SEEWÖLFE
BAND 521
Roy Palmer
Auf Dem Weg in die
Hölle
Seeabenteuer-Roman
Das Licht der frühen Sonne zeichnet...
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SEEWÖLFE
BAND 521
Roy Palmer
Auf Dem Weg in die
Hölle
Seeabenteuer-Roman
Das Licht der frühen Sonne zeichnete die Schatten der Häuser auf die Kopfsteinpflaster der Gassen von Havanna. Eigentlich hätten die Ratten jetzt aus ihren Löchern kriechen können, doch Straßen und Plätze waren wie ausgestorben. Nirgends ließen sich die Plünderer und Galgenstricke bücken, um grölend und johlend den neuen Morgen zu begrüßen. Irgend etwas war noch in der Nacht dieses 13. Juli 1595 geschehen. Stille lag über der Stadt. Der Frieden, den man so sehr herbeisehnte, schien eingetreten zu sein. Doch die Ruhe war geisterhaft, alles schien nur eine Täuschung zu sein. Konnte man dem Bild, das sich dem Auge darstellte, trauen? Die Zweifel waren angebracht. Es konnte sich um einen Trick, um eine mörderische Falle handeln.
1.
Einer der ersten, der die veränderte Lage in ihrem vollen Ausmaß registrierte, war der junge Teniente Denaro. Er versah seinen Morgendienst auf der Wehrmauer, die die Gouverneurs-Residenz umgab, und hielt mit seinen Männern Wache. Keiner der Soldaten sprach ein Wort. Es herrschte Niedergeschlagenheit, aber auch trotzige Erbitterung. Zu lange schon dauerte der Belagerungszustand an. Zu groß waren die Opfer und Entbehrungen, Tote und Verletzte hatte es bei den Kämpfen in Havanna gegeben. Der Kommandant der Stadtgarde selbst, Don Luis Marcelo, lag verwundet in einem Raum der Residenz. Was noch schlimmer wog: Munition und Proviant der im Palast Eingeschlossenen gingen zur Neige. Es gab nur noch wenig zu essen, und auch das Trinkwasser war knapp. Die Soldaten mußten mit Pulver und Kugeln sparen. Lange konnten sie die Residenz nicht mehr halten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann fiel diese letzte Bastion wie von selbst. Im Triumph würden die Aufrührer sie übernehmen - und jeden töten, der sich ihnen in den Weg stellte. Auch die Frauen und Kinder, die in der Residenz Unterschlupf gefunden hatten, würden von den Kerlen nicht verschont werden. Gewiß, es gab noch ein anderes Bollwerk mitten in der Stadt, das bislang den Angriffen der Aufsässigen getrotzt hatte - das Stadtgefängnis. Jose Campora, der Direktor, hatte sich mit seinen fünfzehn Wächtern erfolgreich verteidigen können. Doch offenbar waren inzwischen auch ihm die Hände gebunden. Er konnte nicht wagen, einen Stoßtrupp zur Residenz zu schicken. Was war solch ein Trupp im Vergleich zu den hundert Schlagetots, die an der Plaza ihre Stellungen errichtet hatten? All dies ging Denaro durch den Kopf, als er im blassen Morgenlicht auf die Plaza schaute. Dort regte sich nichts. Es herrschte absolute Ruhe. Auch die Soldaten hoben jetzt die Köpfe. Sie standen bei Denaro auf der Wehrmauer oder den Wehrtürmen, die Musketen im Anschlag. Ihre Mienen wurden verblüfft und verdutzt. Lauernd spähten sie durch die Schießscharten. „Teniente“, sagte einer der Soldaten. „Da ist gähnende Leere.“ „Abwarten“, erwiderte Denaro. „Es könnte eine Falle sein.“ „Um uns herauszulocken?“ „Oder um ein Zielschießen auf uns zu veranstalten“, erwiderte der junge Teniente. Rasch zog der Soldat den Kopf wieder ein. Die Aussicht, eine Kugel einzufangen, war alles andere als heiter. Aber - wenn die Kerle da draußen auf die Männer der Garde und der Miliz feuern wollten, mußten doch zumindest die Läufe ihrer Musketen und Tromblons zu sehen sein. Und die Drehbassen? Warum wurden die nicht mehr auf die Mauer der Residenz gerichtet? „Senor Teniente“, sagte ein anderer Soldat, ein in Ehren ergrauter Sargento. „Da ist wirklich keiner der Hundesöhne mehr zu sehen. Ich glaube nicht, daß es ein Trick ist.“ „Das wird sich herausstellen“, meinte Denaro etwas unsicher. „Die Bastarde haben es doch gar nicht nötig, uns etwas vorzugaukeln“, sagte der Sargento. „Sie sind unberechenbar.“ „Sie wissen ohnehin, daß wir uns nicht mehr lange halten können“, erwiderte der Sargento. „Vielleicht ist ihre Geduld am Ende.“ „Kaum“, sagte der Sargento. „Sie haben doch alles, was ihr Herz begehrt.“ Seine Miene wurde grimmig. „Reichlich zu futtern, jede Menge zu saufen und sogar Weiber.
Was will der Mensch noch mehr? Je länger sich die Belagerung für sie hinzieht, desto besser. Es ist ein Riesenfest. Bastida läßt sich nicht lumpen.“ „Nun ja“, sagte Denaro. „Aber was ist Ihrer Meinung nach passiert, Sargento?“ „Ich weiß nur eines“, entgegnete der ältere Soldat. „Seit ein Uhr nachts ist nicht mehr geschossen worden. Keine einzige Kugel mehr gegen die Residenz. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.“ „Oder es gehört zu ihrer neuesten Taktik“, meinte Denaro. Der Sargento schüttelte den Kopf. „Auch das glaube ich nicht. Sie sind gestört worden.“ „Von wem?“ fragte der Teniente überrascht. Der Sargento hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Das weiß der Himmel. Aber es ist etwas geschehen.“ Tatsache war, daß die Bewacher der Residenz nicht einen Mann der Belagerer entdeckten - so sehr sie auch die Augen aufsperrten und Ausschau hielten. Die Belagerer, die sich bisher hinter den Barrikaden und sonstigen provisorischen Verschanzungen verborgen hatten, schienen sich buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben. „Sargento“, sagte Denaro. „Unterrichten Sie den Primer Teniente.“ „Sofort, Senor Teniente“, erwiderte der Sargento. Er salutierte und verschwand. Wenig später kehrte der Sargento in Begleitung des Primer Teniente Echeverria zurück. Echeverria war der Stellvertreter des Kommandanten Marcelo, der ja wegen seiner Verletzungen nicht einsatzfähig war. Mit raschen Schritten hielt der Primer Teniente auf Denaro zu, verharrte neben ihm und sah durch eine Schießscharte auf die Plaza. Echeverria preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Eine Weile beobachtete er, dann drehte er sich zu Denaro und dem Sargento um. „Sollten die Kerle abgezogen sein?“ fragte er. Er schien jedoch Zweifel an seinen eigenen Worten zu haben. „Oder es ist eine Falle“, sagte der junge Teniente. Echeverria rieb sich nachdenklich das Kinn. Wie sollte er sich verhalten? Die Lage gab weder Anlaß zu Jubel noch zu übersteigerten Hoffnungen. Möglich war immerhin, daß die Belagerer die Eingeschlossenen zu einer Unvorsichtigkeit verleiten wollten - daß sie nur darauf warteten, die Verzweifelten zu überrumpeln. Wenn Echeverria jetzt beispielsweise das Residenztor in der Wehrmauer öffnete, um auf der Plaza nachzusehen, was wirklich los war, konnte es passieren, daß die Gegner aus Verstecken das Feuer auf die Soldaten eröffneten. Eine Entscheidung fiel Echeverria nicht leicht. Er war zur Untätigkeit verdammt - ihm waren die Hände gebunden. In diesem Moment näherte sich vorsichtig ein Zivilist von der Innenseite der Wehrmauer. Langsam stieg er die Steintreppe hoch. Echeverria hätte fast aufgestöhnt. Don Alfonso Cortes y Menacha - der hatte ihm noch gefehlt! Don Alfonso Cortes y Menacha hatte sich zum Sprecher und Führer der Bürger ernannt. Immer wieder wies er auf die Gefahr hin, in der die Zivilisten schwebten. Er erhielt regen Zuspruch von Bürgern wie Don Felipe Ravena und anderen Männern, die mehr an ihr privates Eigentum als an die Residenz und die Belange der Stadtgarde und der Miliz dachten. Sie betrachteten die ganze Situation von einer völlig anderen Warte. Dieser Umstand hatte schon des öfteren zu Reibereien geführt, seit die Bürger und die Soldaten gezwungen waren, sich von der Residenz aus gegen die Belagerer zu verteidigen. Echeverria hatte auch seinem Vorgesetzten, Capitän Don Luis Marcelo,
darüber Bericht erstattet, als dieser ihn zu sprechen verlangt hatte. Der Kommandant der Garde hatte erklärt, daß er diese Entwicklung geahnt hatte. Tatsache war: Die Belagerten waren in zwei Parteien gespalten. Die eine Partei bestand aus Miliz und Stadtgarde unter der Führung des Primer Teniente Echeverria. Diese Partei hatte die persönliche Verteidigung der Residenz übernommen und war entschlossen, den Palast auch mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Übermacht der Feinde zu halten. Die Soldaten wußten nur zu genau, daß sie keine Gnade zu erwarten hatten. Daher waren sie entschlossen, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Die andere Partei, das waren die Bürger der Stadt mit ihren Familien. Frauen und Kinder stellten das Hauptproblem in dieser prekären, bedrohlichen Lage dar. Ein Beschluß des Bürgerrats hatte bei Beginn der eigentlichen Unruhen in Havanna dazu geführt, daß die Familien aus ihren Wohnhäusern evakuiert worden waren. Auf diese Weise hatte man sie vor den Plünderern schützen wollen. Im Ansatz war dieser Gedanke richtig. Keiner hatte ahnen können, daß de Escobedo und Bastida, die Rädelsführer, mit aller Macht danach trachten würden, die Residenz zu erobern. Dennoch erschien es inzwischen logisch: Alonzo de Escobedo hatte nur den einen Wunsch - wieder Gouverneur von Kuba zu werden. Seit er das Gefängnis verlassen hatte, war er darauf aus, Macht und Gewalt wieder an sich zu reißen. Seinerzeit war er der Nachfolger von Don Antonio de Quintanilla gewesen. De Escobedo hatte sein Amt mißbraucht und sich unter anderem an der Bucht bei Batabano an de Quintanillas geheimen Schatz bereichern wollen. Das hatte ihm praktisch das Genick gebrochen. Er war gefaßt und eingesperrt worden und wartete seither im Gefängnis auf seinen Prozeß. Inzwischen aber war auch de Campos, der kommissarische Gouverneur, nicht mehr am Leben, und das wiederum hatte zum Chaos geführt. Der Mob von Havanna hatte die Chance wahrgenommen. Terror und Gewalt regierten die Stunde. Don Alfonso Cortes y Menacha blieb auf der drittobersten Steinstufe stehen und blickte aus kleinen, wäßrigen Augen zu den Soldaten. „Echeverria“, sagte er etwas außer Atem. „Was geht hier vor?“ „Für Sie immer noch Senor Echeverria oder Primer Teniente“, erwiderte Echeverria kühl. „Ja, schon gut. Senor Teniente, was ist hier los?“ „Werfen Sie doch mal einen Blick durch eine der Schießscharten“, forderte Echeverria den Mann spöttisch auf. „Warum wird nicht mehr geschossen?“ fauchte Don Alfonso. „Vielleicht ist den Gegnern die Munition ausgegangen.“ „Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren!“ stieß Don Alfonso zornbebend hervor. „Was fällt Ihnen ein, so mit mir zu reden?“ „Gehen Sie doch zu Capitän Marcelo“, sagte der Primer Teniente. „Der will mich nicht empfangen“, sagte Don Alfonso wütend. „Bedenken Sie, daß er schwer verletzt ist“, sagte der Sargento. Don Alfonso warf dem älteren Soldaten einen schiefen Blick zu. „Der Capitän will nicht mit mir reden“, sagte er. „Aber auch das wird noch seine Folgen haben. Ich lasse das nicht so durchgehen.“ Er war ein behäbiger, zum Fettansatz neigender Mensch - alles andere als ein Kämpfer, eher ein Hasenfuß. Ein Magistratsbeamter. Welche Heldentaten konnte man von dem schon erwarten? Erbitterte Auseinandersetzungen hatte es zwischen Echeverria und Don Alfonso gegeben. Don Alfonso hätte, wäre es nach ihm gegangen, längst kapituliert. Sollte der Pöbel doch die Residenz besetzen - was kümmerte es ihn?
Die Hauptsache war, daß er mit heiler Haut davonkam. Strich man die Flagge, so dachte er, durfte man die Hoffnung hegen, zu überleben. Aber es war eine feige Hoffnung, und die Chancen, von den Galgenstricken und Lumpenkerlen verschont zu werden, waren gleich Null. Echeverria hingegen lehnte als Offizier eine Kapitulation gegenüber den Strolchen und Mördern ab. Er wurde hierin von seinem Kommandanten voll unterstützt. Don Luis Marcelo war inzwischen endlich wieder bei Bewußtsein und nahm trotz der Proteste seines Arztes regen Anteil an dem Geschehen. Immer wieder ließ der Capitän Echeverria zu sich rufen. Der Primer Teniente hatte ihm Bericht zu erstatten. Marcelo fällte daraufhin seine Entscheidungen. Sein Beschluß war immer wieder derselbe: durchhalten. Auf keinen Fall durften die Belagerer die Residenz besetzen. Marcelo war zwar über den Berg, aber noch lange nicht gesund und ans Krankenbett gefesselt. Keinen Schritt vermochte der Kommandant zu tun. So konnte er nicht aktiv am Geschehen teilnehmen, sondern mußte seine Befehle vom Lager aus erteilen. Don Alfonso Cortes y Menacha hatte insgeheim gehofft, daß Marcelo - den er unter anderem einen „versoffenen Hurenbock“ nannte - sozusagen über den Jordan gehen würde. Der Kommandant taugte in den Augen des Magistratsbeamten nicht viel. Ein anderer Mann an Marcelos Stelle wäre besser gewesen - vielleicht auch besser zu beeinflussen als dieses „sture Hund“, dem der Alkohol den Geist verblendet zu haben schien. Laut Gesetz der Krone war Marcelo schließlich zur Zeit ranghöchster Offizier im Standort Havanna und damit kommissarischer Gouverneur - wenn kein anderer Mann von der Krone für dieses Amt bestimmt wurde und kein höherer Offizier - wie Generalkapitän de Campos, der gefallen war - für den Posten zur Verfügung stand. Marcelo also war derzeit Gouverneur von Havanna und Kuba. Don Alfonsos Hoffnungen erwiesen sich als Illusionen. Marcelo hatte überlebt und befand sich auf dem Weg der langsamen, aber sicheren Besserung. Was Don Alfonso und den meisten anderen Bürgern nicht aufging: Marcelo hatte sich verändert Der Tod, den er so nah vor Augen gehabt hatte, hatte ihn stark beeinflußt, und auch die neue, verantwortungsvolle Aufgabe veränderte seinen Charakter. Gewiß, er war dem Wein und den Frauen verfallen. Aber in lichten Momenten war Marcelo eben doch ganz Soldat und Offizier. Capitän Don Luis Marcelo fühlte sich jetzt gefordert. Im übrigen hatte er eine gleichsam mörderische Wut auf die Strolche und Galgenvögel, denen ein erheblicher Anteil Gardisten und Miliz zum Opfer gefallen war - ganz abgesehen von seiner eigenen Verwundung. Er wartete nur darauf, etwas gegen die Belagerer unternehmen zu können. Echeverria ließ die Drohungen und Beschimpfungen des Don Alfonso Cortes y Menacha über sich ergehen. Dann suchte er seinen Kommandanten auf. Don Alfonso schlich indes zu einer der Schießscharten und vollbrachte die Heldentat, auf die Plaza zu spähen. „Da ist keiner mehr“, sagte er verdutzt. „Sie sind alle verschwunden.“ „Das haben wir auch schon festgestellt“, entgegnete der ältere Sargento ruhig. „Aber die große Frage ist, aus welchem Grund sich die Kerle zurückgezogen haben.“ Während der Magistratsbeamte die Zivilisten über die Neuigkeiten unterrichtete und mit ihnen darüber diskutierte, was wohl vorgefallen sein mochte, setzte Echeverria Don Luis Marcelo die neue Situation auseinander.
Zusammenfassend sagte er zum Schluß: „Alles deutet, vorbehaltlich einer möglichen Falle, darauf hin, daß die Strolche aus unbekannten Gründen die Belagerung aufgegeben haben.“ Marcelo überlegte nicht lange. „Gut“, erwiderte er. „Wir werden herausfinden, warum das so ist. Schicken Sie sofort einen Stoßtrupp los. Er soll die Lage erkunden. Wählen Sie die Männer selbst aus.“ „Ich schlage den Teniente Denaro als Führer des Trupps vor, Capitän“, sagte Echeverria. „Einverstanden“, entgegnete Marcelo. „Ein guter, gewissenhafter Mann. Auch ich halte ihn für geeignet, das Unternehmen zu führen. Wegtreten.“ Echeverria salutierte und verließ den Krankenraum. Sofort begab er sich wieder zu seinen Männern. Nach allem Dafürhalten war Marcelos Entscheidung richtig. Die Eingeschlossenen mußten wissen, was draußen vorging. Dies festzustellen, gab es nur einen Weg - nachschauen. Sollte der Stoßtrupp angegriffen werden, mußten die Soldaten hinter der Wehrmauer und auf den Wehrtürmen ihnen Feuerschutz geben, auch wenn dabei die letzten Kugeln und das letzte Pulver drauf gingen.
2.
Unbehelligt schlich zur selben Stunde eine zerlumpte Gestalt durch die Stadt Jussuf in der Verkleidung des gammligen Streuners Jose. Er hatte keine Beobachter zu fürchten. Der Mob war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Nur am Stadtgefängnis hatte Jussuf aufpassen müssen. Von dort aus wurde geschossen. Wer die Nase zu weit vorstreckte, kriegte eine Kugel verpaßt. Campora, der Gefängnisdirektor, war eben ein knarscher Kerl. Wie hart und kompromißlos er durchgriff, hatte er gerade wieder bewiesen. Zwei Tote baumelten an der hohen Pinie, die vor dem Gefängnis ihre mächtigen Äste ausstreckte: Alonzo de Escobedo und Gonzalo Bastida. Die beiden Rädelsführer hatten ihre letzten Schandtaten vollbracht. Niemals hätten sie damit gerechnet, daß ihnen irgend jemand in den Rücken fiel. Das war ihr Fehler gewesen. Jean Ribault und der Trupp des Bundes der Korsaren von den Schiffen „Isabella“, „Golden Hen“ und „Le Griffon“ hatten als erstes in der Hafenkaschemme aufgeräumt. Danach hatten sie sich de Escobedo geholt, der sein Hauptquartier an der Plaza der Residenz aufgeschlagen hatte. Schließlich hatten sie die beiden Kerle an Campora übergeben, der seinerseits nicht lange gefackelt hatte. Campora hatte de Escobedo und Bastida nach dem Standrecht abgeurteilt. Tod durch Erhängen. Das Urteil war unverzüglich vollstreckt worden. Jetzt hingen die Kerle dort am Strick - als Abschreckung und Mahnung für alle, deren Weg am Gefängnis vorbeiführte. Daß es de Escobedo und den Dicken erwischt hatte, mußte sich herumgesprochen haben. Die Gassen des Hafenviertels waren wie leergefegt. Rette sich, wer kann die Ratten verließen das sinkende Schiff. Es war keiner mehr da, der sie führte und befehligte. So handelten sie wieder nach der alten Schnapphahndevise: zusammenraffen, was es zu raffen gibt, und abhauen. Als Jussuf nach seiner Morgenrunde in die Faktorei zurückkehrte, war es heller Tag. Isabella servierte ihm ein heißes Getränk. Arne von Manteuffel und Jörgen Brunn, die ein wenig geruht hatten, erschienen ebenfalls und ließen sich bei Jussuf am Tisch nieder. „Na, du Nachtschwärmer“, sagte Arne lächelnd. „Nun erzähle mal.“ „Es scheint alles vorzüglich zu klappen“, begann Jussuf. „Überall herrscht Ruhe. Die Galgenstricke sind weg. Sie scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Oder der Scheitan hat sie gefressen.“ „Schön war's“, sagte Jörgen. „Wie sieht es denn an der Plaza aus?“ „Nichts rührt sich.“ „Und die Leute in der Residenz?“ fragte Isabella. „Die scheinen sich mit Entscheidungen sehr schwer zu tun“, erwiderte Jussuf seufzend. „Jedenfalls haben sie bis jetzt nichts unternommen. Na, was nicht ist, kann ja noch werden.“ „Das meine ich auch“, sagte Arne. „Vielleicht ergreift ja auch Jose Campora, der Gefängnisdirektor, als erster die Initiative.“ Jussuf leerte schlürfend seine Tasse. Er verdrehte ein wenig die Augen und erklärte: „Es ist ein feiner Anblick, die beiden Halunken da hängen zu sehen. Ich finde, sie baumeln ganz hervorragend an der Pinie, und es dürfte sich empfehlen, sie noch eine ganze Weile dort hängen zu lassen.“ „Wie grausam du sprichst“, sagte Isabella. „Ich habe meine Gründe dafür“, entgegnete Jussuf ernst. „Was diese beiden Kerle angerichtet haben, läßt sich mit Worten kaum beschreiben. Sie haben noch Glück gehabt, daß man sie gleich aufgehängt und nicht noch gepiesackt hat.“
„Wir haben jedenfalls unsere Pflicht und Schuldigkeit getan“, sagte Arne. „Den Rest überlassen wir jetzt unseren lieben Freunden, den Dons. Irgendwas werden sie sich schon einfallen lassen.“ „Was ist denn aus deinen neuen Freunden geworden?“ fragte Jörgen beiläufig. „Ach“, erwiderte Jussuf. „Die sind weg.“ „Die beiden Diebe und die beiden Mädchen?“ erkundigte sich Isabella. „Richtig“, sagte Jussuf. „Sie haben ja von Anfang an vorgehabt, Havanna den Rücken zu kehren. Cuchillo hatte sie gezwungen, zu bleiben. Aber an den Gewalttaten sind sie nicht beteiligt gewesen, das kann ich bezeugen. Osvaldo und El Sordo sind ehrliche Diebe. Juanita hat Haare auf den Zähnen, aber im Grunde ihres Herzens ist sie auch kein schlechter Mensch. Und diese Maria, das Mädchen - na, sie ist natürlich froh, daß sie ihrem Dienstherrn Don Felipe entwischt ist.“ „Don Felipe wer?“ fragte Isabella. „Don Felipe Ravena.“ „Ein wohlhabender Kaufmann“, sagte Arne. „Sein Haus steht am Rand der Stadt.“ „So ist es“, versetzte Jussuf grimmig. „Und dort hatte er das arme Kind in eine Art Käfig im Keller gesperrt“ „Warum denn?“ stieß Isabella entsetzt hervor. „Sie wollte ihm nicht zu Willen sein“, entgegnete Jussuf. Er räusperte sich verlegen. „Mehr kann ich darüber nicht sagen.“ „Da gibt's nichts zu vertuschen“, sagte Jörgen. „Wir haben schon begriffen. Don Felipe wollte sich an dem Mädchen vergreifen. Dagegen hat sie sich gewehrt. Zur Belohnung hat er sie gepeinigt.“ „So ist die Welt“, sagte Jussuf düster. „Grausam und herzlos. Aber Allah wird dafür sorgen, daß dieser Lumpenhund seine gerechte Strafe empfängt Er ist jetzt in der Residenz. Ich wünsche ihm, daß er über einen Stein stolpert und sich auf dem Pflaster das Genick bricht.“ „Von der Sorte gibt es viele“, sagte Jörgen. „Eben“, sagte Isabella aufgebracht. „Sie haben keine Achtung vor dem weiblichen Geschlecht. Sie würden unsereins am liebsten wie Sklavinnen halten.“ „Es müßte so manches geändert werden in Havanna“, sagte Arne. „Aber warten wir ab, wie sich die Lage jetzt entwickelt. Von Jose Campora werden wir sicherlich noch hören. Vielleicht auch von Marcelo, der ja kommissarischer Gouverneur ist.“ „Es soll ihm wieder etwas besser gehen“, erklärte Jussuf. „Gut, dann gibt es wenigstens jemanden, der die Soldaten befehligt“, sagte Arne. „Aber Marcelo ist ein Trunkenbold“, gab Jörgen zu bedenken. Arne lächelte. „Ich nehme mit Sicherheit an, daß er zur Zeit nüchtern ist Das wird seine Entscheidungen wesentlich beeinflussen. Und laßt euch nicht zu Vorurteilen verleiten. Vielleicht haben wir von diesem Mann doch Positives zu erwarten.“ „Möglich ist alles“, sagte Jussuf. „Aber die Hauptsache ist daß wieder Frieden einkehrt.“ Diese Hoffnung hegten alle - auch die Männer der vier Schiffe des Bundes der Korsaren. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, Jean Ribault Edmond Bayeux und Old Donegal Daniel O'Flynn waren mit der „Isabella IX.“, der „Golden Hen“, der „Le Griffen II.“ und der „Empress of Sea II.“ noch in der Nacht aus Havanna verschwunden. Niemand sollte die Schiffe sehen - sie hätten Anlaß zu Verdachtsmomenten verschiedener Art geben können. Immerhin war die „Isabella“ ein zu auffallendes Schiff, und die „Le Griffen II.“ war einmal unter dem Namen „Chubasco“ gesegelt und in Fort St Augustine stationiert gewesen. Der Seewolf hatte es vorgezogen, mit dem kleinen Verband eine Bucht
westlich von Havanna anzusteuern, die man von früheren Unternehmungen her noch kannte. Dort lagen die Segler jetzt vor Anker. Erst, wenn Arne seinem Vetter die Nachricht überbrachte, daß sich in Havanna alles normalisiert hatte, konnten die Schiffe zum Stützpunkt des Bundes auf Great Abaco zurückkehren. So gab es sowohl für die vier Bewohner der Faktorei als auch für die Männer an Bord der Schiffe vorläufig nur das eine zu tun. Sie mußten ausharren und abwarten, was der Tag an Ereignissen brachte. * Osvaldo und El Sordo, die beiden „ehrlichen“ Diebe, führten das von ihnen in Havanna requirierte Fortbewegungsmittel eigenhändig durch den Dschungel südlich der Stadt. Auf dem Bock des zweirädrigen Karrens saßen Juanita, die Schwarzhaarige, und das Mädchen Maria. Maria hielt die Zügel in der Hand. Der Karren quietschte und knarrte etwas. Burrito, das Maultier, gab schnaubende Protestlaute von sich. Schon nach der ersten Meile auf dem Weg nach Süden hatte Burrito gestreikt. Der Anblick der grünen Blätterwand schien ihm nicht zu gefallen. Er war einfach stehengeblieben, wie es sich für ein ordentliches Grautier gehörte. Nichts hatte ihn zum Weitergehen bewegen können, weder Flüche noch Tritte noch Peitschenhiebe. Gewalt war im Falle eines Dickschädels wie Burrito sowieso nicht angebracht. Maria hatte dem Vierbeiner gut zugeredet. Das half ein bißchen. Zögernd trottete Burrito dem Urwald entgegen. Schließlich hielt er wieder an. Maria redete mit Engelszungen auf ihn ein, Juanita versprach ihm die herrlichsten Leckerbissen. Osvaldo und El Sordo, der Taubstumme, zerrten ein wenig am Geschirr - und weiter ging's. So folgten sie dem Verlauf eines Pfades, der tief durch den Regenwald führte. Juanita begann zu schimpfen. „Also, wenn es in diesem Zuckeltempo weitergeht, sind wir in einem Monat noch nicht in Batabano. Oder wir kommen nie an.“ „Du mußt mehr Geduld mit Burrito haben“, sagte Maria. „Er ist ein guter Bursche, aber er mag nicht, wenn man ihn anschreit oder beschimpft.“ „Ein störrisches Biest“, sagte die Hure verächtlich. „Sollen wir ihm vielleicht auch noch Zucker zu fressen geben?“ „Ja, ein Pferd wäre besser gewesen“, brummte Osvaldo. El Sordo, der seinem Kumpan wie üblich die Worte von den Lippen ablas, nickte zustimmend. Mit Burrito hatten sie keinen sonderlich guten Griff getan. Maria war anderer Meinung. „Ihr seid nicht gerecht“, sagte sie. „Burrito ist genügsam. Er frißt lange nicht so viel wie ein Pferd.“ „Er bringt uns aber um den Verstand“, sagte die Schwarzhaarige. „Hast du Lust, die Reise auf diese Weise fortzusetzen? Himmel, wir sind ja langsamer als eine Schnecke.“ Maria erwiderte: „Im Dschungel geht's nun mal nicht schneller.“ „Da magst du auch wieder recht haben.“ Juanita hatte kaum ausgesprochen, da blieb das Maultier wie vom Donner gerührt stehen. Es stemmte die Läufe in den weichen Untergrund, hob den Kopf, fletschte die Zähne und gab einen wilden, häßlichen Laut von sich. El Sordo bekreuzigte sich. Es war eine Geste der Verzweiflung. Osvaldo griff zur Peitsche. Doch Maria sprang vom Bock auf und hob die Hand. „Nicht!“ rief sie. „Laß das!“
Burrito warf den Kopf nach rechts. Seine Augen blickten tückisch, die Oberlippe stülpte sich auf und legte die Zähne frei. Gleichzeitig stieß er ein langgezogenes „liiaahhh“ aus. Juanita begriff - trotz aller Wut auf das Tier - instinktiv, daß Gefahr drohte. „Achtung!“ zischte sie und zückte blitzschnell ihren Dolch. Osvaldo und der Taubstumme konnten gerade noch ihre Waffen herausreißen. Dann raschelte es im Dickicht, und vier Kerle sprangen aus der Deckung des dichten Mangrovengestrüpps. Sie fuchtelten mit ihren Messern und stürzten sich fluchend auf das Quartett. „Haut ab!“ schrie Osvaldo. „Wir sind auf der Flucht - wie ihr!“ Daß es sich bei den Kerlen um Plünderer handelte, die aus Havanna geflohen waren, erkannte er sofort. Zwar wußte er nicht, wie die Kerle hießen, aber er hatte sie in den vergangenen Tagen flüchtig gesehen - in Bastidas Kaschemme am Hafen. „Rückt eure Talerchen raus!“ brüllte einer der Angreifer, ein Riese mit einem mächtigen schwarzen Vollbart. „Wir haben nichts!“ rief Osvaldo. „Wir sind arme Schlucker!“ stieß Maria hervor. Aber die Wegelagerer lachten nur. Zwei griffen Osvaldo und El Sordo an, einer versuchte, Juanita vom Bock zu reißen. Der vierte kletterte auf die Ladefläche des Karrens. Osvaldo zog dem Schwarzbart sofort die Peitsche quer übers Gesicht. Der Kerl wich heulend zurück. El Sordo duckte sich und entging einem gefährlichen Messerstich des zweiten Angreifers. Dann konterte er, und der Gegner stürzte mit blutendem Arm zu Boden. Juanita trat dem Kerl, der sie grölend an den Beinen zu packen versuchte, gegen die Brust. Mit verdutzter Miene stolperte der Kerl rückwärts. Er ruderte mit den Armen. „Du Miststück!“ brüllte er. Maria warf sich todesmutig dem Kerl entgegen, der auf die Ladefläche gestiegen war. Sie wollte ihn hinunterstoßen, aber der Mann griff nach ihr und schleuderte sie vom Wagen auf den Pfad. „Verdammter Lümmel!“ wetterte er. Da Maria wie ein Junge gekleidet war, kam er nicht auf den Gedanken, sie für ein Mädchen zu halten. Juanita bemerkte mit einem Seitenblick, was hinten geschehen war. Ihre Hand bewegte sich zuckend - und plötzlich hatte der Kerl, der auf der Ladefläche stand, den Dolch im Hals stecken. Er hob die Hände, wankte. Dann ließ er ein schwaches Röcheln ertönen und brach zusammen. Der Schwarzbart wollte erneut zur Aktion übergehen. Aber er hatte Burrito nicht beachtet. Plötzlich biß der Vierbeiner zu. Der Kerl stieß einen schrillen Laut aus. Burrito hatte nach seinem Bein geschnappt. Seine Zähne waren wie Eisenzangen. Juanita zog eine Muskete unter dem Kutschbock hervor, spannte den Hahn und legte auf den Kerl an, der sie zu überwältigen getrachtet hatte. „Osvaldo!“ schrie die Schwarzhaarige. „Knallt sie ab, die Hunde!“ Es war ein Trick. Das Quartett verfügte nur über die eine Muskete. Osvaldo hatte sie durch einen Zufall im Haus des Don Felipe gefunden, als sie das Geheimversteck ausgeräumt hatten. Weitere Schußwaffen hatten sie nicht. Doch Juanitas Ruf wirkte Wunder. Plötzlich kriegten es die Angreifer mit der Angst zu tun. „Weg!“ brüllte der Schwarzbart. „Wir verduften!“ Er humpelte davon. Sein Kumpan, der von El Sordo am Arm verletzt worden war, rappelte sich auf und eilte ihm nach. Der dritte Kerl, der genau in die Mündung der Muskete blickte, nahm ebenfalls voll Panik Reißaus. Maria richtete sich erst in diesem Moment wieder vom Pfad auf. Sie hatte sich den Kopf gestoßen und war benommen. Ihr Hemd hatte sich geöffnet. Der Schwarzbart
rannte genau auf sie zu und starrte sie verdutzt an. Dann begriff er. Er fluchte, packte das Mädchen und riß es mit sich fort. „Hilfe!“ schrie Maria. „Hilfe!“ Wie ein Spuk verschwanden die Plünderer im Gestrüpp. Juanita zögerte keinen Augenblick. Sie sprang vom Bock. „Hinterher!“ rief sie. „Sie haben Maria gefangengenommen!“ „Hölle!“ stieß Osvaldo aus. „Maria hat nicht mal ein Messer.“ „Wir müssen sie befreien!“ rief Juanita. Schon nahm sie die Verfolgung der Wegelagerer auf. Osvaldo gab seinem Freund ein Zeichen. El Sordo verstand. Er mußte beim Gespann bleiben und aufpassen, daß die Gegner nicht doch zurückkehrten, um sich den Wein, den Schnaps und das Geld zu holen, die auf der Ladefläche verstaut waren. Grimmig nahm El Sordo sich vor, die Ladung notfalls mit den Zähnen zu verteidigen. El Sordo grinste dem Maultier zu. Fein hast du das gemacht, dachte er. Du bist ja doch ein feiner Kerl. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten wir die Kerle nicht rechtzeitig bemerkt. Doch die Freude über Burritos großartigen Einsatz wurde durch Marias Verschwinden getrübt Wenn Osvaldo und Juanita das Mädchen nicht befreiten, sah es übel für die Kleine aus. El Sordo kratzte sich verzweifelt am Kopf. Er betete zum Himmel, daß seine Begleiter es schafften, Maria wiederzuholen.
3.
Der junge Teniente Denaro war stolz auf seinen Auftrag. Gleichzeitig war er sich der Verantwortung bewußt, die er trug. Wenn auf Anhieb alles so klappte, wie er sich das vorstellte, durften die Insassen der Residenz aufatmen. Scheiterte er und tappte in eine Falle, sah es für die Eingeschlossenen noch schlimmer aus als zuvor. Echeverria hatte Denaro zehn Soldaten zugeordnet. Es waren die zuverlässigsten, stärksten Männer, die der Garde und der Miliz angehörten. Andere Soldaten wie der ältere Sargento hatten sich freiwillig für das Kommando gemeldet. Echeverria aber zog es vor, nur die jüngeren Männer auf die Plaza zu schicken. Dafür gab es einen einfachen Grund: wenn die Belagerer tatsächlich einen Hinterhalt gelegt hatten, mußten die Soldaten sehr schnell laufen können, um ihre Haut zu retten. Auf einen Kampf, das wußte auch Denaro nur zu gut, konnte und durfte sich der Stoßtrupp nicht einlassen. Zwar gaben Echeverria und die übrigen Verteidiger der Residenz dem Trupp Feuerschutz, doch im Ernstfall standen die Chancen auf jeden Fall schlechter für die Soldaten als für die Belagerer. Denaro war auf alles gefaßt. Auch seine zehn Soldaten, die in Zweierreihe hinter ihm standen, gaben sich keinen Illusionen hin. Leicht konnte ihr Vorhaben zu einem Himmelfahrtsunternehmen werden. Sie mußten höllisch aufpassen und die Augen überall haben. Zwei Soldaten öffneten langsam das große Tor der Residenz. Denaro spähte vorsichtig ins Freie. Es war inzwischen heller Tag und wurde zunehmend wärmer. Wieder bot sich auf der Plaza dasselbe Bild. Alle Stellungen, die der „Feldherr“ de Escobedo eingerichtet hatte, waren verlassen. Nichts regte sich. Nirgends war auch nur die Nasenspitze eines Gegners zu entdecken. Denaro gab seinen Männern ein Handzeichen. „Los“, sagte er. Die Soldaten atmeten tief durch. Dann rückten sie aus. Echeverria und die Mitglieder der Miliz und der Stadtgarde lauerten an der Wehrmauer. Sie waren bereit, sofort zu feuern, falls etwas Unvorhergesehenes passierte. Denaro spürte, wie die Hitze unter seinem Helm zunahm. Er marschierte an der Spitze des Trupps - geradewegs auf die Plaza hinaus. Es hatte wenig Zweck, sich nach links oder rechts zu wenden. Der Stoßtrupp befand sich für etwaige Heckenschützen ohnehin wie auf einem Präsentierteller. Was Denaro und seine zehn Soldaten zeigten, war eine Mutprobe. Sie setzten ihr Leben aufs Spiel - für die Eingeschlossenen. Echeverria und den anderen Soldaten war voll bewußt, wie schwer die Aufgabe des Trupps war. Don Luis Marcelo bangte in diesem Moment um das Leben seiner Leute. Ob aber auch Don Alfonso Cortes y Menacha und die anderen Bürger so dachten, war stark zu bezweifeln. Doch daran Gedanken zu verschwenden, erschien Denaro in diesem Augenblick überflüssig und unnötig. Es ging nur um die eine Frage: hatten die Feinde sich irgendwo verschanzt, oder hatten sie sich wirklich - was immer der Grund dafür sein mochte - zurückgezogen? Nichts geschah. Ungehindert schritten die Soldaten über die Plaza. Denaro begann ruhiger zu atmen. Wenn es passieren sollte, wäre es bereits passiert, sagte er sich. Ganz sicher durfte er aber immer noch nicht sein. Bis zuletzt mußte er damit rechnen, daß die Gegner ihn und seine Männer aufs Korn nahmen. Nichts - immer noch nichts. Die Schritte der Soldaten hallten über die Plaza. Wie gebannt beobachteten die Verteidiger der Residenz, was weiter geschah.
Der Trupp unter Teniente Denaro erreichte unbeschadet die Barrikaden. Denaro kletterte über ein paar Sandsäcke und rutschte in eins der Drehbassen-Nester, aus denen die Kerle den Eingeschlossenen arg zugesetzt hatten. Jetzt aber war das Rohr des Hinterladers kalt. Munition lag am Boden. Denaro registrierte auch zwei leere Weinflaschen. Waren die Kerle so betrunken, daß sie sich einfach irgendwo verkrochen hatten, um ihren Rausch auszuschlafen? Nein, unmöglich. Etwas anderes hatte sich abgespielt. Was es war, wollte Denaro herausfinden. „Teniente“, sagte einer der Soldaten. „Die Kerle sind tatsächlich verschwunden.“ „Wir haben uns also nicht getäuscht“, erwiderte Denaro. „Und der Sargento hat recht“ Hier zeigte sich, was Berufs- und Lebenserfahrung bewirkten. Der ältere Sargento hatte von Anfang an nicht bezweifelt, daß die Belagerer den Rückzug angetreten hatten. Denaro schaute sich nach allen Seiten um. Sein Blick verharrte auf dem Haus, in dem er an den Vortagen Alonzo de Escobedo gesehen hatte. De Escobedo war häufig in dem Gebäude verschwunden und später wieder erschienen. Zweifellos hatte er in diesem Haus seinen Befehlsstand eingerichtet. „Drei Mann mit mir“, sagte Denaro. „Wir sehen nach, was wir in der Höhle des Löwen vorfinden.“ Kurz darauf liefen die vier Soldaten geduckt über die Plaza und drangen in das Haus ein. Sie hielten ihre Musketen und Tromblons im Anschlag, die Hähne gespannt. Denaro stürmte die wenigen Treppenstufen hoch. Er blieb stehen und sicherte nach allen Seiten. Wieder tat sich nichts. Beherzt drang er weiter in das dunkle Innere des Gebäudes ein. Totenstille erfüllte das Haus. Denaro glitt zur Treppe. Er wandte den Kopf und gab seinen drei Soldaten mit einer Gebärde zu verstehen, sie sollten ihm folgen. Vorsichtig pirschten die Männer näher. Denaro richtete seinen Blick wieder nach vorn und gewahrte eine Tür, die halb offenstand. Gleichzeitig nahm er auf den oberen Treppenstufen eine Regung wahr. Er fuhr herum, riß seine Muskete hoch und zielte auf die Gestalt dort oben. Aber der Teniente ließ die Waffe sofort wieder sinken. Plötzlich mußte er grinsen. Eine kleine Katze lief die Treppe hinunter. Sie maunzte, strich an Denaros Beinen vorbei und verschwand im Freien. Denaro ging auf die halb geöffnete Tür zu. Seine Männer waren hinter ihm. Zwei nahmen links und rechts des Türrahmens Aufstellung, einer schloß sich dem Teniente an, als dieser die Tür ganz aufriß und in den dahinter befindlichen Raum sprang. Sie standen in einem Saal. Eine riesige Eichenholztafel beherrschte das Zentrum, an den Wänden hingen wertvolle Ölgemälde. Auf dem Tisch lagen Pergamentrollen. Teller mit den Resten einer Mahlzeit waren zu sehen. Denaro trat auf den Tisch zu und öffnete flüchtig einige der Schriftrollen. Aufzeichnungen, Pläne - de Escobedo schien sich damit beschäftigt zu haben, wie er die Residenz am besten und schnellsten besetzte, wenn sie im Sturm genommen worden war. Er schien sich in seinen Überlegungen auch bereits mit einem Umbau des Palastes befaßt zu haben, für den Fall, daß er wieder Gouverneur wurde. Auch dies ging klar aus den Zeichnungen und Niederschriften hervor. Denaro schnitt eine verächtliche Miene. Er ging weiter und steuerte auf eine Verbindungstür zu, die in einen angrenzenden Raum führte. Abrupt verharrte er. Da war ein Geräusch! „Hört ihr das?“ raunte Denaro seinen Begleitern zu. „Ja“, flüsterte einer der Soldaten. „Aber diesmal ist es keine Katze.“
„Da rumort jemand herum“, murmelte der andere. Denaro deutete auf die Tür. „In dem Zimmer dort. Oder in einem Nachbarraum. Wir schauen nach, was da lost ist.“ Auf leisen Sohlen drangen sie in das Nebenzimmer ein. Es handelte sich um die Bücherei des Hauses - die Bände standen dicht an dicht in Wandregalen, die bis an die Decke reichten. Hier war kein Mensch. Die dumpfen, polternden Laute, die man jetzt noch deutlicher vernehmen konnte, kamen tatsächlich aus dem nächsten Raum. Denaro öffnete die Tür einen Spaltbreit. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er in den Nachbarraum. Als erstes erblickte er ein großes Himmelbett mit einem gewaltigen Baldachin. Das Lager war völlig zerwühlt und schien von einer heißen Liebesnacht oder überstürztem Aufbruch zu zeugen. Hinter dem Bett bewegten sich zwei Gestalten: ein Kerl mit einem auffallend großen Kopf und einer mit einem mächtigen Bartgestrüpp. Zivilisten. Heruntergekommene Kerle. Plünderer, Galgenstricke. Sie rissen Schubladen und Türen von Schränken auf und stöberten überall herum. Nicht alle Ratten sind geflohen, dachte Denaro. Dann stieß er die Tür mit dem Fuß auf und war mit einem Satz in dem Schlafzimmer. Er riß die Muskete hoch und schlug sie auf die beiden Kerle an. „Hände hoch!“ stieß er scharf hervor. Die drei Soldaten drangen in den Raum ein und richteten ihre Waffen gleichfalls auf die Ertappten. Die beiden Galgenvögel wirbelten herum, und der Bärtige schrie: „Satan! Die Soldaten!“ „Weg!“ brüllte sein Kumpan. Sie ließen alles stehen und liegen und stürzten zu den Fenstern. Denaro war versucht, auf sie zu feuern. Aber er bezwang sich. Er nahm die Muskete wieder herunter und gab auch seinen Soldaten ein Zeichen, nicht zu schießen. Er wollte diese Kerle lebend haben - und möglichst unverletzt. Denaro war mit zwei langen Sätzen hinter dem Bärtigen und rammte diesem den Kolben seiner Muskete in den Nacken. Der Plünderer wollte zu ihm herumfahren. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand. Aber Denaro knallte ihm den Waffenkolben mit voller Wucht auf die Schulter. Da brach der Kerl zusammen. Stöhnend blieb er auf den Bohlen liegen. Der Kerl mit dem großen Kopf hechtete aus dem einen Fenster und landete wie eine Raubkatze in der angrenzenden Gasse - weich und federnd. Er duckte sich und hastete davon. Zwei Soldaten stiegen durch das Fenster ins Freie und nahmen die Verfolgung auf. Der dritte kehrte auf Denaros Wink hin zum Eingang des Hauses zurück und signalisierte mit den Händen den anderen Soldaten des Stoßtrupps, sie sollten dem Flüchtling den Weg abschneiden. Boldrago - so hieß der Kerl mit dem großen Kopf - hetzte durch die schmale Gasse. Er verfluchte Soto, seinen Spießgesellen, in die tiefsten Schlünde der Hölle. Schließlich war es Soto gewesen, der die verdammte Schnapsidee gehabt hatte, noch mal an die Plaza zurückzukehren. Boldrago und Soto hatten mit zu den ersten gehört, die sich aus dem Staub gemacht hatten. Unterwegs aber war Soto eingefallen, daß Alonzo de Escobedo in seinem „Befehlsstand“ irgendwo Geld versteckt haben konnte, Betriebskapital für den großen Angriff auf die Residenz, Geld für die Truppe. De Escobedo hatte weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, seine persönlichen Habseligkeiten mitzunehmen. Die Kerle, die bei ihm eingedrungen waren, hatten ihn
ja einfach weggeschleppt. Folglich konnte es in dem Haus noch etwas zu holen geben. Aber jetzt hatte man die Garde am Hals. Hölle und Teufel! fluchte Boldrago innerlich. Er war ein Riese an Gestalt, aber mit zwei bewaffneten Soldaten, die ihm dicht auf den Fersen waren, konnte er es nicht aufnehmen. Im übrigen mußte sich in diesen Soldaten soviel Haß aufgestaut haben, daß sie sicherlich nicht zögerten, ihn einfach abzuknallen, wenn er Widerstand leistete. Boldrago bog jäh nach links ab. Eine düstere Hofeinfahrt verschluckte seine Gestalt Die Soldaten liefen derart schnell, daß sie nicht rasch genug abstoppen konnten. Sie rasten um drei, vier Schritte an der Einfahrt vorbei, dann blieben sie fluchend stehen. Sie warfen sich herum und hetzten zurück. Aber Boldrago war bereits verschwunden. Auf dem Hof herrschte gähnende Leere. Wo hatte der Kerl sich versteckt? * Der Soldat, der seinen Kameraden auf der Plaza Anweisungen gegeben hatte, kehrte zu Teniente Denaro in das Schlafgemach des Hauses zurück. Er warf einen Blick auf den bärtigen Mann, der am Boden lag, und schaute zu Denaro. „Er ist bewußtlos“, erklärte der Teniente. „Du bewachst ihn. Er darf auf keinen Fall entkommen.“ Die Züge des Soldaten verhärteten sich. „Keine Sorge, Teniente. Ich passe auf.“ Denaro stieg auf die Fensterbank, stieß sich ab und sprang in die Gasse. Er sah seine beiden Soldaten vor der Hof einfahrt stehen und lief zu ihnen. „Habt ihr ihn nicht erwischt?“ fragte er. „Er ist uns durch die Lappen gegangen“, erwiderte der eine Soldat. „So ein Mist“, sagte der andere. „Vorwärts, wir suchen ihn“, sagte Denaro. „Vielleicht finden wir ihn noch.“ Sie stürmten auf den Hof und hielten nach dem Riesen Ausschau. Aber Boldrago war wie vom Erdboden verschluckt. Die sieben anderen Soldaten schwärmten unterdessen von der Plaza aus und drangen von zwei Seiten in die Gasse ein. Doch ihre Hoffnung, den Plünderer fassen zu können, wurde enttäuscht. Die Soldaten begegneten sich ungefähr in der Mitte der Gasse und blieben kopfschüttelnd stehen. Ihr Kamerad, der bei dem immer noch besinnungslosen Soto Wache hielt, streckte seinen Kopf aus dem Fenster. „In Ordnung?“ fragte er. „Hat's geklappt?“ „Nein“, antwortete einer der Soldaten. „Was ist eigentlich los? Willst du uns zum Narren halten?“ „Nicht im Traum“, brummte der Wachtposten. Denaro kehrte in die Gasse zurück und gab seinen Männern neue Befehle. Sie umrundeten den Gebäudeblock, in dem Boldrago sich aufhalten mußte. Die Soldaten drangen in alle Häuser ein, durchsuchten alles, jeden Raum, jeden Winkel. Doch wieder hatten sie keinen Erfolg. Boldrago befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Hafenviertel. Er hatte den Hinterhof sehr schnell wieder verlassen, war durch den Flur eines Hauses gehastet und nach draußen gelaufen. Dort hatte er eine Straße überquert, ehe die Soldaten auftauchten. Er war ihnen um eine Nasenlänge voraus. Jetzt, da er keine Schritte mehr hinter sich hörte, legte er eine Verschnaufpause ein. Er ließ sich auf ein umgekipptes Faß sinken und atmete keuchend.
Zur Hölle mit den Soldaten, dachte er. Hatten sie ausgerechnet jetzt erscheinen müssen? Um ein Haar hätten sie ihn erwischt. Boldrago wünschte ihnen die Pest und einige andere üble Krankheiten an den Hals. Was wohl aus Soto geworden war? Boldrago stieß einen grunzenden Laut aus. Egal. Soto hatte sich die Suppe eingebrockt, er sollte sie auch wieder auslöffeln. Es war ja seine Idee gewesen. Und dann waren sie auch noch so dumm gewesen, ihre Musketen in einem Nebenraum des Schlafgemachs zurückzulassen. Wie konnte man so hirnverbrannt sein! Boldrago hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Die Soldaten hatten sie überrumpelt Sie hatten nicht genug aufgepaßt. So ein Fehler durfte ihm nicht noch einmal passieren. Boldrago erhob sich und ging zum Hafen. Kein Mensch begegnete ihm. Keiner verfolgte ihn mehr. Um so besser, dachte er. Er schlenderte am Kai entlang und fragte sich, was er jetzt unternehmen solle. Wieder verschwinden? Es waren ja keine Kerle mehr da, mit denen man sich zusammentun konnte. Außerdem würde es hier bald von Soldaten nur so wimmeln. Wenn die Garde und die Miliz erst richtig spitzkriegten, daß für sie keine wirkliche Gefahr mehr drohte, hatten sie die Situation im Handumdrehen wieder im Griff. Havanna gehörte dann wieder ihnen. Und wehe dem Kerl, der sich von ihnen schnappen ließ! Er würde so enden wie de Escobedo und Bastida - an einem Ast der hohen Pinie vor dem Gefängnis. Ganz zufällig gelangte Boldrago in die Nähe der Hafenkaschemme von Gonzalo Bastida. Neugierig geworden, trat er ein. Auch hier herrschte geisterhafte Stille. Aber es gab stumme Zeugen dessen, was hier vor wenigen Stunden vorgefallen war - die Toten. Sie lagen auf den Bohlen. Boldrago zählte mehr als ein Dutzend. Der Riese zuckte mit den Schultern. Na und? Er konnte nur lachen. Mit einem bösen Grinsen umrundete er die Theke und näherte sich den Fässern. Durch Klopfen stellte er fest, welche noch voll waren. Er öffnete den Zapfhahn eines Weinfasses, füllte einen ganzen Krug auf und trank gierig. Die Verfolgungsjagd hatte ihn durstig werden lassen. Von dem letzten Schreck mußte er sich jetzt erst einmal gebührend erholen. * Teniente Denaro hatte beschlossen, die Jagd nach dem verschwundenen Kerl abzubrechen. Er ging mit seinen Männern zu dem Haus zurück, in dem sie die beiden überrascht hatten. Immerhin hatten sie ja einen Gefangenen. Mit dem wollte sich Denaro jetzt befassen. Soto lag nach wie vor auf dem Fußboden der Schlafkammer und hatte die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Denaro trat mit seinen Soldaten ein. Zwei Wachtposten blieben an der Eingangstür. Denaro gab einem seiner Männer einen Wink, und dieser entfernte sich und kehrte mit einem Kübel voll kaltem Wasser zurück. Der Teniente nickte dem Soldaten zu. Der Soldat blieb direkt neben Soto stehen, hob den Kübel etwas an und kippte den Inhalt dann über dem Gefangenen aus. Der Schwall kalten Wassers holte den Bewußtlosen in die Wirklichkeit zurück. Soto riß die Augen weit auf und japste. „Was - wo bin ich?“ stieß er hervor. „In unserer Obhut“, erwiderte Denaro frostig. Soto schaute zu ihm hoch. „Was - was wollt ihr von mir?“ „Wir haben dich auf frischer Tat ertappt“, sagte der Teniente.
„Tat?“ wiederholte Soto. „Ich habe nichts ausgefressen und nichts verbrochen. Ich bin ein ehrlicher, ordentlicher Mensch.“ Denaro verspürte nicht die geringste Lust, sich von dem Kerl zum Narren halten zu lassen. Wieder gab er seine Befehle. Zwei Soldaten packten Soto und hievten ihn auf einen Stuhl. „Ich warne dich“, sagte der Teniente kalt. „Noch ein einziges falsches Wort, und ich lasse dich standrechtlich erschießen. Auf der Plaza.“ Soto wurde es mehr als mulmig zumute. Er zweifelte keinen Moment daran, daß der Teniente seine Drohung in die Tat umsetzen würde. Sein Leben hing an einem seidenen Faden - und es war keinen Silberling mehr wert. „Ich will nicht sterben“, sagte Soto mit bebender Stimme. „Bitte um Gnade.“ „Du kannst dich nur retten, wenn du alles erzählst, was du weißt“, erwiderte Denaro. „Nur dann wirst du nicht zum Tode verurteilt.“ „Sondern?“ fragte Soto ächzend. „Ich lasse dich nur ins Gefängnis sperren“, entgegnete der Teniente. Er blickte zu seinen Soldaten. „Macht eure Musketen schußbereit, Männer. Wir vergeuden mit diesem Bastard nur unsere Zeit.“ „Einen Augenblick!“ stieß Soto hastig hervor. „Ich - ich will ja alles sagen!“ Denaro stemmte die Fäuste in die Seiten und musterte den Kerl argwöhnisch. „Wie heißt du?“ „Soto.« „Und sonst?“ „Alle nennen mich Soto“, sagte der Gefangene. „Ich schwöre es. Ich hieß schon immer so. Wer meine Mutter und mein Alter waren, weiß ich nicht.“ „Schon gut“, sagte Denaro. „Wie lautet der Name deines Kumpans?“ „Boldrago.“ „Wo könnte er jetzt stecken?“ fragte der Teniente. „Ist er entwischt?“ wollte Soto wissen. „Ich stelle hier die Fragen“, sagte Denaro mit klirrender Stimme. „Also?“ „Vielleicht ist er zum Hafen gelaufen“, erwiderte Soto. „Sicher ist auf jeden Fall, daß er mich hier im Stich ließ. Dieser miese elende Drecksack!“ „Ihr habt hier also plündern wollen?“ fragte der Teniente. „Ja“, gestand Soto. „Was habt ihr gesucht?“ „De Escobedos Geldkatze.“ Denaro war überrascht. „De Escobedo hat das zugelassen? Ist er etwa auch verschwunden? Oder was hat sich hier abgespielt?“ „De Escobedo ist tot“, sagte Soto. „Er soll irgendwo als Leiche baumeln. Wo genau, weiß ich nicht. Ich habe ihn selbst nicht gesehen und lege auch keinen Wert darauf.“ Einer der Soldaten stieß einen leisen Pfiff aus. Denaro blickte ihn zurechtweisend an. Dann wandte er sich wieder an den Gefangenen. „So ist das also. Sind deshalb alle getürmt?“ „Ja.“ „Willst du mir endlich zusammenhängend erzählen, was geschehen ist?“ „Ja.“ Soto nickte. „Also, das war so. Boldrago und ich haben heute nacht Wache gehabt. Hier, vorm Befehlsstand von de Escobedo. Na, es war ein ruhiger Posten. Ab und zu kam der Senor General mal raus und schaute nach dem Rechten, aber dann verschwand er endlich ganz. Mit Maria Dolores. Im Bett, meine ich.“ Er wies auf das zerwühlte Lager. „Eine Hure.“ „Wo ist sie?“
„Weg. Abgehauen. Die fängt keiner mehr.“ „Weiter“, drängte der Teniente. „Und halte dich nicht mit Nebensächlichkeiten auf.“ „Nach Mitternacht tauchten fremde Kerle auf“, fuhr Soto mit seinem Bericht fort. „Einfach so. Fünf Mann. Die traten auf uns zu und fragten uns nach de Escobedo und sagten, sie hätten 'ne wichtige Nachricht von Cuchillo und Bastida.“ „Bastida ist also mit einer der Rädelsführer?“ fragte der Teniente. „Ja.“ Denaro sah wieder zu seinen Männern und sagte grimmig: „Das haben wir uns schon gedacht. Weiter.“ „Also, ehe wir richtig kapierten, daß da was nicht stimmte, hauten die Kerle uns um“, erklärte Soto. „Mann, und wie die zugeschlagen haben!“ „Wer waren diese Männer?“ fragte Denaro. Soto hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Ich habe keine Ahnung, wirklich nicht, Senor.“ „Sie gehörten also nicht zu euch?“ „Bestimmt nicht. Sonst wären sie ja auch nicht über uns hergefallen.“ „Was wollten sie wirklich von de Escobedo?“ „Sie sind hier eingedrungen und haben de Escobedo weggeschleppt“, erwiderte Soto. „Das haben Boldrago und ich aber erst später erfahren, als wir wieder bei Sinnen waren. Maria Dolores ist einfach raus aus dem Bett hier und auf und davon. Ach so, das habe ich ja schon gesagt. Also, die fremden Bastarde sind mit de Escobedo weg, und keiner hat de Escobedo wiedergesehen. Da haben es die meisten für gesünder gehalten, sich zu verdrücken. Boldrago und ich auch. Wir sind noch an der Kaschemme vorbei, und da war 'ne Schlägerei. Wir haben ein paar Sachen zusammengeklaut, dann sind wir abgehauen. Einfach weg aus der Stadt.“ „Ich verstehe nicht ganz, warum ihr zurückgekehrt seid“, sagte der Teniente. Soto sah plötzlich sehr niedergeschlagen aus. „Das war meine Idee. Wäre ich doch nicht so blöd gewesen. Ich dachte, wir könnten hier noch was holen. De Escobedos Geld. Ist doch möglich, daß er irgendwo was versteckt hat.“ „Das werden wir feststellen“, erwiderte Denaro. „Und wo habt ihr eure übrige Beute verborgen?“ „Wir haben sie im Dschungel vergraben“, antwortete Soto. „Du wirst meinen Soldaten noch verraten, wo“, sagte der Teniente. „Das Raubgut, das wir sicherstellen können, wird den rechtmäßigen Besitzern zurückerstattet.“ „Jawohl“, sagte Soto ergeben. „Du kannst noch froh sein, daß wir dich am Leben lassen.“ „Das bin ich.“ Denaro stellte dem Kerl noch ein paar Fragen. Dann ließ er ihn abführen. Zwei Soldaten brachten Soto vorerst in die Residenz. Später sollte er Jose Campora, dem Direktor des Gefängnisses, übergeben werden. Vorher aber mußte man in Erfahrung bringen, ob der Weg zum Gefängnis und zum Hafen frei war.
4.
Echeverria hatte seinen Posten auf einem der Wehrtürme bezogen. Mit einem Spektiv hatte er verfolgt, wie Denaro und der Stoßtrupp in das Gebäude eingedrungen waren. Er hatte auch gesehen, wie die Soldaten ausgeschwärmt waren. Was war geschehen? Der Primer Teniente erfuhr es erst jetzt, als ein Soldat vom „Befehlsstand“ des Alonzo de Escobedo aus über die Plaza eilte und durch das Tor in die Residenz zurückkehrte. Kurz darauf erschienen auch die beiden Soldaten mit dem Gefangenen. Echeverria schenkte dem Halunken jedoch weniger Aufmerksamkeit. Er lauschte dem Bericht des Melders. „De Escobedo ist also tot?“ fragte Echeverria. „So hat der Gefangene berichtet“, erwiderte der Soldat. „Und Bastida?“ „Wir wissen nicht, wo er steckt.“ „Die Kerle sind führerlos“, sagte der Primer Teniente zufrieden. „Das ist gut für uns. Je größer die Unsicherheit dieses Gesindels ist, desto mehr Chancen haben wir, mit ihnen schnell und gründlich aufzuräumen. Die meisten scheinen tatsächlich geflohen zu sein. Jene, die sich noch in der Stadt versteckt haben, holen wir uns jetzt.“ Echeverria gab die Meldung rasch an Don Luis Marcelo weiter. Der Capitän ließ seinem Primer Teniente freie Hand, was den weiteren Fortgang des Unternehmens betraf. Und Echeverria wußte genau, was er zu tun hatte. Er stellte mehrere Trupps Soldaten zusammen. Dann rückte er mit dem ersten Trupp aus - zu Denaro. Denaro hatte derweil mit seinen Soldaten weitere Untersuchungen vorgenommen. Systematisch forschten sie die Gebäude und Höfe, die Gassen und Gänge hinter der Plaza ab. Auf einem quadratischen Hof, auf dem sich die Reste einer Feuerstelle befanden, trafen sich die Männer. „Meine Anerkennung“, sagte Echeverria. „Es ist großartig, wie Sie das gemacht haben, Teniente.“ Denaro wurde fast rot. „Ich habe nur Ihre Befehle ausgeführt.“ „Mehr als das. Sie haben beispielhaften Mut bewiesen.“ „Danke, Senor.“ „Capitän Marcelo ist unterrichtet“, fuhr der Primer Teniente fort. „Er wird Sie noch persönlich belobigen.“ „Wir haben allen Grund zur Hoffnung“, sagte Denaro, der kaum zu verbergen vermochte, wie stolz er war. „Der Mob hat sich zurückgezogen. Da Bastida der zweite Rädelsführer ist, sollten wir sofort gegen seine Kneipe vorgehen. Ich meine das ist mein Vorschlag, Senor.“ „Er ist bereits angenommen.“ „Bastida scheint von Anfang an mit de Escobedo unter einer Decke gesteckt zu haben.“ „Ja“, sagte Echeverria. „Und ein unbeschriebenes Blatt ist der dicke Wirt keineswegs, wie wir alle wissen. Nur haben wir ihn nie etwas anhängen können.“ „Das ändert sich jetzt.“ „Allerdings.“ „Wie ist die Stimmung in der Residenz, Senor?“ erkundigte sich der Teniente. „Besser“, entgegnete Echeverria. „Es herrscht wieder Zuversicht. Unsere Kritiker, allen voran Don Alfonso, ziehen es vor, jetzt den Mund zu halten.“ „Um so besser“, sagte Denaro aufatmend.
„Über Bastida wird übrigens auch gemunkelt, daß er bisher immer durchgeschlüpft sei, weil er gewisse Stellen geschmiert habe“, sagte Echeverria nachdenklich. „Polizeikräfte, mein lieber Teniente. Aber damit ist jetzt Schluß. Es wird sich einiges ändern in Havanna. Es muß unser aller Ziel sein, den Schweinestall auszumisten.“ „Ganz meine Meinung“, bekräftigte Denaro. „Wir holen uns also diesen Bastida?“ „Ja.“ „Wir können gleich abmarschieren.“ „Warten Sie“, sagte der Primer Teniente. „Nicht so hastig. Für den Fall, daß wir auf härteren Widerstand stoßen, habe ich noch ein paar Trupps zusammengestellt. Auf die sollten wir warten. Dann rücken wir alle zusammen ab.“ Echeverria ließ die Trupps holen. Während Denaro und er mit ihren Trupps das Eintreffen der Verstärkung abwarteten, betrachteten sie die Feuerstelle. Hier waren Ochsen und Ferkel gebraten worden - Gaben von Gonzalo Bastida. Er hatte mit List und Geschick versucht, die hundert Kerle bei Laune zu halten, die er rekrutiert und de Escobedo unterstellt hatte. Auch der Wein war reichlich geflossen. Sogar die Liebesdienerinnen waren im Einsatz gewesen. Doch es hatte alles nichts genutzt. Bei der ersten größeren Schwierigkeit war die „Armee“ von der Fahne gegangen. Die Plünderer dachten nur an ihren eigenen Vorteil. Jeder war sich selbst der Nächste, das war ihre Devise. Sie waren brutal und kannten keine Skrupel. Wenn es sein mußte, zerfleischten und erdolchten sie sich gegenseitig. Echeverria und Denaro überlegten, wie Bastida auf die „Fahnenflucht“ der Kerle und die Hinrichtung de Escobedos reagiert haben mochte. Daß der dicke Kneipenwirt ebenfalls gehenkt worden war, ahnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. * Keuchend verharrten die drei Wegelagerer, die den Maultierkarren überfallen hatten, auf einer winzigen Lichtung im Busch. Der Schwarzbart stieß Maria von sich. Sie landete im Morast. Stöhnend drehte sie sich auf den Rücken und blickte zu den Kerlen auf. Der Schwarzbart zeigte ihr sein Messer. „Wehe, du schreist!“ zischte er. „Dann schlitze ich dich auf!“ „Ich werde nicht schreien“, sagte das Mädchen mutig. Sie hatte aber doch gewaltige Angst und spürte ihren hämmernden Herzschlag bis in den Hals hinauf. „Goliath“, sagte der zweite Wegelagerer zu dem Riesen. „Ob sie wohl noch hinter uns her sind?“ „Das kann sein“, erwiderte Goliath. „Aber sie sollen nur kommen. Wir bereiten ihnen einen heißen Empfang, Mendez.“ Der dritte, ein Kerl mit Augen wie Kohlestücken, sagte: „Scalfaro können wir wohl abschreiben. Der hat's nicht überlebt.“ „Turco, du Narr“, sagte Mendez. „Hast du nicht gesehen, wie das Weib ihm den Dolch in den Hals gestochen hat? Scalfaro ist auf dem Karren umgekippt und liegengeblieben.“ „Tot“, sagte Goliath. „Sonst wäre er auch abgehauen“, fügte Mendez hinzu. „Das ist doch wohl klar.“ Turco deutete mit dem Finger auf das Mädchen. „Sie wird dafür bezahlen.“ Maria begann heftig zu zittern. Die Kerle sahen es und begannen zu grinsen. „Los“, sagte Goliath. „Durchsuch sie, Mendez. Vielleicht hat sie noch Waffen bei sich.“ Mendez kniete neben Maria und tastete sie ab.
„Donnerwetter!“ sagte er erstaunt. „Das ist ja ein Weib.“ „Merkst du das erst jetzt?“ brummte Goliath. „Hat sie Waffen bei sich?“ fragte Turco. „Nein“, erwiderte Mendez grinsend. „Aber andere interessante Sachen. Na, du weißt schon.“ „Zieh sie aus“, sagte der Riese. „Wir sind hier ungestört. Wir haben nichts Brauchbares in die Finger gekriegt, aber wir wollen wenigstens unseren Spaß mit ihr haben.“ „Und wir wollen Scalfaro rächen!“ zischte Turco. „Um den ist es doch nicht schade“, meinte Mendez. „Halt dein Maul, du blöder Hund“, sagte Turco wütend. Er hatte sich mit Scalfaro recht gut verstanden, während er Mendez nicht leiden konnte. Mendez begann, an Marias Kleidung herumzufingern. Sie war versucht, nach ihm zu schlagen, ihn zu kratzen und zu beißen. Aber sie bezwang sich. Wenn sie jetzt Widerstand leistete, wurde alles nur noch schlimmer. Plötzlich besann sie sich auf die guten Ratschläge, die Juanita ihr gegeben hatte, als sie in Havanna an der Belagerung teilgenommen hatten. Weibliche Waffen geschickt einsetzen, wenn man in tödlicher Gefahr schwebte - nur Klugheit konnte einem das Leben retten. „Ihr begeht einen schweren Fehler“, sagte sie. „Wie?“ fragte Turco. „Was soll das heißen?“ „Ach, hört nicht auf ihr Gerede“, sagte Mendez. „Die will uns bloß hinhalten.“ „Ihr wißt ja gar nicht, wer ich bin“, sagte Maria. „So?“ sagte Goliath. „Wer bist du denn?“ „Ich stamme aus dem Haus Ravena“, erklärte das Mädchen. „Kenne ich nicht“, sagte Mendez abfällig. „Ravena?“ wiederholte Turco. „Don Felipe Ravena?“ „Ja“, antwortete Maria. „Wer ist das?“ wollte Goliath wissen. „Ein reicher Kaufmann“, erwiderte Turco. „Ich habe den Namen mal bei Bastida in der Kaschemme gehört. Soll schwer Geld haben, der Hundesohn.“ Goliath trat in drohender Haltung auf Maria zu. „Wer bist du also? Ravenas Tochter? Sprich! Oder müssen wir dir die Würmer einzeln aus der Nase ziehen?“ „Ich bin seine Tochter“, log Maria. Nachprüfen konnten die Kerle es ohnehin nicht. Sie nahm all ihren Mut zusammen und fuhr fort: „Ihr könnt mir Gewalt antun, aber es bringt euch nichts ein. Wenn ihr mich hingegen freilaßt, wird mein Vater euch belohnen.“ „Das glaube ich nicht“, sagte Goliath. „Ich auch nicht“, pflichtete ihm Mendez mit hämischem Lachen bei. „Wo ist dein Vater?“ fragte Turco das Mädchen. „In der Residenz. Mit meiner Familie.“ „Und wo habt ihr gewohnt?“ „In einem großen Haus am Rande der Stadt“, erwiderte Maria. „Goliath“, sagte Turco. „Wir sollten zu dem Haus gehen. Sie weiß, wie man reinkommt. Da gibt es sicher noch was zu holen.“ „Ja“, bekräftigte Maria seine Worte. „Bald haben die Soldaten raus, daß die Belagerung aufgehoben ist“, entgegnete der Riese. „Dann übernehmen sie wieder das Kommando in der Stadt. Und sie knallen jeden von uns ab, der ihnen über den Weg läuft.“ „Nicht so rasch“, sagte Turco. „Sie müssen erst mal wissen, daß wir nicht mehr da sind. Sie haben immer noch eine Heidenangst, vergiß das nicht. Sie gehen nur ganz
langsam vor. Und wir? Hölle, wir haben nicht mal mehr unsere Musketen und Pistolen. Die hätten wir wenigstens irgendwo verkaufen können. Aber wir haben sie bei der verdammten Prügelei verloren.“ „Wo?“ fragte Maria. „Na, in Bastidas Kaschemme“, entgegnete Mendez. „Da ging es hoch her. Jeder wollte noch schnell was von Bastidas Schatz an sich reißen. Cuchillo, Gayo und Sancho sind abgehauen. Rioja ist tot. Es hat noch mehr Tote gegeben. Wir armen Schlucker sind leer ausgegangen.“ „Ja, unsere Taschen sind leer.“ „Ihr hättet uns nicht überfallen sollen“, sagte Maria. „Wir haben auch nichts als unser Leben gerettet.“ „Ihr habt den Karren“, sagte Mendez. „Der ist was wert“, meinte Turco. „Aber mehr wert ist das Mädchen. Also, was ist, Goliath? Wir plündern ihr Haus aus. Sie führt uns hin. Anschließend erpressen wir von ihrem Alten ein fettes Lösegeld.“ „Spinner!“ sagte Mendez. Goliath fuhr sich mit der Hand durch sein Bartgestrüpp. „Nicht schlecht“, brummte er. Er hob den Kopf und lauschte. „In der Stadt wird auch noch nicht geschossen. Das heißt, die Soldaten sitzen noch in der Residenz und im Gefängnis. Sie trauen sich nicht heraus. Ich glaube, du hast recht, Turco.“ „Verdammt!“ sagte Mendez wütend. „Wollt ihr das wirklich riskieren?“ „Ja“, antwortete Goliath. „So eine Gelegenheit erhalten wir nicht wieder. Will das nicht in deinen dämlichen Schädel?“ „Verrückt“, sagte Mendez. „Na gut!“ zischte Turco. „Du kannst ja hierbleiben und auf deinen Fingernägeln kauen! Wir versuchen es! Und wenn wir reich werden, schaust du in die Röhre!“ „Ich gehe mit“, sagte Mendez. „Aber vorher befasse ich mich mit dem Mädchen.“ „Laß das jetzt“, sagte Goliath. „Dazu haben wir später noch Zeit. Wir müssen uns jetzt beeilen. Los, bewegt euch! Auf zum Ravena-Haus!“ Mendez rappelte sich auf und zerrte Maria vom Boden hoch. Goliath packte das Mädchen am Arm und dirigierte sie mit dem Messer vor sich her. Sie verließen die Lichtung und marschierten in Richtung Havanna. Mendez und Turco hielten sich dicht hinter ihrem Anführer. Weit war die Stadt nicht entfernt, man konnte sie in einer Stunde erreichen. Maria betete zum Himmel, daß ein Wunder geschah. Sie hatte einen Aufschub erreicht - aber wie lange ließen sich diese drei Kerle noch hinhalten? Spätestens im Haus von Don Felipe Ravena, wenn sie feststellten, daß es doch nichts mehr zu rauben gab, würden sie erneut über sie herfallen. Maria konnte nur hoffen, daß Osvaldo, El Sordo und Juanita ihre Spur aufgenommen hatten und ihr halfen. Wenn die drei sie ihrem Schicksal überließen, war alles aus. * Echeverria und Denaro setzten sich an die Spitze ihrer Trupps - und das Unternehmen begann. Durch die Gassen der Stadt rückten die Soldaten auf den Hafen zu. Natürlich ließen sie die gebotene Vorsicht walten. Sie hielten ihre Waffen Musketen und Blunderbüchsen - im Anschlag und schauten sich immer wieder nach allen Seiten um. Besonders schmalen Gängen, Einfahrten und Höfen galt ihre Aufmerksamkeit. Wo hatten sich die letzten Galgenstricke versteckt? Lauerten sie ihnen doch noch irgendwo auf?
Dies war nicht der Fall. Zumindest nicht auf dem Weg bis zum Gefängnis. Als die Soldaten vor dem großen, wuchtigen Bau eintrafen, bot sich ihnen jedoch eine Überraschung anderer Art. Betroffen blieben sie stehen und blickten zu der hohen Pinie auf. Da baumelten sie friedlich nebeneinander: Alonzo de Escobedo und Gonzalo Bastida. Der Morgenwind bewegte sachte ihre Gestalten. Es wirkte, als wiegten sie sich im Traum. „Hol's der Henker“, sagte Echeverria. „Wer hätte das gedacht?“ „Kaum zu fassen“, sagte Denaro. „Aber wahr.“ „So haben also beide Rädelsführer ihr gerechtes Ende gefunden“, sagte der junge Teniente. „Recht so. Sicherlich ist dies Jose Camporas Werk.“ „Soldaten!“ rief ein Mann von einem der Fenster des Gefängnisgebäudes aus. „Hierher!“ Echeverria, Denaro und die Soldaten wandten die Köpfe. Sie erkannten den Mann. Er war einer der Wächter Camporas. Sie winkten ihm zu, dann betraten sie den Hof des Gemäuers. Hier war es Jose Campora persönlich, der sie empfing. „Senor Campora“, sagte der Primer Teniente zur Begrüßung. „Es freut uns, daß Sie und Ihre Männer wohlauf sind.“ „Genauso bin ich froh, daß Sie überlebt haben“, erwiderte der Gefängnisdirektor. „Wie sieht es in der Residenz aus?“ „Soweit alles in Ordnung“, sagte Echeverria. „Wir dürfen jetzt wohl die Hoffnung haben, daß alles ein gutes Ende findet. Es wäre nur interessant, zu erfahren, warum die Belagerer so plötzlich aufgegeben haben.“ „Dafür gibt es handfeste Gründe“, erklärte Campora. „Ich denke, daß ich Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen kann.“ Schon auf einige Entfernung hatten die Gefängniswächter gesehen, wie die Garde und die Miliz angerückt waren. Campora hatte daraufhin sofort das Tor öffnen lassen. Er hatte sich denken können, daß der Anblick der beiden Gehenkten bei den Soldaten Verwunderung und Verblüffung hervorrief. Jetzt hatten sie ein Recht darauf, alles zu erfahren. „Wir haben unverhofft Hilfe erhalten“, sagte Campora. „Und Sie werden kaum ahnen, von welcher Seite. Es ist der deutsche Kaufherr Arne von Manteuffel, der für uns eingesprungen ist. Er hat Havanna vor dem Untergang gerettet.“ „Unglaublich“, sagte Echeverria. „Aber wie hat er das fertiggebracht?“ fragte Denaro. „Er hat doch sicherlich keine Truppe zur Verfügung.“ Campora lächelte. „Dieser von Manteuffel ist ein hervorragender und tapferer Mann, das kann ich nur betonen. Wir haben das Glück gehabt, daß einige seiner Handelsschiffe in den Hafen eingelaufen sind - gestern nacht. Mit den Leuten seiner Besatzungen hat der Deutsche Bastida und de Escobedo überwältigt und an mich übergeben. Nachdem er mir diese beiden Rädelsführer überstellt hat, habe ich nicht lange gezögert. Ich habe sie nach dem Standrecht abgeurteilt und hängen lassen.“ „Mein Kompliment“, sagte Echeverria. „Wir sollten uns dem deutschen Kaufherrn gegenüber erkenntlich zeigen“, sagte Campora. „Ja, da haben Sie recht“, pflichtete der Primer Teniente ihm bei. „Der Mann hat nicht nur tapfer, sondern auch korrekt gehandelt.“ „Was hat ihn dazu veranlaßt?“ fragte Denaro. „Er steht auf unserer Seite“, erwiderte Campora. „Auch er kann es nicht dulden, daß der Mob und der Pöbel Havanna regieren und Unschuldige ihr Leben lassen.“
„Sehr lobenswert“, sagte Echeverria. „Ich werde nicht versäumen, das in meinem Bericht an Capitän Marcelo entsprechend herauszustreichen.“ „Wie geht es dem Capitän?“ erkundigte sich der Gefängnisdirektor. „Schon wieder besser“, erwiderte der Primer Teniente. „Allerdings muß er noch das Bett hüten.“ „Ich hoffe, daß er bald wieder gesund ist.“ „Wir auch“, sagte Denaro. „Seniores“, sagte der Gefängnisdirektor. „Ich habe de Escobedo und Bastida auf eigene Faust hinrichten lassen, um dem Aufruhr die Spitze abzubrechen. Ich bin bereit, dafür die Verantwortung zu tragen. Ich habe nicht anders handeln können.“ Echeverria erwiderte: „Ich an Ihrer Stelle hätte mich nicht anders verhalten. Ich hätte genauso gehandelt. Ein späteres Gericht hätte die Todesstrafe sowieso verhängt.“ Wenig später schickte der Primer Teniente einen Melder zur Residenz, um Capitän Marcelo über die günstige Wendung zu informieren. Der Kommandant der Garde war von der Botschaft derart begeistert, daß er am liebsten sofort von seinem Krankenlager aufgestanden wäre. Nur der energische Protest des Arztes hielt ihn zurück. „Besten Dank“, sagte Marcelo zu dem Melder. „Teilen Sie Echeverria folgendes mit: Er soll versuchen, auch die letzten Kerle zu erwischen, wo immer sie sich verkrochen haben. Ich will eine komplette Säuberungsaktion, bei der kein Galgenvogel verschont wird. Gelingt es den Soldaten, Gefangene festzunehmen, dann werden diese Gefangenen in das Gefängnis gesperrt und der Bewachung von Campora und dessen Wärtern unterstellt.“ Der Melder salutierte und verschwand. Capitän Don Luis Marcelo atmete tief durch und blickte zur Decke seiner Kammer. Endlich - die Belagerung war aufgehoben. De Escobedos großer Plan, die Macht in Havanna an sich zu reißen, war gescheitert. Er hatte dafür bezahlt, und auch Gonzalo Bastida hatte sein verdientes Ende gefunden. Jetzt galt es, wieder Recht und Ordnung herzustellen. Er, Marcelo, würde die Aufgaben des Gouverneurs wahrnehmen. Eine seiner ersten Amtshandlungen - so nahm er sich fest vor - würde es sein, sich gebührend bei dem deutschen Kaufherrn Arne von Manteuffel für dessen einzigartige Unterstützung zu bedanken. * In Havanna begann das große Kesseltreiben. Echeverria, Denaro und andere Offiziere und Unteroffiziere marschierten von der Residenz und vom Stadtgefängnis aus mit ihren Trupps in Richtung Hafen. Das Hafenviertel wurde von der Miliz und von der Garde regelrecht umgekrempelt und durchkämmt. Es wurde eine Razzia durchgeführt, wie die Stadt sie noch nicht erlebt hatte. In einem der Häuser unweit der Kaschemme stießen die Soldaten des jungen Teniente Denaro auf einen Toten. Der Kerl lag auf dem Rücken. Aus seiner Brust ragte das Heft eines Messers auf. Die Soldaten stiegen über ihn hinweg und durchsuchten die Räume. Sie stießen auf ein Bild der völligen Verwüstung. Die Möbel waren umgestürzt und zertrümmert, Vasen und Bilder lagen zerschlagen auf dem Boden. Gardinen und Kleidungsstücke waren überall zerstreut. Auch die Bleiglasfenster waren von den Plünderern nicht verschont worden. Es hatte den Anschein, als hätten die Kerle Hämmer benutzt, um sie in Stücke zu hauen.
Denaro hörte schnarchende Laute, die aus dem Keller des Hauses an sein Ohr drangen. Mit zwei Soldaten begab sich der Teniente nach unten. Hier entdeckten sie im Halbdunkel einen kleinen Kerl, der in einer riesigen Weinlache lag. Ein Krug lag auf dem Boden - kaputt. Aus einem Weinfaß leckten noch ein paar Tropfen. Auf einem Tisch lag ein Schinken, von dem mit einem riesigen Messer große Stücke abgesäbelt worden waren. Angewidert verzog Denaro das Gesicht. „Wasser“, sagte er zu einem der beiden Soldaten. Kurz darauf holten sie den Kerl mit der gleichen Prozedur ins Bewußtsein zurück, mit der sie auch Curtis aufgeweckt hatten. Ein Schwall kaltes Wasser klatschte dem kleinen Kerl ins Gesicht. Allerdings mußte Denaro mit einem kräftigen Tritt nachhelfen, um den Schläfer wach zu kriegen. Der Kerl grunzte, dann fuhr er halb hoch und riß die Augen auf. Er blickte in die Mündung von Denaros Muskete. „Wer bist du?“ fuhr der Teniente ihn an. „O Gott!“ Der Kleine rutschte bis an das Weinfaß und prallte mit dem Hinterkopf dagegen. „Bitte - nicht schießen!“ „Deinen Namen will ich wissen!“ stieß Denaro zornig hervor. „Wiesel!“ keuchte der Kleine. „Wie?“ „So nennt man mich“, sagte das Wiesel hastig. „Ich weiß selber nicht, ob ich richtig getauft worden bin.“ „Lumpengesindel“, sagte Denaro voll Verachtung. „Ihr seid alle gleich. Wer ist der Kerl, der mit einem Messer“ in der Brust oben liegt?“ Das Wiesel mußte überlegen. Er kratzte sich am Kopf. Wie elend ihm zumute war! Er hatte seinen Rausch weitgehend ausgeschlafen, aber das Erwachen war grauenvoll. „Juarez“, sagte er schließlich. „Dein Kumpan?“ „Ja.“ „Wer hat ihn erstochen?“ fragte der Teniente. Das Wiesel zögerte mit der Antwort. Aber Denaro gab seinen Soldaten ein Zeichen. Sie zerrten den Mann vom Boden hoch. „Du wirst standrechtlich erschossen“, sagte der Teniente. „Was Besseres hast du nicht verdient.“ „Ich! Ich war's!“ schrie das Wiesel. „Nach der Schlägerei in der Kneipe haben wir hier nachgesehen, ob es noch was zu holen gäbe. Wir waren mächtig besoffen. Dann haben wir das Faß angestochen und noch mehr gebechert. Zum Schluß wußten wir nicht mehr, was wir taten. Juarez wollte mich abstechen. Ich bin nach oben getürmt. Er kam hinter mir her. Da habe ich mich mit meinem Messer verteidigt. Es ist die Wahrheit, die reine Wahrheit!“ „Wo fand diese Schlägerei statt, von der du gesprochen hast?“ wollte der Teniente wissen. „Bei Bastida.“ „Ist noch jemand dort?“ „Das weiß ich nicht“, erwiderte das Wiesel. „Aber Cuchillo und die anderen Leibwächter des Dicken haben die hinteren Zimmer der Kneipe ausgeräumt und sind dann abgehauen.“ „Ist das alles, was du weißt?“ fragte Denaro. „Ja. Mehr weiß ich nicht.“
„Abführen, den Kerl“, ordnete Denaro an. „Wir kämmen das Viertel weiter ab und nehmen uns die Kaschemme von Bastida vor.“ Das Wiesel flehte um Gnade, doch all das Jammern und Betteln nutzte ihm nichts. Zwei Soldaten brachten ihn zum Gefängnis. Dort sperrten die Wächter den Kleinen in eine Zelle, in der schon andere Galgenvögel und Schlagetots hockten und über ihre Sünden und Verbrechen nachdachten. Das Wiesel schlotterte am ganzen Leib. Wäre er doch bloß getürmt, wie er's vorgehabt hatte! Wahnsinn, sich noch in das Haus nahe der Kneipe einzuschleichen und von dem Wein zu saufen! Aber es war zu spät, sich wegen des Fehlers Vorwürfe zu machen. Er saß in der Klemme. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß er so enden würde wie die beiden Oberbösewichte, die immer noch an der hohen Pinie vor dem Gebäude baumelten. Wie dem Wiesel erging es auch den anderen Strolchen, die von den Soldaten aufgegriffen wurden. Wer gefaßt wurde, der war automatisch verdächtig, zu den Aufrührern zu gehören. Denn die Bewohner und Bürger von Havanna befanden sich nach wie vor in der Residenz. Wurden bei den Gefangenen obendrein noch Wertsachen oder Waffen gefunden, so war der Beweis erbracht, daß sie zumindest geplündert hatten. Also ab ins Gefängnis, das sich mehr und mehr zu füllen begann! Vom Ausmaß der geplünderten Häuser, der mutwilligen Zerstörungen und der getöteten Bewohner - jener, die sich nicht in die Residenz zurückgezogen, sondern ihr Hab und Gut verteidigt hatten - aufs äußerste erschüttert und ergrimmt, gingen die Soldaten der Miliz und der Garde jetzt mit aller Härte vor. Was sich die Strolche an Gewalt bis hin zum Mord geleistet hatten, schlug jetzt in vollem Maß auf sie zurück. Bei den Kerlen herrschte Heulen und Zähneklappern. Und natürlich behauptete jeder, unschuldig zu sein. Dafür waren die Halunken schnell mit Beschuldigungen zur Hand, wonach wiederum Gonzalo Bastida und Alonzo de Escobedo als die Initiatoren genannt wurden, aber auch deren Unterführer - in diesem Fall die Leibwächter Bastidas. Echeverria und Denaro drangen mit zwei zahlenmäßig starken, gut bewaffneten Trupps in Bastidas Hafenkaschemme ein. Die Soldaten hatten sich inzwischen im Arsenal, wo es noch genug Waffen- und Munitionsvorräte gab, ausreichend mit Kugeln und Pulver eingedeckt. Jetzt nahmen sie sich das „Hauptrattennest“ vor - und wurden auch hier fündig. Ein paar Kerle stöberten und krochen noch in den Räumen der Kneipe herum. Sie glaubten, auf Beute zu stoßen. Als sie die Schritte der Soldaten heranpoltern hörten, ergriffen sie die Flucht. Unter ihnen war auch Boldrago. Er hatte im Hinterzimmer nach Beute gesucht, konnte aber kaum einen richtigen Gedanken fassen. Der viele Wein hatte seinen Verstand umnebelt. Denaro blieb in der offenen Tür stehen und riß die Muskete hoch. Sofort erkannte er Boldrago wieder. „Ergib dich!“ rief er. Boldrago rappelte sich auf und wankte zur Tür. Es war genau die Tür, durch die Cuchillo, Gayo und Sancho während der Nacht verschwunden waren. Boldrago öffnete sie und taumelte ins Freie. Denaro war jedoch dicht hinter ihm. „Stehenbleiben!“ schrie der Teniente. Boldrago war weit davon entfernt, zu gehorchen. Er torkelte einfach weiter. Da krümmte Denaro den Finger um den Abzug der Waffe. Der Schuß krachte - die Kugel flog über Boldragos Kopf hinweg. Das war Absicht Es sollte ein Warnschuß sein. Wieder ließ sich der Riese nicht beeindrucken. Er wankte weiter. Denaro nahm die Verfolgung auf. Er erhielt Verstärkung von zwei Soldaten, die den Schuß gehört hatten. Zu dritt stürmten sie dem Kerl nach und warfen ihn zu Boden. Boldrago
wehrte sich nur schwach. Sie fesselten ihm die Hände auf den Rücken, zerrten ihn wieder hoch und führten ihn ab. Der Teniente kehrte in die Kneipe zurück. Im Schankraum berichtete er Echeverria, was draußen vorgefallen war. Echeverria nickte und deutete auf einen der Toten, die am Boden lagen. „Das ist - oder besser, das war Rioja, einer der Leibwächter Bastidas.“ „Erstochen“, sagte Denaro. „Ja. Aber Cuchillo, Gayo und Sancho scheinen entwischt zu sein“, sagte der Primer Teniente. Einer der Kerle, den die Soldaten beim Durchsuchen der Kneipe faßten, bestätigte, was das Wiesel bereits ausgesagt hatte: die drei Leibwächter des dicken Wirtes hatten sich mit prallgefüllten Säcken abgesetzt - in westliche Richtung. „Teniente“, sagte Echeverria zu Denaro. „Sie nehmen mit zehn Soldaten die Verfolgung dieser Kerle auf.“ „Jawohl, Senor.“ Denaro wählte sofort die Soldaten aus, die ihn bei diesem Auftrag begleiten sollten. Die meisten waren Mitglieder des Stoßtrupps, mit dem der junge Teniente von der Residenz auf die Plaza und in den Befehlsstand de Escobedos vorgedrungen war. Nur ein Mann kam neu hinzu. Denaro kannte ihn als versierten Jäger. Sooft er konnte, ging dieser Mann in seiner dienstfreien Zeit auf die Pirsch. Aus diesem Grund verstand er sich auch auf das Spurenlesen. Der Teniente führte seinen Trupp zum westlichen Rand der Stadt. Hier begann der im Fährtenlesen erfahrene Soldat, den Untergrund sorgsam abzusuchen. Denaro konnte jetzt nur noch hoffen, daß der Mann etwas finden würde - die Fußspuren der drei Leibwächter. Diesen drei Kerlen sollte es auf keinen Fall gelingen, ungeschoren davonzukommen. Nach de Escobedo und Bastida zählten sie mit zu den Hauptverantwortlichen für das, was in Havanna geschehen war.
5.
Der Primer Teniente Echeverria kehrte am Nachmittag dieses Tages in die Residenz zurück, um seinem Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Don Luis Marcelo hatte sich in seinem Bett aufgesetzt und blickte den Mann erwartungsvoll an, als dieser die Kammer betrat. „Nun?“ fragte Marcelo. „Hat alles geklappt, Echeverria?“ „Ja“, entgegnete Echeverria lächelnd. „Ich glaube, wir dürfen mit uns zufrieden sein, Senor Capitän.“ „Nun berichten Sie schon.“ „Senor“, sagte der Primer Teniente. „Ich kann Ihnen die gute Meldung überbringen, daß die Stadt gesäubert ist. Vor allem das Hafenviertel - wir haben alle Plünderer und Strolche, die wir noch greifen konnten, in das Gefängnis gesperrt.“ „Wie viele sind es?“ erkundigte sich Marcelo. „An die achtzig Kerle.“ „Damit dürfte das Gefängnis voll belegt sein“, sagte der Capitän grimmig. „Ja“, bestätigte Echeverria. „Sie bevölkern den Bau im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn es nach dem Direktor ginge, würden sie einer nach dem anderen an der großen Pinie aufgehängt werden.“ „Er soll sich noch gedulden.“ „Sie wollen die Halunken erst noch vernehmen?“ „Ich werde es mir überlegen“, erwiderte Marcelo. „Denaro verfolgt mit zehn Soldaten die Spur von drei Leibwächtern des Gonzalo Bastida“, erklärte Echeverria nun. „Die Kerle heißen Cuchillo, Gayo und Sancho.“ „Aha. Galgenstricke der übelsten Art.“ „Ich habe einige Hoffnung, daß Denaro Erfolg hat“, sagte der Primer Teniente. „Überhaupt hat sich der Mann ausgezeichnet bewährt.“ „Wenn mich nicht alles täuscht, hatte Bastida auch noch einen vierten Leibwächter“, sagte Marcelo. „Richtig - Rio ja.“ „Der Mann wurde beim Kampf in der Kaschemme erstochen“, berichtete Echeverria. „Wer der Mörder ist, wissen wir nicht Die Kerle fielen übereinander her, als sie erfuhren, daß ihre Anführer tot wären.“ „Das war zu erwarten“, sagte Marcelo. „Können die Bürger jetzt in ihre Häuser zurückkehren, Senor Capitän?“ fragte Echeverria. „Ich möchte noch damit warten, die Residenz zu räumen.“ „Aber viele Leute drängen jetzt darauf, ihr Heim wieder beziehen zu können.“ Don Luis Marcelo verzog fast gequält den Mund. „Leute wie - Don Alfonso Cortes y Menacha?“ „Selbstverständlich. Aber auch Männer wie Don Felipe Ravena machen sich dafür stark.“ „Ravena ist nicht besser als Cortes y Menacha“, sagte der Capitän. „Diese Burschen tun nichts anderes, als uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen und unser Tun zu boykottieren. Für sie ist die Hauptsache, in der Opposition zu sein. Aber ich halte es für richtiger, noch abzuwarten und Vorsicht walten zu lassen.“ „Das werden unsere Freunde da draußen nicht gern hören“, sagte der Primer Teniente. „Sie müssen sich damit abfinden“, sagte Marcelo. „Schließlich sind wir für sie verantwortlich. Und was meinen Sie, was wir uns anhören müssen, wenn nur einer dieser Bürger auf dem Weg nach Hause oder in seinen eigenen vier Wänden von einem Plünderer angegriffen wird, der sich noch irgendwo verkrochen hat?“
„Es wäre die Hölle“, erwiderte Echeverria. »Eben“, brummte der Capitän. Nein, er würde rigoros bleiben. Es galt, jetzt keinen Fehler zu begehen. „Die Leute bleiben noch hier“, fuhr er fort „Und heute nacht unternehmen starke Patrouillen ständige Kontrollgänge durch die Stadt.“ „Jawohl, Senor Capitän.“ „Überprüfen Sie vor allem das Hafengebiet“, sagte Marcelo. „Denn da sind sicherlich noch ein paar Ratten in ihren Schlupflöchern.“ „Wir müssen damit rechnen“, erwiderte der Primer Teniente. „Aber gnade Gott diesen Dreckskerlen, wenn wir sie erwischen.“ „Sie haben jetzt Angst.“ „Aber nicht so viel, daß sie sich kampflos ergeben.“ Echeverria schnitt eine angewiderte Grimasse. „Eine in die Enge getriebene Ratte beißt wie wild um sich.“ „Wer Sie oder Ihre Soldaten tätlich angreift, wird erschossen“, sagte der Capitän. „Im übrigen nehme ich fest an, daß diese Strolche nur auf die Dunkelheit warten, um dann ungesehen entwischen zu können.“ „Wir werden sie aber nicht entwischen lassen.“ „Richtig“, sagte Marcelo. „Ich bin entschlossen, mit dem Gesindel ein für allemal aufzuräumen.“ „Und ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um diesen Auftrag auszuführen.“ „Danke“, sagte Marcelo. „Noch etwas anderes: Schicken Sie einen Boten zu dem deutschen Kaufherrn Arne von Manteuffel. Senor von Manteuffel möchte sich bitte hierher verfügen. Ich hätte ihn auch selbst aufgesucht, aber ich bin ja noch ans Bett gefesselt.“ „Jawohl, Senor Capitän.“ „Ich will, daß der Melder dem Deutschen so höflich wie möglich auseinandersetzt, warum ich ihn sehen möchte. Ich möchte von Manteuffel meinen Dank aussprechen.“ „Ja, den hat er wirklich verdient.“ „Er hätte noch eine Menge mehr verdient“, sagte der Capitän. „Wenn sich alle spanischen Bürger von Havanna so vorbildlich verhalten würden wie dieser Mann, hätten wir hier bedeutend weniger Probleme.“ Corda, der fuchsgesichtige Sekretär, streckte seinen Kopf zur Tür herein. „Senor Capitän“, sagte er. „Eine Abordnung der Bürgerschaft möchte Sie sprechen.“ Marcelo atmete tief durch. „Don Alfonso Cortes y Menacha?“ »Ja. Und Don Felipe Ravena.“ „Großartig“, sagte Marcelo. „Soll ich sie wegschicken?“ fragte Corda. „Nein“, entschied Marcelo. „Sie sollen hereinkommen.“ So betraten der dickliche Magistratsbeamte und sein Begleiter Don Felipe Ravena ein nicht sehr viel dünnerer Mensch mit gepuderter Perücke - den Krankenraum der Residenz. Sie warteten nicht erst, bis Don Luis Marcelo sie zum Sprechen aufforderte. Sofort legte Don Alfonso los: „Das ist eine Unverschämtheit! Wir werden gegen unseren Willen hier festgehalten! Unerhört! Ich werde mich beim König persönlich wegen dieser Ungeheuerlichkeit beschweren!“ „Unsere Frauen weinen“, sagte Ravena. „Die Kinder ebenfalls. Sie sind völlig ausgezehrt, haben nichts mehr zu essen und zu trinken. Was fällt Ihnen eigentlich ein, Capitän, uns derart übel zu behandeln?“
„Senor“, sagte Marcelo scharf. „Sehen Sie Möglichkeiten, frischen Proviant herbeizuzaubern? Meine Soldaten sind im übrigen dabei, am Hafen Pferde- und Maultierwagen zu beladen und hierher zu schicken. Die Nahrungs- und Trinkwasserfrage dürfte in absehbarer Zeit also erledigt sein. Ich weise Sie darauf hin, daß ich Sie nicht festhalte, sondern für Ihre Sicherheit verantwortlich bin.“ Er richtete den Finger auf Don Alfonso. „Was wäre denn, wenn Sie Ihr Haus betreten und jemand schlägt Ihnen einen Knüppel über den Kopf, Senor?“ Don Alfonso schluckte. Er hatte überhaupt nicht erwartet, einen derart veränderten Don Luis Marcelo anzutreffen. Der Mann war ja wie umgewandelt! Er war aggressiv und bissig, entschlossen und knallhart. „Ich denke, die Stadt ist gesäubert?“ sagte der Dicke. Er war blaß geworden. „Noch nicht ganz.“ „Dann wird es Zeit, daß Ihre Leute sich beeilen“, sagte Ravena. Marcelo richtete seinen Blick auf den Kaufmann. „Legen Sie Wert darauf, daß man Ihre Frau und Ihre Kinder mißhandelt?“ Auch Ravena wechselte die Farbe. „Natürlich nicht!“ „Dann gedulden Sie sich noch ein wenig“, sagte der Capitän. „Je mehr Geduld Sie haben, desto besser ist es für Ihre Gesundheit - und für das Wohlergehen Ihrer Angehörigen. Keiner rührt sich von hier fort. Es bedarf meiner ausdrücklichen Genehmigung, um die Residenz zu verlassen. Diese Genehmigung kann ich zur Stunde noch nicht erteilen.“ „Damit kommen Sie so nicht durch!“ wetterte Don Alfonso. „Und wir werden uns beschweren!“ stieß Don Felipe Ravena hervor. „Tragen Sie Ihre Beschwerde gleich vor“, sagte Marcelo, der jetzt sehr gelassen wirkte. „Es dürfte Ihnen wohl kein Geheimnis sein, daß ich bis auf weiteres die Aufgaben des Gouverneurs wahrnehme. Also - bitte.“ „Danke“, sagte der Magistratsbeamte spitz. „Das genügt uns vorerst.“ „Aber Sie hören noch von uns!“ drohte Ravena. Dann verließen die beiden ehrenwerten Bürger der Stadt den Raum. Echeverria und Marcelo blickten sich an. Sie mußten unwillkürlich grinsen. Corda kicherte hinter der vorgehaltenen Hand. Etwas später, als Echeverria wieder gegangen war, winkte Marcelo Corda zu sich heran. „Ich habe an Sie eine Frage, Corda“, sagte der Capitän. Corda wurde höchst blümerant zumute. Wollte Marcelo ihn jetzt etwa ins Verhör nehmen und beispielsweise von ihm erfahren, wie und warum er den Hundesohn de Escobedo aus dem Stadtgefängnis hatte holen wollen? Aber nein - Marcelo hatte ganz andere Absichten. „Ich habe vor, Arne von Manteuffel meinen Dank und eine Belobigung auszusprechen“, erklärte er. „Das soll mit der Übergabe eines Ehrengeschenks verbunden sein. Wie könnte man sich dem deutschen Kaufherrn gegenüber erkenntlich zeigen?“ „Nun“, entgegnete Corda, ohne lange zu überlegen. „Ich schlage vor, dem Senor de Manteuffel einen Prunkdegen zu überreichen. Für einen Mann ist das doch wohl das schönste und ehrenvollste Geschenk, nicht wahr?“ „Richtig“, erwiderte der Capitän. „Eine gute Idee, Corda.“ „Danke, Senor.“ „Bereiten Sie alles vor“, sagte Don Luis Marcelo. „Wir wollen Arne von Manteuffel einen Empfang bereiten, wie er sich gebührt.“
Corda nickte hastig und ergeben, dann zog er sich zurück. Er war heilfroh, daß er sich bisher aus der Affäre hatte ziehen können. Immerhin war er es gewesen, der Alonzo de Escobedo aus dem Gefängnis geholt hatte - mit einem Trick. Campora, der Gefängnisdirektor, war darüber sehr aufgebracht gewesen. Aber bislang hatte er sich des wegen noch nicht an Marcelo gewendet. Vielleicht, so dachte Corda listig, komme ich ungeschoren und mit heiler Haut davon. * Hätte Don Felipe Ravena zu diesem Zeitpunkt geahnt, was in seinem Haus am Stadtrand vor sich ging, hätte er sicherlich mit Gewalt versucht, sämtliche Streitkräfte zu mobilisieren, damit diese sein Privateigentum schützten. Doch Don Felipe hatte - erfreulicherweise - keine Vorstellungen von den Zuständen, die in seinem Haus herrschten. Das war gut so - gut für seinen Kreislauf, gut für Marcelo, Echeverria, Denaro und die Soldaten, und gut natürlich auch für die Kerle, die sich Zugang zu dem Haus verschafft hatten. Goliath, der Schwarzbart, Turco und Mendez hockten in der Küche des Hauses von Ravena und stopften sich gehörig die Bäuche voll. Alles, was sie in der Speisekammer fanden, verdrückten sie. Und sie spülten selbstverständlich mit Wein nach. Ein feines Fest - und sie waren dabei völlig ungestört. Maria konnte sich nicht rühren. Die Kerle hatten sie vorsichtshalber gefesselt, damit sie nicht weglaufen konnte. Außerdem hatten sie das Mädchen mit einem Strick zusätzlich an eine Säule im Wohnzimmer gebunden. Maria war dem Trio ausgeliefert. Vor Verzweiflung hätte sie am liebsten geschrien. Aber noch brachte sie es fertig, sich zu beherrschen. Osvaldo, El Sordo und Juanita? Nun, die konnte sie wohl abschreiben. Hätten die drei ihr wirklich helfen wollen, wären sie längst aufgetaucht. Sie konnte es ihnen aber auch nicht verübeln. Eigentlich war Maria schon Osvaldo und El Sordo eine Last gewesen, nachdem die beiden sie im Keller des Hauses entdeckt hatten. Sie hatten sie befreit, doch sie hatten keine Freude an dieser Geste der Menschlichkeit gehabt. Goliath, Turco und Mendez lachten grölend und hieben sich gegenseitig auf die Schultern. Inzwischen waren sie vollends überzeugt, daß ihre Entscheidung richtig gewesen war. Sie waren fein raus. Kein Soldat zeigte sich, und es würde gewiß noch einige Zeit dauern, bis überhaupt jemand anrückte. In dieser Zeit konnten sich die drei nach Herzenslust austoben. Sie konnten das Haus umkrempeln und sich all das in die Taschen stopfen, was es hier zu holen gab. Daß Osvaldo und El Sordo bereits kräftig abgeräumt hatten, konnten der Schwarzbart und seine beiden Kumpane nicht ahnen. Daß die beiden „ehrlichen“ Diebe mit Juanita und Maria ein zweites Mal hier gewesen waren, ehe sie sich ganz aus Havanna abgesetzt hatten, ebenfalls nicht. Und Maria hütete sich natürlich, es diesen Buschkleppern zu verraten. Losreißen konnte das Mädchen sich nicht. Unmöglich war das. Sie konnte auch die Stricke nicht zerbeißen. Sie hätte akrobatische Verrenkungen vollführen müssen. Außerdem stand die Tür zur Küche offen, und die drei Kerle blickten ständig zu ihr. „Du bist ein feines Hühnchen“, sagte Goliath mit grollender Stimme. „Gut, daß wir dich geschnappt haben“ „Dein Alter kann stolz auf dich sein“, sagte Turco kichernd. „Wir essen jetzt erst mal ordentlich, und danach geht's ans Plündern“, sagte Mendez.
„Ja“, flüsterte das Mädchen. „Ja.“ Sie war froh, daß ihre Freunde nicht den ganzen Proviant mitgenommen hatten, als sie sich in der Speisekammer versorgt hatten. So war jetzt wenigstens noch etwas für die drei Galgenstricke da, und sie schöpften keinen Verdacht, daß vor ihnen schon jemand tüchtig zugelangt hatte. Maria fragte sich, was geschah, wenn die Kerle feststellten, daß es keinen einzigen Silberling mehr in diesem Haus gab. Sie würden sich dafür an ihr rächen. Sie würden keinerlei Rücksicht nehmen. Die Aussicht auf ein Lösegeld, das Marias „Vater“ zahlen sollte, würde sie auch nicht friedlicher stimmen. Bald ist alles vorbei, dachte Maria. Hoffentlich geht es schnell vorbei. Ihr Herz hätte einen wilden Hüpfer der Freude und Überraschung vollführt, wenn sie hätte sehen können, was in diesem Augenblick im Freien geschah. Osvaldo, El Sordo und Juanita hatten sich angeschlichen. Sie ließen Maria nicht im Stich. Sie waren entschlossen, ihre jugendliche Freundin zu befreien. Wie das im einzelnen vor sich gehen sollte, mußte allerdings noch beraten werden. Juanita und Osvaldo hatten die kleine Lichtung im Dschungel gefunden, auf der die drei Wegelagerer mit ihrer Gefangenen verschnauft hatten. Osvaldo hatte aus den Spuren genug lesen können. Die Kerle hatten sich in Richtung der Stadt bewegt, Osvaldo folgte der Fährte. Juanita holte El Sordo - und Burrito. Der Karren mit der Ladung wurde einfach im Busch versteckt und entsprechend getarnt. All das nahm einige Zeit in Anspruch. Doch Juanita und der Taubstumme hatten dann doch keine Schwierigkeiten, wieder auf Osvaldo zu stoßen. Osvaldo hatte vom Urwaldrand aus beobachtet, wie die drei Wegelagerer mit Maria zum Haus des Don Felipe Ravena gegangen waren. Allein hatte es Osvaldo mit den Kerlen nicht aufnehmen können. Aber er konnte sich immerhin einiges zusammenreimen. Jetzt schlichen die Schwarzhaarige, die beiden Männer und das Maultier auf das Haus zu. El Sordo hatte dem Grautier die Hufe mit Lappen umwickelt. Als Burrito einen seiner unvergleichlich mißtönenden Laute ausstoßen wollte, hielt El Sordo ihm einfach das Maul zu. Burrito schnaubte nur ein bißchen. Dann benahm er sich ausgesprochen folgsam und brav. Fast schien es, als ahne das Tier, daß Maria in der Klemme steckte und man ihr helfen mußte. Durch ein Seitenfenster konnten Osvaldo, der Taubstumme und Juanita schließlich in das Wohnzimmer blicken. Sie sahen auch die offene Küchentür und konnten die drei Kerle bei ihrer gierigen Mahlzeit beobachten. „Was jetzt?“ fragte Juanita leise. „Wenn wir Maria jetzt zu befreien versuchen, riskieren wir zu viel“, raunte Osvaldo. „Feigling“, zischte sie verächtlich. „Blödsinn.“ El Sordo tippte sich mit dem Finger gegen die Stirn. Natürlich war es Selbstmord, das Mädchen jetzt, unter diesen verzwickten Umständen, befreien zu wollen. Der Schwarzbart und die beiden anderen Kerle würden wie die Berserker kämpfen. Die Muskete nutzte Juanita nicht viel, sie hatte nur den einen Schuß. „Immerhin sind die Bastarde zu dritt“, murmelte Osvaldo. „Vorher waren sie zu viert“, entgegnete Juanita. „Was habt ihr eigentlich mit dem Toten gemacht?“ fragte Osvaldo. Juanita grinste. „El Sordo und ich haben ihn einfach ins Dickicht geworfen.“ „Gut.“ „Da sollen ihn die Würmer, Ratten und Schlangen fressen.“ „Recht so“, brummte Osvaldo grimmig. Durch Zeichen versuchte er von seinem Kumpan zu erfragen, was nun am besten zu tun sei.
El Sordo antwortete gestikulierend. Er war der Meinung, daß man die Dunkelheit abwarten solle. „Richtig“, flüsterte Osvaldo. „In der Nacht sind alle Katzen grau. Die Hauptsache ist, daß die Dreckskerle uns so lange Zeit lassen.“ Goliath, Turco und Mendez grölten in der Küche. Der Wein begann zu wirken. Sie stimmten ein wüstes Lied an, lachten wie die Irren und schienen sich köstlich zu amüsieren. „Ausgezeichnet“, sagte Juanita. „Wenn sie richtig voll sind, ist es auch dunkel. Dann schlagen wir zu.“ Osvaldo und El Sordo hatten dem nichts entgegenzusetzen. Wieder einmal - wie meistens - waren die Worte der Schwarzhaarigen von nüchterner, überzeugender Logik. * Isabella Fuentes zuckte zusammen, als gegen die Tür der Faktorei geklopft wurde. Aber Jussuf beruhigte sie sofort. „Das ist ein Soldat“, erklärte er. „Aber er kommt als Melder. Er bringt gute Nachrichten für uns, keine Sorge.“ Jörgen Brunn hatte den Soldaten von einem Fenster des Gebäudes aus als erster gesehen. Sofort hatte er seine Entdeckung weitergegeben. Arne suchte sogleich das Kontor auf, um den Abgesandten der Residenz gebührend zu empfangen. Der Soldat wirkte ein wenig verlegen, als er eintrat. „Senor“, sagte er. „Der Primer Teniente Echeverria, seines Zeichens Stellvertreter des Kommandanten der Stadtgarde, schickt mich.“ „Aha“, erwiderte Arne, „und was kann ich für Sie tun, Senor?“ „Der Gouverneur wünscht Sie zu sprechen.“ Dem Soldaten fiel ein, daß Echeverria ihm aufgetragen hatte, sehr höflich zu dem deutschen Kaufherrn zu sein. „Äh, ich meine - er bittet Sie darum, ihn aufzusuchen, falls dies irgend möglich ist und Ihre Zeit es Ihnen erlaubt, Senor de Manteuffel.“ „Der Gouverneur?“ „Der kommissarische Gouverneur Don Luis Marcelo, der auch Kommandant der Stadtgarde ist“, erklärte der Soldat. Ihm war gar nicht wohl zumute. Wie würde der Deutsche seine Botschaft auffassen? Arne beschloß lächelnd, den Mann nicht länger zu quälen. „Don Luis ist schwer verletzt, nicht wahr?“ „Ja, Senor. Er kann das Bett noch nicht verlassen. Deshalb bittet er Sie zu sich, damit er Ihnen seinen Dank aussprechen kann.“ „Ich komme sofort“ „Danke. Kann ich warten?“ „Sie können warten“, entgegnete Arne. So passierte es denn, daß Arne von Manteuffel in Begleitung des spanischen Soldaten an diesem Nachmittag durch die verlassenen Gassen von Havanna ging und über die Plaza spazierte. Sie steuerten auf die Außenmauer der Residenz zu. Soldaten öffneten ihnen das Tor. Arne nickte den Männern grüßend zu. „Toll, wie Sie das hingekriegt haben, Senor“, sagte der ältere Sargento. „Ich möchte Ihnen und Ihren Seeleuten meine Hochachtung aussprechen.“ „Danke“, erwiderte Arne. „Aber wir taten nur das, was wir für unsere Pflicht hielten.“ „Mehr als das“, sagte der Sargento. Und er wußte genau, von was er sprach. Etwas später betrat Arne den Raum, in dem sich das Krankenlager des neuen Gouverneurs befand. Er blickte Marcelo an und deutete eine Verbeugung an.
„Es ist mir eine Ehre, Sie begrüßen zu dürfen, Senor Gouverneur“, sagte er. „Ich habe die Ehre“, erwiderte Don Luis Marcelo. „Willkommen, Senor de Manteuffel. Ich möchte Ihnen die Hand schütteln.“ Arne trat an das Bett. Marcelo - noch blaß, aber schon wieder recht gut bei Kräften - griff nach seiner Hand und drückte sie fest. „Meinen aufrichtigen Dank für das, was Sie und Ihre Männer für uns getan haben“, sagte Marcelo. „Gleichzeitig möchte ich Sie belobigen und mich erkenntlich zeigen.“ Er gab Corda einen Wink. Corda trat aus dem Hintergrund in die Mitte des Raumes und überreichte Arne das Geschenk auf einem großen roten Samtkissen. Arne war völlig verblüfft. Er hob den Degen vorsichtig hoch, drehte ihn in den Fingern und betrachtete ihn staunend von allen Seiten. Wenn ihr die Wahrheit wüßtet, dachte er dabei. Der Degen war eine kostbare Arbeit aus der königlichen Waffenschmiede von Toledo, besetzt mit Edelsteinen. Die Klinge und die Scheide waren fein ziseliert - ein wirkliches Prachtstück. „Das kann ich nicht annehmen“, sagte Arne. Marcelo lachte leise. „Sie müssen es tun, Senor. Sie würden mich sonst beleidigen. Und das wollen Sie doch sicher nicht.“ Arne sah ihn fest an. „Jetzt bringen Sie mich in Verlegenheit.“ „Keinesfalls.“ Marcelo hob die Hand und blickte zu Corda. „Verpacken Sie das Geschenk so sorgfältig wie möglich und lassen Sie es zur Faktorei Senor de Manteuffels bringen.“ „Wird erledigt.“ Corda verbeugte sich, nahm den Degen wieder in Empfang und verschwand wieselflink. Arne war ehrlich erstaunt und angetan von der Großzügigkeit des neuen Gouverneurs. Noch wichtiger waren ihm aber die Worte des Mannes, die nun folgten. „Senor de Manteuffel“, sagte Marcelo. „Sie wissen wohl, daß ich als kommissarischer Gouverneur eingesetzt bin. Nun, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen zusichern zu können, daß wir aufrichtige Freunde sein werden. Die Stadt und die spanische Krone sind es Ihnen schuldig, Ihnen Ihre Handelsrechte als deutscher Kaufherr uneingeschränkt zu erhalten.“ „Ihre Herzlichkeit ist das größte Geschenk für mich“, erwiderte Arne. „Ich habe das Gefühl, daß wir uns sehr gut verstehen werden.“ Marcelo grinste. „Ich auch. Ich meine es ehrlich, Senor.“ „Das merkt man.“ „Und Sie sind ebenfalls ein aufrichtiger Mann, das sehe ich Ihnen an“, sagte Marcelo. „Eigentlich ist es schade, daß wir uns nie richtig kennengelernt haben. Nun, das soll jetzt anders werden.“ Arne hatte auf Anhieb begriffen, daß dieser Don Luis Marcelo kein Heuchler war. Er war auch nicht korrupt wie Alonzo de Escobedo - oder schlitzohrig und raffgierig wie der dicke Don Antonio de Quintanilla. Nein - Marcelo war ein Offizier von echtem Schrot und Korn. Er war ganz offensichtlich an seiner neuen Verantwortung gewachsen und nahm sie ernst. Vielleicht war die Nähe des Todes notwendig gewesen, diesen Mann zu wandeln, dachte Arne. Er wußte jetzt, daß er mit Marcelo gut auskommen würde. Noch einmal schüttelten sie sich die Hände. Dann sagte Marcelo: „Senor de Manteuffel, ich möchte auch ihre tapferen deutschen Kameraden mit einem Geschenk ehren. Wie wäre es mit einem Faß guten spanischen Weines?“ „Das ist wirklich nicht nötig“, erwiderte Arne. „Außerdem sind meine Leute schon nicht mehr in Havanna. Bedaure, aber ich bin froh gewesen, meine Schiffe schnell
beladen zu können und wegen der gefährlichen Lage sofort wieder auslaufen zu lassen“ „Schade“, sagte Marcelo. „Nachdem ihre Männer die beiden Rädelsführer Bastida und de Escobedo in einem Handstreich ausgehoben hatten, hätten sie noch ein wenig verweilen können.“ „Gewiß, aber wir waren trotzdem nicht sicher, wie alles enden würde“, erklärte Arne. „Das habe ich auch dem Gefängnisdirektor, Senor Campora, gegenüber zum Ausdruck gebracht.“ „Ja, ich weiß.“ „Meine Faktorei“, so führte Arne weiter aus, „war ja auch das Ziel dieser Strolche. Und wir wehrten uns unserer Haut - genauso, wie das die Männer meiner Schiffe tun, wenn sie auf See von Piraten angegriffen werden.“ „Sie haben sich sehr erfolgreich gewehrt“, sagte der kommissarische Gouverneur lächelnd. Arne lächelte zurück, dann wurde er sofort wieder ernst. „Wir erkannten, daß de Escobedo zu den Rädelsführern gehörte“, sagte er. „Und wir erkundeten in der Nacht, daß die Kerle in der Kaschemme des Bastida ihr Hauptquartier hatten. Folglich waren diese beiden die Köpfe des Aufruhrs und mußten ausgeschaltet werden.“ „Ein mutiger Entschluß.“ Arne lächelte jetzt wieder. „Er fiel meinen Männern aber nicht schwer. Sie erklärten ganz resolut, daß sie das besorgen wollten. Na ja, sie sind eben nicht zimperlich und in den Schenken der deutschen Hafenstädte der Sargnagel jedes braven Wirtes. Männer, die es gewohnt sind, nicht bei jedem Sturm gleich den Schwanz einzuziehen - schon gar nicht bei einem anderen Sturm in Form eines Aufruhrs in einer Hafenstadt.“ „Ich hätte diese Männer gern kennengelernt.“ „Sicher wird sich in Zukunft noch eine Gelegenheit ergeben.“ Arne erkannte, während er dies sagte, wie richtig die Entscheidung Hasards gewesen war, sich schleunigst mit den Schiffen aus dem Hafen zurückzuziehen. Um keinen Preis durften die Spanier die „Isabella“, die „Golden Hen“, die „Le Griffen“ und die „Empress of Sea“, bei Tageslicht sehen. Zu viele Verdachtsmomente konnten sich bei genauerer Betrachtung der Segler ergeben - nein, es war nur gut gewesen, daß die Männer des Bundes in der Bucht westlich von Havanna vor Anker gegangen waren. „Ja, das denke ich auch“, sagte Marcelo. „Meine Leute hätten sogar gerne noch weiter gekämpft“, sagte Arne. „Aber dem habe ich kategorisch einen Riegel vorgeschoben. Schließlich soll man es nicht übertreiben.“ Der Soldat in Don Luis Marcelo hörte so etwas gern - und war weit davon entfernt, Arnes Ausführungen zu bezweifeln. So war die Situation für Arne bestens geregelt. Er wünschte dem neuen Gouverneur baldige Genesung, dann verabschiedeten sie sich voneinander, und Arne verließ die Residenz und kehrte zur Faktorei zurück. Zur selben Stunde war bereits eine Brieftaube zur Cherokee-Bucht unterwegs. Sie führte die Nachricht an den Bund mit sich, daß die Lage in Havanna bereinigt wäre. Im übrigen teilte sie den Freunden mit, daß auch die „Empress“ des Old O'Flynn bei dem Unternehmen mit von der Partie war - was den auf Great Abaco Wartenden bislang nicht bekannt gewesen war. Mary O'Flynn konnte nun ganz beruhigt sein. Ihr „Poltermann“ lebte noch und erfreute sich samt seiner Crew bester Gesundheit.
6.
Das Licht des Tages verblaßte allmählich. Die Sonne färbte sich rot. Erste Laternen wurden in den Gassen von Havanna entfacht, ihr Schein lag dämmrig über den Dächern der Häuser. Cuchillo, Gayo und Sancho, die drei Leibwächter von Gonzalo Bastida, sahen nur die rote Abendsonne, denn sie befanden sich zu diesem Zeitpunkt Meilen von der Stadt entfernt. Keuchend ließen sie sich auf einer Waldlichtung auf weiches Gras und Moos sinken. Ihr Atem ging heftig und unregelmäßig. Sie hatten einen sehr anstrengenden Marsch hinter sich. „So“, sagte Cuchillo japsend. „Erst mal ordentlich verschnaufen.“ „Richtig!“ stieß Sancho hervor. „Das wurde aber auch Zeit!“ Gayo lag auf dem Rücken und blickte starr zum Himmel hoch. Sancho, dachte er, du blöder Hund, halt doch deine Schnauze. Die drei Galgenvögel waren völlig abgehetzt von ihrer Flucht - dies um so mehr wegen der Säcke, die sie mitschleppten. Die Säcke lagen neben ihnen, und Cuchillo, Gayo und Sancho hielten sie mit ihren Händen fest, als könne unerwartet jemand auftauchen und sie ihnen wegreißen. Zu wertvoll war der Inhalt: Die Reichtümer des dicken Kaschemmenwirtes, ihres gewesenen und nun verblichenen Häuptlings. Schmuck, Gold und Silber, Edelsteine und Geld. Alle Kostbarkeiten, die Bastida zusammengerafft hatte. Wie gut es doch gewesen war, zu wissen, daß er das Zeug in dem Wandschrank des Hinterzimmers versteckt hatte, der hinter einem großen Gemälde verborgen war. Natürlich hatten die vier Leibwächter rechtzeitig genug begriffen, was die Stunde geschlagen hatte. Man hatte Bastida sozusagen zweimal aufgehängt - einmal an den Wandhaken in der Hafenkneipe und später zum zweitenmal an einem Ast der hohen Pinie vor dem Gefängnis. Das war unverkennbar das Ende des Bastida-Regimes. Cuchillo, Gayo, Sancho und Rio ja blühte das gleiche Schicksal. Es hatte keinen Sinn, sich in diesem Punkt irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Also galt es zu raffen, was man erraffen konnte. Cuchillo und seine drei Spießgesellen hatten gleich richtig losgelegt, nachdem das Wiesel die Nachricht von de Escobedos und Bastidas Tod überbracht hatte. Ohne sich noch weiter um die übrigen Zechbrüder zu kümmern, hatten sie in die Säcke gestopft, was sie in die Finger kriegten. Allerdings hatten die anderen Kerle in der Kaschemme sofort bemerkt, was da lief. Und somit war der höllischste Kampf entbrannt, den man sich vorstellen konnte. Cuchillo, Gayo und Sancho hatten es verstanden, sich die Bande vom Leibe zu halten. Rioja aber war unter mehreren Messerstichen in der Kneipe zusammengebrochen. Die drei Leibwächter hatten sich nicht mehr um Rioja gekümmert. Es galt, die eigene Haut zu retten. Allenfalls Sancho trauerte dem toten Kumpan noch etwas nach. Mit Rioja hatte er sich am besten verstanden. Irgendwie hatten sie ganz gut zusammengepaßt. Cuchillo hingegen hockte immer mit Gayo zusammen. Die Kerle hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Sancho spürte ihre Rivalität, aber er versuchte, das Gefühl zu ignorieren. Schließlich gehörte man zusammen. Oder? Sancho überlegte sich, ob die beiden ihn wohl ausbooten wollten. Schlagt euch das aus dem Kopf, ihr Bastarde, dachte er. Er beschloß, auch während der Nacht die Augen offenzuhalten. Einschlafen durfte er nicht. Höchstens ein wenig schlummern. Am besten war's wohl, wenn er ein Auge schloß und das andere geöffnet ließ.
Cuchillo atmete etwas ruhiger. „So“, sagte er wieder. „Das wäre also gelaufen. Wir sind jetzt reich, Leute. Und wie reich! Wir sind steinreich!“ „Aber wir haben nichts zu beißen“, gab Sancho zu bedenken. Gayo sah ihn herausfordernd an. „Sag mal, glaubst du vielleicht, das wissen wir nicht?“ „Doch. Wir wissen es alle drei.“ „Na also“, sagte Cuchillo. „Wir haben nichts, das wir uns zwischen die Zähne stecken können. Und wir haben auch nichts zu saufen. Ist das vielleicht so schlimm?“ „Wir können uns ja mal nach einer Quelle umsehen“, meinte Gayo. „Wein wäre besser“, sagte Cuchillo grinsend. Kein Wasser, keine Lebensmittel - das war die Folge ihrer panischen Flucht aus Havanna. Die Raffgier hatte sie so weit verblendet, daß sie an die Mitnahme von Proviant nicht gedacht hatten. Ausgepumpt, schwitzend und keuchend hockten die drei Kerle da. Der Hunger stellte sich jetzt erst richtig ein, der Durst auch. „Mein Magen knurrt“, sagte Sancho. „Ich sehe mich nach etwas Eßbarem um.“ „Nach Wurzeln?“ fragte Gayo höhnisch. „Du kannst ja auch Würmer Hinterschlingen, wie die Wilden das tun.“ „Pfui Teufel!“ „Am besten wäre es, wenn wir auf die Jagd gehen würden“, sagte Cuchillo. „Aber wir haben nur die Messer.“ „Versuch's doch mal“, sagte Gayo. „Du bist der beste Messerkünstler von uns dreien. Wenn du deinen Dolch zielgenau schleuderst, spießt du vielleicht einen Hasen oder so auf.“ „Oder so“, sagte Cuchillo verächtlich. „Habe ich Augen wie ein Luchs? Man sieht doch gleich nichts mehr.“ „Dann müssen wir bis morgen früh warten“, sagte Sancho. „Auch mit dem Wasser?“ brummte Gayo. „Teufel, meine Kehle ist völlig ausgedörrt.“ „Meine auch“, pflichtete Cuchillo ihm bei. Sie erhoben sich schwerfällig und krochen im Dickicht herum. Aber eine Quelle oder einen Bachlauf entdeckten sie nicht. Nichts. Die Wildnis umgab sie und schien sie mit dem Zetern der Affen und dem Kreischen der Vögel verhöhnen zu wollen. Cuchillo, Gayo und Sancho hatten keinerlei Urwald-Erfahrung. Sie waren immer nur in Havanna gewesen, seit Bastida sie für seine Zwecke „angeheuert“ hatte. So hatten sie die Wildnis nicht näher kennengelernt. Das stellte sich jetzt als großer Nachteil heraus. Sie kamen sich ziemlich hilflos vor. Dieser Umstand wiederum steigerte ihre Aggressivität. Sie kehrten auf die Lichtung zurück, setzten sich und dachten mit finsteren Mienen nach, was sie noch tun konnten, um Hunger und Durst zu stillen. Sie dachten an die Fettlebe bei Bastida, an die letzten Tage. „So eine Scheiße“, sagte Gayo. „Warum hat Bastida ausgerechnet so kurz vor dem Sieg dran glauben müssen?“ „Und de Escobedo?“ fragte Sancho. Cuchillo winkte ab. „Ach, der. Dem gönne ich sogar, daß sie ihn aufgehängt haben. Hab' ihn nie richtig leiden können.“ „Um Bastida ist es eigentlich auch nicht schade“, murmelte Sancho. „Du spinnst wohl, was?“ fuhr Gayo ihn an. „He, spiel dich nicht auf“, sagte Sancho drohend. „Haltet die Schnauze, ihr beiden“, fuhr Cuchillo dazwischen. „Wollt ihr euch streiten? Ihr habt sie wohl nicht mehr alle, was?“
Er tauschte aber mit Gayo einen heimlichen Blick. Im stillen waren sie sich fast einig. Sancho war ein Narr. Auf ihn waren sie nicht angewiesen. Irgendwann würden sie sich seiner entledigen - bald sogar. „Ich kann diese Art nicht leiden“, sagte Sancho wütend. „Ich mag's nicht, wenn man auf mir herumhackt.“ „Keiner hackt auf dir herum“, erwiderte Cuchillo mit einem spöttischen Grinsen. „Es ist nicht meine Schuld, daß der Dicke tot ist.“ „Hat das jemand behauptet?“ fragte Gayo. „Ich meine nur, daß Bastida uns auch ganz schön ausgenutzt hat“, fuhr Sancho fort. „Jetzt sind wir frei. Und reich. Was wollen wir mehr?“ „So ist es“, sagte Cuchillo. „Was wollen wir mehr?“ „Es ist doch Quatsch, was du sagst“, meldete sich Gayo wieder zu Wort. „Bei Bastida haben wir es gut gehabt. Es gab genug zu futtern und jede Menge zu saufen. Und die Weiber? Hast du die vergessen? Hölle, wir waren doch so richtig oben. Alles hat vor uns gezittert.“ „Und bald wären wir in den Palast des Gouverneurs eingezogen“, sagte Cuchillo. „Das wäre eine noch bessere Zeit geworden. Aber Schwamm drüber. Aus der Traum.“ „Aus und vorbei“, sagte Gayo. „Nicht mehr dran denken“, mahnte Sancho. „Wir haben ja abgesahnt. Teufel, und wie wir abgesahnt haben!“ Er deutete auf die Säcke. „Schaut euch das bloß mal an. Ist das nichts? Beim Henker, die Säcke sind so schwer, daß wir sie kaum tragen können.“ „Klarer Fall“, sagte Gayo. „Wir sind viel besser dran als die anderen Hurensöhne, die leer ausgehen und beim Plündern vielleicht noch von den Soldaten geschnappt werden.“ „Ja, die kommen jetzt aus der Residenz, die feigen Hunde“, sagte Cuchillo. „Es wird wohl nicht mehr lange dauern, dann haben sie Havanna wieder in ihrer Gewalt.“ „Und wir sind frei“, sagte Sancho lachend. „Keiner sucht uns. Jawohl, Leute, wir sind längst nicht so beschissen dran wie die Idioten, die in der Stadt geblieben sind.“ „Wir haben unser Schäfchen ins trockene gebracht“, sagte Gayo. „Eben“, sagte Cuchillo, aber seine Miene hellte sich nicht auf. „Und mit den Schäfchen hocken wir nun leider ganz schön auf dem Trockenen. Nämlich fern jeder Möglichkeit, mit unserem Reichtum die Puppen zum Tanzen zu bringen.“ „Also doch beschissen“, sagte Gayo. „Teufel!“ zischte Sancho. „Gibt's denn hier nirgends eine Fischerhütte oder so was?“ „Was weiß ich“, erwiderte Cuchillo. „Bin ich Hellseher?“ „Ich sehe nirgends eine Hütte“, brummte Gayo. „Wir könnten den Fischer überfallen und ausnehmen“, schlug Sancho vor. „Dann haben wir zu essen und zu trinken, und danach schnappen wir uns sein Boot.“ „Was willst du denn mit dem Boot?“ fragte Gayo lauernd. „Abhauen“, entgegnete Sancho. „Nach Jamaika oder so.“ Cuchillo lachte freudlos. „Oder so, oder so! Hast du überhaupt eine Ahnung von Booten?“ „Na, es geht.“ „Und du weißt auch, wo Jamaika liegt, wie?“ fragte Gayo. „Ich denke schon.“ „Du bist ein feiner Denker“, sagte Cuchillo zynisch. „Aber schlag dir das aus dem Kopf. Erstens ist hier nirgends eine lausige Hütte, zweitens gibt es keine Boote.
Drittens liegt Jamaika ganz woanders, und viertens würden wir absaufen, weil wir keine Ahnung von der Seefahrt haben.“ „Stimmt nicht“, sagte Sancho. „Gayo ist doch Bootsmann gewesen.“ Gayo grinste. „Mann, hast du ein Gedächtnis. Jawohl, ich kenne mich aus, mein Junge. Aber wo ist die Crew? Mit euch kann ich nichts anfangen. Und ein Mann allein kann ein Fischerboot nicht manövrieren.“ „Alles Mist“, sagte Cuchillo. „Warum ziehen wir nicht am Strand entlang?“ fragte Sancho. „Immer weiter nach Westen. Früher oder später stoßen wir schon auf eine Fischerhütte.“ „Du mit deiner Hütte“, sagte Cuchillo. „Da kriegen wir wenigstens was zu beißen“, sagte Sancho. „Ich hab' keine Lust zum Laufen“, sagte Gayo. „Ich bleibe lieber hier und schlafe. Morgen früh sieht die Welt dann schon wieder anders aus.“ Sancho lachte kalt. „Ohne Essen und Trinken, wie?“ Cuchillo kroch zu seinem Beutesack und öffnete ihn. „Mann, laßt doch die Köpfe nicht hängen“, brummte er. „Ich weiß ja auch, daß hier ein Leben in Saus und Braus so weit entfernt ist wie der Mond. Aber laßt uns ein wenig kramen. Das beruhigt. Ich fühle mich schon gleich wieder besser.“ Die Art, wie er in seinem Beutesack herumwühlte, wirkte auf die beiden anderen ansteckend. Immerhin - nach der Verschnaufpause konnten sie schon wieder ruhiger durchatmen. Auch Gayo und Sancho begannen, sich mit ihrem Beutegut zu befassen. Es klapperte und klirrte, als sie mit den Händen in die Jutesäcke griffen. Sancho zog aus seinem Sack ein handgroßes, rechteckiges Relief hervor. Eine Goldschmiedearbeit - kunstvoll getrieben. Sie stellte eine erotische Szene dar. Eine Frau, völlig unbekleidet, kniete vor einem ebenfalls nackten Mann. Verblüfft starrte Sancho auf das Bild. Als er in dem Hinterzimmer der Kneipe alles an sich gerissen hatte, was er in die Finger bekam, hatte er auf dieses Detail nicht weiter geachtet. Erst jetzt fiel ihm auf, was er da mitgenommen hatte. Sancho wieherte los. Er hielt das Relief in der linken Hand und schlug sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel. Er konnte sich kaum beruhigen. Cuchillo und Gayo sahen sich an. Hatte ihr Kumpan den Verstand verloren? * Goliath, Turco und Mendez, die drei Wegelagerer, stießen mit Weinkelchen auf ihren toten Spießgesellen Scalfaro an. Sie ließen ihn hochleben und wünschten ihm einen angenehmen Aufenthalt im Jenseits. Dann erhoben sie sich wankend und torkelten polternd in den Wohnraum. „Und jetzt zu uns“, sagte der Riese laut zu dem gefesselten Mädchen. „Du zeigst uns, wo dein Alter sein Geld versteckt hat.“ „Ja“, antwortete Maria. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Nur schwer konnte sie es bezwingen. Turco löste den Strick, mit dem sie an der Säule festgebunden war. Maria stand auf. Goliath packte sie und stieß sie vor sich her. „Zeig uns, wo die Talerchen sind“, sagte er schroff. „Und wehe dir, du führst uns an der Nase herum!“ Maria führte die drei Kerle zunächst ins Kontor. Mendez stolperte und stieß sich die Stirn an der Kante eines Alkovens. Turco lachte schadenfroh. Goliath blieb stehen, hielt Maria fest und drehte sich um. „Was ist los?“ brummte er. „Es ist zu dunkel!“ zischte Mendez. „Ich sehe nichts!“
„Weil du randvoll bist“, sagte Turco höhnisch. „Dir schlag' ich gleich den Schädel ein!“ „Ruhe“, sagte der Schwarzbart. „Gibt es denn hier keine Lampen, Teufel noch mal?“ Maria zeigte den Kerlen, wo Öllampen hingen. Turco entfachte zwei Lampen, nahm sie von ihren Haken und leuchtete den Flur aus. Mendez nahm ihm fluchend die eine Lampe ab. Die Galgenstricke betraten mit ihrer Geisel das Kontor. Sofort begannen sie, sämtliche Schränke und Pulte zu durchforschen. Aber sie stießen nur auf wertlose Pergamentrollen - Aufzeichnungen des Don Felipe Ravena. Wütend kramten sie überall herum und warfen auf den Boden, was sie fanden. Ganz anders hatten sich Osvaldo und El Sordo verhalten, als sie in das Haus eingedrungen waren. Sie hatten nichts beschädigt und auch keine Unordnung geschaffen. Sie waren eben Diebe von Format. Goliath, Mendez und Turco hingegen waren Galgenvögel der übelsten Sorte, die weder Skrupel noch Moral kannten. Goliath hieb mit der Faust auf ein Pult und sah Maria an, als wolle er ihr den Hals umdrehen. „Du hast uns belegen!“ schrie er sie an. „Das ist - nicht wahr“, stammelte das Mädchen. „Es ist nur so - mein Vater muß das Geld mitgenommen haben, das hier lag.“ Sie wies auf den Schrank, vor dem sich soeben Turco aufrichtete. Turco hatte nichts vorgefunden als leere Schubladen. „Soso“, sagte er gedehnt. „Aber eine Frage hätte ich gern geklärt. Wieso hat dein Alter dich nicht mitgenommen? Das hast du uns noch nicht verraten.“ „Richtig“, sagte Goliath. Hölle, warum hatte er daran nicht gedacht, als sie auf der Dschungellichtung das Mädchen vernommen hatten? „Raus m-mit der Sprache“, sagte Mendez lallend. „Ich bin ausgerissen“, sagte Maria. „Ach?“ Turco lachte hämisch. „Na, so was. Wieso denn das?“ „Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten“, erklärte sie. „Mein Vater hat mich immer so streng behandelt. Als der Terror in Havanna losbrach und alle Bürger in die Residenz evakuiert wurden, ergab sich für mich eine günstige Gelegenheit. Ich bin geflohen, habe diese drei, die beiden Kerle und die Hure, getroffen und mich ihnen angeschlossen.“ „Das Märchen sollen wir dir abnehmen?“ fragte Goliath. „Es ist die Wahrheit“, erwiderte Maria mit fester Stimme. Woher sie all den Mut nahm, wußte sie selbst nicht. „Ihr könnt meinen Vater fragen. Meine Mutter. Meine Geschwister.“ „Wenn sie kommen“, sagte der Schwarzbart. „Aber das alles kaufe ich dir nur ab, wenn du uns sofort Geld vorzeigst. Sonst bist du geliefert, kapiert?“ „Ja“, entgegnete das Mädchen. „Auf dem Boden - ist ein Geheimversteck.“ „Aha“, sagte Goliath. Er mußte sich mit beiden Händen am Pult festhalten, sonst hätte er das Gleichgewicht verloren. Hölle und Teufel, der verfluchte Wein, dachte er. „Dachboden?“ fragte Mendez. „Natürlich!“ zischte Turco. „Ja, auf dem Dachboden“, erwiderte Maria. „Ich kenne es ganz genau, und ich weiß auch, wie man es öffnet.“ Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Osvaldo, El Sordo und Juanita hatten diesen „Tresor“ gemeinsam mit ihr ausgeleert. Es gab also nichts mehr zu holen. Aber in ihrer Verzweiflung wußte das Mädchen nicht, wie sie die drei Kerle sonst noch hinhalten sollte.
So begab sich das merkwürdige Quartett auf den Dachboden. Mendez rutschte fast von den Stufen der steilen Treppe. Turco lachte wieder. Mendez griff zum Messer. Aber Goliath rammte ihm die Faust gegen die Schulter und sagte: „Laß das, du Narr!“ Sie erreichten den Dachboden und schwenkten die Öllampen. „Wo?“ fragte Goliath. Maria wies auf die Verkleidung aus Brettern. „Dort.“ Die Kerle taumelten auf das Versteck zu. Goliath hielt nach wie vor das Mädchen fest. Im Schein der Lampen rissen Mendez und Turco die Bretter weg und blickten in das quadratische Gelaß, das sich dahinter öffnete. „Leer“, sagte Goliath grollend. „Einen Augenblick“, sagte Maria. Sie ließ sich auf die Knie sinken. „Hier, auf dem Boden, ist eine winzige Öse. Seht ihr sie?“ „Ja“, erwiderten die drei dumpf. „Wenn ihr mir die Fesseln löst, öffne ich die Klappe“, sagte das Mädchen. Goliath befreite sie, aber er hielt ihr das Messer an den Hals. „Wenn du uns jetzt anschwindelst, steche ich dich ab.“ „Aber erst überläßt du sie m-mir“, lallte Mendez. Maria begann zu schwitzen. Mit dem kleinen Finger hakte sie hinter die Öse. Gleich schwang die kleine Klappe im Boden des Verstecks auf. Den Lederbeutel mit den Münzen aber hatten ihre Freunde - er war auf dem Maultierkarren verstaut. Plötzlich tönte ein schauriger Laut durch das Haus. Ein Stöhnen, Gurgeln und Seufzen - gräßlich anzuhören. Es jagte selbst Maria, die in diesem Augenblick etwas zu begreifen glaubte, einen kalten Schauer über den Rücken. „Hörst du das“, zischte Mendez Turco zu. „Was ist das?“ fragte Goliath seine Komplicen. „Himmel“, sagte Turco. „Ich werd' verrückt. Das ist ein Gespenst.“ „Was?“ Mendez fuhr zusammen. „Los, wir hauen besser ab!“ „Ihr spinnt wohl, ihr Affen?“ brüllte Goliath. „Ihr bleibt hier!“ „In einem Spukhaus bleibe ich nicht!“ schrie Mendez. Er war abergläubisch und fürchtete sich vor nichts mehr als vor Geistern und Dämonen. Ebenso Turco. Alles, was übersinnlich war, jagte ihm Angst und Schrecken ein. Selbst Goliath, der Riese, nahm es lieber mit einem Dutzend messerbewehrter Kerle auf als mit einem einzigen Geist. „Mach doch keinen Mist!“ brüllte der Riese. Er wollte Mendez, der nun allen Ernstes Anstalten traf, den Dachboden zu verlassen, packen. Doch er verlor das Gleichgewicht. Im selben Moment ertönten wieder die schauerlichen Geräusche. Turco stöhnte. Goliath prallte bei dem Versuch, Mendez festzuhalten, mit Turco zusammen. Beide verloren das Gleichgewicht - was bei dem Wein, den sie getrunken hatten, nicht weiter verwunderlich war. Die Kerle stolperten und stürzten, und auch Mendez geriet mit ihnen zusammen. Noch einmal tönte das grausige Gurgeln, Blubbern und Seufzen durch das Gebäude. Mendez begann, wie ein Verrückter um sich zu schlagen. Goliath und Turco setzten sich zur Wehr und droschen ihrerseits mit den Fäusten auf ihn ein. Maria nutzte das Durcheinander. Eine bessere Chance erhielt sie nicht. Sie entschlüpfte dem Griff des Riesen, huschte über den Boden und erreichte die Treppe. So schnell sie konnte, hastete sie nach unten. Am Fuß der Treppe nahm sie eine Gestalt in Empfang - Juanita. „Rasch!“ raunte Juanita dem Mädchen zu. „Fort!“ „Mein Gott, daß ihr hier seid!“ schluchzte Maria.
„Still! Beeil dich!“ flüsterte die Schwarzhaarige. Sie eilten durch die Räume. Im Flur gesellte sich El Sordo zu ihnen. Er hatte die grauenvollen Laute von sich gegeben. Wenn er sich sehr anstrengte, konnte er die unglaublichsten Geräusche hervorbringen. Maria wußte das, und sie hatte aus den Lauten sogleich erkannt, daß es sich bei dem Urheber um den Taubstummen handelte. Osvaldo erwartete die drei an der Hintertür, durch die er mit Juanita und El Sordo in das Haus eingedrungen war. Gemeinsam schlüpften sie ins Freie und umrundeten das Anwesen. „Weg!“ heulte Turco oben auf dem Dachboden. „Raus hier!“ „Sie ist weg!“ brüllte Goliath. „Sie hat sich in Luft aufgelöst!“ schrie Mendez. „Es spukt!“ Natürlich war es in erster Linie der Wein, der ihnen das alles vorgaukelte und ihre Phantasie beflügelte. Im Rausch erschien alles doppelt so unheimlich. Fluchend und stöhnend rappelten sich die drei auf. Sie stolperten zur Treppe und rasten nach unten. Fast stürzten sie die Stufen hinunter, aber im letzten Augenblick konnten sie sich doch noch fangen. Durch die Küche und den Wohnraum rannten die Kerle zur Haustür. Sie rissen sie auf und sprangen nach draußen. Jetzt waren sie auf dem Hof, Plötzlich zuckten sie zusammen, als habe sie ein Peitschenhieb getroffen. Hinter ihnen bäumte sich ein Monstrum der Hölle auf - ein Scheusal, das geradewegs der Finsternis entwichen zu sein schien. Es gab scheußliche Laute von sich - ähnlich denen, die eben im Inneren erklungen waren - und fletschte dolchspitze Zähne. Goliath, Mendez und Turco waren sich später auch einig, gesehen zu haben, wie die Augen der Bestie rot glühten und wie sie Feuer und Rauch aus den Nüstern stieß. Die drei Kerle jagten wie der Blitz zum Tor. Schreiend brachten sie sich in Sicherheit. Doch jemand stellte ihnen ein Bein. Goliath und Mendez landeten hart auf dem Boden. Turco rannte weiter. Die beiden rappelten sich wieder auf - hinter ihrem Rücken vernahmen sie das Trampeln der Bestie. „Hilfe!“ brüllten sie, dann waren sie in der Nacht verschwunden. Sie rasten in Richtung Havanna, als hätten sie tausend Teufel im Nacken. Osvaldo und El Sordo standen genau neben dem Tor. Sie hatten den Riesen und Mendez zu Fall gebracht. Jetzt lachten sie und legten ihre Arme um Juanita und Maria. Die Schwarzhaarige und das Mädchen kicherten wie von Sinnen. „Wir haben es geschafft“, sagte Osvaldo. „Dem Himmel sei Dank.“ „Ich bin euch so dankbar gewesen“, sagte Maria. „Das werde ich euch nie vergessen.“ Das „Ungeheuer“ trat aus dem Tor und näherte sich ihnen schnaubend. El Sordo tätschelte ihm den Hals. Osvaldo steckte dem treuen Tier ein Büschel Gras zwischen die Zähne und sagte: „Burrito, du bist wirklich ein Prachtkerl. Wer hätte das von dir gedacht?“ Burrito kaute genüßlich auf dem Gras. „Wir gehören eben zusammen“, sagte Juanita. „Und wir passen zueinander. Laßt uns gehen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.“ Unbehelligt erreichten die vier mit ihrem Grautier den Dschungel und stießen kurze Zeit darauf auch auf ihren Karren. Goliath, Mendez und Turco jedoch hatten Pech. Als ihnen richtig bewußt wurde, daß sie geradewegs nach Havanna liefen, war es zum Umkehren bereits zu spät Plötzlich sahen sie sich einem Trupp Soldaten gegenüber.
„Halt!“ rief der Sargento, der den Trupp anführte. „Hände hoch! Ihr seid festgenommen!“ Das Trio war viel zu verdutzt, um reagieren zu können. Widerstandslos ließen sich die Kerle festnehmen. Der Sargento und die Soldaten führten sie zum Stadtgefängnis. Dort war zwar nur noch wenig Platz, aber Camporas Wächter verstanden es sehr wohl, auch diese drei noch unterzubringen. Wenig später lagen Goliath, Mendez und Turco schnarchend in einer Ecke des Kerkers und schliefen ihren Rausch aus.
7. „Sancho“, sagte Cuchillo so gelassen wie möglich. „Was ist in dich gefahren?“ Sancho hielt den Blick nach wie vor starr auf das rechteckige Relief gerichtet. Er kicherte und rieb sich die Augen. „O Mann“, sagte er japsend. „Ich werd' nicht wieder.“ „Das glaube ich auch“, sagte Gayo. „Du wieherst wie ein brünstiger Hengst“, meinte Cuchillo. „Hat das einen besonderen Grund?“ Sancho grinste anzüglich. „Komm doch mal her und sieh dir das hier an.“ Cuchillo rückte auf ihn zu. Im schwachen Abendlicht konnte nun auch er erkennen, was auf dem Bild dargestellt war. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Dann strich er sich mit den Fingern über das gepflegte Oberlippenbärtchen. „Ein schönes Bildchen“, urteilte er. „Was?“ Jetzt war auch Gayos Interesse geweckt. Er baute sich hinter den beiden auf und blickte über ihre Schultern. Dann lachte er. „Na so was. Wußte gar nicht, daß Bastida solche Sachen gesammelt hat.“ Cuchillo fühlte sich durch die Betrachtung des Reliefs animiert. „Sancho“, sagte er. „Gib das Ding her. Bei mir ist so etwas besser aufgehoben als bei dir.“ „Wieso das denn?“ begehrte Sancho auf. „Ich verstehe von solchen Sachen eben mehr als du, du Ochse“, erwiderte Cuchillo. „Gib's her.“ Er streckte die Hand nach dem Bild aus. Sancho lachte höhnisch. „Das könnte dir so passen!“ Cuchillo hatte sein Messer blitzartig schnell in der Hand und stach zu. Sancho wollte seine Waffe noch zücken, aber er hielt in der Bewegung inne. Mit einem langgezogenen Schrei sank er hintenüber. Dann starb Sancho, Cuchillos Messer in der Brust Cuchillo lachte nur rauh und riß das Relief bild an sich. Er fuhr mit den Fingern darüber, lachte wieder und schüttelte den Kopf. Gayo konnte nur grinsen. „Das hast du gut gemacht“, sagte er. „Der Kerl war reif.“ Daß Sancho nämlich sowieso über die Klinge springen würde, war für ihn und Cuchillo bereits beschlossene Sache gewesen. Eine lauernde Konkurrenz um die Gunst Gonzalo Bastidas war von Gayo und Cuchillo gegenüber den beiden anderen Leibwächtern Sancho und Rioja schon immer vorhanden gewesen. Cuchillo und Gayo hingegen waren sich in echter Kumpanei verbunden. „Das wäre erledigt“, sagte Cuchillo, ohne auch nur noch einen Blick auf den Toten mit dem Messer in der Brust zu werfen. „Und seine Beute gehört jetzt auch noch uns. Wir werden sie redlich teilen.“ „Klar“, antwortete Gayo. „Wenn du den Narren nicht abgemurkst hättest, hätte ich es getan. Da du es ihm besorgt hast, kannst du das schöne Bild natürlich behalten.“ „Danke“, sagte Cuchillo grinsend. „Sehr großzügig.“ Alles andere, den gesamten Inhalt von Sanchos Beutesack, begannen sie jetzt untereinander aufzuteilen. Gierig stülpten sie die Kostbarkeiten aus und wühlten darin herum. Daß sie jetzt noch mehr zu schleppen hatten, schien sie nicht weiter zu berühren. Sie dachten überhaupt nicht darüber nach. *
Der langgezogene Todesschrei war nicht ungehört verhallt. Cuchillo und Gayo ahnten nichts von der unmittelbaren Nähe der vier Schiffe des Bundes der Korsaren. Die Ankerbucht befand sich nicht weit entfernt. Hätten die beiden Kerle die Gefahr gewittert, die ihnen drohte, dann hätten sie jetzt schleunigst das Weite gesucht, statt sich mit Sanchos Sachen aufzuhalten. Die Ankerwachen auf der „Isabella“, der „Golden Hen“, der „Le Griffon“ und der „Empress of Sea“ fuhren zusammen und schlugen Alarm. Sofort waren alle Männer an Bord der Schiffe hellwach. Old O'Flynn stieß einen leisen Fluch aus, dann bekreuzigte er sich hastig. „Da stirbt einer“, murmelte er. „Ich spür“s in meinem Beinstumpf, Leute.“ Hasard fackelte nicht lange - er ließ eine Jolle aussetzen und bemannte sie mit Dan O'Flynn, Carberry und Gary Andrews. Der Profos fungierte als Bootsführer. „Seht nach, was da los ist“, sagte der Seewolf zu seinen drei Männern. „Keine Sorge, Sir“, brummte Carberry. „Wir kriegen es schon heraus.“ Wenig später legte die Jolle von der Bordwand der „Isabella“ ab. Im rötlichen Licht der Abendsonne pullten Carberry, Dan und Gary an Land, um zu erkunden, welche Ursachen der Schrei gehabt haben mochte. Das Boot glitt durch die rauschende Brandung. Der Rumpf senkte sich dem Strand entgegen. Ein feines Knirschen ertönte, als der Bug auf Sand stieß. Carberry und seine beiden Begleiter stiegen aus. Sie hielten die Pistolen feuerbereit. „Nichts“, flüsterte Dan. „Alles still.“ „Kannst du drüben nichts erkennen?“ fragte der Profos gedämpft. Er wies zum Uferdickicht Dan kniff die Augen ein wenig zusammen und spähte zu den Palmen und dem Gestrüpp, das sich wie eine schwarze Mauer erhob. „Da tut sich nichts“, raunte er. „Wir müssen aufpassen, daß wir nicht in eine Falle tappen“, mahnte Carberry. Dan O'Flynn watete weiter an Land. Während er nach allen Seiten sicherte, schoben Carberry und Gary Andrews das Boot auf den Strand. Der Vorsicht halber zog Dan seinen Säbel. Man kann nie wissen, was noch passiert, dachte er. Carberry und Gary traten zu Dan. Sie hielten Ausschau, aber wieder war nichts zu erkennen - keine Gestalten, die im Dunkel umherschlichen, keine Späher, nichts. Der Profos gab Dan und Gary einen Wink, und sie pirschten zum Dickicht. Kurz darauf schlichen sie durch das Buschwerk und Strandgestrüpp in jene Richtung, aus der sie den Schrei gehört hatten. Schließlich vernahmen sie gedämpfte Stimmen. Zwei Kerle unterhielten sich - auf Spanisch. Carberry zog den Kopf ein. „Die Stimmen kommen mir irgendwie bekannt vor“, raunte er seinen Kameraden zu. „Der Wassermann soll mich holen, wenn das nicht Kerle aus der BastidaKaschemme sind.“ Sie nickten sich zu, dann legten sie sich auf den Boden und robbten weiter. Die Stimmen, die unaufhörlich murmelten, wurden deutlicher. Bald konnten die drei von der „Isabella“ Einzelheiten dessen verstehen, was die beiden Spanier sagten. „Hier, ein paar Dublonen“, sagte Cuchillo. „Die kriegst du, Gayo.“ „Danke, und den Reif hier? Willst du den haben?“ „Nein.“ „Er ist auch aus Gold.“ „Nimm du ihn“, sagte Cuchillo.
Gayo lachte leise. „Wir verstehen uns wirklich prächtig, was? Hölle, wie gut ist es doch, daß wir diesen Blödmann Sancho abserviert haben. Der hat ja nur noch dummes Geschwätz von sich gegeben.“ „Solange er mit Rioja zusammen war, hat er sich einigermaßen am Riemen gerissen“, meinte Cuchillo. „Aber eben hat er durchgedreht“, brummte Gayo. „Allein, wie er gelacht hat. Zum Kotzen.“ Carberry, Dan und Gary erreichten kriechend den Rand der Lichtung. Der Profos warf als erster einen Blick auf die da hockenden Kerle. Er sah auch den dritten Mann, der auf dem Rücken lag, die Arme und Beine von sich gestreckt. Aus der Brust dieses Kerls ragte das Heft eines Messers auf. Der Profos erkannte alle drei Kerle auf Anhieb wieder. Leise teilte er es seinen Freunden mit. „Das sind die Leibwächter Bastidas“, wisperte er. Dan und Gary nickten. Carberry mußte es wissen. Er hatte bei der Kaschemmenschlacht ja handfest mitgemischt und den Kerlen seinen „ProfosHammer“ vorgestellt. Er war es auch gewesen, der Sancho von den Füßen geholt hatte. Sancho war von Eric Winlow nach draußen katapultiert worden, und da war der Kerl auf dem Pflaster liegengeblieben. Klarer Fall - die drei Kerle waren aus Havanna getürmt, und das unter Mitnahme reichlicher Beute, wie die drei Beobachter mühelos erkennen konnten. Daß Cuchillo und Gayo soeben dabei waren, die Beute des Toten zu teilen, sahen Carberry, Dan und Gary ebenfalls. Es gehörte kein Scharfsinn dazu, sich alles zusammenzureimen. Der Profos und seine beiden Begleiter verständigten sich mit Zeichen. Cuchillo und Gayo waren durch ihre Tätigkeit abgelenkt. Sie schienen ihre Umgebung nicht zu beachten. Wahrscheinlich rechneten sie auch nicht damit, daß man sie belauerte. Sie fühlten sich hier draußen, fern der Stadt völlig sicher. Carberry verharrte an seinem Platz. Gary kroch nach links und umrundete die Lichtung. Dan wandte sich nach rechts. Wenig später verharrten die beiden Männer im Dickicht. Sie befanden sich am richtigen Punkt. Gleichzeitig mit Carberry würden sie losschlagen. Der Profos gab das Zeichen, indem er sich aus dem Gestrüpp zu seiner vollen Größe erhob. Nun standen auch Gary und Dan auf. Cuchillo und Gayo waren umstellt. * Gayo hob plötzlich den Kopf. Er ließ den Gegenstand, den er gerade in den Händen hielt, auf den Boden fallen - einen silbernen Becher. „He“; sagte er verblüfft. „Da ist doch was.“ „Quatsch“, erwiderte Cuchillo grinsend. „Du träumst wohl schon, was? Na, wir legen uns gleich schlafen.“ Gayo wandte den Kopf und erblickte die Gestalt eines Riesen, der in diesem Augenblick auf die Lichtung trat Dann registrierte er auch an zwei anderen Stellen Bewegungen. Mit einemmal stockte ihm der Atem. Er wollte nach Cuchillos Arm greifen. Aber der Riese am Rand der Lichtung riß einen Säbel aus der Scheide, und dieses Geräusch schreckte auch Cuchillo auf. Cuchillo stieß einen Fluch aus und griff nach dem Messer. Vergebens - das Messer steckte ja noch in Sanchos Brust. Es war viel zu weit entfernt. Die drei Gegner taten nur wenige Schritte und waren heran. „Ergebt euch“, sagte Carberry.
Cuchillo erkannte ihn wieder, stieß einen Schrei aus und war mit einem Satz auf den Beinen. „Du Schwein! Dich steche ich ab!“ Er zückte seinen Säbel und stürmte auf Carberry zu. Carberry trat zur Seite - Dan federte auf Cuchillo zu und empfing ihn mit einer schwingenden Parade. Heftig prallten die Klingen der Säbel gegeneinander. Cuchillo heulte auf. „Ja?“ schrie er. „Du? Dich kenne ich nicht! Aber du sollst dein Fett haben!“ Carberry hatte die Aufmerksamkeit des anderen Kerls auf sich gelenkt. Gayo stürzte sich brüllend auf ihn. Auch er haßte den Profos. Mit einem einzigen Stich, gezielt auf Carberrys Leib, wollte er ihn ins Jenseits befördern. Doch der Profos war auf der Hut und wich aus. Gayo stach ins Leere. Carberry konterte mit ein paar pfeifenden Säbelhieben - und Gayo stolperte und torkelte wie ein Betrunkener über die Lichtung. Gary wollte ebenfalls zur Aktion übergehen. Doch es gab nichts für ihn zu tun. Dan focht gegen Cuchillo - meisterhaft. Carberry kämpfte gegen Gayo - konzentriert und ohne Gnade. Gary konnte sich nur als „Reserve“ bereithalten. Cuchillo und Gayo wendeten einige ihrer miesen Tricks an, um die Gegner von den Beinen zu holen oder zu verletzen. Doch die Tricks fruchteten nichts. Nur Können führte zum Erfolg. Cuchillo und Gayo jedoch, das zeigte sich jetzt, waren ihren beiden Gegnern in Technik und Ausdauer unterlegen. Gayo spürte als erster deutliche Zeichen der Schwäche. Er keuchte und fluchte. Er blieb kurz stehen und blickte Carberry aus blutunterlaufenen Augen an. Dann sprang er wie ein Irrer auf den Profos zu. Fast glitt er dabei aus. Nur schwer vermochte er die Balance zu halten. Schließlich riß er den Säbel mit beiden Händen hoch und senste damit durch die Luft. Die Schneide sollte Carberrys Hals treffen. Aber wieder war der Profos schneller. Überhaupt, dieser Riese von einem Kerl, der sich in Bastidas Kaschemme wie ein Berserker geschlagen hatte, war viel schneller und geschickter, als Gayo angenommen hatte. Das war ein wesentlicher Fehler, der den meisten Galgenstricken in der Beurteilung dieses Mannes unterlief. Sie unterschätzten Carberrys Schnelligkeit - und genau dies wurde ihnen zum Verhängnis. Carberry ließ Gayo auflaufen, dann trieb er ihn mit blitzschnellen Hieben wieder zurück. Gayo strauchelte und fiel auf den Rücken. Carberry stoppte, sah ihn an und sagte: „Aufstehen!“ Mehr nicht. Gayo rappelte sich wieder auf. Er fühlte sich erschöpft. Er konnte nicht mehr. Aber seine Schwäche verwandelte sich in Zorn und Haß. „Verrecke!“ heulte er und stürzte sich erneut auf den Profos. Carberry wich aus, ließ den Kerl halb an sich vorbei und knallte ihm die Klinge mit voller Wucht gegen den Säbel knapp oberhalb des Korbes. Es klirrte und schepperte. Gayo vollführte einen Satz. Er verlor die Waffe aus den Händen, sie landete auf der Lichtung. Gayos Hände schmerzten. Er war jetzt wie von Sinnen. „Säbel aufheben“, befahl Carberry. Gayo tat, wie ihm geheißen. Aber er wußte, daß er erledigt war. Es ging ihm in diesem Moment auf. Du hast keine Chance mehr, dachte er. Du bist am Ende. Er fuhr zu Carberry herum und ging noch einmal auf ihn los. Dann versuchte er seinen letzten gemeinen Trick. Er ließ sich fallen, als habe er sich den Fuß verstaucht. Er stöhnte und krümmte sich, ließ dabei aber den Profos nicht aus den Augen. Dann sprang Gayo auf und die Spitze des Säbels huschte auf Carberry zu.
Carberry reagierte gedankenschnell. Der Streich seiner Waffe wischte den Säbel des Gegners zur Seite. Gayo wurde herumgerissen. Er brüllte vor Wut und Schmerz und griff noch einmal an. Wild riß er die Waffe hoch und wollte sie auf Carberrys Kopf sausen lassen. Aber wieder war der Profos schneller. Er glitt vor und stach zu. Der Säbel traf Gayos Brust. In einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen sah der Kerl den Profos an. Für einen Augenblick stand er ganz still da. Dann ließ er die Waffe langsam sinken. Er taumelte ein wenig. Der Säbel entglitt seinen schlaff werdenden Fingern. Fast hatte es den Anschein, als wolle Gayo noch etwas sagen. Er öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Gayo brach zusammen und fiel auf den Rücken. Er war schon tot, ehe er den Erdboden berührte. Carberry trat zu ihm und sah, daß seine Augen blicklos zum Abendhimmel gerichtet waren. Cuchillo hatte unterdessen mehrfach versucht, Dan O'Flynn zu überrumpeln. Aber Dan war auf der Hut. Seine Bewegungen waren schnell und geschmeidig, er verausgabte sich jedoch nicht. Cuchillos Art zu kämpfen wurde vom Haß und von der Wut bestimmt, mit der sich dieser Mann bereits bei dem Handgemenge in Bastidas Kaschemme gegen Jean Ribaults Trupp gewandt hatte. „Wer seid ihr?“ brüllte Cuchillo. Dan antwortete nicht. Er parierte einen derben Säbelhieb und warf Cuchillo mit einem blitzschnellen Ausfall in die Verteidigung zurück. „Ihr seid keine Spanier!“ schrie Cuchillo. „Deutsche“, erwiderte Dan lächelnd. „Von diesem deutschen Kaufherrn?“ „Ja.“ „Lüge!“ brüllte Cuchillo. „Es ist aber wahr“, sagte Dan grinsend. Cuchillo führte eine heftige Parade gegen Dan, die ihm aber nur zur Hälfte glückte. Dan wehrte mit seinem Säbel die wütende Attacke ab und ging selbst zum Angriff über. Cuchillo wich zurück, bis er fast mit dem Rücken den Stamm eines Mangrovenbaumes berührte. „Ihr seid keine Deutschen!“ heulte der Leibwächter. Aus geweiteten Augen sah er, wie sein Kumpan Gayo mit dem Säbel in der Brust zusammenbrach. Tot, dachte Cuchillo, zur Hölle! Jetzt war er allein. Er rechnete damit, daß die beiden anderen - Carberry und Gary Andrews - in den Zweikampf eingreifen würden. Aber die rührten sich nicht vom Fleck. Ganz ruhig standen sie da und verfolgten, wie Dan sich mit Cuchillo schlug. Cuchillo vollführte einen Seitensprung und landete halb im Dickicht. Dan setzte nach, duckte sich und entging einem tückischen Streich, hieb selbst zu und riß Cuchillo mit der Klinge ein Stück Stoff vom Hemd ab. Cuchillo fluchte mörderisch. Das Duell ging weiter. Cuchillo spürte Panik in sich aufsteigen. Seine Energien ließen merklich nach. Der vermeintliche Deutsche aber zeigte keinen Anflug von Schwäche. Beim Henker, was waren das für Kerle, die da plötzlich in Havanna aufgetaucht waren und sich in das Geschehen eingemischt hatten? Cuchillo geriet ins Schwitzen. Er wich wieder zurück. Es gelang ihm nicht mehr, die Verteidigung des anderen aufzubrechen. Jetzt stolperte er rückwärts ins Dickicht. Dan folgte ihm. Die Säbel wischten und surrten durch die Luft, hackten ins Gestrüpp, hieben Lianen durch, fetzten Mangrovenblätter von den Ästen. Es wurde immer dunkler, aber Cuchillo konnte Dan noch gut genug sehen. „Du Bastard!“ keuchte Cuchillo immer wieder. „Du verdammter Bastard!“
Dan grinste. „Danke, gleichfalls.“ Diese gelassene Art, mit der Dan vorging, brachte Cuchillo immer mehr aus der Fassung. Er schwitzte stärker. Er keuchte, wurde unsicher. Wo waren die beiden anderen? Er konnte sie nicht mehr sehen. Standen sie noch auf der Lichtung? Oder versuchten sie jetzt, ihm in den Rücken zu fallen. Cuchillo verkannte, daß die drei Männer der „Isabella IX.“ mit völlig fairen Mitteln kämpften. Was Fairneß war, wußte er nicht. Er beurteilte sie, wie er seinesgleichen zu messen pflegte. Das führte bei ihm zu einem Fehlschluß - und zu einer panikartigen Handlung. Dan rückte wieder auf Cuchillo zu. Der Leibwächter malte sich aus, was geschah, wenn plötzlich hinter oder neben ihm die beiden anderen Gegner auftauchten. Dann war er wirklich geliefert. Er mußte etwas unternehmen, bevor es zu spät war. Cuchillos Tun erfolgte selbst für Dan völlig unerwartet. Der Kerl warf sich herum und ergriff die Flucht. Wie ein Verrückter hetzte er durch das Dickicht. „Stehenbleiben!“ rief Dan. Cuchillo rannte weiter wie ein Besessener. Er keuchte und fluchte, blickte nach links und nach rechts. Nein, die beiden anderen tauchten noch nicht auf. Noch konnte er das Duell für sich entscheiden. „Dan!“ rief der Profos. „Hier!“ antwortete Dan. „Alles in Ordnung?“ fragte Gary. „Keine Sorge“, entgegnete Dan grimmig. Er nahm die Verfolgung des Gorillas auf. Cuchillo blieb jählings wieder stehen, fuhr herum und schleuderte seinen Säbel wie ein Messer. Darin war er Experte. Die Waffe huschte auf Dan zu. Dan sah sie und ließ sich fallen. Der Säbel raste über seinen Rücken weg und blieb mit einem dumpfen Laut im Stamm eines Mangrovenbaumes stecken. Cuchillo konnte wegen der Dunkelheit nicht sehen, ob er Dan tödlich getroffen hatte oder nicht. Lauernd hob er den Kopf und spähte aus schmalen Augen zu seinem Gegner. Dan holte Cuchillos Säbel und schritt auf den Kerl zu. Cuchillo fuhr hoch. „Hier“, sagte Dan und warf ihm den Säbel zu. Cuchillo fing den Säbel auf. Plötzlich grinste er teuflisch. Hölle, wenn dieser Narr schon so blöd war, ihm die Waffe zurückzugeben, dann wollte er das auch ausnutzen. Mit einem wüsten Schrei stürzte er sich erneut auf Dan. Dan fing ihn mit zwei raschen Säbelhieben ab, schlug ihn zurück und unternahm eine frontale Attacke. Cuchillo war irritiert. Er gab einen verdutzten Laut von sich. Noch bevor er wieder mit dem Säbel auf Dan einschlagen konnte, war es soweit: Die Klinge von Dans Waffe traf ihn. Cuchillo empfand es mehr wie eine leichte Berührung. Aber dann durchfuhr ihn ein glühender, stechender Schmerz. Er wankte und torkelte rückwärts. Mit dem Rücken prallte er gegen eine Sumpfzypresse. So verharrte er und stierte seinen Gegner an. „Das Ende“, murmelte Cuchillo. „Ja“, erwiderte Dan. „Es ist aus.“ „Der Teufel soll dich holen.“ „Dich holt er jetzt schon.“ „Wer - wer seid ihr wirklich?“ fragte Cuchillo. „Korsaren des Seewolfs“, antwortete Dan. „Philip Hasard Killigrews Männer.“ „Engländer“, flüsterte Cuchillo. „Feinde. Und der Deutsche - ist euer Kumpan.“ Es waren seine letzten Worte. Er ließ den Säbel fallen, rutschte schlaff an dem Baumstamm zu Boden und kippte nach links weg. Dann rührte er sich nicht mehr. Dan beugte sich über den Kerl und sah in seine gebrochenen Augen.
„Dan?“ rief Carberry wieder. „Alles in Ordnung“, entgegnete Dan. „Es ist vorbei.“ Er kehrte zu den Kameraden zurück. „Das wäre also geschafft“, sagte der Profos. „Die beiden sind ihrem Kumpan auf dem Weg in die Hölle gefolgt.“ „Warum haben sie ihn wohl umgebracht?“ fragte Gary. „Nur weil sie seine Beute haben wollten?“ „Das werden wir nie erfahren“, meinte Dan. Carberry bückte sich nach dem Reliefbild, das er auf dem Erdboden entdeckte. Er hob es auf und betrachtete es. Dann schüttelte er den Kopf. „Teufel, Teufel“, murmelte er. „Was ist denn das?“ fragte Dan. Gary und er traten näher zu ihm. Es war dunkel, aber im fahlen Mondlicht konnten sie doch erkennen, um welche Art von Darstellung es sich handelte. „Toll“, sagte Dan. „Die Phantasie des Menschen kennt keine Grenzen.“ „Na, ich weiß nicht“, sagte Carberry. „Die Dons sind ziemliche Ferkel.“ Kurz darauf kehrten sie zu ihrer Jolle zurück. Sie ließen die Beute der drei ehemaligen Leibwächter so auf der Lichtung liegen, wie sie sie gefunden hatten. Auch Cuchillo, Gayo und Sancho wurden nicht bestattet. Sie lagen auf der Lichtung und im Dickicht, reglose Reste sinnloser Existenzen. Carberry, Dan und Gary verwischten sorgsam ihre Spuren. Dann schoben sie die Jolle ins Wasser, kletterten an Bord und pullten zur „Isabella“ zurück. Kurz darauf berichteten sie Hasard und den anderen, was sich zugetragen hatte. Der Profos erklärte die erotische Szene, die auf dem Relief zu sehen war, und sagte noch einmal mit Nachruck: „Das sind wirklich Ferkel, diese Dons.“ Im Dunkeln näherten sich nur wenig später Soldaten der Bucht - der Teniente Denaro mit seinem Trupp. Es dauerte nicht lange, und die Männer hatten die Lichtung, die Toten und die Säcke mit der Schatzbeute entdeckt. „So haben die Kerle ihr verdientes Ende gefunden“, sagte der junge Teniente. „Sie haben sich gegenseitig umgebracht, im Streit um die Beute.“ „Geschieht ihnen recht“, sagte einer der Soldaten grimmig. Denaro ließ die Beute einsammeln. Die Soldaten schulterten die Säcke und traten den Rückmarsch nach Havanna an. Der Fall Cuchillo, Gayo und Sancho war abgeschlossen... ENDE