmte seine Pranken auf den Das war das Signal. Die Kerle hatte Tisch. Er grinste auch, aber sein Grin- jetzt echte Wut gepackt, sie brauchsen verhieß nichts Gutes. Da lag et- ten sie gar nicht mehr vorzutäuschen. was Wölfisches in seinem Blick. Der Schwarze ließ eine brettharte
43
Rechte los, der der Profos nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte. Sein Schädel flog zurück, als ihn der Schlag traf, und für ein paar Sekunden sah er ganze Sonnensysteme an sich vorbeiziehen. Die anderen Schläger rissen fast den Tisch um, so eilig sprangen sie auf, um sich in das Kampfgetümmel zu stürzen. Hinter dem Tresen aber stand Plymson und schlug die Hände vors Gesicht, als könne er das nicht mitansehen. „Ich hab's ja geahnt", klagte und jammerte er. „Das konnte gar nicht gutgehen. Kaum sind diese Kerle hier, schon wackelt die Bude." „Diese Kerle hatten aber keine Schuld", sagte der Grobe Johann. „Die anderen haben angefangen." Plymson wollte nach seinem armdicken Knüppel unter der Theke greifen, doch dann besann er sich anders. Da flogen bereits die Fetzen, und es hätte ja sein können, daß er etwas abkriegte, das er gar nicht wollte. Ach was, dachte er, die Kerle wissen sich schon zu verteidigen. Da halte ich mich lieber raus. Carberrys Narkose hatte nur zwei Sekunden gewirkt. Dann war sein Schädel wieder so klar wie eine helle Mondnacht. Er duckte den zweiten Schlag ab und besann sich auf seinen gefürchteten Profoshammer. Noch im Abducken vollführte er eine Körperdrehung. Die rechte Hand war zu einer mächtigen Faust geballt, und die raste jetzt mit einem mörderischen Tempo los. Der Faust stand der Schwarzhaarige im Weg, und so wurde die Faust schlagartig gestoppt, als sie sein Kinn traf. Der Schlag war wie eine Explosion.
Das leicht geöffnete Maul des Schwarzen schloß sich mit einem hallenden Geräusch, als seine Zähne aufeinanderkrachten. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb er stehen. Dann rannte er zurück, überschlug sich erst ein paar Yards weiter und bohrte sich, Schädel voran, in die massive Theke aus Eichenholz. Es dröhnte, und die Bohlen erzitterten unter dem gewaltigen Anprall. Der Schwarze hatte glasige Augen und wackelte mit dem Schädel. Plymson nutzte die Gunst des Augenblicks, griff nun doch nach seinem Hartholzknüppel und drosch ihn auf den dargebotenen Schädel. Für den Schwarzhaarigen war damit das Fest beendet. Er verdrehte die Augen und blieb liegen. Die Keilerei in der Kneipe ging weiter, und jetzt beteiligten sich fast alle daran. Mac Pellew sah sich unvermittelt einem Kerl gegenüber, der mit einem Totschläger bewaffnet war. Das Ding bestand aus einem mit Kabelgarn umwickelten Eisenstück und hatte am Ende einen gekrümmten Haken. Damit holte der Kerl gerade zu einem wuchtigen Schlag aus. „Mac, paß auf!" brüllte Luke Morgan, der sich mit einem untersetzten schnaufenden Mann prügelte. Mac sah das Ding auf sich niedersausen und verzog schon schmerzhaft das Gesicht. Im allerletzten Augenblick warf er sich zur Seite, als es auch schon krachte. Mit mörderischer Wucht sauste das schwere Ding in die Tischplatte und blieb stecken. Der Eisendorn war gänzlich darin verschwunden. Mac stellte sich schaudernd vor, wie er jetzt wohl ausgesehen hätte.
44 Zweifellos hätte der Hieb seinen Schädel zerschmettert. Der Kerl zog noch an seinem Mordinstrument. Da hatte Mac den Bierhumpen in der Hand und ließ ihn kraftvoll niedersausen. Der Humpen zersprang in tausend Stücke. Ein Splitterregen flog nach allen Seiten. Der Totschläger wankte, ging in die Knie und fiel mit einem Seufzen unter den Tisch. Mac zerrte den Prügel aus dem Holz, bis er ihn in der Hand hatte. Das Ding war verdammt schwer, aber der gekrümmte Eisenhaken ließ sich gut verwenden. Mac Pellew wollte ja keinen totschlagen, aber so ein bißchen ritzen, mußte auch ganz schön weh tun. Er versuchte es bei einem, der Luke Morgan attackierte. Luke hatte ihn schließlich vor dem Ding gewarnt. Er zog das Ding wie eine Sense über den Hosenboden des Mannes. Die Wirkung war ganz erstaunlich. Der Kerl ließ sein Messer fallen, schrie laut und gellend auf und griff sich an die Kehrseite. Der Dorn hatte die ganze Hose aufgerissen - und noch einiges mehr, das dem Kerl jetzt eine Menge Kummer bereitete. Er hüpfte durch die Kneipe und brüllte zum Steinerweichen. Der nächste führte ein Tänzchen auf, das wirklich sehenswert war. Auch er hatte am Achtersteven eine sehr empfindliche Stelle, die es gar nicht gewohnt war, daß dort Eisendorne herumkratzten. Er jaulte in den höchsten Tönen wie ein geprügelter Hund, und sofort fand wieder die typische Bewegung statt. Beide Hände auf die empfindliche Kehrseite gepreßt, tobte der Kerl über den nächsten Tisch hinweg, riß
alles um und blieb kreischend vor Ferris Tucker stehen. Der Schiffszimmermann holte seelenruhig aus und klebte ihm eine. Der Kerl flog über den nächsten Tisch und räumte erneut alles ab. Er landete auf dem Schoß eines Frauenzimmers und kippte mit ihr zusammen um. Mac Pellew fand das sehr lustig. Seit er das Ding in Händen hielt, traute sich keiner mehr an ihn heran. Er strengte sich vor allem nicht mehr sonderlich an und brauchte nur kurze „hinterhältige" Hiebe zu führen, die immer wieder erstaunliche Wirkung zeigten. „Seltsam", murmelte er vor sich hin. „Ein paar aufs Maul stecken die Kerle ohne weiteres ein, aber so ein kleiner Piekser, davor scheinen sie höllische Angst zu haben." Er war gerade dabei, den dritten Hosenboden samt Inhalt ein wenig anzuritzen. Der Kerl wich entsetzt zur Seite und brüllte schon, noch bevor Mac begonnen hatte. In diesem Augenblick sah Gordon Brown seine Chance. „Los, rüber", zischte er. „Wir verschwinden dann sofort." Den spitz zulaufenden und scharf geschliffenen Dolch lockerte er ein wenig im Gürtel. Dann schlich er in das Kampfgetümmel und belauerte den Profos, der gerade einen hünenhaften Kerl zur Brust nahm. Die beiden rangen miteinander, und der Mann hatte sich wie ein Affe an Carberry geklammert. Frank Cooper wurde angerempelt, auch Gordon Brown kriegte ein paar leichte Püffe ab. Doch das störte ihn nicht, er sah nur Carberry vor sich. Jetzt oder nie, sagte er sich. Mit einem schnellen Blick schaute
46 er sich um, ob niemand etwas bemerkte. Aber die Kerle waren alle beschäftigt und schlugen sich gegenseitig die Klüsen dicht. Keiner achtete auf den anderen. Ein schmieriges und gemeines Grinsen lag auf seinen Lippen, als er seitlich an Carberry herantrat. Der hatte den Kerl gerade auf den Tisch gedrückt und holte aus. Gordon Brown riß das Messer in einer einzigen fließenden Bewegung heraus und wollte zustechen. Jack Finnegan wischte sich gerade über das Gesicht und blickte zur Seite. Er stand vier Yards entfernt und hatte soeben einen Hieb eingesteckt. Jetzt lag sein Gegner auf dem Boden, und da sah er das Messer, das sich fast in Carberrys Körper zu bohren schien. Er selbst konnte nichts mehr unternehmen, dazu war es zu spät. „Ed!" brüllte er mit aller Lungenkraft, die er hatte. Den Profos riß der Schrei ruckartig hoch. Rein instinktiv warf er sich zur Seite. Dann sah er Gordon Brown, der das Maul aufriß und ihn anstierte. „Na warte, du heimtückische Ratte!" rief Carberry. Sein rechtes Bein schnellte vor, das Messer flog in einem hohen Bogen durch die Luft und verschwand zwischen den Bänken. Gordon Brown schlug entsetzt zu, mitten hinein in das narbige Gesicht. Aber da war kein narbiges Gesicht mehr. Ganz überraschend war es weggetaucht. Er drehte sich angstvoll nach seinem Gegner um und spürte einen schmerzhaften Griff im Nakken. Carberry hatte ihn von der Seite her gepackt. Der Profos war mächtig
in Fahrt, denn er war nur ganz knapp dem tückisch geführten Messerstich entgangen, der ihn zweifellos das Leben gekostet hätte. „Bastarde, die von hinten mit Messern stechen, kann ich nicht ausstehen", zischte er. Dann schlug er zu, genau auf Gordons rechtes Auge. Das Veilchen blühte fast augenblicklich auf. Der Bastard taumelte zurück, aber da war noch immer die Hand Carberrys, die ihn eisern festhielt. Zum zweiten Mal flog sein Schädel in den Nacken. Gordon Brown raste vor Wut. Sterne explodierten vor seinen Augen, und in seinem Kopf arbeitete ein Hammerwerk, das ihn immer wieder durchschüttelte. Er trat um sich, schlug mit der Faust Löcher in die Luft und traf nicht. Dafür traf Carberry um so besser. Er walkte den Bastard durch, bis der nur noch ein wimmerndes Bündel war. Ein letzter harter Schlag wirbelte Gordon Brown um seine eigene Achse. Dann zischte er ab in Richtung Tresen, wo er bewußtlos zusammenbrach. Frank Cooper stahl sich davon. Er war kein Held, und als er sah, wie diese Kerle kämpften, wurde ihm schlecht vor Angst. Vor der Theke blieb er unschlüssig stehen und sah auf den zusammengeschlagenen Mann hinunter. „Nimm den Bastard nur mit", sagte Plymson grimmig, „sonst ziehe ich ihm auch noch kräftig eins über." In der Rechten schwang er zur Demonstration den Holzknüppel. Frank Cooper warf einen scheuen Blick in die Runde. Im hinteren Teil der Kneipe flogen immer noch die Fetzen. Bänke und Tische waren zu Bruch gegangen, Tonkrüge und Kum-
47 men lagen überall herum. Die Seewölfe hatten mächtig unter ihren Gegnern aufgeräumt. Überall lagen Kerle, die aus eigener Kraft nicht mehr laufen konnten. Er lud sich den Bastard auf die Schulter und schleppte ihn hinaus. Plymson hielt ihm höhnisch grinsend die Tür auf. „So eine kleine Abreibung tut bestimmt gut", sagte er hämisch. Cooper gab keine Antwort. Er hatte Angst, daß ihn bei einer Erwiderung Plymsons Knüppel noch traf. Er war erst dann erleichtert, als hinter ihm die Tür zufiel und der Kampfeslärm verebbte. In der Kneipe ging der gemütliche Teil inzwischen weiter. Viele waren es nicht mehr, die noch sicher auf den Beinen standen. Die Kerle waren an eine entfesselte Meute geraten, die ihr Handwerk verstand. Ein paar Gäste, die weder für die einen noch für die anderen Partei ergreifen wollten, verließen die Kneipe, ehe sie vielleicht aus Versehen auch noch etwas an die Ohren kriegten. Mac Pellew hatte mit seinem Prügel für die meiste Aufregung gesorgt. Wenn ihn einer der Kämpfer nur heranschleichen sah, dann ergriff er schleunigst die Flucht. Ein paar Kampfhähne standen mit zerfetzten Hosen da und hielten die Hände über dem Hosenboden gefaltet. Sie nahmen am aktiven Geschehen nicht mehr teil, sie waren restlos bedient. „Schluß jetzt!" brüllte Plymson, aber das hatte er am heutigen Abend schon mehr als zehnmal gebrüllt, ohne daß eine Reaktion erfolgte. Einmal kam auch der Anführer der Bande wieder zu sich. Er hockte auf den Knien und stierte aus blutunterlaufenen Augen in das Getümmel.
Er schüttelte sich und stand benommen auf. Dann tastete er nach seinem Messer und fand es nicht. Er hielt sich an der Theke fest, schüttelte immer noch den Schädel und sah dort ein langes Messer liegen. Als er danach greifen wollte, sah er auch noch einen langen Knüppel. Dieser Knüppel vollführte eine Bewegung durch die Luft und landete unerklärlicherweise auf seinem Schädel. Die Beine gaben unter ihm nach, und er sackte wieder zusammen. „Nicht mit mir", meinte Plymson, „meine Kneipe ist sowieso schon ein Trümmerhaufen." Im hinteren Teil der gewölbeartigen Kneipe bahnte sich das Ende an. Mac Pellew rannte brüllend einem Kerl nach, in dessen Augen entsetzliche Angst stand, als er den Eisendorn sah. Der Kerl lehnte sich hilfesuchend an die Wand und hob die Arme. „Neiiin, nicht!" kreischte er, als Mac mit dem Piekser herumfummelte. „Na, dann nicht", sagte Mac trokken und setzte ihm die Faust auf die Nase. Matt Davies wuchtete den letzten Kerl mit seinem Haken am Hosenbund hoch, drehte sich um und schleuderte ihn weg. Das Fenster zerbarst, ein Trümmerregen ergoß sich nach allen Seiten. Der Kerl riß den halben Fensterladen mit und landete bei Plymson auf dem Hinterhof. „Noch jemand?'' fragte Carberry drohend. „Wir haben noch Dampf drauf, ihr könnt euch ruhig melden." „Die haben genug, die Kanalratten", sagte Ferris Tucker. „Erst spukken sie große Töne, und jetzt haben sie die Hosen voll."
48 Das Ergebnis der Schlägerei war traurig genug. Das Gewölbe sah aus, als hätten die Vandalen gehaust. Tische und Bänke waren zu Bruch gegangen, überall lagen Scherben herum. Das Bierfaß war zersplittert. Unter den Tischen breiteten sich Weinund Bierlachen aus. Dazwischen lagen die Kerle mit dichtgehauenen Klüsen und zerbeulten Köpfen. Ein paar hatten sich ängstlich hinter die Pfeiler zurückgezogen und gaben keinen Mucks von sich. „Eine schöne Bescherung", jammerte Plymson. „Bis ich das alles wieder in Ordnung habe, vergehen drei Tage. Und das kostet natürlich", setzte er mit kläglicher Miene hinzu. „Eigentlich müßten die Rabauken das bezahlen, die den Stunk angefangen haben", sagte Gary Andrews. „Das wäre nicht mehr als recht und billig." „Von denen kriege ich keinen lausigen Copper. Die Halunken kommen auch ganz sicher nicht wieder. Ich weiß immer noch nicht, warum die Kerle plötzlich Streit angefangen haben." „Das ist mir auch nicht ganz klar", meinte Carberry. „Aber der Streit wurde regelrecht provoziert." Er griff in seine Tasche und holte ein paar Goldmünzen heraus, die Plymson schluckend anstarrte. Seine Blicke hingen wie festgeleimt daran. Der Profos gab sie ihm, und dann brachte er aus seiner Hosentasche noch die obligatorische Perle zum Vorschein - ein matt rosa schimmerndes Exemplar. „Die kriegst du noch dazu", sagte der Profos, „wegen der geheiligten Tradition, verstehst du? Wir wollen ja nicht, daß deine Pinte morgen geschlossen bleibt."
„Das langt, das langt!" rief Plymson verzückt, der auf Perlen ganz besonders scharf war. Nach jeder Demolierung seiner Spelunke hatten ihm die Arwenacks eine Perle gegeben. „Heißt das, ihr kommt morgen wieder?" fragte er hoffnungsvoll. „Schon möglich, aber nicht, um wieder die Pinte zu demolieren. Schließlich sind wir friedfertige und fromme Pilger." Plymson schenkte ihnen einen dankbaren Blick. „Da ist was dran", sagte er, „das seid ihr wirklich." Ferris sah zu, wie sich einer der lädierten Kerle erhob. Aber er konnte nicht laufen, und so robbte er auf allen vieren hinaus und jammerte dabei erbärmlich. Der Schiffszimmermann befühlte sein Kinn. Es war ein bißchen angeschwollen, aber das bedrückte ihn nicht weiter. Etwas anderes beschäftigte ihn viel mehr. „Wie bringen wir das nur dem Kapitän bei?" fragte er. „Hasard glaubt uns doch kein Wort." „Da müssen wir taktisch vorgehen", erklärte der Profos. „Wir verklaren ihm das natürlich erst morgen und erwähnen es nur ganz nebenbei. Immerhin haben ja die anderen angefangen. Der Sir muß es einfach glauben." Die Tür flog krachend auf. Die Arwenacks zuckten schuldbewußt zusammen und schluckten. Im Türrahmen standen zwei riesige schwarzhaarige Gestalten - Hasard und der Spanier Don Juan. Der Seewolf verschränkte die Arme über der Brust, trat langsam näher und sah sich um. „Ah, ein mittelschweres Erdbe-
49 ben", sagte er kühl. „Offenbar hat es nur die »Bloody Mary' betroffen. Am Hafen war davon nichts zu bemerken." Er ging auf Carberry zu und blickte ihn an. Der Profos hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und blickte zur Decke. „Hmm - ähem, wir wollten gerade gehen Sir", murmelte er kleinlaut. „Verstehe ich, es ist ja auch nichts mehr los", sagte Hasard sarkastisch. „Hast du mir sonst noch etwas zu sagen, Mister Carberry? Vielleicht über die gemütliche und anheimelnde Atmosphäre oder den Austausch lieblicher Erinnerungen?" Plymson ergriff Partei für die Arwenacks. „Sir", sagte er beschwörend. „Mister Carberry hat ganz sicher nichts damit zu tun, bei meinen Ahnen nicht! Eure Leute haben sich sogar beleidigen lassen und nichts getan. Das hat sogar mich erstaunt, Sir. Sie haben erst zurückgeschlagen, als Mac angegriffen wurde. Die Kerle haben sie mit Worten und üblen Ausdrükken beleidigt. Zu Mister Carberry hat einer narbiger Hurensohn gesagt, und Mister Tucker nannte einer einen rothaarigen Affen. Selbst das haben sie geschluckt, und sich erst gewehrt, als es handgreiflich wurde. Und bezahlt haben sie auch alles", fügte er leise hinzu. „Wenn das so ist", sagte Hasard, „sollten wir darauf noch einen trinken. Oder gibt es nichts mehr?" „Aber natürlich, Sir. Für meine Freunde gibt es immer was. Die Runde geht auf Kosten des Hauses." Hasard zeigte auf die zusammengedroschenen Kerle, die immer noch die rauhen Dielen bevölkerten.
Ein paar ächzten leise, manche lagen zusammengekrümmt da. „Werft die Kerle hinaus", sagte er, „damit es nicht wieder Streit gibt, und die Atmosphäre anheimelnder wirkt. Das Fenster ist offen, ihr braucht euch also nicht anzustrengen." Die Arwenacks ließen sich das nicht zweimal sagen und gingen mit Feuereifer zur Sache. Der Profos schnappte sich den nächstbesten Kerl und feuerte ihn durch das zersplitterte Fenster. Ein Aufschrei verriet, daß der Schläger unsaft gelandet war. Der nächste Kerl flog ihm ins Kreuz, und wieder war draußen Gebrüll zu hören. Innerhalb von zehn Minuten waren die Arwenacks allein. Der letzte Zecher war gegangen worden, auch er lag jetzt draußen im Hinterhof. „Na also", sagte Hasard. „Es geht doch nichts über einen gemütlichen Abend." „Und eine ruhige Atmosphäre", setzte Carberry hinzu. Draußen zogen fluchend lädierte Kerle ab. Sie waren restlos bedient. 8. Gordon Brown befand sich in einem Zustand der Raserei, als er wieder bei sich war. Sein Schädel dröhnte und schmerzte von den Schlägen, und seine Umgebung sah er nur durch einen schmalen Schlitz. Der Profos hatte ihm die Klüsen dichtgeschlagen und ihn ordentlich durchgewalkt. „Dieser Schweinehund", ächzte er mühsam, „dem steckte das Messer fast schon im Wanst, und dann mußte diese andere Ratte ihn warnen. Ich
50 bring den Kerl noch um, das schwöre ich dir, Frank. Wir gehen noch mal in die Kneipe zurück, und dann knall ich ihn ab." „Du bist ja bescheuert", sagte Cooper. „Wenn du vor jeder Menge Zeugen einen Mord begehst, dann baumelst du zwei Tage später." „Das laß ich nicht auf mir sitzen. Der Hund hat mich halbtot geschlagen, das zahle ich ihm heim." Mit Gordon Brown war nicht zu reden., Der jähzornige Kerl wollte sich um jeden Preis rächen. „Ich helfe dir ja dabei", sagte Cooper, „aber nicht auf diese Art. Das ist mir zu gefährlich. Wir erwischen ihn morgen bei der Mühle, und dann ist er erledigt." Das war Gordon Brown aber zu lange. Er wollte noch heute nacht etwas unternehmen. „Die sollen ihr Leben lang an mich denken", knirschte er. „Denen werde ich soviel Schaden zufügen, wie ich kann." Dann hatte er eine Idee, von der er nicht mehr abzubringen war. „Wir stecken das Schiff in Brand. Das wird ein toller Spaß für uns, und die anderen kriegen ihren Denkzettel. Die Galeone hat ganz sicher Silber und Gold geladen, ich kenne die Bastarde doch. Die haben einen Spanier gerupft. Wenn wir die anstecken, sind sie ihre Schätze los." Cooper fand die Idee auch grandios, aber sie ließ sich nur schwer in die Tat umsetzen, und das sagte er auch. „An die kommst du nicht ran, Gordon. Die Kerle bewachen ihr Schiff so, daß nicht mal eine Maus ungesehen an Bord gelangt. Die zerfleischen uns, noch bevor wir auf der Pier sind."
„Die werden es erst merken, wenn es zu spät ist. Aber dann steht ihr Kahn schon in hellen Flammen. Ein Freudenfeuerchen wird das." Gordon Brown rieb sich die Hände. „Wie willst du das anstellen?" „Ich habe noch Pulver- und Brandpfeile von damals, als ich auf dem Schiff war. Und einen schönen Flitzbogen habe ich auch. Ein paar Yards hinter der Pier steht ein alter leerer Schuppen, den wir ungesehen erreichen. Außerdem haben wir noch den Vorteil, daß es jetzt etwas neblig ist. Kein Mensch wird uns sehen. Wir schießen den Bastarden ein paar Pfeile in die Segel und an Deck und verschwinden. Aus der Ferne können wir dann zusehen, was passiert." Jetzt grinste auch Cooper. Das war doch mal ein toller Spaß! „Nicht schlecht. Wir gehen zu meiner Hütte und besorgen alles." Haßerfüllt schlich Gordon Brown durch die Nacht. Hin und wieder blieb er stehen und preßte die Hände an seinen Kopf, in dem es immer noch klopfte und hämmerte. Alle Knochen im Leib taten ihm weh. Er mußte das Kreuz beim Gehen durchdrücken. Etwas später waren sie in seiner vergammelten und dreckigen Hütte, wo Gordon unter Ächzen und Stöhnen die Utensilien hervorkramte. Er vergaß auch nicht, eine kleine Laterne mitzunehmen. Als sie die Hütte wieder verließen, hatten sie ein Dutzend Brand- und Pulverpfeile dabei und auch einen mittelgroßen Bogen. Alle beide grinsten, als sie zum Hafen schlichen. Es war mittlerweile zwei Uhr nachts, und kein Mensch war mehr unterwegs, bis auf den Nachtwächter, den sie aber nicht sahen.
51 Der Nebel war noch etwas dichter geworden, ließ aber trotzdem die Umrisse noch gut erkennen. In dem alten Schuppen gab es keine Tür mehr. Ein paar verfaulte Bretter und Unrat lagen herum. Eine Ratte floh mit einem leisen Pfeifen. Durch das eingeschlagene Fenster konnten sie die beiden Schiffe deutlich sehen. Die Galeone lag genau in ihrem unmittelbaren Blickfeld, die Schebecke etwas weiter links. „Das sind fast hundert Yards", raunte Cooper. „Meinst du, die Pfeile reichen so weit?" „Die fliegen noch viel weiter, das habe ich selbst ausprobiert." „Aber du siehst doch kaum was mit deinen Klüsen." „Ich seh noch genug", knurrte Brown.' „Ich seh sogar zwei verdammte Bastarde an Deck herumspazieren. Auf dem anderen Kahn latschen auch ein paar Kerle herum, statt zu pennen." Er hantierte mit Flintstein und Stahl herum und schlug Funken. Cooper deckte ihn dabei mit seinem Körper ab. Nach einer Weile brannte die Laterne. Gordon Brown legte alles sorgfältig bereit und schraubte den Docht niedriger. Die Flamme war so klein, daß sie von draußen nicht gesehen werden konnte. „Jetzt muß alles ganz schnell gehen", flüsterte er. „Ich baller die Pfeile ab, und dann verziehen wir uns. Wir laufen zum alten Friedhof und beobachten alles von dort aus. Den Kram lassen wir hier. Vielleicht brennt dann auch noch der Schuppen ab. Der Wind steht gerade so günstig, daß die Funken auf die Pier treiben." Ein paar Augenblicke beobachteten sie noch die schattenhaften Ge-
stalten auf den beiden Schiffen. Zwei schienen sich zu unterhalten, aber sie gingen ständig von vorn nach achtern und umgekehrt. Die Pfeile waren zurechtgelegt. Den Bogen hielt Gordon in den Fäusten. Cooper hielt die Pfeile an die Flamme und reichte sie weiter. Und dann ging es los. Der Bastard schoß mit satanischer Freude und einem gemeinen Lachen einen brennenden oder glimmenden Pfeil nach dem anderen ab. Die beiden ersten verfehlten ihr Ziel. Der dritte jagte in die Planken der Galeone, blieb stecken und fing an zu brennen. Der nächste flog in das aufgegeite Großsegel und platzte in einem Funkenregen auseinander. Bei jedem Schuß lachte der Bastard und konnte sich kaum beruhigen. Zwischendurch verfehlte mal ein Pfeil sein Ziel, und ein anderer jagte haarscharf am Kopf eines Mannes vorbei, der daraufhin entsetzt zur Seite sprang. Gordon Brown lachte wie ein Irrer, als er den letzten Pfeil verschossen hatte. „Los jetzt, wir hauen ab", sagte er. Den Bogen warf er in den Schuppen, den Docht der Lampe schraubte er ganz hoch und stellte sie schräg an die trockene Holzwand. Dann gaben die beiden Kerle Fersengeld und wollten sich unterwegs vor Lachen ausschütten. Als sie ungesehen den Friedhof erreichten, bezogen sie Lauerstellung und amüsierten sich weiter. Es scherte sie den Teufel, wenn ein paar Menschen ums Leben kamen.
52 Der Bastard wollte nur seine Rache. Dann hörten sie Hundegebell.
Auf der Galeone „Fidelidad" gingen Batuti und Big Old Shane, der Ex-Schmied von der Feste Arwenack, Wache. Sie hatten noch eine Stunde vor sich bis zur Ablösung. Es war etwas neblig und kühl. In Plymouth brannten keine Lichter mehr. Die braven Bürger schliefen um diese Zeit. Alles war still und ruhig, bis die Wolfshündin Plymmie plötzlich anschlug und mit ihrem durchdringenden Bellen die Stille der Nacht zerriß. Big Old Shane zuckte zusammen. Batuti blickte zur Schebecke hinüber, aber da waren nur die Wachen zu sehen. „Muß der Köter ausgerechnet jetzt so laut kläffen?" brummte er. Dann erhielt Plymmie Antwort, denn auch die Dorfköter legten los und stimmten kräftig in das Gebell ein. Etwas Feuriges raste durch die Dunkelheit und zischte über das Schiff weg. Irgendwo im Nebel zerbarst es funkenstiebend. „Ein Komet", sagte der Gambianeger. „Dann darf man sich etwas wünschen." Als der zweite „Komet" über ihre Köpfe raste, blickte Shane ungläubig hoch. „Wenn das Kometen sind, dann freß ich einen Amboß. Verdammt, das sind Brandpfeile, Batuti. Purr die Männer hoch!" Batuti reagierte augenblicklich, als das nächste Lichtpünktchen heranflog. Es wurde immer größer und bohrte sich in die Planken. Sofort breitete sich eine Flamme aus.
Big Old Shane stürzte auf das flakkernde Ding zu und trampelte mit den Stiefeln darauf herum, bis es knirschend erlosch. Er hatte nicht einmal Zeit, sich umzublicken, um festzustellen, wer sie da mit Brandpfeilen attackierte, denn schon wieder jagte ein Lichtblitz heran und schlug in das Großsegel. Batuti riß das Schott auf und brüllte nur ein einziges Wort in den finsteren Raum. „Feuer!" Der Schreckensruf, einer der gefürchtetsten auf einem Schiff, brachte die schlaftrunkenen Mannen schlagartig aus den Kojen. Flüche wurden laut. Jeder glaubte, das Feuer bereits riechen zu können. Es herrschte jedoch keine Wuhling, als die Arwenacks an Deck stürmten. Auf der Schebecke hatten die anderen Seewölfe ebenfalls erkannt, welche Katastrophe sich auf der Galeone anzubahnen schien. Auch dort wurden die Männer hochgepurrt und erschienen sofort an Deck." „Pützen mitnehmen!" rief Hasard, als er sich einen schnellen Überblick verschafft hatte. „Hinüber zur Galeone! Beeilt euch!" Die Arwenacks stürmten los, bewaffnet mit Schwabberdweis, Pützen und nassen Tüchern. Es sah aus, als wollten sie die Galeone entern. Bob Grey und Finnegan waren bereits in die Wanten geentert, wo das aufgetuchte Großsegel Feuer fing. Mit nassen Lappen und einer Pütz Wasser gelang es ihnen, die glimmenden Lieken zu löschen. Sie keuchten und schwitzten sich die Seele aus dem Leib. Mittlerweile waren noch mehr
54 Brandpfeile auf der Galeone einge- standen. Zuerst war es nur ein zukschlagen. Einer qualmte im Fock- kender Schein, danach schlug eine mast, ein weiterer stand in hellen lange Flamme aus dem zerbrochenen Flammen und hatte sich ins Schanz- Fenster, und dann lohte das trockene kleid gefressen. Auch auf der Back Holz auf und begann knisternd und begann es bereits zu kokeln und zu fauchend zu glühen. In Plymouth waren die braven Bürglimmen. Hasard sah sich wild um. Ein ger hochgeschreckt worden. Ein paar Brandpfeil war nur ganz dicht an Mutige stürmten zum Hafen, um dem Kutscher vorbeigezischt, der nachzusehen. Ein paar ängstliche Bürger verrammelten die Fensterläentsetzt zur Seite sprang. Der Seewolf blickte zum Land hin den und zogen sich die Bettdecke und versuchte, die Dunkelheit und über die Ohren, um das Gebrüll und den dunstigen Nebel zu durchdrin- Geschrei nicht mitanhören zu müsgen. Er wollte feststellen, aus welcher sen. Aber viele hatten sich bereits am Richtung die brennenden Pfeile abge- Hafen versammelt, auch der Hafenfeuert wurden, aber die Richtung ließ meister. Der blitzschnelle Einsatz der Arwesich nicht mehr bestimmen. Der heimtückische Beschuß hatte so nacks hatte jedenfalls verhindert, plötzlich aufgehört, wie er begonnen daß die Galeone Feuer fing. Es qualmte noch ein bißchen an Deck, hatte. Er glaubte jedoch Licht in einem aber das ausbrechende Feuer war hingeduckten Schuppen zu sehen, der mittlerweile gelöscht worden. „Da haben wir ja noch einmal baufällig etwa hundert Yards entfernt am Hafen stand. In dem Schup- Glück gehabt", sagte Hasard erleichpen flackerte Licht, das sah er jetzt tert. „Viel hätte wahrhaftig nicht ganz deutlich, aber irgendwelche mehr gefehlt." Schatten waren nicht zu erkennen. Der Hafenmensch kam mit ungläuEr rief seine beiden Söhne zu sich, bigem Gesicht an Bord. An Land bedenen Plymmie folgte. mühten sich ein paar Leute, den „Versucht mal, ob ihr etwas heraus- Schuppen zu löschen, doch es war finden könnt. Wir sind von dem aussichtslos. Er brannte wie Zunder, Schuppen aus unter Feuer genom- und nach allen Seiten stoben die Funmen worden. Irgendwo stecken da ein ken. paar Kerle. Laßt Plymmie los, viel„Was ist denn passiert?" erkunleicht findet sie eine Spur." digte sich Tamper. Die Zwillinge verschwanden wie „Jemand hat uns mit Brandpfeilen der Blitz von Bord und rasten in lan- beschossen. Und dieser Jemand ist gen Sprüngen zu dem Schuppen hin- spurlos verschwunden." über, in dem das Licht immer heller Der Seewolf hustete, weil ihm zu flackern begann. Rauch in die Lunge drang. Von irgendwelchen Kerlen fand „Das ist ja unglaublich", empörte sich jedoch keine Spur. Plymmie sich der Hafenmensch. „Hier in Plykonnte keine aufnehmen. mouth gibt es zwar ein paar HalunAber der Schuppen brannte jetzt ken, aber das traue ich selbst denen von innen heraus, als sie dicht davor nicht zu. Wer kann das nur gewesen
55 sein, und was wollte er damit bezwek- men. Aber das wird sich noch herausken?" stellen." „Er wollte uns Schaden zufügen, Als der Hafenmeister, Dan und Ed und zwar einen ganz erheblichen. Der loszogen, wurden die Planken auf der Halunke nahm auch in Kauf, Leute Galeone gründlich gewässert, weil dabei zu verbrennen." immer noch Funken durch die Ge„Das verstehe ich nicht", sagte der gend flogen und die Gefahr bestand, Hafenmensch. daß sie sich irgendwo im Holz einniCarberry näherte sich ihnen. Er sten konnten. Vom Schuppen wehte wischte sich ein paar Rußflocken aus glühende Asche herüber, aber das dem Gesicht, verschmierte aber alles Feuer erstarb immer mehr, als die nur noch mehr. Mit seinen weißen Flammen keine Nahrung mehr fanAugen sah er im flackernden Licht den. der Laternen wie der Satan selbst Die Bürger standen da und glotzaus. ten. Für sie war das eine Sensation „Ich verstehe das schon", sagte er, ersten Ranges. Viele hatten nur lange „oder ich glaube es jedenfalls zu ver- wallende Nachthemden an und Panstehen. Gordon Brown steckt wahr- toffeln an den Füßen. scheinlich dahinter. Der Kerl wollte Es dauerte nicht lange, bis die drei mich heute abend erstechen, hinter- vor der Hütte standen. Der Profos rücks, versteht sich, weil er zu feige lauschte, aber da war kein Schnarist. Er hat schon seit unserer Ankunft chen zu hören. Er blickte den Hafeneinen Piek auf mich, den ich mir nicht meister fragend an, und der nickte zuerklären kann. Ich bin ganz sicher, stimmend. daß es diese lausige Ratte war." Der Profos holte mit seinem Torf„Der Bastard", murmelte Tamper. kahn von Stiefel aus und trat voller „So nennen sie ihn. Hm, aber was hat Wucht gegen die Tür. Sie flog aus den ihn dazu bewogen?" Angeln und landete in dem dunklen „Weiß ich nicht", sagte Carberry Raum. biestig. „Nachdem ihm der Mord Im schwachen Mondlicht erkannnicht gelungen ist, habe ich ihm kräf- ten sie umherliegende Gegenstände. tig was aufs Maul gegeben für seine Alles wirkte dreckig. Aufgeräumt Hinterhältigkeit. Vielleicht hat ihn hatte Gordon Brown jedenfalls nie. das geärgert. Ich kenne den Kerl nur Auch die Koje war leer. Nur eine vom Sehen." durchlöcherte, schmutzige und übel„Dann sollten wir ihn einmal besu- riechende Decke lag darin. chen", schlug Tamper vor, „und ihn „Ausgeflogen", sagte der Hafenein bißchen in die Mangel nehmen. meister. „Der Bastard hat sich aus Der Bastard haust in einer Hütte dem Staub gemacht. Scheint wohl ein beim alten Hafen." sehr schlechtes Gewissen zu haben." „Einverstanden, das überlasse ich Dan O'Flynn bückte sich und hob dir, Ed", sagte Hasard. „Dan kann einen länglichen Gegenstand auf. noch mitgehen. Ich habe so das Ge„Sieh an, ein Pfeil", sagte er. „Gefühl einer Ahnung. Offenbar hängt nauer gesagt, ein Pulverpfeil. da etwas mit jenem gewissen Gordon Glaubst du noch an Zufälle, Ed?" Brown auf der ,Marygold' zusam„Jetzt ganz bestimmt nicht mehr.
56 Klar, das war der Bastard. Hat wohl in der Dunkelheit beim Zusammenraffen einen Pfeil verloren. Wo kann der Halunke jetzt stecken?" Der Hafenmeister konnte es nicht mal vermuten. Aber er nahm den Pfeil als Beweisstück an sich und versprach, dem Bastard die Hölle vorzuheizen, wenn er ihn erwischte. Die Tür ließen sie offen, damit der Raum endlich mal durchlüftet wurde. Zu klauen gab es bei dem Bastard ohnehin nichts. Sie kehrten wieder an Bord zurück, wo sich die Aufregung langsam zu legen begann. Die ersten Gaffer verschwanden ebenfalls, als es nichts mehr zu sehen gab. 9. Gegen Mittag des anderen Tages waren alle Brandspuren beseitigt und ein neues Segel angeschlagen worden. Carberry entsann sich der Sängerin, die ihn am Markt erwartete, und die wollte er sich nicht entgehen lassen. Mac Pellew, der etwas gerochen hatte, wollte ihn unbedingt begleiten, doch Carberry hatte tausend miese Ausreden und faselte schließlich davon, daß er einsame Überlegungen anstellen wolle, und da könne er niemanden brauchen, sonst seien die Überlegungen ja nicht mehr einsam und so. „Du hast doch was vor", bohrte Mac. „Du gehst doch sonst nicht allein fort." „Sonst ist ja auch nicht heute." „Du hast mit der Sängerin geflüstert. Triffst du dich mit ihr?" „Hau jetzt endlich ab, du lüsterner
Plattfisch", schnaubte Carberry. „Und wenn dir einfallen sollte, mir nachzuspionieren, dann falte ich dich achtmal zusammen und stopfe dich in die nächste Mülltonne." Der Profos meldete sich natürlich ab. Zu einem kleinen einsamen Bummel durch Plymouth, wie er sagte. Dabei starrte er so unschuldig in den Himmel, daß Hasard gleich wußte, was die Glocken läuteten. Aber das war nicht seine Sache. Ed konnte gehen, wohin er wollte. Der Profos stiefelte los, hatte sich sein bestes Hemd angezogen und sein glatt rasiertes Gesicht mit jenem Duftwässerchen beträufelt, das ihm Mac Pellew kürzlich geschenkt hatte. „Er duftet wie ein Misthaufen, auf dem Veilchen wachsen", behauptete Smoky, als der Profos in einer Wolke aus Jasminblütenduft entschwand. Hin und wieder blieb er stehen, um die Lage zu peilen, und er sah auch, daß sie ihm nachstarrten, ganz besonders Mac. Aber niemand ging ihm hinterher, wie er feststellte. Bis zum Marktplatz war es nicht weit. Das Gewimmel hatte um die Mittagszeit ebenfalls nachgelassen. Er fand Jenny auf Anhieb und verschluckte sich fast, als er sie sah. Sie sah noch hübscher und feuriger aus als gestern in der dämmerigen Kneipe. Der Profos raspelte ein wenig Süßholz, und dann gingen sie durch Plymouth. Eine knappe Stunde lang schlenderten sie herum. Die Märzsonne war schon recht mild, am Himmel standen nur wenige Wolken. „Wo gehen wir denn hin?" fragte Carberry, der von seinem kurzen Abenteuer noch nichts wußte. Sie
57 hatten die letzten Häuser von Plymouth bereits hinter sich gelassen. „Wir können zu der alten Windmühle gehen", sagte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln. „Dort sind wir allein, und niemand verirrt sich dorthin. Willst du?" Und ob der Profos wollte! „Alte Windmühlen haben mich schon immer interessiert", sagte er grinsend. „Ich bin richtig verrückt nach alten Mühlen." Die Sängerin wußte nicht, was Gordon Brown plante. Es soll nur ein kleiner Scherz für unseren Freund sein, hatte er gesagt. Die Häuser waren verschwunden. Jetzt gab es nur noch Felder, Wiesen, Brachland und Hecken. Die Windmühle war uralt und schon seit Ewigkeit nicht mehr in Betrieb. Auch die Flügel waren teilweise verrottet und hatten sich seit langem nicht mehr gedreht. Wenn der Wind über die Mühle strich, dann knarrte und ächzte sie, und es klang wie ein Seufzer der Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Carberry blickte einmal über die Schulter zurück. Von hier aus sah man den Hafen und hatte einen Blick bis weit über das Meer. Kein Mensch war weit und breit zu sehen, als sie dicht vor der Mühle standen. Die Tür hing schief in den Angeln. Die kleinen Fenster waren blind von Staub und Dreck, und zwei fehlten gänzlich. „Ich gehe erst einmal hinein, um nachzusehen", sagte Carberry. „Manchmal übernachten in den alten Mühlen Landstreicher und Herumtreiber. Warte hier, ich bin gleich wieder zurück." Er stieß die Tür auf, die sich knarrend in den rostigen Angeln bewegte.
Dann spähte er hinein und sah sich suchend um. Er starrte in einen dämmerigen, muffig riechenden Raum, auf dessen altem Dielenboden Bretter und alte hölzerne Zahnräder lagen. Er mußte sich zwischen schweren Eichenbalken hindurchtasten, bis sich seine Augen langsam an das Dämmerlicht gewöhnten. Neben ihm knarrten die Dielen, als trete jemand schwer auf. Carberry fuhr herum, denn er glaubte einen Schatten zu sehen. Im selben Augenblick krachte etwas auf seinen Schädel. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, einer der Eichenbalken sei auf ihn gefallen. Er versuchte noch, sich herumzuwerfen, doch dann wurde es pechschwarz um ihn herum, und er versank in einem Abgrund der Finsternis. Schwer schlug sein Körper auf dem Boden auf. Gordon Brown keuchte und ließ den schweren Holzprügel sinken. Dann sah er triumphierend auf den gefällten Mann hinunter. „Sag der Tante, sie kann jetzt abhauen, Frank. Es ist alles in Ordnung, alles bestens." Frank Cooper trat grinsend hinaus ins Sonnenlicht. Jenny O'Hara stand da und sah ihn aus großen Augen an. „Ist etwas passiert?" fragte sie. „Ich hatte so ein merkwürdiges Gefühl, als s e i . . . " „Nein, nein", sagte Frank Cooper lächelnd. „Es hat alles bestens geklappt, wie vereinbart. Du kannst wieder zurückgehen. Es ist nur eine Geburtstagsüberraschung für unseren Kumpel. Allein wäre er doch
58 nicht hergekommen, du kannst ganz beruhigt sein." Sie zögerte noch ein wenig, doch dann drehte sie sich um und ging wieder zurück. Einmal blieb sie noch stehen, als sei sie unschlüssig. Doch als sie Cooper immer noch grinsend vor der Mühle stehen sah, ging sie langsam weiter. Cooper trat händereibend in die Mühle zurück.
Carberry befand sich in einer Welt, die nur aus Dröhnen, Klopfen und Hämmern bestand. Dazwischen kreischte wild eine rostige Säge. Er versuchte sich aufzurichten, denn da war etwas, das ihm ständig hart ins Gesicht fuhr und seinen Kopf von einer Seite zur anderen warf. Er öffnete die Augen und blinzelte. Ein greller Schmerz durchfuhr seinen Kopf, rote Kreise wirbelten um ihn herum und entfernten sich rasend schnell. Er vernahm ein meckerndes Gelächter und wieder diese Schläge. Dann sah er undeutlich einen Schatten, der ihm ins Gesicht schlug. Carberry wollte trotz der rasenden Schmerzen mit einem Satz hoch. Es ging nicht, er konnte sich kaum bewegen und auch den Schlägen nicht ausweichen. „Jetzt hab' ich dich, du Hund!" hörte er eine haßerfüllte Stimme. „Du bist mir immer durch die Lappen gegangen, aber diesmal nicht. Bevor du zur Hölle fährst, wirst du noch hier die Hölle erleben." Gordon Brown stand wie eine Ausgeburt der Hölle vor ihm und feixte widerlich. Carberry sah ihn immer deutlicher
und auch den anderen Kerl, der an einem Balken lümmelte. „Dieses verdammte Weib", ächzte der Profos. „Die falsche Schlange hat mich hergelockt." „Irrtum!" Brown kicherte. „Sie weiß nicht, was ich mit dir vorhabe. Sie hielt das für einen Scherz." Bei Carberry war das linke Auge geschwollen, und etwas Blut war ihm über die Stirn bis ans Augenlid gelaufen. In seinem Schädel lieferten sich immer noch ganze Armeen gewaltige Schlachten. Die Kerle hatten ihn an einen soliden Eichenbalken gefesselt. Auch um seinen Hals lief eine dicke Schnur. Er hockte auf dem Boden und konnte sich nicht rühren. Die Hände hatte ihm Brown hinter dem Eichenbalken zusammengebunden. „Was willst du Dreckskerl von mir?" fauchte Carberry. „Offenbar verwechselst du mich mit jemandem." „Du kennst mich ganz genau. Ich bin Gordon Brown, der Mann, den du damals auf der ,Marygold' gehängt hast." „Du hast ja nicht alle Tassen beisammen!" „Hast du Gordon Brown gehängt, oder nicht? Ich muß es doch wissen." „Ja, er wurde gehängt. Aber das war ein anderer." Der Profos war sich jetzt fast selbst im Zweifel, denn das schmierige Gesicht des Kerls war unverkennbar. „Das war ich!" kreischte Gordon Brown. „Ich! Ich! Ich! Mich hast du Bastard gehängt, aber es ist dir nicht gelungen. Ich war nicht tot. Ich kam wieder zu mir, als ich über Bord geworfen wurde. Und dann bin ich geschwommen und geschwommen, bis ich nicht mehr konnte. Als ich endlich Land erreichte, habe ich geschworen,
59 dich umzubringen, und wenn es hundert Jahre dauern sollte. Heute ist die Zeit um, und du wirst noch viel elender krepieren, als ich damals krepiert wäre." Carberry schluckte, sah wieder in das Gesicht und starrte auf die schmierigen Haare, die schwarzverfärbten Zähne. Es schien wahrhaftig derselbe Bastard zu sein. Er überlegte, ob so etwas möglich war. Vielleicht passierte das alle hundert Jahre einmal, daß einer nicht tot war, wenn man ihm den Hals langgezogen hatte. Ganz ausgeschlossen war es nicht, obwohl er sich das immer noch nicht vorstellen konnte. Brown nahm die Laterne, schraubte den Docht höher und hielt sie Carberry so dicht vor das Gesicht, bis ihm die Augen tränten und erneut ein heißer Schmerz durch seinen Kopf schoß. Brown schlug ihm hart ins Gesicht. „Bastard!" schrie er. „Dreckiger Hund! Du wirst für alles büßen!" Er stellte die Laterne zwischen Carberrys Beine und riß sich das schmierige Hemd am Hals auf. „Hier!" keifte er. „Hier hast du mir den Strick um den Hals gelegt, du Schweinehund! Sieh genau hin!" Er nahm das Messer und schob es Carberry unters Kinn. Dann drückte er langsam zu, bis auf Carberrys Haut ein Blutstropfen erschien. Der Profos schluckte hart und starrte Gordon Brown ungläubig an. Um seinen Hals lief, deutlich erkennbar, eine rote Narbe, ein Würgemal, wie es nur von einer Hanf schlinge stammen konnte. Dunkelrot und vernarbt war die Stelle, und sie lief um seinen ganzen Hals herum. Im Hintergrund kicherte Frank Cooper.
„Die Toten sind wieder auferstanden, Mister Carberry, und sie werden ihre Rache nehmen." Carberry schüttelte es. Es war nicht der Schmerz oder die Angst. Es war etwas, das für ihn nicht greifbar war, etwas, das schon länger als zwanzig Jahre zurücklag. Sie hatten Brown, nachdem er eine knappe halbe Stunde an der Rah gehangen hatte, in einen groben Leinensack genäht, ihn mit ein paar Stichen versehen und dann der See übergeben. Und trotzdem lebte dieser Bastard. Das war unvorstellbar und überstieg Carberrys Begriffsvermögen. „Na, glaubst du es jetzt?" Carberry versuchte den Kopf zu schütteln, doch es ging nur sehr schwer. „Das kann nicht sein", sagte er heiser und starrte weiterhin auf das fürchterliche Würgemal. „Es ist aber so." Brown nahm wieder die Lampe und hielt sie unter sein Gesicht, bis Carberrys Haare sich kräuselten und versengten. Der Schmerz wurde unerträglich. „Du wirst noch mehr Feuer kennenlernen", sagte Brown gehässig. „Ich werde dich ein Weilchen hier schmoren lassen, bis du deine Schandtat von damals bereust und um Vergebung flehst. Dann werde ich die alte Mühle anstecken und dich schön langsam rösten. Was glaubst du, wie die Flammen an dir nagen und fressen? Du kannst hier nicht mehr heraus, du Hund. Es ist dein letzter Tag auf Erden, und Gordon Brown wird über dich triumphieren. Er lebt dann noch, aber du bist tot, verkohlt, verbrannt bis zur Unkenntlichkeit." Carberry hörte gar nicht hin, was der schmierige Kerl in seinem wilden
60 Haß alles sagte. Er sann über damals nach und versuchte sich auf den Augenblick auf der „Marygold" zu konzentrieren. Brown schlug ihm wütend ins Gesicht. „Hörst du überhaupt zu, du Halunke?" kreischte er. „Du wirst jetzt um Vergebung flehen, bevor du zur Hölle fährst, oder ich werde dich dazu zwingen." „Darauf kannst du lange warten, Gordon Brown. Den Tag wirst du ganz sicher nicht erleben, Bastard. Du sagtest, du wärst damals geschwommen und geschwommen, bis du nicht mehr konntest. Dein Kadaver steckte aber in einer Leinenhülle, das weiß ich genau." „Sie ist unter Wasser aus den Nähten geplatzt, weil es noch Gerechtigkeit gibt. Ich konnte mich befreien, aber dabei bin ich fast ersoffen. Und dann die Todesangst, die ich ausgestanden habe!" Der Profos war mit seinen Überlegungen fertig. Auf seinem zernarbten Gesicht erschien ein dünnes, verächtliches Grinsen. „Du magst Gordon Brown sein", sagte er bedächtig, „aber nicht jener, der damals an, der Großrah zappelte. Das war entweder ein Vetter von dir oder dein Vater. Ich tippe auf deinen Alten. So muß es gewesen sein. Du hast davon erfahren und spielst mir Theater vor, um mich zusätzlich mit den wiederauferstandenen Toten einzuschüchtern. Das haut aber nicht hin, Bastard." In Browns Gesicht ging eine Veränderung vor. Es wurde kalkweiß. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Er holte aus und trat dem Profos mit dem Stiefel hart in die Seite.
„Woher willst du das wissen?" kreischte er voller Haß. „Gordon Brown konnte nicht schwimmen", sagte Carberry. „Jeder an Bord wußte das. Er schaffte nicht einmal zwei Yards, ohne abzusaufen. Außerdem gab es an jener Stelle weit und breit kein Land. Deshalb ist das alles erstunken und erlogen. Ich wette, daß du mir nicht mal den Namen des Segelmachers nennen kannst." Das konnte Brown auch nicht, und so trat er erneut nach dem Profos der Seewölfe. „Ja, es war mein Vater", sagte er nach einer Weile. „Mein lieber, guter Vater, den du ermordest hast. Du hast ihn mir genommen, als ich noch ein Kind war. Aber das ist genauso schlimm, als hättest du mich umgebracht." „Dein Alter war ein Bastard", sagte Carberry kalt, „und deine Mutter wahrscheinlich eine versoffene Hafenhure. Ob du das akzeptierst oder nicht, ist mir egal. Dein Alter war ein gemeiner, hinterhältiger und verräterischer Hund, der das Leben unschuldiger Männer aufs Spiel setzte, um ein paar Goldstücke zu kassieren. Als Drake das Todesurteil über ihn sprach, war das nur gerecht, und kein Mann an Bord hatte dagegen etwas einzuwenden." Gordon Brown war außer sich. Er griff nach dem Knüppel und schlug in wilder Wut auf Carberry ein, bis der bewußtlos in seinen Fesseln zusammensackte. „Jetzt warten wir, bis er wieder zu sich kommt, und dann stecken wir die Mühle in Brand!" rief der Bastard in wilder Wut. „Ich will hören, wie er um Hilfe winselt."
61 10. Als Carberry am späten Abend noch nicht zurück war, begann sich Hasard zu sorgen, denn niemand hatte ihn gesehen. Er schien wie vom Erdboden verschluckt und tauchte auch in Plymsons Kneipe nicht auf. Am anderen Morgen war er immer noch nicht von seinem Landgang zurück. Jetzt wußte jeder, daß etwas nicht stimmte, denn es entsprach nicht Carberrys Art, so lange wegzubleiben. „Es muß mit diesem Gordon Brown zusammenhängen", sagte Mac Pellew, „oder mit der Sängerin, mit der er immer geschäkert hat. Wahrscheinlich hat er sich mit der verabredet, denn er tat ja sehr geheimnisvoll und wollte keinen dabei haben." „Dann suchen wir Gordon Brown und die Sängerin", entschied Hasard, „und wir krempeln ganz Plymouth um, bis wir ihn gefunden haben." Die Arwenacks schwärmten in Zweiergruppen aus und durchkämmten sämtliche Spelunken. Der Hafenmeister unterstützte sie dabei. Aber in keiner Pinte wurden sie fündig. Sie fanden keine Spur von Gordon Brown und erfuhren lediglich von Plymson, daß die Sängerin mit ihren beiden Musikanten weitergezogen wäre. Wohin sie wollten, wußte auch Plymson nicht. Carberry sei jedenfalls nicht dabei gewesen, das wisse er ganz genau. Hasard war so ratlos wie selten zuvor. Es stand lediglich fest, daß Gordon Brown spurlos verschwunden war. Auch von seinem Kumpan Frank Cooper fehlte jede Spur. Offenbar hing da doch etwas mit Carberry zusammen. So suchten sie weiter und durch-
kämmten Plymouth erneut von einem Ende zum anderen. Fehlanzeige! Der Profos schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Stimmung bei den Arwenacks sank auf den Nullpunkt.
Carberry war wieder bei Bewußtsein und nahm auch seine Umgebung einigermaßen wahr. Er sah alles wie durch einen trüben Schleier, hörte Geräusche in der alten Mühle und die Kerle miteinander reden. Es mußte immer noch - oder schon wieder - Tag sein, denn durch die Fenster fiel mattes dämmriges Licht. Brown hatte ihn übel zugerichtet. Sein Kopf schien zerplatzen zu wollen, seine Haare waren versengt, und der Schmerz schoß ihm intervallartig durch alle Glieder. Er hatte Durst, brennenden Durst, der in seiner Kehle hochstieg und seinen Gaumen austrocknete. Dann sah er Gordon Brown. Er hockte sich vor ihn auf den Boden und goß sich Wasser aus einem Krug in einen Becher. Er trank schlürfend und schüttete den Rest auf den Boden. „Durst?" fragte er höhnisch. Carberry wußte, daß der Kerl nicht die Absicht hatte, ihm auch nur einen einzigen Tropfen Wasser zu geben. „Hau ab, du Stinktier", sagte er mühsam. Der Bastard schlug mit dem Handrücken zu, immer und immer wieder, bis Carberrys Kopf von einer Seite zur anderen pendelte. „Deine Kerle suchen nach dir", sagte Brown höhnisch. „Sie haben schon alle Kneipen durch, aber sie werden dich nicht finden. Ihr Ba-
62 starde habt gestern das Feuer gelöscht, aber diesmal werdet ihr es nicht löschen. Das Holz hier brennt wie Zunder. Wird langsam Zeit, daß wir dich ein bißchen rösten. Erzähl mir was von meinem Vater, erzähl mir, was er für ein Kerl war, los!" Carberry spie einen Blutstrahl aus. „Er war eine Ratte wie du, das habe ich dir schon mal gesagt. Und daran wird sich bis in alle Ewigkeit nichts ändern." Gordon sprang auf und bearbeitete den Profos erneut voller Wut. „Du kannst ihm keinen Glorienschein mehr verpassen, Bastard", sagte Carberry verächtlich, „und wenn du mich totprügelst. Er hat nie einen Glorienschein gehabt." Gordon Brown ging zur Tür und sah hinaus. Niemand war in der Nähe. Alles blieb still und ruhig. „Jetzt bereiten wir alles für deine Höllenfahrt vor", sagte Brown. „Das Holz ist uralt und knochentrocken. Ich werde bis zum letzten Augenblick bei dir sein, und du wirst um dein erbärmliches Leben winseln wie ein Köter." Er nahm eine weitere Laterne und vergoß ihren Inhalt über den rauhen Dielen. Er tat es sehr langsam und grinsend. Eine andere brennende Laterne hing an einem Eichenbalken. „Denk an meinen Vater, wenn du zur Hölle fährst!" keifte er. „Du wirst noch viel mehr zappeln!" Carberry sah mit Entsetzen, wie der verrückte Gordon Brown die andere Laterne holte und das Öl entzündete. Seine Hände zitterten, und fast wäre ihm die Lampe aus den Fingern gerutscht. Dazu kicherte er wie ein Idiot. Eine kleine Flamme zuckte auf. Sie
wurde rasch größer und lief in einer Schlangenlinie über die Dielen. Das Holz war wirklich knochentrocken, und das anfangs kleine Feuer griff in rasender Eile um sich. Es begann bereits, sehr heiß zu werden. Die beiden Kerle näherten sich der halboffenen Tür. Der leichte Luftzug fachte die Flammen noch schneller an. Dort blieb Gordon Brown stehen und sah den Profos an, auf den die höllischen Flammen jetzt zuliefen. Ein wildes Fauchen raste durch die Windmühle. Knattern und Prasseln waren zu hören. Carberry wand sich in seinen Fesseln und wußte doch, daß er keine Chance hatte, dem Feuer zu entkommen. Und Brown stand am Eingang, lachte und lachte, bis ihm die Tränen über das schmierige Gesicht liefen. „He, Bastard!" kreischte er und rückte ein paar Schritte näher. „Jetzt beginnt die Höllenfahrt durchs Fegefeuer. Ist das nicht schön?" Er zerrte Frank Cooper am Arm heran und stieß ihn mit wahnsinnig funkelnden Augen auf den Profos zu, der bereits vom Rauch eingehüllt wurde und zu husten begann. „Sieh ihn dir an!" schrie er gellend. „Sieh nur, wie er sich windet!" „Bist du verrückt?" schrie Cooper. „Laß mich los, ich will hier raus!" Er riß sich los und stolperte. Vom oberen Boden löste sich ein brennender kleiner Balken und krachte ihm auf den Schädel. Völlig benommen und wild schreiend taumelte er ins Freie. Seine Klamotten hatten Feuer gefangen, und er wälzte sich brüllend auf dem Boden. Dann kroch er auf allen vieren weiter. Gordon Brown wich vor der ent-
63 setzlichen Hitze zurück, und dann sah er etwas, das ihn vor Angst fast wahnsinnig werden ließ. In Rauch und Feuer gehüllt, halb versengt und schwarz am ganzen Körper, spannte der Profos seine gewaltigen Muskeln zu einer allerletzten Anstrengung. Die Todesangst verlieh ihm Riesenkräfte. Sein Gesicht lief blaurot an, der mächtige Brustkasten drohte zu platzen. Dann sprengte er die Fesseln. Die Leine zerplatzte mit einem leisen Knall. Ein Urmensch mit zuckenden Reflexen tobte durch die Mühle. Er hieb mit wilden Schlägen um sich und trieb einen gewaltigen Funkenregen vor sich her. Die Gestalt war immer noch in Rauch und Feuer gehüllt. Dicht vor dem Ausgang brach Carberry zusammen. Er konnte das Inferno nur noch auf Knien und Ellenbogen verlassen. Brown rannte ein paar Schritte, blieb dann zögernd stehen, sah sich wild um und griff nach seinem Messer. Er nahm es in die Hand und schlich auf Carberry zu, der sich immer noch kriechend über den Boden bewegte. „Du entgehst mir nicht", keuchte Brown. „Du bist auch nur ein sterblicher Mensch." Mit einem wilden Aufschrei hob er das Messer. Mörderischer Haß glühte und funkelte in seinen Augen. Eine Faust, härter als ein Schraubstock, packte seinen Knöchel und riß ihn blitzartig von den Füßen, noch bevor er zugestochen hatte. Gordon Brown schrie wie ein Wahnsinniger, als sich die rußgeschwärzte und keuchende Gestalt über ihn wälzte und ihn unter dem Gewicht fast erdrückte.
Dann blitzte ein Messer auf - sein eigenes, wie er im letzten Augenblick seines Lebens noch erkannte. Das Aufblitzen war das letzte, was er sah. Dann spürte er nur noch einen kurzen Schmerz und vernahm einen Knall, als explodiere die alte Mühle. Den Mann, der erschöpft neben ihm zusammensackte, sah er nicht mehr. Der Bastard war seinen letzten Weg gegangen.
Etwas später halfen sie Carberry auf die Beine. Die Arwenacks waren da, der Hafenmeister und etliche andere. Das Feuer hatte sie hergelockt, und dann hatten sie das Drama gesehen. Gordon Brown war tot. Frank Cooper war so schwer verletzt, daß der Kutscher nur mit den Schultern zuckte, als er ihn sah. „Der ist halb verbrannt", sagte er, „da ist nichts mehr zu tun." Carberry sah aus wie der Höllenfürst persönlich. Er hustete und würgte und brachte kaum einen Ton hervor. Seine Haare waren versengt, verkrustetes Blut befand sich auf seinem Gesicht. Seine Kleidung war angekohlt. Er starrte auf Gordon Brown, der reglos im dürren Gras lag. Aus seiner Brust ragte ein Messer. „Es war furchtbar", murmelte der Profos. „Nur noch ein paar Sekunden, und alles wäre vorbei gewesen." Hasard stützte den schwankenden Profos. „Später, Ed", sagte er, „du mußt dich jetzt erst einmal ausruhen. Nachher kannst du uns alles erzählen. Die frische Seeluft wird dir guttun. Wir segeln gleich nachher los."
64
Die Gaffer, die sich eingefunden hatten, blickten schaudernd auf Gordon Brown, der mit glasigen Augen in die Ferne starrte. „Dieser dreckige Bastard", sagte ein älterer Mann, „den sollte man hier verrotten lassen. Er hat es nicht anders verdient."
Der Hafenmeister schüttelte den Kopf. „Auch ein Bastard wird begraben", sagte er leise, „so ist das nun mal üblich." Die Arwenacks wandten sich ab und kehrten zum Hafen zurück. Noch am selben Tag gingen beide Schiffe wieder in See...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 607
Die Goldfalle von Sean Beaufort Al Conroy senkte die Lunte, zündete die Culverine und sprang zurück. Das Geschütz brüllte auf, spie seine Ladung aus und fing sich in den Brooktauen. Der Stückmeister der Arwenacks hatte auf die Zinnen und Mauern der Bastion von Dieppe gezielt. Die Schebecke lag ruhig in Der Strömung des Arques und schaukelte nicht. Das Rohr der Culverine deutete in einem spitzen Winkel in die Höhe, ebenso wie die Rohre der benachbarten Geschütze. Das Geschoß schlug ein. Zwei gemauerte Zinnen und mehrere klobige Quadersteine wurden gleichzeitig zu Staub und Splittern zerhämmert und flogen in alle Richtungen davon. Ein Geschütz kippte in die Höhe, und die Körper von fackeltragenden Männern wurden durch die Luft gewirbelt...