Dieter Forte Auf der anderen Seite der Welt Roman S.Fischer
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Dieter Forte Auf der anderen Seite der Welt Roman S.Fischer
Umschlaggestaltung: Gundula Hißmann und Andreas Heilmann Hamburg
2. Auflage: September 2004 © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2004 ISBN 3‐10‐022116‐8
Dieter Forte, 1935 in Düsseldorf geboren, lebt heute in Basel. Berühmtheit erlangte er als Dramatiker und Drehbuchautor, sein Drama »Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung« wurde zu einem Welterfolg. Im S. Fischer Verlag erschienen seine großen Romane »Das Muster«, »Tagundnachtgleiche« (zunächst unter dem Titel »Der Junge mit den blutigen Schuhen«) und »In der Erinnerung« — eine Romantrilogie, die unter dem Titel »Das Haus auf meinen Schultern« auch in einem Band vorliegt. Darüber hinaus sind lieferbar die Bühnenstücke »Das Labyrinth der Träume oder Wie man den Kopf vom Körper trennt«, »Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation« und »Kaspar Hausers Tod« sowie der Essay‐ und Gesprächsband »Schweigen oder sprechen«. Dieter Forte erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Basler Literaturpreis, den Bremer Literaturpreis, die Heinrich‐Heine‐Ehrengabe und den Hans‐Erich‐Nossack‐ Preis. Über seine Arbeit gibt Auskunft der Materialienband »Vom Verdichten der Welt. Zum Werk von Dieter Forte«, herausgegeben von Holger Hof. 2
Dieter Forte
Auf der anderen Seite der Welt Roman
S.Fischer 3
2. Auflage: September 2004 © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2004 Satz: H & G Herstellung, Hamburg Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3‐10‐022116‐8
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Für Marianne 5
Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, wähle ich den Schmerz. Faulkner 6
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Im Moment des Todes erscheine das Leben noch einmal vor dem inneren Auge, in sekundenschnellen und doch statischen Bildern, so die allgemeine Annah‐ me, und das galt auch für die letzten Monate einer zum Tode führenden Krankheit, in einem geduldigen, gelas‐ senen Abschiednehmen vom Leben, das aus verblassen‐ den Erinnerungen bestand, die sich unbemerkt von ei‐ nem entfernten, vor dem nahenden Tod noch einmal aufleuchteten mit einer Intensität, die im Leben nicht zu finden war, als diese Erinnerungen unter der Gleich‐ förmigkeit der Tage und Nächte wie unter einer grauen Aschenschicht verschwanden und erst durch den nahenden Tod ihre bleibende Gültigkeit erlangten. Diese Gedanken überfielen ihn, als er, das Zugfen‐ ster schließend, von der wie gestellt wirkenden Gruppe Abschied nahm, die mit ihren Taschentüchern winkte und letzte, angesichts der Umstände sinnlose Rat‐ schläge schreiend wiederholte. Ein kurzes, hastiges Durchatmen der anfahrenden Lokomotive, schnell hin‐ tereinander, fast rauh. Der Zug fuhr mit einem Ruck, der alle Reisenden durchschüttelte, an, ruckte noch mehrmals, die Lokomotive schnaufte und stieß weiße Dampfwolken aus, die sich in der Luft verzettel‐ 7
ten, die Fenster wurden von den Reisenden hochgesto‐ ßen, ein entschiedenes Klappen den Zug entlang. Vor den geschlossenen Fenstern liefen Frauen und Männer in dunklen, langen Mänteln mit dem Zug, wollten den Moment der Trennung, den endgültigen Abschied, noch einmal hinauszögern, ein aussichtsloser Wettlauf, den sie nach einigen Metern verloren. Sie verschwanden, obwohl sie gleich schnell liefen wie vorher, denn sie waren nun in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, ein Traumbild, laufende Menschen, die auf der Stelle standen, die man in der Dunkelheit nicht mehr ausein‐ anderhalten konnte, sie standen und entfernten sich in einem, ein Bild, das sich in der Unscharfe verlor, die Gesichter weiße Punkte, dann nichts mehr, und wenn er sich später an diesen doch wichtigen Moment in seinem Leben erinnerte, blieb nur ein in der Nacht versinkendes Familienbild auf dem Bahnsteig eines Großstadt‐ bahnhofs. Der Zug verschob den Bahnhof in einer langge‐ zogenen Kurve, die Bahnhofsuhr auf dem kaum noch erkennbaren viereckigen Turm aus rotbraunen Ziegeln rutschte in die Mitte des Fensters, leuchtende römische Ziffern, zwei schwarze, zugespitzte Zeiger, freischwe‐ bend über den nächtlichen Dächern, ein vieläugiges Ungetüm mit steil erhobenen drohenden Schwingen im Anflug auf die schwarzen Wachttürme der aus‐ gestorben wirkenden Stadt, Hochhäuser, auf denen farbige Neonbuchstaben künstliche Worte mit unbe‐ kannter Bedeutung schrieben, Leuchtfeuer einer sich entfernenden Welt, deren Territorium er verließ. Er kannte das Bild, dieses feststehende Abschiedsbild. Bei 8
jeder Abfahrt zog die Uhr, deren Zeit für ihn nun end‐ gültig nichts mehr bedeutete, ihren gewohnten Kreis in die Mitte des Zugfensters, diesmal vielleicht zu einem ewigen Abschied, die Uhr, die er zerstört kannte, ohne Zeiger, mit erloschenen und abgebrochenen Ziffern, und die für ihn ein sinnlos wieder aufgebautes Per‐ petuum mobile war. Ein Symbol dafür, daß sich alles im Kreis drehte und alle menschlichen Bemühungen auf ewig im Stillstand endeten. Der Zug fuhr schneller, Häuser zuckten vorbei, ihre grauen Mauern wurden zu einem Wall, der den Zug umschloß, und während die Winkenden auf dem Bahnsteig sich jetzt wohl wieder der Stadt zuwandten, in Gedanken wieder in ihrem normalen Alltag waren, fanden die Reisenden sich mit ihrem Schicksal ab, zu‐ nächst einmal Reisende zu sein. Die Nachtzüge waren immer überfüllt, man sparte auf langen Strecken eine Übernachtung, die Menschen drängten, im Kampf um einen Platz, in das Abteil; bis das Gepäck verstaut war und die Sitze verteilt, brach ein kleiner Krieg aus: Das ist nicht mein Koffer. Das ist Ihr Koffer. Ich kenne mei‐ nen Koffer. Das ist mein Sitz. Da liegt mein Mantel. Ich hatte meinen Mantel hierher gelegt. Das ist nicht Ihr Platz. Könnte der junge Mann seinen Koffer — so geht das doch nicht ... Der junge Mann mit dem Kof‐ fer, das war er. Und da in seiner Familie alles zu groß gekauft wurde, hatte er den größten Koffer, den man in der Stadt finden konnte, auf Raten gekauft bei Defaka, dem Deutschen Familienkaufhaus des Herrn Horten, der sich nach dem Krieg unverhofft im Besitz vieler Kaufhäuser wiederfand, die früher einen anderen 9
Namen trugen, und der diesen Schatz wie Hans im Glück großzügig wieder verschenken wollte — so unge‐ fähr stand es in den Anzeigen seines Hauses. Der Koffer war ein Monstrum, das er nur mit aller Kraft und der Hilfe anderer bewegen konnte, ein kleiner Schrank aus rotbraunem blankpoliertem Vulkanfiber, das von drei Schlössern, vier um den Koffer genagelten Holzleisten und dem Hosengürtel seines Vaters zusammengehalten wurde. Ein Auswandererkoffer, ein Überseekoffer, der in keine Gepäckablage paßte, so daß er immer in sich ruhend zu seinen Füßen stand, und ihn zwang, schräg zu sitzen. Er enthielt alles was er besaß, dafür war er eher wieder klein, unter dem Deckel hatte seine Mutter ein Wäscheverzeichnis eingeklebt, in dem sie in ihrer schönsten Wäscheverzeichnisschrift alles notiert hatte, was sie in den Koffer packte, so daß er jederzeit genau wußte, was ihm gehörte. Er saß in einem Abteil dritter Klasse auf einer dieser gelblichen, ehemals lackierten Holzbänke, schmale, an‐ gestoßene Holzstäbe auf eine schwungvolle Eisenkon‐ struktion geschraubt. Ein sehr junger Mann, das Leben überhaupt noch vor sich, so hätte ihn ein Mitreisender beschreiben können, in einem etwas zu großen Mantel aus hartem Stoff, gekauft mit dem einzigen Wunsch, er möge endlich dicker werden, nicht diese Bohnenstan‐ genfigur, diese indische Hagerkeit, wie alle sagten. Er überließ sich der Fahrt, ohne seine Gedanken zu finden, mit denen er die Situation, lange angekündigt und mit viel Aufhebens realisiert, für sich erfassen konnte. Denn das vorbedachte Geschehen einer Zugfahrt und die tatsächliche Zugfahrt waren etwas Verschiedenes, wie 10
auch die kommende Zeitlosigkeit, all die ungezählten Monate oder Jahre, eine tödliche Ewigkeit sein konnten, keiner wußte es so genau. Also war es besser, die Gedanken erst einmal ruhen zu lassen, denn da war allzuviel noch unvorstellbar, vor allem die Rückkehr, von allen Beteiligten am wenigsten eingeplant, und er wußte nicht, ob er sich dieser Bewertung seiner Situa‐ tion anschließen sollte, obwohl sie auf eine merkwür‐ dige Art einfach erschien, weil eben alle seinen Tod er‐ warteten. Der Abschied von der Welt war für ihn eine oft geübte Kunst, die Rückkehr erheblich schwieriger, auch das gehörte zu seiner Erfahrung, und ob er sich dem Ablauf der Dinge noch einmal entgegenstellen sollte, eine unbeantwortete Frage, ein lang andauernder, qualvoller und einsamer Kampf über Jahre hinweg, dazu noch ohne Gewißheit oder auch nur Aussicht auf ein dem Leben zugewandtes Ende. Das Schnaufen der Lokomotive, kaum noch zu hören, verging im ruhigen Rattern der Räder, das ihn in ein sanftes Schaukeln versetzte. Der Zug tauchte in Städte ein, ein Gewirr von zusammenlaufenden Straßen und ineinander verschachtelten Türmen und Häusern, die sich, im letzten Licht unter heraufziehenden schwarzen Wolken, zu einem dunklen Gebirge zusammenschlos‐ sen. Es war kalt. Ein eisiger Luftzug durchwehte das Abteil vom undichten Fenster zur klappernden Tür. Alle behielten ihre Mäntel an, saßen da wie in Kokons, auch er hockte eingehüllt in seinen Mantel wie in einem Panzer, die Füße auf dem Koffer, den Kopf an die harte Holzwand gelehnt, in die Menschen ihre Initialen, ihre Vornamen, irgendein Wort, verbunden mit einem Herz, 11
einem Kreuz oder einem rätselhaften Zeichen, einge‐ kratzt hatten. Reisende, die sich verewigen wollten, Unbekannte, die hier eine Erinnerung hinterließen, in diesem Abteil weiterlebten, während vor dem Fenster Raum und Zeit eine bedrohliche Einheit bildeten. Die Körper der Reisenden in den engen Sitzen fielen gegen‐ einander, verwandelten sich in unförmige Klumpen, die aufeinanderhingen; nach hinten gekippte Gesichter mit offenen Mündern und geschlossenen Augen, eingesun‐ kene Leiber, deren Köpfe, schwerer werdend, den Körper immer tiefer zogen. Die blaue, abgedunkelte Nachtlampe an der Decke des Abteils überzog alle mit einer Leichenblässe, ein immer tiefer ineinanderfal‐ lender Leichenberg aufgedunsener Körper, schwam‐ miger Gesichter, wie hingerichtet in einem Krieg. Die Stille nach dem Abschied, wenn das Schweiget der Reisenden in Schlaf überging, in ein vielfaches At‐ men, war schwer zu ertragen, auch das ein wiederkeh‐ rendes Gefühl; die vertrauten Stimmen verstummt, das Rattern der Räder in ein gleichmäßiges Rollen überge‐ hend, näherte sich die anfangs so sensationelle Bewe‐ gung in ihrer andauernden Gleichförmigkeit dem Still‐ stand. Nächtliche Wolken segelten schlaftrunken in Richtung der fernen Städte, hochgetürmte Karavellen auf der Suche nach einem Ankerplatz. Verirrte Vögel in der schmalen Helle des Horizonts, kreisend versanken sie in den aufsteigenden Schatten der Nacht. Stille Flüsse im ersten Sternenlicht, die silbernen Streifen der Lichter über schlafenden Schiffen. Sterne begleiteten jetzt den Zug, auch der Mond hatte sich auf die Reise gemacht und kippte in einer Kurve 12
gefährlich auf die andere Seite. Der Zug schoß vorwärts auf einer um sich selbst und in wechselnder Geschwin‐ digkeit um die Sonne drehenden Erde, so daß dem sich seinerseits drehenden Mond sein Torkeln zu verzeihen war, denn weiter oben rasten die Sterne noch schneller, so daß ein entschlossener Unternehmer dieses Ringel‐ spiel als Spektakel hätte verkauten können, denn diese Dreherei war irritierender als ein Karussell auf einem Jahrmarkt. Da brauchte nur ein richtiger Hundsfott zu kommen, einer dieser unbedenklichen, vor nichts zurückschreckenden Kerle, wie sie in dieser Zeit beliebt waren, ein Mann, der mit Lust alle Grenzen überschritt und in die Gewissenlosigkeit verliebt war, um diese Illuminierung des Weltalls als Vergnügungspark zu verkaufen, allen anderen als unsere Zeit anzubieten, um zu vertuschen, daß da gar nichts war, nicht mal die Zeit, und das Geschehen auf Erden, groß als unsere Zeit dargestellt, nur ein Alptraum, aus dem man nicht erwachte, solange man an diese Zeit glaubte, die schon im Moment des vergnügten Herumirrens eine ver‐ gangene Zeit war, eine schnell vergessene Zeit, irgend‐ wann in Gang gesetzt, nun nicht mehr anzuhalten, ein Schauspiel der Täuschungen, das aber Gewinn er‐ brachte und deshalb stattfinden mußte, nicht stillstehen durfte, denn die Zeitlosigkeit wäre für alle in dieser Zeit Lebenden ein unerträglicher Zustand gewesen. Die Dampfwolken der Lokomotive zogen tief am Fenster vorbei, verhüllten wie ein wehender Vorhang die Welt da draußen, so daß jegliche Orientierung schwand, die aufstiebenden Funken zwischen den Rä‐ dern der Lokomotive erhellten dieses weißliche Ge‐ 13
spinst, ein vorbeijagender Traum aus glühend aufleuch‐ tenden und wieder auseinanderjagenden höllischen Tiergestalten und menschlichen Fratzen, die bläulichen Gesichter der in ihrer Leichenstarre verharrenden anein‐ anderliegenden Körper mit hellen Reflexen überzie‐ hend. In engen Kurven sah man für einen Moment den Führerstand der Lokomotive, dieses kleine Licht, das in die Dunkelheit zog, den Weg kannte und dem die Rei‐ senden wie Pilger folgten, geleitet durch den Bettel‐ gesang der mechanischen Glocken, diesem bimmelnden Jammern, wie das Heulen armer Seelen. Ein langes dumpfes Donnern, die Räder rollten über eine stählerne Brücke, unter der man nichts sah, die nur aus dem Hall bestand. Der schrille Pfiff eines Zuges, erleuchtete Fen‐ ster mit Menschen, die wie in einem frühen Kinemato‐ graphien herumzappelten, zu einem Bild der Verzweif‐ lung wurden. In Abständen verlassene, menschenleere Bahnhöfe, unlesbare Worte im nackten, grellen Neon‐ licht, das die Reisenden in ein gespenstisches Flackern tauchte. Dann stieß der Zug in einen Tunnel, in ein stik‐ kiges Schwarz, das kein Ende kannte, tief in die Erde führte, ohne Ausweg schien, der beißende Dampf drang in das Abteil, rote, grüne Signalleuchten schossen am Fenster vorbei, eine Hadesfahrt, die sie unerwartet noch einmal freigab. Die betäubten Ohren fanden sich in ei‐ ner unnatürlichen Stille, lodernde Flammen näherten sich, wurden zu wilden Feuerzungen, zu hochschießen‐ den Funkengarben, die bis in die Wolken reichten, lang‐ sam wieder zur Erde herabsanken, weißleuchtend in der Nacht. Langgezogene festungsartige Bauwerke mit bläulich leuchtenden undurchsichtigen Fenstern 14
rückten bedrohlich nahe an den Zug, sprangen ihn an, verstellten den Weg. Hinter den Fensterreihen tanzten Schatten, Zwerge wurden zu Riesen, kämpften mit‐ einander, erhoben drohend ihre Arme, warfen sich vor den Zug, aber der Zug passierte, die Schatten fielen in sich zusammen, das glühende Bollwerk mit seinen Feuertürmen wurde kleiner, schrumpfte zusammen, entließ sie in ein Unwetter. Blitze erhellten die Land‐ schaft, zeigten ein steinernes Kreuz an einer Weg‐ gabelung, ein verfallenes Gehöft, Bäume, deren Äste sich wie im Schlaf tief hinab beugten, die Regentropfen krochen waagerecht über die Scheibe. Er spürte nichts vom Sturm, der da draußen tobte und hörte auch nicht das Donnern des abziehenden Gewitters, das noch lange über einer fernen Hügelkette aufleuchtete, wäh‐ rend das Gewicht der Nacht sich wieder auf das Land legte, auf vereinzelte Lichter, die langsam weiterwan‐ derten und erloschen. Dann war da lange Zeit nur noch ein schwarzes Loch. Sein Körper wurde schwer, Arme und Beine wie Stein. Die Bilder in seinem Kopf wiederholten in immer neuen Abläufen die Zugfahrt, so daß er träumte, er säße in einem Zug, der immer wieder abfuhr, ein unbestimmtes Ziel in einer Ungewissen Ferne, außerhalb des Lebens der Menschen, jenseits der Grenze, die keiner über‐ schreiten wollte, weil es ungewiß war, ob man von da wieder zurückkam, der Grenze aus stummer Todes‐ angst. 15
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Die Reisenden um ihn herum erwachten vom Tode zum Leben, übernächtigte, starre Blicke aus schreck‐ haften Träumen, erstaunte, ratlose Augen verirrter Tie‐ re, die nicht wußten, wo sie waren. Sie flüchteten in die eingeübten Handlungen, rissen mit entschlossener Miene ihr Gepäck an sich, drängten durch die schmale Abteiltür, rannten den Gang entlang, um als erste an der Waggontür zu stehen. Eine wichtige Stadt näherte sich, ein großer Hafen im ersten Morgenlicht, unbe‐ weglich in den Himmel ragende Kräne, finstere Dal‐ ben, schwarze Hafenboote, hintereinander an Auslegern vertäut, an den Kais dunkle, langgestreckte Schiffs‐ körper, noch in ihre Schatten gehüllt; das sich kräu‐ selnde, unter einem fahlen Dunst liegende Wasser drängte in den Hafen, umkreiste die schwankenden Bojen, bewegte Taue und Ankerketten, es würde steigen und den Hafen in einen lebendigen Ort verwandeln, doch jetzt war da nur das hereinfließende stille Meer. Der Bahnhof der großen Stadt war Endstation. Die Menschen quollen aus den Nachtzügen und kletterten in die Anschlusszüge. Er konnte sich also mit Ausdauer dem Abenteuer hingeben, den Koffer aus dem Zug zu 16
bugsieren. Er zog und stieß ihn über den Gang bis zur Waggontür. Nach verschiedenen Fehlversuchen, den Koffer anzuheben, stieg er einfach aus, rüttelte an ihm, bis er Übergewicht bekam und auf den Bahnsteig knall‐ te. Danach sah das mit Bohnerwachs auf Hochglanz ge‐ brachte Vulkanfiber nicht mehr so elegant aus, aber die Kunst bestand eindeutig darin, sich von diesem Trumm nicht erschlagen zu lassen. Ein Eisenbahner, der diese artistische Nummer mit fachmännischem Interesse verfolgte, wollte den Koffer mit einer imponierenden Bewegung — dem jungen Mann mal zeigen, wie man so etwas macht — auf einen Gepäckwagen werfen, unter‐ brach allerdings diese Bewegung zweimal mit einem schmerzhaften: Och, um ihn mit gerunzelter Stirn zu fragen, ob er Ballaststeine für Schiffe transportiere. Ein anderer Eisenbahner kam zu Hilfe, und nach einem längeren Palaver über Reisende, die alles immer in einen Koffer packen, wuchteten sie den Koffer ge‐ meinsam — eins und zwei und hoch — mit geröteten Gesichtern auf den Gepäckwagen. Er folgte dem los‐ schaukelnden Wagen, verlor ihn im Gedränge und Ge‐ schiebe der hastenden Menschen aus dem Auge, er‐ kannte den Abfahrtsbahnsteig aber daran, daß er von weitem seinen Koffer sah, hochkant stehend, Fels in der Brandung, Riff im Meer der Menschen. Aus der Nähe betrachtet war er inzwischen stark ramponiert, mit breiten Schrammen an der Seite, man hatte ihn wohl einfach vom Gepäckwagen geworfen. Ein Wertgegen‐ stand fürs Leben, so das Kaufhaus, der schon nach Antritt der ersten Reise nicht mehr umzutauschen war. Er setzte sich auf den Koffer, wartete auf den noch nicht 17
eingefahrenen Zug und aß eines der Brote, die ihm seine Mutter mitgegeben hatte, die er kaum herunterbrachte, weil diese Brote die Bezeichnung Butterbrot in einer so reinen Form darstellten, daß man unter Hungernden damit sein Leben riskiert hätte. Die Butter war genauso dick wie das Brot, fingerdick, hatte der Arzt gesagt, und seine Mutter neigte zu Übertreibungen. Seine Zähne mahlten in der Butter, ein klebriges Gemisch, in dem kaum Brot zu finden war, und er sehnte den Tag herbei, an dem er ohne Butter leben durfte, keine Fleischbrühe und keinen Rotwein mit Ei mehr trinken mußte, er konnte den Rotwein nicht mehr riechen, kein Ei mehr sehen, von der Butter wurde ihm übel, und nach der fetten Fleischbrühe übergab er sich, aber er hatte versprochen, die Butterbrote zu essen, hatte es seiner Mutter versprochen, die in Panik lebte, in der Angst, ihn zu verlieren. Ein Jahr lang schluckte er das alles schon, ein Jahr lang hatte er auf einem alten Sofa gelegen, nur zur Toilette durfte er gehen, keinen Schritt auf die Straße, ein Jahr lang flach liegen und Butter und Eier und Rotwein und Fleischbrühe, und kein Gramm hatte er zugenommen. In der zum Himmel strebenden Bahnhofshalle, einer schwungvollen architektonischen Verbindung von Kir‐ chenschiffund Maschinenfabrik, fing sich der Lärm der nun kräftig rumorenden Großstadt, erschreckte die Tauben, die orientierungslos zwischen den genieteten Eisenpfeilern umherflatterten, durch ein Dampfloch ins Freie entkamen. Hinter den blinden Scheiben er‐ ahnte man einen blassen Himmel. Es roch nach Kohle, und es war kalt und feucht. Schwarze Maschinen, 18
eingehüllt in weißen Dampf, schoben sich auf den Schienen hin und her, knallten gegen die Puffer der Waggons, stießen Pfiffe aus, schleppten vielgliedrige Züge an, zogen andere aus der Halle, Hebelsignale ho‐ ben und senkten sich, stellten sich auf Grün oder Rot. Es sah aufregend aus, wie das da alles auf die Sekunde genau ineinander lief, aber natürlich war es für jeden, der da mitmachen mußte, die ödeste Routine, jeder erfüllte nur die vom Fahrplan vorgegebene Tätigkeit, kleine Weberschiffchen, die an einem großen Muster arbeiteten, das sie nicht kannten. Menschen betraten oder verließen diesen Dom durch die vorgeschriebenen Ein‐ und Ausgänge, verbanden sich zu flüchtigen Gruppierungen, zu eiligen Kolonnen, der Ablauf erin‐ nerte an das Gewoge und Geschiebe in einer Pilgerkir‐ che, mit der Unendlichkeit von Pilgerströmen, deren murmelnde Stimmen in die Höhe stiegen. Der Erbauer dieser Kathedrale hatte sicher an so etwas gedacht, vielleicht hatte er die neue Zeit und ihre Arbeit adeln wollen, durch die Verbindung von Schönheit und Zweck, aber die neue Zeit war längst vergessen, und es lief so ab wie jeden Tag. Sein Zug hielt quietschend vor ihm. Ein die Räder und die Achsen der Waggons mit einer Eisenstange ab‐ klopfender Arbeiter in einer ölverschmierten Weste nahm wortlos den Koffer, hob ihn mit einem Ruck in den Zug, ging weiter, den Klang des Eisens erforschend. Er folgte seinem Koffer, ließ ihn stehen, wo er stand — den trug da keiner weg —, und setzte sich in ein Abteil. Unmerklich ging der Stillstand in Bewegung über, so daß er zunächst dachte, ein auf dem Nebengleis 19
stehender Zug fahre an, die große Halle versank lautlos in einer Steigung, die über andere Gleise führte, auch die Stadt wurde trotz ihrer Kirchtürme und hohen Häuser rasch ein Teil des Horizonts, kleiner als die Bäume neben den Gleisen, die Erde war nun mal eine Kugel, und selbst die größten Städte verschwanden in Minuten. Im Inneren dieser Kugel hätte sich alles nach innen gekrümmt, die Aussicht wäre entschieden inter‐ essanter gewesen, Städte und Landschaften schon von weitem gut sichtbar wie auf einer Panoramakarte, man wäre frühzeitig im Bilde und könnte sich alles ordent‐ lich anschauen. Beim jetzigen System wußte man nie was kam, man mußte abwarten, was sich am Horizont ergab, und ehe man es richtig sah, war es schon wieder vorbei, spurlos verschwunden; in einer Kugel hätte man es noch lange betrachten können. So gesehen war die Erde eine Fehlkonstruktion. Vielleicht wären die Menschen verständiger geworden, wenn ihre Antipo‐ den nicht unsichtbar zu ihren Füßen, sondern sichtbar zu ihren Köpfen gesessen hätten. Das jetzige System erweckte den Eindruck, als ginge es immer vorwärts: Schau nach vorne und nie zurück. Es nannte sich Fort‐ schritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus. Der Zug war leer, ein ratternder Personenzug einer Nebenstrecke, der durch eine flache, immer nebliger werdende Landschaft fuhr und an jeder Station hielt. Kleine Bahnhöfe, auf denen ein Stationsvorsteher in Pantoffeln und mit Strickweste an seine rote Mütze tippte, die er zu diesem Zweck kurz aufsetzte, dem 20
Zugführer mit einem dienstlichen Kopfnicken einen abgegriffenen Stab überreichte, den er salutierend an der nächsten Station einem anderen Bahnhofsvorsteher überreichte. Mal stieg ein Bauer oder eine Bäuerin mit einem Korb ein, um kurz danach wieder auszusteigen, und es sah nicht so aus, als hätten sie dazu eine Fahr‐ karte gekauft. Der Nebel wurde dichter, die Bahnsta‐ tionen, die nur noch aus einem Dienstzimmer mit eini‐ gen Hebeln, dem Fahrkartenschalter und der Toilette bestanden, verschwammen im Dunst, die verkrüppelten Bäume neben den Stationshäuschen ersetzten mit ihren vor Nässe schwarzen Ästen die Signale. Telegrafen‐ stangen begleiteten mutig die Gleise, ihre durchhän‐ genden Leitungen tanzten in der Bewegung des Zuges auf und ab und warteten geduldig an jedem Haltepunkt auf die Weiterreise. Ein weißer Schleier umschloß das Abteil, die Welt war verschwunden, der Zug kroch langsam darin herum, verließ sich auf die Schienen, blieb gelegentlich stehen, keiner wußte, war das nun ein Haltepunkt oder hatte der Zug sich verirrt. Der Schaffner langweilte sich, blieb in der offenen Abteiltür stehen: Das ist hier so, immer nur Nebel, rundherum nur Sumpf. Und nach einer Pause geheim‐ nisvoll: Hier können Sie Stimmen hören. Er kam näher und flüsterte ihm zu: Wenn Sie die Notbremse ziehen und sich auf den Bahndamm setzen, hören Sie in der Stille die Stimmen, sie klagen und jammern, seufzen und schluchzen. Aber auf dem Bahndamm bleiben, sonst verschwinden Sie im Moor! Er überlegte, ob der Schaffner eine Geschichte erfand, um sich die Zeit zu vertreiben, oder ob etwas daran wahr sein könnte. Sein 21
zweifelndes Gesicht trieb den Schaffner zu erneuter Be‐ schwörung: Ich habe sie oft gehört, ganz dünne Stimm‐ chen, sie schweben durch den Nebel und sind einfach überall. An den Bahnhöfen gibt es Holzstege, da können Sie ins Moor gehen, aber in der Nähe von Menschen muß man oft stundenlang warten, bis sie sich melden. So lange kann ich den Zug nicht anhalten, außerdem sind die Holzstege oft morsch, gefährliche Sache, hier hört man sie immer, das Moor ist hier sehr tief, viele Menschen ziehen hier die Notbremse. Sein »Hier, hier« wurde immer drängender, sie sahen beide zum ver‐ heißungsvoll geschwungenen teuflisch roten Griff der Notbremse, und der Schaffner meinte bedauernd: Ich kann sie ja nicht ziehen. Während er noch überlegte, ob er diesem Mann, der so stimmensüchtig war, den Gefallen tun sollte, einfach mal kurz am Griff der Not‐ bremse ... Das kreischende Geräusch der Räder, der heftige Ruck des haltenden Zuges, der Flug in den ge‐ genüberliegenden Sitz, Bewegung in Stillstand, die Stil‐ le, der langgestreckte Bahndamm, sich verlierend im dunstigen Sumpf, die Stimmen, die einen in den Sumpf lockten — rechtzeitig fiel ihm ein, daß er unbedingt den Anschlußzug erreichen mußte. Der Schaffner winkte ab: Die Anschlüsse stimmen alle nicht, hier fährt jeder wann er will. Das war eine tröstende Auskunft, aber er konnte sich doch nicht entschließen, die Notbremse zu ziehen, er war auf den Anschlußzug angewiesen. Der Schaffner murmelte etwas von einer dreimal verfluch‐ ten unnützen Fahrplanpünktlichkeit, wünschte dem Erfinder dieser Ordnung alle bösen Geister um Mitter‐ nacht an sein Bett, er fühlte sich um seine Stimmen 22
betrogen und stampfte wütend durch den Gang. Noch lange überlegte er, eingeschlossen im dichten Nebel, der alles in ein diffuses Licht tauchte, so daß man nicht wußte, ob der Zug vorwärts, rückwärts oder im Kreis rollte, wie sich diese Stimmen wohl anhörten. Und er schloß sich der Meinung des Schaffners an, der Fahrplan habe ihn da um ein seltsames Erlebnis ge‐ bracht, das nicht zur allgemeinen Ordnung gehörte, auch unglaubwürdig erschien, aber eben doch existierte, mit welcher Erklärung war schließlich egal. Hätte sich der Nebel nicht sehr schnell gehoben, wäre er doch noch der Versuchung der lockenden Notbremse erlegen, die ein Abenteuer verhieß, aber unerwartet streckte sich das flache Land sehr weit. Schafe standen in wolligen Knäueln hinter den Knicks, Ziegen liefen vor dem Zug davon, schwarzweiße Kühe hoben er‐ staunt den Kopf, Pferde nahmen entlang des Bahn‐ damms den Wettlauf mit dem Zug auf. Häuser waren nicht zu sehen, nicht einmal ein einzelner Bauernhof oder eine Scheune. Der Wind wellte das Gras, Schweine standen bis zum Bauch in einem kleinen See, unter hohen Bäumen dösten Hühner, es schien das Land der Tiere zu sein. Der Zug fuhr lange, ohne daß er einen Bauern sah, niemand führte ein Gespann, keiner fuhr auf einem Trecker herum, nirgendwo der Rauch eines Kamins. Die Wolken rissen auf, bildeten einen weißen Kreis, durch den die Sonnenstrahlen auf dieses Fleck‐ chen Erde fielen, es hell erleuchteten, so daß man ge‐ blendet die Augen schloß. Der Zug hielt, ein Backsteinbau, der Bahnhof, hier mußte er raus. Der Schaffner kippte seinen Koffer aus 23
dem Zug, der fahrplanmäßige Anschlußzug war nicht zu sehen. Der steht vor dem Bahnhof, sagte der Schaff‐ ner, ließ den Koffer die Bahnhofstreppe hinabrutschen und schleifte ihn durch einen feuchten, unbeleuchteten Tunnel auf den Vorplatz. Ein rothaariges Kind, das in den Wasserstiefeln eines Mannes versank, überreichte dem Schaffner eine Flasche Feuerwasser in Form eines gläsernen Leuchtturms, deswegen war er wohl auch ausgestiegen. Den gibt es nur hier, sagte er und rieb mit dem Ärmel an der Flasche wie an einem Goldstück. Als er ihn an seinen Zug erinnerte, dessen Abfahrtszeit schon überschritten war, meinte er: Der fährt erst, wenn ich drin bin, und schüttelte den Kopf über einen so weltfremden Großstädter. Er verschwand in der dunk‐ len Unterführung, und auch die Wasserstiefel wander‐ ten mit dem Kind davon. Der Bahnhofsvorplatz schien so, wie er da lag, dem vorigen Jahrhundert nachzutrauern. Eine ungepflaster‐ te, nur aus Pfützen bestehende Fläche ruhte im Niesel‐ regen und begnügte sich damit, die jagenden Wolken in den Wasserlachen zu spiegeln. Der schwere braune Rauch von Torffeuern hing über den Dächern und ver‐ mischte sich mit dem Gestank von Küchen und Schweineställen, aus denen ein zufriedenes Grunzen zu hören war. Ein lahmer Hund umschnüffelte eine kahle, verwachsene Weide, die einen schrägstehenden Garten‐ zaun stützte; als der Hund ihn bemerkte, schlich er geduckt zum Zaun, um ihn durch herausgebrochene Latten mit blinzelnden Augen zu fixieren. Ein Huhn stand einbeinig und leise klagend mit schrägem Kopf auf einer Hühnerleiter, die in ein Fenster des Bahnhofs 24
führte, über dem kaum lesbar Wartesaal stand, bei jeder Zugdurchfahrt brach darin ein wildes Geflatter und Gegacker aus. Der Platz, umgeben von ein‐ und zweistöckigen Häusern, durch phantasievoll angebaute Holzschuppen verziert, bildete ein unvollkommenes Rechteck, um zu verhindern, daß der Bahnhofsvorplatz einfach so in die sumpfigen Wiesen überging. Die Häuser waren nach dem Richtfest, das bei allen schon mehrere Generatio‐ nen zurücklag, sicher einwandfrei und sauber über‐ geben worden. Seitdem hatte sich wohl jeder Besitzer eingeredet, daß sich in diesem Jahr kejn neuer Anstrich lohne, und den Rest dem Wettet überlassen, dem Torffeuer, dem Lauf der Zeit. Die Fassaden waren meist abgebröckelt, der mürbe Putz in großen Fladen heraus‐ gebrochen, nasse Ziegelsteine hielten notdürftig zusam‐ men, die Fensterläden hingen schräg in den Angeln, kreischten im Wind, der immer wieder über den Platz stürmte und den Nieselregen zu Schauern verdichtete. Ein Gespann näherte sich, ein Pferd mit naßglänzendem Fell und einer schräghängenden Pferdedecke zog im gleichmäßigen Trott einen Jauchewagen über den Platz. Ein alter Mann saß schlafend auf der Jauchetonne, die Zügel schleiften im Dreck. Das Pferd bog mit gesenktem Kopf in eine kleine Gasse ein, die nasse Decke rutschte auf die Deichsel, fiel auf den Boden. Einige Spatzen stürzten sich auf die Decke und tobten darin herum. Dann kam eine Frau in einem geblümten Kittel und klobigen Männerschuhen schimpfend aus der Gasse und nahm die in einer Pfütze liegende Pferdedecke an sich. Danach geschah lange Zeit nichts mehr. 25
Inmitten des Platzes stand überraschend ein Denkmal der Industriegeschichte, ein verrosteter Schienenbus, die Kleinbahn, in die er umsteigen sollte, Symbol dafür, daß der Fortschritt durchaus in der Lage war, auch diesen Vorposten der Zivilisation umzugestalten. Verlassen ruhte der eckige Blechkasten, rostrot mit blinden Fenstern auf den im Schlamm versinkenden Schienen, obwohl die Abfahrtszeit längst überschritten war. Wenn sich nicht hin und wieder verräterisch eine Gardine bewegt hätte, so hätte man mit dem Satz, daß die meisten Einwohner dieses Ortes schon lange ohne jeden Fahrplan den letzten Gang zum Friedhof angetreten hätten, nichts Falsches gesagt. Aus einer Kneipe, an deren ausgebleichter, verwitterter Holztür ein Email‐ schild aus der Vorkriegszeit ein Bier anpries, das mit Sicherheit nicht mehr gebraut wurde, kamen einige Männer in Wasserstiefeln, Overalls, dicken Pullovern und Pudelmützen, gingen, schräg gegen den Wind ge‐ lehnt, durch die Pfützen zum Schienenbus, stiegen ein und legten sich flach auf die Sitze. Ob das etwas mit der Abfahrt zu tun hatte, war unklar, vielleicht suchten diese Wetterfesten nur einen trockenen Platz zum Schlafen. Er zog seinen trotz weltweiter Garantie nun doch schon erheblich ramponierten Koffer durch den Dreck, hebelte ihn wild entschlossen und kämpferisch in diese Kleinbahnattrappe und verkroch sich schnau‐ fend auf einem Sitz. Nichts geschah, die Männer schnarchten, eine feste Abfahrtszeit schien es nicht zu geben. Am Ende des Platzes erschien eine alte Frau mit Kopftuch und einem Kranz für eine Beerdigung, sie näherte sich geduldig und mühevoll dem Schienenbus, 26
kroch auf allen vieren in den Wagen, setzte sich ihm gegenüber und sagte: Do hevt he noch ruhig im Bett lägen, do verdreiht he de Augen, Mareike hat he schrien, und dann holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nachthemd an. War der Satz beendet, begann sie wieder von vorne: Do hevt he noch ruhig im Bett lägen, do verdreiht he de Augen, Mareike hat he schrien, und dann holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nacht‐ hemd an. Zwischendurch fragte er einmal nach der Ab‐ fahrt. Da gaut de Flaut, sagte sie, und dann wieder und aufs Neue: Do hevt he noch ruhig im Bett lägen, do verdreiht he de Augen, Mareike hat he schrien, und dann holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nacht‐ hemd an. Eine immerzu sprechende Greisin in einem schwarzen, verschossenen Mantel, das Kopftuch zu‐ rechtrückend, sich an den Kranz aus Tannenzweigen klammernd, ihm die Füße entgegenstreckend, weil sie zu klein war für den Sitz. Mehr geschah nicht, nur die Zeit verging. Ein glatzköpfiger Mann in einem grauen Kittel sprang mit einem Satz aus dem Geschäft mit den verblaßten altdeutschen Buchstaben »Kolonialwarenladen«, in dessen schmutzigem, mit Dreckspritzern versehenem Fenster Kartoffeln und Kohlköpfe, Schaufeln und Hacken, Feuerholz, Kohlen und Briketts zu besichtigen waren. Das Kaufhaus für den täglichen Bedarf, erfolg‐ reich von Kolonialwaren auf bewährte, einheimische Produkte umgestellt, und der Herr im grauen Kittel der Kaufmann. Er rannte eilig als ein Vielbeschäftigter über den Platz zum Bahnhof, holte Zeitungen und Post, war also auch der Posthalter, übernahm einen Kasten 27
Feuerwasser in der gläsernen Leuchtturmform, hier wohl dringend benötigt. Dann sprang er wieder, den Pfützen gekonnt und geübt ausweichend, über den Platz, stieg in den Schienenbus und präsentierte sich auch noch als Fahrer dieses unerträglich nach Öl stinkenden Fahrzeugs. Bestimmt der reichste Mann des Ortes mit Aussicht auf drei Renten. Er stellte einen Leuchtturm wie einen Kompaß auf das Armaturenbrett, nahm einen Ermunterungsschluck, schlug auf einige Hebel, trat gegen ein Pedal, eine Maschine brummte los, der Schienenbus rappelte wie ein alter Lastwagen, überlegte es sich noch lange, ob er überhaupt anfahren sollte, aber er setzte sich dann doch in Bewegung. Der Fahrer blätterte in einer Zeitung, breitete sie aus und las darin. Bei den vielen Tätigkeiten, die er gehetzt ausübte, ermöglichte ihm die Zugfahrt wohl eine Art Kaffeepause, die er genoß, während der Schienenbus auf unebenen Gleisen unbeaufsichtigt und geruhsam durch das Land tuckerte. Träge zog die Landschaft vor‐ bei, dunstige Wiesen und ein blasser Himmel, dazwi‐ schen nichts, kein Gatter, kein Stall, keine Scheune, keine Telegrafenstange, einfach gar nichts, nur Wiesen und Himmel und der holpernde Schienenbus. Zeit war hier nicht Geld, Zeit war hier zur Genüge vorhanden, im Grunde der einzige Besitz, und man konnte sich erlauben, damit verschwenderisch umzugehen. Zeit war hier unerschöpflich, Wiesen und Himmel und da‐ zwischen die Zeitlosigkeit, in die er langsam hinein‐ trieb. Ein zerklüfteter Wolkenturm schob sich steil in die Höhe, stand bedrohlich vor der schrägen, unschein‐ baren Sonne, veränderte sich von einer Häßlichkeit in 28
die andere, riesige Köpfe mit aufgerissenen Rachen und glühenden Augen, sechsbeinige, achtbeinige verformte Körper zwischen Mensch und Tier. Ihre Schatten ver‐ dunkelten das Land, überzogen es mit den wechseln‐ den Grenzen ihrer Herrschaft. Der Schienenbus schlug auf, als holperte er von den Gleisen. Der Fahrer sprang aus seiner Tür, lief dem da‐ hinrollenden Fahrzeug voraus, legte eine Weiche um, ließ sich einholen, stieg schwungvoll wieder ein und nahm auf dem Fahrersitz eine neue Zeitung in die Hand. Während der ganzen Fahrt hatte er über den Fahrer hinweg immer ein Auge auf die Strecke, um ihn, der doch ein allzu leidenschaftlicher Zeitungsleser war, rechtzeitig vor einem Hindernis zu warnen, aber die Schienen führten durch eine leere Landschaft, ein Hindernis war undenkbar, er stellte sich die Frage, ob da überhaupt ein Ziel war. Die Männer schnarchten in ihren verdreckten Wasserstiefeln, die Frau vor ihm murmelte: ... holt ihn der Deuwel, und grad das neue Nachthemd an, der Fahrer saß kopfschüttelnd hinter der Zeitung, die Glatze bewegte sich hin und her, was in der Welt doch so alles geschah. Eine hellgraue Hütte kam in Sicht, das Ende der Schienen in einer Wiese, ein Prellbock, gegen den der Schienenbus prallte. An dieser Holzbude ohne Tür‐ klinke und mit zugenagelten Fensterläden, an diesem hellen Fleck in der Landschaft endete der Fahrplan, die gültige Ordnung und die auf ihr beruhende Zivilisation. Er ging um die Holzbude herum und blieb stehen. Da waren nur noch einige Meter Boden zu seinen Füßen, dahinter lag, ohne Übergang, das Meer, Wasser bis zum 29
Horizont, fast unbeweglich. Die stumme Antwort auf all das Getriebe, das er hinter sich gelassen hatte, etwas Machtvolleres, Großartigeres als das Quadratmeterge‐ wusel auf dem Festland. Der Boden unter den Füßen verlor seine Sicherheit, wurde zu etwas Fragwürdigem, das Wort »Festland« lächerlich, ein zerbrechliches Gebrösel vor der Unendlichkeit des Meeres. Hier be‐ gann etwas, das man entweder ertrug oder in dem man unterging. Ö an dö de Ör?, fragte ihn einer der Pudelmützen‐ männer. Eine Sprachgrenze schien überschritten, auch die Sprache wechselte ins Unbekannte. Er nickte vor‐ sichtig. Der Pudelmützenmann ging zum Schienenbus, schnappte sich seinen Koffer, setzte ihn auf die Schulter, zog in Richtung Meer und setzte ihn haarscharf und mit Wucht auf die Kante einer Kaimauer, wobei ein Schloß aufsprang: Lö nölen dolen! Die alte Frau rutschte auf eine windschiefe Bank neben dem Holzhaus, lehnte den Kranz an einen in der Wiese versunkenen Anker und sang mit hoher Greisenstimme ein Lied, das wie ein Wiegenlied klang. Die Männer hatten sich an der Kaimauer aufgereiht und sahen unbewegt auf das Meer; von hinten, gegen das Licht, wirkten sie wie die Figuren eines Bildhauers. Ihre Schatten waren schmal und lang und zogen sich bis zum Holzhaus, bis zu der leise singenden Frau, die sich Tränen aus den Augen wischte und ihren Körper hin und her wiegte. Er ging zur Kaimauer und sah, daß sie fünf, sechs Me‐ ter steil abfiel. Das Meer wirkte nicht mehr so erhaben, es war nur noch eine schmutzige, schäumende Brühe, die schmatzend an der Mauer leckte und ihr Treibgut 30
gegen die bemoosten Steine klatschte, Äpfel, Kohlköpfe, Kartoffeln, Holzkisten, Kleiderbügel, Kofferteile. Er setzte sich auf seinen Koffer, um ihn zu beschweren; die zu Hause hochgeschätzten Dinge schienen hier nicht viel wert zu sein. Angesichts der schuckelnden Frau und der bewe‐ gungslosen Männer, der verfaulenden zugenagelten Holzhütte und der leeren Rostlaube von Schienenbus in der verschlammten Wiese war er den Tränen nahe. Es war trostlos. Alles was man sah war trostlos. Schienen versanken in einer Wiese, ein Anker ragte nur noch mit einem Arm aus der Erde, die Holzbank war so schief, daß die alte Frau schräg sitzen mußte, und die wackeligen Steine der Kaimauer, auf der er saß, lösten sich schon auf der Landseite, um in absehbarer Zeit ins Meer zu stürzen. Alles wartete auf die endgültige Verrottung. Meer und Wind würden das alles holen, und die Menschen hatten sich daran gewöhnt. Es war kalt, er hatte Hunger, der ewige Wind blies, laut Fahr‐ plan sollte er schon am Ziel sein, aber hier galt nur das Meer, und das Meer machte, was es wollte, es raunte und rauschte und schäumte, und der Wind war sein ständiger Begleiter, tanzte mal als Sturm, mal als Orkan, und heulte seine eigene Melodie. Und zu allem Unglück mußte er auch noch da hinüber, auf irgendeine Gefäng‐ nisinsel, die von diesem Meer beschützt wurde, das man leider nicht fußwandelnd betreten konnte; viel‐ leicht sollte man schon hier ins Wasser springen. Eine Bewegung bei den Männern, irgendein Hoho. Auf der jetzt dunkelgrünen Wasserfläche mit ihren weißlich aufspringenden Wellen war ein Punkt zu se‐ 31
hen, der näher kam, größer wurde, sich als Schiff ent‐ puppte, das, energisch von Möwen verfolgt, dem Fest‐ land zustrebte, dann aber mit einem Ruck stehenblieb, worauf alle Männer hochzufrieden, als hätten sie eine Wette gewonnen, ins Wasser spuckten. Ein Schiff, das hilflos im Meer stand, war nach dem Schienenbus in der Wiese keine Überraschung mehr, man hätte sich so etwas denken können. Nach einer Viertelstunde schwankte das Schiff wieder und unternahm, umkreist von seinen Möwen, einen neuen Anlauf, das Festland zu erobern, saß nach hundert Metern aber wieder auf Grund. Die alte Frau stand nun neben ihm, legte den Kranz auf die Kaimauer und sagte: Is Ebbe, de Flaut kömmt schwer, bei Ebbe kocht de Milch nich öber, bei Ebbe kömmt kein Kind. Das galt wohl auch für den Dampfer. Das Schiff versuchte mit der Flut an Land zu rutschen, alle schauten zu und wetteten, wie oft es noch festsitzen werde — die einen wetten auf Pferde, andere auf Windhunde, jedenfalls auf Schnelligkeit, die hier auf festsitzende Schiffe. Nach einer weiteren Viertelstunde rutschte der Dampfer blubbernd dem Festland wieder ein Stück näher, bis er mit einem schmierigen und unheimlichen Geräusch erneut festsaß. Die Möwen drehten eine Ehrenrunde, ein schöner weißer Jungfern‐ kranz, der Kapitän, der schon in seinem kleinen Häus‐ chen zu erkennen war, lehnte sich aus dem Seiten‐ fenster, rief etwas und alle nickten. Es brauchte noch zwei weitere Pausen im Schlick, dann war die Ebbe so gnädig, das Schiff freizugeben, und die Flut so entge‐ genkommend, das Schiff und die Passagiere zu vereinen, zur Freude der kreischenden Möwen, die in 32
ihrem Siegestaumel wie betrunken herumtobten. Was da nun mit Gottes Hilfe und seemännischem Können am Kai lag war ein kleiner Dampfer für Fracht und Passagiere, die Fracht zuerst, die Passagiere zuletzt. Ein früher einmal schwarzweiß gestrichener ovaler Ei‐ senkasten, der Rost und Tang und Schlick mit sich schleppte, keine Fahne zeigte, weil ihn wohl keine Reederei mehr haben wollte. Vielleicht von einer Mann‐ schaft gekapert, die dem Motto anhing: Dat geit auch so, das Schiff bei Lloyds glaubhaft als gesunken gemeldet hatte, während es dem Meer bis auf weiteres vor‐ machte, daß es noch schwimmfähig sei. Der Dampfer lag tief unter ihnen, wenn man sich über die Kaimauer beugte, sah man in den ölenden Schornstein, zum Deck hinab waren es mindestens vier Meter. In drai Stond war de Flaut an de Kant, sagte die alte Frau in einer Mischung aus ihrer und seiner Sprache, ober da war op de Insel Nacht. Man mußte sich den Einheimischen anvertrauen, ihrem von der Natur geleiteten Instinkt. Leere Fischkisten wurden von Deck an Land geworfen, knallten aufeinander, blieben da liegen, keiner küm‐ merte sich darum. Der graubekittelte Kleinbahnchef, dessen Glatze in der schrägen Sonne wie eine Leucht‐ boje hin‐ und herschwankte, warf die gebündelten Zeitungen etwas zu schwungvoll auf das Deck, das Paket zerplatzte, die Zeitungen blätterten sich auf, drehten sich im Wind und segelten über die See davon, einige Briefe folgten ihnen. Mit zwei schweren Kartof‐ felsäcken hatte er mehr Glück, sie landeten haarscharf an der Bordkante. Ein Sack Eierbriketts kam zu hart, ein Teil der Briketts rollte über Deck. Eine schmale, in ihrer 33
Länge sich durchbiegende Holzleiter, die mit dem Schiff auf und ab schwankte, wurde an die Kaimauer gelehnt und hielt sich gegen alle Erwartungen. Die Pudelmüt‐ zenmänner rutschten mit ihren Wasserstiefeln geschickt die Leiter hinunter, sprangen aus halber Höhe aufs Deck, es war gekonnt und eindrucksvoll. Ein Matrose enterte über die Leiter die Kaimauer, nickte auffordernd mit dem Kopf, und er konnte später nicht mehr sagen, wie er diese schwankende, auf und ab schaukelnde Leiter hinuntergekommen war. Irgendwann stand er mit zitternden Beinen auf Deck, aufgefangen von den breiten Armen des Kapitäns, dessen Spezialität es war, seine Passagiere aus der Luft zu empfangen, um sie mehr oder weniger sanft auf seinem Schiff der See zu übergeben, was ihn wohl sämtliche Knöpfe an seiner Kapitänsjacke gekostet hatte, denn da waren nur noch leere Knopflöcher, in denen Drahtschlaufen hingen. Als er hochblickte, sah er die alte Frau auf sich zukommen, unter den Armen mit einem Seil festgebunden, schweb‐ te sie mit spitzen Schreien herab, ihre Füße suchten vergeblich die Holzsprossen der Leiter. Sie landete auf dem Deck unter ihrem Kranz, den man ihr um den Hals gehängt hatte, wurde vom Kapitän fachmännisch losge‐ bunden und lachte schon wieder. Das Seil sauste nach oben, sein Koffer wurde abgeseilt, krachte dabei zwei‐ mal gegen die Kaimauer, schlug hart aufs Deck, weil sich das Schiff gerade mal wieder energisch aufbäumte, wobei zwei Holzreifen absprangen, die vom Kapitän mit einem Tritt über die Reling befördert und damit der See geopfert wurden. Das war die Seefahrt, da ging schon mal etwas über Bord, die Seegötter mußte man 34
gnädig stimmen, Hauptsache das Schiff hielt sich über Wasser. Er wollte an Deck bleiben, es war seine erste Meeres‐ fahrt, aber er wurde vom Kapitän energisch nach unten befohlen: De See geit over. Übersetzt hieß das wohl, das Schiff wird Mühe haben, unter der See durchzu‐ kommen. In der Kajüte, wo jeder auf Kisten und Säcken den vermeintlich besten Platz erobert hatte, hielten alle den Leuchtturm mit dem Feuerwasser in der Hand. Dat Schipp rollt, sagte einer und nahm einen Schluck aus der Flasche, und tatsächlich herrschte nach dem Able‐ gen ein undefinierbares Schwanken, nicht nur vom Bug zum Heck und zurück, auch von Steuerbord nach Back‐ bord und zurück und all das gleichzeitig, der Wind blies wohl aus allen Richtungen. Er rettete sich an ein Bullauge, das entweder vom Wasser überspült wurde oder die Möwen zeigte, nahm von einem der Pudel‐ mützenmänner dankbar einen Schluck Feuerwasser, das war ein Fehler, jetzt wurde ihm erst richtig übel. Die alte Frau, die mit ihrem Kranz auf einem Kartoffelsack saß, rief: Nich autgucken. Und noch einmal: Nich autgucken. Er sah auf den Schiffsboden, sah, daß das schmutzige Wasser langsam stieg, es kam in regelmäßigen Schüben die Treppe herab, aber der Kapitän — der hoffentlich noch das Ruder hielt — hatte sicher Erfahrung darin, wie lange sein stolzes Schiff sich unter diesen Um‐ ständen über Wasser halten konnte. Er zog die Beine an, weil seine Schuhe schon naß waren, nahm mit Widerwillen einen ihm energisch aufgedrängten, mit Sicherheit helfenden zweiten Schluck aus der Leucht‐ turmflasche. Der ölverschmierte Maschinist — bestimmt 35
war der Maschinenraum schon überflutet — inspizierte in dieser Elendskajüte die Höhe des Wassers und erklärte dabei, drei müßten es schon sein; er wurde also mit einem weiteren Schluck betäubt, sah nicht mehr auf das Wasser, das hereinstürzte, sah nicht mehr aus dem Bullauge, sah nur noch auf die alte Frau, die sich auf dem Kartoffelsack zum Schlafen legte, den Kopf auf der Kranzschleife: Ein letzter Gruß. Er lag an der Wand, döste, begriff das Wort »Schiffschaukel«, verstand, warum Matrosen nicht schwimmen konnten, die Sache war in sich aussichtslos, entweder rollte das Schiff oder man lag im Wasser, und er verfluchte all die roman‐ tischen Gedichte und sehnsuchtsvollen Abenteuerro‐ mane, die man über die See geschrieben hatte. Do wait de Swatt, sagte einer der Männer, alle nickten, und so ganz für sich erzählte er eine wohl altbekannte Geschichte wie eine Pflicht, die an diesem Tag er über‐ nahm, ein Ritual, bei anderen Überfahrten von anderen übernommen, weil sie alle ihre Geschichten immer bei sich hatten, sie bei diesen Überfahrten ordentlich und gewissenhaft wiedererzählten, unter dem Nicken der anderen, das wie eine notarielle Beglaubigung war, hier, zwischen Festland und Insel auf dem ungebärdigen, un‐ sicheren, keinerlei Gewißheit bietenden Meer. Do wait de Swatt un lait up Grund un ward noch drimol nach seinem Tod gesehn, is immer widder hochkommen, beide Been in de Ankerkett, is immer widder abtrieven, ward an de Küst, ward an de Insel, ward dat dritte Mol im Meer gesehn, un lait doch in Ewigkeit up Grund, im Totenland, kein Friedhof, kein christlich Begräbnis, Schipp up Grund, Ladung up Grund, Mannschaft dot, 36
und aalens nur, weil he am Sunntag beim Geläut usfahrn is, versündigt gegen Gott den Herrn, hat der Pastor predigt. Einer rief: Hoho. Er sah vorsichtig aus dem Bullauge und erblickte, leider noch recht weit entfernt, eine heftig schwankende Küste, ein ins Meer geworfener Blumen‐ kranz, der sich drehend und wiegend auf dem schwer‐ mütig tobenden Meer tanzte. Das war wohl die Insel, die, als sie näher kamen, wunderbar feststehende Häuser und Bäume vorzeigte. Er dankte Gott, so eine Meeresfahrt stärkte den Glauben auch bei Ungläubigen, dankte ihm dafür, daß er rechtzeitig daran gedacht hatte, dieser aus Wasser bestehenden Erde einige feste Teile hinzuzufügen, umgekehrt wäre es besser gewesen, aber auch die göttliche Weisheit hatte wohl ihre Gren‐ zen, und die christliche Seefahrt war noch unbekannt, wer konnte schon ahnen, daß Menschen einmal Meere überqueren würden. Das Wasser vor dem Bullauge wich immer mehr dem Land, das sich jetzt geradezu königlich aus dem Meer erhob, Rettung und Hilfe bot, den anrollenden Wellen trotzte wie eine steinerne Burg. Ein kleiner, zutraulicher Hafen öffnete sich, nahm sie in seine Arme, beruhigte Wasser, Schiff und Passagiere, geübte Hände fingen die Taue auf, vertäuten den Dampfer fest mit dem Land, jede Reise hat ein Ende, die Ruhe wirkte unnatürlich. Wie er auf diese seemännische Art wieder zurückkommen sollte, war ihm unklar. Alle gingen an Deck, sein Koffer schwamm in einer Pfütze, das so schön polierte Vulkanfiber war naß und wellig, die Luft schmeckte salzig, und die Möwen über ihnen waren auch angekommen. Das Schiff lag diesmal 37
höher als die Kaimauer und gestattete einen Rundblick auf ein mit Fischkuttern vollgestopftes Hafenbecken. Mast an Mast lagen sie aneinander in einem sich ver‐ engenden Schlauch, ein still schaukelnder Wald zwi‐ schen alten Holzpollern, eine verschorfte, versteinerte Allee, gezeichnet von den Abschürfungen der Taue. Am Ende des Hafens der Schiffsfriedhof, halb auf Land gezogene abgewrackte Boote, schrägliegend, ausgeplün‐ dert, den Mast auf der Erde, die Spanten der Schiffs‐ rümpfe freiliegend. Auf dem Deich ein Ausflugs‐ dampfer, wie das Knochengerüst eines großen, hilflos an Land getriebenen Fisches, die Radschaufeln in der Luft, der mächtige Schornstein abgeknickt, am Heck drei Buchstaben eines abgeblätterten Namens. Leinen hingen lose, eine Trosse scheuerte an einer vermoderten Holzdalbe, im böigen Wind pendelte irgendwo eine Messingglocke, schlug gelegentlich an, ein verlorener Ton, auf den keiner achtete, und über allem der durch‐ dringende Geruch des Salzwassers. Eine eiserne Rutsche wurde an das Schiff gehängt, der Koffer daraufgestellt, ein Tritt, und er sauste allein an Land, wobei der letzte Holzreifen absprang und ein weiteres Schloß sich öffnete; das Wasser spritzte zum Abschied zwischen der Kaimauer und dem Schiff noch einmal hoch. Er ging an Land, es war ein seltsames Ge‐ fühl, sich wieder an ein Geländer zu lehnen, das nicht Reling hieß. Die Insel war bestimmt größer, als man dachte, wie ein Schiff auch immer größer wirkt, wenn man endlich darauf steht, aber sie war trotzdem eine kleine Insel, auf der Landkarte nur ein schwarzer Punkt im blaugedruckten Wasser, der im Vergleich zu den 38
ausgedehnten roten Flecken der Hauptstädte und Großstädte mit ihren fetten schwarzgedruckten Namen nicht vorhanden war. Die Städte kannte man, hatte zumindest von ihnen gehört, sie hatten ihre Bedeutung. Das hier war ohne jede Bedeutung, etwas Erde im Meer, nur der Vollständigkeit halber aufgeführt, jenseits dessen, was man zur bekannten Welt zählte, das hier mußte keiner kennen, wollte auch keiner kennen, man hielt sich lieber ans Leben, das von den erleuchteten Zentren wie eine Sonne ausstrahlte. Ein Polizist und ein Zöllner signalisierten Grenze, langweilten sich, weil keinerlei Amtshandlungen vorzunehmen waren, ver‐ schränkten die Arme, sahen auf die ineinandergerollten Haltetaue neben den Pollern, warteten auf Schiffe, die nicht mehr kamen. Neben dem Hafen ein schmaler verlassener Strand, in seiner Existenz der Gnade des Meeres überlassen, dahinter unbewohnte Jugendstil‐ villen mit eingeschlagenen Fenstern, leeren Terrassen, verblaßten Mauern und verfallenen Eisengittern, die in wucherndem Efeu ertranken. Ein mit Schlamm bespritz‐ ter kleiner Lastwagen aus der Kriegszeit wartete auf ihn. Die alten Tarnfarben waren überdeckt mit Flecken aus Teer und roter Mennige. Man bekämpfte den Rost mit dem, was man gerade zur Hand hatte. Der Fahrer, ein dicker Mann in einem karierten Wollhemd und braunen abgewetzten Cordho‐ sen, warf den Koffer ohne zu fragen auf die Ladefläche und sagte in rheinischem Dialekt: Die jroßen Koffer sind immer für uns. Ich bin hier der Charon. Sie kletterten beide ins Führerhaus. Der Fahrer hielt kurz die offene Hand hin: Is ne Jefälligkeit, wenn ich den Koffer ver‐ 39
lade. Er suchte nach einem Geldstück und steckte es ihm in die Hemdtasche. Simmer uns einig, sagte der Fahrer, und ab jeht die Post. Der Wagen rumpelte vor‐ wärts, verließ den Hafen, bog in eine löcherige Straße ein und schaukelte in einem mittleren Tempo vor sich hin. Der Fahrer musterte ihn. Wird schon werden, sagte er, alles halb so wild, im schlimmsten Fall bleibt man hier. Fragt sich nur, ob über oder unter der Erde. Er lachte: Das dürfen se nicht so ernst nehmen. Kleiner Scherz. Sie fuhren durch Felder, magere Büsche standen an der Straße. Viele kommen hierher zurück, sagte der Fahrer, wer hier lange war, hält es in der Welt nicht mehr aus. Kommen wieder und sterben hier. Warum weglaufen, wenn man sowieso wieder hier landet. Sehn se mich an, ich war Major, lag im Lazarett, bin nach dem Krieg gleich hiergeblieben, Zivilklamotten an, alter Inselbewohner, die Engländer haben nicht so genau hingesehen. Moment mal, sagte er plötzlich, riß das Steuer herum und schaute aus dem Seitenfenster, draußen hörte man das Geschrei eines Huhns, dann war es still. Er hielt an, sah sich vorsichtig um, sprang dann aus dem Führerhaus und kam mit einem zerfledderten Huhn in der Hand zurück. Er warf das immer noch flatternde Huhn auf den Boden, ein Blutfleck breitete sich aus: Vollgas und nichts wie ab. Hier muß man sehen, wie man klarkommt. Der Major a.D. sah gerade‐ aus, spähte nach einer zweiten Jagdbeute, erzähl‐te das alles wohl jedesmal den Neulingen, die er vom Hafen abholte, Major a. D., hier hängengeblieben, jetzt ein auf schmalen Straßen hin und her pendelnder Lastwagen‐ fahrer mit der Neigung zum Jagen und Töten. 40
Sie fuhren an dunklen verfallenen Häusern vorbei. Vor den leeren Eingangstoren erhoben sich aus dem Boden wuchtige, sich zur Spitze verjüngende bleiche Bögen. Sie sahen aus wie Elefantenzähne, waren aber viel größer. Walfischkiefer, sagte der Major a.D., die haben hier früher vom Walfang gelebt, räuberisches Volk, und der größte Räuber hatte die größten Knochen vor dem Haus. Immer wieder tauchten diese Knochen‐ bögen auf, aus dem Meer geholt, riesigen Tieren aus dem Leib gerissen, in die Erde eingepflanzt, Tore zu einer Geisterwelt mit umgestürzten Knochenzäunen und zerbrochenen Knochenbänken, bewacht von Har‐ punen, bizarre, mit Grünspan überzogene Eisenzacken auf langen, verfaulten Holzschäften. Jonas der Wal riß sein Maul auf und war im Rückspiegel knapp hinter ihnen. Im Abendlicht am Horizont Kirchen, aus klobigen Steinen breit gegen alle Stürme gebaut, umgeben von großen Friedhöfen mit verwitterten Grabsteinen, die wie eine tausend Jahre alte steinerne Armee aufrecht um die Kirche standen. Schwarze Steinreihen, als wären sie aus dem Meer gestiegen, um die Kirche gegen die Walfischknochen und Harpunen zu beschützen. Wal‐ fängerfriedhöfe, sagte der Major a.D. in aller Ge‐ mütlichkeit, als habe er sich da schon seinen Platz aus‐ gesucht und sei sehr zufrieden damit. Ein Friedhof nach dem anderen zog vorbei, ungeschmückt, eingehüllt in Totenstille, auf den Steinen Beschriftungen in einer ve‐ rgangenen unverständlichen Sprache, wie er später feststellen sollte. Der Major a.D. ließ das Lenkrad los und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. 41
Hier ruhen die Gebeine eines wohlachtbaren Kapitäns der sein Leben viel gewagt vom 14. Jahre an mit Gott der wilden See sich anvertraut sein Schiff geführt als Grönlandfahrer den Leviathan zu fangen wagte er endlich hoffnungsvoll über das schwarze Meer des Todes zu segeln um zu ankern im himmlischen Jerusalem. Nach einer eindrücklichen Pause nahm der Major a. D. wieder das Lenkrad: Die haben ihre Grabsteine schon vor der Ausfahrt bestellt. Eine vorbildliche Lebensein‐ stellung. Schon im Anfang das Ende bedenken. Er zeigte auf einen hohen, herausragenden Grabstein: Da liegt der glückliche Matthias, der hat 373 Wale harpu‐ niert. Die Friedhöfe wurden abgelöst von regelmäßig geformten Hügeln, einer neben dem anderen, eine wellige Landschaft. Hügelgräber, sagte der Major a. D. auf seinen fragenden Blick, Bronzezeit. Sie schaukelten an den Hügeln vorbei, die sich ganz abwesend in der Landschaft erhoben. Der Major a.D. zeigte geradeaus: Dahinter liegen die Steinzeitgräber. Steinkammern mit Flintbeilen, Gefäße mit Speis und Trank. Was man für den langen Weg eben so braucht. Er lachte. In der Dämmerung näherten sie sich der kaum sicht‐ baren Grenze zwischen Land und Meer. Die dunklen Wasser der Verdammnis, sagte der Major a. D., das To‐ tenwasser, wie es hier heißt. Früher gingen hier alle je‐ 42
den Morgen ans Ufer, um zu sehen, was das Meer an‐ geschwemmt hatte, Reste von Schiffen und Schiffsla‐ dungen, und die Toten, jeden Tag brachte das Meer die Toten, das ist eine Toteninsel, in die Erde versinkende Gräber, von den Menschen verlassen, Vergessen und Einsamkeit und vergangene Zeit. Ein Deich durchquerte die verlassene Landschaft, näherte sich der Straße. Eine Ödnis, erhellt durch das eintönige Licht eines fernen Leuchtturms, das in den tiefhängenden Wolken flackerte, über dem Meer noch etwas Helligkeit. Der Major a.D. schaltete die Schein‐ werfer ein, der Wagen folgte dem Licht, wurde ange‐ zogen von dem hellen Fleck, der immer vorauseilte und nie einzuholen war. Der Palast, sagte er und zeigte nach vorn. Sie fuhren auf einen Schatten zu, der sich in den Blitzen des Leuchtturms drohend gegen das Meer erhob, immer dichter wurde, sich in ein breites Dach verwandelte, in ein Haus mit schwarzen Fensterhöhlen, das wuchs und wuchs, zwei Flügel, mehrere Stock‐ werke, Nebengebäude, ein Bollwerk von einem Haus, direkt am Deich, hinter dem das Meer rauschte. Straße, Deich, Landschaft, alles schien auf dieses Bollwerk zuzulaufen, als sei hier das Ende der Welt, der Schluß‐ stein, hinter dem nichts mehr kam, eine alles über‐ ragende Felsenklippe, die vor dem Absturz ins un‐ faßbare und gestaltlose Meer noch einmal die Macht der versteinerten und sich hoch erhebenden Erde de‐ monstrierte. Das Scheinwerferlicht vergrößerte sich auf einer Klinkermauer, die das Haus umgab, wurde zu einem gelben Kreis, die Straße schien genau auf die Mauer zuzuführen, die Scheinwerfer wurden riesen‐ 43
groß, blendeten, der Major a. D. riß das Steuer herum und rollte durch ein Tor auf einen breiten asphaltierten Hof, kurvte um ein Blumenbeet, fuhr an einigen niedrigeren Gebäuden vorbei, hielt vor den Stufen des Haupthauses. Die Handbremse ratschte scharf, es war plötzlich sehr still und sehr dunkel. Der Major a.D. sprang aus dem Wagen, riß den Koffer von der Lade‐ fläche, stieg mit ihm die Stufen empor und verschwand hinter einer eisernen Tür, deren mächtige Abge‐ schlossenheit von kleinen rechteckigen Glasscheiben durchbrochen wurde. Die schwarze Tür war in der Dunkelheit kaum zu sehen, das Licht aus den eckigen Fenstern fiel auf einen großen blanken Griff. Er stieg aus, ging langsam die Treppe empor, acht, neun Stufen, stand auf dem obersten, etwas verbreiterten Stein im Schein der Fenster. Die Tür wurde aufgestoßen, eine Schwester kam heraus: Sie wollen doch nicht gleich wieder weglaufen? Die Schwester führte ihn in ein kleines Büro. Auf einem Tisch mit einer blutroten Plastikdecke lagen auf einem angestoßenen Teller zwei Scheiben Brot mit Schinken und Käse. Die Küche ist schon geschlossen, sagte die Schwester. Er setzte sich an den Tisch mit der klebrigen Decke, in deren Rot sich die Neonlampe an der Decke spiegelte. Der angestoßene Teller hatte einen braunen Sprung. Die Schwester füllte einen hellblauen Keramikbecher mit heißem Kakao, der aus einer Ther‐ mosflasche über den Becher schwappte, Tropfen liefen herab, zogen auf der Tischdecke einen braunen Kreis um den Becher. Er aß mit Widerwillen, obwohl er Hunger hatte. In einer Ecke sah er seinen Koffer, nur 44
noch zusammengehalten von dem Lederriemen, für eine eventuelle Rückfahrt nicht mehr zu gebrauchen. Die Schwester zog eine Karteikarte aus einem Holz‐ kasten: Die Anmeldung machen wir morgen, den Koffer können Sie heute nicht mehr auspacken, ich gebe Ihnen einen Schlafanzug von uns. Es roch nach Desinfektions‐ mittel, die Schwester studierte seine Karteikarte, ihr weißer, frischgestärkter Kittel raschelte. Nachdem er gegessen hatte, führte sie ihn mit einer Taschenlampe durch schwacherleuchtete Treppenhäuser und lange dunkle Gänge, ein Labyrinth aus verwinkelten Fluren, in ein Schattenlicht getaucht. Wäre nicht die energisch geführte Taschenlampe gewesen, die mal nach rechts und mal nach links abschwenkte, deren Lichtfleck er folgte, ohne die Schwester zu sehen — bei jedem Schritt hörte er nur das Knistern ihres gestärkten Kittels —, er hätte sich mit dem Schlafanzug unter dem Arm nur tastend vorwärts bewegen können, von Tür zu Tür. Die Schwester öffnete eine der Türen, er sah im schwach erhellten Rechteck eines offenen Fensters ein winziges Zimmer, zwei Betten parallel, das eine Bett anscheinend belegt. Sie zeigte ihm das Waschbecken neben der Tür: Hier können Sie sich waschen, das ist Ihr Bett, machen Sie kein Licht mehr, das Fenster bleibt offen. Die Tür schloß sich lautlos. Er ertastete sein Bett, hörte den Atem eines Menschen, tastete sich zurück zum Waschbecken, wusch sich, seine Augen gewöhnten sich dabei an die Dunkelheit. Erst jetzt merkte er, wie kalt es war. Als er den kratzigen Schlafanzug anhatte, zog er ihn sofort wieder aus, zog seine Unterwäsche wieder an, den Schlafanzug darüber. Er versuchte, den Fenster‐ 45
flügel auf seiner Seite anzudrücken. Dat Fenster mut opblieven, sagte eine alte Männerstimme im anderen Bett, wird bald Frühjahr, dann Sommer, dann geit dat, Frühjahr, Sommer, Herbst, Winter, wirst dich gewöhn, bün schon drei Joor her. Der Mann drehte sich um und sagte: Nun schloop man min Jung, treckt sich aalens nachem Liev. Er sah aus dem Fenster. Das Meer lag dunkel und teilnahmslos und verband sich ohne Horizont mit dem Himmel. Eine Welt vor dem Beginn der Zeit, in der Ewigkeit und Stille war und kein Wort, nur Helligkeit und Dunkelheit, bis zum Ende aller Zeiten. Er war jetzt eine Nacht und einen Tag von der Welt der anderen entfernt, die Anfang und Ende hatte, in der die Zeit begrenzt war, täglich neu erschaffen wurde und wieder verfiel, und nur die, die diese Welt verließen, wußten davon, wie von einem Geheimnis, aber sie konnten mit den in ihrer Zeit Zurückgebliebenen nicht darüber reden, weil deren Wissen mit der ablaufenden Zeit verging. Eine große Erleichterung breitete sich in ihm aus. Es war alles getan, das Leben war nun vorbei, er brauchte hier nur noch zu sterben, er hatte mit all dem, was hinter dem Meer lag, nichts mehr zu tun. Er durfte die andere Welt verlassen, es gab keine Verpflichtung zurückzukehren. Als er endlich einschlief, träumte er von der Reise, träumte noch einmal von der Abfahrt bis zur Ankunft, und alles verdichtete sich im Traum. 46
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief, eine weite graue Fläche, die sich ins Unendliche verlor, in einer mächtigen Bewegung erhob und wieder senkte und aus der Tiefe dunkle Wellen ineinander laufen ließ. Der an eine unbewegte Landschaft, an Kirchtürme und Häuser und Straßen gewohnte Blick fand keinerlei Halt und wurde mitgezogen in das Unbegrenzte, dessen Hori‐ zont nicht zu fassen war, je länger man hinsah; eine beängstigende Macht, die in ihrer weichen Bewegung alles Harte und Feste auflöste, die großen Kontinente und die versteinerten Städte der Menschen; das Unre‐ gelmäßige, das über das Regelmäßige siegte, weil nur die unregelmäßige Bewegung dem sich verändernden Leben entsprach und alles Regelmäßige und Unbewegte auf den Tod zulief. Das gleichmäßige Rauschen und die Helligkeit weckten ihn. Das Zimmer war leer, das Bett neben ihm, das er mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte, verlassen, die Bettdecke halb aufgeklappt, Laken und Kissen waren zerwühlt. Die beiden Eisenbetten mit ihrer gelblichen Farbe, die, an vielen Stellen abgeplatzt, frühere Anstriche freilegte, oft auch das schwarze Metall, standen nebeneinander, getrennt durch zwei 47
zerkratzte Nachttischchen. Unten eine Klappe mit einem Fach, darüber ein freier Zwischenraum, dann eine Blechschublade und darauf eine Glasplatte, der persönliche Teil für jeden, der hier lag. Alles andere war Krankenzimmer und präsentierte sich auch so. Ein Raum bis zur halben Höhe in grünlicher Leimfarbe, die sich mit dem Tageslicht ins Weiße veränderte. Vor dem anderen Bett zwei alte Holzspinde, Nachlaß der deutschen Armee, die Türen hingen lose in den Angeln, die Griffe waren herausgebrochen. In der Mitte der Wand die Tür zum Flur, in dicken Streifen genauso cremig gestrichen wie die Betten und die Nacht‐ tischschränkchen, da hatte einer einen Posten Farbe und einen langen Pinsel ergattert und viel Zeit und Liebe zur Sache gehabt. Patienten hatten Nägel in die Tür gehauen, um Bademäntel oder den vorgeschriebenen Turnanzug aufzuhängen. Vor seinem Bett, direkt neben der Tür, ein kleines, hellblaues, stark gerundetes Wasch‐ becken, darüber ein schmaler rechteckiger Spiegel und eine weiße Kugellampe. Ein vom Wasser verzogener Stuhl, den man wohl am Strand gefunden hatte, stand bereit für die, die beim Waschen nicht mehr stehen konnten. Besuch war hier nicht vorgesehen, hier kam keiner herein, und das war doch eine Annehmlichkeit, die er zu schätzen wußte. Er haßte diese Besuche mit Blumensträußen, Schokolade und Orangensaft, diese Geschichten um sein Bett herum: Was hat denn der Arzt gesagt, Lisbeth meint auch, Umschläge mit essigsaurer Tonerde und Crataegutt, Willem ist damit vierund‐ neunzig geworden, ein schönes Alter. Über ihm eine Deckenlampe, umgeben von einem Kranz schwarzer 48
Risse im Verputz, die sich wie ein Spinnennetz bis zu den Wänden zogen. Der Boden war rot gestrichen, ein Betonboden mit abgeschürften Stellen vom Herum‐ schieben der Betten. Alles in allem nur ein paar Qua‐ dratmeter — oder, da die Luft hier eine große Rolle spielte, Kubikmeter — für eine noch unbekannte Zeit, eine Gefängniszelle war auch nicht größer, aber da lagen doch zumindest die Jahre und Monate fest, nach denen man sie wieder verlassen durfte. Er setzte sich und sah im Spiegel Wolken ziehen, das war erfreulich, und wenn man den Fensterflügel ein wenig verschob, spiegelte sich darin das Meer. Mehr brauchte er eigentlich nicht, mit diesen beiden Per‐ spektiven ließ sich viel anfangen, zumal sie indirekt waren, was er bevorzugte, der indirekte Blick auf die Welt, gebrochen, verschiebbar, nie endgültig oder eindeutig, das mitgehörte Gespräch im Cafe, Sätze im Vorbeigehen auf der Straße, Passanten im Spiegel der Schaufenster oder in der vorüberfahrenden Straßen‐ bahn. Die Welt in vielfachen Perspektiven, in Bildern, in denen alles gleichzeitig war, Stimmen und Menschen, Straßen und Wohnungen, die Geschichten und die Erinnerungen, aus der Vielfalt ließen sich stundenlange Erzählungen basteln, die er sich selbst erzählte, eine eigene Welt, damit die Nächte und die Tage erträglicher wurden. Die immer lauter werdenden Geräusche im Haus verlangten nach Aufmerksamkeit, schwer zu identifi‐ zierende unbekannte Laute, auch räumlich kaum ein‐ zuordnen, als sei da ein großer Palast im Erwachen, des‐ sen Bewohner sich in gewohnter Weise über ihre Tä‐ 49
tigkeit verständigten, es rumorte und schepperte und klapperte, Türen und Fenster schlugen, unverständliche Stimmen, laute Rufe, eine allgemeine Geschäftigkeit, die für einen Neuling nicht zu deuten war. Das Meer war in diesem Lärm nur noch ein schwaches Geräusch im Hintergrund, auch der hilflos ausgestoßene Atem eines Sterbenden im Nebenzimmer war mit der Nacht gewichen. Er war froh über den menschlichen Lärm, der Leben signalisierte, am liebsten wäre er dabei wieder eingeschlafen, durch die menschlichen Stimmen be‐ ruhigt, denn die Nacht war im Atem des Meeres und des Sterbenden unruhig gewesen, immer wieder war er wach geworden, weil er entweder in den zu ruhigen Atem des Meeres oder in den stockenden Atem des Sterbenden hineingezogen wurde, so daß er erst wieder, sich aufsetzend, seinen Atem finden mußte, um sich kurz danach, sitzend eingeschlafen, erneut aus dem Atem des Meeres oder des Sterbenden zu befreien. Ein Gong, ein Schlag, der dröhnend aus einem unglaublich tiefen Ton in sich nachhallend nach oben stieg, die vielen Treppen, Flure und Räume dieses Hauses mit seinem vollen Klang erfüllte und in flüsternden hohen Tönen noch lange ein Echo fand. Der Lärm schwoll an, als hätte ein Zeremonienmeister alle zu äußerster Be‐ triebsamkeit aufgefordert. Die Stimmen wurden lauter, zusammenhängende Gesprächsfetzen waren vom Flur und aus den offenen Fenstern zu hören, aber er verstand nicht, was da gesprochen wurde, weil es sich auf das Leben in diesem Gebäude bezog, das er noch nicht kannte, das einem strengen Reglement unterwor‐ fen schien, durch einen großen chinesischen Gong 50
regiert, der mit seinen Schlägen dieses Labyrinth be‐ herrschte; alle hier waren Untertanen dieses Gongs und gehorchten. Denn wer hier war blieb lange, Fremde, die kamen oder gingen wie sie wollten, ihr eigenes Leben lebten, gab es nicht, Fremde gab es nur weit außerhalb, das hier war eine verbotene Stadt am Rande der Welt. Aber das wurde ihm erst richtig bewußt, als er später einmal am Eingangstor dieser Stadt stand, errichtet an der Küste eines weiten stürmischen Meers in einem unbebauten menschenleeren Land aus Sand, Gras und kleinen Sträuchern, und am Pfosten neben dem schwar‐ zen Eisentor ein Schild sah: Zutritt streng verboten! Irgendein Verwaltungsdirektor hatte für alle Anal‐ phabeten der Welt unter diesem Schild noch einen Totenkopf angebracht. Er saß in dem gestreiften Anstaltsschlafanzug auf der Bettkante, das Gleichgewicht suchend, mit ausge‐ streckten Beinen und Armen wie auf einem Trapez zwischen Himmel und Erde schwebend, über dem schrundigen roten Abgrund des Betonbodens, ein ver‐ gessener tiefer Canyon; unter dem Spinnennetz der Gipsdecke, das ihn umklammernd immer tiefer sank; balancierte mit geschlossenen Augen, versuchte sich aufrecht zu halten. Nach hinten ins Bett zu fallen, das war der Tod, weil das Spinnennetz sich klebrig auf ihn legte, nach vorne abzustürzen, den Boden zu berühren, das war auch der Tod, der Sturz in den unwegsamen Canyon, nur die Balance mit geschlossenen Augen, in der Schwebe zwischen oben und unten, das war das Leben: Aberglauben, Alptraumsätze: Wer beim Glok‐ kengeläut der Sonntagsmesse ausfährt ... Schutzworte, 51
Kinderreime: Wer den Kreidestrich betritt, rückwärts sich im Kreise dreht... Rituale, Abzählverse: Und raus bist du ... Die Tür öffnete sich. Ein grauhaariger, ungekämmter Mann mit einem wirren Vollbart und einem einge‐ fallenen Körper in einem gestreiften dürftigen Bade‐ mantel kam schnaufend herein, hielt sich mit zupak‐ kenden Händen am Schrank und am Bettgestell fest, ließ sich auf das zerwühlte Bett fallen, zeigte auf die Wand hinter sich: Der von heute nacht hat ausgeatmet. Netter Kerl, jünger als ich. Dann gab er ihm die Hand, die rauh war: Mal sehen, wer von uns beiden zuerst in den Leichenkeller verlegt wird. Seine Augen lächelten zwischen tiefen Falten, er fuhr sich mit der Hand über den weißgrauen Bart: Habe ich mir hier wachsen lassen, vielleicht wächst er noch bis hier. Er hielt die Hand an den Bauchnabel und lachte röchelnd. Es war der Anfang einer Freundschaft, die leider unter den gegebenen Umständen zeitlich beschränkt war, aber das wußten ja beide. Der Alte sah aus dem Fenster, fixierte Wolken und Wellen: Dein Vorgänger liegt nun auf dem Friedhof. Vor einigen Tagen hatte er noch Pläne. Alles nur ein Kreislauf. Geburt und Tod. Er war zum erstenmal krank. Das sind die Schlimmsten. Da hält man das noch für ungerecht. Ein Schicksal für andere. Man selbst ist ja gesund. Ein weit verbreiteter Glaube. Was Menschen eben so glauben. Da gibt es ja viele Sachen. Erledigt sich alles auf dem Friedhof. Er ist in der Firma zusammengebrochen. Überarbeitung um voranzukommen. Kam aber nicht voran. Das kapierte er nie. Daß wir eben nicht vorankommen. Irgendwann 52
liegenbleiben. Tag um Tag faselte er, ich wäre längst Abteilungsleiter, warum bin ich hier? Es war nicht zum Anhören. Immer nur, nichts wie raus hier. Raus raus raus. Die anderen in der Firma überholen mich. Nun ist er raus. Der Friedhof ist unser Lebensziel. Er lachte, zog seinen Bademantel aus, warf ihn über das Fußende des Bettes. Mühsam streckte er sich auf das Bett, schwieg eine Weile, sah an die Decke, räusperte sich: Und führe uns den rechten Weg. Die einen glauben an einen ganz ganz lieben Gott, der für sie Tag und Nacht persönlich da ist. Die anderen an die Natur in ihrer erhabenen Schönheit. Wieder andere an die Sonne, an die Sterne, an die Geister. Zur Zeit glauben viele an das Wirt‐ schaftswunder. Ein Aberglaube wie alle anderen. Aber der Mensch braucht das wohl. Er muß an etwas glauben. Zur Not an seinen Fußballverein. Dann sah er ihn mit verschmitzten Augen an, als wollte er prüfen, wie weit er mit seinen Sätzen bei ihm — dem Neuen — gehen konnte, ob er ein Geduldiger, Nachdenklicher war oder auch nur einer von den Raus Raus Raus, die sich wieder nach ihrem Tretrad sehnten. Die Toilette lag am Ende des Ganges, wie er erfuhr. Als er die Zimmertür öffnete, rollten zwei Pfleger eine Bahre mit einem Körper aus dem Nebenraum. Er war mit einem weißen Laken zugedeckt, das sich dem hage‐ ren Körper mit dem aufgeblähten Brustkorb an‐ schmiegte, Nase und Mund hoben sich stark ab, als hätte der Mann noch versucht, durch das Laken zu at‐ men. Das war wohl der Körper, dessen vergeblichen Atem er in der Nacht gehört hatte. Kaum hatten die zwei Pfleger die Bahre vorbeigeschoben, öffnete sich die 53
Tür des gegenüberliegenden Zimmers. Ein zierliches Männlein in einem seidenen Schlafanzug stand in der Tür und flüsterte: Spielen Sie Schach? Er nickte. Spielen Sie gut Schach? Er nickte wieder. Dann darf ich Sie herzlich willkommen heißen, dreimaliger Landesmeis‐ ter, und mit einer Geste, als überreichte er eine Visitenkarte, fügte er en passant hinzu: Ich eröffne in der Regel mit e2‐e4, Sg1‐fe, d2‐d4, die Eröffnung des Herzogs von Braunschweig gegen Graf Isouard, gespielt 1858 in seiner Loge im Pariser Opernhaus während der Aufführung des ›Barbier von Sevilla‹. Sie können sich also darauf einstellen. Huldvoll wollte er die Tür schließen und die Audienz beenden, als sich hinter ihm in einem Bett ein langer Kerl aufrechtstellte, die Hände in die Hüften gestützt wie ein Parteiredner, gewohnt, ohne Mikrofon mit seiner Stimme Volksmassen zu beherrschen, und mit einer kaum hörbaren Stimme und weit aufgerissenen, hervorquellenden Augen zu brüllen versuchte: Schach ist die größte Geistesverschwendung der Menschheit. Lesen Sie Karl Marx. Lesen Sie den 14. Brumaire ... Die Tür wurde indigniert zugeschlagen und die Rede dieses einstigen Riesen mitten im Satz abgeschnitten. Die Toilette, ein an sich großer Raum, wirkte klein, weil sie überfüllt war mit Männern jeden Alters, die in Schlafanzügen, Bademänteln, Trainingsanzügen im Zigarettenqualm standen wie in den Nebelschwaden eines Inhalationsraums. Alle sprachen mit Zigaretten im Mundwinkel, um ja keinen Zug zu verpassen, selbst am Boden lagen Zigarettenpäckchen. Rauchen war in die‐ sem Haus verboten, das wußte er, das hier war wohl 54
der Tempel einer geheimen Sekte, die sich nur durch Tabakschwaden, die wie Weihrauch umherzogen, ver‐ ständigen konnte. Ein wuchtiger Mann, aus dessen halboffenem Morgenmantel ein behaarter Brustkorb herausschaute, war der Mittelpunkt der Männerriege. Er sah aus wie ein Ringer und beherrschte wohl alle Griffe. Mit einer gewaltigen Zigarre im Mund gab er ihm gönnerhaft die Hand und sagte: Ich bin der Gene‐ raldirektor. Seine wie eine Leibwache um ihn herum‐ stehenden Zigarettenuntertanen murmelten wichtig‐ tuerisch: In seinen Fabriken beschäftigt er zigtausend Menschen. Hier dirigierte er nicht so viele, aber alle schienen ihm treu ergeben, konnten später einmal sagen: Den, den kenne ich gut, mit dem bin ich per Du, den brauch ich nur anzurufen, schon besorgt er mir eine Stellung. Die Verweigerung einer angebotenen Zigarette schloß ihn aus dem Kreis aus. Hier gab es nur über‐ zeugte und unbeirrte Raucher mit dem festen Glauben an die Heilkraft des Tabaks: Hat doch nichts mit der Lunge zu tun, ist doch alles Quatsch, die Ärzte spinnen ja. Der Generaldirektor hob triumphierend seine zwan‐ zig Zentimeter lange Zigarre in die Luft: Wenn die Ärzte die bezahlen könnten, würden sie auch rauchen. Allgemeiner Jubel über so viel Witz erfüllte den Raum, und er beschloß, das nächste Mal eine andere Toilette aufzusuchen, obwohl man nicht wissen konnte, welche Sekte sich da eingenistet hatte. Aber nun mußte er sich erst einmal mit dieser zufriedengeben. Der General‐ direktor wandte sich wieder den auf dem Boden liegen‐ den Zigarettenpäckchen zu und brüllte mehrere Befehle hintereinander. Ein Adjutant salutierte, wiederholte die 55
Befehle mit schriller Stimme, die Umstehenden schrien in Habachtstellung zurück, auch die Kacheln schrien zurück, in dem gekachelten Raum brach eine Schlacht aus, die Stimmen hallten durch die dichter werdenden Rauchschwaden, die Päckchen wurden schnell und geübt mit Pantoffeln und Schuhen hin und her gescho‐ ben, wobei der Generaldirektor und Oberkomman‐ dierende, wenn die Päckchen vor seine Füße rutschten, mit seiner Zigarre wie mit einer Kanone auf die Päk‐ kchen schoß. Aus den Wortfetzen konnte man erraten, daß es sich um eine Panzerschlacht handelte, die er als Leutnant mitgemacht hatte und hier wieder erleben wollte. Nach dem siegreichen Abschuß aller Zigaretten‐ päckchen verkündete er: So führe ich auch meine Betrie‐ be, Wirtschaft ist die Fortsetzung des Krieges mit an‐ deren Mitteln. Glaub ja nicht, daß der Generaldirektor ist, sagte der Alte, als er wieder auf seinem Zimmer war, hier spielen Menschen Rollen, die sie draußen im Leben gerne spielen möchten. Vielleicht ist er Pförtner in einer Fabrik und hat jeden Tag einem Generaldirektor die Tür geöf‐ fnet. Hier ist alles ungewiß. Und deshalb versuchen viele, die Welt so weiterzuspielen, wie man es ihnen beigebracht hat. Règle du jeu. Bis zum sinnlosen Tod. Illusionisten, die das Nichts nicht wahrhaben wollen. Die nichts erkennen wollen in ihrem düsteren Schädel. Genau die gleiche Geschichte mit unserem Schachkönig, der dreimalige Landesmeister. In welchem Land der wohl Meister war, vielleicht in Paraguay. Der kann doch nicht mal Halma spielen. Auf seinem Nachttisch stand ein umfangreiches 56
Frühstück, das er bis zum Mittag nicht aufessen konnte, daneben lag ein Militärbesteck, Löffel, Gabel, Messer ineinandergeschoben. Das ist der Hausschlüssel, sagte der Alte, jeder muß sein Besteck bis zum Tod oder zur Entlassung aufbewahren. Nach jedem Essen selber ab‐ waschen. Steht alles in der Hausordnung. Er beschäf‐ tigte sich, um nicht gleich am Anfang einen schlechten Eindruck zu machen — er kannte die Reaktionen der Oberschwestern aus früheren Sanatorien —, mit dem Brot und der Marmelade und dem dazugehörenden Butterberg, mit der Milch, dem Grießbrei und dem Müsli mit den vielen Früchten und wunderte sich, daß er nicht schon am Morgen ein Glas Rotwein mit Ei bekam. Er buddelte in jeden Brei ein Loch, zerbröselte das Brot, entdeckte unter einer Plastikhaube Schinken, Käse und ein Ei, rollte alles zusammen, damit es wenig‐ stens so aussah, als sei er nicht abgeneigt, auch diesen Köstlichkeiten zuzusprechen. Sie wollten wohl zeigen, was sie alles auf dem Frühstückszettel hatten, das gab sich mit der Zeit, das wußte er, man mußte da in vor‐ sichtige diplomatische Verhandlungen mit der Ober‐ schwester eintreten, um dieses Frühstück auf ein menschliches Maß zurückzuführen. Der Alte sah an die Decke, sah durch das Spinnennetz. Sein sich intensiv in Falten legendes Gesicht, die auf‐ und abspringenden dichten Augenbrauen und die zuckende Muskulatur um seinen Mund erweckten den Eindruck, als sei er mit der Lösung eines Rätsels be‐ schäftigt, das nach Beantwortung aller Fragen ein Wort ergab, zu entschlüsseln durch Antworten auf die Fragen eines zweiten Rätsels, das aber wieder nur ein Wort 57
freigab, in einem dritten Rätsel Auflösung versprach, nun erst recht sinnlos, weil selbst tausend Worte in einem Rätsel nichts bedeuteten, auch wenn sie aus den ältesten Büchern stammten, denn alle Worte erklärten sich nur in der stummen Haltung eines Menschen. Gott Gott Gott, sagte er und schloß die Augen. In die angenehme Ruhe zwischen ihnen donnerte der Gong. Es brauchte seine Zeit, bis alle Töne verklungen waren, selbst in der Stille danach vermeinte man immer noch sehr tiefe und sehr hohe Töne zu hören, irgendwo versteckt im Haus, vielleicht im Keller oder unter dem Dach. Er fragte den Alten nach der Bedeutung des Gongs. Der kratzte sich den Bart und sagte: Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Obwohl es besser wäre, es hieße: Ich bin dein Gott und nicht dein Herr, du sollst die Götter der Anderen ebenso ehren wie mich. Aber das ist ein anderes Thema. Erster Gong wecken. Zweiter Gong aufstehen. Dritter Gong Frühstück. Vierter Gong Bett‐ ruhe. Fünfter Gong Mittagessen. Sechster Gong Bett‐ ruhe. Siebter Gong Kaffeetrinken. Achter Gong Bett‐ ruhe. Neunter Gong Abendessen. Zehnter Gong Nacht‐ ruhe. Die zehn Gebote dieses Hauses. Aber sie werden hier genauso umgangen wie draußen in der Welt. Der Mensch sucht sich die Schlupflöcher, die er zum Leben braucht. Wenn hier einer lange liegt, dann fällt ihm viel ein. Du wirst schon sehen. Zum Essen muß man. Bett‐ ruhe wird auch kontrolliert, aber nicht immer. Vor‐ mittags die ärztlichen Untersuchungen im Erdgeschoß, da steht schon mal ein Fenster offen, und keiner hat es bemerkt. Für die, die aufstehen dürfen, gibt es am 58
Nachmittag und am Abend die Gemeinschaftsräume. Und wo man sich dann gerade im Haus aufhält, ist auch nicht zu kontrollieren. Und ein Teil der Mauer um das Haus herum ist nicht sehr hoch. Der Alte dachte eine Weile nach, setzte mehrmals zu einem Satz an, schwieg, räusperte sich, sprach dann doch weiter: Wenn man lange hier liegen muß, Jahre hier liegen muß, dann ist es die Hölle. Aber eine gewisse Zeit lang ist es mit Phantasie und Willenskraft und all den Schlupflöchern ein nicht ganz so unangenehmes Fegefeuer. Falls man sich daran gewöhnt — aber die meisten gewöhnen sich. Und das Paradies?, fragte er. Das Paradies gibt es, antwortete der Alte und sah aus dem Fenster in den immer blauer werdenden Himmel. Auf dieser Insel frei atmend zu gehen wohin man will, die Erde und die Menschen zu sehen und zu hören. Das Tor zum Para‐ dies öffnet sich, wenn man nach langer Zeit zum ersten‐ mal auf wackligen Beinen in den Park geht. Die zweite Stufe ist erreicht, wenn man auf den Deich und an den Strand darf, ganz allein zwischen Himmel und Erde, Wind und Wolken, Sonne und Meer. Das goldene Paradies aber, das öffnet sich in dem Moment, da du ohne Aufsicht und Begleitung, ohne Vorschrift und Termin in die Hafenstadt fährst und dich in das Cafe setzt, das es da gibt. Blick auf den Hafen, das Meer und die kleine Promenade davor, die unwichtigen Ge‐ spräche der Menschen im Cafe, und du mittendrin, ganz normal, ohne Isolierung. Es ist unbeschreiblich, es ist das Schönste, was es auf Erden gibt, selbst Gott wird neidisch auf dich sein. Das ist das wirkliche Paradies, du atmest und gehst und bist frei unter Menschen, und 59
die Erde ist dann wirklich sehr schön. Der Alte nickte versonnen und lächelte zum erstenmal: Natürlich ist das nur ein Paradies für die, die aus dem Nichts kommen, die wissen, daß sie im Nichts leben, vor diesem Hintergrund ist es schön. Für alle anderen ist es nur ein ödes Provinzcafe, in dem man sich langweilt. Das ist vertrackt. Aber je länger man hier liegt, desto klarer wird die Sache. Du wirst lernen zu sehen und zu hören und darüber zu lachen. Man kann nur über das Nichts lachen. Alles andere hat ja immer eine festgelegte Bedeutung, es ist wichtig und erhaben und ernst, niemals lächerlich, da werden sie böse in der Welt da draußen, dieser neuen, frisch aufgebauten, die so bedeutsam ist, daß kein Mensch dir diese Bedeutung erklären kann, weil sie nämlich nur eine Fassade ist, hinter der immer noch die alten Mauern stehen. Aber wehe du lachst darüber, sie werden dich steinigen. Nach einer Pause, in der er schwer schnaufte, der Brustkorb sich hob und senkte: Ich werde das Cafe nicht mehr erreichen. Aber du kannst mich auf dem Friedhof besuchen, und dann erzählst du mir davon. Der Alte sah ihn an, als ging es um ein Vermächtnis: Wenn du hier heraus willst, fang mit dem Friedhof an, sag, du willst auf den Friedhof, da drücken sie ein Auge zu, da will sonst keiner hin, es sind nur ein paar Schritte, man sitzt dort wunderbar, du mußt dir nur vorstellen, daß du dort inmitten der Gedanken unzähliger Menschen sitzt, ein Ort wie eine Zentralbibliothek, aber Bücher muß man lesen, die Toten sprechen von selbst. Er schlug einige Male mit der Faust auf seine Bettdecke, sagte: Nunja nunja, betrachtete seine nackten Füße mit 60
den dicken blauen Adern, blickte wieder aus dem Fenster, um den Himmel zu sehen, setzte sich entschlos‐ sen auf und sagte vertraulich: Gibt viele, die das Cafe am Hafen nie schaffen, weigern sich, das Haus zu verlassen, finden aus diesem Gefängnis nicht mehr hinaus. Bleiben mitten auf der Straße stehen und warten, daß der Gong ertönt. Wissen nicht mehr weiter. Bleiben da stehen wie angewurzelt. Verkriechen sich vor Angst in ein Gebüsch und zittern und schreien jäm‐ merlich. Wie ein Vogel, der sich verirrt hat. Dann muß der Major a.D. kommen, sie ins Auto tragen und zurück ins Heim fahren. Der Alte sah jetzt selber aus wie ein Vogel, der unruhig auf der Bettkante hin und her rutschte, aus dem Fenster sah, zur Decke sah, auf den Boden sah, irritiert wirkte: Nach der Entlassung brechen sie schon am Fahrkartenschalter zusammen. Weinen, schreien, fallen um, können nicht mal mehr den Namen einer Stadt sagen, dritter Klasse einfach. Er fragte den Alten vorsichtig: Ist die Entlassung in die Welt nicht das Paradies? Der Alte schrie, als hätte er sich nicht mehr unter Kontrolle: Die meisten sind nach drei, vier Monaten wieder hier, sind geradezu glücklich, weder hier zu sein, wieder ihren Gong zu hören. So gut ist es denen da draußen gegangen. Draußen herrscht die Pest. Wir sind die Auserwählten, die sich ans Ende der Welt zurückgezogen haben. Wir dürfen über die Welt nach‐ denken. Wir brauchen die Welt nicht mehr. Hier in diesem Haus sind alle Geschichten über die Welt, für den, der sie erkennen will. Der Alte bekam einen Hustenanfall, der nicht mehr aufhörte, angelte nach seiner Spuckflasche, spuckte die 61
Bettdecke blutig, weil die Flasche überlief. Er krümmte sich und legte sich mit dem Oberkörper an die Wand. Die Zimmertür öffnete sich, ein Einbeiniger mit zwei hölzernen Krücken lehnte sich an den Türrahmen, verschränkte die Arme über seinen Krük‐ken und drohte mit dem Stumpf seines amputierten Beins, das nackt aus seiner Turnhose herausschaute. Er richtete den Stumpf auf den hustenden Alten und schrie in einem bösartigen Wienerisch: Hast wieder zuviel geratscht, hä, solltest die Goschen halten, hä. Er fragte den Amputierten nach dem Klingelknopf, der sah ihn fassungslos an: Klingelknopf? Verehrter und soeben frisch Eingelieferter, in diesem Palast der Winde darfst froh sein, wenn gelegentlich das elektrische Licht funktioniert, von der Heizung wirst du wenig spüren und warmes Wasser ist ein Glücksfall, Aufzüge hat man bei der Erbauung dieses Hauses eingespart, hier kannst du sehen, wie du die Treppen hochkommst, durch dieses Haus kannst du dich durchhusten, das ist alles. Und wenn du mal telefonieren möchtest, um die Stimme deiner lieben Frau zu hören, könnte ja sein, hä, dann wirst du feststellen, daß es hier nur ein Telefon gibt, und das gehört dem Chefarzt und niemals den Patienten, selbst wenn du im Sterben liegst. Der Mann ärgerte ihn, weil er nur seine Tiraden loswerden wollte, der hustende Alte interessierte ihn nicht, und er beschloß, ihm bei Gelegenheit mal vom Lager Klapp‐ holttal auf einer anderen Insel zu erzählen, in dem er zweimal mehrere Monate gelegen hatte, ein Lager aus alten Holzbaracken, das zuvor einem Artilleriebataillon als Unterkunft gedient hatte, versteckt hinter Dünen, 62
verbunden durch Knüppeldämme, ohne elektrisches Licht, ohne warmes Wasser, ohne Heizung, die Fußbo‐ denbretter versanken im Sand, durch die undichten Fenster heulte der Wind und hinterließ an den Fenster‐ brettern lange Eiszapfen, die man am Morgen erst einmal abschlagen mußte, damit sie nicht in das Feld‐ bett tropften. Dahin hatte man nach dem Krieg die Großstadtkinder geschickt, damit sie sich vom Bomben‐ krieg erholen sollten, betreut wurden sie von Soldaten, die nach der Kapitulation einen weißen Kittel ergattert hatten und sich nun Pfleger nannten, ernährt wurden sie mit deutschen Volksliedern und ertüchtigt durch stundenlange Märsche am vereisten Strand. Wochen‐ lang hatte er dort mit anderen Kindern auf der Krankenstation gelegen, und wenn da nicht eine alte Schwester gewesen wäre, die sie bekocht hätte, die für sie einen Kanonenofen herangeschleppt hatte, wären sie aus diesem Sibirien nicht mehr zurückgekommen. Das werde er diesem Querulanten mal erzählen, aber wenn man nur noch ein Bein hätte, wäre man vielleicht auch so wie er, und er wurde schon wieder nachgiebig — seine alte Schwäche — und dachte, die Geschichte von Klappholttal doch lieber für sich zu behalten, glauben würde sie sowieso keiner. Was ist denn nun!, schrie er den Wiener an, weil die Husterei des Alten kein Ende nahm, das Bett immer roter wurde. Der Amputierte nahm einen Stein, der am Waschbecken lag, und hämmerte damit auf die Wasserleitung: Da haust so lang drauf, bis einer kommt, wenn keiner kommt, kannst noch das machen. Er schlug eine Spindtür mit solcher Wucht gegen die Wand, daß es ein schnat‐ 63
terndes Geräusch im ganzen Haus gab. Meistens kommens dann, wenn nicht, hast Pech gehabt, aber das sagte er schon über die Schulter gewandt, denn erjagte mit seinen Krücken los, daß man Angst um jeden hatte, der ihm entgegenkam. Eine Schwester trat ein, sie wollte aber zu ihm, weil er einen Arzttermin hatte. Da er seinen Koffer, der vor dem Spind stand, noch nicht ausgepackt hatte, nahm sie den Bademantel des Alten, legte ihn über seine Schultern und verließ mit ihm, ohne sich um den Hustenden zu kümmern, das Zimmer. Als er zurückkam, war das Bett des Alten leer und frisch bezogen. Er legte den Bademantel wieder auf das Fußende und setzte sich auf sein Bett, starrte auf das leere Bett gegenüber und wünschte sich, daß der Alte da wieder läge und ihn mit seinem zerfurchten Gesicht ansähe. Der Koffer mußte ausgepackt werden, das übliche Ritual nach jeder Ankunft in den vielen Lagern, in denen er bisher war, für ihn aber von besonderer Bedeutung. Wenn er den Kofferdeckel aufklappte, sah er immer zuerst den Wäschezettel seiner Mutter, in den Deckel eingeklebt, eine Art Hohelied des Alltäglichen in den einfachen Geboten der Pflichterfüllung. Jeder Buch‐ stabe war sorgfältig gemalt, jedes Wort ein Kunst‐werk, drei Säulen exakt nebeneinander, umrankt von Verzie‐ rungen, als handelte es sich um das Verzeichnis einer mittelalterlichen Schatzkammer. In der ersten Säule die Unterhosen und Unterhemden, die dünnen und dicken Strümpfe und die Schlafanzüge, in der zweiten die Oberbekleidung, Hemden und Hosen, Pullover und Jacken, in der dritten die speziellen Dinge für einen langen Aufenthalt in einem Heim, eine lederne Schreib‐ 64
mappe, ein ebenfalls ledernes Reisenecessaire, ein besonders schöner Bademantel, Turnzeug und all das, was sonst noch vom Heim vorgeschrieben worden war, auch eine Wolldecke, so etwas hatte man hier nicht. Alles neu gekauft und mit einem Wäschezeichen ver‐ sehen, auf dem sein Name stand, und mit einer Über‐ legung und Gewissenhaftigkeit gepackt, als gelte es, die wichtigsten Dinge für einen Neuanfang auf einem fernen Kontinent zusammenzustellen und ja nichts zu vergessen. Er packte den Koffer immer ungern aus, weil diese genaue Ordnung nie mehr herzustellen war, es tat ihm leid, daß er das alles auseinanderreißen mußte, weil er die Hände seiner Mutter sah, die unzählige Male geprüft hatten, ob auch alles am richtigen Ort war. Irgendwo zwischen der Unterwäsche war dann immer noch Geld versteckt, von dem die Familie nichts wußte, vom Einkaufen abgespart. In schwierigen Situationen hatte er oft den leeren Koffer vom Spind herabgeholt, den Deckel aufgeklappt und den eingeklebten Wäschezettel wie ein altes Buch studiert, Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort, verziert und ausgeschmückt. Tagelang hatte sie an diesem Zettel gearbeitet, als sei es ihr letzter Brief an ihn, hatte ihn immer wieder neu geschrieben, weil ihr diese Arbeit große Mühe machte, sie es aber unbedingt für ihn richtig machen wollte, trotzdem waren da immer noch Fehler, er liebte diese Fehler, die mit großer Anstrengung geschriebenen Buchstaben und Worte, die Sorgfalt, in der die Aufrich‐ tigkeit eines langen und gerechten Lebens lag. In den gnadenlosen und oft ausweglosen Zeiten, die er alleine und ganz auf sich gestellt in Lagern, Sanatorien und 65
Krankenanstalten bewältigen mußte, waren diese ge‐ wissenhaften Aufzeichnungen sein Halt und sein Trost, seine Verbindung zur Familie, und so enthielt dieses aufwendig beschriebene Blatt für ihn so etwas wie die Grundhaltung zum Leben, der er sich ebenfalls verpflichtet fühlte, es war für ihn das, was für andere die Bibel war. Die Zimmertür öffnete sich, ein Kopf schob sich durch den Spalt und knipste mit einem Auge: Heut nacht, kommst du mit? Er sah wohl sehr ratlos aus, denn der Kopf schob sich weiter ins Zimmer, schlängelte ein Knochengestell hinter sich her, mit einer dünnen Haut überspannt, die sich hinter jedem Knochen nach innen zog, als sei da ein Vakuum, das sich durch nichts auffüllen ließ. Das Knochengestell hing, nur mit einer grünen und viel zu großen Sporthose bekleidet, wie eine Liane an der Tür, klammerte sich mit seinen dürren Armen daran fest, knipste ununterbrochen mit dem Auge und sagte: Ein paar gehen heut nacht über die Mauer. Er sagte ihm, daß er sich noch nicht auskenne und auch nicht gleich am ersten Tag über eine Mauer klettern wolle. Klar klar, sagte der dürre Sportler und knipste verständnisvoll mit dem Auge: Is nur so, is halt immer schwer, ʹne gute Truppe zusammenzukriegen. Die meisten liegen, und wenn einer endlich wieder Beine hat, um über die Mauer zu kommen, dann wird er auch bald entlassen. Er kam auf klappernden Fußball‐ schuhen ohne Schnürsenkel näher, hielt sich aber sicherheitshalber mit einer Hand an der Türklinke fest: Da is ʹn Dorf in der Nähe und dicht dabei auch ʹne Kneipe. Von hier aus vor dem Dorf. Also, da sieht uns 66
keiner. Da is viel Gebüsch auf dem Weg. Wenn wir dem Wirt mit ʹner Taschenlampe ʹn Zeichen geben, läßt er die Rollos runter und die Kneipe gehört uns, solange wir wollen. Also, bevor der Tag beginnt, müssen wir natür‐ lich hopp hopp in den Betten liegen. Gehn auch immer ʹn paar Frauen mit. Das Auge zuckte heftig: Getrunken wird nur Rum, also echter, unverschnittener, die Män‐ ner pur, die Frauen mit Wasser verdünnt. Kann dir natürlich auch ʹne Buddel mitbringen. Er erkundigte sich bei dem Sportler nach den Kontrollen in diesem Haus. Also, das geht klar, die drücken ein Auge zu. Das zuckende Auge blieb einen Moment geschlossen: Trin‐ ken auch gerne Rum, für die Schwestern ʹne Buddel, für die Pfleger ʹne Buddel, kostet natürlich. Weil da nachts die Mottenbrüder drinsitzen, kommen die Leute aus dem Dorf nich mehr, also kassiert der Wirt uns ab. Er meinte, dann könnte man auch mal etwas anderes trinken. Nee, nur Rum, also was anderes hat der gar nich, Sonntagnachmittag vielleicht, wenn die halbwegs Gesunden hingehen, also mit Erlaubnis, aber nachts hat der nur Rum. Er zeigte ihm auf der grünen Hose noch ein Autogramm von Fritz Walter: Hat hundert Mark gekostet. Dann schlängelte er sich zur Tür zurück: Wenn du dich besser fühlst, gib mir ʹn Wink, ich arrangier das dann. Das zuckende Auge sah noch einmal vielsagend durch den Türspalt, signalisierte, daß es alle Schleich‐ wege kannte, alle Geheimnisse dieses Palastes, dann war wieder Stille. Er suchte eine andere Toilette. Ein Glatzkopf, der gütig durch die dicken Gläser einer Hornbrille sah und 67
im geblümten Morgenmantel einer Frau herumlief, zeigte ihm einen Raum am anderen Ende des Ganges: Wenn da hinten die Raucher sind, dann dürfen Sie ohne weiteres dort, obwohl es gegen die Vorschrift ist. Dabei überreichte er ihm einen violetten Zettel, auf dem in Handschrift das Hirtenwort Die Vögel am Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, und unser Herrgott ernährt sie doch und darunter die Uhrzeiten verschiedener Gottesdienste und Andachten notiert waren: Kommen Sie doch mal am Sonntag, es kommen nur so wenige. Zum Gottesdienst drei, vier Mann, in der Andacht bin ich fast immer allein. Manchmal kommt eine Schwester, mir zuliebe, um mir eine Freude zu machen, aber sie glaubt nicht an Gott, sie hat es mir gebeichtet. Es ist ja auch alles sehr primitiv, ein alter Operationssaal, ge‐ kachelt, ein paar Stühle, wir haben nicht mal einen Al‐ tar. Er sah ihn zweifelnd an, und der Glatzkopf wußte wohl was kam: Ich bin kein Priester. Aber ich habe ein Gelübde abgelegt, wenn ich hier herauskomme, werde ich Priester. Entschuldigen Sie den Morgenmantel. Ich hatte keinen, und eine verstorbene Frau hat mir ihren vermacht. Er ist sehr warm, und ich trage ihn wie eine Soutane. Mild vor sich hinlächelnd zog er weiter, glitt in dem geblümten Morgenmantel, der bis zum Boden reichte, wie ein Heiliger daher, verteilte in den langen Fluren die selber geschriebenen violetten Zettel. Kennst du den Witz von den Nonnen und dem Kommunisten?, sagte ein Mann hinter ihm, schlug mit harter Hand auf seine Schulter, drehte ihn zu sich, hielt ihn mit dem einen Arm fest, dirigierte alles mit diesem Arm, weil der andere nur ein schlaff herabhängendes 68
Stück Stoff an seinem Schlafanzug war: Die Nonnen aus dem Kloster wandelten jeden Tag über einen See und angelten Fische. Der Kommunist aus dem Dorf sah sich das monatelang an und zweifelte. Eines Tages packt ihn die Wut, er geht mit seiner Angel auf den See und ertrinkt. Und weißt du, was die Nonnen sagten? Den Glauben hätt er gehabt, aber die Pfähle hat er nicht gewußt. Der Mann lachte, schlug ihm wieder auf die Schulter und stieß mit dem Fuß eine Tür auf. Es mußte die Toilette sein, die er suchte, aber fast wäre er umgekehrt, denn ein Kerl in einem tiefroten Bademantel schrie, jedes seiner Worte mit der geballten Faust unterstreichend: Setzt die Lokomotive auf die Gleise und der Sozialismus wird unaufhaltsam vorwärts rollen! Ein gutfrisierter Herr in einem dunkelblauen Hausmantel replizierte elegant: Das wurde wohl anders formuliert, aber wie auch immer, die Lokomotive wird in meinem Weizenfeld umkippen, weil da keine Gleise mehr sind. Gespannte Atmosphäre, gespenstische Ruhe, der Kerl mit der erhobenen Faust und der feinsinnige Weizenfeldbesitzer standen sich stumm gegenüber. Waren beide mal in einem Stadtparlament, flüsterte der Witzeerzähler ihm ins Ohr, die machen das ganz gerne. Ein schwarzweiß gestreifter seidener Schlafanzug, ganz liberaler und verständnisvoller Schiedsrichter, schob sich zwischen die beiden Kampfhähne und plä‐ dierte für eine Koalition unter Einbezug auch kleinerer Parteien. Ein grauer Trainingsanzug protestierte: Schritt für Schritt, das ist die Parole der Genossen, gemeinsam und miteinander und solidarisch — Einspruch, Euer Eh‐ ren, schrie ein Zwerg, dem die Schlafanzughose bis zum 69
Kinn ging, während die Jacke auf dem Boden schleifte und die Füße verdeckte: Einspruch! Alle sahen auf einen alten Herrn, der ausgemergelt und frierend in einem korrekten schwarzen Anzug auf der Heizung saß: Einspruch stattgegeben. Das Hohe Gericht vertagt die Verhandlung bis morgen. Einspruch gegen die Vertagung, Euer Lordschaft!, schrie ein Dicker in der weißen Kleidung eines Pflegers, morgen habe ich frei! Der Richter verzog sein faltenreiches Gesicht, bis man nur noch die Augenschlitze sah: Das Hohe Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Er öffnete die Tür zu einem Baderaum, aus dem die warmen Schwaden einer vollaufenden Badewanne herausquollen. Rauchen oder Worte? Da eine Toilette auch anderen Zwecken diente als einer Parlamentarierdebatte, wandte er sich den eigentlichen Dingen zu. Als er den Raum wieder verließ, hielt ihm einer ein Kartenspiel vors Gesicht: Bube, Dame, König, As rauschten vorbei, Pik, Kreuz, Herz, Karo flatterten vor ihm auf. Wähl eine, sagte der Mann. Er griff in die flie‐ genden Karten, zog eine heraus, sie war weiß. Der Zau‐ berer sah bestürzt auf die Karte, sah auch ihn entsetzt an, wiederholte das Spiel. Er hielt die Karten hoch, sie ratschten knatternd in Augenhöhe, er griff hinein, zog eine Karte, sie war schwarz. Der Zauberer sah ihn an, murmelte: In diesem Spiel gibt es keine schwarzen oder weißen Karten, steckte das Kartenspiel ein und ging davon. War das ein Teil seines Auftritts? Aber weiße und schwarze Karten hatte er auch noch nie gesehen. Er ging auf sein Zimmer. Die Vorstellung, die hier dem Neuen zur Ablenkung geboten wurde, nahm überhand. 70
Der Alte war noch nicht wieder da. Er setzte sich auf die Bettkante und wartete. Aus dem Fundament des Hauses ertönte der Gong, mehrere energische Schläge, an‐ und abschwellende Klangwellen, die sich übereinanderlegend immer mehr ausdehnten, die Luft in Töne verwandelten, lange nach‐ hallten, in ein Türenschlagen übergingen, in das Geklapper der Eßbestecke, das huschende und krat‐ zende Schlurfen von Pantoffeln und Hausschuhen. Er öffnete die Tür, Schlafanzüge, Morgenmäntel, Bade‐ mäntel eilten über den Flur, auch einige langsam und betont aufrecht gehende Herren im Anzug und mit festen Schuhen. Er zog hastig seinen Anzug an, im Schlafanzug herumzulaufen schien ihm schon der An‐ fang einer Kapitulation, und lief mit seinem Besteck hinter den Männern her, die sich auf einer Treppe ab‐ wärts drängten; auf und ab tanzende Köpfe, die nach unten sprangen, Körper, die Langsame und Altere überholten und wegstießen, Schwächere an die Wand drückten, sich mit den Eßbestecken in ihren Fäusten nach vorne durchboxten. Diese hüpfende Springpro‐ zession, die wie eine Tierherde sich überschlagend von oben nach unten stürzte, staute sich in einem dunklen Gang vor einer großen, doppelflügeligen, mit weißen Gardinen bespannten Glastür, hinter der sich, in einem helleren Licht, Schatten bewegten. Die durch ihre Rücksichtslosigkeit erfolgreich in die erste Reihe Vor‐ gedrungenen klopften mit ihren Bestecken heftig an die Tür, das Glas klang mehrfach gesprungen, die Tür wurde geöffnet, damit das Glas nicht zersplitterte, und mit einem johlenden und triumphierenden: Ah dräng‐ 71
ten alle, die Eßbestecke kampfbereit in den Händen, in den Speisesaal, der aussah wie ein städtisches Hallen‐ bad, aus dem man das Wasser abgelassen hatte. Schwarzweiße Fliesen zogen sich bis zur halben Höhe der Wände, was einen unangenehmen Hall ergab, die Fenster waren über den Köpfen der Menschen ange‐ bracht, das Licht fiel nur indirekt auf Tische und Stühle, um die jetzt alle kreisten und wirbelten, schoben und drückten. Die Herren im Anzug versuchten Haltung zu zeigen, aber auch sie wurden an ihre Plätze gestoßen, da gab es kein Pardon, der Mittagsgong hatte geschlagen, die Herde wollte ihr Fressen und rannte jeden um, der im Weg stand. Ein schrilles, aufgeregtes Schreien wie im Urwaldkäfig eines Zoos erfüllte den Saal, kein Wort war zu verstehen, der Hall vervielfachte jeden Ton, ein Stühlerücken brach wie ein Gewitter herein, ein hal‐ lender Aufschrei empfing die ersten Suppenschüsseln. Sie wurden von weißgekleideten Frauen hereinge‐ tragen, die durch Pendeltüren erschienen und wieder verschwanden, das Licht fiel auf die Pendeltüren, jede Schüssel leuchtete kurz auf, alle Augen verfolgten sie und beobachteten genau, wieviel Terrinen jeder Tisch erhielt. Es wurde stiller, das hastige Klappern der Be‐ stecke breitete sich widerhallend aus, ein metallisches Klirren, das unerträglich laut wurde, wenn ein Messer, eine Gabel, ein Löffel gegen einen Porzellanteller oder ein Glas stieß, wie der hohe Schrei eines exotischen Vogels in einer Voliere. Eine schmale Hälfte des Raumes war für Frauen reser‐ viert, es fiel auf, weil Bademäntel, Morgenmäntel, Haus‐ mäntel bunter waren als die der Männer, hier erblühten 72
alle Farben in gewaltigen blumigen Ausformungen, ein Seerosenteich fremdartiger Gewächse. In der Mitte des Speisesaals saßen Männer und Frauen an einem Tisch, das waren die Neuen, die noch keine Ecke für sich erobert hatten; hier wurde auch er plaziert, unter dem energischen Zugriff einer Bedienerin. Er sah in Gesichter, die ihn neugierig beäugten, schräggestellte Köpfe, die ihn mit ihren fiebrig glänzenden Augen fixierten, fast vom Teller aus, schlürfend und sabbernd, das Besteck umkrallt, mit weißen, abgestorbenen Händen die Terrine festhaltend. Ein Geschrei brach aus, ein Streit an einem Tisch, andere schrien mit, unverständliche Laute, ohne jede menschliche Artikulation, bösartig nachhallend, ein widerliches hohes Kreischen, als hätte ein Vogel‐ schwarm ein Aas entdeckt und stritte sich darum, dazu das grelle Schrillen der Bestecke, die wütend an die Tel‐ ler und Gläser geschlagen wurden. Er riß sein Besteck an sich, stürzte aus dem Raum, lief durch einen Gang, verpaßte die richtige Treppe, rannte eine andere Treppe hinauf, stand in einem falschen Gang, lief weiter, verirrte sich in Gängen und Treppenhäusern, näherte sich wieder den Geräuschen des Speisesaals, stand vor einem dunklen, messingfarbenen Kreis, dem Gong, ein großer, alter Gong mit unverständlichen Schriftzeichen, verschwiegen und geheimnisvoll, daneben hing dro‐ hend ein Holzschlegel. Ein Mann in der weißen Hose eines Bademeisters trat ihm entgegen, sein Oberkörper war mit einem Drachen tätowiert, wohl der Ze‐ remonienmeister des Gongs, er verschränkte die Arme, sah ihn lange an, als hätte er in diesem Teil der verbote‐ 73
nen Stadt einen geschlossenen Tempelbezirk betreten. Vielleicht lagen dahinter die Toten der Nacht in ihren Särgen, kalt und nackt wie Urgestein, hörten den Gong nicht mehr und erinnerten sich nicht mehr an ihr Leben. Eine Schwester brachte ihn auf sein Zimmer. Der Alte lag wieder in seinem Bett: Letaler Ausgang mal wieder vermieden, rief der Alte fröhlich, das Sterben ist gar nicht so einfach. Er drehte sich zur Wand: Ich muß jetzt schlafen. Ärzte sind ungeheuer anstrengend. Die er‐ schöpften Atemzüge des Alten beruhigten auch ihn. Der Lärm verebbte rasch, schlug um in eine beängstigende Stille. Er öffnete die Tür und sah die Reihe geschlos‐ sener Türen, kein Mensch war zu sehen, aus einem Treppenhaus hörte man langsame Schritte, eine Tür klappte, dann war es endgültig totenstill, er hörte nur seinen Atem. Er wollte sich etwas umsehen, bevor man ihn für Monate oder Jahre zum Liegen verurteilte, ihn in sein Bett, sein Zimmer, seinen Flur verbannte, dann war es zu spät, diesen Bau wenigstens teilweise zu erkunden. Es war ein instinktives Suchen nach dem Fluchtweg, eine Art Orientierung, wie sie auch ein Tier um seine Höhle vornimmt, um Sackgassen zu vermeiden, den sicheren Weg ins Freie zu kennen. Da es der erste Tag für ihn war, mußte man ihm die Ausrede, er habe sich verirrt, wohl abnehmen, sollte man ihn in einem frem‐ den Teil des Hauses zur Rede stellen. Langsam ging er durch dämmrige Flure, die in einem schwachen grauen Tageslicht lagen, denn da war jeweils nur ein einziges Fenster am Ende des Gangs. Die weißen Türen standen sich in gleichmäßigen Abständen gegenüber wie Wach‐ 74
soldaten, zum Fenster hin heller, nahe dem Treppen‐ haus im Dunkeln. Auf dem welligen, angestückelten Linoleumboden spiegelte das Licht unzählige Fußab‐ drücke, die hier aufeinandergedrückt ihre Spuren hin‐ terlassen hatten, Vertiefungen wie auf einem alten, von Generationen benutzten Weg. Hier waren viele hin und her gegangen, mit schweren Schritten, mit wütendem Aufstampfen oder im gleichgültigen Schlurfen, Men‐ schen, die lange vor dem Fenster gestanden und nach draußen gesehen hatten, denn da waren die Vertie‐ fungen am deutlichsten. Menschen, die nun schon in der Erde lagen, während der Abdruck ihrer Schritte hier noch gegenwärtig war. Er ging durch die Flure, drückte seine Schritte auf die Schritte der anderen, hinterließ eine unmerkliche Ver‐ tiefung, die in einer älteren Vertiefung aufging, eins wurde mit den Spuren derer, die vor ihm da waren. Er stieg die steinernen Treppen mit den schwarzen Gum‐ mileisten hinauf, durch Treppenhäuser, die im Dunklen endeten wie sie im Dunklen begannen, mit einem gemauerten Geländer, dessen einzige Verzierung der rotgestrichene Handlauf war, der auf jeder Etage in ei‐ ner Schnecke auslief. Er konnte sich tatsächlich glaub‐ haft verirren, alle Türen gleich, immer nur die Fenster am Ende des Gangs, die Holzrahmen mit weißer Farbe zugestrichen, von keinem zu öffnen. Einmal stand ein Blumenstock auf dem Boden, Kletterranken zogen sich zum Fenster hinauf, zum Licht hin gedrehte gelblich verkümmerte Blätter, die sich am Fenster anklammer‐ ten, aber nicht herausfanden. Eine schräg stehende Hausmauer aus dunklen Klinkern versperrte die Sicht, 75
es war unklar, wie weit das Meer, dessen Rauschen in dieser Stille immer in den Ohren war, an das Haus her‐ ankam. An einem Fenster stand ein kleines Bild auf zwei um‐ gedrehten Stühlen, die so ineinandergekeilt waren, daß sich aus den Stuhllehnen eine Staffelei ergab. Die Palet‐ te, ein riffeliges Stück Glas, steckte in den unteren Stuhl‐ beinen, die Pinsel in einer mit Terpentin gefüllten Blech‐ dose. Ein halbfertiges Ölbild, die Farben glänzten noch seidig, Selbstporträt vor einer Landschaft. Das unaus‐ geführte Gesicht eines jungen Mannes, seitlich ins Licht sehend, sich dem Betrachter verweigernd. Das Fenster und die Mauer hatte der Maler nicht akzeptiert. Da lag ein friedliches Meer, das von hier aus nun wirklich nicht zu sehen war, und das doch mit kleinen weißen Wellen auf einen leuchtenden, von Palmen gesäumten Sand‐ strand zulief. Ein junger Mann ruderte in einem Boot an Land. Im Hintergrund ein Gebirge, gekrönt von träu‐ menden Wolken, dahinter allerdings nur noch grelle Leinwand, ein vesuvisches, zerstörerisches Licht, die dunklen Augen schienen in ihrem hypnotischen Glanz davon zu wissen. Der Ton einer Geige schwebte durch das Haus. Es war nicht auszumachen, woher der Ton kam. Da hatte ein Mann oder eine Frau einmal etwas perfekt gekonnt und erinnerte sich nun daran, versuchte die Arme in die vorgeschriebene Stellung zu bringen, die Hand mit dem Bogen leicht über die Saiten zu führen, die Finger in die geübten Griffe zu zwingen, die sie einmal so mühelos beherrschten. Eine Fuge. Das Thema vor. Das Thema zurück. Das Thema vor. Das Thema zurück. Und doch 76
nur scheinbar identisch. Für den, der zuhörte, mit zahlreichen kleinen Änderungen, die das Thema erst interessant machten, eine Entwicklung zeigten, den Vordergrund in den Hintergrund verwandelten, das Schnelle in das Langsame, das Laute in das Leise, und alles wieder in der Umkehrung. Das Thema im Spiegel und im Krebsgang, wieder vorwärts und wieder rückwärts, gleich und verschieden in einem. Haupt‐ thema, Gegenthema, abgeleitete Episoden und Variatio‐ nen, rhythmisch verschoben, Doppelfuge und Kontra‐ punkt. Er suchte seinen Flur, ging in sein Zimmer zurück, legte sich in sein Bett. Das unregelmäßige Atmen des Alten verband sich mit dem gleichmäßigen Rauschen des Meeres. Er lauschte auf den Atem, wünschte sich, daß er nicht plötzlich aussetzte, hörte das Meer im Rhythmus von Ebbe und Flut, das den Atem behutsam in sich aufnahm. Es verwandelte in seinem ewigen Zeitmaß selbst das Land wieder zu Wasser, in eine ein‐ zige immerwährende Bewegung, in der das Atmen des Menschen unhörbar versank, das mühevolle, quälende, anstrengende Weiteratmen. Er lag in der Dämmerung, sah im Spiegel die Wolken und im Fenster das Meer, bewegte sich nicht, be‐ obachtete das Spinnennetz an der Decke, den Canyon auf dem roten Fußboden, die Zeit atmete aus, eine be‐ wußtlose Stille, die lange anhielt. Er spürte in diesem unbewegten Augenblick zwischen Tag und Nacht, der ihn an die Grenze des Lebens führte, daß das Sein und das Nichts eins sein konnten, und er verlor in einem atemlosen Moment seine Angst, weil ihm die Sinn‐ 77
losigkeit des Lebens zum Sinn wurde. Er atmete tief ein. An diesem Ort des Nichts, an dem der Tod der Maßstab der Tage und Nächte war, verlor das Leben jede Bedeutung, die Flucht in die täuschende Illusion jeden Sinn. Die angeblich so großen und ewigen Werte, um die man in der Welt stritt, die man anbetete, denen man nachlief, für die man sich die Köpfe einschlug, für die man Menschen umbrachte; von hier aus gesehen stellten sie sich dar als eine Fata Morgana aus vielen tausend nachgeplapperten, inhaltslosen Worten. Die Vorstel‐ lungskraft der Menschen hatte sich in unglaubliche Irr‐ tümer und Phantasmen gesteigert, eine Scheinwelt erschaffen, die in Wirklichkeit nicht existierte, die vor dem Tod und vor der schweigenden Wahrheit des Meeres zu einer Phantasmagorie wurde. In der Welt weit hinter dem Horizont hatte jede Handlung, jede Tätigkeit, jedes Wort ein Echo, löste Reaktionen aus, die die scheinbare Bedeutung des eigenen Lebens bestä‐ tigten und steigerten. Hier existierte man, ohne sich im Spiegel anderer begreifen zu können. Schlafen, wachen, sterben, ein Leben im geduldigen Warten auf den Tod. Dieser Ort würde ihn immer begleiten, das weitere Leben, wenn es denn kommen sollte, für immer bestim‐ men. Er war bereit, sich darauf einzulassen und nichts von dem, was er von außen mitbrachte, dem begrenzten Dasein zwischen Tag und Nacht und der Macht des Meeres entgegenzusetzen. Er wollte keine Rolle spielen, wie so viele, die sich hier in Rollen flüchteten mit dem Gerümpel eines vergangenen Lebens, ihre gewohnten Sätze mitschleppten, um die Scherben eines zerbro‐ chenen Lebenszieles zu verbergen, die leeren Stunden 78
des Tages und der Nacht zu ertragen. Dieser Ort war der Tod, seine Bedingungen waren gnadenlos und ohne Erbarmen. Wer von hier den Rückweg antrat, wer es schaffte aufzustehen und zu gehen, diese Insel wieder zu verlassen, der hatte auf ewig die Maßstäbe des Nichts, des Sinnlosen und der Bedeutungslosigkeit in sich, er konnte nie mehr die Menschen und ihr Leben verstehen. Ihre Sätze würden zur Qual werden, weil jedes Wort darin ohne gültige Gewißheit war, ein Versteckspiel mit anderen, sich selbst täuschenden Worten, jeder Satz ein Glaubenssatz, der Ungeheuer‐ liches voraussetzte, ohne daß einer darüber nachge‐ dacht hätte. Wie sollte er noch mit Menschen reden, die überzeugt davon waren, daß ihr Leben einen Sinn hatte und von Bedeutung war und ihre Tätigkeit wichtig und von Vorteil, ihre Lebensregeln selbstverständlich wie die Uhrzeit, ihr Lebensinhalt vorgegeben und weit vom Tod entfernt. Sein Leben an diesem Ort würde ihn für immer von den Menschen entfernen, das spürte er. Sollte er durch einen unbändigen Willen hier heraus‐ kommen, wäre nichts mehr so wie es einmal war. Keiner würde ihn verstehen. Verstehen konnte das nur, wer hier lag. Aber es gab keine Wahl, er hatte sich diesem sinnlosen Dasein und dieser Zeit, so endlos wie das Nichts, zu fugen. Nur wer das bisherige Sein aufgab und zu einer Person in diesem Nichts wurde, war stark genug, hier wieder rauszukommen. Er war froh, daß er es so zeitig begriff. Es rechtzeitig zu begreifen, das war seine Lebenschance. Die Dunkelheit hatte sich ausgebreitet, weit draußen in der Nacht blinkten Lichter auf dem Meer, die sich im 79
Spiegel und im Fenster verfingen, sie leuchteten kurz auf, verschwanden, neue Lichter zogen ihre Bahn, versanken in der Schwärze des Horizonts. 80
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief, den Horizont ins Unerträgliche ausdehnte im Wechsel von Hell und Dunkel, Ebbe und Flut, immer gleich und doch ver‐ schieden in seiner ständigen Bewegung, von geheimnis‐ voller Verschwiegenheit, älter als das Land, das es in ferner Zeit wieder bedecken würde, wenn alles vergan‐ gen und vergessen war. Eine weite Fläche, die immer da lag, ob man erschöpft einschlief oder erschreckt auf‐ wachte, ob man träumte oder lachte oder mit dem Tode rang. Im ersten Licht der Morgendämmerung behutsam erwachend in einem glitzernden silbrigen Blau, kleine Wellen, die in einem spielerischen Plätschern am Strand ausliefen, sich in der Sonne wohlig auflösten, langsam ins Meer zurückflossen, wieder eins wurden mit dem gewaltigen Wasser, ehe sie zurückkehrten, einander jagend wie ein Rudel junger Tiere. An Regentagen überzogen die Tropfen in grauen wehenden Vorhängen die Wasseroberfläche mit einem punktierenden Muster, das Meer lag dann wie unter einer Spitzengardine, gehalten von den im Wasser auf und ab tanzenden Möwen. Im leuchtenden Mittagslicht, das am Horizont im weißlichen Dunst eins wurde mit dem Meer und jede Begrenzung aufhob, so daß die Welt wie eine Milchglaskugel schien, ohne jeden Begriff von Zeit und Raum, liefen leichte Wellen unter der hochstehenden 81
Sonne gegeneinander, harmlos aufblinkend zwischen den goldenen Girlanden der vorbeigleitenden Strömun‐ gen. Das Meer war gutmütig, war langmütig, es beachtete die Küste nicht, war mit sich selbst beschäf‐ tigt, weit hörte man das Geschrei der Möwen, die über dem Strand segelten, mißtrauische Wachtposten der Küste, die das Meer im Auge behielten. In der unter‐ gehenden Sonne war es dann nur noch die romantische See, eine rotgefärbte, gefällige Staffage für Fotografen und Menschen, die einen erhebenden Moment suchten für den Satz: Das Leben ist schön. Das Meer zog sich friedvoll und nachsichtig ins Abenddunkel zurück, in einem beruhigenden Rauschen der Nacht hingegeben, die mit dem Meer undurchdringlich eins wurde, in ein immer tieferes Schwarz versank, im leisen, verborgenen Atem der Gezeiten. Hoch oben am Firmament, in der endlichen Ferne, die noch älter war als das Meer und noch unbegreiflicher, standen Sterne in ihrem Licht. Am Tag war das Meer das Licht, heller als der Him‐ mel bewegte es sich im offenstehenden Flügel des Fen‐ sters, wo es im wiederkehrenden Rhythmus die von einem seiner Vorgänger eingekerbten Markierungen am Fensterrahmen erreichte; auch die Wolken zogen in phantasievollen Formationen durch den Spiegel, lichte Türme, hohe Gebirge, zerklüftete Massive, ein Reigen heller und dunkler Schatten, nach den Gesetzmäßig‐ keiten der Jahreszeiten. In den klaren Nächten sah er die Bewegung der Sterne über den Lichtern kleiner Boote, die sich auf dem dunklen Wasser verirrten, weit drau‐ ßen die hellen Punkte großer Schiffe, die im großen Bogen dem scharfen und immer gleichen Signal des 82
Leuchtturms auswichen. Im Gegensatz zur Bewegung da draußen blieb die Position des Liegenden genauso unverändert wie das Signal des Leuchtturms, das in seiner wiederholten Wiederholung eine erstarrte Bewe‐ gung war, eine stillstehende Zeit. Er lag in der schmalen Koje eines gestrandeten Schiffes, erwartete nichts mehr, hörte nur auf die Geräusche, die ihm anzeigen sollten, wann das Schiff endgültig auseinanderbrach. Er sah die Wolken und das Meer, sah sie zwischen dem rotver‐ schorften Canyon am Boden und dem schwarzen Spinnennetz an der Decke, die Sekunden, Minuten und Stunden verloren sich dabei ins Unzählbare. Tage und Nächte in einer anderen Welt, in der er immer öfter vergaß, seine Armbanduhr aufzuziehen, auf die Ziffern mit den Leuchtpunkten für die Nacht zu achten, auf die Zeiger, die nun bewegungslos eine vergangene Zeit anzeigten, unter der man sich nichts mehr vorstellen konnte. Die sekundengenaue Uhr verlor sich in einer Schublade, nach Wochen wußte er nicht mehr, wo sie war, nach Monaten nicht mehr, ob er überhaupt je eine Uhr besessen hatte, und wozu so ein fortlaufend tickendes mechanisches Werk überhaupt gut war. Es gab nur das Liegen, das endlose und ewige Liegen, vor dem selbst Tag und Nacht nichts mehr bedeuteten, weil sie nicht mehr Wachen oder Schlafen, Arbeit oder Ruhe umfaßten, sie waren da, mal heller, mal dunkler, ohne Namen und Datum, bald wußte man nicht mehr, wie lange man schon lag, wie lange man hier war, denn auch die Sommer und Winter vergingen so spurlos wie versunkene und vergessene Schiffe, tief im Meer unter wiederkehrenden Sternen. 83
Es gab nur die tiefausholenden, hochschwingenden Töne des Gongs, eine Harmonie in sich, ohne ver‐ gehende oder fortschreitende Zeit, konzentrische Töne, lange nachhallend, in der Luft schwebend, der Klang einer Welt, in der alles in feststehenden Bahnen ablief wie das Licht der Sonne im Zimmer. Erst zum Schrank, dann bis zu seinem Bett, die Wand hoch, neben der er lag, dann nur noch ein schmaler Streifen, der rasch verschwand; nach Monaten streifte sie nur noch das Bett, ließ die Wand im Dunkeln, lauernde Schatten eroberten das Zimmer, wurden breit und allmächtig, bis sich alles umkehrte, das Licht die Schatten vertrieb, das Zimmer ins Helle tauchte, um sich erneut zurück‐ zuziehen, den Schatten zu weichen, im in sich ruhen‐ den, betäubenden Klang des Gongs, der wie die Ewig‐ keit war. An heißen Tagen lag das Meer schimmernd in einer sanften Dünung, bleiern und schwer atmend im diffu‐ sen Licht einer bleichen Sonne. Weit draußen rollten Wellen vor gewittrigen Wolken, Rücken an Rücken, wie eine vorbeiziehende Walherde. Ein kleines Boot tuckerte durch die Mittagsstille, fast auf der Stelle stehend entfernte es sich dann doch, lange sah man noch die Kielspur im hellen Wasser, ein sich allmählich auf‐ lösender, silberner Streifen. Das Wetter schlug schnell um, war unbeständig; wenn der Wind drehte, rauhte das Meer in einer frischen Brise auf, die in Böen gegen die Fenster schlug. Unter tiefhängenden dunklen Wol‐ ken brandete es gischtig grau gegen die Küste, schäu‐ mende Wellen schossen mit ungebändigter Wucht auf den Strand, das Donnern der übereinanderstürzenden 84
und in sich zusammenbrechenden Wassermassen er‐ stickte jeden Laut, wütend schlug es auf Sand und Stei‐ ne, rannte hochspritzend gegen die Buhnen an, gegen den Deich, höhlte ihn aus, untergrub ihn, verschluckte das Land und gab es erst nach Stunden wieder frei, zog sich zurück, schäumte noch einmal über den Strand, tat so, als sei nichts gewesen und grollte nur noch mit hohen Wellen. Bei starken Fluten holte es sich Stück für Stück zurück, was ihm in Vorzeiten abgerungen worden war, Teile der Insel lagen nun wieder unter Wasser, Wege, Äcker, Häuser, Kirchen, in alten Büchern unter Realien verzeichnet als ewiger Besitz des Menschen, sicher und glaubhaft und verpfändbar, eingedeicht, erbaut und kultiviert von Menschenhand, nun wieder dem Wasser gehörend, verloren und aufgegeben, kaum noch erinnert, bei starker Ebbe als Kirchenmauer zu erahnen. Nur die alten Männer und Frauen der Insel, die sonntags in ihrer Kirchentracht wie versteinert auf den ausgebleichten Walknochen saßen, hörten noch die längst verstummten Glocken. In den nächtlichen Stürmen, die überraschend und übergangslos, von einer Böe zur anderen, zu Orkanen anwuchsen, durften sie das Fenster schließen, denn der Wind trieb die salzige Gischt in weißen Fetzen bis ins Zimmer. Die Sterne blieben unsichtbar hinter den ja‐ genden Wolken, die der Mond flüchtig erhellte. Der Sturm drückte gegen die Mauern, knallend schlugen Türen und Fenster, einige der alten Fensterscheiben zersplitterten, Dachziegel flogen durch die Luft, Erd‐ klumpen stiegen auf. Das Haus wehrte sich heulend und jaulend wie eine alte Jammerharfe, die sich in hohe 85
Töne steigerte, manchmal war da noch der Schrei eines verirrten, hilflosen Vogels, der, hin und her getrieben, im Zickzack durch den Innenhof jagte. Und alle wußten, das Wasser zerschlug nun die Deichkrone, rauschte in wilden Strudeln ins Hinterland, entwurzelte Bäume, versetzte Grenzsteine und Grabplatten, über‐ schwemmte Äcker, Wiesen und die alten vielbegan‐ genen Wege, riß sie weg, vernichtete die abgegrenzte Ordnung des Mein und Dein, die Friedhöfe und Kirch‐ plätze, in Stein gefaßte Orte der Erinnerung. Zog sich dann schweigend hinter die Küstenlinie zurück, nur den nassen Sand hinterlassend, in dem die Fußspuren der Menschen tief einsanken, wenn sie versuchten, dicht hinter dem Wasser zu retten, was zu retten war: Stühle, Pferdegeschirre, Holzräder, Fensterrahmen, Scheunen‐ tore; wenn sie versuchten, Wege wieder auszugraben und Grenzsteine neu zu setzen. Beim nächsten auflau‐ fenden Wasser verschwand alles erneut, die Wege, die Grenzsteine und ihre Fußspuren, die sie beim ablau‐ fenden Wasser wieder in den Sand drückten, dem Meer folgend bis auf die Sandbänke hinaus, gestrandetes Gut einsammelnd, obwohl sie zusehen konnten, wie das Meer in immer neuen Anläufen die Spur des Menschen vernichtete. Ein Kampf ohne Ende, ohne Aussicht auf einen Sieg, im Bewußtsein der Niederlage, denn das Meer würde alles überschwemmen, alles, was jetzt noch unter einem freien Himmel lag und der Besitz und das Werk des Menschen war. Und oft dachten die Liegenden in diesen Orkan‐ nächten, daß dieser Steinpalast, dieses Bollwerk gegen die See auch bald friedlich sein Wassergrab fände. An 86
den Tagen, an denen der Nebel das Haus so dicht und lautlos einschloß, daß sie sich wie alleine auf der Welt vorkamen, eingehüllt in dieses lichtlose Gespinst wie in ein Leichentuch, Totenstille über allem, hatte auch er das Gefühl, als trieben sie schon auf dem Wasser, san‐ ken langsam und unerbittlich und ausweglos. Unmerk‐ lich stieg das Wasser im Zimmer, ein schwerer dunkler Traum, schwebende Pflanzen zwischen Seesternen, Muscheln und aufleuchtenden Krebsen, silberne Fisch‐ schwärme in stummen Prozessionen, im Spinnennetz an der Decke seltsame langbeinige Tiere mit glänzenden Augen und langen Fühlern, verfangen im grünen Tang, im Canyon am Boden, zu braunen Klumpen geformt, tausende kleinster Lebewesen, Futter für rasch zu‐ stoßende größere Fische. Da wartet man nun auf den Tod. Das war der Satz, mit dem der Alte in der Nacht seine Geschichten be‐ gann, stockend, mit heiseren Stimmbändern, mal lauter, mal leiser, in einem einsamen Erzählen ganz für sich allein und nur sich selber zuhörend, ob da noch ein anderer mithörte, einer der neben ihm lag, aufs Leben hoffend oder vom Tode berührt, das war ohne Be‐ deutung, er hätte auch einem Toten sein Leben erzählt, so wie er geduldig den Toten auf dem Friedhof zuhörte. Tief in seine Worte und Sätze versunken, lebte er in der Vorstellung der Vergangenheit, ein langes, endloses Reden in vielen Atemstößen, ein Monologisieren auf einem einzigen Atem gegen die Nacht, mit stillen er‐ schöpften Pausen, in denen nur das Meer atmete, Basso continuo, bis wieder die Stimme ertönte, ein zerbrech‐ liches, kaum vernehmbares Instrument, als Kontra‐ 87
punkt zum Meer immer wieder neu einsetzend. Alte, ewig gleiche Geschichten, unermüdlich neu erzählt, am Anfang wie eine vertraute Melodie, im Ablauf vari‐ ierend, auch schon mal mit einem Detail beginnend, oder vom Ende her, sich rückwärts erinnernd an die Harmonien und Dissonanzen der Welt, nur vom Ende her zu verstehen. Geschichten, die einmal sein Leben waren, das unschuldig begonnen hatte wie jedes Leben, kraftvoll, energisch, zupackend verlief, so wie es die meisten versuchten, und doch in Schuld endend— ge‐ flüsterte Worte, Brücken der Erinnerung über dunkle sprachlose Pausen, rhythmische, durch den Atem ge‐ führte Sätze, Nachklang eines vergehenden Lebens, im frühen Licht des Meeres ersterbend: Da wartet man nun auf den Tod. Bei all dem was war, was kommt da heraus. Was du auch machst, soviel du dich auch anstrengst, was du dir auch vornimmst, am Ende nichts. Wollt ihn nicht umbringen. Ehrenwort. Bin kein Mörder. Er war schneller. Ich war stärker. Hab ich zugelangt. Nur mit der Faust. Er hatte Hunger. Ich hatte Hunger. Er war schneller. Ich war stärker. Dann lag er da. Wegen eines Karnickels. War da plötzlich ein Karnickelstall. Hinter einem abgebrannten Kotten. Eine Mauer stand noch. Das Dach lag schräg zum Boden. Die schwarzgebrannten Dachbalken ragten in den Himmel. Wie ein gestrandetes Schiff. Wie die Knochen eines Wals. Und hinter der Mauer der Karnickelstall. Wir waren Tage und Nächte unterwegs. Gelaufen gelaufen. Hinter uns die Russen. Vor uns die Amis. Wenn schon Gefangenschaft, dann bei den Amis, wenigstens bei den Tommys. Gelaufen gelaufen. Tag Nacht. Wälder, Felder, 88
zerstörte Dörfer. Statt Stiefel Fußlappen. Alles voller Blasen. Hab ihn getragen. Ich war stärker. Er konnte nicht mehr. Hab ihn getragen, dabei war er schneller, aber ich war stärker, das war mein Pech. Die Wege waren lang. Ab nach Hause. Überall Feldpolizei, die Blechschilder schimmerten im Mondlicht. Und geraucht haben sie auch. Hatten noch Zigaretten. Man sah die Feuerpünktchen von weitem und konnte ausweichen. Durch die Wälder, durch die Felder, durch die zerstörten Dörfer. Wie groß ist die Welt. So weit man sah, so weit man lief, immer der gleiche Himmel, die gleiche Erde. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Die Erde drehte sich unter unseren Füßen. Man kam gar nicht voran. Man stand auf der Stelle. Alle waren unterwegs und kamen doch nicht voran. Alle rannten und standen auf der Stelle. Wozu man überhaupt lief? Wohin und woher bei jeder Kontrolle. Ja wohin? Welches Ziel hat der Mensch? Warum läuft er soviel? Warum ist er immer unterwegs? Und woher? Wo kommt er her, und warum will er da weg und wozu überhaupt? Könnte auf der Stelle stehenbleiben und hätte sein lebenslanges Ringelspiel. Trippelt da wie eine Ameise über die sich drehende Erde jongliert wie ein Zirkusartist auf einem großen blauen Ball mit goldenen und silbernen Sternen und weiß mit dem Kunststück nichts anzufangen. Stürzt nur immer wieder ab, bis er tot ist und sein Grab hat und endlich stilleliegt. — Siehste die Milchstraße, sagte der, als wir nachts im Straßengraben lagen, is tagsüber ooch da, siehste bloß nich, so is et mit den meisten Dingen, sind da, siehste nur nich, oder nur nachts, wenn de ohnmächtig daliegst und nischt davon hast. Was 89
meinste, ob da wohl einer auf uns runterguckt? Nee, wohl nich, was? Aber wir sehen hinauf, dusselig wie wir sind, und es hilft uns nischt. Stieren uns die Hälse ab. Dabei sehen wir ja ooch nur hinunter. Wenn de bedenkst. Unten und oben gibts nich. Hat unser Lehrer gesagt. So ʹn langer Dünner war det. Hat immer so Weisheiten gehabt, bei denen er griente. Da haben ihn zwei Ledermäntel aus der Klasse geholt und ins KZ gesteckt, damit er lernte, was unten und oben is. Wird ihm das Grienen vergangen sein. Und wir kieken immer noch ewig nach oben, und keiner denkt dran, is ja genauso unten wie wir. Wat der Mensch sich eben so einredet.— Und dann war da der Karnickelstall, und da waren zu allem Unglück auch noch Karnickel drin, und wer die im Bauch hatte, der kam weit, weiter als die anderen, die vor Hunger tot umfielen, über die man drübersteigen musste — Totensprung, sagte der im‐ mer —, wie weiße geäderte Marmorsteine, in die Erde gekrallt, in der Erde versunken, härter und kälter als die Erde, zum Weggeben hatten die nichts mehr, das war schon alles geklaut, besonders die Stiefel, hatten alle bläuliche Füße, ganz abgefroren, lagen im Hemd da oder auch ganz nackt, Mantel, Hose, Jacke weg, wenn da einer umfiel, kamen die Bauern aus ihren Erdlöchern angewieselt, Stoff konnte man immer gebrauchen, wie ein Vogelschwarm, der sich auf Aas setzt, noch einmal hingesehen, da waren die Toten schon nackt. Und dann war da eben der Karnickelstall. Und da waren auch noch Karnickel drin. Und wer die im Bauch hatte, der lebte ein paar Tage länger als die anderen auf dieser schönen Erde, und er saust los, plötzlich ganz flink, da 90
hab ich ihm die Faust in den Nacken gesetzt, dann lag er da und rührte sich nicht mehr. Da wartet man nun auf den Tod. Am Tag setzte der Alte sich nach diesem Satz schon mal auf, starrte ihn mit glänzenden Augen an: Ich war ʹn starker Kerl. Eins‐ neunzig, neunzig Kilo. Wenn ich zugelangt hab ... Er hob seine beiden Fäuste, die ganz verknöchert auf dür‐ ren Armen saßen, deren Muskelfleisch am Oberarm schlaff herabhing: Nach dem Krieg hab ich auf dem Rummel ganz schön verdient. Drei Boxer mußte man weghauen, dann gabs Geld. Drei. Bei Zweien zogste leer ab. Aber ich hab die Kasse abgeräumt. Drei mußte man flachlegen. Wenn die mich unten im Publikum sahen, haben se gleich die Bude zugemacht. Sein Gesicht überzog sich mit einem seligen Glanz, seine fiebernden Augen funkelten, die Erinnerung an die Stärke seiner Fäuste verlieh ihm etwas Leuchtendes; er richtete sich auf, sein Oberkörper hing nicht mehr vornüber, er war für Sekunden wieder der starke Mann, der sich vor nichts fürchtete: Zuschlagen hab ich auf der Werft gelernt. Da hat man noch mit dem Vorschlaghammer gearbeitet. Bei Stapelläufen hab ich immer die letzten Stempel weggehauen. Wenn soʹn Schipp aus Eisen hoch über dir ins Wasser rauscht und dann so schwebt, schön, schön. Er breitete die Arme aus und schwebte wie ein großer Vogel auf der Bettkante: Aber nach dem Krieg war da keine Werft mehr. Nach dem Krieg war gar nichts mehr da. Nur verrostetes, verbogenes Eisen. In der Hitze verglüht. Bombentrichter neben Bomben‐ trichter. Voller Regenwasser. Die Kaimauer lag im Hafenbecken. Die Kräne im Wasser. Er blähte den 91
Brustkorb und krächzte wie ein Papagei: ... und arbeit drühm bei Blohm und Voss, und sonntags fein in Scha‐ le ... Dann versagte der Atem, und er fiel in seine schlaffe Kraftlosigkeit zurück. Er lag wieder auf dem Rücken, starrte an die Decke, wartete auf die Nacht: Da wartet man nun auf den Tod. Als junger Kerl hab ich mal einen vor dem Tod gerettet. War schon so gut wie tot. Hab ihn gerettet. War soʹn lütter Zehnjähriger. Fiel bei Eisgang ins Hafenbecken. Abgerutscht, weg war er. Alles stand rum und schrie. Ich Jack und Büx und Schuh aus, rinn ins Eisloch, im Springen denk ich noch, was machst du da, das Wasser, nee war das kalt, und da seh ich den Jung, wie er mit der Strömung abdriftet, unter die Eisschollen, und grad hab ich ihn noch bei den Haaren. Wie ich mit dem rausgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Später saß ich in eine Wolldecke gewickelt auf der Polizeiwache, und die Polizisten hielten mir ʹne Rumbuddel an ʹn Hals. Erlebt man auch nicht alle Tage. Mensch, was hab ich gefroren. Hätt mich aufʹnen Ofen setzen können. Rettungsmedaille hat man mir später auch noch überreicht. Wo die wohl geblieben ist? Die trägt vielleicht einer, der noch nie ʹn Menschen gerettet hat. Den Jungen hab ich auch nie mehr gesehen. Kannte ihn auch gar nicht. Was wohl aus dem geworden ist? Wie der wohl gelebt hat? Wo der wohl ist? War ja schon so gut wie tot. Nun lebte er wieder. Ich war stark. Ich war wirklich stark. Da war kein anderer reingesprungen in das Eis. Haben alle nur geschrien. Ich hab ihn rausgeholt. Ich war ein starker Kerl. An guten Tagen saß der Alte auf der Bettkante und sinnierte vor sich hin; an seinem ständig bewegten Ge‐ 92
sicht konnte man erkennen, daß er stumm mit seinen Lebensgeschichten kämpfte und, weil die Worte nicht über seine Lippen kamen, erregt mit den Händen fuch‐ telte. Den verschossenen Bademantel gegen die Kälte über die Schultern gelegt, saß er da wie ein König ohne Thron, wie Lear, der seine Kraft verloren und sein Reich nicht mehr besaß. Und erzählte übergangslos, ihn hilflos ansehend, als suchte er sein Verständnis für all die unerklärbaren Situationen seines Lebens: Nach dem Krieg bin ich über Land. Wie alle. Der Mensch will essen, heißt es so schön. Will? Er muß. Der Mensch muß essen. Selbst ein Hungerkünstler muß essen. Tote Hungerkünstler gibt es nicht. Essen essen essen. An was anderes hat keiner gedacht. Wer nichts zum Fressen hat, der ist tot und zwar schnell. Da biste kein Mensch mehr, da biste nur noch ein Kadaver, wie irgendein Tier, das auf abgefressener Weide verhungert. Aber die Tiere haben eher ihr Futter bekommen als der Mensch. Tiere kann man essen. Menschen nicht. Ob‐ wohl, manche haben auch Menschen gegessen, hab ich gesehen, jawoll, da war abends ein Licht in einem Wald, als ich hinkam saßen ein paar Frauen und Männer um ein Feuer, und in dem Feuer lag eine Leiche, frisch tot‐ geschlagen, denk ich. Ich hab mich übergeben, konnte nicht, so ist der Mensch, kann den Menschen nicht auf‐ fressen und schlägt ihn doch jeden Tag tot wie einen räudigen Hund. Ich bin von Bauer zu Bauer. Haben dich angesehen, als wärst du der Mann im Mond. Mit ihren Ochsen hättest du besser reden können als mit ihnen. Wenn einer in einer schönen, gemütlichen, warmen Stube sitzt, wie soll er wissen, was Hunger ist. 93
Wenn er Hunger hat, geht er zur Speisekammer und ißt etwas. Aber wir, die wir da draußen herumgeisterten, von den Feldern das Unkraut fraßen, aus den Pfützen tranken, Tage und Nächte nicht geschlafen und nichts gegessen, immer auf den Füßen, wir hatten einen anderen Hunger, ein Bauer konnte sich unter diesem Wort nicht das Richtige vorstellen. Der Mensch kann sich nur das vorstellen, was er erlebt hat. Wer keinen Krieg erlebt hat, kann ihn sich nicht vorstellen. Wer nicht erlebt hat, wie ein Schiff im Ozean untergeht, der weiß nichts davon. Das mit dem Schiff beschäftigte den Alten länger, er versuchte sich genau zu erinnern, kramte in seinem Ge‐ dächtnis, erinnerte sich mit seinem hin‐ und herdre‐ henden Kopf, seinem unruhigen Körper, mit Händen und Füßen, die in immer größere Zuckungen gerieten, bis er erschöpft nach hinten fiel und sich in dem Wust von Bettdecke und Bademantel verkroch. Mitten in der Nacht kam dann wieder sein Eröffnungssatz, der Schlüsselsatz, den er brauchte, um seine Geschichten zu öffnen: Da wartet man nun auf den Tod. Dreimal bin ich abgesoffen und immer durch Zufall gerettet worden. Gerettet wozu? Ich müßte schon lange tot sein. Ich war Matrose in diesem Scheißkrieg. Erst auf einem U‐Boot, das havarierte gleich bei der ersten Ausfahrt. Dann auf so einem Panzerkreuzer, weiß gar nicht mehr, wie der hieß, weil ich auch auf »Prinz Eugen« war, aber der, mit dem ich absoff, hieß anders. Das Geschützdeck explodierte, und das ganze riesige Schipp stieß senk‐ recht nach unten und schwemmte uns in einer großen 94
Welle in die See. Wir lagen im Wasser, klammerten uns an alles, was wir greifen konnten, und vor uns ein un‐ glaubliches Feuerwerk, zum Abschied von der Welt noch einmal Preußens Glanz und Gloria. Zum Schluß fuhr ich auf einem ehemaligen Salondampfer, der Flüchtlinge vom Osten nach Norden brachte, Torpedo, der Dampfer legte sich auf die Seite, ich von der Reling aus mitgelaufen, zum Schluß stand ich kieloben auf der hinteren Platte vor der Schraube, unter mir ein paar tausend Menschen eingeschlossen im Schiff, Geschrei, Stille, und ganz langsam soff der Kahn ab, ließ sich Zeit, bis mir das Wasser ans Kinn spülte und ich in die Ost‐ see schwamm. Und jetzt erzähl das mal, abgesehen davon, daß es da draußen in der Welt keiner mehr wissen will, erzähl das mal, wie das wirklich war, und wie soll sich das einer vorstellen? Ich wurde immer von anderen Schiffen herausgefischt, Zufall? Schicksal? Gott? Ich weiß es auch nicht. Ich glaube an keinen Gott. Ich bin Atheist. Das ist ja auch eine schöne Religion. Aber einmal hab ich doch Gelobt sei Jesus Christus gesagt und In Ewigkeit Amen, und obendrein noch Ge‐ benedeit seist du Maria voller Gnaden. Hat man von seiner Kindheit noch so drin. Das war bei einem Dorf‐ pfarrer, der mich für ein paar Tage aufnahm, damit ich mich mal wieder durchwärmen konnte. Wenn die Bauern gar nichts mehr gaben, kein Ei, keine Scheibe Speck, kein Löffel Mehl, beim Pfarrer war immer noch was zu holen, Pfarrer ist nun mal Pfarrer, unser Herr Jesus hängt da an der Wand. Als ich mich ein bißchen umsah, entdeckte ich in einer Scheune unter dem Heu ein altes Kinderkarussell. Kaputt, sagte der Pfarrer, ist 95
hier liegengeblieben. Ich hab mich sofort an den Motor herangemacht, Öl zusammengebettelt, so lange daran herumgebosselt, bis der Motor vor sich hinstotterte, aus Pferdezügeln hab ich Treibriemen gemacht, und das Karussell drehte sich, die Orgeln, oh Wunder, pfiffen die alten preußischen Militärmärsche, es war wie in alten Zeiten. Dann hab ich nachts den Tommys noch einen Jeep geklaut, zu Hunderten standen die unbe‐ wacht rum, die wußten gar nicht, wie viele sie hatten, und bin über die Dörfer. Mit dem Kinderkarussell. Da‐ von hab ich gelebt. Eintritt gegen Brot und Kartoffeln. Eintritt gegen Farbe, damit die idyllischen Städtchen, Dörfer und Landschaften an der Rückwand des Karus‐ sells wieder glänzten. Eintritt gegen Lack, damit die Pferdchen, die Kutschen, die Engelchen wieder leuch‐ teten. Alles im neuen Glanz. Alles alt und doch wieder neu. Das wollten die Leute sehen. Das Neue sollte wie‐ der das Alte sein. Alles drehte sich wieder um sich selbst. Und so bin ich von einem Ort zum anderen. Später hab ich ausgebaut. Später, als das Geld kam. Als das Geld kam, mußte alles schöner und größer und tol‐ ler sein. Aber alles lief auf Kredit. Jeder nahm Kredit auf, für eine Geisterbahn, für eine Riesenschiffschaukel, für eine jaulende Berg‐und‐Tal‐Bahn, alle Karussells drehten sich schneller, alle Bahnen wurden steiler, bis sich alles überschlug und durcheinanderpurzelte. Alle schufteten nur noch für die Schulden und die Zinsen, ehe man sein Karussell aufgestellt hatte, kam der nächste mit einem größeren Karussell. Geld besaß kei‐ ner mehr, es war gekommen und gegangen. Eine Ach‐ terbahn hat mich ruiniert. Hatte einen Kompagnon, der 96
nur noch soff. Wir haben uns geprügelt, er flog unglück‐ lich mit dem Kopf gegen eine Eisenstange, kann ja pas‐ sieren. Hab ich bereut und abgesessen. Ich war stark, ich konnte immer wieder neu anfangen. War dann Raus‐ schmeißer auf St. Pauli. Hippodrom. Seriöser Laden. Pferdchen im Kreis und ein bockiger Esel und nettes Publikum. Ich hab auch die Tiere versorgt. Diese kleinen Ponys, fraßen tagsüber geduldig ihren Hafer, nachts liefen sie im Kreis durch das Sägemehl. Futter im Stall und wieder im Kreis laufen. Und so Tag und Nacht. Wir machen ja auch nichts anderes. Hab sie gern gehabt, die Viecher. So ein weiches Fell, so flauschig, hielten still, wenn man sie streichelte, senkten dann den Kopf, waren ganz ruhig und freuten sich, daß man sie streichelte. Das Hippodrom hat sich lang gehalten. Als es überall nur noch Bars und Striptease gab, gingen immer noch Leute ins Hippodrom. Wollten wohl diese kleinen Pferdchen sehen, die einen Hampelmann für ein paar Mark im Kreis herumtragen mußten. Und wenn er abrutschte und in den Dreck fiel, haben sich alle gefreut. Haben alle dafür gezahlt, daß sie zusehen konnten, wie einer in den Dreck flog. Das mag der Mensch. Da sieht er gerne zu. Hast du gesehen den Film mit Hans Albers? Große Freiheit Nummer sieben? Spielt auch im Hippo‐ drom. Auf der Reeperbahn nachts um halbeins, didel‐ dideldumm, ob du ein Mädchen hast oder auch keins ... Ja. Ich war ein starker Kerl. So einer wie der Hans. Vorbei. Vorbei vorbei. Am anderen Morgen saß der Alte ganz vergnügt auf der Bettkante, obwohl er aussah wie der Tod: Zähl mal laut eine Milliarde daher. Zahl um Zahl. Eins zwei drei 97
vier. Laut. Denk auch an die langen neunstelligen, die da kommen. Und denk daran, das ist die Mehrheit. Sie‐ benhundertvierunddreißigmillionen sechshundertfünf‐ undachtzigtausend neunhundertachtzehn. Und zieh den Schlaf ab, denn jeder muß schlafen, auch der, der nur zählt. Nimm einen Zwölfstundentag. Wie lange zählst du? Ich werde es dir sagen. Länger als ein Men‐ schenleben. Und dann stell dir vor, was du zählst. Da‐ mit du weißt, in welcher Zeit du lebst und welches Le‐ ben du fuhrst. Denn in einem Krieg gibt es Millionen Tote und in dem Frieden danach ungezählte Milliarden. Und darum entscheide vorher, ob du lieber auf Fried‐ höfe gehst oder in eine Bank. Tage und Nächte vergingen, und er verlor als Zuhörer in diesem ununterbrochenen Monolog, der abwech‐ selnd in der Nacht mit dem Blick zur Decke oder am Tag auf der Bettkante mit dem Blick zu ihm geführt wurde, jedes Gefühl für das Nacheinander und Neben‐ einander der Zeiten und Orte, weil sie nur noch die Erzählung eines Menschen waren, eine Stimme, die sich mit dem Rauschen des Meeres verband, mal lauter, mal leiser als das Meer, und er wußte oft nicht, erzählte das Meer oder erzählte der Alte, flüsterten die Wellen oder flüsterte seine Stimme, ein Erzählstrom, der sich ver‐ selbständigte, Teil der Vergangenheit an vielen Orten und Teil der Gegenwart in diesem Zimmer, ein sich dem Lebensende näherndes Fragen, Suchen, Antwor‐ ten, Zweifeln, Erinnern, ein Labyrinth aus verlorenen Sätzen und verirrten Worten, das ihn immer tiefer hinabzog in eine Welt, die mit dem Leben nicht mehr viel gemein hatte; manchmal noch der Versuch eines 98
aufbäumenden Lachens, dann wieder die resignierende Handbewegung zum Meer hin, als wisse er schon, daß all das unnütz war, daß all diese herausgestoßenen Worte und verschlungenen Sätze ihn nicht im Diesseits halten würden, daß er schon nah dem endlosen Wasser war, das alles Leben aufnahm: Da wartet man nun auf den Tod. Was ist besser, ein schneller Tod oder das langsame Sterben. He? Das langsame Sterben. Man hat die letzte Chance, wissend zu werden. Ich sage nicht weise, ich sage wissend. Ein wissender Mensch, das ist schon etwas. Es ist schön zu wissen, daß man sterben muß, daß der Tod einen holt, aber was ist schon eine Gewißheit. He? Also ist ein schneller Tod in der vollendeten Dummheit doch bes‐ ser. Das ist nun das Ergebnis des Denkens. Warum denkt man dann noch? Man wird geboren, um zu sterben. Man hat ja keine Wahl. Also was denkt sich der Mensch? Er hofft auf morgen. Obwohl er doch wissen könnte, daß morgen alles so wie gestern ist. He? Ist alles sinnlos. Aber wenn man es weiß, ist es ja nicht sinnlos. Dann hat es ja einen Sinn. Für den, der weiß, daß alles sinnlos ist. Man entfernt sich nur immer mehr von denen, die an einen Sinn glauben, um nicht nachdenken zu müssen. Das ergibt eine immer größere Distanz. Die nennt man Einsamkeit. Es gibt nichts Schlimmeres für den Menschen als Einsamkeit. Die anderen Menschen werden so klein wie Ameisen, die um ihren Bau herumlaufen, mehr ist es ja nicht. Alles sinnlos. Und man schaut zu. Und wartet auf seinen Tod. Und die Ameisen laufen weiter, endlos weiter, jahrein, jahraus das gleiche Gekrabbel. Und kennen nicht den Tod, von 99
dem wir wissen, denn nur der Tod hat einen Sinn, aber den verrät er nicht. Schade, daß man das erst zum Ende hin bemerkt, wirklich schade. Welchen Unsinn hat man getrieben und dabei auch noch gedacht, das wäre das Leben. Schade. Das läuft alles so dumm ab, so entsetzlich dumm. Aber man hat ja keine Wahl. Man wird geboren und handelt und schlägt um sich und bringt sich so durch, wie alle, wie alle. An den folgenden Tagen sagte der Alte nur noch: Wie alle. Wie alle. Und in den Nächten danach sprach er nicht mehr. Der übliche Monolog, der um eine Ge‐ schichte seines Lebens kreiste, um Erkenntnis bemüht, um Verständnis bittend, sich selber fragend, ohne Ant‐ wort bleibend, dieses kreisende Erzählen blieb aus. Man hörte nur das Meer mit seinen unverständlichen Geschichten. Wie viele Nächte der Alte still lag, wußte er später nicht mehr, in einer Nacht hörte er einen lau‐ ten Schrei, der ihn weckte, der Alte redete wild durch‐ einander, hustete, schrie noch einmal, war still, atmete nicht mehr. Er sprang aus dem Bett und rannte durch die dunklen Gänge, folgte einem schwachen, vom Krieg her immer noch abgedunkelten Licht, das durch ein Treppenhaus in das Erdgeschoß führte. Eine Schwester saß in einem kleinen Zimmer, strickte und sah ihn nur mißmutig an. Dann kam sie doch mit in sein Zimmer. Im Licht der Taschenlampe sah er die vorstehenden, fast weißen Augäpfel des Alten, leuchtend wie polierter Marmor. Als die Schwester die Bettdecke wegzog, lag er auf der Seite wie ein kleines, mageres Vögelchen, das erschöpft vom Himmel gefallen war, Arme und Beine schmerz‐ 100
haft eingekrümmt und an den Leib gepreßt, als wollte er sich vor der eisigen Kälte schützen. Der aufgerissene Mund mit den Stummelzähnen schien immer noch nach Atem zu betteln, rang noch im Tode nach Luft, und in den offenen, starren Augen lag ein Entsetzen über die stumme Einsamkeit des Menschen in seinem Tod. Das Zimmer war ein weißer leerer Raum, der mit dem Meer trieb und mit den Sternen zog, Teil einer anderen Welt, in der Hell und Dunkel eins waren, und der weiße leere Raum verformte sich zwischen dem roten Canyon auf dem Boden und dem schwarzen Spinnennetz an der Decke zu einer unscheinbaren Weltkugel, die um die Erde kreiste, weit entfernt von den Menschen und ihren Gesetzen und ihrem Leben, das ein Maskenspiel war, ein Pilgerweg ohne Anfang und Ende und ohne Erlösung, denn die hieß Tod. In dieser andauernden Einsamkeit verwandelten sich auch seine Gefühle, sein Charakter, seine Person in ein zeitloses Dauern, Ertra‐ gen, Entsagen, in ein immerwährendes gleichförmiges Dasein ohne Zeitablauf, kaum noch erzählbar, weil es dafür keine Worte gab, weil die Worte dem Leben entstammten und das Nichts keine Worte besaß. Wie lange er mit dem Alten in diesem Zimmer gele‐ gen hatte, das wußte er später nicht mehr, weil es zwi‐ schen seinen Monologen oft tagelange Pausen gab, die aber keine Unterbrechung darstellten, sondern nur ein stilles Nachdenken— Gedanken, die sich in immer ver‐ trauter werdenden Blicken zwischen ihnen austausch‐ ten, so daß auch im Schweigen zwischen ihnen ein in sich kreisendes Gespräch stattfand. 101
Die Nachfolger des Alten blieben nur kurz in der Erinnerung, starben nach wenigen Tagen oder wurden auf eine andere Station verlegt, zogen vorbei wie in einem Totentanz, ohne daß sich für ihn dadurch ein Nacheinander ergab: als seien alle, ob tot oder lebendig, gleichzeitig in einem einzigen Bild anwesend, aus dem sich die vergehende Zeit entfernt hatte. Sie kamen und gingen, lagen in dem Bett neben ihm, schweigend, verstummt, ohne Worte zu finden über ihr zu Ende gehendes Leben, über den Tod, den sie schon spürten. Er vergaß ihre Namen, erinnerte sich später auch mehr an Haltungen, Eigenheiten, eigensinnige und verschro‐ bene Handlungen, in die sich die Menschen kurz vor ihrem Tod flüchteten. An einen Lehrer, der alle Stunde aufstand und die Wäsche in seinem Schrank zählte und umräumte, Kante auf Kante legte, die Unterwäsche, die Schlafanzüge, die umsonst mitgebrachten, feingebügel‐ ten Hemden, sich anschließend in sein Bett begab, wieder aufstand, zählte und umräumte, und alle ständig beschuldigte, ihn zu bestehlen. Sein Postspar‐ buch versteckte er jeden Tag woanders, so daß er es am nächsten Tag, lamentierend über die Unehrlichkeit der Menschen, wieder suchen mußte. In einem Wutanfall wollte er das Bett aus dem Zimmer zerren, die eisernen Beine kreischten über den Canyon, das Spinnennetz vergrößerte sich knisternd, aber die Tür war zu schmal für das Bett, das ganze strategisch hervorragend durch‐ dachte Unternehmen scheiterte an einer unbeachteten technischen Kleinigkeit, die einen Weinkrampf auslöste. Als er bei einem zweiten Fluchtversuch das Bett vorher auseinandernahm, wehrte er sich schreiend wie ein 102
kleines Kind, als ein Pfleger es geduldig wieder zusammensetzte. In einer letzten Anstrengung bestellte er mit einer zornigen Verbissenheit gegen den Rat der Ärzte per Post den Großen Brockhaus: Von A bis Z, schrie er: Ich möchte es endlich wissen. Ich möchte endlich alles wissen! Als die Kiste ankam, ging sie unge‐ öffnet zurück mit dem Vermerk: Empfänger verstorben. Ein Kaufmann saß da in einem goldfarbenen seidenen Schlafanzug auf der Bettkante, entpuppte sich als Börsianer, der in einem Notizbuch aus Krokodilleder mit einem schmalen silbernen Stift winzige Zahlen ein‐ trug, die ein siegendes Lächeln in sein Gesicht zauber‐ ten. Er durfte beim Chefarzt mit der Börse telefonieren, worauf der Chefarzt, den sonst noch nie einer gesehen hatte, sich öfter an seinem Bett einfand und ein ge‐ pflegtes Herrengespräch über IG Farben‐Liquidations‐ scheine, Mercedes und Siemens, Thyssen und Krupp, Vorzüge und Namen und dergleichen Rätsel mehr führte. Dem Kaufmann gehört die Welt, teilte er nach jeder erfolgreichen Transaktion mit: Die Politiker leben von ihren Versprechungen. Der Kaufmann lebt von seinen Taten. Die Politiker reden von unerreichbaren Idealen. Der Kaufmann schafft handfeste Werte. Mer‐ ken Sie sich das, junger Mann. Irgendwie schien ihm der abstrakte Wert seiner Zahlen tatsächlich den Besitz der Welt zu garantieren, denn selbstverständlich war er der Gerissenste und Pfiffigste, wenn die anderen aufwachten und auf dem Parkett erschienen, hatte er schon gekauft oder verkauft, so seine Interpretation der Weltläufte. Er war angeblich mit ein paar Prozent an Konzernen beteiligt, die rund um die Welt arbeiteten. In 103
meinem Reich geht die Sonne nicht unter, sagte er und fiel mit dem Notizbuch in der Hand hintenüber, lag wie ein Ballen Seide in seinem Bett, die Beine steif weg‐ gestreckt, der silberne Stift rollte über den Boden. All den Neuen erklärte er, denn er gehörte nun zu den Alten, die Bedeutung des Gongs, so wie der Alte es ihm erklärt hatte, das offene Fenster und den Tagesablauf und die Ruhezeiten. Auch dem Rechtsanwalt, der sofort dagegen Einspruch erhob, klagen wollte durch alle Instanzen, weil das ein Eingriff in die persönliche Freiheit wäre, und damit in das persönliche Eigentum, denn der Mensch sei Herr seiner selbst, kein Sklave, sondern Bürger, also Privatbesitz, er definiere sich de jure als Eigentümer seines Körpers. Der Rechtsanwalt reichte Klagen ein und Dienstaufsichtsbeschwerden, befolgte jede Anordnung nur unter Protest, behauptete überdies, er sei zwangsweise eingeliefert worden, eine Schikane seines Sozius, der nur seine Anwaltskanzlei übernehmen wollte. Er krank? Er? Nie! Niemals! Nie war er krank gewesen, wieso sollte er jetzt krank sein. Die anderen ja, er nicht. Dabei sah man ihm den Tod an, den er nicht wahrhaben wollte, glühende Augen in tiefen Höhlen, gelbe pergamentene Haut über den Wangen, schüttere Haare, Zähne, die er aus dem Mund nahm und in die Tasche steckte. Der Rechtsanwalt stand vor ihm wie vor einem Gerichtspräsidenten, hielt seine Plädoyers und dozierte Römisches Recht, das bekannt‐ lich eingeführt worden war, um Eigentum und Körper des Menschen zu schützen. Alle unsere Gesetze leiteten sich von diesem Römischen Recht ab, es gelte daher mit Nachdruck, den Kern des Rechts, Eigentum und persön‐ 104
liche Unversehrtheit ... und da würde er niemals ... bis an sein Lebensende ... seine heilige Pflicht und Auf‐ gabe ... Mitten in einer heftigen Rede sah der Rechts‐ anwalt an einem sehr schönen Tag erschrocken aus dem Fenster auf vorbeiziehende Wolken. Stille breitete sich aus. Das Meer rauschte in seiner ununterbrochenen Bewegung, er schien dieses Tag und Nacht anhaltende Geräusch zum erstenmal zu bemerken. Breitbeinig stand er vor seinem Bett, Blut lief aus dem zusam‐ mengekniffenen Mund, dann fiel er vornüber auf den Boden, genau auf den zerfurchten Canyon, das Spin‐ nennetz über ihm erweiterte sich mit leisem, unheil‐ vollem Knistern. An den Tagen, an denen er alleine im Zimmer lag, erschien regelmäßig der Schachmeister mit seinem Schachbrett aus Elfenbein und dem revolutionären Volkstribun im Gefolge. Der Schachmeister spielte die‐ ses königliche Spiel, wie er es immer nur nannte, mit sich alleine, es war eine Galavorstellung, in der er alle Finessen dieses Spiels vorführte, dabei nie die Namen der großen Schachgenies vergaß, die die denkwürdig‐ sten Spielzüge erfunden und der Menschheit hinterlas‐ sen hatten. Er durfte zusammen mit dem Revolutionär zusehen, denn es ärgerte den Schachmeister, sich mit Laien und allzu vielen Erklärungen abzugeben, er wollte die subtilen Feinheiten des Spiels genießen. So siegte und verlor er souverän immer gegen sich selbst, was er mit einer triumphalen Überlegenheit vorführte: Schach ist ein Spiel, das den Krieg abstrahiert und in Ästhetik verwandelt. Tote und Verletzte auf einem Schlachtfeld, Soldaten und Offiziere unter einem dikta‐ 105
torischen Herrscher, wer will das sehen. Bauern und Läufer und Springer und eine Dame und ein König auf quadratischen Feldern, das ist ein angenehmer Zeitver‐ treib. Es ist wie mit der Kunst. Sie verwandelt das Leben in Schönheit. Wofür zahlt man? Doch nicht für die krude Realität. Die bekommt man umsonst. Der Re‐ volutionär flüsterte mit seiner einst so großen Stimme, die ganze Völker auf die Barrikaden treiben konnte: Die Kunst soll die Realität erkennen. Sonst hat sie keine Existenzberechtigung. Schach ist die größte Zeit‐ und Denkverschwendung, die es gibt. Eine Täuschung, die uns von der Veränderung der Realität abhält. Niemals würde ich Schach spielen. Jede Stunde, die man nicht der Revolution widmet, ist eine verlorene Stunde. Zeit‐ und Denkverschwendung! Der Schachspieler, liebevoll über seine Figuren gebeugt, konterte regelmäßig: Zeit ist eine Illusion. Es gibt sie gar nicht. Was bemerken wir? Winzige Veränderungen von hell und dunkel, ein langsames Werden und Vergehen, eine kurze oder lange Dauer. Ordnung und einen überschaubaren Ablauf und ein zielgerichtetes Handeln bietet in dieser Welt nur das Schachspiel. Und Denkverschwendung? Ach du lieber Gott. Wer denkt denn schon. Die meisten glauben. Und woran glauben sie? Es lohnt sich nicht, darüber zu diskutieren. Der Revolutionär fragte, stolz auf seine rhetorische Finesse: Und warum soll man nicht auch mal an die Revolution glauben? Sie würde Ordnung und Ablauf und zielgerichtete Bewegung in das Leben bringen. Warum verwehrst du den Men‐ schen, was du deinem Schach zugestehst? Der Schach‐ spieler blickte für seine wohl schon tausendmal 106
gegebene Antwort nicht einmal vom Schachbrett auf: Damit Seidenstrümpfe durch lange Hosen ersetzt werden. Na, ich danke. Wenn das die Ordnung sein soll. Vergessen wir das Leben, schätzen wir die Kunst. Oper, Ballett, Malerei, Literatur, schöne Stimmen und strahlende Musik, edle Körper in abgemessenen Bewegungen, angenehme Farbtöne in schönen Rahmen, kostbare Worte in Saffian gebunden. Das war der rhetorische Endpunkt des Dauerstreits, der bei dem Revolutionär regelmäßig einen Erstickungsanfall auslöste. Er stieß noch hervor: Reaktionäre Scheiße, ohne einen Funken Geist. Dann verkrampfte sich sein Körper in Luftnot, schweißgebadet saß er da, nach Atem ringend, die Augen aufgerissen, den Mund weit geöffnet, die tiefliegenden Kuhlen in seinen Schlüssel‐ beinen füllten sich mit Schweiß. Er bekam seine Spritze. Der Schachspieler spielte nicht weiter, wartete pietät‐ voll, bis sein Zimmergenosse schwer schnaufend wieder halbwegs Luft bekam, und füllte diese schreckliche Zeit mit philosophischen Betrachtungen, die er mehr für sich sprach: Das Unglück ist, geboren zu sein. Danach kann man nicht mehr viel machen. Auch die im Glück sind verloren. Kennst du die Zeit, in der du geboren wirst? Du kennst sie nicht. Sie wartet auf dich, um dich zu verschlingen. Ehe du das Leben erkennst, ist es vorbei. So ist es. Jegliches Wissen ist nur Narretei. Lest Gracian, Marc Aurel, Machiavelli. Applaus Applaus für diese erhellenden Zugaben zum Leben. Sie nützen leider überhaupt nichts. Der atemlose Revolutionär wollte dazu etwas sagen, er war entschieden im Nachteil, wischte die Worte daher mit einer Handbewegung weg. 107
Sobald er aber seine Stimme wieder herausstoßen konnte, arbeitete er rhetorisch weiter an der Verbes‐ serung der Welt, selbst von diesem Ort aus, selbst aus dieser Verbannung heraus. Der Schachmeister beugte sich über das schwarz‐weiße Elfenbein und die wert‐ vollen geschnitzten Figuren, die er behutsam anfaßte, berührt geführt, der Streit ging von vorne los, das Thema war kompliziert und hartnäckig angelegt, wurde mit immer neuen Eröffnungen wie ein Schachspiel weitergeführt, nur unterbrochen durch die dringend notwendige Spritze, die den Revolutionär vor dem Er‐ stickungstod bewahrte. 108
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Ich beobachte ihn. Er liegt in seinem Bett und denkt. Woran denkt er? An all die Erzählungen? Möglich. Der junge Mann bewegt sich nicht, ist in Gedanken. Was geht ihm durch den Kopf? Alte Geschichten? Wahrscheinlich. Ich bin der junge Mann, und ich be‐ obachte ihn, wie er regungslos in einem Bett an einem Fenster liegt. Versunken in dunkle Bilder und uner‐ klärte Sätze, die einen Kokon bilden, der ihn schützend aufnimmt, ihn umschließt, dichte Hülle seiner Einsam‐ keit. Vor dem Fenster das Meer. Langgezogene Wellen in ordentlichen Reihen, hintereinander am Strand auflaufend, weiter draußen schwere Wogen im kalten Wind, aus der Tiefe aufsteigend, in einem eisigen Grün, mit gleichmäßig verteilten weißen Schaumkronen. Am Horizont ein Wolkengebirge, ein in der Sonne liegender Gletscher, das Sichtbare begrenzend, ins Meer ab‐ stürzend. Ich sehe die Person, die ich bin, die ihr Leben erkennt in den ungeschriebenen Geschichten der Toten, einem versteinerten Meer, von dem keiner mehr weiß, in dem einmal alle aufgehoben waren. Er dreht sich zur Seite, sieht nicht mehr den rot verschorften Boden und die schwarzen Risse in der Decke, blickt auf die grün‐ schimmernde Wand, die sich weit öffnet in eine ver‐ 109
gangene Welt. Das Sonnenlicht verändert die Farben, der Boden glüht, die weiße Decke leuchtet, das Abend‐ licht verwandelt die aus Illustrierten herausgeschnitte‐ nen, an Heftzwecken hängenden Bilder von Malern aller Zeiten in durchlässige Ikonen. Goldfarbene Schatten, ins Dunkle absinkend, füllen den Raum wie eine Schatzkammer, vergehen im Sternenlicht der sil‐ bernen Nacht. Ich sehe den, der ich bin, und ich sehe ihn in einer unendlichen Aufeinanderfolge von Ge‐ schichten. Erinnern oder vergessen. Wozu sich erinnern? Woran sich erinnern? An wen sich erinnern? An die Zeit, die in keinem Kalender steht, von der keine Aufzeichnungen existieren, in der Jahrzehnte nur vergangene Ewigkeit sind, ineinanderfließendes Hell und Dunkel, nirgends eingetragen und festgehalten, in keiner Chronik, in kei‐ nem Tagebuch, weil es das Selbstverständliche war: tägliche Handgriffe, nächtliche Worte, hungernde Sorge, gewitztes Können, wissendes Lachen, vergeb‐ liche Tränen, so voller Leben, und doch nur eine Bewe‐ gung zum Tode hin, in der stetigen Wiederholung un‐ vermessen wie das Meer. So wie die Karten von Küste zu Küste reichten, von Kontinent zu Kontinent, da‐ zwischen die blaue Fläche, die »Die See« genannt wurde und unbekannt blieb. Wie die Eintragungen der vermessenen Position eines Schiffes zwischen zwei Häfen, um der gleichmäßigen Wasserfläche den Ablauf einer Bewegung entgegenzusetzen, so waren auch die täglichen Handlungen, Gedanken, Gespräche, die immer neu zu bestimmende Position des Lebens zwischen Geburt und Tod, auch wenn es nur die täglich 110
wiederholte Gewohnheit war, so war es doch die einzige Möglichkeit, dem Leben eine Bedeutung zu geben. Wenn es für einen Liegenden kein Leben gab, nur die Beobachtung und unermüdliche Registrierung der Bewegung und ihrer Wiederholung, so blieb doch die Erinnerung daran unabweisbar, das Denken an Menschen, die ununterbrochen ihre Welt erschufen, die die immerwährende Zeit mit ihren Taten und Handlungen und Kämpfen und den Geschichten davon eingrenzten, die Tage benannten, die Monate bezeich‐ neten, die Jahre zählten, Geburt und Hochzeit und Tod festhielten in alten Ritualen, weggeschwemmt, neu errichtet, wieder verloren und wieder neu errichtet, verblaßt in Resten von Gesprächen, dunklen Bildwelten, alte Namen, die sich zu keinem deutbaren Mosaik zusammensetzten, Bruchstücke gelebten Lebens. Und so unzusammenhängend sie waren, so sinnlos sie erschienen, so waren sie doch das Leben, an dem alle einmal teilhatten, und nur die Erinnerung daran hielt den Menschen aufrecht. Wie das ablaufende Gewicht einer Uhr von vergangener Zeit erzählte, so erschufen die Erinnerungen erst den Menschen. Weit hinter den Gedanken des Tages bestimmten sie die Nacht, in der Träume und Verlorenes herrschten, Bilder, die schwächer wurden, undeutlicher, sobald man sie fassen wollte, kaum noch erkennbar, nur noch zu erahnen, eine vage Empfindung, unbestimmbar, in der Vielzahl einander überlagernder Bilder und Worte, die ungeordnet auftauchten im erdrückenden, atem‐ losen Dunkel, und ihn in der Erinnerung auf eine 111
unerklärliche Art aufrecht hielten, vor dem Tod be‐ wahrten, so wie die Schwere einer Balancierstange den Seilläufer aufs Seil drückt und vor dem Absturz be‐ wahrt, so hielten ihn diese Nachtgedanken — das versunkene Abbild dessen, was die meisten Menschen ihr Leben nannten, eine Zeit ohne Sinn und doch das Seil, das den Seilläufer auch im Absturz noch hielt, wenn es ihm gelang, sich daran festzuklammern, we‐ nigstens so lange, bis das Gewicht des Körpers ihn nach unten riß. Abschiedsbilder, die das Unzusammenhängende der Welt ihrem ordnenden Zeremoniell unterwerfen, un‐ vergessen das Ritual, mit dem Menschen aus der Welt gehen, sich voneinander trennen. Der letzte Hände‐ druck, die letzte Umarmung, die letzte enge Verbin‐ dung zweier Körper, Jahre gemeinsamen Lebens hinter einem vergeblichen Lächeln, im verschlossenen Blick der Einsamkeit, gestellt wie bei einem Fotografen. Ab‐ schied. Ein dunkler Raum mit stummen Personen in der frühen winterlichen Dämmerung, keiner dachte daran, das Licht einzuschalten, weil sie diesen Moment nicht eigenmächtig beenden wollten, das Licht hätte eine Handlung bedeutet, andere Handlungen ausgelöst, den Aufbruch zum Bahnhof, den alle hinauszögerten, weil dies das letzte gemeinsame Bild war; wie man vor einem offenen Grab noch Sekunden stehenbleibt, zö‐ gert, sich abzuwenden, um das Unabänderliche für ei‐ nen Atemzug aufzuhalten, ein kurzer Augenblick, der sich in der Erinnerung zur Ewigkeit dehnt. Abschied. Der große Koffer, den Raum beherrschend, ein fremder Gegenstand, der nun wie ein Grenzstein zwischen ihm 112
und seiner Familie stand, gepackt, zugeklappt, ab‐ geschlossen, drei Schlösser, zusätzlich gesichert mit ei‐ nem ledernen Hosengürtel, eine unüberwindliche Bar‐ riere zwischen ihm und den anderen. Abschied. Seine Mutter saß regungslos auf einem Stuhl, schwarz geklei‐ det wie bei einem Trauerfall, ihr Körper wurde eins mit der schattenlosen Dunkelheit, das blasse erstarrte Gesicht bewegte sich nicht, die Augen sahen hilflos in eine vergangene Zeit. Sein Vater hinter einem Stuhl stehend, die Lehne umklammernd, daß die Knöchel weiß hervorstanden, den Kopf gesenkt, die krausen Haare wie immer, wenn er seinen guten Anzug trug, mit Wasser glattgezogen. Abschied. Sein Großvater vorgebeugt in einem Sessel mit seinem grimmigsten Gesicht, den Spazierstock zwischen seinen Beinen in schnelle Umdrehungen versetzend, so daß der gebo‐ gene Handgriff einen Kreis bildete, die sarkastischen Worte gegen die Welt, zurückgehalten hinter schmalen Lippen. Seine Großmutter, aufrecht stehend, mit ihren streng zurückgekämmten weißen Haaren. Die Schwe‐ ster seines Vaters, immer noch blond, nervös an ihrem Fuchsschwanz zupfend. Abschied. Sie entfernten sich, aufgesaugt von der Dunkelheit verschwanden sie, wur‐ den zum Erinnerungsbild. Die weißen Haare mit dem Schildpattkamm. Der zerzupfte Fuchsschwanz mit den dummen Glasaugen. Die grimmige, zu allem entschlos‐ sene Miene und der sich drehende Spazierstock, ange‐ trieben von den unruhigen alten Händen. Die weißen Knöchel über der Stuhllehne und das mühsam mit Wasser gebändigte Haar, der Kopf genauso gesenkt wie am Grab seines Bruders. Den in der Dunkelheit wie in 113
einer zeitlosen Vergangenheit verschwindenden Körper einer Frau in Trauerkleidung, die ihm einmal mit melodiöser Stimme vorgelesen hatte, die ihm die verlorene Sprache Wort um Wort wieder beigebracht hatte, die ihn aus einem einstürzenden Luftschutzkeller rettete, durch einen Krieg schleppte und in tausend Nächten an seinem Bett saß — jetzt eine schwarze Sta‐ tue mit hartem, unbewegtem Gesicht und versteinerten Augen, in einer gefühllosen Erstarrung nahe dem Tod. Er war erleichtert gewesen, als der Zug endlich ab‐ fuhr. Nicht, daß er sich nach dem Tod sehnte, das nicht, aber es war ihm in diesem Moment egal, ob er nun sterben würde oder ob er noch einmal zurückkehren würde, eine Gleichgültigkeit breitete sich in ihm aus, die mit jedem der vielen Kilometer, die ihn von seiner Heimat entfernten, stärker wurde. Er empfand seine Trennung von der Welt so deutlich, daß er den Tod als eine fast angenehme, seine Gedanken mit Befriedigung erfüllende, den Körper vollständig entspannende Aussicht ansah. Ein verdienter Schlaf nach langer unnützer Arbeit, die Apathie eines Sonnenuntergangs, die einen rastlosen Tag in Frieden verabschiedete, um der stillen unbeweglichen Nacht zu weichen. Dem Tod mußte man nachgeben, das wußte er, dafür war er zu oft dem Tod nahe gewesen, man mußte ihm entgegen‐ kommen, dann zog er sich oft noch einmal erschrocken zurück. Wenn man sich dagegen verhärtete, mit aller Kraft, die einem noch blieb, gegen ihn ankämpfte, dann hatte er einen gleich am Haken. Dann war es sowieso aus. Menschen, die so starben, hinterließen ein schreck‐ liches Gesicht, das mühsam zurechtgeknetet werden 114
mußte, damit wieder einige freundliche Falten erschie‐ nen; andere, die mit einem Es ist so weit, es ist genug, nun soll es sein starben, lagen wie in einem beruhigten Schlaf, als hätte man ihnen noch einmal ein Gedicht vorgelesen. Der Handelsvertreter erkundigte sich hustend als erstes nach dem Raucherzimmer, winkte ab, als er den Gong erklären wollte, er kannte die Chose, wie er hustend sagte, war schon in vielen Sanatorien gewesen, rannte hustend mit flatternden Hosenbeinen und in einer sich um seinen Oberkörper faltenden Jacke über den Flur, fühlte sich hustend immer noch als dicker Mann, der er wohl einmal war, als Generalvertreter, der anderen die Bedingungen stellte: Davon kann ich Ihnen nur hundert Stück liefern, zwanzig Stück akzeptiere ich nicht, wo bleibt da meine Provision. Der Handelsvertreter blieb lange, er war zäh, war mit der Krankheit aufgewachsen, und er konnte hustend lachen über diese ganze Scheiße, wie er das Leben nannte — er akzeptierte nie einen anderen Begriff da‐ für —, konnte hustend lachen, daß das Bett wackelte, hustend lachen, daß er tatsächlich aus dem Bett fiel, auf dem Boden weiter hustend lachen, bis er in seinem Hu‐ stenlachen fast erstickte, Husten und Lachen endgültig eins wurden, nicht mehr zu unterscheiden, so daß der besorgte Zuhörer nicht wissen konnte, wie schlecht es ihm ging, ob er mehr hustete oder lachte, lachend hu‐ stend würde er sterben, schrie er dann in atemlosen Tö‐ nen, im Sarg würde er noch lachen, und im Grab würde er so lange husten, bis es ein Erdbeben gäbe, und alle 115
diese Hühner, wie er den Rest der Menschheit nannte — und auch hier akzeptierte er keinen anderen Begriff —, von ihrer Stange fielen. Er war vielleicht nicht sehr gebildet, aber er war nicht dumm oder einfältig, den Begriff »gesunder Menschenverstand« hätte er verächt‐ lich abgelehnt, dafür hatte er zu viele Menschen ken‐ nengelernt, und weil er so viele Menschen und Lebensgeschichten in seinem Kopf hatte, konnte man sein Wissen eher als eine enzyklopädische Menschen‐ kenntnis bezeichnen. Er betrachtete die Welt als eine ziemlich miese Theatervorstellung mit verlogenem Text und geheuchelten Gefühlen, eine Welt, die in schäbigen Kostümen und heruntergekommenen Kulissen abge‐ leierte Zugaben spielte, sich selber da capo zuschrie, unter dem Deckmantel des eigenen Beifalls ständig neue Gastspiele plante, die aber immer nur den letzten Auftritt wiederholten. Der Handelsvertreter sah diese ganze Bagage beim Abschminken hinter dem roten Samtvorhang im verstaubten Goldplüsch, hohle Gesichter, feiste Körper, fade Gesten, die sich unerkannt und verlegen aus dem Bühneneingang in die Dunkel‐ heit schlichen, weil ihre Worte und Taten im Rampen‐ licht der Bühne mit ihren Handlungen im Leben nicht übereinstimmten. Die schmachtend Liebende ging fremd, der edle Held war korrupt, die Heroine eine Denunziantin, der Heldenvater ein gewissenloser Büro‐ krat. Er hatte seine Erfahrungen gemacht und fand, die einzig angebrachte und gerechte Haltung zu diesem Theaterstall sei das Lachen darüber. Er war wohl in jungen Jahren Schauspieler gewesen, weil er im Theater mit dem Überschwang der Jugend die Wahrheit 116
vermutete, sprach aber ungern darüber, wich aus: Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage, da steh ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor, nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein, du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen, o, wer sich einmal auf den Kopfsehen könnte, das ist eins von meinen Idealen, die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen, und jedermann erwartet sich ein Fest. Er erhielt bei diesen Darbietungen spontanen Beifall, der ihn unbeholfen machte, es war für ihn ein abgetanes und vergangenes Leben, von dem nur kunstvolle Worte geblieben waren, das Leben selbst hatte sich in Luft aufgelöst. Zusammengesunken auf der Bettkante sitzend, die Hände tief herabhängend, den Kopf wie ein allzu schweres Gewicht auf der Schulter, hatte der Handels‐ vertreter nach diesen Monologen ein so leeres Gesicht, daß man Angst bekam, Christus am Kreuze, verknö‐ chert, unrasiert, ungekämmt, mit einem schiefen offe‐ nen Mund; eine weggehängte Marionette. Er lebte nur, wenn er anderen etwas vorspielte. Allein auf der Bett‐ kante kamen ihm oft Tränen, er weinte krampfartig, verdeckte es mit seinem hysterischen Lachen, so daß man nicht wußte, kamen die Tränen vom Lachen, oder war es ein Lachen über die Tränen. Sein Lachen über die Welt konnte auch ein Weinen über sie sein, das er schauspielerisch maskierte, mit dem er sich aufrecht hielt, um nicht in einem Amoklauf zu enden. Über‐ gangslos sagte er einmal: Ich habe noch keinen Men‐ schen getroffen, der es wert war, ein Mensch zu sein. Nach diesem endgültigen Urteil schwächte er den Schuldspruch wie ein Komödiant wieder ab: Es sei 117
denn, er hätte geschwiegen, aber welcher Mensch schweigt? Und schon lachte er wieder darüber, weinte darüber, lachte, weinte, eine tanzende Marionette zer‐ störter Gefühle, dann wieder für Stunden das leere, ausdruckslose Gesicht. So schlief er ein, schwankte schlafend mit dem Oberkörper, wachte in einem Hustenanfall auf, lachte, weinte, hustete. In der Abenddämmerung der länger werdenden Tage eines frühen Sommers, der die Menschen zum Erzählen bringt, weil er Hoffnung auf das ferne Leben weckt, eine klare, helle Stimmung, die die Gedanken ins Freie läßt, auch wenn der Körper noch eingesperrt ist, legte der Handelsvertreter sich mit dem Kopf ans Fußende seines Bettes, um den Himmel im offenen Fenster zu beobachten, die Schönheit dieser nicht endenden Tage zu genießen: Im Krieg wurde ich einmal in ein Erschießungskom‐ mando abkommandiert. Frauen und Kinder vor einer Grube. Der Hauptmann mit Helm, wie vor einer großen Schlacht. Die Frauen und Kinder hatten nur Lumpen an, standen da ohne Schuhe und Mantel im Matsch. Hinter sich die Grube. Wo war der Feind? Ich war Soldat. Wo waren die Soldaten der anderen? Ich trug eine Uniform. Wo waren die Uniformen der anderen? Was sollte diese dumme Schießerei auf Bettler? War so ein Tag wie heute. Blauer Himmel mit kleinen weißen Wölkchen. Milder Wind wie Abendhauch. Blumen auf einer Wiese. Ein Pferdegespann vor einem Dorf. Früher hätte man so etwas gemalt. Ich bin aus dem Glied getreten, hab mich geweigert mitzumachen. Schöne Tage hatte ich. Schöne Tage, sag ich dir. Strafversetzt. Das erzähl ich dir nicht, 118
man soll nicht die Schrecken der Welt in eine junge Seele setzen, aus dieser Saat entsteht nur Blut und Gewalt, obwohl, ich war neunzehn. Der Handelsver‐ treter machte eine lange Pause, in der er seine Augen nicht von einer vorbeiziehenden Wolke ließ: Nach dem Krieg bewarb ich mich bei einer dieser ganz alten, ganz großen Firmen. Wer sitzt da vor mir als Personalchef? Mein Hauptmann. Ohne Helm. Aber schon wieder im Dienst. Da wurde meine Strafe nach dem Krieg fort‐ gesetzt. Und nicht auf Bewährung. Meinst du, ich hätte eine Anstellung in einem nennenswerten Unternehmen bekommen? Unsere Ehre heißt Treue, wenn du ver‐ stehst, was ich meine. Der Handelsvertreter gab sich der Beobachtung der nächsten Wolke hin, wartete, bis sie aus dem Fensterrahmen verschwand: Der Krieg ist nicht vorbei. Die Kerle führen immer noch Krieg. Die schla‐ gen jetzt die Entscheidungsschlacht. Operation Wirt‐ schaftswunder. Das ist ein Deckname. Keiner weiß, was dahintersteckt. Keiner weiß, was dabei herauskommen wird. Was hat ein Wunder mit Wirtschaft zu tun? Gott der Gerechte erkläre mir die Welt. Die Fabrikation und der Verkauf von Waren ein Wunder. Dieses Wirtschafts‐ wunder ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Es kommt aus dem Krieg. Wo wird es enden? Nichts was aus dem Krieg entstand, hat je den Frieden erschaffen. Aber ich sage dir, die Menschen wollen den Krieg, sie wollen ihn. Die große Schlacht, das ist ihr Traum, der Frieden, das ist nur ihr langweiliger Alltag. Eine Weile gab der Handelsvertreter sich dem ver‐ goldeten Blau des Sommerabends hin, das wie auf ei‐ nem mittelalterlichen Bild über dem Haus stand, der 119
Farbpalette eines Malers entsprungen, der Harmonie, Weisheit und Glück darstellen wollte: Aber ohne mich. Wer damals nicht mitgemacht hat, der macht auch heute nicht mit. Es herrscht Krieg. Die Menschen treten sich für Geld in den Dreck. Damals mitmarschiert. Heute mitmarschiert. Die Angestellten befolgen die Be‐ fehle ihrer Vorgesetzten wie eine gutgedrillte Armee. Als Handelsvertreter ist man frei, ein großes, würdiges, ehrliches Leben, ein König Ohneland reist mit dem Gefolge seiner Waren von Sommer zu Sommer, um den Untertanen in seinem Reich zu einmaligen Vorzugs‐ und Sonderpreisen die Scheiße anzudrehen, die sie unbedingt haben wollen, ohne die sie nicht leben können und nicht zufrieden sind. Laß die anderen an ihr Wunder glauben. Sie bauen keine Dome mehr, sie bauen hohe Häuser mit sich drehenden Restaurants im 198. Stock. Beim heiligen Feuer eines flambierten Bœuf Stroganoff werden sie auf die Dome herabsehen und fragen, was sind denn das für vertrocknete Ameisen? Der Mensch will auf der Erde glücklich sein. Das ist ihm nicht zu verdenken. Und deshalb traut sich keiner ihm zu sagen, daß man auf der Erde nur unglücklich sein kann. Alles Streben ist vergebens, alles Hasten ohne Sinn, die Hoffnung lächerlich. Der Weihrauch des Kaufens verflüchtigt sich rasch, zurück bleibt nur der graue Stein der leeren Städte. Gott ist unsichtbar. Kein Frommer hat ihn je gesehen, und sollte er jeden Tag gläubig in die Kirche gehen und ihn anbeten, noch nie ist er erschienen. Und der Pastor hat wie der Handels‐ vertreter die Aufgabe, diese kosmische Abwesenheit durch Worte zu füllen, die die Hoffnung entgegen dem 120
Wissen aufrechterhalten, den Glauben an das nie Gesehene rechtfertigen, die Erlösung immer wieder aufs neue versprechen, dermaleinst. Und so redet auch der Handelsvertreter wie der Pastor, und seine Worte erwecken den Glauben, das abwesende Glück komme mit der neuen Ware, auf daß man der Welt vertraue, die so wunderbare Sachen fabriziert. Leider ist die Welt ein Abgrund aus Angst und Furcht, Haß und Neid, Gewalt und Lüge, absolut nicht vertrauenswürdig, aber das weiß jeder, trotzdem hofft er, entweder kommt dann der nächste Handelsvertreter oder der Pastor. Lebhaft und aufgedreht fuhr er fort: Ein Verkaufs‐ gespräch baut man wie eine Sonntagspredigt. Auch ein Pastor muß jahrein, jahraus etwas verkaufen, was im Grunde genommen keiner haben will. Wer will schon gut und anständig sein, ein ehrliches Leben fuhren und niemals lügen? Wer? In Worten jeder, aber im Leben? Da heißt es zupacken, da heißt es losschlagen. Wer erst die guten Taten vor Augen hat, der wird niemals reich. Und reich werden wollen doch alle. Wie ist egal. Wer Geld hat, der hat auch den Segen. So herum ist das Le‐ ben zu ertragen, wenn man es auch dabei verliert, das ist eben der Preis dafür. Umsonst ist der Tod, den will keiner haben. Da zahlt man lieber mit dem Leben. Also, wer zögerlich den Laden betritt, ist schon verloren. Das erste Wort ist: Nein, brauchen wir nicht. Recht haben die Leute, aber es muß trotzdem verkauft werden. Dann folgt: Unser Lager ist voll. Aber nicht mit dem neuen Modell, Madam. Schöner und preiswerter als das alte und mit einem zusätzlichen Schaltvorgang — der ist zwar überflüssig, aber wer spricht davon? Es ist neu 121
neu neu und hält fast ewig, während das Modell davor bald auseinanderfällt. Also zugreifen, ehe die Konkur‐ renz kauft, da müßte ich erst nachbestellen, wer weiß, ob es dann nicht schon teurer ist, vielleicht sogar vergriffen. Frisch die Tür aufgerissen, strahlend wie der junge Tag in den Laden, die Ware wie ein kostbares Geschenk auf die Theke, der Chefin in die Augen geschaut und bei allen Heiligen der Schwur, sie werde jeden Tag jünger, und schon ist man am Drücker. Der Schwur ist bedeutungslos. Sie weiß, daß ich lüge, ich weiß es, und doch glaubt sie daran. Warum auch nicht? Ich glaube es ja auch, würde ich sonst schwören? Chefin, es ist die Wahrheit, jeden Tag jünger. Sie lächelt, wäre es doch nur wahr, Freude, Liebe, Zärtlichkeit, wie schön ist so ein Leben. Ein Traum. Und dann präsentiert man die Ware, reell und bescheiden im Preis und mit großen Worten für ihren wahren Wert, Worte so alt wie die Menschheit, sie wirken immer, die Menschen hun‐ gern nach großen Worten. Tausendmal gehört. Tau‐ sendmal verführt. Jugend, Schönheit, Glück, strahlendes Leben im Glanz der Sonne; für einen solchen Traum aus Worten zahlt man gerne. Der Preis spielt keine Rolle mehr. Der fällt erst am nächsten Tag auf, wenn es wieder heißt, im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen. Mit dieser Methode bin ich gereist, auf Rabatt und Kredit, mit Armbanduhren und Reiseweckern, Dampf‐ bügeleisen und Dampfkochtöpfen, Klopfstaubsaugern und Heißluftöfen, Allesrührern, Allesschneidern, Alles‐ klebern. Und immer wurde gefeiert. Bei mir immer fideles Haus. Bei jedem Abschluß: Darauf einen Dujar‐ 122
din. Asbach Uralt: Der Geist des Weines. Ist das Leben nicht so schön, kannst du in die Kneipe gehn. Beim König Ohneland, da heißt es lustig sein. Und schon schwenkte der Handelsvertreter seine an einem Kleiderbügel hängende Krawattensammlung, bunte Wimpel einer unbesiegbaren Fröhlichkeit. Der Weg zur Kneipe, unter Kennern nur »Rumstraße« genannt, eine schmale Fahrrinne, war das letzte Aben‐ teuer freier Männer bei Wind und Wetter, Kap Hoorn mit Orkan und haushohen Wellen, Barentssee, Schiff zwischen Eisbergen, Malakka‐Durchfahrt bei Gewitter und regenschwerem Monsun. Ab über die Mauer. Steife Brise voraus. Nächtliche Wolken auf großer Fahrt vor dem schreckensbleichen Mond. Hoch auf der Mauer der meuternde einbeinige John Silver mit seiner Krücke, drei Schlafanzüge übereinander, denn die Pfleger forschten am nächsten Tag in ihrer Einfalt nur nach nassen Anzügen. Klar bei Schiff. Aye Aye Käptn. Reise Reise. Wahrschau, Leute! Lichtet den Anker. Aye Aye Käptn. An die Brassen, Jungs. Ab in die Takelage. Auf die Rahen mit euch. Setzt das Focksegel. Dreht die Bramsegel in den Wind. Hoch mit dem Besansegel. Aye Aye Käptn. Klar Kurs. Klar bei Kurs. Nord Nordwest. Liegt an, Käptn. Den Wolken nach und quer durchs Land. Ahoi, meine Kleine. Alle Mann an Deck und feste untergehakt. Luv und Lee. Und keinen Wind gescheut. Daß mir hier keiner auf bange macht. Dreimal kielgeholte Fahrensmänner schrien hustend ihre Kom‐ mandos in den Wind. Altgediente Rumbootsmänner, die diese Fahrt ohne Kompaß, ohne Sterne und ohne 123
Sonne mit verbundenen Augen hätten steuern können, so oft waren sie diese Route schon gesegelt, hin und zurück bei jedem Wetter. Hol ein, hol ein, hörte man ihr Husten, wenn einer vom Wind ausgehoben wurde und abdriftete. Fest unterhaken, packt zu, vorwärts Leute, und sie wehten der Mannschaft voraus, Seebären wie sie waren nirgends mehr zu finden auf den neumo‐ dischen Dampfern der Meere. Schob der Sturm von achtern, segelte die Mannschaft königlich vor dem Wind, aufgeblasen wie ein Viermaster mit vollen Segeln auf Kurs, die »Isabella von Kastilien« mit drei Kanonendecks und Silvers Holz‐ krücke als majestätischer Galionsfigur. Kam der Wind seitlich, mußte gekreuzt werden, alle Mann in einer Reihe, untergehakt, schräg gegen die unberechenbaren Böen gelehnt, schlank und wendig wie eine englische Brigg, drehten sie im Wind und gingen erneut auf Kurs. Blies er von vorn, direkt ins Gesicht peitschend, mar‐ schierten sie hintereinander, jeder hielt sich am Vorder‐ mann fest, als stünde er auf einer Rah, um die Segel einzuholen. Drückte der Orkan von allen Seiten — um‐ laufende Winde, husteten dann die alterfahrenen Steuermänner und Kapitäne mit Patent für große Fahrt —, bildeten sie einen Kreis, ein heftig schaukelndes Rettungsboot. Der eine oder andere ging bei den umspringenden Winden und den für Anfänger komplizierten Manövern auch schon mal in die Knie, wurde vom Sturm verweht, hol bei, hol bei, Mann über Bord, und die Mannschaft bemühte sich, das verlorene Menschenkind wieder an Bord zu hieven; ein Glück, 124
daß man hier nicht ertrinken konnte, sondern schlim‐ mstenfalls in einem Knick landete. In der Ferne die tröstende, anziehende, verlockende Laterne des schützenden Hafens, die Rumkneipe. Kam der Wind von vorn, roch man schon von weitem den Rum, was die Jungs erheblich motivierte, so daß die Bootsmänner ihre Lunge nicht mehr allzusehr strapa‐ zieren mußten; schob er hartnäckig von hinten, schoß man so schnell in den Hafen, daß man glatt ein Glas mehr trinken konnte. Das war nicht unnötig, auch nicht fahrlässig, die Zeit war knapp, Schiffe liegen nur kurz im Hafen, und Matrosen müssen ihren Durst löschen. Bei der Hinfahrt dachten alle schon mit Schrek‐ken an die Rückfahrt, mit der ganzen Ladung von Rum in den Bäuchen, zwar durchgewärmt bis auf die Knochen, und mit Vertrauen auf die vielen Bootsmänner, Steuer‐ männer und Kapitäne, die schworen, mit ʹner Buddel Rum im Bauch — zum Deiwel auch — rückwärts segeln zu können und auf eine Schiffslänge genau im Hafen zu landen, in diesem Fall vor der Mauer des Sanatoriums, die manch großem, altem Fahrensmann doch noch zum Verhängnis wurde, unüberwindbare Klippe kurz vor dem Einlaufen, so daß die, die nicht mehr selbst hinü‐ berkamen, vom Rest der Mannschaft kurzerhand hinü‐ bergeworfen wurden, ahoi und goddamm, wer be‐ trunken ist, dem passiert nichts, wobei in der allge‐ meinen Abmusterung vom Schiff und der heimlichen und schnellen Auflösung der Mannschaft manch ein Seebär doch noch die Orientierung verlor und am anderen Morgen schlafend auf dem Friedhof lag. Ohne Rum hätte er eine Lungenentzündung bekommen, 125
meinten verständnisvolle Ärzte, so daß der Rum in diesem Fall lebensrettend, also medizinisch notwendig gewesen war. Aber davor lag die wohlige Wärme der Rumkneipe, eine schmale und enge Kajüte, in der jeder der Admiral seines Schicksals war. Das polierte Messingzeug schim‐ merte golden im Kerzenlicht, alte Positionslaternen leuchteten zur Orientierung, eine schwere Schiffsglocke wachte an einem Tau über der Theke. In den Ecken Fischernetze mit funkelnden Glaskugeln, bemalte höl‐ zerne Seejungfrauen winkten zutraulich. Freischwebend an der Decke ein ausgestopfter Schwertfisch, in klaren Flaschen Schiffsmodelle mit den Fahnen aller Ree‐ dereien, an den Wänden Fotografien von Schiffen und Häfen. Die Bänke längs der mahagonidunklen Holz‐ wand mit den Bullaugen zur Nacht, an der Wand fest‐ geschraubt und bequem, auch die Tische am Boden fest‐ geschraubt, Backbord und Steuerbord die aufglühenden Rumbuddeln mit verheißungsvollen Etiketten in allen Farben. Hier konnte man vor Anker gehen. Sturm und Seegang außen vor, na ja, nun denn, der Seemann brauchte Ermunterung: entweder drohte die tiefe See oder der Rausschmiß aus dem Sanatorium. Da kommt auch schon der heiße dampfende Grog auf silbernen Tabletts aus Mexiko, sicher serviert vom Hafenkapitän, der früher als Steward gefahren ist und auch bei Orkan keinen Tropfen verschüttet. Ablehnung wäre unhöflich, Landessitte, und siehe da, die Frauen hatten es auch geschafft, saßen an einem Extratisch und grienten. Der Major a. D. war auf seinem Leichter hier aufgekreuzt und hatte sie zum Einkaufen abgesetzt, muß auch sein, 126
Prost. Während die Frauen den Rum stark verdünnt tranken, achteten die Männer darauf, daß nur ein winziger Schuß kochenden Wassers ... nur grade so, um Gottes und der Seefahrt willen nur ja nicht den Rum verwässern, köstliches Getränk, Prost die Damen, allzeit gute Fahrt und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Später wurden die Reihen gemischter, die Dinge unklarer, sie waren nicht mehr so genau beim Namen zu nennen, die Bezeichnungen verwirrten sich, die Welt war schwerer zu durchschauen als gedacht, klarer Kurs und Zielhafen Fiktionen, die in un‐ vollendeten Erzählungen untergingen, find einer noch da durch, ich wollte eigentlich, was wollte er? das war doch damals, wann war das damals? das lag doch da, wo war man denn? das Durcheinander hieß Namenlos, jeglicher Begriff erwies sich als eine Absurdität, und auf hoher See sind bekanntlich alle in Gottes Hand. Der Rumwirt, der den Hafenkapitän spielt, Kapi‐ tänsmütze auf seinem windigen Gesicht, eintätowierter Anker auf der Brust, zur Besichtigung freigegeben, schlägt auch im tollsten Tohuwabohu exakt die Einzel‐ und Doppelschläge an der Schiffsglocke und ruft die Glasen der Wache aus. Mit seinem mexikanischen Silbertablett — hat mein Urgroßvater aus einem ge‐ strandeten Schiff geholt — jongliert er in eleganter Be‐ wegung zwischen den angeschraubten Tischen und Bänken, achtet trotz allem auf Quarantäne, holt die, die sich auf einer Holzbank ausstrecken, mit präzisem Griff wieder senkrecht, bindet sie, wenn sie renitent werden wollen, mit einem Seil und einem Schifferknoten an den Mast, einem starken Stützbalken, über dessen Anwe‐ 127
senheit man nun froh ist, wie man auch dankbar ist für das festgeschraubte Mobiliar, denn inzwischen hat man doch das Gefühl, die Kajüte sei mit einem Viermaster auf hoher See und rolle allzu sehr in Wind und Wellen, Festland ist das hier auf keinen Fall mehr, alles setzt sich in Bewegung, die Schiffsglocke bimmelt ununter‐ brochen SOS, die Messingstange an der Theke verfärbt sich dunkelrot, steht plötzlich senkrecht, und wer sich daran festhält, rutscht abwärts in die flammende Hölle, der Schwertfisch schwimmt sich frei, die Positions‐ lichter wechseln die Positionen, die Schiffe rutschen aus den Flaschen, hissen Flagge, laufen auf die Häfen zu, die an der Wand schwimmen, die hölzernen Seejung‐ frauen beginnen zu tanzen, der Hafenkapitän verwan‐ delt sich in eine Heulboje, dann legt sich das Fischernetz über sie alle, man ist ein Fisch, der im Netz zappelt: ein Kunstgriff des Hafenkapitäns und standhaften Rum‐ wirts, der die Mannschaft nicht mehr einzeln, das war er leid, sondern mit einem Fischernetz in Gruppen vor die Tür setzte. Es hatte irgendwelche Glasen geschlagen, die Wache war vorbei und mußte in ihre Kojen, und es war sein Amt, alle wieder dem Sturm und dem Regen und der furchtbar frischen Luft zu übergeben, weil man ja nicht erst am nächsten Mittag das Sanatorium mit Böllerschüssen wieder anlaufen konnte. Die meisten hatten doch zu viel geladen, waren voll, das wußten sie, obwohl sie in Maßen trinken wollten, so der unumstößliche Vorsatz, deswegen auch nur ab‐ gezähltes Geld mitnahmen, aber der Hafenkapitän gab in seiner Eigenschaft als Rumwirt Kredit — alle atmeten durch, der Rum blühte voll auf, der Geruch der Gruppe 128
weckte je nach Windrichtung die entferntesten Hof‐ hunde. Das kam aber alles nur daher, weil man so wenig Zeit hatte, in zwei Stunden mußte man alles hinunterstürzen, was für einen Tag gelangt hätte — ver‐ dammtes Sanatorium, dem Chefarzt schmeiß ich die Fenster ein —, und ab in die Dunkelheit wie eine Meute tollkühner Freibeuter, Totenkopf gehißt, und mit Ver‐ achtung gegen den Wind gepinkelt, aber jetzt hatte man auch noch die Frauen an Bord, bringt Unglück, bringt Unglück, doch oft waren sie die Rettung, weil der Weg unerklärlicherweise irgendwie verschwunden war, der Kurs plötzlich unklar, der Sturm manch einen, der es auf allen vieren versuchte, nicht mehr hochkommen ließ, und Neptun sei Dank nur noch die Frauen die großartig singenden Männer schwer untergehakt zum Sanatorium schleppten. Hier herrschte Stille. Nicht mal das leiseste Lied war erlaubt. Und wenn einer doch mit Matrosen ole losbrüllte und unbedingt La Paloma sin‐ gen wollte, bekam er von seinem weiblichen Lotsen kurz einen auf den Mund. Ende der Weltreise. Die Herren der sieben Meere krochen in ihre Betten, die Frauen lachten am nächsten Tag im Speisesaal. Die Halle, ein langgestreckter, dämmriger Raum mit verschrammten Wänden, vor denen immer einige Koffer standen, die vom Major a. D. mit den Anschriften trauernder oder nichttrauernder Angehöriger beklebt und abtransportiert wurden, während der hoffnungs‐ voll angereiste Kofferbesitzer keine Anschrift mehr brauchte, der verlassene Wartesaal einer Endstation. Durch die schmalen, rechteckigen Scheiben der eisernen Eingangstür wanderte das Licht über das Aufnahme‐ 129
büro, streifte ein undurchsichtiges Glasfenster, erreichte die Treppen, die ins Dunkle führten. Ein leerer Raum in großer Stille, die Verbindung zwischen innen und außen, eine Kapelle der Ankunft und des Abschieds. An einer Wand hing unter Glas, in den Frakturziffern des vorigen Jahrhunderts, die Tidetafel der Insel, eine ewige, sich stets wiederholende Zeit, die Sonne, Mond und Erde zwischen Zenit und Nadir, zwischen Spring‐ tide und Nipptide, in den Gezeiten des Meeres maß. Daneben, in verblaßten Farben, auf einem eingerissenen gelblichen Papier, die mittlere gedachte Sonnenzeit des Festlandes, hier dargestellt in der variierenden Eisen‐ bahnzeit. Die Koordination zwischen den beiden Zahle‐ nreihen unterstand dem Major a. D. Morgens um vier oder fünf, wenn Patienten in die Welt entlassen wurden, war die Halle überfüllt mit hektischen, durchgedrehten Menschen und nervösen, sich überschreienden Stim‐ men. Die ungewohnte Frühe, bestimmt von der Flut, das ungewohnte Aufstehen außerhalb der Ordnung, der Abschied von langjährigen Leidensgenossen, die Kopf‐ losigkeit der Abfahrenden, die zwischen Umarmungen und ihren Koffern und der nun endgültigen Abreise hin und her taumelten, nicht mehr Herr ihrer Sinne waren, zwischen Angst und Freude schwebten, denn sie konnten sich nach so vielen Jahren der Einsamkeit in einem Zimmer die turbulente und unbekümmerte 24‐Stunden‐Welt nicht mehr vorstellen, so daß alle doch noch in Tränen ausbrachen, was keiner wollte, aber nicht zu verhindern war, nie wurden so viele Glück‐ wünsche unter Weinkrämpfen ausgesprochen, bis die Realität in Gestalt des Majors a.D. in die Halle trat, die 130
sich Umklammernden trennte und in Abfahrende und Hierbleibende teilte, die Koffer in den Kleinbus trug, die sich noch einmal Umklammernden endgültig ausein‐ anderflocht, wobei es zu unerwarteten Reaktionen kam, einige Abfahrende wollten plötzlich wieder hierbleiben, weigerten sich, die Halle zu verlassen, hielten sich an der Tür fest, aber der Major a.D. kannte auch das, legte die Hilflosen mit geübtem Griff über die Schulter und warf sie ungerührt in sein Fahrzeug, das schwarz in der Dunkelheit stand — Scheinwerfer an und schon schoß der Wagen los und verschwand. Genauso schnell verschwanden auch die Hierblei‐ benden über die Treppen, jeder wollte wieder allein sein, träumte von seiner Entlassung, von seiner Abreise, die, je weiter sie entfernt war, fast unvorstellbar wurde, für viele zum Alptraum, zum erhofften und gleichzeitig gefürchteten Ende dieses Lebens fern der Welt. Und manchmal sah man in der Morgenhelle den Major a.D. ein weinendes Bündel Mensch wieder ins Haus tragen, das sich, kratzend und beißend wie ein verlorenes Tier, mit Händen und Füßen um sich schlagend, geweigert hatte, das Schiff zu betreten. Der Koffer blieb in der Halle stehen, der Major a. D. würde am nächsten Mor‐ gen dieses Bündel Mensch wie eine verspätete Geburt erneut in die Welt stoßen. Mit der Ankunft der Post öffnete sich das blinde Fen‐ ster für die in ungeduldiger Erwartung hintereinander stehenden Bademäntel und Trainingsanzüge. Ein Pfle‐ ger führte den Schalter nebenbei, für eine Stunde am Tag war er Postbeamter und Geschäftsführer eines Ge‐ mischtwarenladens. Es war derselbe Pfleger, der auch 131
als Friseur amtierte und jedem reihum alle drei Wochen die Haare schnitt, da er nur den Militärschnitt be‐ herrschte, sahen alle Köpfe gleich aus. Außer der Post gab es bei ihm Postkarten und Briefmarken, Seife, Kämme, Nivea und Kölnisch Wasser, Schlafanzüge und Nachthemden, Herren‐ und Damenunterwäsche, alles in mittleren Größen und einheitlichen Farben, Pantoffeln, Socken, Mützen, Sonnenbrillen und Spa‐ zierstöcke, das war alles, darüber hinausgehende Wün‐ sche waren unangebracht und wurden auch nicht er‐ füllt. Im Prinzip brauchte man in diesem Haus fast gar nichts, Besitz und Eigentum waren leere Worte, die Kleidung füllte einen schmalen Spind, alle hatten ihren Schlafanzug, ihren Trainingsanzug und die Hausschu‐ he, Bademäntel waren die Ausnahme, Erinnerung an vergangene, bessere Zeiten, für die Frauen der einzige Schmuck, vielleicht hatten sie auch noch ein schönes Nachthemd an, wer wußte das schon, die Sitten waren streng. Die, die sich von dieser Armut im Sarg ver‐ abschiedeten, hinterließen nichts, die Spuren ihrer An‐ wesenheit auf Erden waren schnell getilgt, die mit‐ gebrachte Kleidung wurde verbrannt, der Name gelöscht, zurück blieb eine Akte, eine Krankenge‐ schichte, in der niemand mehr las. Die, die entlassen wurden, nahmen aus dem Spind den Anzug, den Man‐ tel und die Schuhe, mit denen sie hierhergekommen waren, nicht ahnend, daß sie in eine modisch ver‐ änderte Welt zurückkehrten, die ihnen schon am Bahn‐ hof klarmachte, daß sie nicht mehr dazugehörten, als wären nicht drei Jahre, sondern dreißig Jahre vergan‐ gen. Was bei vielen im nachhinein die Frage auslöste, ob 132
es nicht doch besser gewesen wäre, das Heim im Sarg zu verlassen, um sich die Quälerei eines langsamen Todes in einer Welt zu ersparen, die sich neuen, für einen Außenstehenden undurchschaubaren Maßstäben unterworfen hatte, und ihnen mit einer blinden, erschreckenden und mitleidlosen Totalität anhing. Bis dahin aber war die Post das Wichtigste auf der Welt. Schwerwiegende Briefe wurden abgesandt, er‐ zählten von ärztlich verlängerten Aufenthalten und fragten nach dem Leben. Wer einen Brief bekam, war König oder Tor, je nach Inhalt, der von Zuneigung oder Trennung sprach, wer keinen bekam, war sowieso im Elend. So ergab sich der Austausch von Gefühlen wie von selbst. Trost und Rat, Beileid und Glückwunsch, Verständnis für Situationen, die da draußen keiner verstehen konnte, beim besten Willen nicht, wie sollten sie auch. So war dieser Raum zu gewissen Stunden das Zentrum des Hauses, in dem sich alle trafen. Schicker bunter Bademantel und strammer Trainingsanzug konnten sich hier unauffällig kennenlernen, anschlie‐ ßend ihre Plätze im Eßsaal vertauschen, miteinander zu Mittag und zu Abend essen, mehr Kontaktmög‐ lichkeiten gab es laut Heimordnung nicht. Männerflügel und Frauenflügel waren getrennt, von der Halle aus ging eine Treppe nach links, eine nach rechts, die Sache verband sich nicht, dafür hatte der Architekt gesorgt und das Pflegepersonal wachte darüber. Nun ist der Mensch phantasiebegabt und in Notzeiten erfinderisch, auch gibt es immer wieder Pflichtbewußte, die den Menschen zuliebe wissen, wann man beide Augen zu‐ drücken muß, um Anordnungen und Vorschriften in 133
ihre Schranken zu verweisen. Eine wahre Zivilisation drückt sich darin aus, daß einer die Hand öffnet und der andere etwas hineinlegt, um Unmögliches zu ermöglichen, wieviel Gutes und Sinnvolles kam auf diese Weise schon in die Welt, entgegen allen unsinni‐ gen Befehlen und Gesetzen, die das Leben nur unnötig verwirrten, während eine Handsalbe, wie es früher ein‐ mal so friedlich hieß, den direkten Weg zum helfenden Mitmenschen öffnete und alle Probleme löste. So begegneten sich schon mal Menschen in unzu‐ gänglichen Räumlichkeiten dieses undurchsichtigen Hauses, in Zimmern, die es eigentlich gar nicht gab, aber doch vorhanden waren, wie man auch manchmal hastige Schritte hörte, die über Nebentreppen die obere, dem Pflegepersonal vorbehaltene Etage wieder verließen, ohne daß einer hätte sagen können, wie die Person dort ungehört und ungesehen hinaufgekommen war. Durchgänge zwischen Dachboden und Keller führten irgendwie zusammen, gewisse Pflegeräume hatten Nebenräume, die sich zu anderen Zimmern öffneten, die wiederum eine Tür hatten, die wiederum ... Das Haus war in sich durchlässig und alle Räume rätselhaft miteinander verbunden, was gelegentlich dazu führte, daß diejenigen, die am Nachmittag nicht liegen mußten, sondern schon den Aufenthaltsraum benutzen durften, um sich dort — so die fürsorgliche Leitung des Hauses — mit Halma, Dame und Mühle, mit Mensch ärgere dich nicht und Schach, ja sogar mit Kartenspiel zu amüsieren, eine Verlobung feierten, eine Verlobung bis zur Entlassung — ein Hauch Rum hing zart in der Luft, und keiner konnte sich erklären, woher er kam. 134
Der Papagei, schon so lange hier, daß er als Faktotum des Hauses galt, überall freundlich mit anpackte, war früher Artist, Hochseil, Schlappseil, auch Hand auf Hand, zum Schluß, schon krank, ließ er sich als dummer August vom Clown auf Befehl des Weißclowns abwat‐ schen. Im Krieg zog er hinter der Front mit einem winzigen Zirkus auf ausgemusterten Militärlastwagen durch zerstörte Landschaften, ohne Zelt, von besetzten Städtchen zu besetzten Dörfern, auf der Suche nach Marktplätzen, die trotz verbrannter Fassaden und zer‐ schossener Häuser noch ein Publikum hergaben, ein‐ quartierte Soldaten vom Train, Verwundete aus Laza‐ retten, übriggebliebene zerlumpte Einwohner, nicht mehr zum Staunen oder zum Lachen zu bringen, Vor‐ stellungen im Schweigen ohne Beifall und Schlußap‐ plaus, gegen Militäreintopf aus der Gulaschkanone und Benzinnachfüllungen für die Lastwagen; durch ein Megaphon kurzfristig angekündigte Gala‐ und Bene‐ fizvorstellungen unter freiem Himmel in der Hitze einer staubigen Sonne, im kalten Regen oder im Schnee‐ matsch. Tiere hatte man keine mehr, eingegangen oder unter Tränen verspeist, denn mit dem Tier verschwand auch die kostbare Dressur. An eine Tourneeplanung war nicht zu denken, man zog dahin, wo gerade nicht geschossen wurde, obwohl schon mal eine verirrte Ar‐ tilleriegranate in die laufende Vorstellung schlug, aber das kannte jeder, sie traf oder traf nicht, das ängstigte keinen, wenn nicht gerade unglückseligerweise einige Arme, Beine oder Köpfe durch die Manege flogen; in einem Kriegszirkus mußte man damit rechnen, die Vorstellung ging weiter, ging weiter wie der Krieg, Ar‐ 135
tisten unter Beschuß, weiterspielen, weiterspielen, das Fangnetz wurde zum Tarnnetz, Lichter am Abend wa‐ ren tödlich, es gab daher nur Tagesvorstellungen, der samtene Auftrittsvorhang wurde zu einem Schlafsack, das Publikum sah nun auch die Vorbereitungen der Ar‐ tisten, die Lockerungsübungen, dennoch weiterhin der schöne Schein, Auftritt, Verbeugung, die eingeübte Nummer, Abgang, Tusch auf einem Stück Blech, die nächste Nummer. Aber Glück im Unglück und Unglück im Glück, wie der Papagei täglich sagte, der große Lebensbogen hatte ihn um den direkten Fronteinsatz, nach dem Krieg aber auch um den Frieden gebracht, hatte ihn aus einem Militärlazarett über verschiedene Stationen hierher geführt, wo er nun schon lange lag und auch für immer bleiben mußte, das Haus wie auf einem imaginären Seil durchschreitend, vorsichtig, Schritt um Schritt, mit den Armen balancierend, ohne Netz, wie er sagte. Lungen hatte er fast keine mehr, er sprach ohne Ton, eigentlich schon wieder eine artistische Leistung, auch seine Worte tanzten auf einem langen Seil, absturzgefährdet, ohne Stimme, auf einem endlos ausgehauchten Atem. Meis‐ tens saß der Papagei auf einem Koffer in der Halle, die ihm die Zirkuskuppel ersetzte, winkte heftig, wenn er ihn sah, sie hatten sich angefreundet, weil er zuhören konnte, denn die Stimme des Papageis war nur zu hören, wenn alles schwieg. Er hieß so, weil er immer die gleichen Fragen stellte, denn er war, was die neue Welt betraf, ein Unwissender geworden, der zerbombte Städte, zerstörte Landschaften in Erinnerung hatte. Jetzt phantasierte er wie ein Blinder, der nur Worte hört, um 136
sich die Welt da draußen vorzustellen, und fragte jeden Neuankommenden, ob alles wieder aufgebaut sei — Alles wie früher? Alles anders? Alles neu? Wie neu? Groß? Wie groß? Mit Buntstiften malte er auf kleinen Zetteln ein Bild von der Welt, wie sie in seiner Vorstellung existierte, eine Komposition aus Dreißig‐ jährigem Krieg und dem wunderbaren Land Utopia. Von der Welt weit da draußen drang wenig über das Meer. Mitteilungen kamen verspätet und unglaubhaft, so wie früher Karavellen mit märchenhaften Geschich‐ ten aus Südamerika eintrafen. Zeitungen gab es nicht, man las den Inselboten, das reichte den umliegenden Dörfern und sollte zur Nervenschonung auch den Pa‐ tienten reichen, man sah ja wie gesund die Ureinwohner waren; nicht angekränkelt von den Berichten einer ner‐ vösen Presse lebten sie nach der Tidetafel. Der Major a.D. brachte vom Hafen schon mal einige Zeitungen vom letzten Wochenende für die Ärzte mit, der eine oder andere Patient erhaschte einen Blick auf die Titelseite, die Schlagzeilen waren überholt, ihre Bedeu‐ tung blieb rätselhaft, sie enthielten Namen, die keiner kannte, woraus im Weitererzählen unerhörte Ge‐ schichten wurden, über die sich wiederum jede Zeitung gefreut hätte. Ein Radio besaßen nur die Ärzte, und am Sonntagmorgen, wenn das Wetter es erlaubte und ein Arzt schon mal das Fenster offenließ, versammelten sich die, die auf den Deich durften, beim Wunschkonzert unter dem Fenster, warteten auf die Nachrichten, ver‐ suchten sich alles zu merken, was schwer war, denn die Radiostimme verkündete ein einziges Kauderwelsch. Sie trugen das Gehörte, um jedes Wort bemüht, weiter, 137
keiner verstand es, die Nachrichtenboten schworen, das wären die Nachrichten gewesen, genau so, sie hätten ja auch nichts verstanden, alles sinnlos da draußen, unverständlich und unerklärlich, eine verrückte Welt. Mit dieser Beurteilung waren alle einverstanden, das konnte ja alles nicht mehr mit rechten Dingen zugehen. Genausogut hätte ein Isländer Nachrichten aus Singapur, Kapstadt oder São Paulo hören können. Wer so lange aus der Welt war, dem nützten Nachrichten nichts mehr, sie wurden unverständlich, weil die Zusammenhänge verlorengingen, die Voraussetzungen, auf denen die Nachrichten beruhten. Man vergaß das Beziehungsgeflecht der Gesellschaft, wußte nichts von den neuen Politikern und ihren Gesetzen und den Zahlen der Wirtschaft, hatte keine Ahnung von Lohner‐ höhungen und Arbeitslosen, von wechselnden Urlaubs‐ zielen und Skandalen und den vielen Kriegen rund um den Erdball. Es waren Nachrichten aus einem fremden, unbekannten Land, und das Interesse an Neuigkeiten ließ bei den meisten daher auch rasch nach. Als er einmal aus einem Brief seiner Familie erfuhr, daß die Stadtplaner die Menschen unter die Erde verbannen, dafür die Autobahn in Höhe der ersten Etage durch die Stadt führen wollten, am überbauten Fluß ein Rathaus planten, fast so groß wie die Stadt, und dafür eben Teile der Stadt abgerissen werden müßten, glaubte auch er gar nichts mehr, das waren doch alles Märchen, Schilda war dagegen ein Ort der Vernunft. Aber die da draußen in der Welt schienen nichts zu ahnen, sie lebten in ihrem Kauderwelsch und in ihrer Märchenwelt. Der Papagei versuchte nach seinen Angaben die neue Stadt zu 138
malen, unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden Buntstifte kunstvoll und eifrig hantierend. Er gab es nach wenigen Tagen auf, weil nichts Erklärbares daraus entstehen wollte. Danach schauten sie beide auf das Meer und waren nun so weit, daß sie die Menschen endgültig nicht mehr verstanden. Der Alte, der ihn in dieser Welt empfangen hatte, hatte recht gehabt, der Weg ins Leben führte über die Toten. Er saß in eine Decke eingehüllt bewegungslos auf einer Bank, die aus einem durchgebogenen Holzbrett be‐ stand, dicht vor den Reihen der Gräber, ein kleiner Friedhof, umgeben von dürrem, im Wind raschelndem Gehölz, auf dem die lagen, an die sich keiner mehr er‐ innerte, von der Zeit hier angetrieben und der Erde übergeben; oder deren Rücktransport auf den hei‐ mischen Friedhof unnötige Kosten verursacht hätte, Geld, das man besser anlegen konnte, gerade jetzt her‐ vorragend investieren konnte, die heimatliche Erde mit ihren lieben, auf ewig unvergessenen Toten war eben auch eine Kostenfrage. Der Wind blies eisig, die Wolken jagten in schweren Schatten über die Wiesen, auf dem Meer Eisschollen, die sich vor dem Deich auf‐ einanderschoben, spitze, graue, urzeitliche Wächter der Welt. Ein Mann schwang eine Schaufel, hob schnaufend ein Grab aus und demonstrierte, daß es mühsam war, einen Menschen in die Erde zu betten. Er stieß die Schaufel in den Sandhaufen, setzte sich neben ihn, froh um die Abwechslung, und wischte sich mit einem Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn: Sand. Nichts als Sand. 139
Schaufeln Sie mal ein Grab in Sand. Und unten besten‐ falls nasser Torf. Man sollte die Toten ins Meer werfen. Sisyphusarbeit. Das ist kein richtiger Friedhof. Nur der vom Heim. Wir sammeln immer Geld, wenn so ein armes Schwein stirbt, damit die Frau kommen kann oder der Bruder oder einer von den Angehörigen. Aber oft ist da keiner. Oder keiner will kommen. Und wer zahlt die Überführung? Und wohin? Oder die Frau sagt, laßt ihn hier. Erde ist Erde. — Ich bin auch hierge‐ blieben. Weiß schon nicht mehr wie lange. War Gärtner. Ich hab hier das Gemüsebeet angelegt. Außer Sand war da nichts. Und um den Friedhof kümmere ich mich jetzt auch. Eins ergibt das andere. So wird man zum Toten‐ gräber. Erde umgraben, pflanzen und säen und die Grä‐ ber ausheben, hängt alles zusammen. Der Mann ging zum Grab zurück, zog die Schaufel aus dem Sandhaufen, schaufelte weiter, fluchend, schnaufend und doch immer weiterschaufelnd. Das Grab des Alten ragte zwischen den anderen Gräbern hervor, ein kahler Erdhügel, ohne Blumen, Laterne, Grabstein, aber das war wohl so in Ordnung. Der erkal‐ tete Leib und die nackte Erde, alles andere war unnötig. Eine kleine Erhebung zwischen eingesunkenen flachen Grabstellen, für kurze Zeit noch sichtbar. Die Gräber verschwanden hier rasch, der stürmische Wind, der weiche Sand; von Dünengras überwuchert, versanken sie in der nachgebenden Erde, zogen das hölzerne, schnell verwitterte Namensschild mit, ein von der Salz‐ luft zerfressenes Brett, das in einem Erdloch lag. Dem Vergessen ausgelieferte Nachahmungen der weithin sichtbaren gerundeten Hügelgräber aus der Vorzeit, als 140
der Tod noch eine Bedeutung hatte und der kostbar ge‐ kleidete Leichnam, mit Nahrung, Waffen und Schmuck versehen, seine lange, Ungewisse Reise in die Unend‐ lichkeit antrat. Er hörte die Stimme des Alten: Glücklich war ich mit einer Frau, vor dem Krieg, sie war Lehrerin, hat mir viel beigebracht, von ihr hab ich das Nachdenken gelernt, das Mißtrauen in die öffentlichen Worte, die Distanz zu dem Brimborium, das die Welt darstellt. Ein zerbrech‐ liches Glück für eine kurze Zeit — und die Liebe. Das ist vielleicht dasselbe. Man darf nicht darüber reden, Worte zerstören sie sofort. Für die Liebe gibt es keine Worte. Man muß weghören, wenn die Menschen darüber reden. Sie vernichten alles mit ihrem Gerede. Schweigen ist in der Liebe und damit im Glück. Denn was die Men‐ schen mit aller Gewalt und über Leichen gehend in der Welt als Glück erkämpfen wollen — das ist nur Reich‐ tum, Macht und Lärm. Man steht im Mittelpunkt des Lebens als ein Beneideter und Hochgelobter und weiß nicht, warum man so unglücklich ist. Ein großes Schauspiel, das da als Perpetuum mobile geboten wird. Wer nach dem Glück jagt, wird es nie finden. Und eine Frau weiß das. Sie ist in der Liebe glücklich. Ja, so ist das. Sie starb bei einem Bombenangriff. Ich war da schon auf See. Im zunehmenden Wind hörte er Stimmen wie aus einer verrosteten Gießkanne, obwohl um ihn herum nie‐ mand war, nur der Gärtner, der sich als Totengräber betätigte, dem harten Zustechen seiner Schaufel hinge‐ geben: Warum man hier immer so verschwiegen auf dem Rücken liegen muß und kein Mensch hört einem 141
zu, das möcht ich verdammt und zugenäht mal wissen. Ein Tänzchen in Ehren kann doch keiner verwehren. Bei dieser Kälte wird man ja verrückt. Warum kommt hier nicht mal ein Karnevalszug vorbei? — Ja, da würde man doch wieder aufleben. Das wäre doch was. Im Narrenkleid, in Kostüm und Maske auf einem bunten Wagen. Das wäre doch ein Leben. — Gestern kam mir das Wasser bis an die Füße. Nasse Ecke hier. Wenn ich noch einmal tief durchatmen könnte, ich würde aus dem Loch springen und in Siebenmeilenstiefeln durchs Land jagen. — Kleinigkeiten, Kleinigkeiten, wir reden hier nicht von Kleinigkeiten, wir reden von großen Dingen. Anfang und Ende. Bedenke das Ende und vergiß nicht den Anfang. — Mir würde ein Tänzchen genügen. Noch einmal rumwidebum, nachts beim Rum‐ wirt hinter den Mauern. Was nützen einem die großen Dinge, wenn man am Ende des Lebens sich nur noch ein Tänzchen wünscht.— Erinnerst du dich noch an die letzte Sturmflut? Nur wir sind liegengeblieben, nackt und mit kaltem Blut. Die Lebenden in ihren Pelzen rannten alle ins Innere der Insel. Wenn wir nicht wären, keiner würde das Land beschützen. — Wir werden hier eines Tages noch die einzigen sein. Außer uns wird hier keiner mehr sein. Und wenn das Meer hoch über uns steht, wir werden Wache halten. Nur wir werden dann noch wissen, wo einst die Menschen waren. — Ein Tänzchen, ein kleines Tänzchen, mir ist so kalt, mir klappert das Gebein. Und den schönen, braunen, heißen Rum aus der größten Flasche der Welt beim Rumwirt. Daß man darin baden kann. — Tanz mit dem Sturm‐ wind. Tanz mit den Wellen der See. Tanz mit dem alten 142
Gelächter. Dreh dich mit dem Echo. Spring mit den Hofhunden. — Wir sind die Grundsteine. Auf uns kann man bauen. Wir liegen für die Ewigkeit. Auf uns wird eine Zivilisation nach der anderen errichtet. Wir bleiben. Wir sind die Ewigkeit. — Als wir noch durch die Welt liefen, da war es doch schön, doch darüber gibt es kein Wissen. Wenn man lebt, weiß man nichts. Ohne zu wissen führt man aber kein rechtes Leben. Doch das Wissen ist nur bei den Toten. Und die leben nicht. — Was will der Mensch, was will er? Auf dem Schrägen jammert er nach dem Leben. Im Sarg überlegt er, was er alles tun wollte. Nachher ist nicht vorher. Unten ist nicht oben. Vergangen ist vergessen. — Ich schlief als Kind bei meiner Mutter und wachte auf und war glück‐ lich. Da fiel eine Luftmine und meine Mutter lag in ihrem Blut, und ich sehnte mich von da an nach dem Tod. — Als das Haus erglühte in den Phosphor‐ flammen, erstickte mein kleiner Bruder in meinen Armen, und ich starb bald danach, denn ich wollte kein Leben. — Die Stadt brannte, und die Menschen liefen brennend durch die brennenden Straßen mit den brennenden Häusern und wurden zu Feuerstaub, der schwarz zum Himmel aufstieg. Es ist vergangen und es ist vergessen, es wurden erbaut die neuen Städte auf der Asche der alten, und das neue Leben flüchtete vor den Toten. Der Gärtner und Totengräber schaufelte, als wollte er zur anderen Seite der Erde vordringen, der Sand rieselte zurück ins Grab, er schaufelte und verschwand hinter dem Sandhügel, im ausgehobenen Grab. Sturmböen zerrten an den verkümmerten Büschen, krumm und 143
sich verbeugend nach dem Wind gewachsen. Das Meer schob Welle um Welle gegen die knirschenden Eis‐ schollen vor dem Deich, verhüllte sich in seiner all‐ mächtigen Weisheit, die der Mensch erst im Tod erfuhr. Ein schwarzer Himmel ohne Sterne beendete den Tag. Die schwere, stille Nacht zog herauf. Er erinnerte sich an einen Friedhof nach einem Luftangriff. Alle Gräber lagen offen wie am jüngsten Tag. Särge und Grabsteine waren zerstört, die Gebeine durcheinandergewirbelt. Aber da war keiner auferstanden. Menschen liefen über die Knochen, sprangen in die Gräber, schleppten das zersplitterte Holz der Särge, die gesprungenen Bronze‐ platten, die Marmorsteine weg und überließen die Toten dem Tod. Die Luft war dünn, so schnell er auch atmete, die Luft wurde dünner, mit jedem Atemzug war weniger Luft in ihm, die Rippen wurden steif und unbeweglich, die aufgeblähte Lunge schmerzte, die Luft, er wollte schreien, kein Ton zu hören, in seinem Kopf wirbelten schaumige Blasen. Luft. Er lag wie in einem Sarg auf dem Rücken, lebenslang eingeschlossen in den eisernen Klammern der Ein‐ samkeit, in seiner nie mehr von ihm weichenden Ein‐ samkeit, in einer eisigen Kälte, hinter der die Bilder der Welt in klarer Leblosigkeit erstarrten. Es war nicht Tag, es war nicht Nacht, es war nur noch eine Zeit, ein Schlafen vielleicht, ein Wachen vielleicht, ein Dämmern und Träumen zwischen hell und dunkel, nicht in dieser Zeit noch in einer anderen, zwischen Leben und Tod und jenseits aller Worte. 144
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Das ablaufende Meer im frühen Sonnenlicht, Spiegel des hohen Himmels und der träumenden weißen Wolken. Die Stunden der Ebbe. Das Meer als friedliches Land, ruhige, kleine Seen zwischen langgestreckten Dünen, flache Priele, die in der Sonne glitzern. Der weiche Sand hebt sich wellig wie eine vom Wind ge‐ triebene Wüste. Das blaue Wasser ist warm und flach und umspielt die Erhebungen im harmlosen Plätschern. Atemlose Stille. Der unbegrenzte Blick über Sand und Bäche und Seen in der gleißenden Helligkeit eines un‐ bewegten Tages. Am Horizont ein Kutter in gewohnter Bewegung, unverständlich. Erde oder Wasser, Festland oder Meer? Ein unent‐ schiedener Zustand veränderlicher Elemente, trügerisch und ungewiß. Es ist kein Verlaß auf die scheinbar so gewissen Dinge. Wer sein Leben auf das Annehmbare gründet, auf das gerade Sichtbare, der ist ohne Halt, ohne Fundament. Wer sich in den Sand legt, um mit den Wolken zu träumen, wird unter hohen Wellen im Tode erwachen, wer sich den Wellen anvertraut und mit wechselndem Wind segelt, wird stranden. Ein Mann geht, die Stiefel umgehängt, barfuß durch diese Sandwüste unter dem Meer, kennt den Weg von 145
Insel zu Insel, der sonst dem Wasser gehört, geht durch eine besonnte Landschaft auf sicherer Erde, folgt einer unsichtbaren Spur, durch Generationen überliefert, altes Wissen der alten Geschichten: Bei Neumond vom Kirchturm Richtung Süderspitze, quer zum Priel, vorbei an den Planken und Spanten eines gesunkenen jahr‐ hundertealten Schiffs, grüne Pflanzen, Algen und Mu‐ scheln, stolz ausgefahren, im Elend gescheitert, den Weg verfehlt, trotz Sternkarte und Kompaß, verfehltes Bemühen gegen die schwarze Gewalt des zufälligen Sturms, der Mensch im Unglück, kein Lied singt davon. Ebbe und Flut, Licht und Dunkelheit, Leben und Tod. Das sich Wiederholende ist das Bleibende. Das in sich Kreisende das Ewige. Kein Anfang, kein Ende und keine Vollendung. Das unfertige Bild, die aufgegebene Fuge, der abgebrochene Satz, ausgeführt bis zum Au‐ genblick des Todes. Variationen der vergeblichen Be‐ mühungen eines Lebens. Ein Schauspiel ohne Hand‐ lung, Ablauf unbekannt, Personal und Ort nur Zufall, die Erzählung Fiktion, der Bericht Konstruktion des Menschen, Behauptung eines Schicksals, unerkannte Gleichzeitigkeit, unbewußte Erinnerung, Jahre des Vergessens, sinnlose Fragmente, unzusammenhängend. Das unvollendete Bild des Menschen. Das stille Zimmer und das ununterbrochene stumme Sprechen. Worte, die keiner versteht. Er liegt da und hört die Worte wie in einem Grab. Oft aufdringlich nah, dann wieder unterschiedlich fern. Losgelöst vom Geschehen sind sie Erinnerung, Details eines Mosaiks, das keiner erkennen kann, das Muster, das für alle unvorstellbar ist, das Zufällige, das uner‐ 146
klärbar bleibt, Geschichten, die wir unser Leben nennen. Auch sein Leben ist nur eine Geschichte, die ins Ver‐ gessen treibt, schnell vergangen und ihm selbst unbe‐ kannt, wenn er nicht in der Erzählung seines Lebens das Sinnvolle wahrnimmt, die Vielfalt des erzählten Lebens erkennt, die Unerschöpflichkeit eines einzigen hellen Tages in der Nacht der Gedanken; einsame Stunden der Erinnerung, in denen ein Augenblick umfassender ist als die Jahrtausende der Schöpfung. Aber das weiß er da noch nicht, er ahnt es nur. Noch klammert er sich an Menschen, aus Angst vor der Ein‐ samkeit. Aber Menschen sind keine Hilfe. In seiner Er‐ innerung wird er allein sein. Menschen zerstören sie nur und vernichten damit das Leben. Das muß er jetzt lernen. Er ist an diesem Ort, um es zu erkennen. Erst viel später wird ihm das alles klar sein, wenn er zurück‐ denkt, an das Meer, den Himmel, die Insel, an dieses Haus aus verlorenen Geschichten. Denn von hier aus wird er denken und fühlen, und er ist dabei, es zu ver‐ stehen. Es ist wie eine Neugeburt. Die Nabelschnur wird noch einmal durchtrennt. Er wird als anderer Mensch ins Leben zurückkehren. Ich sehe ihn da liegen und sehe ihn in seinen Gedanken. Ich sehe den Men‐ schen, der ich bin, und sehe ihn nun anders. Die Räder. Die Lokomotive. Die Brücken. Die Tunnel. Die Feuer. Die Flüsse. Die Städte. Das unbekannte weite Land. Das Land der Nebel. Das Land der Tiere. Die See. Die Insel. Das Haus. Das Zimmer. Der Friedhof. Vielleicht bald der Park. Vielleicht bald der Deich. Eine einzige große, ununterbrochene Bewegung in einem genau gezirkelten Kreis, der weit weg fuhrt, um danach 147
unerbittlich wieder zum Ausgangspunkt zurückzu‐ kehren. Als sei man in einem Traum gereist, der im Erwachen endet. Der Tag verging; das Dunkel brach herein und nahm auf Erden den lebendigen Seelen die Last des Tages ab; nur ich allein begann mich für den heftigen Kampf zu rüsten mit Erbarmen auf des Weges Qual, Gedächtnis, das nicht abschweift, sollʹs erzählen. Mischa, der treue Vergil, stand, vom Strick abge‐ schnitten, mit seltsam ausgerenktem Kopf barfuß auf dem kalten, schorfigen Canyon und sah in seinem Parka aus wie ein Heiliger. In seiner schwachen durchschei‐ nenden Körperlichkeit, den hilflos schwebenden Ges‐ ten, die ihn im Gleichgewicht hielten, der Ratlosigkeit seiner flatternden Hände, die das erschreckte Gesicht mit den angstvollen Augen umkreisten, schien er den Menschen nahe, die bedürfnislos nur noch mit Tieren sprachen. Er versank fast in dem viel zu großen Parka, den er wie ein Zelt mit sich schleppte, in dem er lebte, aus dem immer nur sein Gesicht auftauchte, blaß, erschöpft, fragend. Er war ein kluger Führer durch die Totenwelt, dem man sich anvertrauen konnte, der einen mit seinen Fragen sicher ans Ende jeder träumerischen Reise brachte, in unbekannte Sphären jenseits der Realität, in denen es keine Antworten mehr gab, in denen nur noch Fragen angebracht waren. Mischa bestand aus reiner Naivität, die er sich auch stets be‐ wahrte, denn seine Naivität war eine Erkenntnisstufe, die über die der Weisheit und des Glaubens hinausging. Die Weisheit brauchte immer noch Verhaltensregeln, 148
der Glauben ein Ritual, sie standen im Kampf mit der Welt und wurden oft verfälscht, die Naivität dagegen schwebte wie ein reiner Geist über allen Streitigkeiten und sah die Welt wie sie war, sie lag dem Naiven klar auf der Hand, und das Verhalten der Menschen mußte durch keine Theorie gerechtfertigt werden. Es war die Naivität, die den absurden Gedanken eingab, die Welt vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang immer wieder neu zu erzählen, in einer einzigen, sich fortlau‐ fend wiederholenden Geschichte darzustellen, auf daß sie ihre eigene Gestalt annehme. Alle Wissenden und Gläubigen hatten darüber gelacht, für sie war die Welt erkannt und fertig, aber es waren die ständig neu auf‐ tauchenden Fragen der alten Geschichten, die nach Antwort suchten, die die Menschen an die Hand nah‐ men und sie auf ihrem langen Weg begleiteten. Das waren noch heilige Tage, als man damit auf allen Marktplätzen der Welt vor einem still und friedlich lau‐ schenden Kreis von Zuhörern sein Geld verdienen konnte, bis eines Tages eifernde Menschen den Kreis auflösten und den Berichterstatter der Menschheit einen Märchenerzähler nannten. Die Wissenden und Gläubi‐ gen hatten über den Naiven gesiegt, die Welt war von nun an wie sie war, so behaupteten sie wenigstens. Die Wahrheit bestand nur noch aus vielen endgültigen Unwahrheiten, die einander bekämpften, zerstörten und verbrannten, denn die eine einzige, ununterbro‐ chen fortlaufende Geschichte war zerstört, auf ewig verloren und nicht wieder herstellbar, und auch das Leben der Menschen war darüber zerfallen. 149
Mischa, der im Zelt seines Parkas seine heilige Naivi‐ tät wie etwas Unaussprechbares schützte, in einer sprachlosen Einsamkeit lebte, eben doch vergleichbar mit diesem Heiligen, der mit den Tieren sprach, Mischa erschuf sich als Künstler die Welt neu in kleinen Bildern, die er der Welt der Wissenden und Glaubenden entgegensetzte, und wie er das tat, war die einzig noch mögliche Form eines Wunders. Er erschuf aus der Hölle der Welt, aus dem Fegefeuer des Weggeworfenen und Abgestorbenen kleine Bilder, die das Paradies darstell‐ ten. Er sammelte auf den Müllbergen außerhalb der Stadt den Abfall der Menschen, hob alles auf, was sie als wertlos betrachteten, das Unbrauchbare, Zerstörte, Häßliche, Zerbrochene, arrangierte es in seinem Atelier, machte davon ein Foto mit einer Kamera, die er auch gefunden hatte und nicht einmal einstellen konnte, wählte das Foto auch nicht besonders aus, nahm keine künstlerische Pose ein, hielt ganz unabsichtlich die Kamera auf den sich ständig verändernden Müll, drückte auf den Auslöser und schuf so, es war ein Wunder, aus dem Abfall der Menschen eine paradiesi‐ sche Welt: Himmel und Wolken, Seen und Flüsse, Ge‐ birge und Wälder, phantastische Landschaften zu allen Jahreszeiten, unberührt vom Menschen, gerade aus der Schöpfung erwacht. Die Bilder hängte er nebenein‐ ander, bis alle Wände seines Ateliers damit bedeckt wa‐ ren, das Licht dieses Ateliers kam über einen alten ver‐ wilderten Friedhof vom dahinterliegenden Fluß, so daß die paradiesischen Bilder, im hellen Flußlicht, dämme‐ rig gebrochen durch das Friedhofsdunkel, wie ur‐ alte Menschheitsbilder aufleuchteten. 150
Die Menschen, die sich ungern im Spiegelbild eines Künstlers sahen, verhängten in gekränkter Eitelkeit die Höchststrafe über Mischa. Sie schickten ihn ohne seine Paradiesbilder in die Psychiatrie, damit er dort die wahre Hölle erfahre, fern des Fegefeuers der mensch‐ lichen Zivilisation — so lautete ungefähr das Urteil, das natürlich mit klugen Paragraphen getarnt war. Mischa antwortete mit der einzig ihm verbliebenen Möglich‐ keit, er nahm sich das Leben. Im Dunkel des Spinnennetzes das Bild der toten alten Frau. Die schwarzgekleidete Frau saß aufrecht, verstei‐ nert, nach innen sehend, in das vergangene Leben ver‐ sunken, das nun nichts mehr bedeutete. Alle Heldenta‐ ten, alle Verbrechen endgültig vergangen und verjährt, jede Erzählung davon unglaubwürdig, weil nur die Ge‐ genwart zählte, die sich als Gericht über die Vergangen‐ heit einsetzte und urteilte, Schuldsprüche und Freisprü‐ che ausloste, während die alte Frau schwieg. Sie saß bewegungslos mit gestrecktem Oberkörper, im Schoß die Hände wie eine vertrocknete Wurzel ineinander‐ gefaltet, und übersah mit einem Blick hundert Jahre Gewalt und Betrug, Grausamkeit und Zerstörung; lebte in der Vergangenheit, weil sie die Gegenwart nicht mehr verstand, weil die Gegenwart nicht die Ver‐ gangenheit verstand, und damit ihr Leben, und damit das Leben aller. Eine Kette von Blinden, Tauben, Stummen, hinter‐ einander, voreinander, aufgereihte Perlen eines Rosen‐ kranzes, gefangen in der eigenen Litanei, psalmo‐ 151
dierend im selbstgefertigten Glauben, im wechselnden Wahn zwischen Zerstörung und Aufbau in der für immer aufgehobenen Zeit. Das Leben aber war ohne Sinn, und ohne Sinn war es Klarheit und Wissen und Verstehen. Sage nichts mehr. Schweige. Wer in der Sinnlosigkeit zu Hause ist, der erkennt die Worte. Er wird in der Sprache leben, in vergangenen Bildern und verklungenen Tönen. Grab sie aus der Erde, in der sie versanken, die untergegangenen Städte mit ihren wech‐ selnden Namen, die unbekannten Straßen, die ihre Rich‐ tung änderten, die Keller des Vergessens, in denen die Wahrheit lag unter dem Schutt der Lügen. Schreckbilder des Todes, verblaßt, unscharf, ungenau, rasend schnelle Assoziationen, Bilderketten von bren‐ nenden Straßen, einstürzenden Häusern, erschossenen, erstickten, verbrannten, zerrissenen Menschen, die für kurze Augenblicke Kontur annehmen, eine Stimme haben, gegenwärtig sind, ehe sie wieder versinken, selbst beim genauesten Nachdenken nicht mehr zu erinnern. Da blieb kein Moment des Erwachens, kein Augenblick, um das Vergangene in Worte zu fassen, das Entsetzen war zu groß, der Schreck zu lähmend, der Verstand faßte es nicht, in den Gefühlen wurde das Leid, aus dem man erlösende Kraft hätte schöpfen können, unterdrückt, dafür herrschte überall hektische und wendige Betriebsamkeit, die nur vertuschte, daß im Inneren der Menschen gar nichts geschah, während das Äußere ihrer Welt in einem Anfall von rasender Wut ununterbrochen umgebaut wurde. Alle waren nur in der Vorwärtsbewegung, als sei da ein Krater in ihrem Rücken, der sich beständig ver‐ 152
größerte, so schnell man auch davon weglief, und keiner sah sich um, um nicht im Schreck zu erstarren. Der Palast der Winde, leicht und durchlässig, erhob sich in die Lüfte wie ein Traumballon, verließ die Küste, trieb landein, zog hell über den schwarzen Himmel, Einsamkeitsstern der Vergessenen, ankerte in der fernen Wehmutsstadt, schwamm im Stadtgraben der breiten Allee, legte an in der Zeit, als die Welt zerstört, das Land tot, die Stadt nicht mehr vorhanden war, die Menschen in Lumpen gingen und in Kellerlöchern er‐ froren oder verhungert auf der Straße umfielen, und trotzdem ein Buch das Wesentlichste überhaupt war, eine Gemäldeausstellung, ein Konzert, ein Schauspiel, und die Menschen kilometerweit zu ausgebombten Kir‐ chen liefen, um hungernd und frierend Gedichte zu hören. Ein Trümmerland im Überfluß der Kunst, im Reichtum der Phantasie, glücklich in der Schönheit der Sprache, der Bilder und der Musik. Unter Ruinen die exterritorialen Inseln der versteckten Jazzkeller, mit Sidney Bechet als Gott der Götter, enge Räume hinter verbrannten Treppen und verrosteten Luftschutztüren, Tropfsteinhöhlen, in denen vermumm‐ te Menschen in Kälte, Nässe und Dunkelheit auf Kisten saßen, an die rauhen Ziegelsteine gelehnt, Schatten zwi‐ schen herabtropfenden Kerzen, dem einzigen Licht für die Musiker, die auf den neuen Tönen aus dem unvor‐ stellbaren Land USA wandelten. Pilgerreisen in der Mu‐ sik, Nacht um Nacht und Tag um Tag; ging einer, kam ein anderer, Improvisationen ohne Ende, in denen Menschen sich freispielten, aus dem Zwang der Gruppe 153
heraustraten, sich neu fanden im gemeinsamen Spiel, in den vielstimmigen Explosionen der Jamsessions, in de‐ nen sich alle in einen Rausch spielten, alle Höhen und Tiefen der Musik durchlebten. Und wenn sie auf dem Höhepunkt verstummten, fing ein einzelnes Instrument ganz leise wieder die Harmonie auf, suchte seine Melodie, nur für sich spielend, führte sie weiter, bis ein zweites Instrument einsetzte, das Thema umspielte, einen neuen Rhythmus einführte, der ein drittes Instru‐ ment lockte, und wieder tauchten alle in die Welt der Musik ein, die die denkbar größte Freiheit darstellte. Louis Armstrong breitete seinen leuchtenden, mit den höchsten Tönen wie mit Hermelin besetzten Krönungs‐ mantel aus, und alle durften ihm folgen und das herr‐ lichste Land der Welt betreten. Sein Tempel in der Stadt hieß standesgemäß New Orleans, sah so aus, als läge er tatsächlich in New Orleans, und die Musik umfing einen schon an der Tür, trug einen ins Land der Glück‐ seligen, in dem man zehn Zentimeter über dem Boden schwebte, keiner mußte hier unter Mühen auf Erden wandeln, alles war leicht, schön, wie erlöst, und für Stunden endlich einmal gut. Gleich hinter dem Eingang die altmodisch ausgewölbten, gestreiften Sofas, auf denen breit und lachend Farbige saßen, die in ihren riesigen Wagen, beladen mit Whisky und Gin, jede Nacht aus Frankfurt und Wiesbaden hierherjagten. Da‐ hinter der kleine Raum mit der Band, eng gedrängt auf dem Bandstand, mit den Köpfen fast an der Decke, St. Louis Blues, Royal Garden Blues, Basin Street Blues, Canal Street Blues, St. James Infirmary Blues. Alles dicht beieinander und durcheinander, die tanzenden Paare, 154
Musiker aus allen Ländern mit ihren Instrumenten, Jazzfans zwischen schmalen Tischen vor der dämm‐ rigen Südstaatenfassade, schwach erhellt von kleinen Straßenlaternen mit Milchglaskugeln. An einer Wand, hinter einem Geländer aus gedrechselten Holzstäben, sein Lieblingsplatz, eine dunkelgrüne Veranda, von der aus man einen freien Blick auf die Köpfe der Menschen und auf die Band und ihre mattgold und silbern schim‐ mernden Instrumente hatte, die das eigentliche Licht in diesem Raum waren, gebrochen von den unbeschreib‐ baren Farben der Töne, mood Indigo, block and blue, Harlem night, Mississippi morning, eine Musikwelt, die mit der Außenwelt nichts mehr gemein hatte, ein Ge‐ menge aus Menschen aller Länder, durcheinander‐ wimmelnd, tanzend, lachend, schreiend, schwitzend. Und hinter der Bar Charly, der als HJ‐Melder als einer der Letzten über die schon unter Beschuß liegende große Flußbrücke gerast war, bevor die Wehrmacht sie in die Luft sprengte und die Eisenteile ihm um die Oh‐ ren flogen, mit Glück dem Tod entronnen und dem Leben überlassen, wie so viele in diesem Raum. New Orleans‐Function: Aus der Dunkelheit der Gräber her‐ aus, aus den schwarzen Tränen heraus, zurück in die Hölle des Lebens, ins weiße Licht des Tages. Dumpfe Trommelschläge, langsamer Trauermarsch in gemesse‐ nem Takt zum Friedhof, die Stimme des Predigers im Wind: Asche zu Asche, Staub zu Staub, würdiges Ge‐ denken. Flotter Marsch vom Grab in die Stadt, im leich‐ ten Tempo zurück zu den Menschen, Schritt für Schritt, Hand in Hand ins alte neue Leben, erleichtert und beschwingt durch die Straßen, der neuen Hoffnung 155
entgegen. Der Marsch springt in einen Tanz, das Schlag‐ zeug verdoppelt das Tempo, wechselt vom Toten‐ rhythmus in den Rhythmus der Lebenden, eine Tuba pumpt los, die Trompeten strahlen wie die Sonne, die Klarinetten jubilieren, die Posaunen steigen breit aus der Tiefe, die Saxophone heulen ihre verführerischen Sirenentöne, und der Trauerzug bildet eine tanzende Kette der Lebenden, Halleluja, das Leben ist schön, in diesem Moment, in dieser Sekunde, so kurz nach dem Tod. Und nochmals Halleluja, das Banjo treibt in harten Schlägen, im Saloon swingt brummend der Bass, das Klavier schwelgt verschwenderisch in seinen Tasten, alle verbunden in einem herrlichen vielfarbigen Muster aus Klang und Rhythmus, Melodie und Harmonie, die Rhythmusgruppe ein pochendes Herz, die Bläser eng verflochten, sich steigernd im Riff, sich lösend in Improvisationen, aus den Harmonien aufsteigend im freien Atem der eigenen Lebensmelodie, der endlich erhörten Töne, und mochte die Welt noch so elend und grausam und nichtig sein, und der Tod allgegenwärtig, das Leben war gut: Careless Love Blues, Beate Street Blues, Hangmanʹs Blues, Backwater Blues, Hard Time Blues, Last Mile Blues, Poor Manʹs Blues. Und über allem When the Saints go marchin in, die Engel erschienen tatsächlich und es war ganz klar, wo das Paradies auf Erden lag, in den langen Nächten im New Orleans, wenn Ken Colyer sein Hörn ansetzte und mit den ersten Tönen alle zum Leben erweckte, der kleine bärtige Mann mit seiner heiseren Bluesstimme, als Kohlentrimmer nach New Orleans gefahren, um dort noch mit den Alten zu spielen, der sein Kornett so liebte, daß er es nie aus der 156
Hand gab, Beryl Bryden mit ihrem Waschbrett, Fatty George aus Wien, ein Schrank von einem Kerl, der seine Klarinette mit großem Druck und vorgeschobener Hüfte spielte, neben ihm Oskar Klein, einer der glanzvollsten Trompeter Europas, mit nie endenden Solos, dazwi‐ schen die heimischen Feetwarmers, die beste Band Deutschlands, mit Klaus Doldinger, Ehrenbürger von New Orleans, feiner Improvisator. Und wenn Lionel Hampton im Apollo auftrat, spielte er mit seinen Musi‐ kern anschließend im New Orleans, die dabei aus‐ brechende Jamsession war von der Anlage her endlos, keiner wollte glauben, daß es inzwischen Tag war und die Engel der Nacht verschwunden. Andere Nächte unter den zu dieser Zeit noch un‐ glaubliches Aufsehen erregenden hellblau geschwunge‐ nen Neonbuchstaben des Tabaris, in dem Kurt Edelha‐ gen mit seiner Big Band spielte, das fetzte bis auf die Straße, und wer kein Geld hatte, hörte unter den Kasta‐ nienbäumen zu, zwischen den Kabeln, die zu einem Funkwagen führten — Direktübertragung des NWDR, Nordwestdeutscher Rundfunk, wer wollte das in den alten braunen Holzkästen hören, die sich Radio nann‐ ten, wenn er es aus dem Tabaris hören konnte. Das Tabu von Daddy Blatzheim, jeder Neonbuchstabe in einer anderen Farbe, eine Verwegenheit, um die die normalen Bürger einen Bogen machten; wenn man die schmale Treppe hinabging, hörte man schon Paulchen Kuhn am Klavier, swingend mit seinem Trio, Hänschen Koller, später der Stan Getz Europas ge‐ nannt, mit Attila Zoller und Joe Zawinul, der in Ame‐ rika so berühmt werden sollte, Roland Kovac, Joki 157
Freund, Jutta Hipp, Albert Mangelsdorff, dem Genialen mit seiner leisen Posaune; Oskars Trio, Doldinger mit rauhem Saxophon, frisch aus Holland importiert, und Ingfried Hoffmann, besser als später Oskar Peterson, und für Stammgäste gab es einen Künstlerausweis. Bobbys Schnapsdestille, so eng und überfüllt, daß man sich hineinpressen mußte, hier konnte keiner sitzen, hier mußten alle stehen, Brust an Brust, Rücken an Rücken, auf den Wandbänken übernachteten die Maler der Kunstakademie, die Schnapswand vor Augen, die bis an die Decke reichte, bunte Flaschen mit allen auf der Erde erhältlichen hochprozentigen Genüssen, davor Bobby, rundlich, beweglich, handgreiflich, ein Mann in seinem Traumberuf. In der winzigen Ecke neben der Theke war sein Platz, da stand der Plattenspieler mit den Jazzplatten, der Alkoholsammlung ebenbürtig. Einer mußte die Platten auswählen und auflegen, den Plattenspieler bedienen, aber dieses tückische Ungetüm stand mit seinen freiliegenden, blanken Kabeln so gefährlich unter Strom, daß es keiner mehr anfaßte. Deshalb war das sein Platz, er kannte die wenigen Stellen, die man be‐ rühren konnte, ohne einen Stromschlag zu bekommen, saß Stunden in seiner Ecke, bestimmte das Musikpro‐ gramm, hörte all die Raritäten, über Bremerhaven direkt aus den USA importiert, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Miles Davis, Max Roach, Lee Konitz, Bud Powell, Thelonious Monk. Und rundum wurde die Nacht hindurch, begleitet von der Musik, ein leidenschaftlicher Disput geführt um Informel, Neue Abstraktion, Action‐painting, Konstruk‐ 158
tivismus, Happening, Objekt‐Kunst, Tachismus, Kine‐ tik; mathematisch kalkulierte Farben oder impulsive Zerstörung, Schrott oder Reine Form, Klecker‐Pollock, der zarte Mark Tobey oder der königsblaue Yves Klein, der saubere Max Bill oder Fett und Filz von Beuys, schimmernde Schokolade von Dieter Roth oder Farbex‐ plosionen von Georges Mathieu, der brutale Vostell, der meditierende Rothko oder die Räume von Kienholz. Die Gruppe Zero übte ihren ersten Auftritt bei Schmela und entdeckte das Licht, Piene durch‐löcherte einen Karton, und mit einer Taschenlampe dahinter erleuchtete er den Raum, der sich Galerie nannte. Mack spiegelte sein Aluminium, für die Wüste gedacht, Uecker schlug Nägel ein und ließ sie lange Schatten werfen, Experimente und Diskussionen, später im Cream Cheese fortgesetzt vor den Sprachtafeln Kriwets, der die Worte neu sortierte, denn das mußte nun doch mal geklärt werden: Wie sollte die neue Welt aussehen? Wie groß und allmächtig und gewaltig durfte die neue Schöpfung sein? Und wie zählte man die neue Zeit? Julianisch, jüdisch, gregorianisch, mohammedanisch? Begann man mit der Stunde Null, oder mit den Tagen der Schuld, oder zählte man nur den 24‐Stunden‐Tag, wie die Amerikaner, oder zählte nur noch die Kunst, und alles andere zählte nicht mehr? Ideen, Pläne, Phantasien. Die Welt explodierte in Licht und Farbe und Musik. Nie gab es soviel Leben,Leben, das man körperlich spürte, Leben, das sich in die Welt schleuderte, Leben, aus dem Tode auferstanden. Zwei Weltkriege lang hatte man nur Todesmärsche gespielt. Generationen kannten nur die Wörter Tod und Nation 159
und wünschten sich und allen anderen immer nur den Tod. Der Tod war zum Triumphator dieser Welt gewor‐ den. Der Tod war das Götzenbild, das man anbetete und vor dem man sich auf die Erde warf, das Gesicht in den Dreck gedrückt. Jetzt wechselte der Drummer den Rhythmus, i und 3, 2 und 4. Rückmarsch ins Leben. Ein anderer Takt, ein neuer Takt. Tod vergeh und Leben komm. Leben komm und Tod vergeh. Eine neue Harä‐ monie, und jeder improvisierte seine Melodie. Und Tin‐ guely flog über die Stadt und warf seine Flugblätter ab, keine Bomben, tanzende bunte Worte: Atmet! Lebt! Be‐ wegt euch! Atmet tief! Lebt im Jetzt! Bewegt euch! Lebt in der Zeit! Bewegt euch! Lebt! Laßt euch nicht von überlebten Zeitbegriffen beherrschen. Fort mit den Stunden, Sekunden, Minuten. Hört auf, der Ver‐ änderlichkeit zu widerstehen, Bewegtes anzuhalten, Augenblicke zu versteinern. Gebt es auf, immer wieder »Werte« aufzustellen, die doch in sich zusammenfallen. Seid frei, lebt! In einem Atelier saßen still und ungesehen einige Gra‐ fiker und retuschierten einen Greis zum Jüngling, ver‐ wandelten eine Totenmaske in ewige Jugend, gaben dem altersstarren Blick einen falschen Strahlenglanz, glätteten und strafften die versteinerten Gesichtszüge, Geröllhalden eines toten Jahrhunderts, gaben ihm blonde Haare, blaue Augen, eine hohe Stirn, ein ent‐ schlossenes Kinn, schufen eine Ikone der vergangenen Zeit, die wie Gottvater über die Welt wachte, in sinnlos vergehenden Jahren das Leben der Menschen mit den alten Gewichten ins graue Meer der Täglichkeit zurück‐ 160
holte, in das Gewohnte, Eingeübte und tief Eingegra‐ bene, unter seinem Antlitz, das unübersehbar in allen Straßen, über allen Köpfen hing, dessen Blick alle in seine unbewegte Kälte und Einsamkeit zog, in sein altes, versteinertes Denken. Das Leben wurde wieder morgens an der Stechuhr abgegeben, abends an der Stechuhr abgeholt, ohne daß man etwas damit anfangen konnte; es war den Men‐ schen mit der Zeit egal, sie hatten das Leben vergessen, oder sie wollten nichts mehr davon wissen, weil sie nichts mehr liebten, nicht mal ihr eigenes Leben. Da so vieles vor ihren Augen vorübergezogen, so vieles in ihren Ohren verklungen war, versanken sie in eine apa‐ thische Gleichgültigkeit, einverstanden mit jedem, der ihnen das Denken abnahm, einverstanden mit dem neuen Bildnis, das über ihnen hing. Nur noch die Stechuhr zählte ihre Stunden, und nach Feierabend durchraschelten sie Blatt um Blatt die Illustrierten, leb‐ ten in diesen glänzenden Bildern, um zu erfahren, was man besitzen mußte, um glücklich zu sein, wohin man in Urlaub fahren mußte, um am schönsten Ort zu sein, vor allem aber, was es alles zu kaufen gab, denn die neue Welt bestand aus Haus und Garten, Auto und Ra‐ senmäher, Kühlschrank und Geschirrspülmaschine, Staubsauger und Waschmaschine, Kartoffelschäler und automatischem Dosenöffner; der Katalog von Sears Roebuck bot in unglaublich bunten Bildern Dinge an, die man noch nie gesehen hatte, eine Bibel des neuen Lebens im wüsten Farbrausch. Daß hier nun wirklich und endgültig das neue Paradies zum Zugreifen ver‐ kündet wurde, war jedem klar, der diesen Katalog ein‐ 161
mal in Händen hielt, und alle wollten an dem nun neu verheißenen Leben teilnehmen und bestellten auf Raten, um am anderen Morgen das Leben wieder an der Stechuhr abzugeben. Auch er stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, Ta‐ bletten nehmen, sechs Uhr die Straßenbahn, sieben Uhr die Stechuhr, der mühsame Gang zu den weiß‐ gepuderten Werkshallen einer Firma, ihm blieb nur die Hoffnung auf die Nächte, in denen die Engel ein‐ marschierten. Die Künstler der Stadt liefen inzwischen wie märchen‐ verlorene Kinder von einer Theke zur anderen und suchten ihre alten Hoffnungen, aber jetzt spielte eine andere Musik, da war Verzweiflung und Resignation, man stand nebeneinander und sprach über den Kunstmarkt und über Ausstellungen und wartete dar‐ auf, Professor an der Kunstakademie zu werden, das war das große Los, und wer es zog, verschwand auf Nimmerwiedersehen, er wäre von den anderen sonst gelyncht worden. Die Menschen, kleine bewegte Teile der Stadt, mor‐ gens in die eine Richtung, abends in die andere Rich‐ tung, lebten in vierundzwanzig, sechsunddreißig, acht‐ undvierzig Raten für bewegliche Habe und in zehn, zwanzig, dreißig Rückzahlungsjahren für unbeweg‐ liches Gut, lebten als Annuität und blätterten in den kunstvoll die Kunst ersetzenden, wunderbar und wun‐ dervoll gedruckten Illustrierten und Katalogen nach Anzeigen für das neue Leben. Staub zu Staub, Asche zu Asche. 162
Im Morgengrauen bestieg er über ein Fallreep wieder das Haus mit den vielen dunklen Fenstern, unbekannter Ozeandampfer mitten in einer Stadt, die Menschen gafften, eine Fata Morgana. Die Kastanienbäume der langen Allee verschwanden im Meeresrauschen. Am Bett saß noch lange Ken Colyer mit seinem Kornett, spielte leise klagende Töne einer vergangenen Zeit und sang mit brüchiger Stimme: Nobody knows you, when youʹre down and out. Vom verstellbaren Fensterflügel und dem unverstell‐ baren Spiegel, einem komplexen System der Welt‐ aneignung, das durch kleinste Veränderungen, durch minutiös verschobene Brechungen des Lichts, eine sich als Ganzes darstellende Außenwelt in Prismen zerlegte, nach dem Prinzip des Kaleidoskops — daß das Un‐ zusammenhängende zusammengehörte — zu neuen Bildern zusammensetzte, unendlich lange auf ein Detail fixiert; von diesem geographisch externen Punkt aus sah man den Deich, der im wechselnden Licht der ver‐ gehenden Tage eine Schattenlinie durch die Insel zog, Sinnbild der Küste war, Meer und Land trennte, streng und genau die Grenze zwischen dem bewegten Wasser und der unbewegten Erde markierte, im Mittagslicht eine scharfe Kontur, in der Nacht eine langgestreckte schwarze Erhöhung. Der verfestigte Wille des Men‐ schen, die Welt in ein klares Hier und Dort zu teilen, in eine ruhige, begrenzte Welt diesseits und eine unruhige, unbegrenzte jenseits des Schutzwalls, in eine im Ver‐ trauten liegende, Schritt für Schritt bekannte Heimat, und eine unvertraute und unbekannte Fremde, in die es 163
einen immer wieder hinauszog, um weit dort draußen, auf allmächtigen Meeren, mit Sehnsucht an die verlo‐ rene Heimat zu denken, glücklich heimgekehrt sich erneut nach der Fremde zu sehnen, bittere Tränen über den jeweiligen Zustand zu verlieren, bis das Grab, wo immer es lag, diesem Hin und Her ein Ende setzte. Auf dem Deich zirkulierten zu vorgegebenen Stunden Figuren vor und zurück, drehten sich einzeln oder in Gruppen wie auf einer mechanischen Spieldose um sich selbst zum Ausgangspunkt, wirkten zierlich und auf die Entfernung sehr klein und bedeutungslos. Auf einem frühen Stich hätten sie, herausgeputzt und ameisengroß, das Bollwerk einer Festungsanlage oder den Park eines Schlosses bevölkert, Arrangement des Künstlers, der um der Perspektive willen hier und da noch ein Figürchen hingesetzt oder weggenommen hätte, sie waren Staffage, belangloses Zubehör eines Bildes. Die Wendepunkte waren festgelegt, man spazierte vom Eingang des Sanatoriums bis zur Höhe einer in der Landschaft freistehenden Glocke, für die man ein Holzgestell mit Reetdach erbaut hatte, dann kehrte man wieder um. Zu welchem Zweck die Glocke dort stand, wußte keiner, sie läutete bei jeder Böe einige verwehte Schläge, begleitete die Drehungen der Spieldosen‐ figuren mit unharmonischen Klängen, jammerte vor sich hin, wimmerte laut im nächtlichen Orkan, ohne daß sich einer um sie kümmerte. Vielleicht das Relikt einer früheren Zeit, um Schiffe vor der Küste und Menschen vor dem Meer zu warnen. Stand man auf dem Deich, war von Staffage und Be‐ langlosigkeit und ameisenhafter Winzigkeit natürlich 164
nicht mehr die Rede, man fühlte sich groß und bedeut‐ sam, wurde wieder wichtig und wuchs in die alte Hel‐ denrolle hinein, war Herr seines Schicksals, wurde wie‐ der Welteroberer und Sieger, König der Meere und der Kontinente und bestimmte die Bedeutung der Dinge um einen herum. Der Palast schien plötzlich klein, ver‐ schwand halb hinter dem Deich, verwandelte sich in Erinnerung, löste sich auf im Vergessen. Seine Vermessungsinstrumente waren von diesem Punkt aus nicht zu sehen, das Fenster vielleicht, ein Fenster von vielen, womit klar wurde, daß die Perspek‐ tive auf das Leben bedeutsamer war als das Leben selbst. Wer diese zweite Perspektive hatte, die Distanz und Nähe, Innen und Außen, Mensch und Welt vereinte, war entschieden im Vorteil, er konnte ein Bild über das andere legen, was die Welt seltsam öffnete und das Bild des Menschen relativierte. Es hatte auch einen Nachteil, denn er konnte sich mit Menschen, die nur in der üblichen Außenperspektive lebten, nicht mehr verständigen, ihre Worte und ihre Begriffe waren un‐ vereinbar verschieden. Sie sagten: Ich und die Welt. Er sagte: Die Welt und ich. Das ergab Irritationen, die für Menschen, die nur in einer Perspektive lebten, uner‐ träglich waren. Der Tag, an dem er zum erstenmal auf dem Deich stand, war ein Geburtstag, eine Ausnahme, ein Ge‐ schenk. Auf dem Deich zu stehen, in der Freiheit zwi‐ schen Meer und Land, im Licht der Sonne, im Wind, in der strahlenden Helle auf eigenen, wenn auch zit‐ ternden Beinen, das war das Leben. Ja, es war das Le‐ ben. Ein Wort, dessen wahre Bedeutung schwer vor‐ 165
stellbar war. Ein Wort, das nur die Toten würdigen konnten. Er sprach daher lieber mit den Toten über das Leben, die Lebenden waren meist zu zerstreut und hatten auch keine Zeit und keine Lust, über so etwas Banales und Alltägliches zu reden. Er stelzte wie eine aufgezogenen Puppe auf dem Wall umher, ungelenk, den steifen Körper durchgedrückt, und versuchte in Richtung der Hafenstadt zu sehen — Denk an das Cafe, schrie der Alte aus dem Grab, keinen Schritt weiter! — aber die plötzliche Freiheit war so verführerisch, daß man mahnende Worte überhörte. Er stand frei in der lebendigen Welt, ein unvorstellbar gewordenes und lange vergessenes Gefühl, stand ungeschützt in den har‐ ten Windschlägen, vor den donnernden Meereswellen, unter der brennenden Sonne, golden strahlend, wie man es nur auf mittelalterlichen Bildern sah, auf denen Gott der Herr in den Himmel aufstieg. Er war irritiert und fasziniert von den heftigen Auswirkungen auf seinen Körper, an ein enges Zimmer gewöhnt, reagierten alle Sinne auf diese unendliche Weite, die heiße Sonne, den kalten Wind, reagierten überaus heftig darauf, als sei man vorher blind und taub und gefühllos gewesen. Er setzte sich in das im Wind wehende Gras, denn die Wege in der Welt waren entschieden länger als im Haus, auch das hatte man vergessen. Auf der einen Seite der schmale Küstenstreifen mit Millionen kleiner Steine, in der Glut der Sonne liegend, mineralisch glit‐ zernd im weichen Sand, vor dem sich kräuselnden und wiegenden Meer, das sich in der Helligkeit verlor; auf der anderen Seite bestellte Felder, zwischen Knicks und Sträuchern verwehte Bäumchen vor Reetdächern, die 166
grauen Steine der Friedhöfe, ein massiver eckiger Kirchturm. Wasser und Land wurden zusammengehal‐ ten von einem durchsichtigen Himmel, einer gewölbten Kugel, die ins Tiefblaue absank. Ein Gleichnis für die Sonntagspredigt eines Pastors. Und dazwischen der erhöhte Wall, auf dem er stand, mit dem Ausblick auf zwei Welten, durchsichtige Wellen umspielten die Stei‐ ne, stumpfes, dunkelgrünes Gras klammerte sich an die steile Böschung. Auf der Straße zum Hafen der brum‐ mende Laster des Majors a.D., Menschen abholend, Menschen wegbringend. Auf dem Weg zur Rumkneipe ein zerstrittenes Paar, der Wind trug Wortfetzen zum Deich. Der Wagen des Chefarztes wich einem Fahrrad aus, es war der Pastor, der zum Sanatorium strampelte, da war kein Gleichnis gefragt, es war nur mal wieder eine Letzte Ölung fällig. Die Glocke schlug unregelmäßig an, der Wind drehte und kam jetzt vom Meer, was hieß, daß man sich wieder in Richtung des Sanatoriums orientieren mußte. Das dunkle Gebäude lag von hier aus gesehen recht friedlich hinter dem Deich, gegen den Wind gebaut und dem Meer trotzend, aber von außen gesehen war die Welt ja immer eine schmucke Fassade, da wurde immer sehr auf Harmonie geachtet. Von innen her gesehen war die Welt ein Stückwerk, das sich kaum zusammenfügte zu einer Sonntagspredigt. Der Wind frischte auf, man mußte sich beeilen, der Deich stand schnell unter Wasser, so sicher war das alles nicht, die Geräusche der Menschen verschwanden, ohne ihre Stimmen wirkte das alles wie unter einem Glassturz. Dunkle Wolken zogen auf und verfinsterten das Bild, man sollte diesem 167
netten Arrangement vielleicht doch nicht so voreilig trauen. Das war keine nach innen gewölbte, hübsch ausgemalte Kugel, die sichere Orientierung bot, es war ein schwarzer Stein im Weltall, auf dem man sich leicht verirrte. Der Park, eine ursprünglich mit viel Vernunft quadra‐ tisch gedachte Grünanlage, nun eine dunkle Wuche‐ rung aus verkrüppelten, gebeugten Fichten, Kiefern, Tannen, deren von Wind und Sturm niedergedrücktes Geäst sich mit buschigen Sträuchern zu einem dichten Gehölz verband, sich haltsuchend ineinander verflocht, wieder in die Erde zurückwuchs, wie ein Urwald den Himmel verdeckte, keine Lichtstrahlen hineinließ, eine dunkelgrüne Schattenhöhle mit den an‐ und ab‐ schwellenden Tönen des immerzu heulenden Windes, darüber flüchtig erkennbar die schwarzen Segel der Ra‐ ben, steil gegen den Sturm gesetzt, in ruhigen, sich wie‐ derholenden endlosen Kreisen. An der Seite des Sanatoriums, zwischen Meer und Land gelegen, sollte der Park die Patienten vor Wind und Sonne schützen, vor allem vor der Sonne, die als tödlich galt. Das Verlassen dieser nicht sehr großen, den ordnenden Händen der Menschen entwachsenen An‐ lage war daher strengstens verboten. Hier sollten in gemessener und genau eingeteilter Zeit die vom langen Liegen erschlafften Körper bewegt werden, für Gene‐ sende tägliche Vorschrift, die erste Stufe zu einer even‐ tuellen Entlassung. Man hatte mit Überlegung einen Weg entworfen, der aus zwei Achten bestand, die dia‐ gonal das Quadrat in langgezogene Schleifen verwan‐ 168
delten, was dazu führte, daß sich die gelangweilt Herumspazierenden wie in einem Sternensystem von‐ einander entfernten und wieder näherten, um in der Mitte den nächsten Bogen anzusteuern. In vager Hoff‐ nung oder in apathischer Depression zogen sie ihre vor‐ gegebene Bahn, drei Runden, sechs Runden, neun Runden, allein, zu zweit, zu dritt, schweigend oder in Gesprächen, die sich wie der Weg ständig wiederholten. Ob man der einen Acht folgte, ihr gewissermaßen treu blieb, oder die Acht wechselte, das waren schwer‐ wiegende Entscheidungen, die sogar zum Streit führten, Meeresseite, Landseite, Glaubenssätze von großem Gewicht. Die einen bevorzugten den Bogen zum Meer hin, andere nahmen den Bogen zur Landseite, uner‐ klärliche Vorlieben, Fundamentalisten gegen Anar‐ chisten, die beliebig die Achten wechselten, wobei es auch hier Aberglauben gab, zweimal die Meeresacht, einmal die Landacht oder umgekehrt. Und dann noch links herum oder rechts herum; links herum ist Todes‐ weg, so hießen die Ermahnungen, während andere mit Gewißheit erklärten, rechts herum kommt nie heraus. Aber alle trafen sich in der Mitte, wechselten oder hiel‐ ten die Richtung, und hier kreuzten sich auch die Stimmen. Die für den Deich Vorgesehenen trugen schon wieder die Mäntel, in denen sie hierhergekommen waren, sahen angezogen aus, deuteten eine Hierarchie an, diese seltsame Ordnung aufsteigender dreifacher Kreise — Bett Zimmer Palast, Friedhof Park Deich, Cafe Hafen Meer —, die von diesem ortlosen Nichts, diesem Ende des Lebens, über ein kompliziertes Wei‐ chensystem zurückführte in die Hölle des Lebens, in 169
Umkehrung der alten Bilder, die das Paradies verspra‐ chen. Dieser vielgesuchte Ort, der nach Meinung des nun schon lange verstorbenen Alten nur als einsame Station zwischen der Welt und dem Nichts zu erreichen war, war das Cafe am Hafen, in dem man seine Tage in bewegungsloser Ruhe und nachdenklicher Gelassen‐ heit, in friedlichen und genauen Gedankengängen und Beobachtungen zwischen fremden Menschen, aber mit Ausblick auf das Meer verabschiedete. Diese Zwischen‐ station, diese Mitte zwischen dem unerträglichen Nichts und der noch unerträglicheren Welt der Menschen, von den meisten in der Eile des Aufbruchs in die geschäftige Welt übersehen, weil es auch schwer war, im allge‐ meinen ziellosen Gerenne anzuhalten, stehenzubleiben, sich mit der Hälfte des Weges zu begnügen, an einem unscheinbaren Ort sein Leben zu finden — diese Zwischenstation bildete sich als sein Ziel heraus; er hoffte, es nicht zu verfehlen. Das Wortdickicht, zornig geschrien, empört heraus‐ gestoßen, murmelnd vor sich hingesprochen, leise er‐ zählt, verzweifelt wiederholt, immer wieder von vorne beginnend, entsprach in seinen unentwirrbaren Sätzen dem Dickicht des Parks, dessen vertrocknete Blätter im ewigen Wind wie Papier raschelten, als seien da emsige Schreiber am Werk, die all diese Sätze gewissenhaft no‐ tierten und mit dem verwehenden Laub dem Wind übergaben, zwischen den schwachen Bäumchen, deren Aste sich schon tief am Stamm in den Ästen anderer Bäume verfingen, in denen der Wind hell jubilierte und in tiefen Tönen jammerte. So verwuchsen die Worte mit dem Ort zu einem Käfig, überfielen den Einsamen, klam‐ 170
merten sich an ihn, wurden zur Last der Erinnerung. Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei. — Guter Schlager war das, den haben alle gesungen. — Das ist alles vergessen. Das ist alles verdrängt. — Dieselbe Melodie. — Es ist immer dieselbe Melodie. — Ich erin‐ nere mich jedenfalls an nichts mehr.— Du erinnerst dich genau. — Man kann das doch nicht alles im Gedächtnis behalten, da würde man ja morgens nicht mehr aufste‐ hen.— Es ist im Gedächtnis auf ewig.— Was willst du, willst du die Zeit anhalten, jede Stunde, jeden Tag, an jedem Ort, das ist alles vorbei, daran erinnert sich keiner mehr, die Menschen wollen vergessen, das ist so. — Und die, die sich erinnern?— Die sind mit ihrer Erinne‐ rung gestorben, die liegen im Grab und die Erinnerung auch. — Die du genau kennst. — Wozu soll ich mich erinnern, woran soll ich mich erinnern, du machst dich unbeliebt.— Soweit ich mich erinnere ... — Soweit die Füße tragen, für ein schlechtes Gedächtnis hat jeder Verständnis, für eine peinlich genaue Erinnerung nicht. — Der Mensch besteht aus seinem Gedächtnis, alle Er‐ innerung bereichert ihn. — Mit dem Satz kannst du dich vor dem Rathaus aufhängen, der Bürgermeister wird dir gerne eine schöne Trauerrede halten. — Ein Satz des Heiligen Augustin. — Auch schon lange tot. — Sein Buch nicht. — Bücher sollte man ... — Wegen des Ge‐ dächtnisses? — Nein, weil Papier so gut brennt. — Auch eine schöne Erinnerung. — Dem Gedächtnis ein‐ gegraben, was willst du überhaupt, ich meine, wer geht schon einen Weg zurück, ein Weg fuhrt nach vorne, jeder Mensch hat sein Ziel im Auge, Lebensplanung 171
nennt man das heute, ist doch vernünftig. — Mir gefal‐ len die Ziellosen, die vom Weg Abgekommenen, die Verirrten, die Unvernünftigen, Pläne erfüllen sich nie, eine Wahnvorstellung von eingebildet Gesunden. — Vor jedem Gericht sagt jeder Angeklagte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, die ganze Justiz ist auf diesem Satz aufgebaut, pro forma wird Recht gespro‐ chen, bewiesen ist nichts, Gerechtigkeit gibt es nicht. — Freispruch für alle. — Was willst du, Schuld und Sühne, wir haben geschuftet wie die Kulis, wir haben gearbeitet bis zum Umfallen, meinst du, das hat sich alles von selbst erbaut? — Lebende ohne Gedächtnis. — Da lebt es sich ganz gut. — Und die Toten? — Sind in bester Erinnerung, jedes Jahr einen Kranz, was willst du mehr, anerkannte Verpflichtung der Gesellschaft. — Tote kehren zurück. — Niemals, deshalb sind sie ja ... — Sie kommen in dein Zimmer, setzen sich an deinen Tisch, stehen um dein Bett. — Die, die ich umgelegt habe, nicht. — Aber daran erinnerst du dich. — Sag mal, was soll das hier, spielen wir absurdes Theater? Die Terrasse war gut gefüllt. Überall plaudernde, la‐ chende Menschen, teuer gekleidet, Kaffee und Cognac, Kuchen mit Sahne. Auf der Prachtstraße der Stadt fla‐ nierten die Menschen vorbei an spiegelnden Schaufen‐ stern voller Mode und Schmuck, elegante Kleider, bun‐ te Schuhe, leuchtende Diamanten in Goldcolliers. Ein vergangenes Licht lag über der gestellt wirkenden Szenerie. Heilige Mutter Gottes bitte für uns. Alle Heiligen im Himmel bittet für uns. Eine Frau mit einem altmo‐ 172
dischen Kopftuch, gebeugt in einer Bank kniend, betete flüsternd den Rosenkranz und schickte ihr beständig wiederholtes ›Bitte für uns‹ durch das Kirchenschiff. Du lebst, sagte sie, du lebst? Ein alter Mann, Krücken in der Hand, sah an die bemalte Decke, blickte auf einen entsetzt herabstürzenden Engel, erzählte halblaut, mit sich selbst redend, Bekanntes, Wiederholtes, immer wie‐ der neu Erinnertes. Wie du lebst? Bitte für uns. Wie du lebst? Bitte für uns. Sich vervielfältigende Stimmen in einem Klangraum, sich als Echo überlagernd, widerhal‐ lend, nachklingend. Ewige Vergegenwärtigung unserer Schuld. Die Messe begann. Der Pfarrer, mächtige Schritte einer gläubigen Gewißheit, mit jedem Schritt das Weihrauch‐ faß schwenkend, verschwand fast im Weihrauch, der in dichten Wolken durch das bunte Licht der Fenster emporstieg, durch die Helligkeit in das dunkle Gewöl‐ be, sich dort verteilte, ein süßliches Gespinst, das den Raum erfüllte. Er breitete seine Arme am Altar aus, die Orgel setzte ein, ein paar dünne Frauenstimmen folgten ihr, die Messe begann. Die wenigen in den leeren Bänken verschwindenden Menschen bekreuzigten sich, standen auf, knieten nieder, bekreuzigten sich erneut, sangen einen Choral, der Ritus war geläufig und wurde wie in Gedanken ausgeführt. Einige gingen zur Kom‐ munion, die Zurückgebliebenen blätterten im Gebet‐ buch, der Weihrauch hatte sich aufgelöst, die Kirche war kalt und dunkel. Das bunte, vielfach gestückelte Glas, ein in allen Farben tausendfach zusammengelegtes Mosaik, ergab aus der Nähe keinen Sinn, aus der Ent‐ fernung vermittelte es etwas, das man nicht benennen 173
konnte, etwas, das dahinterstand; der Zusammenhang erschloß sich nur dem, der sehr lange hinsah und bereit war zu sehen, denn die Teile sind immer ein Ganzes, aber das Ganze besteht nur aus Teilen. Ein Kaleidoskop, dessen Perspektive sich im Auge eines ruhigen Betrachters einstellt, die Welt anders darstellt, anders erzählt, als die von Gedenktag zu Gedenktag marschie‐ renden vorgegebenen Jahreszahlen der allwissenden Chroniken. Noch vor dem Schlußgebet verließen einige die Kirche, auch der Pfarrer schien sich zu beeilen, um seine Gläubigen zu halten, die Messe war beendet, die Meßdiener rannten in die Sakristei. In der Sakristei sagte der Pfarrer, wieder im schwar‐ zen Gewand: Hier betet kaum noch einer. Zur Beichte kommen einige alte Frauen. Sonntags bin ich froh, wenn wenigstens einige Gemeindemitglieder das Hochamt beehren. Als die Kirche zerstört war, ohne Dach, ohne Bänke, ohne Altar, nur die ausgebrannten Seitenmauern standen noch, kein Kirchturm und keine Glocken, da war der Raum überfüllt mit Betenden, die unter freiem Himmel im Regen standen, im Gestank der ausge‐ brannten Kirche. Jetzt ... Der Pfarrer machte eine Hand‐ bewegung, die keinen Segen darstellte, schaltete die Alarmanlage ein, eilig verließen sie die Kirche durch einen Nebeneingang, weil sonst der Alarm ausgelöst wurde. Der Schlüssel drehte sich im Schloß der angerosteten Gittertür, ein scharfer Schlag, der nachhallte und in den Ohren schmerzte, die geöffnete Tür fiel wieder ins Schloß, der Schlüsselbund knallte gegen die nächste 174
Tür, ein metallisches Schlagen, Tür um Tür, durch lange Gänge, vorbei an zerkratzten grauen Zellentüren und abgestoßenen Wänden, auf der anderen Seite, hinter einem Eisengeländer, ein Parallelgang mit den gleichen Zellentüren. Auf jeder Etage hing ein Netz im Licht‐ schacht, als übte hier eine Seiltänzergruppe ihre Kunst‐ stücke, es war unmöglich hinabzuspringen in die Erlö‐ sung des Todes. Eine vergitterte Welt im Dämmerlicht, die nur aus Hall bestand, in dem sich jedes Wort verlor, zu einem allgemeinen Geräusch wurde. Der Wärter schloß die Zellentür auf und sagte: Ich komm nach. Er ging hinein, setzte sich auf das schmale Bett mit der karierten Decke, Axel saß am Tisch und griente, früher hatte er immer einen Kamm dabei, um das ins Gesicht fallende Haar nach hinten zu kämmen, mit viel Pomade eine kunstvolle Frisur herzustellen, die den Mädchen gefiel. Jetzt hatte er einen Ratzekopf, wie man es damals nannte, strich sich aber immer noch über den Kopf, als wären da noch die alten Haarsträhnen. Nach einer langen Pause sagte Axel, mit einer ner‐ vösen Handbewegung immer wieder den Tisch abwi‐ schend: Als ich damals das Milchpulver von dem fah‐ renden Militärlastwagen heruntergeholt habe, da hätte mich der Pfarrer am liebsten mit sämtlichen vatikani‐ schen Orden behängt. Ich hätte Säuglinge vor dem Tod gerettet, hat er gesagt, toll was? Aber das war die Reichsmarkzeit. Als ich in der D‐Mark‐Zeit das gleiche gemacht habe, hatte ich drei Monate am Hals, dann Wiederholungstäter, dann Totschlag, da sitzt du ein Weilchen. Er sah aus dem vergitterten Fenster und brüllte: Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt 175
auch das Glück zu dir! Der Hall der Stimme lief durch die Etagen und kam als Echo wieder zurück. Axel hob hilflos die Hände: Dieser Idiot von der Wach‐ und Schließgesellschaft rennt mir vor die Füße, hab ich ihm eins mit der Brechstange gegeben. Warum bleibt er nicht in seiner warmen Wachstube, für die paar Mark, die sie ihm geben. Verteidigt ein Reifenlager als gehörte es ihm. Im Krieg hätte ich dafür wieder einen Orden bekommen. So ist das. Hängt alles davon ab, wann du geboren bist und wo du geboren bist. Und er wieder‐ holte es ziemlich laut: Wann du geboren bist und wo du geboren bist. Je nachdem, wie gerade die Gesetze sind. Mal bist du Held, mal bist du Verbrecher. Der Gefäng‐ niswärter öffnete leise die Tür, schloß sie hinter sich, warf Axel ein Päckchen Zigaretten zu und stellte sich an die Wand. Sie kannten sich aus einer Zeit, in der sich jeder auf den anderen unbedingt und ohne zu fragen verlassen konnte. Wäre einer von ihnen in die Hölle gefallen, hätten ihn die beiden anderen rausgeholt. Das war das Gesetz. Es galt unumschränkt und auf immer und wurde von jedem eingehalten und war die Grund‐ lage des gemeinsamen Lebens. Es galt lange bevor die anderen Gesetze wieder eingeführt wurden, die ja doch keiner kannte. Später, nach den D‐Mark‐Gesetzen, die ihrer Meinung nach viel unbarmherziger und grau‐ samer waren als ihr einfaches Gesetz und Taten deckten, die sie abgelehnt hätten, später kamen dann noch die Gesetze des neuen Staates, die die Gesetze der Diktatur und der Militärregierung ablösten, sicher ehr‐ bar und gutgemeint, voll edler Absichten, aber sie konnten sich gegen die D‐Mark‐Gesetze nie richtig 176
durchsetzen. Ihr Gesetz war das bessere Grundgesetz, weil es auf gegenseitiger Hilfe beruhte, und sie blieben dabei, bis die neuen Gesetze sie auseinandertrieben. Sie hatten einmal alle in einer Schulklasse mit durch‐ schossenen Wänden und leeren Fensterhöhlen gestan‐ den, an die Wand gelehnt, weil es keine Stühle und Bänke gab, während des Unterrichts geklaute Zigaret‐ ten geraucht, Selbstgebrannten Fusel getrunken, viele barfuß auf dem eisigen Betonboden in kurzen HJ‐ Hosen, einige in den Uniformjacken ihrer Väter, nur wenige mit einem Mantel, den jeder gebraucht hätte, aber Kindermäntel und Kinderschuhe waren überhaupt nicht zu bekommen, die Industrie der Stadt hatte jahrelang nur Waffen hergestellt. Sie waren auch keine Kinder mehr, jeder von ihnen konnte einen Karabiner bedienen, auseinandernehmen und wieder zusammen‐ setzen und über Kimme und Korn auf den Feind schie‐ ßen, jeder von ihnen konnte eine Panzerfaust und ein Panzerrohr bedienen — Achtung auf den Feuerstoß nach hinten! — Jeder hatte gesehen, wie sich das Ge‐ schoß in den Panzer schweißte, und hatte sich vor der Explosion weggerollt, hatte gesehen, wie die bren‐ nenden Soldaten aus dem Panzer sprangen und vor ihr Maschinengewehr liefen, hatte gesehen, wie nach einem Feuerstoß das Gehirn weißlich über das blutige Gesicht der toten Soldaten lief. Vor ihnen standen jetzt weißhaarige und ausgehun‐ gerte Lehrer und Lehrerinnen und erklärten mit zittern‐ der Stimme, daß alles, was ihre alten Lehrer ihnen beigebracht hatten, nicht nur falsch war, sondern ver‐ logen, schädlich, irrsinnig, schlichtweg Propaganda ei‐ 177
nes wahnsinnigen Diktators, der ein ganzes Volk in den Krieg getrieben hatte. Diese Stunde der Aufklärung war für sie alle unvergeßlich, sie würden von nun an keinem mehr glauben, egal was er ihnen erzählte, sie waren belogen worden, wer wußte, ob sie nicht schon wieder belogen wurden. Schule war also unwichtig, Rechnen war o.k., wie es in der neuen Sprache hieß, das hatten sie sich schon gedacht, daß Rechnen von nun an das wichtigste Fach war. Deutsch war schwieriger, weil es mit den alten, nun verdammenswerten Sätzen verbun‐ den war, aber sie hatten es so gelernt und lernten jetzt noch einmal die deutsche Sprache, diesmal angeblich richtig. Alles andere durfte man vergessen, selbst die Landkarten, auf die sie während des Krieges immer gestarrt hatten, sahen, als sie endlich, neu gedruckt, aufgehängt wurden, anders aus, so daß sich selbst die Lehrer darauf verirrten. Die Schüler dieser Schule kamen und gingen wie sie wollten, anfangs drohte das neue Schulpersonal noch, aber als die Stärksten der Klasse die Lehrer daraufhin verprügelten, waren die Machtverhältnisse geklärt. Wenn das schwere und dumpfe Geräusch der Kohlen‐ güterzüge sich näherte, war die Klasse sofort leer. Als ein Lehrer einmal die Schüler festhalten wollte, schlu‐ gen sie so unbarmherzig zu, daß es ihnen hinterher leid tat, zumal dieser Lehrer die deutsche Literatur liebte und ihnen zu ihrer Besserung in dieser Stunde gerade einen vielfach gefalteten Brief von Schiller zeigen woll‐ te, was sie ihm später erlaubten. Für ihn, daran erin‐ nerte er sich genau, war das die wichtigste Unterrichts‐ stunde in seinem Leben. Der Schillerbrief, dünnes 178
Papier mit bräunlichen Falten, darauf eine spitze dunkle Tintenschrift, schwebte, vorsichtig gehalten wie die größte Kostbarkeit, an ihnen vorbei und hinterließ bei ihm einen unauslöschlichen Eindruck von einer anderen Welt. Von den wenigen Schuljahren blieb eigentlich nur dieser Moment. Hustest du immer noch?, fragte Axel. Er nickte. Axel hatte ihn oft von der Schule nach Hause gebracht, wenn er keine Luft mehr bekam. Schreibst du immer noch? fragte Axel weiter. Er nickte. Axel hatte gesehen, daß er schrieb, wenn er ihm am Fenster der Wohnung einen flüchtigen Überblick gegeben hatte, mit welchen Kapiteln sie in den zerfledderten und von Klasse zu Klasse weitergeliehenen Schulbüchern gerade beschäf‐ tigt waren. Was werden sie wohl über uns schreiben? fragte er und wischte wieder über den Tisch. Der Gefängniswärter, der einmal Hein gerufen wurde, gab eine kühle Antwort: Gar nichts werden sie schreiben. Über uns werden die gar nichts schreiben. Die werden ihre große abendländische Geschichte weiterschreiben, ein Krieg mehr, ein Frieden mehr, mal wieder ein neuer Staat mit neuen Grenzen. Mit der Reichsmark ging das Reich, mit dem D‐Day kam die D‐Mark. Das wird alles an übergeordneter Stelle entschieden, was wichtig war und was unwichtig war. Wir sind unwichtig. Bleiben werden einige Jahreszahlen, 33, 39, 45, 48. Wir werden darin nicht vorkommen, wir nicht. Wir durften es nur erleben. Dann sagte er: Die Zeit ist vorbei. Und das verstanden sie alle drei im doppelten Sinn. Ihre alte und auf ewig gedachte Gesetzestafel war zerbrochen. Jeder schlug 179
dem anderen auf die Schulter, dann rasselten nur noch die Schlüssel in den Gittertüren. Könnte doch sein, sagte die alte, mit Schmuck verklei‐ dete Dame in einem Cafe am großen Boulevard der Stadt und sah auf die Demonstranten, die vor der Scheibe mit der Tüllgardine Protesttafeln vorbeitrugen, deren Forderungen die alte Dame nicht verstand: Könnte doch sein, daß ich im Recht bin, sagte sie und sah ihn an: Warum habe ich Unrecht? Sie war alt, sie war häßlich, sie war zu stark geschminkt und trug zu‐ viel Schmuck. Aber das wußte sie. Ihr Gesichtspuder rieselte auf das tomatenrote Seidenkleid, die blondge‐ färbten toupierten Haare fielen auseinander, die über‐ schminkten Lippen umklammerten das Gebiß, schwere, vierreihige Perlen um den faltigen Hals, glitzernde Ringe und goldene Armbänder auf weichem Fleisch. Sie saß hinter ihrer eigenen Fassade und beobachtete die Welt, zu der sie nicht mehr gehörte, auch das wußte sie, und weil die da draußen etwas wollten, was sie nicht verstand, während sie nichts mehr wollte, dieses Haben und nichts mehr Wollen auch für einen erstrebens‐ werten Zustand hielt, fragte sie ihn hartnäckig über das Marmortischchen hinweg: Warum habe ich Unrecht? Ein Stein flog gegen das Fenster des Cafes, ein Spinnen‐ netz hinter gelblichem Tüll. Die Dame aß gelassen ihr Erdbeertörtchen. Sie sah nicht einmal auf die Scheibe. Sie hatte anderes erlebt. Vielleicht fand das ja alles nur statt, damit man später eine Erinnerung vorfand. Ein weiterer Stein schlug gegen das Fenster. Die Dame führte ungerührt eine rosa Kaffeetasse an den Mund. 180
Vielleicht hatten die Vermögenden und Besitzenden und Wohlhabenden, die schon so lange vermögend und besitzend und wohlhabend waren, lange vor dem letzten Krieg, lange vor dem vorletzten Krieg, nicht so viel Unrecht wie allgemein behauptet wurde. Vielleicht hatten sie die größere Erfahrung, das alte Wissen, erworben durch uralten verbrieften Besitz, durch den sie die Welt mit Nüchternheit sahen. Über die kleinen Sorgen und Nöte waren sie erhaben, sie sahen das große Ziel, sahen hinweg über die vielen, die ratlos und hilflos aus dem Krieg kamen, sie wollten das größte Glück für die größte Zahl, das war ehrenwert und sogar wissen‐ schaftlich abgesichert, ein Point dʹhonneur, seltsam nur, daß sie es immer waren, die dabei an Wert und Wert‐ schätzung, Reichtum und Besitz zunahmen, das Glück für eine kleine Zahl und das Unglück und die Armut für alle anderen. Vielleicht konnten sie es selber nicht erklären, ein rätselhafter Vorgang, es ergab sich einfach so, das war nun mal der Mechanismus, der die Welt in Gang hielt, auf bewährte Weise in Gang hielt, wer wollte ihn verändern. Alle anderen Menschheits‐ vorstellungen und Weltsysteme waren dagegen unaus‐ gegoren, unerprobt, waghalsig und daher abzulehnen, kuriose Ideen aus jüngster Vergangenheit, während ihr Denken jahrhundertealt war, was du ererbst von deinen Vätern ... In ihrem alten, ruhigen Denken regierten sie, wie sie es gewohnt waren, und betrieben die Politik dieses neuen Landes, das zuerst eine Währung hatte und dann ein Grundgesetz, welches überflüssige An‐ sprüche an sie stellte, wo sie doch mit der Währung zufrieden waren, kurios, kurios. Wie die Geschichte 181
bewies, war eine gute Währung die Hauptsache für gute Geschäfte, die Verfassung eines Landes war da immer zweitrangig, nun ja, man hatte wenigstens die Währung, über dieses Grundgesetz konnte man hinwegsehen. Die neue Zeit, wie sie mal wieder genannt wurde, die von den leider unglückselig geendeten Zeit‐ läuften zwangsweise veränderte Welt, ohne ihre Schuld, mit ihrer Schuld, wer wollte das entscheiden, sollte sich allmählich und unauffällig zurückverwandeln und ihrem alten Denken anpassen. Würdig saßen sie in grauen Gemäuern, auf ewig unzerstört, und ihre Ge‐ danken waren ganz selbstverständlich die Gedanken der Welt, denn die Welt war ihre Welt, und das war so unbestritten wie die sonntägliche Begegnung mit der Bevölkerung während der Messe, alles im alther‐ gebrachten Rahmen, wie es sich gehörte, die Leute waren freundlich, sie waren auch freundlich, und der Pastor verabschiedete sie vor der Kirchentür, denn immer besaßen sie Brief und Siegel und folgten dem Ritual der Herrschaft, das mit dem Tag ihrer Geburt begann und im feierlichen Staatsbegräbnis endete mit den Worten: um das Vaterland verdient gemacht. Die Demonstranten draußen auf dem Boulevard hat‐ ten sich verzogen. Im Fensterglas des Cafes glitzerten Splitter. Die Mumie neben ihm war eingenickt, den Kopf auf der Brust, saß sie immer noch aufrecht. Auf der Straße bewegungslose Schatten, die sich im unter‐ gehenden Licht auflösten. Der Himmel lag in den zer‐ sprungenen Scheiben. In den Bäumen rauschte Mee‐ reswind. 182
Auf der doppelten Achterbahn des Parks ging es im ra‐ schelnden Laub eines Herbstes, zwischen den im kalten Wind zitternden kahlen Sträuchern um das Leben: Das Leben, das Leben, das ist doch ... ach, was soll man da sagen. — Da soll man gar nichts sagen, das ist immer noch das beste, das Leben verläuft nie gut, da kannst du machen was du willst. — Ich will gar nichts machen, aber was macht man mit dem Leben? Wenn ich noch einmal von vorne beginnen könnte. — Was dann? — Ich sage dir, wie ein König würde ich mein Leben fuhren. — Wie ein König? — Naja, man sagt so. Erst wenn alles vorbei ist, weiß man, was das Leben ist, erst wenn es vorbei ist, das ist die Tragödie, mein Lieber.— Das ist eine Komödie, Verehrtester, glauben Sie mir, eine Ko‐ mödie. — Es ist eine Tragödie. — Auf keinen Fall, be‐ stenfalls eine Tragikomödie, kein Mensch weiß mit sei‐ nem Leben etwas anzufangen, selbst wenn er alles vorher wüßte, würde er doch wie ein Narr daherstol‐ pern. Man müßte ein Weiser sein, wer ist das. Ein Narr ist weise, aber wer will ein Narr sein. — Wir alle sind Narren, wir werden so geboren. — Ein Weiser sollte mindestens sechzig Jahre Leben hinter sich haben, vor‐ her kann er gar kein Weiser sein. — Eben, eben, die Erfahrung machts, die Erfahrung. — Die Erfahrung ver‐ bittert nur, da wird man auch nicht weise, nein, das glaube ich nicht. — Das Elend beginnt mit der Geburt. — Sag ich ja, Tragikomödie. — Und das ist nicht abzu‐ stellen. Immerzu wird geboren und gestorben. Es ist ein Dilemma. Es ist ein Zwiespalt sondergleichen. Das ist ... ach, weiß ich, was es ist. — Man hat erst im Tod seine Ruhe. — Ich wünschte, ich wäre schon tot, dieses 183
Durcheinander hier, wer soll das aushalten. —Ja, diese Menschheit, nirgends ein vernünftiger Gedanke, nir‐ gends eine gescheite Handlung. — Überall nur Wün‐ sche, Sehnsüchte, Fluchten. — Überall nur Lug und Trug. — Und endet alles im Tod. Wenn es endet, wenn es endet. Auf den Gräbern des Friedhofs, in einem vom Meer her wehenden Schneetreiben, versanken die vermoderten Holzstäbe mit ihren unerinnerten und vergessenen Namen im Schnee. Neue Holzstäbe mit neuen Namen standen auf kleinen Hügeln. Die Stimme des Alten war nur noch ein fernes Grammeln. Neue Stimmen waren unüberhörbar: Der Platz für die Toten ist hier sehr eng, finden Sie nicht? — Die Zeit, da ein Seemann vor der Ausfahrt seinen Grabstein bestellte, ist vorbei, die Men‐ schen haben sich vermehrt und mit ihnen ihre Toten. — Auch das Gedächtnis an die, die vorher da waren, hat stark nachgelassen, meiner Meinung nach. — Wahr‐ scheinlich liegen mehr Tote in der Erde als Menschen auf ihr herumtrampeln. — Besuche sind äußerst selten geworden, früher feierte man Feste auf dem Friedhof, da hatte man doch noch was vom Leben, und immer ein Schlückchen für die Toten. —Ja, das ist auch vorbei. — Ich will hier endlich raus, ich will meinen gewohnten Umgang machen, das soll gesund sein, das ewige Liegen ist ungesund. — Mit uns kann man es ja machen, mit uns machen sie alles was sie wollen. — Da liegen zwei Neue, die sind noch ungeduldig. — Die werden auch noch ihren Schlaf finden. — Wenn die Toten be‐ stimmen dürften, wenn die Toten herrschten anstatt der 184
Lebenden, alles sähe anders aus. — Wie sähe es aus? — Königlich, mit weiser Gelassenheit das Land regiert, in Würde. — Ach Würde, ich würde alle Verrücktheiten noch einmal machen, so wie die Lebenden, bis zum Tod, alles noch mal, verrückt, verrückt. — Die Toten sind erhaben über das unsinnige Leben, wir sind eingesegnet. — Ach, so ein richtiger Totentanz ist doch auch schön. — Wir wissen, wir haben uns zurückgezo‐ gen, wir haben es hinter uns. — Warum nicht noch ein‐ mal das ganze Durcheinander, das ist doch das Leben, Chaos, was ist es denn sonst, unsere Ordnung, unsere Stille, zum Gähnen. — In friedvoller Einsamkeit und mit vielen schönen Blumen. — Mit Dauergrün, zum Gähnen, Chaos, das ist das einzig Lebenswerte, jeden Tag etwas anderes, wie im Theater, neue Stücke, neue Rollen, neues Dekor.— Wissen Sie überhaupt, was Sie da reden? Das ist doch alles ganz entsetzlich. — Noch einmal Komödie spielen, das wäre es doch, was soll da Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und Anstand. Mitlügen und Mitgaunern, angeben und betrügen, Heuchelei und Tanderadei, da hat man doch noch etwas zum Lachen. — Sie sind nicht mehr ganz bei Vernunft, was Sie da schildern ist eine Tragödie, Sie sollten froh sein, dem entronnen zu sein. Ich schäme mich, neben Ihnen zu liegen, wir sollten die Plätze tauschen, ein gutes Ge‐ wissen ist ein sanftes Ruhekissen. — Na, so sanft liegt man hier nicht, und ein Lebender ist kein Himmelshei‐ liger. — Wollen Sie tatsächlich noch einmal geboren werden? — Mit Vergnügen, Verehrtester, mit Vergnü‐ gen, Sie nicht? — Naja, ich gebe zu, der eine oder an‐ dere Spaß war nicht zu verachten, es gibt da Dinge, die 185
man als Toter vermißt, aber von vielem hatte man auch die Nase voll. — Ein Dilemma. —Ja, da sagen Sie was. — Unauflösbar, wie man sich auch dreht und wendet. — Eine Tragikomödie. — Nicht abzustreiten, eine fatale Situation. — Ja, was soll man machen. — Schicksal. — Die Götter leben ewig. Ja, die Götter. Unter einem dunklen Wehrturm machtvolle Bronzetü‐ ren, jeden Morgen in einem eingeübten Ritual auf‐ geschlossen, auf flachen Marmorstufen hinauf zu hohen Glastüren, von einem uniformierten Boy geöffnet, dahinter der Lichttempel, der zwischen wuchtigen Marmorsäulen weit in den Himmel aufstieg, ein Glas‐ dach, die Sonne auf den braungeäderten Marmorwän‐ den und der exotischen Pflanzeninsel mit ihren Spring‐ brunnen. Breite Sitzgruppen, gedämpfte Stimmen, fremde Sprachen, gelassene Ruhe im gleichmäßigen Flüstern der Brunnen, eine Alhambra, ein Palast in Hai‐ derabad, ein Kolonialhotel in Singapur — Lord Jim wanderte schweigend durch die Halle, ein malaiischer Schiffsmakler empfing ihn an einem der Tische und übergab ihm von einem chinesischen Reeder das Kom‐ mando eines alten, zum Untergang verdammten Dampfers, unbekannte Fracht nach Macao, mit einer fiebrigen Mannschaft aus aller Herren Länder — in der Treibhaushitze des Sommers, wenn selbst die kühlen Marmorwände sich erwärmten, die Springbrunnen bleiern in der feuchten Luft versanken, die exotischen Blüten in glühenden Farben explodierten. An Winter‐ abenden flammten unter dem Glasdach langgestreckte Kupferleuchten auf, warfen Lichtkreise auf die Mar‐ 186
morwände, die Halle versank im stillen Traum der Nacht, die Glastüren verwandelten sich in Spiegel, die Menschen in Schatten, die Blüten in wuchernde Blätter, nur die Springbrunnen glitzerten im Licht. Monsieur, Mister, Signore, Herr Professor, Herr Doktor, der Herr Generaldirektor läßt bitten. Er steckte in der grünen Uniform mit dreireihigen silbernen Knöpfen und silbernen Borten und dem silbergestickten Namen der Firma am Arm und auf dem Käppi, in der cremeweißen Sommerjacke, auf Taille geschnitten, eng anliegend, wie der Hotelboy eines Grandhotels in einem Ufa‐Film, Creation der Gewandmeisterin des Opern‐ hauses, mehrfache Anprobe mit stundenlangem heim‐ lichen Beobachten der Opernprobe durch eine seitliche Eisentür zur Bühne: Stimmen, Musik, kostümierte sin‐ gende Menschen in einem märchenhaften Bühnenbild, die sich leicht im Scheinwerferlicht bewegten, und er sah, wie es inszeniert wurde, wie das Orchester und die Chöre die Stimmen der Sängerinnen und Sänger empor‐ hoben, nach vorgegebenen Noten inszeniert, immer wie‐ der abbrechend, immer wieder von vorne. Eine unauffällige Nebentür führte von der Marmor‐ halle, dem Empfang einer Weltfirma, ins Zentrum einer Darstellung: schweigende Räume, dunkle Teppich‐ gänge zwischen braungetäfelten Wänden und grünen Samtportieren, bewacht von Ölbildern alter Herren, die als mißtrauische Kaufleute in Goldrahmen hingen und die Gründer dieses Weltreichs waren. Hinter gepols‐ terten Türen gediegene Herrenzimmer mit der gewich‐ tigen Ruhe bedeutsamer Entscheidungen, Orienttep‐ piche, rote wulstige Ledersessel unter klassischen Land‐ 187
schaften mit brüchigem Firnis. Eiltelegramme erfor‐ derten eine sofortige Reaktion, die in seiner Anwe‐ senheit besprochen wurde, als wäre er überhaupt nicht da, wichtige Entscheidungen wurden ihm anvertraut, als existierte er gar nicht. Diskrete Besucher, nur mit Titel anzureden, den Namen sollte keiner hören, saßen gelangweilt in den Sesseln, während der Chef der Firma, die Hände in den Hosentaschen, den Kopf gesenkt, sich leise mit seinen Direktoren besprach; danach hatte er den Besucher wieder diskret hinaus‐ zuführen, auf Fragen nach Interna der Firma keinerlei Angaben zu machen und auch über das Gespräch zu schweigen. Vor ihm die Schreibtische mit den offenen Briefen, die ungeschönten Telefonate, die Gespräche der Firmeninhaber und der Generaldirektoren mit ihren Chefsekretärinen und er, der Beobachter in der Uniform eines Hotelboys, der das alles sah wie eine Opernauf‐ führung durch eine Seitentür der Bühne. Stunden allein zwischen den Glastüren, Medikamente unter der Zunge, mechanisch die Riesentüren öffnend, eine Arbeit, die er zum Kunststück entwickelt hatte. Zwei Schritte vorwärts aus der Gegenrichtung, mit der rechten Hand die Tür kurz anziehen, auf dem Absatz drehen, zwei Schritte rückwärts, mit der linken Hand und mit dem Körperschwung die Tür weit öffnen, eine Inszenierung, die manchen Eintretenden so verwirrte, daß er zunächst einmal stehenblieb. Der unbewegliche Marmorsaal flog bei jeder Türöffnung im spiegelnden Glas durch die Luft, fand beim Auspendeln der Tür zitternd wieder zur Ruhe, um erneut, wie von einem Wirbelsturm erfaßt, über ein unruhiges Meer zu segeln. 188
Lord Jim betrat die Brücke, verfluchte den malaiischen Makler, der ihm diesen chinesischen Handelskahn angedreht hatte, nun mit Maschinenschaden vom Kurs abkam und in der Tropenhitze schmorte, während sich die Besatzung im Schatten der Kombüse lümmelte. Untergehen würde er mit diesem Kahn, das war die einzige Gewißheit, die existierte, absaufen, weil in diesem Leben kein anderes Schicksal auf ihn wartete als dieser Pott hier, der woanders schon längst verschrottet wäre, mit ihm noch auf hoher See, bald schon auf dem Meeresboden. Statt Lord Jim erschien ein Mann namens Heuss, fuhr in einer schweren Autokolonne mit Sirenen, Gefolge und Polizeieskorte vor, wurde als der Herr Bundesprä‐ sident von den Inhabern und Generaldirektoren der Firma zum Jubiläum empfangen und willkommen geheißen. In seinem Gefolge ein dicker Herr, der sich Professor Erhard nannte, von den Generaldirektoren, die ihn mit Herr Bundeswirtschaftsminister anredeten, sofort zur Seite gezogen in ein vertrauliches Gespräch über die fehlenden Exportmärkte, wie ein Generaldi‐ rektor im Stresemann später mitteilte, was ein anderer Generaldirektor im Stresemann richtig und wichtig fand. Währenddessen war es seine Aufgabe, den Herrn Bundespräsidenten aus einem dicken Wintermantel auszuwickeln, das lief sehr behutsam ab und dauerte, weil der Herr Bundespräsident ihm auf schwäbisch sag‐ te: Momentle Büble, Momentle, muscht aufpasse, hab mir da Arm broche, isch no nit recht heil, es zwickt immer no. Und so waren sie nun beide damit beschäf‐ tigt, den Mantel sehr vorsichtig erst über den gesunden, 189
dann über den gegipsten Arm zu ziehen. Er hörte die laute Stimme des Juniorchefs, der immer die Füße auf den Schreibtisch legte und nach dem Anklopfen come in! rief, weil er lange in Amerika gewesen war; er hatte sich einen Herrn Blücher geschnappt, der ihm als Mi‐ nister für das European Recovery Program und Bun‐ desvizekanzler vorgestellt wurde, worauf der Junior‐ chef Aha! sagte und mit knappen Worten die Firma vorstellte, die er auch nicht so genau kannte, worauf der Minister und Bundes Vizekanzler auch Aha! sagte und seine Dankbarkeit durch ein verbindliches Lächeln erwies, denn er mußte noch eine längere, die Firma würdigende Rede halten. Die einfachen Direktoren beschäftigten sich mit dem Ministerpräsidenten des Landes, mit dem Oberbürgermeister und dem Ober‐ stadtdirektor; der Generalmusikdirektor, der Direktor des Kunstvereins und der Theaterintendant widmeten sich ihrerseits den Damen — man kannte sich, man schätzte sich —, und alle würdigten den Ehrenbür‐ gerbrief, den die Stadt dem Seniorchef anläßlich des Firmenjubiläums überreichen wollte. Um ihn, den kleinen uniformierten Boy herum bildete sich ein un‐ geduldiger Kreis, in dessen Mitte er mit dem Bundes‐ präsidenten ein Tanzpärchen bildete, er und der schnaufende, dickliche und ungelenke Papa Heuss, wie ihn alle nannten, im Kampf mit seinem ungefügen Winterpaletot, seinem Schal, seinem Hut, seinem ein‐ gegipsten Arm, der verschobenen Jacke, die auch wie‐ der gerichtet werden mußte — ängstlich beobachtete er den Arm, der steif abstand und den er ständig abtastete. Die Sorge des Herrn Bundespräsidenten galt mehr dem 190
Ann als der Jubiläumsfirma, der Kreis der Firmenlei‐ tung zog sich enger und wartete ungehalten auf die Ju‐ biläumsworte, die nun endlich gesagt werden mußten, die den sich gedrängt fühlenden Papa Heuss aber an‐ scheinend nicht so sehr interessierten, vielleicht auch gar keinen interessierten, weil die Rede irgendjemand für ihn geschrieben hatte und er sie nur vorlesen mußte, während die anderen zuhörten und applaudierten, ein Ritual, bei dem alle schon die Worte kannten, weil es immer die gleichen waren, alles immer schon gesagt worden war, ein Firmenjubiläum war ein Firmenjubi‐ läum und nichts Unvorhergesehenes, ein Termin im Kalender, eine Formalität, um die Dinge der Welt in der Repräsentation zu bewahren und in einer gehörigen Form zu überliefern. Da wurden Reden in die Welt gesetzt, Jubiläumsbände gedruckt, um die rasch ver‐ gehende Zeit in eine Ordnung zu zwängen, um dermal‐ einst davon zu künden; während dermaleinst, das hatte er erlebt, alles nur unter Trümmern lag, vergessen war und keiner mehr die Dinge deuten konnte. Aber es lief nun mal so ab, es lag Hilflosigkeit darin, man hatte wohl auch nicht weiter darüber nachgedacht. Und während sie beide, der Bundespräsident und er, einige Minuten miteinander zu tun hatten, sah ihm dieser bedächtige, tiefatmende und nach Zigarre riechende alte Mann für einen kurzen Moment in die Augen, Blick in Blick auf kürzester Entfernung, und dieser Blick war traurig; tiefliegende wässrige Augäpfel, für Sekunden nachdenklich, ein Mann, der jeden Tag, obwohl es ihm nun schon schwerfiel, das tun mußte, was andere ihm sagten, was andere von ihm erwarteten, eine Galions‐ 191
figur auf einem Staatsschiff, und er, der diesen Mann nur breit lachend aus der Wochenschau kannte, bei Schiffstaufen, beim hunderttausendsten Auto und bei der millionsten neu erbauten Wohnung, beim Neujahrs‐ empfang, der Sportlerehrung, den geretteten Bergleuten und entlassenen Kriegsgefangenen, er ahnte in diesen kurzen Sekunden etwas von der Ohnmacht der Macht, eingebunden in alte Rituale und täglich wiederkehrende Repräsentation, immer die gleichen Gesten, immer die gleichen Worte, ein Rollenspiel, das den Staat darstellte, mit Ministern und Ministerpräsidenten, Staatssekre‐ tären und Staatsverträgen, Botschaftern und Gesandten, Staatsgrenzen und einer Hauptstadt mit einer Natio‐ nalfahne und einer Nationalhymne. Dann drehte sich dieser bekümmerte und leicht gebeugte ältere Herr um, richtete sich auf, lächelte zuvorkommend und war nun wieder der Herr Bundespräsident, der im Namen aller Bürger der Firma zum Jubiläum gratulieren wollte, und ein unauffälliger Herr aus seiner Begleitung steckte ihm das Redemanuskript in die Seitentasche seiner Jacke, da mußte er dann nachher nur noch hingreifen, und alles nahm seinen gewohnten Lauf, denn natürlich war es ihm eine Herzensangelegenheit, wie er den Inhabern und dem Direktorium sagte, ein Tag der Freude, Scheinwerfer leuchteten auf, Kameras surrten, Hände wurden gereicht, freundliche Verbeugungen, Begrü‐ ßung und Dank, die Inhaber und die Generaldirektoren der Firma nahmen den Präsidenten der Republik energisch in die Mitte, das Zeremoniell begann und lief ab wie geplant, auf die Minute genau, und er, an diesem Tag immer wenige Meter hinter dem Staatsoberhaupt 192
— so sein Auftrag, falls der Herr Bundespräsident einen Wunsch habe, der seine orientierende Hilfe erfor‐ derte —, er sah an diesem Tag einem Schauspiel zu, sah es wie durch die eiserne Seitentür der Opernbühne, und es war genauso inszeniert. In der Marmorhalle drehte die neue deutsche Filmpro‐ duktion gerne die repräsentativen Teile ihrer altklugen Filme. Hinter der langsam dahingleitenden Kamera standen viele wichtige Menschen, die in den Drehpau‐ sen von goldenen Ufa‐Zeiten schwärmten: Da kam Goebbels aber persönlich und sagte, so geht das nicht, meine Herren, so nicht. Vor der schwenkenden Kamera wurden Kommandos gebrüllt, und nach einem Schlag mit einer numerierten Klappe stieg ein älterer berühmter Schauspieler die elegante Treppe einer Ho‐ telhalle hinab und sagte dabei: Ach, da sind Sie ja, meine Liebe. Und eine jüngere berühmte Schauspielerin machte einen Hofknicks und sagte, mit großen Augen strahlend: Ich freue mich sehr, Herr Hofrat. Das machten sie dreimal hintereinander, bis sie es konnten, und ein zappeliger Herr mit goldgepunkteter Fliege, der noch berühmter schien, sagte in einem ungarischen Deutsch: Das haben wir im Kasten. Wieder schlug die weiterzählende Klappe, und die junge Schauspielerin flatterte jetzt in einem weißen Kittel durch die Halle eines Privatsanatoriums und rief: Ein Notfall, Herr Hofrat, ein Notfall! Und der ältere Schauspieler, der nun auch einen weißen Kittel trug, kam sorgenvoll die Treppe herab und sagte: Immer mit der Ruhe, die Eile hat der Teufel gemacht. Auch das wurde wiederholt, 193
besonders das Lachen der beiden am Ende des Satzes, das nicht zu gelingen schien. Heiter aber doch gefaßt, schalkhaft aber mit Ernst, sagte die goldgepunktete Fliege im singenden Ungardeutsch, setzte sich ein Ob‐ jektiv an ein Auge, drehte daran herum, sagte: Gekauft! Die nächste Szene. Der Mann zeigte gern sein künst‐ lerisches Temperament, sprang auf, gestikulierte, schrie herum; auf seinem Stuhl stand »Regisseur«, weil sonst wahrscheinlich keiner wußte, welchen Beruf er ausübte. Neben der Treppe, die in die Direktionsetage führte, wurde eine Hotelbar aufgebaut, an der die junge Schauspielerin und der ältere Schauspieler einen Man‐ hattan tranken, sie im Abendkleid, er im schwarzen Anzug, und sie hauchte, sich vorbeugend: Aber ich liebe Sie doch, und er sagte, versonnen sein Alter ausspielend: Ach, die Liebe, die Liebe. Das gold‐ gepunktete Ungarmännlein krähte sich die Stimme aus dem Hals: Lieebe, Lieebe! Die beiden Sätze wurden so lange wiederholt, bis die Schauspielerin schrie: Ich kann nicht mehr! Die Stimme aus dem Regiesessel lachte: Der einzige Satz, den Sie heute richtig gesagt haben. Der Regisseur, der sehr gekonnt den Regisseur spielte, sah die Welt, das war zu erkennen, ausschließlich in vorgeschriebenen Sätzen, eingeübten Bewegungen und vorgetäuschten Handlungen, sah sie nur in kleinen Schnipseln, die er neu zusammensetzte, damit die Menschen im Kino das undurchschaubare Mosaik ihres chaotischen Lebens im angenehmen Ablauf schöner Bilder vergaßen, aufeinanderfolgende Bilder, die einen Sinn ergaben und auf ein klares Ziel zuliefen. 194
Und dazwischen stand er, bewegungslos in seiner Rolle als Hotelboy, ungesehen, durchsichtig, nicht vor‐ handen, die unsinnigen Sätze liefen in Wiederholungen an ihm vorbei, da zwischendurch die Rollen memoriert wurden, war kaum noch zu unterscheiden, wann ge‐ spielt und wann nicht gespielt wurde, alles ging inein‐ ander über, der Text floß ein in die privaten Bemer‐ kungen der Schauspieler, nach einigen Tagen konnte man nicht mehr erkennen, was Film, was Leben war; alles löste sich auf in Wiederholungen, und keiner wußte zum Schluß, was davon ›Gekauft‹! oder ›nicht gekaufte, Film oder Abfall war. Im Kino sah er sich dann als bewegungslos dastehenden Hotelboy, un‐ gesehen, durchsichtig und nicht vorhanden, ein unfrei‐ williger Beobachter, von keinem erkannt, mit einem Hotelnamen auf dem Käppi. Er spielte einen Hotelboy in einer nichtexistierenden Welt, die ein Scheinleben darstellte, und er sah sich, wie er durch eine Hotelhalle ging, die gar keine war. Vor dem Kinofilm schwebte auf der Leinwand in einem Werbefilm die Persildame durch Deutschland, ein überirdisches Wesen, eine gute Fee, die Göttin der Reinheit, die das ganze Land in ein strahlendes Weiß tauchte, in ein blendendes, ganz undurchschaubares Weiß. Für ihn verwischte sich erneut das Bild vom Le‐ ben und das Leben selbst an einem Tag, an dem die Persildame frühmorgens noch eine nervöse Schauspie‐ lerin war, die stundenlang geputzt und geschminkt und angekleidet und umgekleidet wurde, bis aus dem jun‐ gen Mädchen langsam und mühevoll die Persildame 195
entstanden war. Auch seine Operettenuniform wurde noch einmal in der Kostümabteilung des Opernhauses auf Hochglanz getrimmt, der grüne Stoff gebügelt, die silbernen Knöpfe poliert, die silbernen Borten kontrol‐ liert. Am Nachmittag probte die Persildame mehrfach den verschlungenen, um möglichst viele Tische her‐ umführenden Weg durch einen großen Raum zur Bühne, er sollte sie führen, sie sollte ihm folgen. Als traumhafte Erscheinung sollten sie den Saal durch‐ schreiten, ein ästhetisches Paar, das durch abgedunkelte labyrinthische Gänge, an den Menschen vorbei, in leichten Bewegungen zur leuchtenden Bühne schwebte. Die Geburt der Schönheit aus der Schwärze einer vergangenen Zeit, hinein in die Gegenwart des Lichts. Am Abend wurden sie in einen kleinen Nebenraum gebracht, eine Pendeltür führte in den Saal, der, von Beifall und dröhnendem Männergelächter erfüllt, sich in ein Vergnügungslokal verwandelt hatte. Komiker, Zauberer, Jongleure traten abwechselnd durch die Pen‐ deltür, liefen durch den Saal, sprangen auf die Bühne wie auf eine rettende Insel, kamen nach dem Auftritt schweißgebadet wieder zurück. Er stand in seiner Uni‐ form neben der pendelnden Tür, der er gelegentlich einen Stoß gab, um zwischen den Tischen und Stühlen den Weg zu erkennen, den er nehmen sollte. Vor ihm stolzierte die Persildame nervös auf und ab, umgeben von Damen und Herren in weißen Kitteln, die immer noch einen Fussel am Kostüm fanden, immer noch et‐ was Rouge oder Puder nachlegten, den Rocksaum und die Rocklänge prüften, während die Persildame laut ih‐ ren Text memorierte. Wohlgeformte Worte entstiegen in 196
wohllautender Klarheit ihrem blutrot geschminkten Mund, der sich zuspitzte, öffnete, weiße Zähne zeigte, die zum Kostüm paßten, denn alles an ihr war weiß und jungfräulich, die hohen spitzen Schuhe, der schwin‐ gende Rock, das kurzärmelige, eng anliegende Oberteil, die Handschuhe, die kleine Kappe auf den hellblonden Locken, selbst das lächelnde Gesicht erschien rein und fein — nur die nackten Arme und die seidenen Strümpfe zeigten einen sündigen Fleischton. So sollte die deutsche Frau wieder aussehen, weiß und schlank, in jungfräulicher Helligkeit, strahlender Reinheit und vollendeter Schönheit. Die Persildame wurde immer unnahbarer, ihre Stimme immer lauter, er sah hingerissen zu, wie ein Mensch sich in eine Figur verwandelte, ein anderes Selbstbewußtsein bekam. Sie stöckelte vor ihm hin und her, er bewunderte sie, sie hatte einen Zuschauer gefun‐ den, blühte auf, spielte für ihn die Persildame, ein schöner Moment, der abrupt beendet wurde durch ei‐ nen allseits beliebten schwäbischen Komiker, der als Conferencier des Abends bei jedem Auftritt Lachsalven einheimste, in dem kleinen Raum neben der Bühne aber sofort sein Lachen verlor und übellaunig und mißmutig auf das Publikum und das Honorar schimpfte und sich fragte, warum er saublöder Depp ausgerechnet Komi‐ ker werden mußte. Er kam durch die Pendeltür herein‐ gestürzt und schrie: Ihr müßt raus, ich hab euch ange‐ sagt! Das war nun gerade der Augenblick, in dem die Persildame absolut nicht auftreten wollte, sie scheute wie ein Rennpferd vor dem Start, bat sich noch einige Konzentrationsminuten aus, man möge einen Jongleur 197
hinausschicken. Der Komiker schrie wieder: Ihr müßt raus, ich hab euch angesagt! Er stand in seiner Uniform wie ein Zinnsoldat an der Pendeltür, den Griff schon in der Hand, raus oder nicht raus, die Persildame benahm sich wie eine gekränkte Dame bei Hof, wollte von einer Sekunde zur anderen wieder ein kleines Mädchen sein, wollte überhaupt nie und niemals auf die Bühne, der Komiker schrie und war überhaupt nicht mehr komisch. Er öffnete die Pendeltür, irgendeiner gab der Persil‐ dame einen Schlag in den Rücken, sie stand über‐ raschend im Saal, rannte los, er lief hinterher, versuchte auf gleicher Höhe zu bleiben, sie den lang eingeübten Weg entlang zu fuhren, leicht und elegant, ein schönes Paar, das langsam an aller Augen vorbeiglitt; aber die Persildame nahm den kürzesten Weg zur Bühne, stolperte auf das Podium, er half ihr auf, Scheinwerfer blendeten sie, man sah nur das metallisch leuchtende Mikrophon, die Persildame ergriff es, hielt sich daran fest. Er stellte sich neben sie wie geprobt, und dann kam eine lange Pause, Sekunden wurden zu Stunden, grauenhaft und endlos. Blitzlichter zuckten durch den Raum, ein dunkles Geraune stieg zu ihnen auf, die Hand der Persildame umklammerte das Mikrophon, aber die blutroten vollen Lippen brachten kein Wort heraus, sie hatte ihren Text vergessen. Er flüsterte ihr ein paar Worte zu, aber die Persildame hatte auch ihr Gehör verloren. Die Menge unter ihnen kam in Bewe‐ gung, ein Meer von schwarzen Männersakkos, die Persildame hauchte in Verzweiflung und Angst ›Persil‹ ins Mikrophon, strahlte mit ihren weißen Zähnen im blutroten Mund, die schwarzgekleideten Männer unter 198
ihnen sprangen auf, jubelten, applaudierten, schrien mit weit offenen Mündern, die Persildame hauchte wieder ›Persil‹, die Männer stöhnten auf, ein einziger Brunft‐ schrei, eine Figur und die Menge, bereit zu empfangen. Es war der öffentliche Zeugungsakt der neuen deut‐ schen Frau, schaumgeboren aus Persil, weiß, rein und unbefleckt, die Halle tobte, die Persildame stürzte von der Bühne, wurde aufgehalten, ging mit ihrem schnee‐ weißen Kleid unter in der schwarzen Menge, und wie die mitternächtliche Blütenexplosion einer seltenen Pflanze erschien die Persildame im gleichen Moment auf allen Straßen der neuen Republik, auf den wieder‐ aufgestellten Litfaßsäulen, auf den Normaluhren, die wieder die richtige Zeit anzeigten, auf den Plakat‐ wänden, die die zerstörten Trümmergrundstücke ver‐ deckten mit dem Weiß einer neuen Diva. Die Schönheit war wiedergeboren und brachte allen das hygienische, alles säubernde, alles reinigende Waschmittel in der Qualität der Vorkriegszeit, eine strahlende Wieder‐ geburt, und er saß im Kino und sah, wie die Persildame vor jedem Film lächelnd und blendend weiß vorüber‐ schwebte. Die Kinozuschauer um ihn herum klatschten Beifall und waren zufrieden und freuten sich auf Paul Henckels und Marianne Koch, die in der prächtigen Marmorhalle eines Grandhotels leichthin plaudernd an einem Hotelboy vorbeigingen, aber davor kam noch die Wochenschau, in der der Bundespräsident Heuss dem Fußballgott Toni Turek gratulierte — der doch gerade von flatternden Fortunafahnen begleitet auf einem Lastwagen durch die Stadt gefahren war —, und beide 199
sahen freundlich in die Kamera, als ob sie in diesem einen Augenblick die Wirklichkeit darstellten. Erstarrte, unbewegte Bilder, durch das Licht und die Optik eines Projektors gezogen, im Auge des Betrachters ein fort‐ laufendes Geschehen, eine sinnvolle Welt, eine wieder‐ holte Wiederholung. Fox tönende Wochenschau. Totale aus dem Sternenhim‐ mel. Kamerafahrt auf einen illuminierten Palast am Fluß. Schwenk auf die weiße Lichtpforte. Entree zum goldenen Saal. Scheinwerfer geleiten Menschen in glit‐ zernden Kostümen, verwandeln sie in leuchtende Ge‐ stalten, langsames Defilee über einen roten Teppich, eingeübtes strahlendes Lächeln in das Dunkel hinter den Absperrungen, aus dem Beifall aufrauscht, vor dem Eingang noch einmal ein schwungvolles Umsetzen der Füße, schmale beringte Händchen hauchen zauberhafte Kußhändchen, winken in die Nacht, ein letzter Gruß den Zurückgebliebenen im harten Kampf ums Dabei‐ sein. Unter der goldenen Kuppel, für die der Saal am Fluß berühmt war, in einer Dekoration aus goldenen Putten, Girlanden und Federn, drängten sich goldene Kostüme und goldene Gesichter um goldene Kerzen in goldenen Kerzenhaltern, nahmen die goldenen Teller zwischen den goldenen Blumenarrangements, gingen zum Gold‐ büfett mit dem golden verzierten Essen, schwebten durch das dämmrige, goldene Licht des Raums in einer goldenen Zeit. Er stand am Saaleingang mit der goldenen Filmillu‐ strierten in den Händen, seine Hände klebten am Gold‐ 200
papier und wurden mit jeder Stunde goldener. In der Garderobe hinter ihm rauchten die Musiker noch rasch eine Zigarette, Jockeys redeten über das nachmittägliche Pferderennen, lachten über die Dehnübungen des Balletts und löffelten Kaviar aus Dosen mit kyrillischen Buchstaben. Dazwischen die Mannequins für die Modenschau, ein Durcheinander von Büstenhaltern und Höschen, weißem und schwarzem Satin, raffinierten Dekolletes und schweren weiten Röcken. Dieses Jahr ist die Taille wieder sehr hoch, sagte der vorbeieilende Conferencier. Das Orchester begann mit seinen schleichenden Sa‐ xophonen, weichen Posaunen und hellen Trompeten, alles geriet in Bewegung, Paare drehten sich unter der goldenen Kuppel im goldenen Schein der Lichter, gol‐ dene Kostüme, goldene Haare, goldene Masken, gol‐ dene Schühchen, Foxtrott, Rumba und Paso doble, Kameras kreisten, die Kellner ließen Korken knallen, golden perlend füllten sich schmale hohe Gläser, ein Rauschgoldengel lallte ›Oh, lá, lá‹ in das goldene Mi‐ krophon und in die Kameras und bat alle mitzusingen und mitzumachen an diesem wunderschönen goldigen Abend, bis der Conferencier den Engel wegschob, dem Publikum seine vergoldeten Zähne zeigte und alle pau‐ senlos ›Ihr lieben goldigen Menschen‹ nannte, und die Kameras kreisten, hielten die ununterbrochene Bewe‐ gung fest, um sie jederzeit wieder in Bewegung setzen zu können, erstarrte Bilder im künstlichen Ablauf. Er stand vor einer vergoldeten Säule, die goldene Filmillustrierte in seinen Händen löste sich langsam in einen Goldbrei auf. Fürst Andrej und Natascha schritten 201
die Freitreppe herab, sie in einem weißen Musselin‐ kleid, er, frisch vom Schlachtfeld, in seiner eleganten Uniform. Sie tanzten in der Mitte des Saals, beneidet von allen, die schweigend einen Kreis bildeten. Tusch des Orchesters. Auf der Bühne wurde einer hysterisch kreischenden Person eine goldene Figur überreicht, sie dankte allen für das unendliche Glück, das ihr hier auf dem Höhepunkt ihres Lebens widerfah‐ ren sei, was von unten mit höhnischem Gelächter be‐ gleitet wurde. Einige andere, vor der Bühne schon un‐ geduldig drängend, erstiegen anschließend die Stufen, nahmen weinend und stotternd kleinere Figuren ent‐ gegen. Licht an, Licht aus. Jubel und Pfiffe. Das hat mich gekostet, frag nicht wieviel, da hängen sehr viele Nullen dran. Hinter der Säule lag die Bar, die sich mit ernsten Männern füllte, die an der vergoldeten Inszenierung nicht sonderlich interessiert schienen. Ir‐ gendein Stoff, irgendwas, ganz egal was, nur nicht so verquast, etwas Schnuckeliges, Süßes, so zwischen Sissi und Schwarzwaldmädel. Ich dreh jedes Jahr eine Plotte in Ungarn. Ungarmädel macht sich immer gut. Das kennen die Leute noch von der Rökk her. Irgendwas Lustiges, Heiteres, mit dem Erhardt, dem Lingen, dem Moser, die Leute wollen lachen. Hör mir uff mit de deutschen Autoren, Kritik und Gesellschaft, zum Wei‐ nen, sag ich dir, zum Weinen. Ach die Knef die hat immer noch ihren Trümmerblick, geh weg, wer will das sehen. Die Romy, die Romy, ja, aber wer bezahlt sie? Ich immer mit der Schell und dem O.W. F., immer Haupt‐ treffer, Traumpaar bleibt Traumpaar. Albers zieht nicht mehr. Der hat was Heroisches. Das will doch keiner 202
mehr. Was sollen mir Stars, fressen nur Geld, ich laß meine Sekretärin entdecken, das Buch schreib ich selber, Regisseur brauch ich nicht, mein Kameramann hat schon bei der Ufa gedreht, sechzig Einstellungen am Tag, wer kann das noch? Ja, die jungen Regisseure, den ganzen Tag Schwenks üben, bis die Sonne weg ist. Brauchen einen weißen Elefanten, um ihn dann rauszuschneiden. Sepp Herberger im Regenmantel und der verschwitzte Fritz Walter, die jubelnden Massen, der Pokal, der treue Blick der Helden, ich sag dir, das ist es. Du übernimmst 10%, 20% übernimmt — du weißt schon, hier keine Namen — 35% sind mein Anteil, den Rest —. Mehr? Mehr ist nicht drin. Wieso denn auf einmal das? Ich muß doch auch der Partei in Bonn geben, die Fördermittel, wo sollen sie herkommen? Also gut, schneid mir ins Fleisch, 40% für ihn, geh ich auf 32,5 und du auf 7,5. Geschrei, ja Geschrei. Ich weiß, er teilt durch zwei, stiller Teilhaber, aber mehr als 100% geht nicht, das war schon im Altertum so. Außerdem, der Film soll ja keinen Gewinn machen, als Verlust erbringt er 200% Steuerabschreibung. Darum geht es doch. Das soll doch hier ein Geschäft sein. Worüber reden wir denn? Sagt er zu mir: Alles Stückwerk. Alles Stückwerk. Alles nur einzelne Teile, Beobachtungen, Gedanken, Szenen. Bilder einer Großstadt. Menschen am Sonntag. Sage ich zu ihm: Das ist sinnlos. Sagt er: Das ist es ja, es ist sinnlos. Es gibt keinen Zusammen‐ hang mehr. Alles ist zersplittert. Das ist das Bild. Mehr ist nicht zu sagen. Sag ich zu ihm, geduldig wie ein Humanist: Das muß eine Handlung werden. Das muß auf etwas Sinnvolles hinauslaufen. Ein beglückendes 203
Happy‐End. Das wollen die Leute so. Dafür bezahlen sie ihr gutes Geld. Die zahlen doch nicht für Sinnloses. Sinnloses haben sie in ihrem Leben genug. Nimmt er mir das Drehbuch aus der Hand und sagt: Eben. Das steht im Leben alles sinnlos nebeneinander. Zufällige Ereignisse, die einer so, der andere so erlebt. Da gibt es nichts Sinnvolles, geschweige denn eine Handlung, geschweige denn ein gestelltes Happy‐End. Die Figuren drehen sich im Kreis, halten sich an den Hän‐den, versuchen eine Polonaise, das Orchester schmet‐ tert: Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien ..., hell‐ schimmernde Maske vor glattem Schädel, verführerischer blonder Lockenkopf, schwarzgelacktes Haar mit Ope‐ rettenblick, Freibeuter mit offener Brust und Augen‐ zwinkern, Produzentenhärte im Rüschenhemd, Men‐ schenfresser mit Brieftasche, rothaariger Vampir, freier Busen, freundliche Ärzte, entgegenkommende Richter, verständnisvolle Professoren, gütige Rechtsanwälte, verschwiegene Mönche, die Musik lauter, schneller, hämmernd, Totentänzer, Maskenträger, nacktes gepu‐ dertes Fleisch, kalkweiße Körper, Skelette im Kerzen‐ licht, höhnisches Grinsen, gellendes Lachen, krei‐ schendes Gelächter, Häme im Frack, Lüsternes im Abendkleid, arrogante Nase, lästernder Mund, dro‐ hende Augenbrauen, rote Lippen, starre Augen, ge‐ fletschte Zähne, gezähmte Wilde, Faustschläge und Verbrüderungen, Kopulierende und Streitende, sich auf goldenen Stühlchen Übergebende, hemmungslos Weinende, die ihr Kostüm wegwerfen, Menschen, die ratlos und ohne jede Orientierung in der Mitte des Saales stehen und sich mit den Fingern durch das 204
geschminkte Gesicht fahren. Menschen, die sich auf dem Parkett unter der goldenen Kuppel in ihrem Dreck wälzen, betrunken übereinanderfallen, übereinander‐ herfallen, übereinanderliegen. Als die Scheinwerfer erloschen, der Palast ins Dämm‐ rige sank, die Tänzer mit zerlaufener Schminke und zerfledderten Kostümen wie abgehängte Marionetten auf Tischen und Stühlen lagen, das Gold um ihn herum im heruntergebrannten Kerzenlicht verschmiert und dreckig aussah, sich als Bronzefarbe ablöste, die Säule hinter ihm sich als Sackleinen und splitterndes Holz enthüllte, legte er die goldene Filmillustrierte mit den goldenen Bildern einer goldenen Welt auf das zerstörte Büfett, stieg über die reglosen Körper am Boden, kalte Grabsteine an einem grauen Friedhofsmorgen, und verließ den Palast durch den Haupteingang, keiner der vielen Polizisten hinderte ihn daran, jeder konnte jederzeit das goldene Gefängnis verlassen und ins Dunkle gehen. Er wusch seine goldenen Hände im Fluß, der ruhig durch die Nacht glitt, der aufsteigenden Helligkeit entgegen. Hinter den Fenstern des Palastes ein verblassendes Licht, Schatten drängten sich in‐ einander, es war still. Fürst Andrej kam aus dem Palast, stieg eilig in eine schwarze Kutsche, die Kutsche rollte davon. Einen Moment lang dachte der Fürst an seine tödliche Verlet‐ zung, an die Nichtigkeit aller Größe und Herrlichkeit, an die Nichtigkeit des Lebens, dessen Bedeutung nie‐ mand verstehen kann, und die noch größere Nichtigkeit des Todes, dessen Sinn keiner, der noch am Leben ist, zu begreifen und zu erklären vermag. 205
Leuchtendes Blattgold auf goldenem Honig auf dem starren, maskenhaften Gesicht des demütigen Künstlers, Goldmaske der Zeit, der Künstler im Gebet: Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt. Zwischen Filz‐ decken und Fettecken kriecht der Künstler auf den Knien und zeigt dem toten Hasen, die Schlappohren im Mund, die Vorderpfoten in der Hand, mit pädago‐ gischer Liebe die Bilder in der Galerie, redet mit der Hasenseele, denn auch Tiere haben für ihn eine Seele, nimmt sich Zeit, er ist bei der Arbeit, Konzentration des Schöpfungaktes. Der Galerist Schmela freut sich über den neuen Christus, erklärt seine Lehre für verbindlich und gibt ihm seinen Segen, panem et circenses. Der Künstler besitzt eine Fischerweste und einen Hut, deswegen kennen ihn alle und nennen ihn ›Dä Jupp‹. Er verkündet seinen Jüngern: Ohne die Rose tun wirs nicht. Ohne die Rose fangen wir gar nicht erst an. Er erfindet die Honigpumpe, erläutert den Bienenstaat, verwandelt eine Straßenbahnhaltestelle in einen Tempel, läßt sich, in eine Filzdecke gehüllt, vom Anatol in einem Kanu über den Fluß paddeln, über dem Wasser schwebend mit seinem Totenkopf. Er erklärt den Bürgern der Stadt, daß es Geld als solches gar nicht gibt, redet weise und bedenkend: Geld, was ist Geld? Keiner weiß es. Geld ist nicht zu definieren. Geld ist ein Phantom. Wir haben es in den Händen, es sammelt sich in den Geschäfts‐ büchern, wird zur Summe des Reichtums, wird zu Kapital, aber was ist Kapital? Eine Fiktion aus Nullen, die sich durch Nullen vermehrt. Ein Perpetuum mobile 206
ohne jeden Sinn. Ist das unser Leben? Nein. Ist es das von uns Hergestellte? Nein. Also bedenkt euch. Bedenkt euer Leben und das, was ihr in eurem Leben tut. Das ist nur der Beuys, sagen die Bürger der Stadt, das ist alles nur dummes Zeug, das hat nicht viel zu besa‐ gen, das ist keine Kunst, deswegen werden wir uns nicht beunruhigen. Das Geld haben wir, und unser Geld regiert die Welt, denn Geld ist Macht, und wer Geld hat, hat das Sagen. So leben sie im Genuß dieser Macht und hören nicht auf die Künstler, die sich in ihren Warnun‐ gen überbieten. Rinke gießt Wasser in den Fluß. Keiner begreift die Tat. Kricke verbiegt Röhren zu Luftschlan‐ gen. Keiner begreift die Tat. Baumann verschlingt Auto‐ bahnen zu Labyrinthen. Keiner begreift. Spoerri stellt verlassene Speisetafeln als Fallenbilder auf. Keiner begreift. Thomkins Palindrome, Wortirrwege von vorne und von hinten. Keiner begreift. Klaphecks unheimliche Maschinenarmee, Geigers glühende Sonnen, Kriwets zerstörte Sätze, Pienes Feuerbilder, Ueckers Nagel‐ landschaften, Macks Aluminiumwüsten. Keiner begreift die Taten. Ein aussichtsloser Kampf gegen windige Mühlen, die weiterhin Krickekracke mit Geracke das Geld mahlen und einsacken. Und abends zum wohlverdienten Amüsement ins Apollo. Rosa leuchtendes Neon am Ende der Pracht‐ straße der Stadt. Wiedergeborener Traum der Vor‐ kriegszeit. Vorbei die Nacht der Nächte, in der Lionel Humptons Big Band viertausend Menschen in Ekstase versetzte: Air Mail Special. Flying Home. Ein durch das Weltall taumelnder Stern, auf dem es brodelte, kochte und überschäumte; ein Orkan, ein Zyklon, ein Tornado 207
aus Lebensfreude, Lebenswillen, freiem lebendigem Leben, der durch die Stadt fegte, alle Türen und Fenster noch einmal öffnete, aufsprengte, noch am anderen Morgen tanzten die Menschen durch die Straßen, umarmten sich Unbekannte, lachten Fremde einander zu. Nun endlich wieder die geliebte Vorkriegsordnung. Das vergoldete Portal. Die Kinoorgel mit den richtigen Liedern. Das Nummerngirl mit der gewohnten Zah‐ lenfolge. Das Variete mit den überschaubaren Kunst‐ stücken. Die Conferenciers mit ihren bewährten Witzen. Die Kinofilme mit den bekannten Schauspielern: Ich weiß, es wird nochmal ein Wunder geschehen. Ans‐ chließend Autogrammstunde: Zarah Leander, rothaarig, geheimnisvoll, eine dunkle Zeremonie. Heinz Rüh‐ mann, lächelnd, dienernd, sich eifrig verbeugend, bekannt als Quax der Bruchpilot und Held der Feuer‐ zangenbowle, ein Erinnerungsstück der Stadt, in dem von vornherein alles wieder gut ist. Holiday on Ice auf einer bunten Eisfläche, gleitende Paare in eleganter Abendrobe bei schwebender Musik, der Eisclown und das große Ballett. Kalanag und Gloria, die Zaubershow. Ein gemütlicher Zauberer im Frack, assistiert von einer langbeinigen Blondine, läßt die Stadt verschwinden und, Wunder über Wunder, welch ein zauberhafter Zauber, eine Handbewegung des Meisters, und die Stadt ist wieder da, schöner als je zuvor, und beruhigt und zufrieden geht man Arm in Arm nach Hause und schläft tief hinter Sicherheitsschlössern und Sicher‐ heitsketten. 208
Wunderheiler, Hypnotiseur und Handaufleger mit phänomenalen Erfolgen. Heilung aller Krankheiten durch Hypnose. Nur wenige Tage in der Stadt. So die bescheidene Anzeige in der Zeitung, so das Stadtgeflü‐ ster der Frauen, das auch seine Familie erreichte. Sein Großvater übernahm es, ihn unter sarkastischen und glaubensfeindlichen Äußerungen zu begleiten. Am Eingang eines efeuverhangenen, verwitterten Gemäuers stand eine Dame im Abendkleid, die sich zwanzig Mark erbat, danach war der Weg frei. Ein verrutschter Läufer führte sie in einen dämmrigen Raum. Unter einem verstaubten Kristalleuchter dreizehn Holzstühle mit hoher Lehne im Kreis auf einem Teppich, der schon mehrfach die Feuer‐ und Wasserprobe bestanden hatte. Sein Großvater mußte sich als Zuschauer auf einen Stuhl an der Wand setzen, er durfte in den Kreis. Auf den Stühlen Menschen in Erwartung, bereit, an jedes Wunder zu glauben. Leises Flüstern: ... Von einer Stunde zur anderen wieder gesund ... Lag schon auf dem Totenbett, und jetzt geht er wieder ... Die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben ... Ärzte taugen nichts, sie wissen nichts ... Wieder auferstanden von den Toten, wieder auferstanden ... Hinter sich hörte er seinen Groß‐ vater murmeln: Blinde werden sehen, Lahme werden gehen, Manna wird vom Himmel regnen. Die gläubige Gemeinde blickte erbost in Richtung seines Großvaters. Dann wieder Stille. Warten. Geduldiges Warten. Ergebenes Warten. Hoffendes Warten. Warten auf den großen Augenblick der bevorstehenden Wunderhei‐ lung. Gefaltete Hände, geneigte Köpfe, vorsichtiges Räuspern, das Teppichmuster gewann an Bedeutung. 209
Ein roter Vorhang bewegte sich und die Dame vom Eingang erschien, blickte auf den Kristalleuchter und hauchte einfühlsam, um die Stille nicht durch ein lautes Wort zu gefährden, der Meister konzentriere sich im Moment in einem Nebenraum, wenn er seine Kräfte gesammelt habe, wenn er soweit sei, alle unguten Strömungen fernzuhalten und alle guten Strömungen in Bewegung zu setzen, werde er erscheinen. Fehlt nur noch Weihrauch, hörte er seinen Großvater murmeln, der von bösen Blicken fast aus dem Zimmer gejagt wurde. Die meditierende Andacht, die auf dreizehn Stühlen das Einmalige, das Unglaubliche erwartete und sich innerlich darauf vorbereitete, steigerte sich, ver‐ langte nach dem Wunder, sehnte sich nach dem Wunder, wollte endlich das Wunder. Das Warten und die Stille erhöhten die Spannung, jeder vernahm den Atem der anderen, spürte die Anspannung aller, der Raum um den Kreis versank im Dunkeln, die Dreizehn verschmolzen zu einem Gedanken. Plötzlich der große Auftritt. Der rote Vorhang wurde mit einem Schlag beiseite geschoben, der Meister stand mit erhobenen Händen energiegeladen vor ihnen, eine Erscheinung, die entgegenkommend lächelte. Das Äußerliche dieser Erscheinung war für viele der gläubig Hoffenden eine Enttäuschung. Das war kein strahlender Gott, kein über dem Wasser wandelnder Geist, das ältliche Männlein, das da vor ihnen stand, glich einem italienischen Barbier, ein Schaumschläger mit schwarzgefärbten Haaren, langen Koteletten und einem wackelnden Gebiß, mit abgelaufenen Schuhen und einem verfärbten Anzug aus der Kleidersammlung der Caritas. Einer 210
jener ausgetrockneten Glücksritter, die auf der Pfer‐ derennbahn die weggeworfenen Wettscheine aufsam‐ melten, in der Hoffnung auf eine allerletzte Chance. Doch da man das Äußere bekanntlich nicht für das Innere nehmen sollte, lächelten die Frauen ihm schon wieder ergeben zu, die Männer richteten sich auf, erneute Stille, erneutes Warten. Mit drei energischen Schritten trat der Meister in die Mitte des rituellen Kreises, drehte sich langsam, sah jeden mit seinen funkelnden schwarzen Knopfaugen an, ein unerwartet gewaltsamer und einschüchternder Blick, der haften blieb. Danach begann er mit elastischen Schritten seinen hypnotisierenden Kreisgang, dreimal ging er durch die Runde, sammelte sich, hielt die Hand vor Augen, sah sie wieder einzeln an, trat vor jeden der dreizehn Stühle, beugte sich vor, sah dem Patienten tief in die Augen, blieb einen Moment so stehen, sagte laut: Sie sind geheilt. Sie sind ab sofort gesund. Sie sind gänzlich geheilt. Als der Meister sich über ihn beugte, war ihm das unangenehm. Er sah in die starr auf ihn gerichteten Knopfaugen, die ihn hypnotisieren sollten, und mußte wie in der Abwehr einer Bedrohung plötzlich lachen. Der Meister brach den Blickkontakt sofort ab und beugte sich über den nächsten Patienten. Nachdem er die Hypnose beendet hatte, stellte er sich am Ausgangs‐ punkt auf und sah erschöpft ins Leere. Einige der Hyp‐ notisierten hingen geisterhaft auf ihrem Stuhl, starrten abwesend auf das Teppichmuster oder auf den Kristall‐ leuchter. Mit raschen Schritten durchmaß der Meister noch einmal den Kreis, weckte die Dämmernden mit 211
einem Schnalzen seiner Finger, sagte erneut: Sie sind jetzt gesund!, und verschwand hinter dem roten Vor‐ hang. Die meisten Patienten wußten nicht so recht, wo sie waren und was ihnen geschehen war, wußten erst recht nicht, ob sie gesund oder immer noch krank waren, die Besinnung kam mit der Zeit. Manch einer kramte ver‐ legen in seiner Tasche, sah erst einmal auf seinen Per‐ sonalausweis, um zu wissen, wie er hieß und wo er wohnte. Andere hatten weniger gespürt, obwohl sie sich so sehr bemüht hätten, wie sie sagten, aber das läge wohl an ihnen, man müsse es noch einmal versuchen. Er saß auf dem Holzstuhl mit der hohen Lehne und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er gelacht hatte. Hinter dem roten Vorhang hörte er die Stimme seines Großvaters, der die zwanzig Mark zurückverlangte. Der Hypnotiseur rief: Keine Glauben, keine Wunder. Der Streit um den Wert der Hypnose trieb die Herren in höhere Stimmlagen. Er schaute durch den Vorhang, der Hypnotiseur zeigte erregt eine schmale Mappe mit Dankesschreiben, hielt sie seinem Großvater vors Ge‐ sicht und wiederholte: Keine Glauben, keine Wunder. Er seriös arbeiten. Er immer seriös arbeiten. Dankschrei‐ ben. Dankschreiben. Dankschreiben. Dabei wedelte seine Hand mit den Briefen durch die Luft. Sein Groß‐ vater bestand auf der Rückgabe der zwanzig Mark, der Hypnotiseur hielt sich an seine Logik: Keine Glauben, keine Wunder. Wenn keine Glauben, tragischer Fall. Menschen müssen glauben, müssen, müssen, sonst keine Wunder. Wie Wunder, wenn keine Glauben? Die 212
Dame vom Eingang trat hinzu und besänftigte beide mit der Einladung zu einem Imbiß in einem nahe gelegenen Künstlerlokal, als Entschädigung für den tragischen Fall. Der Hypnotiseur entschuldigte sich für den verun‐ glückten Ausgang der Seance, wünschte baldige Hei‐ lung und alles Gute für die Zukunft, warf sich einen schwarzen Umhang über seine Schultern und zog mit der Aktenmappe voll Dankschreiben unter dem einen und einem Leuchtglobus unter dem anderen Arm, den er, wie die Dame erklärte, von einem Patienten in Zahlung genommen hatte, in die Dunkelheit. Sie gingen hinter ihm her und landeten in Fattys Atelier. Hier kannte er sich aus. In den hinteren Räumen hatte sich nach dem Krieg einer der größten Zigarettenschwarzmärkte befunden, der unter anderem die Gründung eines inzwischen be‐ rühmten Kabaretts ermöglichte, das sich bescheiden Kommödchen nannte. Es lag gleich gegenüber und kommentierte all das Unerlaubte, Ungesetzliche, Unmo‐ ralische in diesem Land, dabei war es aus dem Uner‐ laubten, Ungesetzlichen, Unmoralischen entstan‐den. An Stricken hingen damals die Kisten mit den Ziga‐ retten aus den Fenstern des Hinterhofs, damit die britische Militärpolizei in den Räumen nichts fand. Die ging zwar auch in den Hinterhof, aber nie, nie sahen sie nach oben; Soldaten wollten auch rauchen. Diese Kun‐ gelatmosphäre hatte sich in den dunklen, von farbigen Tropfkerzen erhellten Räumen gehalten. Hier saßen Filmproduzenten, Regisseure, Schauspieler, Opernsän‐ ger, Maler, Schriftsteller, entwarfen jede Nacht wun‐ dersame Projekte voll wundersamer Möglichkeiten, 213
durch die sie in kürzester Zeit reich und berühmt wer‐ den sollten, Projekte, die die Stadt und die Welt in Kunst verwandeln sollten, an die sich am nächsten Tag aber keiner mehr erinnerte. In der phantasiegeschwängerten Luft dieser Höhle setzten sie sich an einen kleinen Tisch, die Dame zückte einen Künstlerausweis, bestellte für alle eine Möler‐ schnitte. Eine Scheibe Brot mit einer Palette Wurst, eben für die Maler, denn die Kunstakademie war nicht weit. Die zunächst so unscheinbare Dame, die dem Hypno‐ tiseur gelegentlich ihr Haus zur Verfügung stellte, entpuppte sich im Verlauf des Abends als routinierte Hellseherin und Pendlerin, Wahrsagerin aus der Hand und aus den Karten, als Sterndeuterin und geheime Großmeisterin der Kristallkugel. Darüber hinaus war sie noch Inhaberin einer Jahresfreifahrkarte nach dem so fernen, rätselhaften und geheimnisvollen Bonn. Flüs‐ ternd erzählte sie, wie sie Minister, Staatssekretäre und Abgeordnete bei ihren Gesetzen beriet, wie oft sie schon dumme, ja schädliche Gesetze verhindert habe, indem sie die Sterne an diesem Tag in einer schlechten Konstellation sah, die Kristallkugel verschleiert und undurchsichtig, und die Karten, Karten lügen bekannt‐ lich nicht, eine schlechte Ausgangslage für das Gesetz erwarten ließen. Standen die Zeichen schlecht, so war es ratsam, das Vorhaben zu verschieben, und was die Sterne, die Kristallkugel und die Karten voraussagten, das entschied sie. Das war ihr Staatsgeheimnis, sie war die gute Fee der Republik, die alle schlechten Gesetze in den Papierkorb schickte und nur die guten durchließ. Unauffälliger Treffpunkt war die allen Damen und 214
Herren der Staatsregierung bekannte Tanzschule, die sie direkt nach dem Krieg eingerichtet hatte, denn es galt, die guten alten Benimmformen und die Tänze einer vergangenen, aber in der Erinnerung fröhlichen Zeit neu einzuüben. In ihren Erzählungen erschloß sich ihm dieses Bonn als ein abgelegenes Märchenland unter Glas, eine dieser kleinen, durchsichtigen Kugeln, in denen Palmen in der Sonne stehen, und wenn man die Kugel schüttelt, dann schneit es. Die Regierung, die Abgeordneten und die Beamten lebten zwischen naturgetreu ausgestopften Elefanten, Giraffen, Löwen und Antilopen in einer Savanne, unter Bäumen mit vielen stummen Vögeln, zwischen bleichen, vers‐ teinerten Skeletten von Dinosauriern, Tausenden von toten Käfern und aufgespießten Schmetterlingen un‐ ter Glas. Sie regierten zwischen Mißgeburten in Spiritus, verstaubten Globen und alten Weltkarten, arbeiteten in Eisenbahnwaggons auf Abstellgleisen, in ausgebauten Schrebergartenhäuschen, wilhelminischen Villen, klei‐ nen Pensionen, und sie standen für ein diplomatisches Gespräch in langen geduldigen Schlangen vor einem Telefonhäuschen. Ein romantisches Ländchen fern der Zeit, in dem immer noch die Kommerslieder der Stu‐ dentenverbindungen und die Rheinlieder der Touristen gesungen wurden: Oh alte Burschenherrlichkeit. Wa‐ rum ist es am Rhein so schön? Sie schieden friedlich, die weltläufige Wahrsagerin und Hellseherin verschwand mit dem Hypnotiseur im Dunkel der Straßen, winkte noch einmal, und fast schien es ihm, als segelte der Hypnotiseur auf seinem Umhang mit dem Globus unter dem Arm in die tiefen 215
Regenwolken. Da schweben sie hin, sagte sein Groß‐ vater, aufwärts in die Träume von der neuen Zeit. Du hättest mit deiner Mutter gehen sollen, die glaubt an Wunder. Unsereiner behilft sich recht armselig mit der Vernunft. Aber ist Vernunft nicht etwas Schönes? Ist es nicht herrlich und berauschend, vernünftig zu denken? Wozu braucht man Wunder? Ich versteh das nicht. 216
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Mischa saß auf einem Stuhl im leeren Atelier und sah ihn stumm an. Er schwieg wie die Toten schweigen. Mischa hatte sich in der Nervenheilanstalt erhängt. Die Anstalt lag wie eine Fronburg über der Stadt, drohende Gebäude mit vergitterten Fenstern, ein Friedhof des Geistes, überfüllt mit Menschen, die das Leben in der Stadt nicht mehr ertrugen. Beim dritten Versuch fand er den glücklichen Ausgang, mit einem Strick am Fenster‐ kreuz erhängt, nachdem ein erster Versuch mit gesam‐ melten Schlaftabletten mißlungen war, ein zweiter mit einem Sprung aus einem Fenster nur zu einem gebro‐ chenen Bein geführt hatte. Ich bin eben ein Unglücks‐ vogel, sagte er entschuldigend über seine vielen fehlge‐ schlagenen Selbstmordversuche. Der Unglücksvogel hing wie eine zerbrochene Marionette auf dem schwan‐ kenden Holzstuhl, ein Arm über der Lehne, der andere seitlich herabhängend, das schief zusammengewach‐ sene Bein weggestreckt, das andere an den Körper ge‐ zogen, mit verdrehtem, abgeknicktem Kopf, den er ruckartig bewegte. Er sprach, mit den ängstlichen Au‐ gen eines gefangenen Tieres, über die Schulter sehend: 217
Die Welt ist nur ein Bild in den Köpfen der Menschen. Jeder fügt sich seine Welt nach seinen Vorstellungen zusammen. Die Welt ist nicht wie sie ist, wir passen sie uns an. Wenn der eine sagt, es ist unerträglich, kann der andere sagen, es ist recht angenehm. Dagegen kommt man nicht an. Der eine sieht die Sonne, der andere den Mond. Der eine zählt die Sterne, der andere gräbt sich in die Erde. Der eine pflückt Blumen, der andere klopft Steine. Der eine baut sich ein Haus, der andere geht barfuß. Außerhalb unserer Zeit mag es eine Ordnung geben, ein harmonisches Muster, aber wir erkennen es nicht. Wir leben in unseren Bildern. Es bleibt der Zufall, die Naturgesetze und die Geschichte. Auf den Zufall ist ja noch Verlaß. Er ereignet sich einfach. Ob dich im Krieg eine Kugel trifft oder eine Bombe zerfetzt, über den Zufall kann sich keiner beschweren. Er ist. Die Naturgesetze, was soll man da viel sagen. Sie laufen ab wie eine Spieluhr. Die Bäume blühen im Frühjahr, das machen sie immer, und jeder weiß, im Herbst fallen wieder die Blätter, da muß man gar nicht hinschauen. Es geschieht. Und wenn sich zwei Menschen unter einem sommerlich grünen oder winterkahlen Baum begegnen oder verabschieden, dann hat man Zufall und Naturgesetz in einem. Beides ist ja noch auszuhalten, damit kommt man ja noch zurecht, es ist kein falsch gemaltes Bild, aber nun denk dir die Geschichte des Menschen dazu. Eine wiederholte Wiederholung, erstarrte Bewegung, und wozu, für die wahren Ideen und den rechten Glauben. Jeder hat eben sein Bild von der Welt, das nennt er dann die Weltordnung, die er allen anderen aufzwingen will — aus gut wird böse und 218
aus böse gut. Mal mordet der Mensch, mal rettet der Mensch. Das macht ihm gar nichts aus. Er braucht nur das richtige Bild dazu. Alles nur Bilderwelten, hinter denen sich nichts verbirgt. Die alte schwarzgekleidete Frau saß aufrecht, verstei‐ nert, nach innen sehend, in das vergangene Leben ver‐ sunken, das nun nichts mehr bedeutete. Alle Heldenta‐ ten, alle Verbrechen endgültig vergangen und verjährt, jede Erzählung davon unglaubwürdig, weil nur die Ge‐ genwart zählte, die sich als Gericht über die Vergangen‐ heit einsetzte und urteilte, Schuldsprüche und Freisprü‐ che ausloste, während sie schwieg. Die alte versteinerte Frau, die einmal eine Geschichtensammlerin gewesen war, eine Lebensgeschichtensammlerin, weil sich die Welt nur in ihren Geschichten ordnete, hatte das ver‐ zweifelte Erzählen, das ihr Leben war, aufgegeben, und starrte auf die Grabsteine, die schweigend einen Namen trugen und zwei verschiedene Jahreszahlen und end‐ gültig Ordnung schufen. Die Häuser der Stadt waren wieder durchnumeriert, die Straßen hatten neue Namen, die Menschen nannten sich wieder Zivilisten und liefen eilig durch die aufgeräumte Stadt, die unter einem undurchdringlichen Himmel verlorener Gebete lag. Die Stadt war nicht mehr Niemandsland, am Tag herrschte die beglaubigte stumme Wahrheit, in der Nacht der Aufschrei blutiger Träume, unter Gelächter trieb der Fluß die alten Worte ab. Es begann damit, sagte der Geiger, daß die Gesichter auf der Straße unscharf wurden, die Augen, die Nase, 219
die Lippen sich auflösten, in ihrem Fleischton sich im‐ mer ähnlicher wurden, bis alle Gesichter gleich und ununterscheidbar in schlierigen Schleifen an ihm vor‐ beizogen und keine Erinnerung mehr hinterließen. Er lebte in einer immer fremder werdenden Welt, nur ge‐ leitet von den Stimmen, die ihn fragten, warum er nicht mehr grüßte. Die Gesichter der Menschen schwammen wie leere Monde durch die Straßen, wurden zu einem einzigen Gesicht ohne Namen. Sie bemerkten nicht, daß sie ihre Gesichter verloren hatten, sprachen sich weiterhin mit Namen an, grüßten sich, waren sicher, sich zu kennen, begegneten sich aber auch immer gesichtsloser, standen eines Tages vor fremden Gesich‐ tern, behalfen sich mit gemeinsam gesuchten Namen‐ sähnlichkeiten: Bin froh, daß es Ihnen auch so geht. Stundenlang sah der Geiger in den Spiegel, betrach‐ tete sein Gesicht, nannte seinen Namen, sah Unbe‐ kanntes und Fremdartiges, erste Veränderungen in den vertrauten Zügen, vielleicht schon immer da, von ihm nur nicht bemerkt. Nichts war oberflächlicher als ein Gesicht, so viele tausend Gesichter erschienen in einem Leben, treibende Boote auf einem dunklen See, schlaffe Segel im wechselnden Wind. Er fragte einen Arzt, der nannte ihm einen lateinischen Namen, den er sich nicht merken konnte, so nahm er die Dinge als gegeben hin. Zumal sich jetzt vor seinen Augen auch die Körper auflösten, weich und schwammig wurden, ihre Konturen verloren, zu einem teigigen Brei zerflossen, der sich zäh um die Häuser legte, die U‐Bahn‐Treppen hinabsickerte, in den Ladentüren zerrann. 220
Der Geiger zog sich aus der Stadt zurück und ver‐ brachte seine Zeit auf einer Bank in einem Park. Da stand ein Denkmal aus Marmor, auf dessen Sockel ein Löwe neben einem sterbenden Krieger ruhte und die unleserlichen Namen der toten Helden bewachte. Ein stiller Ort unter alten, knorrig ausgewachsenen Bäu‐ men, die er alle kannte, denn die Steine und die Bäume behielten ihre Form, während die menschlichen Körper um ihn herum in ständiger Veränderung sich dem Gegebenen anpaßten. Das war die Geschichte des Geigers, und er erzählte sie absolut glaubhaft, zog auch immer einen Zettel aus der Tasche, auf dem der lateinische Name der Krankheit stand, den er nicht behalten konnte. Auf der Suche nach einem bezahlbaren Geigenlehrer war er ihm von Musikern empfohlen worden, ein großer Geiger, sagten alle, obwohl sie noch nie einen Ton gehört hatten, denn das Geigengenie besaß keine Geige, wie er schon beim ersten Vorspielen bemerkte. Die Sache klärte sich, nachdem er ihn als Schüler angenommen hatte und die nicht vorhandene Geige nach einer Erläuterung ver‐ langte. Er sei außerordentlich begabt gewesen, sagte der Geiger, habe schon als Zwölfjähriger bei den Phil‐ harmonikern gespielt, während des Krieges aus Ver‐ sehen einmal Mendelssohn einstudiert, rein aus musi‐ kalischen Gründen, habe ganz vergessen gehabt, daß das verboten war. Dafür habe er lange im Gefängnis gesessen, zu seinem Glück mit einem jüdischen Geiger in einer Zelle, ein absoluter Meister, der ihm den letzten Schliff gegeben habe. Ohne Geige hätten sie täglich zusammen gespielt, Stunde um Stunde, ständig habe 221
der Zellengenosse seine Griffe und Bogenführung korri‐ giert, hatte nicht nur ein absolutes Gehör, sondern auch ein unbestechliches Auge, so daß er sein glanzvolles Spiel jetzt nur noch ohne Geige vorfuhren könne, mit Geige sei er mittelmäßig. Und sofort legte er ohne Geige los, um sein wahres Können zu demonstrieren. Seine Verehrer, meist Geiger von der nahen Oper, schauten in einem Halbkreis sitzend zu, bewunderten die Griffe und die Bogenführung und klatschten lange nach jedem Konzert. Seine erwartungsvoll mitgebrachte Geige blieb daher im Kasten, er konnte nur mit Instrument üben, das Genie nur ohne, einige Male spielte er ihm trotzdem vor, er wollte ja weiterkommen, Holz und Gedärm und Pferdehaar zum Klingen bringen. Der große Meister hörte gedankenvoll zu und schlug ihm dann jedesmal vor, Schach zu spielen. Mit kreisender Hand griff er sich von der Erde eine Handvoll Steine, kleinere und größere, hellere und dunklere, zählte sie ab und legte sie auf die Bank. Sie spielten ein sehr schwieriges Schach, es gab da keine schwarzen und weißen Felder, auch die Bedeutung der Steine erschloß sich erst im Laufe der Partie, wenn man aus den Zügen heraus ungefähr wußte, welche Steine König und Dame, Läufer, Springer und Turm und all die vielen Bauern darstellten. Auch schwarz und weiß war immer nur zu erahnen, die meisten Steine waren grau, man mußte sich das Schach‐ spiel dahinter vorstellen. Er erlernte bei dem Geigen‐ virtuosen auf diese Weise ein kunstvolles Schach, ebenso kunstvoll wie das Spiel der großen Geiger, es gab da eine Paganini‐Eröffnung, eine Menuhin‐Pas‐ 222
sage, eine Stern‐Variante und einen Oistrach‐Abschluß. Er lernte etwas anderes als er vorhatte, und lernte es auf eine Weise wie der Geiger in der Zelle, durch sinn‐ bildhafte Zeichen. So wie die Griffe und die Bogenhaltung Musik dar‐ stellte, die sich dem Gefühl über den Intellekt erschloß, dem Gehör über den Verstand, so bezeichneten die Steine die abwesenden Schachfiguren, es war alles eine Frage der Vorstellung, und er begriff, daß er auch mit den Worten und Sätzen der Sprache eine ganz eigene und doch sehr genaue Welt erschaffen konnte, die, nur in seinen Erzählungen existierend, für ihn konkreter und faßbarer als die ihn umgebende Welt war, natürlich nur für ihn, aber das genügte ja. Ob es Menschen gab, die das entschlüsseln konnten, wie die Kenner die Griffe und die Bogenführung, die kleineren und größeren Steine, war eine Hoffnung, da mußte man Geduld haben. Das Eigentliche, das alle anderen phantasielos die altbekannte Welt nannten, bestand für ihn nur im Uneigentlichen seiner Vorstellung. Das war von nun an sein Notenschlüssel und sein Schachbrett. Sie sahen sich seltener. Der Geigenspieler ohne Geige saß weiterhin auf seiner Bank, umgeben von kleinen und größeren Steinchen, die er jetzt in einem für alle Zuschauer ganz unbekannten Spiel mit Händen und Füßen herumschob. Das war nicht mehr zu erraten, das war nicht mehr zu erkennen, das hatte nur noch für ihn Bedeutung. Einmal sagte er noch zu ihm, er erkenne jetzt auch sein Gesicht nicht mehr und habe seinen Namen vergessen, es handle sich da wohl um eine ansteckende Krankheit, eine Seuche der Zeit, von den 223
anderen noch immer nicht bemerkt. Bis zuletzt blieben ihm die Griffe und die Bogenführung; wenn er mit seinen Steinen, die jetzt ein merkwürdiges Mosaik bildeten, fertig war, spielte er immer noch einmal ein kurzes Stück, das nur er wirklich hörte. Der Marmorlöwe bewachte den gefallenen Helden in der erstarrten Bewegung, im kalten Marmor des Todes, wachte über die Namen, eingemeißelt für die Ewigkeit und vergessen, Buchstaben, die an kein Gesicht erinnerten, keinen Körper, kein Lachen oder Weinen. Das alles geschah im Hofgarten, hinter der Landskro‐ ne, zwischen der Goldenen Brücke, dem Märchen‐ brunnen und dem Napoleonsberg, auf seinem täglichen Weg zu der alten Villa, die mit ihrer verbauten Fassade hinter grünen Büschen lag. Das versteinerte Gesicht, das in einer erstarrten Bewe‐ gung in eine lang zurückliegende Zeit blickte, rück‐ wärtsgewandt nach vorne schaute, als Totenmaske über den Menschen schwebte, sich in den Köpfen festsetzte, das Land beherrschte, besorgt über die Welt, be‐ kümmert um die Menschen, die nicht verstehen woll‐ ten, daß er Großes vorhatte, in weiser Vorausschau und hartnäckigem Alterswissen; das alterslose Bildnis eines jugendlichen Greises mit dem entschlossenen Kinn eines Dreißigjährigen, den vollen, sinnlichen Lippen eines Vierzigjährigen, der starken Nase eines Fünfzig‐ jährigen und der leicht zornigen Stirn eines Sechzigjäh‐ rigen: sonnengebräunt wie ein verwegener Draufgänger nach dem Urlaub, mit vollem blonden Haar wie ein Filmstar, mit durchdringenden, strahlend blauen 224
Augen, die keinem trauten, die mißtrauisch und gna‐ denlos, eine Augenbraue warnend hochgezogen, keinen Menschen aus dem Blick entließen, mit dem er alle gefangen hielt. Frierend und hustend, in einen Mantel gehüllt, den ganzen Tag stehend, mit vom Papier zerschnittenen, blutenden und klammen Händen, rollte er monatelang dieses Gesicht zu Papierrollen, eine wiederholte Wie‐ derholung, erst verschwand der Mund, dann die Nase, die Stirn, vieltausendmal rollte er dieses alle prägende Gesicht ein, das, verschickt und wieder ausgerollt, im ganzen Land mit Kleister an alle Wände gepappt wurde, und wenn Menschen den Totenblick nicht mehr ertrugen und das Plakat abrissen, wurde es sofort mit einem neuen Plakat überklebt, das auch er zusammen‐ gerollt hatte, zehn Stunden am Tag in der kalten, zugi‐ gen ehemaligen Garage der Villa, nun Lagerplatz der Plakate, zwischen den rund um die Uhr angelieferten Stapeln aus der Druckerei, die immer nur das gleiche Bildnis druckte, die Ikone der Nation. In den ehemaligen Prachträumen eines abrißreifen, im Krieg zerfallenen Herrschaftssitzes der Jahrhundert‐ wende, stilvoll an den dunklen, schweigenden Park ge‐ baut, hausten nun ausgetrocknete Mumien, transsylva‐ nische Blutsauger, sizilianische Totengerippe, die abgeschlagenen Köpfe durch geschminkte Masken er‐ setzt. Sie stellten nichts her, sie fabrizierten nichts, sie lagen nur auf der Lauer. Nichts was sie konnten hatte Sinn oder Wert, es waren Schattenwesen, die mit Ver‐ logenheit, Geschmacklosigkeit und irreführenden Zau‐ bertricks Täuschungen in die Welt setzten, um die Wa‐ 225
ren oder die Politik anderer zu verkaufen, buntbunte Anzeigen, buntbunte Plakate, buntbunte Kurzfilme, die das Bedeutungslose für bedeutend erklärten, das Unwichtige für wichtig, und das Nichtbenötigte in ei‐ nen dringenden Kaufwunsch verwandelten, denn von nun an gab es für einen Menschen nichts Überflüssiges mehr, alle waren nur noch Verbraucher, die, o goldene Freiheit, alles kaufen durften. Sonnenöl, Glühbirnen, Waschpulver, Weinbrand, Badesalz, Kindercreme, Weihnachtskerzen, Ostereier, Pfingstausflüge, Winter‐ ferien, Kühlschränke und Waschmaschinen, Radios und Fernseher, Fahrräder und Motorräder, Autos und Häuser, Heiligenscheine und Seligkeiten, kurz, alle Waren dieser Erde mit den dazugehörenden Parteien und Religionen. Es war die endgültige und unaufhalt‐ same Beschleunigung der Welt aus dem Verharren her‐ aus in die Bewegung des Geldes. Bei steigenden Umsätzen, und die Umsätze stiegen wie die Jahreszahlen, veranstalteten die Geister voll‐ trunkene Weihnachtsfeiern, sangen die Weihnachtslie‐ der im Marschtritt, marschierten mit dem lieben Jesu‐ lein auf den Lippen durch das Haus, damals auf der Krim, wißt ihr noch, wißt ihr noch, im Gleichschritt marsch, Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, ein Kindlein ist gekooommen, rechts, links, rechts, links, Weeesterwald, und in ihrer Besoffenheit siegten sie er‐ neut, siegten im Endsieg der Umsätze. Einmal hatte er ruhig zugesehen, wie der über ihnen hängende riesige Adventskranz von den Kerzen in Brand gesetzt wurde, die Tannenzweige fielen lodernd in das kreischende Büro, auf die zusammengeschobe‐ 226
nen Schreibtische, auf die Flaschen und Gläser und das Weihnachtsgebäck, aber das jugendliche Greisengesicht, das hier an allen Wänden hing, das er jeden Tag zusammenrollte — es brannte nicht und rettete damit wundertätig das Haus. Im Erdgeschoß ruhten vor dem mächtigen Busen der Frau Persianski die schweren Holzkästen der Buch‐ haltung, der Inhalt der von ihr in einer gnädigen Zere‐ monie überreichten Gehaltstüte ließ auf das künftige Schicksal schließen, seins stand schlecht. Im ersten Stock die gebeugten Köpfe der Damen für Stenografie und Schreibmaschine, die vor ihren schwarzen Eisenkästen die Meisterschaft der Anschläge austrugen, immergleiche persönliche Anschreiben mit wechselnder Adresse schrieben, Plakataushänge ver‐ anlaßten, DIN A 0, DIN A 1, Ersetzung der abgerissenen Plakate in Itzehoe, Garmisch‐Partenkirchen, Neustadt an der Weinstraße, Ludwigshafen und Kassel, Anzeigen schalteten: Zweispaltig 160 mm, vierspaltig 80 mm, Zweifarbendruck nach Preisliste 12a, der Kunde wünscht Wiederholung der verdruckten Anzeige in ihrer überregionalen Ausgabe. Im zweiten Stock die Grafiker, hintereinander auf‐ gereiht, in Reinzeichnungen hübsche gelackte Bilder entwerfend, die verkaufbare Seite der Welt, von den Textern im Dachgeschoß mit gefälligen Wortgirlanden garniert. Die Realität, dumme Frage, wen interessiert die Realität? schrie Jungehülsberg, Schwiegersohn und Geschäftsleiter, rückte seine markante Hornbrille zu‐ recht, schob den Schlips an den Kehlkopf und wieder‐ holte den Tagesbefehl: Aida! meine Herren, Aida!, und 227
setzte zu seinen täglichen Koloraturen an, zu seinem Morgen‐ und Abendgebet, zu seinem ein und alles — die zwölf Gebote, das BGB und die Liebe ersetzend: Aaaiiidaaa, Aaaaiiiidaaaa! Denken Sie stets daran, denken Sie Tag und Nacht daran: Aida — Attention, Interest, Desire, Action. Attention: Die neue Ware ist da. Interest: Die neue Ware ist besser als die alte. Desire: Die neue Ware muß ich haben. Action: Die neue Ware kaufe ich sofort. Gelegentlich warf ein Grafiker oder ein Texter einen Zirkelkasten durch den Raum, klatschte einen Entwurf auf den Boden, schlug eine Flasche mit Tusche an die Wand, dem Teufel ins Gesicht geschmissen. Es war schwer, sich den ganzen Tag zu belügen, Dinge im falschen Glanz erstrahlen zu lassen, Dinge, die man selber niemals kaufen würde, nicht einmal geschenkt wollte, die aber als wunderschön und preiswert und einmalige Gelegenheit verkauft werden sollten, und nun am Tisch des Grafikers die Glanzform bekamen, die sie in der Realität nicht hatten: Wertlose Hochzeitsbestecke im Silberglanz einer Frühstücks‐ sonne, hölzerne Radiogeräte mit Weltklang in der leuchtenden Politur eines Abendhimmels, Waschpulver mit vor Glück strahlenden Hausfrauen in einer sonnen‐ leuchtenden Küche, durstige Menschen unter glühendem Himmel mit einem Erfrischungsgetränk, Zigaretten in der Hand eines kernigen, braunge‐ brannten Naturburschen in endlosen Wüstenweiten. Sternglitzernde Sektgläser zwischen einer Dame im Abendkleid und einem Herrn im Frack, der Lippenstift leuchtete, das gefärbte Haar leuchtete, die neuen Schuhe leuchteten, die wertvolle Armbanduhr leuchtete, der 228
preiswerte Fernseher, die geschmackvolle Polster‐ garnitur, der blitzblanke Boden, der kühle Eisschrank, auch das Traumhaus spiegelte sich im blauleuchtenden Swimmingpool. Eine Traumwelt, in der man nur unglücklich werden konnte, weil die Realität nie der Traum war. Pech gehabt, sagte dann der Verkäufer zum Kunden, Mängelrügen dieser Art nehmen wir nicht an, wir verkaufen Träume, etwas anderes können wir nicht verkaufen, es wird nämlich gar nicht verlangt, Handkuß die Dame, Gott zum Gruße der Herr. Die Köpfe der Grafiker und Texter baumelten — mitgefangen mitgehangen — über den bunten Weltentwürfen, und ein Lächeln sah man nur, wenn der geniale Reklamechef Jungehülsberg die Idee eines Texters, man könne Hosenträger am besten verkaufen, wenn man behaupte, sie hielten fast ewig, abschmetterte mit der Begründung, die Ewigkeit gäbe es am Sonntagmorgen in der Kirche, in der Reklame sei alles vergänglich. Danach kratzten wieder die Tuschefedern, klapperten die Schreibma‐ schinen, entstanden Worte und Bilder wie am Fließband, die Worte vergingen, die Bilder vergingen, kratzende Federn, klappernde Maschinen. Wer sich die Welt schönmalt im Wissen, daß sie nicht schön ist, der haßt diese Welt, haßt sich selbst, haßt alle um ihn herum, gebiert Intrigen in seinem Gehirn, attackiert die anderen mit falschen Worten, legt Selbstmordfallen, streut liebevoll Gift, betrügt mit freundschaftlichen Worten, lügt mit wollüstiger Hingabe, kondoliert bei jedem Todesfall mit höhnischem Lachen, genießt den Sturz des anderen, tritt nach, wenn er stürzt. 229
So wurde Aida auch ihm zum Verhängnis, denn er war, wie sich herausstellen sollte, eine nichtverkäufli‐ che Ware. Jungehülsberg bestellte ihn an einem Morgen in sein Vorzimmer und überreichte ihm einen Brief, den er von da an immer bei sich trug. Bereits seit längerer Zeit müssen wir auf Ihre Dienste in‐ folge Ihrer Arbeitsunfähigkeit verzichten. Inzwischen ist bei uns ein so großer Arbeitsanfall eingetreten, der es nicht mehr gestattet, eine Arbeitskraft längere Zeit mit durchzuziehen, da jeder Mitarbeiter selbst ein gerüttelt Maß an Arbeit hat. Infolgedessen ist die Überbrückung Ihres Arbeitsausfalles durch Aushilfeleistungen anderer Mitarbeiter nicht mehr möglich, zumal an Ihre Rückkehr wiederum längere Zeit nicht zu denken sein wird. Wir müssen deshalb Ihren Arbeitsplatz unbedingt mit einer vollwertigen Kraft besetzen und sehen uns darum außerstande, Ihren Platz weiter für Sie offen zu halten, zumal wir keinen Bewerber finden dürften, der sich damit zufriedengibt, den Platz nach Ihrer evtl. Rückkehr wieder aufzugeben. Hinzu kommt, daß wir nach unseren Erfahrungen in kürzesten Zeitabständen mit einer erneuten Arbeitsunfähigkeit Ihrerseits rechnen müssen. Im übrigen sind Ihre engeren Mitarbeiter bei der Art Ihrer Erkrankung wegen der Infektionsgefahr nicht bereit, weiter mit Ihnen in einem Raum zu arbeiten, wobei Berührungen mit den von Ihnen bearbeiteten Akten sich nicht vermeiden lassen würden. Wir haben uns diesen Gründen nicht verschließen können, zumal wir insofern eine erhebliche Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeitern tragen. Schließlich ist es uns auch wegen Ihrer dauernden Erkrankungen nicht mehr zumutbar, Sie weiter zu beschäftigen. 230
In Anbetracht dessen müssen wir uns von Ihnen zu unse‐ rem Bedauern und so leid uns dieses im Hinblick auf Ihre Krankheit tut, trennen. Wir kündigen Ihnen deshalb hiermit unter Einhaltung der Kündigungsfrist und hoffen auf Ihr Verständnis für unsere leider unumgängliche Maßnahme. Wir wünschen Ihnen von Herzen baldige und umfassende Genesung sowie einen guten erneuten Berufsstart und grüßen Sie hochachtungsvoll Als er die Geige verkaufen mußte, in der Hoffnung vom Erlös einige Monate zu leben, nahm der Inhaber der vornehmen Musikalienhandlung die Geige indigniert in die Hand, schlug sie, ohne ein Wort zu sagen, hart über sein Knie, so daß von dem unbezahlbaren Wertge‐ genstand — je älter, desto teurer, wie es immer hieß — nur eine Staubwolke übrigblieb. Der Fachmann legte sich über den Ladentisch: Für diese Expertise könnte ich Ihnen ein Honorar berechnen. Wertlose Schülergeige. Daraufhätten Sie keinen einzigen reinen Ton gespielt. Er hatte sich die Geige nie gewünscht, aber durch sie hatte er den Meistergeiger kennengelernt, die Harmo‐ nien und Melodien einer Musik, die die Welt in größter Reinheit darstellte, Kontrapunkt und Fuge einer to‐ nalen Ordnung. Der Experte hatte leider keine Ahnung, welche wundervollen Töne er auf dieser Geige schon gehört hatte. All die Geldverdiener, all die Besitzbeses‐ senen um ihn herum hatten keine Vorstellung davon, daß man sogar ohne Geige ein Konzert für begeisterte Zuhörer geben konnte, der Meistergeiger hätte auf seiner Parkbank gelächelt. Er wußte nicht, wie er die kommende Zeit überleben sollte, aber das Leben 231
bestand nicht aus berechenbarem Besitz, es erstand jeden Tag neu aus Unerhofftem, Unerwartetem, und das war ein Trost, mit der Musik im Ohr versuchte er einfach geradeaus zu gehen. Die Geige hatte er von seinem Paten, dem Post‐ beamten Paul, im Nebenberuf Stehgeiger, zwischen Kriegsende und Währungsreform bekommen, feierlich überreicht, als sei der Violinschlüssel der Schlüssel zur Welt: Eine Meistergeige vom Konzertmeister und ersten Geiger des städtischen Sinfonieorchesters. Der Mann hat sich schwer davon getrennt. Die Geige ist ein Vermögen wert. Ein halber Zentner Kartoffeln! Dabei sah ihm der Pate tief in die Augen, nach Dankbarkeit suchend und die Zeiten bedauernd, da ein solch großer Künstler eine so wertvolle Geige für einen halben Zentner Kartoffeln hergeben mußte. Resignierend fugte er hinzu: Kunst geht nach Brot, im Grab fiedelt nur der Tod. Der Geigenkasten war schwarz lackiert, dicke Pin‐ selstriche, die noch feucht waren, der Pate und Post‐ beamte Paul war damit wohl gerade erst fertig gewor‐ den. Der Deckel fiel aus dem Scharnier, innen erblühte ein blasses Rosa aus hartem Filz. Auf den Kasten kommt es nicht an, sagte der Pate, unter dem Arm eine Mappe mit bekleckerten Notenblättern, die ihm, dem gefühlvollen Stehgeiger, bei seinen Kaffeehausauftritten auch als Serviette dienten. Widerstandsfähige Operet‐ tenpotpourris, die schon mehreren vergnügungsseligen Generationen zu fidelen Stunden verholfen hatten. Die Geige, mit der Haarpomade des Paten tiefbraun poliert, lag mit ihrem eleganten Hals ganz leicht auf seinen 232
Händen. Ein Strich mit dem Geigenbogen, ein heller Ton, der in die Tiefe führte, fand den anerkennenden Beifall des erfahrenen Stehgeigers: Der Rest ist Übung. Wieder hinauf, wieder hinunter, wie im Leben, rauf runter, rauf runter, das ist die ganze Musik. Vibrato und Pizzicato. Die dicken Noten aushalten, die halben Eile mit Weile, die dünnen, viertel, achtel, ritsch ratsch, ritsch ratsch. Die Striche dazwischen, das ist der Takt, Wiener Walzer oder Tango, immer im Takt bleiben, die Menschen wollen tanzen. Wenn es verbunden ist, geht es durch, immer weiter, immer weiter. Aber das horste ja. Porte, piano, laut und leise, und immer üben. Das war der umfassende Lebens‐ und Musikunterricht des Paten und Postbeamten Paul. Er jonglierte täglich mit der Geige, dem Geigenbogen und den Notenblättern, die schräg auf dem Küchen‐ schrank standen, immer wieder auf die Erde rutschten, freute sich über jeden hörbaren und nicht allzu quietschenden Ton. Dann verlor sich die Lust an kurzen und langen, lauten und leisen Tönen, die in einem nicht erzwingbaren Rhythmus auf dem Blatt standen, die in der Geige aber selten zu hören waren. Er ging dazu über, das Sinfonieorchester des Nordwestdeutschen Rundfunks sehr frei zu begleiten und entwickelte so ein individuelles Geigenspiel vor dem Radio. Als er die wertvolle Geige dann schweren Herzens und mit schlechtem Gewissen, aber mit sicherer Aussicht auf Gewinn, verkaufen mußte, sie sich mit einem Schlag statt in Geld in Holzstaub verwandelte, vollendete sich die Lebens‐ und Musikerziehung des Paten in einer schmerzhaften Erkenntnis. Die Demonstration der 233
Wertlosigkeit angeblich wertvoller Dinge blieb ihm unvergeßlich, er begriff, wie schnell sich auch der um ihn herum wiederauferstehende Glaube an materielle Werte in Nichts auflösen konnte. Die Enttäuschungs‐ und Aufklärungsarbeit, die mit dem Kündigungsbrief begonnen hatte, der ihn zu einem wertlosen Menschen machte, wurde rasch und konsequent fortgeführt. Die Dinge sind immer nur so viel wert, wie einer dafür bezahlen will, sagte der freundliche Herr, der an seiner Briefmarkensammlung interessiert war. Das ist so, fügte er fast väterlich hinzu. Die Briefmarkensammlung enthielt komplett die Nachkriegszeit, aber als er sie verkaufen mußte, bot der Käufer nur ein Viertel des Wertes, füllte einen Barscheck aus, nahm die Briefmarken in seinen Besitz und setzte sich damit offenbar ahnungslos und den Widerspruch nicht erkennend demselben Verfallsgesetz aus, das er ihm gerade erklärt hatte. Der Käufer glaubte an ein gutes Geschäft, denn der Wert der Marken war für ihn ja vielfach höher als die gezahlte Summe, er rechnete sich reich und wartete nun seinerseits, ohne das Verkaufsgesetz zu durchschauen, auf einen Käufer, der selbstverständlich viel mehr zahlen würde, als er gezahlt hatte. Geschäfte nannte man das allgemein, Geschäfte, das Wort war in jedermanns Mund, Haupt‐ sache, das Geld zirkuliert, wurde er belehrt, alle haben Schulden, und solange das Geld zirkuliert, haben auch alle Kredit. Der Pate und Postbeamte Paul wurde auf diese Weise zu einer Art Kaufhauskönig. Er wohnte in der Vorstadt in einem kleinen Häuschen, das die zinsenver‐ 234
schlingende Hypothek einer Bank symbolisierte. So ging das nicht weiter, die Erkenntnis war da, man mußte auch Geschäfte machen. Er grub ein Loch in die Straße, setzte eine Tür in die freigeschaufelte Mauer seines Kellers, mauerte eine steile Treppe und schuf in seinem Keller auf wenigen Quadratmetern eine Warenwelt, die sich bunt und vielfältig in den selbstgezimmerten Regalen ausbreitete, nur mit großer Anstrengung konnte noch ein Platz für die nicht un‐ wichtige Kasse freigehalten werden. Auf Kredit gekauft, stellten sich Bierkästen und Schnapsflaschen ein, danach Lebensmittel des täglichen Bedarfs, Büchsen aller Art, dann Unterwäsche, Socken, Hemden, Handtücher, Bettwäsche, alles bis zur Decke übereinander gestapelt. Er nahm noch die Waschküche dazu, die einen Blick in seinen Garten zuließ, richtete hier die Annahmestelle eines Versandhauses ein, danach die Vertretung einer namhaften deutschen Versicherung für Schaden, Hausrat und Leben, später noch eine Nebenstelle der Deutschen Post, Briefmarken, Briefannahme, Postaus‐ gabe, noch später sogar Rentenauszahlungen, und irgendwie auch Einzahlungen und Auszahlungen, das durfte er eigentlich nicht, aber er besorgte sich die nötigen Stempel und Formulare, brachte alles ehrlich zur richtigen Post, da kannte man ihn ja. Das ganze Viertel war jetzt Kundschaft, keiner kam an seinem La‐ den vorbei, wo andere eine Garage für ihr neues Auto bauten, errichtete er seine Warenwelt. Gertrud, seine Frau, übernahm den Verkauf. Sie hatte lange bei Schiffer gearbeitet, Haushaltswaren und Eisenwarenhandlung, ein stadtbekanntes Geschäft. Der 235
alte Schiffer hatte seinen Laden schon zu Lebzeiten der Einfachheit halber seinen Verkäuferinnen vermacht, so etwas gab es. Leute, die ihr Eigentum verschenkten, um sich dann darüber zu freuen. Er stand in Pantoffeln und Strickweste in seinem ehemaligen Laden und war glücklich, wenn die Geschäfte seiner Verkäuferinnen, die nun die Eigentümerinnen waren, gut liefen und der Umsatz stieg. War der monatliche Gewinn unerwartet groß, reduzierten ihn die Verkäuferinnen auf das normale Maß, indem sie mit dem Baas, wie sie den alten Schiffer nannten, in der Altstadt von Kneipe zu Kneipe zogen, ihn morgens brav bei seiner Frau ablieferten— Dividende auszahlen, nannten sie das. Davor war Gertrud bei einem verarmten Grafen angestellt gewesen. Der saß den ganzen Tag hinter zu‐ gezogenen Vorhängen an einem Sekretär, in einem purpurroten gefütterten Hausmantel, mit golden auf‐ gestickter Grafenkrone, die gichtigen Finger in weißen Handschuhen, den Kopf unter einer starken Lampe über Papiere gebeugt, statt eines Monokels stets eine Lupe im Auge. Der Raum wurde von ihm Bibliothek genannt, obwohl kein Buch mehr in den Regalen stand, Theologie, Philosophie, Historie, Belletristik, alles Geistige verramscht wegen des einheitlich roten gräf‐ lichen Saffianleders, aus dem zarte Damenpantoffeln entstanden waren. Die Stiche waren vorher herausge‐ schnitten und als wertvolle Einzelstücke aus jahrhun‐ dertealtem Familienbesitz an neureiche Sammler verkauft worden, die ihr frischgedrucktes Geld anlegen und in etwas Ewiges verwandeln wollten. Betrat Gertrud die Bibliothek zu rasch, stand sie vor einem 236
furchtbaren Blick, das eine Auge des Grafen sah durch die Monokel‐Lupe, das andere stark vergrößert durch eine Leselupe, auf der Brust leuchtete die neunzackige Grafenkrone im Licht der Schreibtischlampe, Symbol ewiger Werte auch im materiellen Nichts. Niemals ist das ein Graf, sagte Gertrud, die täglich kleine handliche Päckchen zwischen einer Galerie und dem Grafen hin und her trug. Als ein Päckchen einmal die Treppe herabfiel, sah sie an einer aufgerissenen Seite Geldscheine. Da sie seit Monaten nicht bezahlt worden war, verlangte sie ihr Geld. Der Graf sagte, er lasse sich nicht mahnen. Außerdem sei das Echte nicht immer echt und das Falsche nicht immer falsch. Die Welt lebe im Abglanz eines trügerischen Scheins und nicht in den wahren Werten. Im Verzicht läge der echte Wert, der nicht in Gold aufzuwiegen sei, alles andere sei nur Täuschung. Geld sei überhaupt die allergrößte Täu‐ schung, die Menschen je erfunden hätten. Sie solle also gefälligst warten, bis sie ihren Teil davon erhalte. Als Gertrud bei sich dachte, das endet polizeilich, erschien die Polizei auch schon, klopfte nicht an und bat nicht um Audienz, ging einfach in die Bibliothek und hielt dem Grafen, der sich bei dieser Gelegenheit zur Überraschung Gertruds als echt erwies, ein Bündel Geldscheine unter die diversen Lupen. Ein Dicker in einem Ledermantel lobte die Arbeit, sagte, das sei das beste, was er seit langem gesehen habe, sozusagen fast echt, qualitätsvolle Handarbeit, die man kaum noch ir‐ gendwo finde, denn gefragt sei heute doch nur das In‐ dustrielle, die gute sichere Hand schätze keiner mehr. Aber leider sei der Herr Graf nicht der Präsident der 237
Notenbank, der zwar unfähig sei, auch nur einen ein‐ zigen Schein herzustellen, sie nur noch unterschreibe, industriell, aber dessen Scheine per Gesetz echt und nicht falsch seien. Ungerecht sei die Welt, er gebe es zu, aber der Schein trüge nun mal. Der Graf blieb sitzen und äußerte mokant: Alles Irdische ist nur ein Gleichnis, setzte elegant die Mündung einer perlmuttbesetzten Pistole an die Grafenkrone auf seiner Brust und drückte ab. Das Blut spritzte weit. In dem turbulenten Durch‐ einander nahm Gertrud mit dem Mut und der kühlen Alltagsvernunft der Unbezahlten ein Paket blutge‐ tränkter Geldscheine vom Sekretär, ging zur Bankfiliale an der Ecke, sagte, sie habe sich mit dem großen Küchenmesser geschnitten, die Bankangestellten sahen nur das Blut und tauschten die Scheine rasch um. Das falsche Geld war nun wieder echtes Geld, der echte Graf ein Fälscher, was war falsch und was war echt? Seitdem prüfte Gertrud in Pauls Warenwelt alle Scheine, hielt sie gegen die Neonlampe an der Keller‐ decke, entdeckte auch immer mal wieder einen falschen Lappen, das sprach sich herum, die Kundschaft ließ bald ihr Geld von ihr prüfen, brauchte auch schon mal echte Lire oder Peseten oder Drachmen für den Urlaub. So entstand unter Gertruds prüfenden Händen eine Wechselstube, und der Postbeamte und nebenberufliche Stehgeiger Paul stand am Eingang seiner Warenwelt und genoß die Anfragen, wann er denn nun Karstadt oder Kaufhof übernehmen wolle. Fern der gläsernen Bürotürme die alte Stadt, in der man noch den Fluß hörte in den windigen Gassen, mit dem 238
Geruch des Wassers lebte, mit dem Pegel, der Hoch‐ und Niedrigwasser anzeigte, denn manchmal nahm sich der Fluß die alte Stadt als Ruheplatz, die Menschen tippelten dann über schwankende Bretter und die Mädchen hatten Angst. Er zog sich aber auch schon mal weit zurück, unbeweglich lagen die Schiffe am Ufer, während die Jungen mit aufgekrempelten Hosenbeinen auf dem Flußgrund herumspazierten. Aus dem Dachfenster der Mansarde, zwischen abge‐ stellten Möbeln, ein stiller Ausblick auf schwarz abfal‐ lende Dächer und helle Giebel, in schmalen Fenstern die Lichtreflexe des Flusses. Mauersegler durchkreuzten den Himmel, ein überraschendes Muster, jeden Morgen neu entworfen, am Abend variiert. Aus den ineinan‐ derlaufenden dunklen Gassen hörte er am Tag die Stimmen der Menschen, nachts die Musik aus den Lokalen. Im Hof ein grüngestrichener Holzschuppen, ein Kind hängte Wäsche zum Trocknen auf, das Kind mußte sich strecken, um die Leine zu erreichen, dabei sang es ein Karnevalslied. Viele Menschen lebten noch in diesen Kriegsbaracken, weigerten sich, in die neu erbauten Sozialwohnungen zu ziehen, wohnten lieber in den Baracken, die sie bunt anstrichen, mit Blumen verzierten, phantasievoll herrichteten, in einer Nach‐ barschaft, in der sie zufrieden waren. Eine Welt, die für sich lebte, nach ihren eigenen Regeln, ihren eigenen Ansichten, ohne die sich rasant ausdehnende und hoch‐ wachsende Stadt zu beachten. Gegenüber lag die Kneipe, die alle Zwiebelkeller nannten, hier spielte einmal Flötchen‐Geldmacher 239
traumhafte Harmonien auf seiner Blockflöte, und Waschbrett‐Günter, eigentlich Steinmetz, der im Mantel des Wirts Rausschmeißer war, aber ein berühmter Schriftsteller werden wollte, schlug mit harter Hand und zehn Fingerhüten virtuos das Waschbrett, machte Tempo, Jazz für gut zahlende Gäste, denn das Lokal war bekannt für die schärfste Gulaschsuppe der Welt, die man nach einer langen Alkoholnacht unbedingt zu sich nehmen mußte. Der Inhaber des Lokals, nebenbei Kunstliebhaber, hatte die Königsidee, alle Maler der Stadt auf einem großen Bild zu verewigen, was kurios war, denn eigentlich hätten die Maler die Menschen malen sollen in ihrer neuen Stadt. Nun ließen sie sich geduldig von einem der ihren malen, nahmen Freunde und Freundinnen mit auf und hingen so alle zusammen auf einem riesigen Bild in einer dunklen Kneipe. Flötchen‐Geldmachers Töne schwebten einsam durch die Straßen, Waschbrett‐Günter wurde tatsächlich Schriftsteller, und die Maler hingen als Gesamt‐ kunstwerk an der Wand und hatten versäumt, die Stadt und ihre Menschen zu malen. Ein großes trauriges Bild von der Vergeblichkeit der Kunst, über Jahre eindun‐ kelnd, fast schwarz an der schwarzen Wand, vergessen, unbekannt. Carlo erschien im Hof, im Licht sah man sein zer‐ schnittenes, zernarbtes Gesicht, zerstückelt und neu zu‐ sammengesetzt. Das Kind sang sein Lied. Die Sonne schien. Es war Frühling. Carlo kauerte zusammengesunken hinter einem abge‐ räumten Tisch in der dunkelsten Ecke der Kneipe, die 240
ein Wirt schwarz gestrichen hatte. Hier war es immer Nacht, auch wenn es Tag war. Die Fenster zugemauert, eine Tür zum Hof, der Notausgang stand am Tag offen, die Sonne blendete. In der Kneipe noch der Rauch der Nacht mit dem Gestank von Toilette und Küche. Carlo saß auf einer Eckbank, den Kopf an die Wand gelehnt, über ihm gerahmte Fotos der Jahrhundertwende, Marktfrauen vor Marktständen, ein Flußhafen mit dunklen Dampfern, Kopfsteinstraßen mit Lastträgern, das Denkmal eines Kaisers, Bürger mit Strohhüten und Spazierstöcken, Neugierige, die sich vor der Kamera drängten. Erstarrte Vergangenheit. Carlo sah ihn durch geschwollene Augenlider an: Spendier mir was, der Kerl gibt mir nichts mehr. Er winkte dem Wirt, der mit der Schnapsflasche ankam, ein Glas füllte, Carlos Hand schoß nach vorne, hielt mit eisernem Griff die Flasche fest, ließ sie nicht mehr los. Er mußte sofort bezahlen, der Wirt schien seinen Gästen nicht bis zur Tür zu trauen. Ein älteres, noch von der Nacht betrunkenes Paar, das, sich gegenseitig beschimpfend, dem Tag auswich und auf die nächste Nacht wartete, wollte sich wieder vertragen, stützte sich gegenseitig bis zur Musicbox und drückte eine Taste. Unter ihren Mänteln, die sie nicht auszogen, trugen sie mehrere Hosen und Pullover übereinander, die erfolgreiche Plünderung einer Klei‐ dersammlung. Aus der Musicbox plärrte eine Sängerin, von Mandolinen begleitet, ein Lied, das besagte, man solle nach Italien gehn, ans blaue blaue Meer, Azzurro, Azzurro, und unter nächtlichem Sternenhimmel Vino rosso trinken, bella bella amore, bella bella amore. Das 241
Paar tanzte fast unbewegt vor der Musicbox und drückte die Wiederholungstaste. Carlo warf ein Glas gegen die Musicbox, die Splitter umflogen das Paar, der handfeste Protest nützte nichts, sie tanzten nur nach dieser Platte. Na, schrie Carlo: Gehts uns gut? Gehts uns allen gut? Ja? Na dann ist ja alles klar. Alles bestens. Klaro, in Butter. Carlo, unrasiert mit aufgequollenem Gesicht, in einem karierten Baumwollhemd, das sein Handtuch und sein Nachthemd war, in einer ausgebeulten Hose, die in Wasserstiefeln steckte — und Carlo im Maßanzug, manikürt und parfümiert, mit Seidenkrawatten, Sei‐ denhemden, Schweizer Chronometer und italienischen Schuhen. Dazwischen lag nur Zeit, die unauffällig den Menschen folgte, die immer da war, Menschen und Welt verformte, allem ein Ende bereitete. Carlo wollte die Welt erobern und hatte das Scheitern gelernt. Das war eben nicht wie in den Filmen, in denen man für all seine Mühen und trotz aller Rückschläge zum Schluß mit dem Erfolg belohnt wird, in dieser stillstehenden Bewegung, die auf Wunsch immer wieder von vorne begann. Es war wie im Leben, wo die meisten unter‐ gehen und vergessen werden, im Schrecken enden, in der Verzweiflung. Carlo hatte lange für die Vergessenheitsfirma gear‐ beitet, eingetragener Verein der deutschen Industrie, undurchschaubare Gesellschaft mit klaren Zielen, Ge‐ meinschaft zur Förderung des Sozialen Ausgleichs, die sich durch eine ausbalancierte Waage repräsentierte, dem Symbol der Gerechtigkeit, dabei aber nicht mit verbundenen Augen arbeitete, so daß die Waage immer 242
nach der richtigen Seite ausschlug. Jedermann kannte ihre Jedermannsmeinung, die jedermann einen neuen Lebenssinn vermitteln sollte, der in Wirklichkeit der alte war. Jedermann las, sah und hörte täglich die Parolen der gerechten Waage, kannte ihre Glaubenssätze, betete sie nach und vertraute ihnen erneut. In diesem schicksalsschweren Augenblick, in dem das Land daniederliege, so verkündeten die alten Reichen den alten Armen des Landes in pastoralen Ansprachen, ruhe die Zukunft auf den bewährten Prinzipien der Vergangenheit. Man solle vergessen und auf Experi‐ mente verzichten, denn nur das Alte sei das Neue. Es war eine große, dicke Schlafdecke aus ständig wieder‐ holten Worten, die von der Vergessenheitsfirma über das Land gezogen wurde, die Gesundheit und Wohl‐ ergehen nach einer langen Krankheit versprach, wer wollte da widersprechen. Carlo schrieb die Texte für die Anzeigen, Plakate und Werbefilme, die immer nur das gleiche predigten— daß man besitzen müsse, um zu sein, Mensch sei nur der vermögende Mensch, nur wer habe, sei auch, wer nichts besitze, sei nichts. Es war das altvertraute Denken, das sich in der ver‐ änderten Welt nicht auskannte, Frauen und Männer in hergebrachten Rangordnungen sah und die Gesellschaft ebenfalls, als sei da nichts gewesen, was die Wertord‐ nung zerstört hätte. Und Carlo schrieb die Texte, inzwi‐ schen überzeugt, wie alle anderen auch, es zahlte sich aus, man konnte mitmachen, schließlich war es egal, was man nach dem Krieg anstellte, weil alles auf irgendeine Weise richtig oder falsch war. Nach einer denkwürdigen Nacht in der Altstadt, mit einer 243
weinenden Studentin, die vor den Tränengaswolken der Polizei in eine Bar flüchtete, in der sein Kopf ausnahms‐ weise taghell war von einer brisanten Mischung internationaler Schnäpse, vergaß er sich und schlug der Vergessenheitsfirma vor, ihre Moralpredigten und ihre ermahnenden Vorschriften ebenfalls zu vergessen und die Menschen nach ihrer eigenen Moral und ihren eigenen Regeln leben zu lassen. All die Tugendregeln, die man neupoliert unters Volk bringe, ein für allemal zu begraben und die Menschen bei ihren natürlichen Tugenden zu nehmen. Es könne ja sein, daß sie ohne Stadtplaner ihre Häuser und Städte besser erbauen, ohne Lebensregeln ihr Leben nach ihren Wünschen und Träumen gestalten würden. Möglicherweise auch das herstellten, was sie wirklich brauchten, statt Dinge zu produzieren, die sich keiner leisten könne, für die er aber sein Leben lang arbeiten müsse. Vielleicht huldige dann so manch einer statt dem Fleiße auch einmal der Faulheit, in allen Ehren natürlich, um nicht gleich wieder ein expandierendes Bruttosozialprodukt aufzu‐ bauen, eine Maschine, die sowieso niemand begreife, die immer wie von selbst heißlaufend zusammenbreche, und nach dem Zusammenbruch immer gleich den tapferen Neuanfang fordere. Das letzte, woran er sich erinnern könne, sagte Carlo jedesmal, sei die gläserne Tischplatte gewesen, in der die weißhaarigen Köpfe des Vorstandes zwischen goldenen Federhaltern, silbernen Aschenbechern und ledernen Schreibunterlagen schwammen wie in einem klaren See, dunkle, bewegungslose Fische mit hervor‐ quellenden Augen und offenen Mündern, während ihre 244
blanken schwarzen Lederschuhe neben ihren Köpfen und den leichten Lesebrillen auftauchten, in dem glühenden Glas über dem chinesischen Seidenteppich mit dem vielschwänzigen blutroten Drachen und sei‐ nem drohenden Rachen, in den sein Kopf stürzte, hin‐ abstürzte bis auf den Grund — hineingeschlagen habe er seinen Schädel, bis der Glastisch barst. Das Paar vor der Musicbox fiel aus seiner vorläufigen Harmonie in einen gewaltsamen Streit zurück. Während die Musicbox beschwörend wiederholte, daß man nach Italien fahren müsse, schlug der Mann ihr mit der Faust ins Gesicht, sie trat ihm zwischen die Beine, er stürzte sich auf sie, spuckend und kratzend lagen sie am Boden. Der Wirt kümmerte sich nicht um das Pärchen, er hatte schon abkassiert, da war nichts mehr zu holen. Die Schallplatte drehte sich weiter, begann von neuem, wurde zur Wiederholung der Wiederholung. Kurz und Gut, morgens durch die Gassen hustend, auf dem Weg zu seinem Erzählerplatz. Sie nannten ihn Kurz und Gut, weil er nur die Quintessenz der Ge‐ schichten erzählte, die er eigentlich ausführlich schil‐ dern wollte, aber dazu hatte er nicht mehr genug Luft in seinen Lungen: Also kurz und gut, sagte er dann: viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter. Wobei das Ende einer Geschichte bei ihm immer schon der Anfang der nächsten war, die wiederum im Anfang einer neuen Geschichte endete, immer auf einen Atem gesprochen, in langen, endlosen Sätzen, die abrupt abbrachen: Jeder Mensch hat eben so seine Art zu erzählen, und vor allem hat er nur seine 245
Geschichte, für ihn die einzige, und jede Geschichte ist einzigartig, und alle Geschichten zusammen ergeben überhaupt erst die wirkliche Geschichte, die ist ja gar nicht zu verstehen ohne die Geschichten der Menschen, die da drin versteckt sind. Ist wie das Wechselgeld auf einen Hunderter, man hat viele abgegriffene Münzen in der Hand, da sieht man erst, was so ein Hunderter bedeutet, sonst steckst du die Blüte ja so weg, ist einfach ein Hunderter. Noch im Herbst, von fallenden Blättern umweht, der aufziehenden Winterdunkelheit trotzend, stand Kurz und Gut mit seiner eingefallenen Brust, seinen vorgebeugten Schultern und seinem Mädchengesicht an der Ecke des Rathauses vor dem grünlichen Reiter‐ standbild. Sieh dir das an, sagte er hustend, reitet vor‐ wärts und bleibt auf der Stelle stehen, ist ein Kunst‐ stück, mach mal nach, und viele blieben stehen und sahen es zum erstenmal. Die Bewegung in der Erstar‐ rung. Kurz und Gut wollte Architekt werden, war ir‐ gendwie mit dem Tod in unangenehme Bekanntschaft geraten, wartete auf die zweite Begegnung. Soll nur kommen, sagte Kurz und Gut, seine Lebenspläne waren zerfallen, ehe sie Gestalt annahmen, er nahm es hin. Aber die Statik einer endlosen Bewegung, die sich nur scheinbar bewegt, die in der Bewegung auf der Stelle verharrte, interessierte ihn immer noch, und so stand er vor dem Reiterstandbild und grübelte: Bewegt sich und bewegt sich nicht. Das ist wie bei den Geschichten, man kann sie nicht zu Ende erzählen, man muß immer wieder von vorne anfangen, denn am Ende fängt ja alles wieder von vorne an, alle Geschichten kreisen um die 246
gleiche Leere, um das gleiche Nichts, und es ist immer das Leben, das man in den Geschichten sucht und begreifen möchte. Zwischen seinen Reden zitierte Kurz und Gut hu‐ stend, eine Zigarette im Mundwinkel, Camus: Ein Mensch, der nur einen einzigen Tag gelebt hat, könnte mühelos hundert Jahre in einem Gefängnis leben, er hätte genug Erinnerungen. Das war ein Gedanke, der ihn faszinierte, der ihn mit der Welt versöhnte, der ihm half, seine Tage und Nächte zu leben: Leben ist Erinne‐ rung und sonst nichts. Ohne Erinnerung wären wir vergessene Sterne, Schall und Rauch. Die Dinge haben keine Bedeutung, wenn sie keine Geschichte haben. Vielleicht haben sie noch eine Bezeichnung, pro for‐ma, aber was bedeuten sie? Erst eine Geschichte gibt allem um uns herum die Bedeutung, die wir verstehen. Ist wie der Anker an einem Boot, ohne Anker treibt es weg, ist nicht mehr vorhanden. Dann such mal dein Boot, sagte Kurz und Gut, ohne einen Ankerplatz stehst du mit den Füßen im Wasser. Seine lehrreichen Erzählungen bestanden nicht nur aus den üblichen Sensationen, die jeder Kalendermann notierte: Da kannte ich einen, der kam aus Amerika und wollte hier nach seinen Vorfahren forschen, hat alle Kirchenbücher durchstudiert, hat alle Namen und Orte aufgeschrieben, ist ein ganzes Jahr gereist — kurz und gut, in Moskau hat er eine Frau aus seinem Wohnort kennengelernt, hat sie geheiratet und ist wieder da gelandet, von wo er aufgebrochen war. Nach solchen Geschichten, deren Anfang schon das Ende enthielt, drückte sein Mädchengesicht mit den tiefliegenden 247
Augen eine vollkommene Ratlosigkeit aus. Er schaute hilflos auf die Zuhörer, die aber auch keine Antwort wußten. Gerne erzählte er die großen Romane der Weltlite‐ ratur, die so schön ganz waren und so sinnvoll, am lieb‐ sten Der Idiot von Dostojewski, fing auch immer präzise an mit äußerst genauer Betonung: Ende November, bei Tauwetter, gegen neun Uhr morgens, näherte sich ein Zug der Petersburg‐Warschauer‐Eisenbahnlinie mit Voll‐ dampf Petersburg. Es war so feucht und neblig, daß es nur zögernd hell wurde; aus den Waggon‐ fenstern ... — Kurz und Gut räusperte sich, schnaufte, hustete — ... ein Teil der Reisenden kehrte aus dem Ausland zurück; aber am stärksten besetzt waren die Abteile dritter Klasse ... — langsam kam er ins Atmen, atmete immer heftiger, hustete, hustete durch die Zigarette, holte noch einmal tief Luft und kürzte den Rest des Romans: — kurz und gut, der Idiot kam an, stieg aus, traf all die anständigen, braven, frommen, angesehenen Bürger der Stadt, die ihn mit ihrem gefaß‐ ten Lebenswandel in den Wahnsinn trieben, fuhr zu‐ rück und verschwand aus der Gesellschaft. Hustend, at‐ mend, die vorgebeugten Schultern, die eingefallene Brust, er hob hilflos die Arme und bat um Vergebung, daß er nicht alles ausführlich erzählte, daß er immer einen verkürzten Weg gehen mußte. Die hastigen De‐ tails der Welt ergaben für ihn keine langatmige Ge‐ schichte mehr. Alles war nur noch ein Mosaik aus Wor‐ ten, Sätzen, bestenfalls kurzen Lebensläufen. Weil es in der Welt keine Idee mehr gab, die große Geschichten ermöglichte und zusammenhielt, kein Lebensweg, der 248
den Menschen über das Geschehen erhob, nur noch ein kurzatmiger Erzähler, der die Bruchstücke sammelte, weiter erzählte, wissend, daß es Bruchstücke waren, eine ausgeformte, sinnvolle Erzählung wäre eine Lüge gewesen. Da war nur noch eine Stimme, eine Stimme, die sprach, es war unwichtig, wer erzählte, es kam dar‐ auf an, eine Stimme zu hören, die eine Stimme, die die Erinnerung war. Zum Schluß vertraute Kurz und Gut seinen Zuhörern auch immer noch seine letzte Erkenntnis an: Alle Geschichten handeln nur von Licht und Finsternis, Hell und Dunkel, Tag und Nacht, andere Geschichten gibt es nicht. Damit tröstete er kurz und gut seine Zuhörer und sah frierend aus dem Dämmer des Platzes in die Weite des winterlichen Himmels. Wieder Frühjahr und auf einer Bank vor dem verdreh‐ ten Kirchturm, der sich um sich selbst gedreht hatte, in der erstarrten Bewegung verharrte, Sinnbild der Stadt geworden war, saß Oles Bruder, verwandelte die Welt in eine nur ihm geläufige Sprache, verpuppte sich in einem Sprachkokon, um als ganz eigener Schmetterling das Leben zwischen den ununterbrochen und laut Daherredenden zu überstehen. Oles Bruder, der sich selbst als seinen Bruder sah, verstopfte so seine Ohren gegen die ununterbrochen Sprechenden, die ihre Worte aus dem All der Wiederholung empfingen, schon lange nicht mehr erklären konnten, was sie meinten, aber unüberhörbar und mit Überzeugung daherredeten, rechthabend und beweisführend, wissend und glau‐ bend, und da es die Wiederholung der Wiederholung 249
war, herrschte Ahnungslosigkeit, wer ihnen ihre Sätze ursprünglich eingegeben hatte: Das sagen doch alle, war meist der letzte Stand der Wahrhaftigkeit. Das Ge‐ dächtnis schwamm im Vergessen. Oles Bruder erfand seine eigenen Worte und verstand sich daher mit sich und seinem Bruder sehr gut. Er entwickelte in der Rückschau auf sein Leben ein differenziertes, leises Zwiegespräch, voll überraschen‐ der Wendungen und Pointen, über die er lachen konnte, vergnügt wischte er sich die Lachtränen aus dem Gesicht mit dem englisch gezwirbelten Bart, an dessen Enden er ständig drehte. Rotbackig, mit vergnügten Augen, eine Kapitänsmütze auf dem Kopf, saß er tags‐ über als sein Bruder auf der mit vielen Vornamen be‐ kritzelten Bank und wunderte sich über die genauen Einzelheiten, an die sein Bruder sich erinnerte, was er damit erklärte, daß sein Bruder ja viel älter sei. Nachts spielte er in kleinen Lokalen einen swingenden Baß mit Big Sid Fletcher, Drums und George Maycock, Piano, und summte dazu. Oles Bruder hatte nichts dagegen, wenn man sich zu ihm setzte, um ihm die eigene Lebensgeschichte anzu‐ vertrauen und damit loszuwerden, denn sein von weni‐ gen unverständlichen Worten durchzogenes Schweigen war eine Herausforderung für alle, die über viele Worte verfügten, um wenig mitzuteilen. Er nickte dann verständnisvoll, hatte all das zum hundertstenmal gehört, war daher auch nie überrascht, daß in den vie‐ len Worten kein Glück aufschien. Alles endete nur im‐ mer in tragischer Verstrickung und unbegriffener Schuld, in all diesen Geschichten, die dem Schweigen‐ 250
den nur erzählt wurden, um das Leben endlich einmal zu begreifen, und die doch immer nur in den ratlosen Tod abstürzten, ohne daß für die Zeit davor ein Sinn erkennbar war, dem Erzählenden ein Licht aufging, wie er denn nun gelebt habe. Und so kapitulierten sie letztlich alle vor seinem Schweigen, das er mit wenigen unverständlichen Worten eingrenzte. Seine Kommen‐ tare, und ganz besonders die seines Bruders, den er im‐ mer erst fragte, waren leider nur für langjährige Freunde verständlich: Lochlomond: Ein altes Lied. Ma‐ ryland o Maryland: Weihnachten ist Weihnachten. Moonlight in Vermont: Du lügst. Verzieh dich. Doch die meisten waren weniger auf schweigende Erkenntnis aus, sie wollten passende und vor allem billige Worte und Sätze aus dem Sonderangebot der Üblich‐keit, um sich damit unerkannt wieder unter das Redegeräusch der anderen zu mischen, wunderten sich immer wieder aufs neue darüber, daß sie nichts begriffen, daß sie in den Worten und Sätzen der anderen nicht existierten, in ihren Erzählungen nicht vorkamen, und begannen daher ihre Geschichte wie unter einem Zwang immer wieder von vorne, erzählten sie, um wenigstens sich selbst zu hören, unverändert viele tausendmal bis zu ihrem Tod, jeden Tag, jede Nacht, im Wachen und im Träumen. Immer öfter verschwand Ole in der Kirche, schrieb Unverständliches in das dort aufliegende Bittbuch, zeichnete mit drei Kreuzen, hörte sich keine Geschichte mehr an, wollte nichts mehr wissen, absolut nichts mehr wissen, hörte nicht mehr hin, wenn man ihn rief, und verschwand in einem frühen Herbst. 251
Montag war der Tag, an dem die Erde stillstand. We‐ nigstens war das so für die Musiker, die am Montag ihre große Pause hatten. Das Wochenende mit seinen Engagements war vorbei, unter den Musikern breitete sich Ruhe aus, während die Menschen, die für ihr Wo‐ chenendvergnügen bezahlt hatten, zur Arbeit gingen, um neues Geld zu verdienen. Die Musiker saßen in dem engen Raum bei Pitt, tranken, rauchten, einer erzählte von einem Konzert, aber das kannten alle, er ver‐ stummte, und so herrschte für die Musiker das unge‐ wohnte und an diesem Abend genossene Schweigen, während das Telefon hinter der Theke klingelte und Pitt für das nächste Wochenende neue Auftritte managte. Der Montag war der wahre Sonntag, ein entspanntes Lachen in einer Ecke, ein Fingerschnipsen, eine Hand schlug einen ruhigen Takt, eine Frauenstimme summte eine Melodie, ein anderer packte sein Instrument aus, spielte für sich, ein einfaches altes Lied im gleich‐ mäßigen Takt des Blues, Oh Lord, oh Lord, nur ein Klang, doch die Schönheit der Welt in einer harmonisch sich ordnenden Vollendung. Der Montag war der Tag, den Gott vergessen hatte, er hatte einfach viel zu früh gesagt, daß es gut sei, es fehlte die Musik, die Malerei, die Dichtung, die Kunst des Menschen, der Einklang der Töne, der Farben, der genauen Worte, die in ihrem Rhythmus den Frieden brachten, das Nachdenken im Gefühl, das Schweigen, das alle vereinte, und noch einer packte sein Instrument aus und umspielte die Harmonien des ersten, und ein dritter fügte sich in das Duo, das zu einem Trio anwuchs, eine Stimme sang mühelos und ohne jede Anstrengung, und dann holten 252
alle ihre Instrumente heraus, alles war ein Klang, ein glücklicher Augenblick, jeder spürte, wie Mensch und Welt eins sein konnten, jeder spielte für sich, und alle spielten in einer gemeinsamen Bewegung aus der Stille heraus. Sie standen sich gegenüber. Der Kleine schlug dem Großen mit der Faust ins Gesicht. Dann schlug er wie‐ der zu und direkt danach noch einmal. Die Nase des Geschlagenen blutete. Der Kleine schlug wieder zu. Wartete. Schlug zwei‐, dreimal hintereinander zu. Das Auge des Getroffenen schloß sich, Blut tropfte auf das Hemd. Der Kleine ruhte sich etwas aus, schlug dann wieder zwei‐, dreimal hintereinander ins Gesicht des Großen, der sich aufrecht hielt und den Schlägen nicht auswich. Er schlug erneut zu, machte eine Pause, schlug wieder zu, wartete dann ab. Das Gesicht des anderen verfärbte sich langsam, von den Schlägen aufgedunsen, aber er stand breitbeinig und stützte sich mit den Händen an einem Stuhl ab. Beide standen ruhig voreinander und bewegten sich nicht. Zorn war da nicht im Spiel, auch keine Wut, der eine schlug, und der andere erwartete den Schlag. Es war eine Sache, die sie untereinander ausmachten, keine Keilerei. Kannst mich totschlagen, sagte der Große durch den verquollenen Mund. Ich schlag dich tot, sagte der Kleine und setzte mit großer Wucht seine Faust in das Gesicht des Großen, der Stuhl verrutschte ein wenig, aber sonst blieb alles still, auch die Umstehenden schwiegen. Es war ein Ritual, das da ablief. Der eine schlug, und der andere erduldete die Schläge. Als der Große nach einem 253
Schlag in die Knie ging, mit dem Stuhl umfiel, murrten einige der Zuschauer, aber der sich Aufrappelnde gebot ihnen mit einer Hand zu schweigen. Der Kleine schlug weiter, schlug monoton noch zehnmal in das Gesicht des Großen, gab dann auf, weil er nicht mehr schlagen konnte oder wollte. Er setzte sich auf einen Stuhl und weinte. Der Geschlagene rutschte langsam auf die Erde und blieb da liegen. Später erklärte ihm einer die Geschichte, von der er nur so viel behielt, daß der eine den anderen im KZ gefoltert habe, jetzt hätten sie sich zufällig getroffen, und der Folterer habe dem Gequälten so viele Schläge zugestan‐ den wie er wollte, aber, das war zumindest die Meinung der umstehenden Zuschauer, das ändere ja nichts, das mit der Rache sei eine Illusion. Der eine sei gequält worden, und der andere sei der Quäler. Und das ändere sich nicht mehr im Leben der beiden. Geschehen ist geschehen. Und wenn der Kleine ihm den Kopf weg‐ schlage, seine Folter bleibe in ihm. Und der Folterer bleibe in seiner Schuld. Gnade vor Recht, sagten die meisten aus dem Kreis, aber der, der ihm die Geschichte erzählte, meinte: Das ist auch Unfug. Der Täter habe seinem Opfer das unversehrte Leben genommen. Beide seien durch die Tat für immer miteinander verbunden. Die Sache sei in sich aussichtslos. Was ein Mensch dem anderen antue, das sei in der Welt, und es bleibe in der Welt, darum sehe die Welt auch so aus wie sie sich zur Zeit präsentiere. Ein Beinhaus der Lebenden, das ständig größer werde. Deswegen baue man so hoch und so breit und so tief. Wohin mit all den Toten. Man lebe gewissermaßen in einer neuen Pyramidenzeit. 254
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Nach den vielen Jahren in Krankenhäusern und Sanatorien, die wie ein Tag und eine Nacht waren, auf einem einzigen Atem endlos lang in der erstarrten Bewegung des To‐ des, die ihn noch einmal freigab, vor langer, langer Zeit, als er, noch einmal geboren, zurückkam aus einer fernen Abwesenheit, stürzte er, fiel er, taumelte er, mit dem erschrockenen Blick des Fremden, des Nicht‐ dazugehörenden, in das neue Leben als ein Kaspar Hau‐ ser, dem die Welt vorkam wie auf einen Fensterladen gemalt. Ein den Himmel spiegelndes Glashochhaus im ober‐ sten Stock, eine gläserne Drehtür führte zu einem Glas‐ aufzug in einer gläsernen Halle, gläserne Etagen glitten vorbei, ein gläserner Vorraum öffnete sich, eine Emp‐ fangsdame schob eine gläserne Tür in einer gläsernen Wand auf. Er stand in einem kreisrunden Büro, Fenster vom Boden bis zur Decke, in der Mitte ein gläserner Schreibtisch mit Blick auf die Stadt. Von hier aus hatte man jede Bewegung tief unten in den Straßen im Auge, wurde selber nicht gesehen, während man dem leicht schwindeligen Besucher signalisierte: Wir haben nichts zu verbergen. 255
Im Raumlicht schwebte ein Renoir, eines dieser üp‐ pigen, fleischfarbenen Mädchen im grünen Farbge‐ sprenkel, gegenüber ein Spiegel, der das Bild in einem dritten Spiegel vervielfältigte. Liquide Geld‐anlage, sagte ein Hüne, leicht vorgebeugt den Raum betretend, jederzeit verkäuflich, will ich dreifach sehen, hat auch dreifach gekostet. Er kam in zwei übereinanderge‐ zogenen goldfarbenen Bademänteln aus einem Bad hinter einer Spiegelwand: Brauche mehrmals am Tag ein Bad. Friere immer, als hätte ich Eis in den Knochen, als wäre ich tot und läge in einem Grab. Meist lebte der Mann, wie man einem bekannten Nachrichtenmagazin entnehmen konnte, frierend in den heißen Ländern Afrikas, als Finanzberater der jeweiligen Regierungen, um ihre unterentwickelten Länder durch Einführung einer neuen Währung zu entwickeln. Jahre später las er im selben Magazin, daß man ihn in einem Regie‐ rungspalast tot aufgefunden habe, Todesursache unge‐ klärt. Bodo von, wie ihn alle nur nannten, denn sein un‐ aussprechbarer ungarischer Adelstitel war gekauft wie die Doktortitel, die er auf seiner goldgeränderten Visi‐ tenkarte aneinanderreihte, war einmal der Schwarz‐ marktkönig des Hafens gewesen. Aus der unüberseh‐ baren Hinterlassenschaft der deutschen Armee hatte er ein ebenso undurchsichtiges Handelsimperium erschaf‐ fen, so verzweigt, daß er sich nun mit Glas umgab, um den Überblick vorzuspiegeln. Sein größter Coup war ein Lager mit Nachtgläsern, mit der Überzeugungskraft einer Maschinenpistole übernommen, für Reichsmark deponiert, für D‐Mark in alle Welt exportiert. 256
Ein anderer Coup war ein Lager mit feinen Stoffen für Luftwaffenoffiziere, im Namen des Volkes durch einen hilfsbereiten Stadtpolitiker beschlagnahmt, von einer Firma zugeschnitten, von einer anderen Firma genäht, von einer dritten Firma als Dior‐Mode mit den schönen langen Röcken en gros exportiert, von ausländischen Firmen en detail importiert. Solche Verkaufsketten, bei denen jede Zwischenstation Gewinn machte, waren seine Spezialität. Er selbst besaß keine Fabrik. Er vermit‐ telte nur, beriet, spekulierte und kungelte, sein Lieb‐ lingswort. Ich kungele nur, sagte er gerne im gefälligen Ton und grinste: ist ja nicht ehrenrührig. Ein Butler brachte ihm eine Ledermappe und eine Karaffe mit dekantiertem Mouton Rothschild, die Fla‐ schen lagerten in einem Gestell neben dem Schreibtisch. Bodo von nahm einen goldenen Füllfederhalter aus der vergoldeten Nachahmung einer Pyramide und verzierte die Schriftstücke in der Mappe mit einem Kringel: Verträge lese ich nicht. Die hat mein Rechtsanwalt geprüft. Wenn er sich vertan hat, häng ich ihn kopfüber aus dem Fenster. Und das weiß er. Er zeigte auf seine vier verschiedenfarbigen Telefonapparate, die auf einer seitlichen Glasplatte standen: Geschäfte mach ich nur per Telefon. Dafür heb ich nicht mal den Arsch. Wer was will, muß zu mir kommen. Er trank den Wein, spielte den Kenner, sagte: Immer nur das Beste. Meine Devise. Rasch tritt der Tod den Menschen an. Kennst du den Satz? Du hast doch so viele Bücher. Immer nur lesen. Was nützt dir das eigentlich? Da kommt man nur ins Denken. Da erinnert man sich immerzu. Ich hab alles vergessen. War da was? Wir haben den Krieg ver‐ 257
loren, haben alles neu aufgebaut. Es war ein Wirt‐ schaftswunder. Ein richtiges, echtes Wunder. Steht in jedem Schulbuch. Ein Wunder, flir das der Papst und sämtliche Heiligen der katholischen Kirche sonstwas geben würden. Der Butler reichte Bodo von mit ge‐ spreizten Fingern eine angezündete Zigarre, ein Zehn‐ plattenspieler lief an und begann dezent mit Beethovens Pastorale. Bodo von zog an der Zigarre, die in seiner Hand wie eine Waffe aussah, blickte auf die glühende Spitze und blies den Rauch mit zurückgelegtem Kopf an die Decke. Er sah in seinen Bademänteln aus wie ein Plüschbär; wenn er frierend zitterte, klingelte er mit einem Silberglöckchen, dann kam der Butler, ließ ein neues Bad ein, entkorkte und dekantierte eine neue Flasche, Flaschen, die für Bodo von wie eine Sanduhr funktionierten und seine Zeit maßen. Ein Zwei‐Meter‐ Mann mit glitzernden Glasaugen, einem Gesicht, undurchdringlich wie ein polierter Spiegel, einer Stim‐ me, als wäre auch sie aus Glas, der stündlich in ein heißes Bad stieg, das einzig Unsaubere war die Bril‐ lantine in seinem Haar. Kam er zurück, hielt er über das Rotweinglas hinweg, aus den goldfarbenen Bademän‐ teln heraus, interpunktiert von einem Siegelring, der unerbittlich auf den Glasschreibtisch schlug, seine Kapuzinerpredigten. Bodo von hatte seine göttliche Erleuchtung an dem Tag, an dem die Reichsmark in D‐ Mark verwandelt wurde, das Wunder aller Wunder, wie er sagte, das aus der alten untergegangenen Welt phönixhaft eine neue erschuf. Seitdem war sein Denken auf diese Wandlung fixiert, die sich in den Geldschei‐ nen symbolisierte. Seine Erweckung offenbarte ihm die 258
Bestimmung jeder Zivilisation: Neubeginn, Vollendung, Zerstörung. — Und ich sage dir, das Wunder ist zu loben, es ist die Tat zu loben, die einem Volk einen neuen Glauben gab, ohne den es untergegangen wäre. Wer kritisiert den Wunderheiler, der den Toten auferstehen läßt? Mögen seine Worte falsch sein, er hat ihn zum Leben erweckt. Denn siehe die Geschichte, welche Idee, welche nicht unsäglich kompromittierte Idee hätte es noch gegeben? Keine. Nicht eine. Das Abendland war durch mit seinen Idealen, mit denen doch nur immer Geld gemacht wurde, zuschanden ge‐ ritten wie alte Klepper. Wer wollte noch eine von diesen Schindmähren haben? War es da nicht ehrlicher zu sagen: Es gibt nur noch Geld. Euer Ziel sei Geld. Euer Leben sei Geld. Geld sei euer Ideal. Hat der junge Leut‐ nant Tenenbaum, Offizier der amerikanischen Armee, unbeleckt wie er war, praktisch wie er war, mit der Er‐ schaffung der Deutschen Mark nicht mehr für die Menschen getan als alle Philosophen und Religionsstif‐ ter und Moralprediger zusammen? Das Geld ist der neue Gott, das neue Symbol, das Sinnbild der Kultur. Aber war das nicht immer so? Nur ist jetzt die Verklei‐ dung weg, die besitzende Zahl steht nackt da. Aber ist das nicht ehrlicher? Die Deutsche Mark ist die Frei‐ heitsstatue der Deutschen. Und jeder, der verdient, ist ein Demokrat. Wer will das verurteilen? Die Menschen haben sich immer durch Lug und Trug bereichert. Und immer ein Mäntelchen aus fein gesponnenen Worten darüber gehängt. Nun ist es die offizielle Gesellschafts‐ ordnung. Geht es uns nicht gut? So gut ist es uns noch nie gegangen. Ein Wunder ist geschehen. Das Meer 259
teilte sich, und wir gingen gemeinsam ins Gelobte Land. Bodo von, der große Bodo von, zitterte am ganzen Körper: Manchmal glaube ich, ich bin schon lange tot. Im Grab sollen die Haare und die Nägel schneller wachsen. Merkwürdige Aussichten. Er nahm eines der Telefone und ging betrunken zum Bad: Ich muß jetzt telefonieren. Die Geschäfte. Nun war er nicht hierhergekommen, um eine Re‐ gierungserklärung des Bodo von zu hören, die er für Presse und Funk vorrätig hielt, er war hier in der Hoff‐ nung auf eine Stellung, irgendeine Anstellung oder zu‐ mindest eine Empfehlung. Er erinnerte ihn daran, aber Bodo von schüttelte den Kopf: Nein. Nein. Du mit deiner Krankheit. Das wird ja immer schlimmer. Was willst du denn noch machen? Du bist ja schon so gut wie tot. Und als er, der dringend irgendeine Einnahme, irgendein Gehalt brauchte, Bodo von an das Ding mit den falschen Dollarscheinen erinnerte, zeigte Bodo von auf die Fensterwand: Menschen, die sich erinnern, hänge ich in den Wind, bis ihr Gehirn trocknet. Die Tür zum Bad schloß sich spiegelnd. Er hatte Laska in seinem gediegenen, vornehmen Pri‐ vatbüro gesucht und fand ihn zwischen abgefahrenen Reifen in einer Garage in der durchgesägten Hälfte ei‐ nes Ehebettes. Über einem zersprungenen Waschbek‐ ken hing ein schwarzer Anzug, ein weißes Hemd trock‐ nete an Klammern auf einer Leine. Zu seinen nackten Füßen stand eine dunkle Truhe, bedeckt mit einer Sei‐ denstickerei, darauf ein Glas Wasser, in dem eine Blume schwamm. Der einstmals so fette Laska winkte abge‐ 260
magert mit einer Geisterhand, zeigte auf die Gegen‐ stände und sagte: Sieh dich um, das ist von Amts wegen der Reichtum, der dem Menschen gebührt. Setz dich. Er wies auf einen Hocker wie früher auf die Ledersessel‐ garnitur in seinem Büro. Mit seiner bleichen Knochen‐ hand, früher einmal wulstig und mit dicken Herren‐ ringen besetzt, zog er einen Kreis durch die Luft: Alles gepfändet, gepfändet, gepfändet. Jeder hätte bei der Seele des fetten Laska geschworen, daß da irgendwo noch ... vielleicht im Ausland bei einer Bank, vielleicht in der dunklen Truhe, der fette Laska hatte noch, wenn er nicht hatte, wer sonst auf der Welt, aber das hier war nicht mehr der fette Laska, das war nur noch ein Knochengestell. Er fragte Laska nach seinem Bruder und Kompagnon. Laska und Co. waren ein Begriff gewesen, Laska und Co. erschienen nur als siamesische Zwillinge Kopf an Kopf im Geschäfts‐ wie im Privatleben, beide machten die gleichen guten Geschäfte, da mußte keiner den anderen fragen, beide trugen ihre zweieinhalb Zentner als solide Geschäftsgrundlage, aßen am liebsten Fett, nahmen im Restaurant das Fett noch von den anderen Tellern, Fett war billig, billig war vernünftig, im Einkauf lag der Gewinn; beide hatten stets dieselbe Freundin, eine kostete weniger als zwei, das war billig und vernünftig, denn im Einkauf ... Unverständlich daher, daß sein Bruder nicht auch in dem Bett lag. Laska zog die Bettdecke ans Kinn und sagte: Schöner Bruder, lieber Bruder, hat sich vor den Zug geworfen, konnte ich die Rechnung auch noch zahlen. Tut man so was? Ein feiner Kompagnon. Das mit der Rechnung machte 261
ihm zu schaffen. Das war keine Art. Ein seriöser Kauf‐ mann geht ohne zusätzliche Kosten aus dem Leben. Du weißt, wir haben zusammen in einer ausgebombten Fabrikhalle angefangen, kannst du dich noch erinnern? Mit einem ausgebrannten Auto, haben den Motor repariert, auf ein Lastwagenchassis gesetzt, aus Trüm‐ merholz eine Ladefläche gebaut, und o Wunder, das Ding fuhr, ohne Fahrerkabine, unser erster Lastwagen. Wir haben zusammen aus einem Kochgeschirr geges‐ sen, zusammen in einem Bett geschlafen, zusam‐men das erste Geld geliehen, gegenseitig gebürgt, Tag und Nacht in der Firma gehockt, Schulden gemacht, expandiert, Gewinne neu investiert, Auslandsmärkte erobert. Dann der Herzinfarkt. Ich war nur noch stiller Teilhaber, er hat weitergemacht. Mittelständische Firma geht an die Börse, Aktiengesellschaft. Sensation. Unter‐ nehmerleistung. Dann die Flaute. Danach die Krise. Danach die ganz große Krise. Aktienkurs im Keller, Produktion eingebrochen, Umsätze flau, Gewinn bei Null. Wer hört da auf? Jetzt erst recht. Mein lieber Bruder machte weiter. Wollte es erzwingen — was hat er gemacht, mit mir als stillem Teilhaber, ohne mir etwas zu sagen? Geschäfte, die keine Geschäfte waren, Luftumsätze, falsche Buchungen, Verluste, die er als Gewinne ausgab; Buchprüfung, rote Zahlen, Aktien‐ sturz, läßt sich noch königlich mit einem Taxi zum Hauptbahnhof chauffieren, wirft sich vor einen Zug, Notbremsung, Verletzte, Versicherung, Prozeß. Mich hat er einfach zurückgelassen, mit abgesägten Hosen — nennt man so etwas Vertrauen, handelt so ein Bruder und Kompagnon? Laska schlug erschöpft die Hände 262
vors Gesicht, streckte sie dann wie um Hilfe rufend an die Zimmerdecke und jammerte wie eh und je: Was haben wir von unserem Leben? Nichts. Das bißchen Renommee in den Illustrierten, Unternehmer gibt Party, Unternehmer auf Presseball, Unternehmer mit Freun‐ din, alles nur Glanzpapier, jetzt Altpapier, mit dem man neue Zeitungen druckt. Dabei war alles nur Reklame, Reichtum als Show, der Wohlstand muß inszeniert werden, dieses ganze Wirtschaftswunder ist doch nur ein Potemkinsches Dorf, das auf Kredit gebaut ist, und alles muß immer imposanter werden, damit der Kredit weiterläuft. Zwanzig‐Zimmer‐Villa, fünf Schlafzimmer, fünf Bäder, das ist noch bescheiden, heute müssen es neunzig Zimmer sein, zehn Schlafzimmer, zehn Bäder, verdien das mal, das ist eine Vorspiegelung falscher Tatsachen! Aber ohne das läuft es nicht. Die Menschen wollen den Reichtum sehen. Ohne diese Inszenierung hast du keinen Kredit. Ohne ein Hochhaus im Zentrum, gebaut von einem weltbekannten Stararchitekten, ist eine Firma, eine Bank nicht viel wert. Wenn du ein Schloß hast, gibt dir jeder Lieferant ein Jahr Ziel. Wenn du nur eine Hütte hast, heißt es Vorkasse. Das war das Wirtschaftswunder. Alles ist wieder aufgebaut. Die Menschen gehen ins Grab. Wenn ich noch mal anfangen könnte, ich würde den ganzen Tag im Bett bleiben. Eine seltsame Welt ist das. Die Menschen laufen blind dem Leben nach, aber sie erreichen es nie. Warum rennen sie herum? Warum bleiben sie nicht bei den Toten? Warum sitzen sie nicht mit brennenden Kerzen an den Gräbern der Toten und reden mit ihnen? Warum wird man nicht weise geboren? Wenn man schon das Pech hat, geboren 263
zu werden, warum verweigert man nicht das Leben? Alles jagt nach Besitz. Alles hat Wünsche. Alle wollen alles. Und alle haben Angst, alles wieder zu verlieren. Angst und Gier und Macht über andere. Dabei gehen wir nackt von dieser Erde. Laska stand ächzend auf, ein Knochengestell in einem viel zu großen Nachthemd, das noch aus der fetten Zeit stammte, stand barfuß auf einem Handtuch mit einem Hotelnamen, stellte das Wasserglas mit der Blume auf den Boden: Unsere alte gemeinsame Freundin, treu bis in den Tod. Er zog das Tuch von der dunklen Truhe: Das Tuch hat meine Mutter gestickt. Ich weiß nicht, wo sie in der Erde liegt, wie sie gestorben ist, wer sie umgebracht hat. Das Tuch hat sie mir mitgegeben, als ich mit meinem Bruder in ein Heim kam. Die Truhe war ein Kupfersarg mit schweren Griffen. Laska klappte den Sarg stöhnend auf und kletterte hinein. Er faltete die Hände über der Brust, schloß die Augen und lag entspannt in dem rosa gefütterten Sarg, dessen quel‐ lende Polsterung den hageren Körper sanft umhüllte, ihm den Umfang zurückgab, den er einst besessen hatte: Wenn ich hier so liege, hab ich meinen Frieden, dann hab ich alles hinter mir. War ein Schnäppchen. Hab ich mal in Zahlung genommen. Als alles zusammenbrach wollte ihn keiner haben. So ist er mir geblieben. Jetzt geb ich ihn nicht mehr her. Ist das nicht ein Prachtstück? Da werden sich die anderen ärgern beim Begräbnis. Wieso hatte der noch so viel Geld, um sich einen sol‐ chen Sarg zu leisten. Bronzesarg, das wird krachen, wenn ich in die Grube hinabsause. Von mir aus kannst du den Deckel zuhauen. 264
Er lief aus dem Zimmer. Er war auch hier wegen einer Stelle gekommen, aber überall erklärten ihm die Leute, die etwas zu sagen hatten, daß alles was man tun könne, ganz unnütz sei, daß man nur scheitern könne. Sie mußten es ja wissen. Er war schließlich auch aussor‐ tiert. Der Mensch ist auf der Suche nach dem Paradies. Das ist sein Unglück. Denn das Paradies gibt es nicht. Es ist nur eine alte Geschichte. Aber der Mensch hängt an den alten Geschichten. Und so baut er sich eine Welt nach der anderen und zerstört sie wieder, um eine neue zu errichten, die noch herrlicher und prachtvoller ist und endgültig die goldene Zeit verspricht. Und was hat er dann? Ramsch, Müll, Schrott, Blech, Kunststoff, denn was kann es für Geld schon geben? Und alle jammern, daß sie wieder das Paradies verpaßt haben, aber soweit ich sehe, lebt keiner in einer Oase, freut sich über die Sonne und den Wind und genügt sich selbst, immer sind alle unterwegs. Wie heißen all die Grandhotels an den schönen Plätzen Europas? Grand Paradiso, Belle‐ vue, Belvedere, Sanssouci. Bommi Latteran philosophierte hilflos vor sich hin und sah ihn dabei mit seinen erstaunten Kinderaugen an, erschreckt von den Erkenntnissen, den Antworten auf seine Fragen. Er stocherte mit der Gabel in einer Konservendose und schob sich kaltes Gemüse in den Mund, dabei pendelte er unruhig in einem Kunststoff‐ sessel, Glaswolle quoll aus dem aufgerissenen Polster, ein gelber Ton sollte Leder vortäuschen. Der Raum war vollgestellt mit den klotzigen Möbeln der Jahrhun‐ 265
dertwende, Eiche, schwarzbraun furniert, verschrammt, verkratzt, aus den Trümmern ausgegraben, mit Bom‐ bensplittern, die noch in den Verzierungen steckten. Dann stand da noch ein tief einsinkendes Sofa, auf dem er schlief, immer im Anzug, immer auf der Flucht, auf dem Sprung, ein längeres Beisammensein gewährte er nur wenigen Freunden. War er in der Stadt, hauste er in diesem ungeheizten, ungestrichenen Raum, der auch am Tag dunkel war, denn die Möbel hatte er vor die Fenster geschoben. Im Licht einer Bürolampe postierte er kleine Schachteln, packte ein, packte aus. Bommi Latteran behauptete, mausarm zu sein, alle wußten, er war steinreich, das mit den Steinen hatte sogar eine doppelte Bedeutung. In den Schwarzmarktzeiten nach dem Krieg war er jede Nacht unterwegs und verkaufte zersägte Fahrradspeichen als Feuersteine. Das brachte viel, aber er mußte ständig den Ort seiner Handels‐ tätigkeit wechseln, denn daß die Feuersteine Fahrrad‐ speichen waren, entdeckte man schnell. Dieses rasche Herumreisen führte ihn zu gefärbten Glassteinen, die er in hübschen Lamefassungen als so gut wie echt ab‐ setzte. Er arbeitete sich zu Halbedelsteinen vor, die angenehm in der Hand lagen, auch vielfältige Be‐ deutungen für den Menschen hatten, ein fast schon se‐ riöses Geschäft. Dann entdeckte er die Edelsteine und stellte zu seinem Erstaunen fest, daß seine Zunge jeden Edelstein erkannte. Es gab Gourmets, Weinkenner, Modeschöpfer, die besondere Qualitäten erschmeckten und ertasteten, und es gab Bommi Latteran, der die Edelsteine genießerisch mit der Zungenspitze berührte und ganz nebenbei sagte: Smaragd, Rubin, Turmalin ... 266
So reiste er in einem weiten, kunstvoll gefütterten Mantel, die Taschen voller Edelsteine, über Grenzen, fuhr in den Nachtzügen durch Europa, als das noch ein Abenteuer war, traf sich in nächtlichen Hotelhallen mit anderen Händlern, wie auf der Flucht, obwohl ihn keiner suchte, aber er kannte nur ein Leben in der Be‐ wegung; Seßhaftigkeit war ihm verdächtig, ein Geschäft an einem festen Ort nicht vorstellbar. Er rannte durch die nächtlichen Städte auf der Suche nach dem Bahnhof, sammelte Sparbücher aus allen Ländern, hatte überall Tresore mit einem Goldbarren, war vielsprachig, gewandt, elegant, konnte aber nicht lesen und schrei‐ ben. Das hatte man ihm nicht beigebracht, weil man ihn als Kind schon hatte töten wollen, doch das durfte man nie sagen, davon wollte er nie erzählen. Das darf keiner wissen, sagte er immer, dann sind die Geschäfte kaputt, es hat kein KZ gegeben, also war da auch keiner drin. Er leugnete alles, stritt alles ab, sagte nebbich, KZs hat es keine gegeben, das müßte ich doch wissen, dann wäre ich als Kind ja da drin gewesen. Er stand, seine Kindheit verleugnend, mit fünfzehn in einer ihm fremden Welt, schlug sich durch mit dem, was ihm gerade in die Hände fiel, bis er eines Tages feststellte, daß seine Zunge jeden Edelstein erkannte. Und da er abergläu‐ bisch war, wollte er auf keinen Fall nachträglich das Alphabet erlernen, weil er fürchtete, seine Zunge würde ihre wunderbare Eigenschaft verlieren. Wenn ihn ein alter Freund aus Schwarzmarktzeiten fragte: Bommi, warum rennst du immer noch durch die Nacht, warum haust du in dieser Bude, warum kaufst du dir kein Prachtgeschäft?, sagte Bommi immer: Ich kann nicht aus 267
dem Fenster schauen. Ich kann am Tag nicht auf die Straße gehen. Ich sehe in allen Straßen die Toten herum‐ laufen, die meinen Namen rufen, denn sie kennen mich, und sie wundern sich, daß ich noch lebe, und sie wollen wissen, wie ich das gemacht habe, und ich weiß es doch selber nicht. Wie soll ich wissen, warum ich noch lebe? Und wie soll man leben nach dem was war? Wir werden keine Ruhe haben, bis wir unter der Erde liegen. Wir haben kein eigenes Leben. Wir sind Überlebende. Wir haben nur den Tod verpaßt. Warten wir also noch ein wenig. Wie soll so einer wie ich in einer Welt leben, in der die Toten auf der Straße herumlaufen? Viele haben sich nach dem Krieg noch das Leben genommen. Sehr gescheite Leute waren das. Bommi Latteran sah ihn mit seinen träumenden Kinderaugen lange an: Des Menschen Maß ist das Elend. Dann ist er Mensch. Wenn es den Menschen gutgeht, muß man aufpassen, dann wird es gefährlich. Paradiesische Zustände halten nicht lange. Wenn sie sich als gefälscht herausstellen, sucht man Schuldige. Ein Kind baut aus Bauklötzen einen Turm und haut ihn mit einer Handbewegung wieder weg, dabei lacht es, denn das macht Spaß, dann baut es einen neuen Turm und haut ihn wieder weg. Spaß muß sein, Spaß wollen wir doch haben, den Spaß lassen wir uns nicht nehmen, und wer unseren Spaß nicht mitmacht, dem hauen wir in die Fresse, den jagen wir aus dem Land, den setzen wir hinter Stacheldraht. Bommi Latteran kratzte die leere Blechdose aus und schaukelte in der Glaswolle seines Sessels. 268
Als er den Friedhof betrat, ein versteinerter Gottesacker mit der verschwiegenen Kapelle zu den Vierzehn Nothelfern, kam ihm Josephus mit großen Gesten ent‐ gegen. Eine Kreisbewegung beider Arme besagte: Herzlich willkommen in der Grabsteinwelt. Josephus war ein großer Redner, obwohl er über keine Worte verfügte, aber seine Arme hatten eine so genaue Spra‐ che entwickelt, daß viele ihm gerne zuhörten, zumal es dabei auch etwas zu sehen gab. Eine Frage war eine ausholende Armbewegung nach hinten, Handfläche geöffnet. Eine unlösbare Lebensfrage war ein Schwung beider Arme nach hinten mit gespreizten Fingern. Eine klare Antwort — die Handfläche vor dem Gesicht des anderen. Ein unveränderbarer Standpunkt — beide Handflächen vor dem Gesicht des anderen. Bei einer Verärgerung die erhobene Faust, bei einer Drohung zwei erhobene Fäuste, beim Erstaunen beide Arme mit den Fäusten in die Hüfte gestützt. Der ausgestreckte Arm mit dem erhobenen Zeigefinger bedeutete, ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen, die Arme über der Brust verschränkt, ich denke nach, die kreisenden Hän‐ de, ist das nicht ein schöner Tag. Für alle, die nur die plappernden Worte kannten, die wenig besagten, im‐ mer nur dahergeredet wurden, war seine Zeichenspra‐ che klar und prägnant und außerordentlich beredt. Die Signale seiner Arme begleitete er mit einem hochdiffe‐ renzierten, kontrapunktischen Brummen, das die Fein‐ heiten seiner Fragen und Antworten verdeutlichte. Da er sich bei seinen gestikulierten Mitteilungen auf das Wichtigste konzentrierte, hatten seine Aussagen größe‐ res Gewicht als die langen Ansprachen, die aus dem 269
Radio drangen oder in den Zeitungen abgedruckt wur‐ den. Josephus nahm seinen Arm, Geste seiner Freund‐ schaft, und führte ihn zu einer Bank vor seinem Grab. Stolz zeigte er ihm die in einen hellen Stein eingelasse‐ nen grauen Bleilettern, die nicht für die Ewigkeit, aber doch für die Jahrzehnte der städtischen Friedhofsord‐ nung verkündeten: Hier liegt Josephus, beglaubigt mit den amtlichen Geburts‐ und Todesdaten. Josephus streckte beide Arme zum Himmel, dankte für so viel Aufmerksamkeit, zufrieden mit sich und der Welt und dem Platz, den er darin gefunden hatte. Das war nicht immer so. Josephus hatte zu Lebzeiten den Ruf eines Rabauken, der in seiner Wortlosigkeit wie in einer Höhle hauste und mit seinen Armen auch sehr rabiat argumentieren konnte. Streckte er Passanten die Hand entgegen, hieß das: Ich brauche Geld. Stellte sich der Passant dumm, sauste die andere Hand mit der geball‐ ten Faust auf den Kopf des Geizigen. Anschließend hob er beide Hände, was immer hieß: Ich bin unschuldig. Hatte er Hunger, schlug er Freunden und Bekannten die Faust vor die Brust, das bedeutete: Ich will essen. Der so Angesprochene zahlte ihm dann in seiner Stammkneipe das Essen für mehrere Tage, denn es war auch eine Ehre, mit Josephus befreundet zu sein. Das deutete Josephus mit einer großen Dankesgeste an, bei der er sich tief verbeugte, anschließend seinen Gönner um‐ armte, bis dem die Luft wegblieb. Ihn zum Feind zu haben war bitter, denn seine Faustschläge saßen, Men‐ schen zu streicheln hatte er nicht gelernt. Trotzdem nannten ihn die Leute Josephus, im Gedenken an seine 270
frommen Eltern, die bei einem Luftangriff umgekom‐ men waren. Mehrfach saß er wegen Körperverletzung im Polizeigefängnis, zu einem Urteil langte es nie, weil es bei der Vernehmung schwierig war, den Vorfall zu protokollieren. Er galt bei allen als die Gutmütigkeit in Person, man mußte nur seine Sprache verstehen. Seine Umgebung liebte ihn, er war handwerklich geschickt, und wo er vorbeikam, half er ohne zu fragen. Feinere Arbeiten fielen ihm schwer, aber mit einem Hammer in der Hand konnte er die ganze Welt reparieren. Wenn er gelegentlich in die City geriet, wie die In‐ nenstadt jetzt genannt wurde, bemerkte er mit Unver‐ ständnis, daß die Stadt jedesmal wieder einen Sprung rückwärts in die Gedächtnislosigkeit, in die blinde Er‐ habenheit früherer Tage gemacht hatte. Sie wurde re‐ stauriert, auf schön geschminkt, träumte von Eleganz und Stil und wünschte Leute wie ihn nicht mehr zu sehen. Er spürte, daß man ihn anders behandelte als in den ersten Nachkriegsjahren, aus einem etwas schwie‐ rigen, aber doch gefälligen Menschen wurde eine Akte, die ein Amt nach undeutbaren Vorschriften erledigen sollte, zu lösen war der Fall ja nicht, denn das bedeutete einen lebenslangen Aufenthalt hinter hohen Mauern. Josephus ahnte es, viele teilten es ihm auch besorgt mit, er verkroch sich, gestikulierte nur noch in wenigen Straßen, führte ein armseliges Leben. Im Krieg von sei‐ nen Eltern vor den Behörden versteckt, die ihn gerne auf Nimmerwiedersehen abtransportiert hätten, um ihn in einer Urne zurückzuschicken, war er in der ge‐ setzlosen Nachkriegszeit aufgeblüht. Jetzt verkümmerte er, denn die Gesetze der neuen Welt waren wie die 271
alten, nicht für die Menschen, sondern für den Staat gemacht, und das war für Josephus ein Unterschied wie zwischen Leben und Tod. Alle sagten, Josephus brauche eine anständige Frau, dann werde das schon. Man suchte und fand eine reso‐ lute Kriegerwitwe mit vier Kindern von zwei Männern, die den Josephus mochte, denn wenn er so vor sich hinbrummte, war das ein kuscheliges Kerlchen, das auch mit den Kindern ganz verständig zurechtkam. Das Unglück wollte es, daß auch diese Frau, wie so viele Frauen um diese Zeit, einen von allen Illustrierten propagierten Dreijahresplan im Kopf hatte, wie aus der Hütte ein Heim, aus der Armut Besitz, aus Kärglichkeit Schönheit, aus Einfachheit Glanz entstehen könne. Der Plan schien leicht zu verwirklichen, weil auf Raten angelegt, verlängerte sich aber durch ständig neue Erfindungen, die irgendwie dazugehörten, zu einem Unendlichkeitsplan der Unerfüllbarkeit — viele starben im Unvollendeten, hinterließen nichts außer den Raten, ihre teuer erworbene Habe landete auf dem Müll, denn alle anderen hatten auch schon das Neueste. Josephusʹ Frau mietete eine größere Wohnung, lief in Locken‐ wicklern umher, eine Schönheitsmaske im Gesicht, kaufte einen modernen Wohnzimmerschrank und eine moderne Couchgarnitur, eine moderne Musiktruhe, ein modernes Schlafzimmer, einen Elektroherd, einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, all das, was alle anderen Frauen auch kauften, und alles ziemlich wahl‐ los durcheinander. Sie bestellte im Versandhandel nach Prospekt, da sah alles anders aus, auf die Maße hatte sie nicht so geachtet. Wohnzimmerschrank und Couchgar‐ 272
nitur standen sich etwas im Weg, das Wort Raten‐ zahlung erfaßte sie in seiner Bedeutung auch nicht, so daß die Musiktruhe bald wieder abgeholt wurde. Josephus brütete zornig vor sich hin, haßte dieses Heim, ging nicht sehr pflegeleicht mit all den neuen Dingen um und schlug eines Tages einem unerwartet auftau‐ chenden Besucher seiner Frau, der für die Raten‐ zahlungen seinen Beistand anbot, mit der Faust auf den Kopf, worauf der sich totstellte, so Josephus. Josephus starb in einer Anstalt wie ein eingesperrtes Tier, das man in der freien Wildbahn eingefangen hatte. Man sammelte für ein schönes Begräbnis und einen Grabstein, denn jeder, der ihn gekannt hatte, hielt ihn immer noch für einen der anständigsten Kerle über‐ haupt. So einen werde man nicht mehr finden, seine Gutmütigkeit, Einfachheit und Herzlichkeit sei unter den Menschen verschwunden, habe der Pfarrer bei der Beerdigung laut gerufen, und alle hätten genickt und viele geweint. Nun saß Josephus göttlich zufrieden neben ihm auf der Bank, in der wohltuenden Sonne zwischen den Gräbern, deren Steine kleine Schatten warfen, Erinnerungen an Menschen, die es nicht mehr gab, die man aber immer noch liebte. Josephus schaute auf seinen Namen, die Hände in den Hosentaschen, und diese Haltung bedeutete: Die Welt kann mich mal. Weiter hinten lag Liselotte von der Pfalz, so ihr Künst‐ lername, sie las gerne die Biographien großer Männer und versuchte sich auf diese Art ein Leben vorzustellen, das auch ihren Vorstellungen entsprach. Lilo, wie sie von Freunden gerufen wurde, war nach dem Krieg als 273
heimatlose Flüchtlingsfrau aus dem verlorenen Osten des Landes in einem der Häuser gelandet, die eine Großstadt benötigte wie die Beleuchtung oder die Ka‐ nalisation oder andere zivilisatorische Einrichtungen. Nun schon lange selbständig erwerbend, besaß sie den Ruf einer klugen Geschäftsfrau, die auch Hotel‐ und Privatbesuche diskret erledigte; diskret war ihr Lieb‐ lingswort, im eigentlichen Sinne lebte sie von der Dis‐ kretion. Auf den Künstlerfesten der Annoncen‐Expe‐ dition, die nach jeder gelungenen Werbekampagne und nach jeder gewonnenen Wahl stattfanden, war sie ein gern gesehener Gast, zumal immer einige wichtige Abgeordnete und Minister anwesend waren, die schon vorher nach der Lilo gefragt hatten. Sie erschien unauf‐ fällig gekleidet und zurückhaltend wie die Sekretärin einer Schweizer Privatbank, was die Abrechnung mit dem Schatzmeister der Partei erleichterte, denn da tauchte sie als Kommunikationsberaterin auf. Er hatte in dieser Annoncen‐Expedition das Kauf‐ männische gelernt, kümmerte sich wenig um anderes, was man ihm übelnahm. Er neigte eher zu der bewun‐ dernswerten Haltung des Bartleby, liebte dieses Ich möchte vorzugsweise nicht, das ihn aus vielem heraushielt, obwohl es in der Realität seine Grenzen hatte. So saß er denn mit dem schweigenden Bartleby gedanklich verbunden an einem Schreibtisch, sie scho‐ ben Papiere von der linken in die rechte Hand, zwin‐ kerten sich zu, verglichen Zahlenkolonnen, was Bartle‐ by nicht leicht zugestand, und lachten höflich über die milden Scherze des Chefs. 274
Das mußte dem erfahrenen Blick der Liselotte von der Pfalz aufgefallen sein, irgendwie hatte sie ihn erspäht, und eines Abends saß sie neben ihm an seinem Schreibtisch, während im Stockwerk über ihnen Mini‐ ster, Abgeordnete und Abteilungsleiter einen jüdischen Kreistanz aufführten, der um diese Zeit wieder sehr beliebt war, ein Gesang und Gestampfe, als laufe da oben eine chassidische Hochzeit ab, zwischendurch ein weinerliches A Brivele der Marne, dann ein orgiasti‐ sches In meina Oigen bistie shain. Sie beobachtete ihn, wie er die Endabrechnung einer Anzeigenkampagne für demokratische Aufrüstung durch die NATO zusam‐ menstellte: Freundliche Piloten lächelten aus einem Cockpit, Soldaten winkten aus Panzern, lagen friedlich hinter Maschinengewehren — ganzseitig, vielfarbig, umsatzträchtig. Er kontrollierte die Anzeigenrechnun‐ gen, rechnete die Provision der Firma aus, es war die totale Ödnis. Sie umnebelte ihn mit ihrem Parfüm, zeigte ihre rotlackierten Fingernägel, die im Licht der Schreibtischlampe glitzernden Ringe, schaute ihn neu‐ gierig an, fragte ihn dann, nachdem er schon verzweifelt überlegt hatte, was sie von ihm wolle, ob er wisse, was Aktien seien. Als er nickte, fragte sie weiter, ob er den Handel an der Börse verstehe, dieses ›Geld‹ und ›Brief‹ und ›bezahlt‹, dieses ›Vorzüge‹ und ›Inhaber‹ und ›Ge‐ nußscheine‹ und was es da so alles gäbe. Er kannte sich soweit damit aus, es gehörte zu seiner Ausbildung, sie war darüber erfreut. Liselotte von der Pfalz überlegte, ließ sich Zeit, spielte mit ihren Ringen, dann sagte sie sehr entschieden, daß sie grundsätzlich keinem Men‐ schen traue, erst recht nicht einer Bank. Andererseits 275
habe sie in letzter Zeit sehr viele Aktien gekauft, ver‐ stehe aber überhaupt nichts davon. Er reagierte nicht, die Sache war ihm unheimlich. Sie versuchte es nun melodiöser und verführerischer. Sie könne sich durch‐ aus einen netten jungen Mann vorstellen, der die Börse beobachte, nur so, um sie einmal im Monat zu infor‐ mieren, wie es mit den Kursen stehe, um sie zu warnen, wenn es allzu rasch nach oben oder nach unten ginge. Sie kam ganz nah an ihn heran, sah ihm in die Augen und sagte: Du wirst mich doch nicht reinlegen? Wenn du Schmu machst, mach ich dich einen Kopf kürzer. So kontrollierte er anhand einer Wertpapierliste, die sie ihm gab, die Aktienkurse in den Zeitungen, sah, wie sie aus dem Nichts nach oben stiegen, unaufhaltsam immer höher, und erlebte indirekt in den Zahlen, wie die Reichen endlich wieder reich wurden, sich erhoben aus Staub und Asche, die verpönten und geächteten Firmennamen wieder zu Schlagzeilen in den Zeitungen wurden, die Mehrheitsaktionäre und Generaldirekto‐ ren, von denen viele im Gefängnis gesessen hatten, wieder zu Stützen der Gesellschaft, über die man in den Illustrierten berichtete. All das vollzog sich spektakulär und intensiv, während die angeblich sichere Lebensver‐ sicherung seines Großvaters sich in Luft auflöste und er als Atheist im Alter gezwungen war, der Gemeinde‐ schwester ein Vergelts Gott zu sagen. Je länger er die Zahlen verfolgte, desto weniger verstand er, was er gelernt hatte. Die Bewertung der materiellen Werte die‐ ser aufblühenden Welt war eine unglaublich schwan‐ kende Angelegenheit, mit kaufmännischen Begriffen nicht zu fassen, die Hoffnung auf eine Illusion, im Kern 276
auf ein neues Desaster angelegt, aber anscheinend nicht zu ändern, die Welt funktionierte so. Liselotte von der Pfalz heiratete einen Industriellen und tauchte in den Zeitungen hinter den Kursen unter Vermischtes auf. Sie ließ sich scheiden, heiratete einen Bankier und rückte in Kulturelles vor. Sie ließ sich er‐ neut scheiden, heiratete einen Politiker, ihr Name fand sich nun im Gesellschaftsteil, weit vor den Kursen. Da‐ nach wechselte sie die Zeitungen und lebte in der Bou‐ levardpresse ohne Kursteil als Geliebte eines Filmpro‐ duzenten, der Liebe ihres Lebens, wie zu lesen war. Endgültig in den Schlagzeilen stand sie, als sie die Liebe ihres Lebens durch einen japanischen Kugelfisch, der mit Absicht nicht sachgerecht zubereitet worden war, umbringen wollte. Die Sache ging schief, es gab einen Prozeß. Durch sie war er oft in die Börse gegangen, hatte das unverständliche Stimmengewirr der durcheinander rennenden Menschen verfolgt, einer Sekte auf Gummi‐ sohlen, rutschsicher und wendig, die von sich be‐ hauptete, wir geben nicht, wir nehmen nicht, wir leihen nur aus. Danach ging er in den Landtag, einem alten Gemäuer hinter einem kleinen See, auf dem Schwäne träumten. Im Landtag herrschte ein wenig glaubhaftes, eher gekünsteltes Geschrei, Monologe ungeübter Schau‐ spieler, die unter einem Glasdach verhallten und Abgeordnete in Schlafpuppen verwandelten. Er ging in den wilhelminischen Bau des Oberlandesgerichtes, der die kleinen Altstadthäuser drohend überragte, eine schwungvoll geteilte Prunktreppe nahm die Urteile fast schon vorweg, sortierte Schuldige und Unschuldige, 277
Verteidiger und Ankläger, ein Vorgang, der sich in den Räumen in geordneter Prozeßrhetorik fortsetzte. So pendelte er zwischen Börse, Landtag und Gericht, zwischen Wirtschaft, Politik und Recht, die, durch einen Kranz gemeinsamer Worte verbunden, alle Abläufe ins Gewichtige und Bedeutsame hoben, die Form der Gesellschaft waren, letztendlich aber inhaltslose Worte, nur die Allegorien einer Gesellschaft. Das Leben der Menschen war darin nicht mehr faßbar, alles löste sich in vorgegebene Begriffe auf, die Dinge waren nicht die Dinge, die sie ohne Worte waren. Zwischen dem Leben und den Worten darüber veränderte sich alles, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, und so verschwand auch der Sinn für das, was wirklich geschah. In den kreisenden Sätzen zwischen Börse, Landtag und Gericht, zwischen Kaufund Verkauf, Gesetz und Paragraph war selbst bei geduldigstem Zuhören nicht herauszufinden, wer all das verant‐ wortete, im Guten wie im Bösen. Alles drehte sich um sich selbst, war ein Perpetuum mobile aus traditionellen Worten. Es gab eine lange Hausse, es gab eine lange Baisse, er sandte der Liselotte von der Pfalz nun die monatlichen Durchschnitts‐ und Jahresendkurse an die Gefängnis‐ adresse, ohne je eine Antwort zu erhalten. Die Wahr‐ scheinlichkeit, daß sie schon lange keine Aktien mehr besaß, war überaus hoch, aber er wollte sie nicht her‐ einlegen, er hatte durch sie viel gelernt. Vielleicht waren diese Zahlen ihre letzte Illusion von Reichtum und gesellschaftlicher Bedeutung. Sie antwortete nie. Sie wurde wieder diskret. Vielleicht las sie ja auch wieder 278
die Biografien bedeutender Männer. Irgendwo in diesen endlosen Grabreihen lag Boris. Ein Mann mit vielen Namen und vielen Pässen, serbisch fluchend, in einem holländischen Englisch oder französischen Russisch Verkaufsverhandlungen führend, mit vielen Titeln um sich werfend, Professor, Professor, Doktor, Doktor; von welchen Universitäten wußte niemand, aber er bestand auf seinen Titeln, denn sie waren echt, wie er hartnäckig und in gereiztem Ton versicherte. Dabei neigte er die Stirn nach vorn, als wollte er sein Gegenüber wie ein Stier auf die Hörner nehmen. Alle wußten immer, wo er sich gerade vergnügte, die Presse brauchte nie lange zu suchen, wo etwas los war, stand sein Wagen, und sein Wagen war das auffallendste Gefährt der Stadt. Ein viel Platz beanspruchender amerikanischer Wagen, unbe‐ streitbar der größte Wagen von allen, in einem bonbonfarbenen Rosa, mit aufklappbarem Verdeck, riesigen verchromten Stoßstangen und dem Gütesiegel des Corps Diplomatique. Auch Boris beanspruchte sehr viel Platz, fleischig, umfangreich, gestikulierend, trat er als orthodoxer Ex‐ perte für alte Gemälde auf. Er handelte mit Gemälden, dachte in Gemälden, lebte mit Gemälden, lagerte sie an seltsamen Adressen in Paris, Amsterdam, Genf und Ljubljana, besaß angeblich Bilder als Depositum in Mu‐ seen und Galerien rund um die Welt, Bilder aus Natio‐ nalmuseen und Privatsammlungen, die er, Boris der Große, im Krieg vor der Vernichtung gerettet hatte, die er Dieben abgekauft habe, um sie wieder ehrlichen und guten Sammlern zuzuführen. Bei Verkäufen nahm er nur Dollar, Pfund oder Gold, und alle hofften immer, 279
die Bilder mochten nur halb so echt sein wie die Geldscheine. Denn zwischen echt und unecht konnte und wollte er nicht unterscheiden, dieser Begriff exi‐ stierte für ihn nicht. Zweifelte der Käufer, schrie Boris: Ist die Welt echt? Bestand der Käufer auf einem Echt‐ heitszertifikat, setzte Boris sich hin und schrieb auf ein Blatt Papier: Ich — es folgte der jeweilige Name, unter dem er in der jeweiligen Stadt residierte— erkläre das Bild — es folgte der Titel des Bildes mit dem Namen des Malers — für echt. So wie er komfortabel mit vielen Namen lebte, die für ihn immer echt waren, in vielen Ländern, die ihm ein schützender Mantel waren, so lebte er genußvoll mit Gemälden, in deren Leinwand er sich am liebsten eingerollt hätte. Bilder, die er besaß, waren echt, weil für ihn alle Bilder echt waren. Ein Bild war ein Bild. Ein Bild existierte unabhängig von den Begriffen der Welt. Es war für ihn eine Realität wie die Welt, die jeder täglich vor Augen hatte, und vor der auch keiner fragte, ob sie echt oder falsch war. Das Bild stand doch da, alle konnten es sehen, also war es ein echtes Bild. Und wenn er den »Mann mit dem Goldhelm« im Dutzend verkauft hätte, alle wären echt gewesen. Da hatte er bei den Galeristen und Museums‐ direktoren ein reines Gewissen. Die Welt ist wie sie ist, war seine gern erklärte Definition gegenüber all den Dingen, die ihn umgaben, darin waren seine Bilder ein‐ geschlossen. Wenn er über Land fuhr, brauchte Boris einen Helfer. Dann saß er auf der Rückbank des großen Amerikaners und schaukelte über löchrige Straßen durch Kleinstädte und Dörfer, wo der Kreisarzt oder der Apotheker als 280
stiller Privatsammler ein Bild bestellt hatte, das abzu‐ liefern war. Boris konnte dabei gleichzeitig seine Maler aufsuchen, die der gebotenen Zurückhaltung oder der schlechten Zeiten wegen sich Bauernhöfe zugelegt hatten. Für alte Farben benötigt man Eier, für alte Leinwände Kartoffelmehl, für alte Rahmen Speck‐ schwarten, für alte Pinsel gute Borsten, all das gab es auf dem Land eher als in der Stadt. Eine der Hauptschwierigkeiten beim Transport lag darin, daß die Farben der Ölgemälde sehr langsam trockneten, bei pastosem Auftrag Monate brauchten, um als altes Bild durchzugehen, daher zwischengelagert werden mußten. Die Maler auf den Bauernhöfen waren immer gerade beim ersten Pinselstrich, wenn sie beide bei ihnen auftauchten, Boris schrie dann, sie wären Faulpelze, sie schrien zurück, seine Bestellungen kämen zu kurzfristig, zum Schluß siegten die Bilder, vor denen alle bewundernd standen, um sich gegenseitig zu versichern, daß gerade dieses Bild ein Meisterwerk sei und an Schönheit alle anderen Bilder überstrahle — glückliche Stunden bei wahren Kunstkennern und Slibowitz. Er lernte viel über Komposition und Perspek‐ tive und Farbauftrag und die Schönheit der Welt in einem meisterhaft gestalteten Gemälde, denn darin waren sich alle einig, die Welt sei nur in einem gerahmten Bild zu ertragen. Auf der Rückfahrt war es seine Aufgabe, die noch feuchten Gemälde festzuhalten, damit sie nicht aufein‐ anderrutschten und verschmierten. Am Steuer saß dann ein anderer Boris, ein sentimentaler Boris, nicht mehr der weitläufige Boris der gescheiten, witzigen Formu‐ 281
lierungen, die die Käufer beim Kauf vom Bild ablenk‐ ten. Nach dem tränenreichen Abschied von seinen Freunden blieb Boris bei Slibowitz und Tränen und verfiel in ein gebrochenes Deutsch: Meine Frau. Selbst‐ mord. Einfach so, Gashahn. Abschiedsbrief, das Leben ohne Sinn. Absolut idiotisch. Leben hat keine Sinn. Hat noch nie besessen. Es ist wie es ist. Warum das nicht genügen? Warum mir keiner glauben? Es ist wie es ist. Das Leben nehmen deswegen, lächerlich. Mit welche Illusion ist sie im Leben gewesen? Nichts hat sie gesehen. Überall immer nur Sinn gesucht. Leben voller Einbildung. Und deswegen sich das Leben nehmen. Wegen Illusion. Immer sagen, das kann nicht alles gewesen sein. Immer sagen, suchen Paradies. Wozu braucht der Mensch Paradies? Er hat doch Erde! Warum hat er Angst vor Hölle? Hat er auch auf Erde! Erde ist Paradies und Hölle. Was will der Mensch? Das Leben, wenn gutgeht, funfundzwanzigtausend Tage, etwas mehr, etwas weniger. Kann man sich nicht beklagen. Zigtausendmal die Sonne. Zigtausendmal den Mond. Es genügt, sage ich. Mehr muß nicht sein. Wozu dann noch einmal ein Leben? Und auch noch ein ewiges. Und auch noch im Paradies. Mensch ist dumm und arrogant. Hat ein Leben. Will noch ein Leben. Aber besser. Wird Gott verzweifeln bei so viel Frechheit. Du anderer Meinung? Bei Boris empfahl es sich, nie anderer Meinung zu sein. Boris setzte die Slibowitzflasche an den Mund und heulte erneut los: In Welt Tatsachen, die nicht sein sollen, aber sind. Kann man nicht weglaufen. Muß man ertragen. Muß man aushalten. Mensch sagt, lieber Gott hilf mir, haut seinem Nachbarn Spaten in Schädel, 282
wischt Gehirn ab, sagt, lieber Gott, ich danke dir. Ich habe so erlebt. Das ist Mensch. Sieh alte Bilder von alte Maler. Wie heißen. Höllenfahrt. Apokalypse. Sintflut. Fegefeuer. Märtyrer. Mensch belügt Mensch. Mensch betrügt Mensch. Mensch tötet Mensch. Ist so. Darf man nicht sagen. Aber ist so. Immer behaupten: Mensch ist gut. Soll man glauben, Mensch ist gut. Mensch ist gut, kann sein. Ich habe nicht gemerkt. Er hielt die noch feuchten, nach Öl riechenden Ge‐ mälde auseinander, saß zwischen Genesis und Apoka‐ lypse, Paradies und Höllenfahrt. Alles war frisch und neu und so alt wie am ersten Tag. Er verstand, warum für Boris alles gleich echt oder alles gleich falsch war. Entweder oder. Warum echte Bilder in einer falschen Welt? Das war wie das Verlangen nach dem Paradies. Es war das Unerfüllbare. Unter einem würdigen Grabstein lag einer der reichsten Männer der Stadt. Er war auf der Prachtstraße mit einem alten Bankhaus vertreten, das seinen Namen als Ewigkeitswert in der Stadt verankerte, gewissermaßen das Stadtsiegel war. Etwas hinfällig und schon weiß‐ haarig auf einen Stock gestützt, kunstsammelnd und wohltätig, reich auch an Wissen über Schuldner und Gläubiger und die Kunst, weshalb er, summa summa‐ rum, letztere bevorzugte. Zwischen seinen von Muse‐ umsdirektoren bewunderten Bildern blätterte er mit schmalen Fingern in Auktionskatalogen, knickte gele‐ gentlich mit dem Siegelringfinger eine Seite vorsichtig aber entschieden ein, das Zeichen, daß er hier etwas in Besitz nehmen, etwas für sich ganz alleine haben wollte. 283
Stundenlang dachte der Bankier darüber nach, ob er die neuen Maler kaufen sollte — waren sie eine Geldanlage wie die reine Schönheit der Impressionisten, würden sie auch so lange brauchen, um sich durchzusetzen, würden sie vielleicht zu rasch durchgesetzt, ginge es nur mal wieder um das schnelle Geld, das er verachtete, das seine Kassierer mit gleichgültig verschlossenem Blick entgegennahmen und wieder herausgaben. Er suchte Dauerhaftes, aber war die jetzige Kunst dauerhaft, hielt sie sich, oder war sie nur ein modischer Reflex, schnell vergessen, wie alles andere auch? Schwer zu entscheiden in einer Zeit, in der keine Bilder mehr gemalt wurden, in der der Künstler persönlich auftrat, Schamane war, Heilsbringer, Verkünder. Wo entstand in den wechselnden Ansichten und Deutungen der hastig aufeinanderfolgenden Kunstproduktion das Gültige, auf das man behutsam, aber aufmerksam achten mußte? Das hing vom Künstler ab, ob er genauer auf seine Zeit blickte, ein Auge hatte für das, was andere nicht sahen, danach arbeitete, auch wenn die Preisverleiher und Ankaufskommissionen an seinem Atelier vorübergingen. Die ästhetischen Fragen der Kunst und die der Rendite seines Geldes waren ihm auf diese Weise eins, er verstand beides zu handhaben. Die Schecks, die er ihm brachte, waren auf unglaubliche Summen ausgestellt, Zahlen, die man sich gar nicht sinnvoll vorstellen konnte — Kunstgeschäfte, die nicht von den Kassierern im Schalterraum der Bank zwischen den altmodischen Holzbänken mit rotem Leder abgewickelt wurden, Schecks, um die sich der alte Herr immer noch selber kümmerte, weil ihm das Geld auch 284
die Kunst sicherte. Der Bankier freute sich, wenn er kam, vielleicht weil er ein guter Zuhörer war, vielleicht weil alle anderen von seinen altmodischen Ansichten nichts mehr hören wollten; was gestern Ärgernis war, war heute Lebensstil, was gestern häßlich war, war heute gleichgültige Schönheit, die Meinungen wech‐ selten diesbezüglich rasch. Mit dem Stock schob er seinen Körper von Bild zu Bild, erklärte, dozierte, sah die Dinge anders: Wir glauben immer noch an die alten Bilder mit ihren alten Wahrheiten, aber die Welt, die sie konstruieren, ist nur Schein. Die Zentralperspektive ist eine Erfindung von absoluter Künstlichkeit, um die Krümmung des Raumes zu leugnen und die schmale Zeit des Lebens. Nur um alles dem ewigen und unver‐ änderbaren Standpunkt des Einen und Einzigen unterzuordnen. Alles ist perfekt, die Städte wie nach Plan, die Landschaft vermessen, jedes Ding an seinem Ort und als Eigentum zu betrachten, und auch der Mensch nimmt den ihm angemessenen Platz ein. War er müde, setzte er sich in eine Art Beichtstuhl, vor dem schon so mancher lebensfrohe Gläubiger demütig kniend seine Schulden bereut hatte, und schaute aus dem Fenster auf die Prachtstraße tief unter ihm, umgeben von ruhigen Bildern in schweren Goldrah‐ men: Lachende tanzende Paare im nächtlichen Paris der Vorstädte. Tahitifrauen mit bunten Röcken auf gol‐ denem Strand. Ein aus dem blutigen Himmel ins Leben stürzendes Kind, von der Familie in einem grünen Haus zwischen Ochs und Esel erwartet. Stilleben mit Wein‐ glas, Apfel und Krug auf einem verrutschten Tischtuch, im wechselnden freien Licht, in der indirekten Perspek‐ 285
tive des Augenblicks, die die Perspektive des Menschen war. Der Bankier hinter dem Fenster sah wie auf eine Ameisenstraße: All das funktioniert nur aus Angst, aus Angst vor der Zeit, die einen auslöscht, also machen wir jeden Tag weiter. Alle Begründung besteht in dem Satz: Das Leben geht weiter. Das Grundgesetz jedes Gemein‐ wesens, das gut geschminkte Warten auf den Tod. Bis dahin Worte, nichts als Worte: Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab. Aber wie der kluge Smith sagt: Nicht vom Wohlwollen des Bäckers und des Fleischers erwarten wir unser Leben, sondern von seinem Eigennutz. Sehe jeder zu, daß er sich bei diesem Gewissensspagat nicht das Genick bricht. Wir leben alle nur in Ahnungen und Bedingungen, in Hergekomme‐ nem und Unbewußtem, immer noch regieren die alten Mythen und Märchen. 286
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Ein Schatten, aufrecht und bewegungslos, in ruhig abwartender Entschlossenheit. Alles um ihn herum ver‐ schwand. Das Licht versank in der Stille. Alles war end‐ gültig und teilte die Welt in Leben und Tod, in einem einzigen langen qualvollen Atem, einem Ausatmen verströmenden Lebens. Entlang der schmalen Linie zwischen Tag und Nacht verschmolz das Erinnerte mit dem Unbewußten zu einer wiederholten Wiederholung, einer erstarrten Bewegung. Er sank zurück und sah die Menschen in Erwartung seiner Geburt, sah sie als Tote, hinter deren Sarg er ging, sah ihre verblaßten Foto‐ grafien, Zeugnisse ihres Lebens und ihrer Erzählungen. Mädchen in einer langen Reihe vor einem Kirchen‐ portal, weiße Kleider, weiße Strümpfe, einen weißen Kranz auf den geflochtenen Haaren, eine Kerze in der Hand. Ein Mädchen in Schwarz, die Mutter war zu Weihnachten gestorben, ein kariertes Kleid, noch von der Mutter genäht, wurde schwarz umgefärbt, und so mußte sie als einziges Mädchen in Schwarz zur Oster‐ kommunion. Ein Lebenszeichen. Jungen in drei Reihen nach der Größe hintereinander, alle im graugestreiften Kittel einer Anstalt, fünf, sechs 287
Jahre alt, bleich, abgemagert, mit großen Augen und geschorenen Köpfen, Jungen eines Waisenhauses. Ein kühl über den Fotografen hinwegsehendes Augenpaar unter einem Bleistiftkreuz. Ein Lebenszeichen. Das auf einem Schemel hochgelegte Bein eines Mannes mit einer Wunde, ein dunkler Kern mit ringför‐ migen Verfärbungen, in der Wunde steckte einmal eine Kugel. Ein Lebenszeichen. Ohne die Erzählung vom schwarzgefärbten Kleid hätte er auf der Fotografie seine Mutter nicht erkannt, ohne den ernsten und abwesenden Blick unter dem Bleistiftkreuz nicht seinen Vater, ohne die Wunde am Bein seines Großvaters nichts von der erlebten Ge‐ schichte gewußt. Unerwartete Lebensschläge, beweinte Unglücke, die ihnen ihr Schicksal gaben, ihr Leben verwandelten. Bilder ohne Verbindung zur Welt, aber mit besonderen Merkmalen, alle früh vom Tod berührt. Vergessene Lebenszeichen, nirgendwo erwähnt, und doch das bleibende Muster jenseits der Zeit, in der er lebte. Die großen Fototafeln der Familien, die zwischen der Bettwäsche lagen, mattgraue Fotografien auf dun‐ kelgrünem Karton, mit dem goldfarbenen Prägedruck des Fotografen, besiegelt und beglaubigt wie eine kö‐ nigliche Urkunde, einmal im Jahr aufgestellt wie die Ikonen eines uralten Glaubens, und in der wieder‐ holenden Litanei zum Leben erweckt, immer am To‐ destag des Letztverstorbenen, weil seine Mutter die Zeit von den Toten aus rückwärts zählte. Für sie existierte nur das Vergangene in seiner ernsten Bedeutsamkeit, die Gegenwart war unbegreifliches Schicksal, rätselhaft 288
und voller Irrwege, die Zukunft sowieso unbekannt, erst der gnädige Tod brachte Erkenntnis, denn von da an war, Gott sei Dank, alles endgültige Vergangenheit. Und so erzählte sie in ihrem jährlichen Menschenge‐ denken all ihre Geschichten immer rückwärts vom Ende zum Anfang, weil sie immer mit dem Tod eines Menschen begann, dessen Geschichte nun festzuhalten war, hielt bei seiner Geburt aber nicht an, erzählte auch das Leben seiner Eltern und Großeltern und das Sagenhafte seiner Urgroßeltern, bis sie im Ungefähren landete, wie ein Boot, das in unbekannten Gewässern verschwindet, nur noch ein ferner Punkt am Horizont, dann gar nichts mehr. Und vor den Bildern immer das eingeübte Ritual, Jahr um Jahr, das ist Mutter, das ist Vater, das ist Mutters Mutter, das ist Mutters Vater, das ist Vaters Mutter, das ist Vaters Vater, das ist von Mutters Mutter die Mutter, das ist von Vaters Vater der Vater, und so die ganze Familie wie das Geäst eines Baumes bis hin in die dünneren Zweige, das ist Mutters Bruder, das ist Vaters Schwester, das ist, das ist, das ist, und in der ersten Wiederholung dieses Menschenge‐ denkens: Mutter starb im Wochenbett, Vater fiel in Verdun, Tante Therese und Onkel Paul wurden abgeholt und umgebracht, und keiner weiß von ihrem Grab, und in der zweiten Wiederholung die genaueren Einzelheiten, die Siege und Niederlagen, das Aufrühre‐ rische und das Verzagte, das Erinnerte und das Verges‐ sene, Ort und Zeit ungenau, die Geschichte aber aufs Komma genau, und Jahr für Jahr ohne Änderung. Wurde es dunkel, zündete sie eine Kerze an und er‐ zählte im schattenhaften Licht von den Toten bis an die 289
Grenze der Ahnung, wo alles sich auflöste, wo sie mit Namen, Taufnamen, Todestag endgültig ins Ungewisse geriet, zu stoppen war das nie, es half kein: Das wissen wir; dieses Menschengedenken mußte zu Ende erzählt werden, um die Toten Jahr um Jahr ins Leben zurück‐ zuholen. Die vergangene Zeit war unbegrenzt und ge‐ hörte für sie zum Augenblick des jeweiligen Tages, und in dieser ewigen Zeit lebte sie mühelos ohne jede Unterteilung. So wie seine Mutter über die Zeit herrschte, versuchte sein Großvater die Länder und Orte zu bestimmen, in denen die Familie im Laufe der Jahrhunderte eine gelegentliche Heimat gefunden hatte, für einige Jahr‐ zehnte zu Hause war. Die Geographie sollte einen Gegenpol zu den unbestimmten Zeitwelten seiner Mutter bilden, Zeit und Raum durch Eintragungen auf Stadt‐ und Landkarten zumindest in eine gedachte Ordnung bringen, Anfang und Ende durch exakte Da‐ ten zur Erkenntnis des gegenwärtigen Lebens beitragen. Das war auch Tradition, denn alle wußten von dem Vorfahr, der durchs Fernrohr die Sterne fixierte, der vor Globen und Atlanten gesessen hatte, um seinen Platz im Weltall zu berechnen, um das Woher und Wohin in belegbares, aufgeschriebenes Wissen zu verwandeln, in eine genaue Chronik, die unlesbar und unverstanden in der Vergeblichkeit der Zeit versank und mit ihr verlorengegangen war. Sein Großvater begann daher in einem kühnen Ansatz, in einer letzten Anstrengung, einen Patent‐Globus zu konstruieren, auf dem alle Völkerwanderungen durch verschiebbare Tafeln abge‐ bildet werden sollten, die Kontinente nur noch Grun‐ 290
dierung für das Hin und Her der Menschen waren, ein Plan, der in Verzweiflung endete, denn, so kommen‐ tierte er sein Aufgeben, genauso gut könne man die wandernden Sandkörner der Wüste Takla Ma‐kan zählen. Takla Makan, das wußte der Enkel, bedeutete: Gehst du hinein, kommst du nicht mehr heraus. Das Wissen verschwand wie die auf ewig angelegten Straßen, Plätze und Häuser einer Stadt im Wind der Wüste, wurde zur vergessenen, unbestimmten Sage, während das Erzählen wenigstens zeitweise dem Leben des Menschen einen Sinn gab, aber auch an den Tod band, sich mit den Worten des Erzählers verlor. Gehst du hinein, kommst du nicht mehr heraus. Da wie dort. Der Kompaß lag neben dem Skelett. Die Sache war im tiefsten Grunde aussichtslos, egal welche Seite der menschlichen Geschichte man bevorzugte. Sein Großvater vermachte ihm trotzig in einem letzten Widerspruch, in einer Zeit, die alle die Stunde Null nannten, und die daher nicht gezählt wurde, einen winzigen Globus, der versteckt in der Hand lag und einen Bleistiftanspitzer enthielt, mit Fleiß zu benutzen, um alles in einem unaufhörlichen phantasievollen Schreiben zu verbinden und zu berichten. Diese bunt‐ gescheckte Kugel, die man in die Hosentasche stecken konnte, mit der man durch die Welt spazieren konnte, wurde der Grundstein eines nie endenden Erzählens, durch das er überlebte. Er übernahm die Zeitlosigkeit im Denken seiner Mutter und ihre Art, die Menschen und die Welt vom Tod aus zu sehen, und er übernahm die lebendige Ortlosigkeit seines Großvaters, denn da war keine Heimat, die sich durch einen Stammbaum 291
erschloß, da war keine Ansässigkeit, die Wurzeln waren Luftwurzeln, nur im Erzählen war alles eins. In den Geschichten seiner Mutter erkannte er die ununterbro‐ chene spiralförmige Bewegung östlicher Hochzeitstän‐ ze, Beerdigungszüge, Pilgerfahrten, Hungerreisen, das grenzüberschreitende Suchen einer Bergarbeiterfamilie nach Arbeit, sich immer weiter vom Ursprung ent‐ fernend, die Geburt hier, das Grab da, nur im Erzählen noch Heimat findend. In der Chronik erkannte er das versteinerte Labyrinth der ohne den Ariadne‐Faden des Erzählens festgehaltenen Jahreszahlen und beglaubigten Notate, mathematisch genaue Muster auf geraden Linien, technischer Fortschritt in Detailzeichnungen, geordnete Bilanzen in quadratischen Aufteilungen, mit Seitenzahlen und Verweisen wegen der Übersicht, die doch verlorenging, auf verzweifelten Glaubensfluchten, auf Reisen in Hoffnung und Zuversicht, bis das Buch selbst verlorenging, das berichtete, wie eine Seidenwe‐ berfamilie aus dem Süden und Westen Europas nach Norden zog: So daß er in der Zeitlosigkeit nach dem Krieg, die sich für ihn jetzt im Sanatorium wiederholte, bewegungslos an einem offenen Fenster sitzend, in erinnerten und sich selbst erzählten Geschichten, das Leben der Toten sah, den stummen Zug der Menschen, der keine Richtung kannte, einfach nur unterwegs war, den Erdball umkreisend, in einer jahrtausendealten Bewegung müder Füße, irritierter Gedanken, verlorener Hoffnung, enttäuschten Glaubens, aufgegebener Ver‐ nunft, denn das Vergessen war schneller als das Erin‐ nern, so daß der Weg, den man ging, nur der Weg der anderen war, derer, die vor einem diesen Weg ge‐ 292
gangen waren, und es ganz egal war, wem man folgte und wer einem folgte, weil es keinerlei Bedeutung mehr hatte, wo man seinen Fuß hinsetzte, wo man sein Grab suchte, weil da niemand war, der einen kannte, und auch die Nachfolgenden wußten nichts von dem, der da unter der Erde lag, Treibsand vor dem Wind der weiten hellen Tage, Meeresrauschen in der dunklen Tiefe der Nacht. Er stürzte. Die Stadt drehte sich vor seinen Augen. Häuser und Straßen fuhren Karussell. Die Dächer schleuderten. Die Kamine flogen durch die Luft. Die Straße hob sich. Die Schienen bogen sich durch. Die Straßenbahn schrie in einer Kurve. Die Autos rasten steil über ihn hinweg in den Himmel, der nur ein Schaufenster war. Er richtete seinen Oberkörper auf, setzte sich auf die Straße, drückte den Kopf an das kühle Schaufenster, stützte sich mit den Händen ab, wartete, bis er wieder Luft bekam, atmen konnte und die Dinge ihren gewohnten Platz einnahmen, ein ver‐ rutschtes Kaleidoskop, das sich nach und nach der Schwerkraft beugte, sich zu waagerechten und senk‐ rechten Linien ordnete, wie sie die Menschen konstru‐ iert hatten. Das war ihm jetzt ganz recht, obwohl die Erfahrung, daß die Welt auf dem Kopf stehen konnte, für ein Leben nicht unwichtig war. Die Menschen gaff‐ ten ihn an, schoben sich neugierig vorbei, sahen über die Schulter zurück, starrten von weitem immer noch, er kannte das, da hatten sie mal wieder was erlebt. Er stand auf, lehnte sich an die Hauswand, wartete, bis er langsam gehen konnte, blieb interessiert vor Schaufen‐ 293
stern stehen, die ihn nicht interessierten, unauffällige Pausen, bis sich alle verlaufen hatten, Unauffälligkeit war wichtig. In den Schaufenstern sah er die gegenüberliegende Hausfassade, eine glatte Wand aus schwarzen Platten, dahinter standen, das wußte er, die Mauern eines Ju‐ gendstilhauses, das Haus war ausgebrannt, die Mauern stehengeblieben, man hatte ein neues Kaufhaus hinein‐ gebaut und schwarze Platten vor die Jugendstilarbeiten gehängt. Keiner wußte mehr etwas von der einst viel‐ bestaunten Fassade, die man in einem alten Stadtführer als Kunstwerk rühmte. Die Menschen sahen zwischen den Schaufenstern nicht mehr nach oben, was war da schon zu sehen, obwohl schon mal eine Platte her‐ unterfiel und eine Steinblume freigab, aber dieser Blick hätte ihren Lieblingssatz relativiert, einen Satz, der in‐ zwischen zum Motto des Lebens geworden war: Es ist nun mal so. So gingen sie mit gebeugten Köpfen durch ihre Schaufenstergalerien, die für sie inzwischen das Fenster zur Welt waren, durch automatisch sich öff‐ nende Glastüren in eine strahlend helle Warenwelt und wunderten sich, daß sie unzufrieden lebten — es war nun mal so. Gewisse Eindrücke sind so flüchtig, daß wir erst, wenn die aus weiter Entfernung und zeitlicher Vergangenheit entstehenden Bilder unser Gedächtnis erhellen, erstaunt bemerken, daß sie zu unserem Leben gehören. Stunden träumender Abwesenheit, in denen er alles vom Rand her sah, mit dem genauen Blick des nicht Dazuge‐ örenden. Er sonderte sich ab, lebte in der ihm zuge‐ 294
iesenen Distanz, aus der er das so selbstverständliche Spieluhrendasein der Menschen, die Absurdität des täglich aufgezogenen und doch nur auf den Stillstand hin ablaufenden mechanischen Lebens, aus einer ihm nun schon vertrauten Einsamkeit betrachtete, als schweigender Fremder. Viele Tage saß er Stunde um Stunde in einem mit Blumenrabatten bepflanzten Ron‐ dell, zwischen vier kleinen, um einen verwitterten Scha‐ lenbrunnen über Eck stehenden Magnolienbäumen, schräg dem Wasser zugeneigt, das in der Sonne blitzend von Stufe zu Stufe fiel, eine so gleichförmige Bewegung, daß sie oft zu funkelndem Glas erstarrte, bis ein Windstoß eine aufstäubende Unruhe herbeiführte. Die Magnolienbäume blühten nur an wenigen Tagen im Jahr, dann saß er auf einer der Bänke, um die allzu rasch vergehenden und wie in einer Traumbewegung schwebend herabfallenden Blütenblätter im Gedächtnis zu halten, denn im Sommer waren das nur zwischen Licht und Wurzeln schwankende, grünverhangene, sehr knorrige, fast schwarze Bäume vor dem leichten, hellen Wasser des Brunnens, das nun die Aufmerksamkeit auf sich zog als das ununterbrochen Bewegte und doch Bleibende. Die winzige Gartenanlage lag als Ausläufer eines dunklen Parks im Schatten des großen Kauf‐ hauses, das die Bewohner der Stadt immer noch Tietz nannten, aber die Zeiten hatten sich geändert und mit ihnen die Namen. Es war der belebteste Platz der Stadt, traditioneller Treffpunkt der Paare unter einer frei‐ stehenden Uhr, ein weltläufiger Boulevard kreuzte hier die größte Einkaufsstraße und die schmaler werdenden Gassen zur Altstadt. Wenn er hier saß, konnte er, ohne 295
sich zu bewegen, an einem normalen Tag mindestens zehntausend Menschen sehen. Es begann mit dem Offnen der Läden in der Einkaufsstraße, setzte sich fort mit dem Nachmittagsbummel auf dem Boulevard, und abends ging man in die Altstadt, um sich zu amüsieren. In Kolonnen schoben sie sich aneinander vorbei, ohne sich anzusehen, sich gegenseitig wegdrückend, das Kaufhaus pumpte wie ein Herz, zog Menschen an, stieß Menschen aus, eine gleichmäßig arbeitende Maschine. Wenige Meter entfernt der Brunnen und die Magnolien‐ bäume, das fließende Wasser und die grünen Blätter, unbemerkte Stille. Die Massen zogen vorbei, löschten jede Individualität aus, machten aus Menschen Figuren, die eine Einkaufstasche trugen, hastend, drängend, schreiend. Er wartete auf den unwahrscheinlichen Augenblick, die Irritation durch einen Ton, eine Farbe, ein Wort, in der all diese Menschen, für Sekunden aufgeschreckt, staunend stillstanden, einen einzigen Augenblick die herabstürzenden Wasserkaskaden des Brunnens sahen, die rosafarbenen Blüten und in den Himmel strebenden Äste der Magnolienbäume, die blassen Wolken über dem stummen Grün des Parks, die aufblitzenden Sonnenreflexe im endlos zur Erde flie‐ ßenden Wasser. Die Unwahrscheinlichkeit blieb un‐ wahrscheinlich, wurde nicht zum unvergessenen Augenblick, man suchte das sortierte Lebensglück, glaubte an das Wunder, hoffte auf den Erfolg und hatte es eilig in Erwartung des Goldregens an dem für alle gleichen Ziel, das immer nur Start hieß. So wie das Wasser im Brunnen durch Rohre hochgepumpt wurde, um auf der Spitze in einem weißen Lichtkegel zu 296
explodieren, in einem Moment der Schwerelosigkeit auf einem schmalen Grat tanzend, von Schale zu Schale sich drehend und wirbelnd herabfließend, bis es in einem letzten Strudel im Abflußbecken verschwand, um kurz darauf für Sekunden erneut auf der Spitze des Brunnens zu erscheinen; eine schöne Sinnlosigkeit, die nichts bedeutete, von Menschen erdacht, um die wiederholte Wiederholung in der erstarrten Bewegung darzustellen. Genauso trieben die Menschen aus allen Straßen heran, verteilten sich in einem Kreis um das Rondell, verschwanden, rückten nach, einer hinter dem anderen, einer neben dem anderen, ununterbrochen, Hundert‐ tausende in einem Sommer, sich um sich selbst drehend, jagende Blicke, erstaunte Gesten, schwere Arme, schleppende Beine, herabhängende Köpfe, ver‐ gessenes Leben, vom Rand her gesehen, von der ruhigen Bank vor dem Brunnen, auf der vielleicht auch einmal Herr Tietz gesessen hatte, unter den Magno‐ lienbäumen und ihren erblühenden und fallenden Blüten und Blättern, die vergessen ins sanfte Gras schwebten, in die Erde einsanken, auf der im nächsten Jahr wieder alles von neuem begann. Bis auf den Sommer, an dem auch er nicht mehr auf der Bank säße, für immer verschwunden, unbemerkt von den vorbei‐ ziehenden Menschenmassen, die sich nicht an ihn erinnerten, denn auch er war nur Teil dieses in sich verschwindenden Kreises, und keiner würde ihn mit der Frage, wo er denn wohl geblieben wäre, ins Gedächtnis zurückrufen; ein Passant weniger in den Straßen, das war nun wirklich keine Sensation, das Wasser würde wieder über den Brunnen tanzen, die 297
Magnolien erneut blühen, ein anderer auf der Bank sitzen. Hinter dem Kaufhaus stand ein zerfallenes Patrizier‐ haus, das im obersten Stock aus großen Glasscheiben in die Wolken sah. Hier hatte Charly Wierschau sein Atelier. Man konnte sich in den Hof stellen und Charly rufen, oben schaute dann ein mächtiger Vollbart aus dem Fenster. Charly Wierschau war Maler und arbeitete seit Jahren an einem einzigen großen Bild, das nur be‐ grenzt wurde durch die Maße des Ateliers. Eine riesige Abstraktion, die er ständig im Auge hatte, da die Farben sich im Auge des Betrachters bewegen sollten, was von der Auswahl der Farben und ihrer Verteilung abhing. Diese Arbeit war schwierig und verlangte grübelndes Denken, das war unerforschtes Land, und Charly Wierschau betrachtete sich als Forschungsreisenden, der das Unbekannte entdecken wollte. Das Bild hinter dem Bild. Tag um Tag verbrachte Charly vor dem Gemälde, auf dem die Farben sich nicht bewegen wollten, ganz gleich, wie er sie verteilte, wie er sie verband, wie er die Valeurs abstufte, nichts bewegte sich, weder auf der Leinwand noch im Auge des Betrachters. Das Bild wi‐ dersetzte sich der Vollendung, blieb ein Fragment aus Fragmenten, der Maler saß mit Ingrimm davor, bewegte sich auch nicht mehr, hypnotisierte das Bild, das sich nicht in eine Harmonie parallel zur Welt verwandeln wollte. Die Schwierigkeiten der Kunst sind unermeß‐ lich, war sein Kommentar. Alles besteht nur noch aus Bruchstücken, die Welt ist zerstört, Harmonie ist das 298
absolut Unerträgliche, Harmonie ist immer eine Lüge, wem diese Welt zur Harmonie wird, der ist ein Idiot. Zu längeren Ausführungen war er nicht bereit, man hatte das zu verstehen, und er war mit ihm befreundet, weil er das verstand. Geld benötigte Charly Wierschau in seiner Lebensharmonie parallel zur Welt nicht, das Atelier kostete eine symbolische Mark. Auch um seine Ernährung brauchte er sich keine Sorgen zu machen, denn als das Kaufhaus mit Preßlufthämmern, Baggern und Kränen dröhnend umgebaut wurde, so daß alle jeden Morgen dachten, ein Erdbeben breche über die Stadt herein, stellte er sich vor die Baustelle und über‐ schrie mit seiner imposanten Lungenkraft die Maschinen, spektakelte, daß er nicht mehr arbeiten könne, führte so lange ein Riesentheater vor dem Kaufhaus auf, bis der Geschäftsführer ihm auf Lebens‐ zeit täglich ein gegrilltes Hähnchen zusagte. Um die Vitamine kümmerten sich befreundete Medizinstuden‐ ten, die ihm regelmäßig im Krankenhaus eine Vitamin‐ spritze setzten, die für mehr als einen Monat reichte. Charly Wierschau hätte bis an sein Lebensende, bis sein Bart schneeweiß geworden wäre, nachdenklich vor seinem Bild sitzen können, hätte nicht die Realität derer, die täglich Geld benötigten, um es zu vermehren und zu verbrauchen, die Harmonie parallel zur Welt zerstört. Leider mußte das Kaufhaus, Sachzwang einer hek‐ tischen und konfusen Wirklichkeit, das Patrizierhaus abreißen, weil es ein Parkhaus brauchte. Das unvollen‐ dete Bild, das Gegenteil einer Miniatur, wurde von einem Kran aus dem Atelier gehoben, vorsichtig auf einem Tieflader abgesetzt, der das Unbewegte fort‐ 299
bewegte und in einem Lager abstellte. Charly Wierschau malte nun schreiende Disharmonien, Prospekte für Kinoportale, auf denen er die Lügen der Liebes‐, Heimat‐ und Kriegsfilme in wilden Farben als Bild der Welt darstellte. Nachts lag er im Lagerhaus vor seinem unfertigen Bild auf der Erde, wartete darauf, daß es in Bewegung geriet, in die einmalige, wundervoll schwebende Abstraktion der Farben und Formen, und war immer mehr der Meinung, er sei kurz vor dem Erfolg gescheitert. Darin lag ein Körnchen Wahrheit, das Körnchen reifte zu der Erkenntnis, daß er sein Leben verpfuscht und sein Werk verraten habe. An einem Tag besonders bösen Ingrimms ging er in den winterlichen Wald, legte sich zwischen die kahlen Bäume, trank einen Liter Doppelkorn, sah dabei in den Himmel und schlief im angenehm kühlen Schnee sanft ein, friedlich in der Harmonie des Todes. Seine Malerfreunde wollten das Bild mit zur Beerdi‐ gung bringen, zersägten es in handliche Teile, um es transportieren zu können, setzten es am Grab aber ir‐ gendwie falsch zusammen, und alle starrten auf das Bild wie auf eine Offenbarung. Denn siehe da, die Far‐ ben kreisten umeinander, die vorgegebene Ordnung löste sich in Dynamik auf, alles schien anders als es war, und nichts war so wie es schien. Von da an setzte man das Bild immer neu und anders zusammen, da in dem Puzzle die ursprüngliche Ordnung nicht mehr zu fin‐ den war, erst aus dem Chaos der Teile ergab sich für jeden Betrachter eine eigene Harmonie parallel zur Welt. Sir Winston, wie er sich nannte, hockte jede Nacht mit voller Leibesfülle in seinem Voltaire vor einem gesprun‐ 300
genen, aus den Trümmern des Theaters geretteten Gar‐ derobenspiegel, auf dessen Rand Glühbirnen leuch‐ teten, und beschimpfte mit dem Gesicht dicht vor dem Spiegel das Ebenbild Gottes: Du Affe. Du Blödian. Du Idiot. Du Irrer. Du bist verrückt. Du bist wahnsinnig. Du bist ein Dieb und ein Lügner. Du bist ein Räuber und ein Vergewaltiger. Du bist ein Tier. Du bist ein Massenmörder. Du gehörst in eine geschlossene An‐ stalt. — Danach lehnte er sich genußvoll und gravi‐ tätisch zurück, doch siehe, sein Ebenbild mißfiel ihm noch immer. Er beugte sich erneut vor und schrie seinem Bildnis ganz nah die wüstesten Beschimpfungen ins Gesicht, daß sein Speichel vom Spiegel tropfte, lehnte sich in schweigender Erhabenheit zurück, hing wie ein erschöpfter, zürnender Gott in seinem Sessel und erwartete die Wirkung seiner Worte. Da die Beleidigungen keine erkennbare Veränderung des Menschen zeigten, sank er wieder auf den Spiegel zu und flüsterte mit heiserer Stimme so infame Verwün‐ schungen, daß ihn auch der Ungebildetste für einen Kenner der Weltliteratur halten mußte. Der Spiegel war vom Speichel verschmiert, der Schweiß tropfte vom zornroten Gesicht auf die geschwollenen Halsadern, die Verfluchung des Menschen war eine ungeheure An‐ strengung. Er lehnte sich wie in Zeitlupe zurück, be‐ trachtete sein Werk, das ihm keine Zufriedenheit gewährte, der Mensch war nicht gut. Wütend riß er sich die Kleider vom Leib, nackt und bloß beschimpfte er sich kreischend im Spiegel, verwünschte sich mit nassen Haaren und pulsierender Stirnader in sämtliche Höllen, verfluchte die Erde und alles, was darauf kreuchte und 301
fleugte, verdammte das Menschenantlitz mit gur‐ gelnden, stöhnenden Worten, verurteilte sich und wieder sich, bis ihm sein Vokabular ausging und der Tag anbrach. Seine Geißelungen und Beschimpfungsorgien spra‐ chen sich herum, und so erlaubte er gelegentlich, je nach Kassenlage, auserwählten Damen und Herren seinen Selbstbespiegelungsraum gegen ein angemessenes, von ihm als fürstlich interpretiertes Honorar zu betreten. Sie saßen im Hintergrund des Zimmers auf einer Stuhlreihe und verfolgten die erst im Morgengrauen endenden Seancen, sahen zu, wie dieser Zweizentnerkoloß mit wirren Haaren und wulstigem Gesicht aus dem Schat‐ ten des Zimmers in das Licht des Spiegels empor‐ wuchs, sich mächtig und zornig immer mehr dem Spiegel näherte, aus dem ihm sein Gesicht entgegen‐ kam, grell aufleuchtend im Schein der Glühlampen, zerschnitten durch große, scharfe Sprünge, die sich aus‐ breiteten, wenn er mit der Faust in sein Spiegelgesicht schlug; sahen zu, wie er nach seinen Beschimp‐ fungsarien wieder in die Schwärze der Nacht versank, sich tief zurücklehnte, seine Verdammungssprüche ge‐ nießend, den Spiegel anstarrend, ein weißes strahlendes Fenster, das nichts zeigte, nur Licht war. So pendelte er vor und zurück und steigerte seine Beschimpfung ins Maßlose, ins Ungeheuerliche, ins Brutale, bis er zum Schluß schreiend sein Gesicht in den Spiegel schlug. Blutend lehnte er sich zurück, das Licht des Spiegels schien unberührt in die Dunkelheit, war unbesiegbare Materie. Nachmittags saß Sir Winston entspannt in einer gegenüberliegenden Konditorei, einen Arm auf 302
dem Marmortischchen aufgestützt, bewegte er sparsam den anderen Arm, um sich ununterbrochen Sahne‐ törtchen, Erdbeertörtchen, Vanilleschnitten und Apfel‐ taschen in den Mund zu schieben, den läßlichen Sünden des Tages hingegeben, sich von der Wollust der Nacht erholend. Abends stieg er die vier Stockwerke zu seinem Zimmer hinauf, zog den Vorhang vors Fenster, schaltete die Beleuchtung des Spiegels ein, setzte sich davor, besah sich, dachte an nichts, meditierte, bis er plötzlich wieder losschrie: Du Idiot. Du Wahnsinniger. Du Verrückter. Du Irrer ... Man fand ihn an einem Morgen mit dem Gesicht im Spiegel liegend, beide Gesichter waren nun endgültig eins und hatten ihren Todesfrieden. Als man ihn in den Sessel zurückzog, fielen die letzten Splitter aus dem Rahmen, der Spiegel war eine schwarze Fläche, auf der nichts mehr zu sehen war. Es ist wie es ist, sagte Anna, die auf diesem paradoxen Satz ihr Leben aufbaute. Natürlich wußte sie auch, daß es nicht so ist wie es ist, aber das anzuerkennen hätte bedeutet, den Tod anzuerkennen. Anna aber wollte le‐ ben, also nahm sie die Absurdität dieses für sie fremden Lebens als Realität, machte es zu ihrem Leben, indem sie in ihrer wilden Anarchie nur einen Satz anerkannte: Es ist wie es ist. Anna war das ewige Licht des Lebens. Aus der Ferne in dieses Land gekommen, zugewandert als billige Arbeitskraft, wie viele um diese Zeit, als die Völkerwanderung der Jahrhunderte zuvor wieder ihren natürlichen Lauf nahm, eine junge Frau aus einer bäuerlichen Gegend des Balkans, selbstbewußt und 303
stark und unbekümmert, die mit ihrer Energie und Entschlossenheit und Unbedenklichkeit die Einhei‐ mischen ängstigte, die diese Energie nicht mehr hatten, in Erinnerungen verstrickt, von Ängsten gejagt, nachts ohne Schlaf, in einem gespaltenen Leben um Vergessen ringend, um Worte der Entschuldigung, des Verzei‐ hens bettelnd. Anna begründete in ihrer bäuerlichen Unschuld ein neues Leben, Anna, ohne Sprache, ohne Wohnung, ohne Besitz, ohne Eltern, ohne Freunde, nur ein Bett im Sechsbettzimmer einer Fabrik, eine Ar‐ beitskraft, allein auf sich gestellt. Anna lernte die fremde Sprache, indem sie die Worte in Bruchstücken in ihre Sprache einbaute, so wie ein Baumeister früher die Quader eines verfallenen Schlosses für den Bau eines neuen Hauses benutzte, brachte ihr unbelastetes Denken in noch ungelenke Sätze von althergebrachter Bedeutung, und ihr erster perfekter Satz in der neuen Sprache lautete: Es ist wie es ist. Was auch kam, es war keine Überraschung, es war das Leben, das sie annahm, das in seinen täglichen Kata‐ strophen keinerlei Verheißung kannte, kein Glücksver‐ sprechen, nur das Leben war, Schweiß, Blut und Trä‐ nen, wie der dicke Engländer mit der großen Zigarre gesagt hatte, im Krieg, aus dem auch sie kam, aus der Zerstörung, aus der Entwurzelung; und neuen Halt fand, weil sie es annahm wie die Winter und Sommer auf dieser Erde, wie Frost und Hitze und Regen und Sonnenschein, im steten Wechsel seiner Tragödien und Komödien, über die man weinte und lachte. Nur bei den Wohlhabenden, Ausgeruhten, Gelangweilten war das Leben wie das Wetter ein Thema, das besprochen 304
werden mußte in langen ermüdenden Sätzen, weil sie das Leben nicht mehr lebten, während Anna selbst in den schlimmsten Zeiten fast triumphierend ihren Satz aussprach: Es ist wie es ist. Sie fand aus der sprachlosen Existenz von ›ja gut‹ und ›nein gut‹ und ›keine Problem‹ in die Sprache, blieb in diesem Land, gab nicht auf, arbeitete, schuftete ohne viel zu schlafen auf mehreren Arbeitsstellen gleichzeitig, war Bürobotin, Parkhauswächterin, Fabrikarbeiterin, Würstchenver‐ käuferin, hatte rund um die Uhr ein Dutzend Putz‐ stellen, Privat und in Büros, Privat tags, Büro nachts, mähte Rasen, schnitt Hecken, säuberte Swimmingpools, liebte Männer, wurde betrogen, verlor ihr Erspartes in großzügiger Gastlichkeit, rappelte sich wieder auf, gebar Kinder, zog sie auf, überstand alles, lebte ein abenteuerliches Leben, und wenn sie scheiterte, sagte sie: Es ist wie es ist. Alles war symmetrisch und versuchte vollkommen zu sein, aber die Vollkommenheit existierte nicht, und so war das Symmetrische nur die Wiederholung seiner selbst, weil es etwas ordnete, das es nicht gab. Er ging durch die Straßen in Gedanken an Hunderte, die er gekannt hatte, die ihn gekannt hatten, die wiederum andere kannten, die sich ihrerseits an andere erinnerten, von anderen wußten, ein Netz unendlichen Lebens, die Welt umspannend, menschliche Ordnung des Erin‐ nerns in tausend und abertausend Geschichten von Menschen, die die Welt erschaffen hatten und ihr einen Sinn gaben, weil sie gelebt hatten, eine unglaublich reiche Menschheitsgeschichte, Bestandteil des eigenen 305
Seins, das nur ein Teil der Unendlichkeit und doch die Welt war, und immer nur ein neuer Anfang. Er stieß den Stein, ein flacher, ausgewaschener Kiesel, den das Meer vor Jahrhunderten hier hatte liegen lassen, ein Stück weiter auf seinem Weg und stieß ihn bei jedem Umgang wieder weiter. Ein Ritual, das in seiner wiederholten Wiederholung einer erstarrten Be‐ wegung glich, sich verselbständigte. Er sah sich, wie er bei jedem Umgang den Stein weiterstieß, in einem Monat würde der Stein den Kreis durchrollt haben, und der Weg, sein Weg, würde von vorne beginnen, immer mit dem Stein, der nichts bedeutete, der nur sein Stein war, der von anderen unberührt auf ihn wartete, und er sah sich, wie er noch in Jahren, immer von derselben Stelle ausgehend, seinen Kreis durchschritt, den Stein weiterstoßend, und er stieß den Stein, ein flacher, ausgewaschener Kiesel, den das Meer vor Jahr‐ hunderten hier hatte liegen lassen, ein Stück weiter auf seinem Weg und stieß ihn bei jedem Umgang wieder einen Schritt weiter. Rückzug ins Schweigen. Das ehemalige Arztzimmer, nun Gerümpelkammer für überzählige Stühle, Tische und auseinandergenommene Betten, der versteckteste und vergessenste Ort in diesem Palast. Im verstaubten Abseits eines Bücherregals, hinter Büchern über die siegreiche Wehrmacht, der Geschichte der Germanen und den Heimatromanen voll harmonischer Menschen in idyllischen Dörfern, irgendwann hier versteckt, vielleicht von einem Arzt, vielleicht von einem Offizier, weitere Bände, Kostbarkeiten, ertastbar in ihrer Form 306
und ihren Einbänden, Raritäten, gefunden, wie ein Blinder seine Schätze findet, gelesen am Tag hinter den Fenstergardinen des alten Arztzimmers, mit dem Ausblick auf die verwitterten Kreuze des kleinen Friedhofs, gelesen bei den Rundgängen, um das Spre‐ chen abzuwehren, gelesen in der Nacht beim Mondlicht und dem Schein der schwachen Taschenlampe, im leisen Atmen des Windes, der in den Meeresschlaf überging. Vorhang auf: Ein Tag um die Mitte des Juni, um diese Stunde, sagte Stephen Dedalus, mit einem raschen Blick um Gehör bittend. Die Flagge ist hoch auf dem Theater auf der Bankside. Shakespeare hat das Hugenotten‐Haus in der Sil‐ ver Street verlassen und geht an den Schwanengehegen vorbei am Flußufer hin. Das Spiel beginnt. Und der Spieler ist Shakespeare. Daß wir uns über Swanns glänzendes Weltleben in solcher Unkenntnis befanden, kam offenbar zum Teil von der Zu‐ rückhaltung und dem Takt, die in seinem Charakter lagen, aber auch daher, daß sich die bürgerlichen Kreise jener Zeit die Gesellschaft wie bei den Hindus vorstellten, nämlich glaubten, sie setze sich aus geschlossenen Kasten zusammen, wo jeder durch seine Geburt demselben Stande angehöre wie seine Eltern, aus dem ihn nichts als etwa die Zufälle einer außergewöhnlichen Laufbahn oder einer unerwartet güns‐ tigen Heirat ziehen konnten, um ihn in eine höhere Kaste aufsteigen zu lassen. Es ist wahrscheinlich die Königin, dachte Mrs. Dalloway, ah sie mit ihren Blumen aus Mulberrys Laden trat; die Köni‐ gin. Und eine Sekunde lang trug sie eine Miene außerordent‐ licher Würde, wie sie so vor dem Blumenladen im Sonnen‐ 307
schein stand, während das Auto im Fußgängertempo mit geschlossenen Vorhängen weiterfuhr. Sie erkannten Lodovico Settembrini zur Seite eines Frem‐ den; doch schien es, als erkenne er seinerseits sie nicht oder als wünsche er kein Zusammentreffen, denn er wandte rasch den Kopf wieder ab und vertiefte sich gestikulierend in die Unter‐ haltung mit seinem Begleiter, wobei er sogar rascher vorwärts zu kommen suchte. Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung grüßten, stellte er sich wunder wie angenehm überrascht. Weil Sie nun weggehen um die Universität Harvard zu besuchen, wie man mir sagt, sagte Miss Coldßeld, da kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie jemals hier zurückkommen und sich als Advokat in einem Landstädtchen wie Jefferson niederlassen. So werden Sie vielleicht die literarische Lauflahn einschlagen, wie so viele Herren und Damen aus guten Krei‐ sen des Südens jetzt tun, und vielleicht werden Sie sich einmal an dies erinnern und darüber schreiben. Vielleicht werden Sie dann sogar freundlich an die alte Frau denken, die Sie hier drinnen einen ganzen Nachmittag festhielt, um Ihnen von Ereignissen und von Leuten zu erzählen, denen Sie selbst nicht mehr in die Hände gefallen sind. Wir sind am Ende dieser Geschichte. Sie ist lang geworden, aber sie mußte sich dehnen und immer mehr dehnen, bis sie jenen Höhepunkt erreichte, den Umschlagspunkt, von dem erst Licht auf das Ganze fällt. Wir sind eine dunkle Allee gegangen, keine Laterne brannte zuerst, man wußte nur, hier geht es lang, allmählich wird es heller und heller, zuletzt hängt da die Laterne, und dann liest man endlich unter ihr das Straßenschild. Es war ein Enthül‐ lungsprozeß besonderer Art. Franz Biberkopf ging nicht die 308
Straße wie wir. Er rannte drauflos, diese dunkle Straße, er stieß sich an Bäume, und je mehr er ins Laufen kam, um so mehr stieß er an Bäume. Es war schon dunkel, und wie er an Bäume stieß, preßte er entsetzt die Augen zu. Und je mehr er sich stieß, immer entsetzter klemmte er die Augen zu. Mit zerlöchertem Kopf, kaum noch bei Sinnen, kam er schließlich doch an. Wie er hinfiel, machte er die Augen auf. Alles entstand in der Zeit, in der die ganze Stadt, und wie es damals aussah, die ganze Welt in Flammen auf‐ ging. Die, die dieses Inferno überlebten, diese Hölle auf Erden, die Apokalypse des Grauens, wußten nicht, warum gerade sie zwischen so vielen Toten wieder auf‐ erstehen durften. Das Wort Zufall war keine Begrün‐ dung für ein zweites Leben, da wäre man doch lieber wie alle anderen verbrannt, erstickt, zerstückelt, denn die qualvollen Todeserinnerungen verfolgten dieses zweite Leben, als lebe man in einer unabtragbaren Schuld. Unter Millionen Toten besaß ein Menschenleben keinen Wert mehr. Und mit ihm verloren alle Dinge, alle Gesetze und alle Moral ihren Wert. Es gab nichts mehr, an das man sich halten konnte. Brot und Wasser waren der einzige Sinn dieser Gesellschaft, darüber hinaus existierte nichts. Viele lebten ohne Eltern oder Großeltern, die im Krieg einen frühen Tod fanden: Wer ohne Eltern und Großeltern erwachsen wird, der bleibt fremd in dieser Welt, ihm fehlt die Bindung an die vergangene Zeit, noch schlimmer, sie existiert über‐ haupt nicht. Es gab nur noch das Heute. Lebensregeln wurden ohne Tradition neu gesetzt, nach dem jewei‐ ligen Zweck ausgerichtet, waren Überlebensregeln, 309
keine allgemeingültigen Gesetze, die man anerkannte. Mit den zerstörten Städten hatte sich das äußere Bild einer vernünftigen Ordnung verloren, da standen keine alten Häuser mehr, da waren keine Plätze und Straßen, die Erinnerungen auslösten, alles was da stand, war in den letzten Jahren hochgezogen worden. Das nannte sich Stadt, aber es hatte keine Vergangenheit und bot keinen Rahmen, in dem man sein Leben gestalten konnte; man gehörte dazu, weil man in seinem zufälligen Leben zufällig hier wohnte, ebenso wie alle anderen zufällig hier lebten. Im Grunde war einem die Stadt egal, man hatte keine Heimat, man hatte einen Arbeitsplatz und eine Wohnung. Man zog um in eine neue Wohnung, suchte einen neuen Arbeitsplatz, die Straßen wechselten, Häuser wurden abgerissen und neu erbaut, man lebte in einer Wüste. Eine Leiche schwamm nackt in traumhaft tänzerischen Bewegungen an ihnen vorbei. Sie sahen sie kommen und sahen ihr noch lange nach. Eine Frau, ihr Tod hatte in der Zeitung gestanden. Sie war im Hafen ins Wasser gegangen, der Hafen lag flußaufwärts, hinter der Brücke. Sie brauchen immer ihre Zeit, sagte der Angler neben ihm, bis sie das offene Wasser erlöst. Im Hafen gibt es viele Strudel, Taue und Schiffsschrauben, da liegen sie oft tagelang fest. Die Frau trieb vorbei, lag fast elegant im Wasser, Blätter und Zweige umgaben sie. Manche sprangen von der Brücke, das konnten sie von hier aus sehen, aber das war beim Aufprall schmerzhaft, sie überließen sich im Hafen lieber dem Wasser, ganz leicht und wehmütig konnte man dort Abschied 310
nehmen, ging langsam hinein in das andere Element, Treppen führten in die Tiefe, man mußte sie nur hinabgehen, eintauchen in die grüne, durchsichtige, weiche Höhle unter dem hellen Himmel. Man ist nichts, und alles ist belanglos, sagte der Ang‐ ler und grüßte die Tote, indem er seine Angel hob und mit der anderen Hand den Schlapphut von den weißen büscheligen Haaren zog, ungekämmt wie sein struppi‐ ger grauer Bart. Er setzte den Hut wieder auf, tauchte die Angel wieder ein, sagte noch einmal: Man ist nichts, und alles ist völlig belanglos, konzentrierte sich dann wieder auf den Fluß. Der Satz war von dem großen Joseph Conrad, den der Angler sehr liebte, und er gefiel ihm, weil er alles beinhaltete, was zu sagen war. Er saß jetzt oft neben dem Angler am Fluß, in einer Zeit, in der für ihn alles vorbei war, schweigend, im wechselnden Licht der Kalendermonate, an dem Fluß, der seine Richtung kannte, seinen Weg durch die Welt, schmales, springendes Wasser im Frühjahr, silbrig und ruhig unter der heißen Sommersonne, lehmig und Ge‐ röll führend im Herbst, eisschollentreibend im Winter. Das war weit unterhalb der Brücke, da, wo die Stadt sich auflöste und in Wiesen und Gesträuch auslief, in großen Tafeln schon als Baugrund der nächsten Jahre ausgewiesen. Wurden die Tafeln versetzt, mußte der Angler weiterziehen, viel Platz war da nicht mehr für ihn, am Horizont erschien schon die nächste Stadt. Viele angelten am Kai, jeden Tag mit dem Fahrrad auf die Flußwiesen fahren, das war denn doch zu weit, der Angler wollte das nicht, er wollte Schmetterlinge sehen, Vögel und Frösche und Wespen hören, wollte hören, 311
wie der Fluß plätscherte, schmatzte und gluckste, mit ihm redete, weil auch er seit langer Zeit gewohnt war, mit dem Fluß zu reden. Die Leiche verschwand in Richtung Meer. Irgendeiner würde sie herausfischen. Sie ließen ihr den Frieden, den sie gesucht hatte. Er kannte die Frau. Sie war die große Kunstmazenin der Stadt, anwesend bei jedem Hap‐ pening, zugleich Gesellschaftsdame und Ehefrau eines Unternehmers, Besitzer einer der größten Fabriken im Land, Aufsichtsratsvorsitzender und Generalbevoll‐ mächtigter seiner selbst. Jeder erkannte sie auf Anhieb an ihrer schlanken Linie, wie es vornehm hieß, in Wirklichkeit war sie nicht nur dürr, sie war so hager, daß alle, die um sie herum langsam und genußvoll wie‐ der dick und fett wurden, sie erstaunt ansahen. Dünn waren ja alle einmal gewesen, aber jetzt konnte man sich den Schinken doch wieder pfundweise reinschie‐ ben, sogar ohne das lästige Brot, Luxus pur. Es gab Leu‐ te, die hatten schon wieder drei Schlafzimmer, vier Gästezimmer, sechs Badewannen vergoldet, einen Wohnraum, den man nur Livingroom nennen durfte, lang wie eine Kegelbahn mit direkter Rampe zum Swimmingpool, beheizt und überdacht. Dagegen war nichts einzuwenden, wenn die Leute diese Ausstattung nicht für das Minimum gehalten hätten, für den Stan‐ dard, und lauthals verkündeten, das müsse schon sein, darunter ginge es wirklich nicht, das wäre doch das mindeste. Sie, die das alles viel größer hätte haben kön‐ nen, die ein Schloß hätte haben können, verachtete diesen Plunder. Sie schnitt sich die Haare ab und setzte sich schlechte Perücken auf. Sie schminkte sich nicht, 312
trug selbstentworfene Kleider aus farblosen Stoffen, die in einem kunstvoll schlechten Schnitt an ihr her‐ abhingen. Sie wurde zum Ärgernis und wehe dem, der in dieser Welt zum Ärgernis wird, wehe, wer nicht so sein will wie alle anderen. Die Rache ist grausam und unerbittlich: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein. Jeder soll so leben wie er will, das ist die offizielle Meinung, unter der Auflage, daß er genauso lebt wie alle: Wir bieten Krieg und Frie‐ den, wer seinen Krieg haben will, bitte, Frieden findet man in unseren Armen. Er erzählte dem Angler von ihr, die sich zur öffent‐ lichen Steinigung freigab, der Angler war nicht über‐ rascht, der Fluß hatte ihm viele solcher Geschichten erzählt, er und der Fluß, sie kannten das. Man ist nichts, und alles ist völlig belanglos, sagte er, du mußt das ler‐ nen, Junge. Die Welt ist eine Allegorie. Die Verkleidung des Nichts in Worte. Wäre die nackte Welt sonst zu ertragen? Die Worte erschaffen eine Fata Morgana, in der wir herumirren. Das ist die Welt. Die wirkliche Welt kennen wir nicht. Wir kennen nur die vielen Worte, mit denen man uns die Wahrheit verkündet. Früher gab es viele Wahrheiten. So viele wie Menschen und ihre Ideen von der Welt. Das war das Paradies. Eine kunterbunte Welt, in der jeder mit sich leben konnte. Dann kamen Schlaumeier und nahmen die Wahrheit in Besitz, um damit ihre Reiche zu erschaffen und zu erweitern, denn der Besitz der Wahrheit garantierte ihnen die Welt. Sie machten ihre geraubte Wahrheit zur einzigen und alleingültigen Wahrheit, die von nun an auch für alle anderen galt. Die vielen Wahrheiten der Menschen 313
wurden zu Unwahrheiten, ohne daß es einer so richtig bemerkte. Von nun an mußten sich alle vor der be‐ stehenden Wahrheit rechtfertigen, denn nur die offizielle Wahrheit war wahr. Sie wurde ausgeschmückt und immer angenehmer dargestellt, bis sie zum festen Glauben aller wurde, obwohl nur noch ein Märchen von dem, was Menschen einmal taten. Deshalb muß man den verschwiegenen Geschichten der Menschen zu‐ hören, manchmal bekommt man dabei eine Ahnung von dem, was wirklich war, von dem, was tatsächlich geschah, bevor es zur allgemeinen Wahrheit wurde. Und so höre ich auf die Geschichten, die mir der Fluß erzählt. Man ist nichts, und alles ist völlig belanglos. Und glaub mir, mein Junge, das ist die Wahrheit aller Wahrheiten. Stiller Fluß, der die Erde umarmt und ins Vergessen fließt, ruhiges Wasser des Vergangenen über ausgewa‐ schenen Steinen, den stummen Masken der Toten. Sie dringen durch die Abgeschiedenheit der immer glei‐ chen Tage und Nächte, durch die Risse der grüngestri‐ chenen Wand, vor der er in einem kaltem Metallbett liegt, in dem eisernen Bett ungezählter Toter, in dem er wacht und schläft, erinnert und vergißt, in den wie‐ derkehrenden Masken, den Träumen der Toten. In den fiebrigen Stunden, diesem entrückten Zustand, erhöhte Temperatur, monoton zu Protokoll gegeben, in den Tagen und Nächten eines unaufhaltsam vergehenden Lebens, in denen das Gedächtnis ohne Sprache herum‐ irrt: Auf der Flucht vor den kreisenden, glühenden Son‐ nen in den Glastürmen der Stadt, im weichen Teer die 314
Spuren von Menschen, Abdruck über Abdruck unter der schweren Masse des Himmels, erstik‐kend nah, sich auf den Atem legend, die Füße kleben, der Körper fällt, liegenbleiben, atmen, das Gewisper im Schatten, liegenbleiben, atmen, das davonlaufende Lachen, liegenbleiben, atmen, unbeweglich versinken wie ein Stein, zwischen erleuchteten Fenstern, die nacheinander verlöschen, allein in der Stille ohne Worte. Die Schlafenden kämpfen vergebens. Der Himmel ruht auf der Erde. Spiegel warten auf ein träumendes Gesicht. Menschen in Kostümen der Wirklichkeit. Schaufenster‐ puppen mit dem kalten Gesicht der verlorenen Sehn‐ sucht. Menschen ohne Trauer. Er geht wie ein Toter durch die Stadt. Keiner sieht ihn. Nur die Toten sprechen mit ihm. Schweigende Insel im Morgen‐ grauen. Auch diese Nacht ist vorüber. Die Wolken ziehen mit dem Atem. Sanft und grausam fällt der Schnee. Das Meer versteckt sich in den Nebelbänken. Im Blickfeld des geöffneten Fensters, weit unter dem Horizont, liegen die Findlinge der Eiszeit. Keine Geschichte. Keine Handlung. Verlorene Bilder. Vergebliches Erinnern. Die Worte zerfließen wie treibende Strudel. Die Welt versinkt in der Zeit. Nur noch die Namen auf den Grabsteinen. Jeder Neubeginn eine Behauptung, jeder Ablauf eine Illusion, jedes Ende ein Nichts im Schlaf der Erinnerung. Die erstarrte Bewegung einer wiederholten Wieder‐ holung als letztes Ritual. Die Marmorhalle ein Mauso‐ leum, dunkle Tücher, Tannengrün, schwere Kerzen auf hohen Ständern, der Sarg auf dem Katafalk vor der 315
schwarzen eisernen Wand, Ehrenmal der Toten, Einlaß in eine andere Welt, der sich der Verstorbene nun nä‐ hert. Ein roter Teppich, Abschied der Werksangehöri‐ gen, eine lange, geduldig wartende Schlange. Stunde um Stunde die Totenwache. Trauerfeier für den Inhaber der Firma, den geliebten Patriarchen, unser aller Vater. Er steht neben dem Sarg, vor ihm schwankende Köpfe über tiefem Schwarz, die Kränze riechen intensiv, unter dem blankpolierten Holz mit dem leuchtenden Messingbeschlag gefaltete Hände, geschlossene Augen im schneeweißen Polster, der sanft Entschlafene, der Heimgegangene dicht neben ihm. Der Generalmusikdirektor der Stadt hebt als Zeremonien‐ meister beide Hände, der Taktstock schwebt einen Mo‐ ment über seinem Kopf, saust dann unerbittlich herab: Beethoven, Coriolan‐Ouvertüre. Der Rechtsanwalt und Notar liebte die Allee zwischen dem Schloß und einer Wasserfontäne, benannt nach den Seufzern der dort herumirrenden Liebespaare, während der Rechtsanwalt und Notar in den Büschen und Bäumen dieser Allee eher das Geflüster der Toten ver‐ nahm. Er marschierte eifrig, um Sauerstoff und Kreis‐ lauf bemüht, endete vor dem Schloß, drehte, lief auf die Fontäne zu, wendete vor der Fontäne, lief auf das Schloß zu, mit einer gespreizten Hand Gesetzestexte in die Baumwipfel jagend, mit der anderen re‐ spektheischend die Gegenargumente der Büsche weg‐ schlagend, so daß man schon einen guten Meter Ab‐ stand halten mußte. Seine Stimme artikulierte gestochen scharf: Der Kasus ist hochinteressant, grundlegend und 316
nicht erkannt, ist aber Kasus: Falsch ist es, davon auszugehen, daß die Toten tot sind und keine Macht mehr über uns haben. Wahr ist vielmehr: sie be‐ herrschen die Welt. Kasus ist: Die Toten bestimmen das Bild der Welt, das wir in uns tragen. Ihre Vergangenheit ist unsere Gegenwart ist unsere Zukunft. Besonders stark ist ihr Einfluß bei Menschen, die das nicht begreifen, die statt dessen von eigener Erfahrung spre‐ chen und von der eigenen Erleuchtung. Eigen! Uns gehören nicht mal die Worte. Wir haben sie uns von den Toten ausgeborgt. Wir prunken mit falschen Reden. Kasus ist: — Und dann folgten Paragraphen, die er mit seiner schneidenden Stimme in die Baumkronen hängte, Luftgesetze, die ihm zur Verfügung standen wie Noten einem Dirigenten, Plädoyers, die jeglichen Besitz auf Erden in ein Nichts auflösten. Er war nach dem Krieg aus einem Güterwagen gestiegen, der auf freiem Feld hielt, hatte sich in diese Stadt verirrt, in ein zufälliges Studium an einer über‐ füllten und zerstörten Universität, für das es Lebens‐ mittelkarten gab. Nie konnte er sich den Namen der Stadt merken, in der er zufällig lebte, seine Sekretärin mußte den Namen auf die Briefe tippen, er sammelte statt dessen Friedhofspläne aus einem verlorenen Osten. Man hatte ihn entmündigt und aus der Anwaltskam‐ mer ausgeschlossen, aber er versuchte weiterhin, über Strohmänner die Friedhöfe seiner alten Heimat aufzu‐ kaufen, um in den Grundbüchern ein Dauerwohnrecht bei den Toten seiner weitverzweigten Vorfahren zu begründen. Das war für ihn ein Grundrecht — wo sollte 317
man wohnen auf dieser Welt, wenn nicht bei seinen Toten? —, das klagte er ein, und wenn man ihn an den Füßen aufhängen und teeren und federn sollte. Er suchte Halt bei den Toten, weil die Lebenden doch allzu schwankend und begriffslos durchs Leben segelten, fand nicht mehr heraus aus seinem Kerker, sogar nachts konnte man seine stechende Stimme zwischen Büschen und Bäumen hören: Kasus ist: Falsch ist es, davon auszugehen ... Verehrte Trauergemeinde, mit tief bewegtem Herzen ... Abschied für immer ... Gefühlen Ausdruck geben ... in diesen Tagen empfinden ... hohe Geistesgaben, kraftvoll im Temperament, froh im Gemüt, edel in der Ge‐ sinnung ... Verantwortung und Sorgen ... im glücklichen Zusammenspiel seiner heiteren Natur ... Kraft seiner Persönlichkeit, Autorität und Ehrfurcht ... ethische Pflichtauffassung, Gedeihen des Unternehmens, das Wohl aller ... schwere, schicksalhafte Nachkriegsjahre ... Tradition neu belebt, Zuversicht für die Zukunft, reich an Arbeit und Erfolgen ... fortleben in unserer Er‐ innerung: Totenklage aus Wagners Götterdämmerung. Wiederauferstanden von den Toten, wer konnte das schon von sich behaupten. Berling war wiederauf‐ erstanden, war schon einmal tot gewesen, lebte noch einmal ein Leben. Getötet von seinen Eltern, die sich beim Einmarsch der Russen in die Reichshauptstadt erschossen und seine Brüder und ihn vergiftet hatten, ihm aber eine zu kleine Dosis gegeben hatten, so daß er nach kurzer Betäubung erwachte, im Blut seiner Eltern 318
liegend, zwischen den Leichen seiner Brüder. Als er verwundert und ungläubig aufstand, rutschte er im Blut aus, schlug hin, kam so wieder ins Leben, rutschte blutig auf allen vieren zur Tür und ging die Treppe hin‐ ab, stand blutig und allein auf der Straße einer großen Stadt, sah keinen Menschen, glaubte allein auf der Welt zu sein, der einzige Mensch, der noch lebte, ganz allein auf der Welt, auch wenn es später wieder Menschen gab, Menschen, die sich erneut vermehrten, sich erneut zu großen gläubigen Massen formierten, bereit, für Ideen weit außerhalb des Lebens erneut in den Tod zu marschieren. Berling hatte mit ihnen nichts mehr zu tun, er kam aus einer anderen Welt, er lebte ein ver‐ wundertes und ungläubiges Leben nach dem Tod. Sein Ziel war alles zu wissen, was über dieses Leben und diese Welt zu erfahren war, bevor er nicht alles ganz genau wußte, wollte er sich auf nichts mehr fest‐ legen. Er hatte die größte Lexikasammlung der Stadt, es war eine Freude, ihn zu treffen, es gab keinen, bei dem die Fragen der Menschen besser aufgehoben waren als bei ihm. Sah man ihn, schämte man sich, wenn man keine Fragen hatte. Da aber die meisten Menschen in ihrer Gewißheit keine Fragen kannten, höchstens felsen‐ feste Antworten, wichen sie ihm aus. Er vereinsamte, blieb ein Toter im Leben, das keine Fragen stellte und erst recht keine Antworten hören wollte, verbrachte seine Tage und Nächte nicht mehr unter unwissenden Menschen, lebte nur noch verwundert und ungläubig mit den Buchstaben A bis Z der vergoldeten und alles wissenden Lexika. Als er erfuhr, daß er nur noch wenige Monate zu leben hatte und erneut dem Tod 319
entgegenging, versuchte er in einer unglaublichen Anstrengung, in einer hartnäckigen Verleumdung seiner selbst, alles zu vergessen, was sich in seinem Kopf abgelagert hatte. Ich übergebe nur eine leere Scheune und ein abgeerntetes Feld, schrie er und schaffte es tatsächlich, in einigen Wochen starren Dahin‐ siechens sein Gedächtnis vollkommen zu verlieren. Fragen beantwortete er nur noch mit einem wider‐ willigen Kopfschütteln. Sein Gehirn war so leer wie eine verrostete Häckselmaschine, er verirrte sich in Tag und Nacht, rechts und links, oben und unten, das geordnete A bis Z seiner Lexika endete im Begrifflosen. Er starb und wurde beerdigt. Der Sarg war schwerer als üblich, weil Freunde ihm von jeder Enzyklopädie einen Band ihrer Wahl in den Sarg mitgaben: Vielleicht steht er ja noch einmal von den Toten auf und will wieder alles wissen. Geehrte Trauerversammlung ... unerwarteter Tod, mit‐ ten in der Tätigkeit ... mächtige Entwicklung des Un‐ ternehmens ... aufrichtige Zuneigung seiner Mitarbeiter ... Widerwärtigkeit der Verhältnisse ... umwälzende Zeiten, harte Tage und Stunden ... schwer mit sich ge‐ rungen, widerstrebenden Mächten die Stirn geboten ... für sein Unternehmen den besten Weg, mit sicherer Hand die Geschicke der Firma ... unter seiner Führung Aufstieg ... Symbol des deutschen Unternehmers ... Ausdruck der deutschen Volkswirtschaft, in ihren Tu‐ genden, in ihrer Stärke ... seltene Persönlichkeit... Un‐ ternehmer im wahrsten und besten Sinne des Wortes: Air aus der D‐Dur‐Suite von Johann Sebastian Bach. 320
So warm, so weich, so torfig — hatte er sich ganz anders vorgestellt. Der Sarg natürlich zu eng, ohne Sarg viel‐ leicht besser, aber er war auch schon gesprungen, der Deckel verrutscht. Die Schläge der Kirchturmuhr, sonst dröhnend und gebieterisch, hier wie raschelndes Laub, nicht mehr wichtig. Hier nicht mehr ›tue das‹ und ›laß dies bleiben‹, ›tue recht‹ und ›halt dich gerade‹ und ›benimm dich‹, ›steh auf‹ und ›geh und sing ein Lied‹ und ›danke deinem Herrn‹. Keine dummen Fragen mehr, keine erfundenen Rechtfertigungen, kein Gut und Böse, keine ewigen Wahrheiten und Glaubenssätze, nur noch ein weiches, warmes, torfiges, wohliges Sichauf‐ lösen, ein Vergehen im Nichts. Diese Moral der fleißigen Anständigkeit, diese gesunde Lebensordnung des gesunden Menschenverstandes: Mens sana in corpore sano et cetera, immer falsch zitiert, damit sie ihre Höl‐ lengesellschaft begründen konnten. Sie mußten lügen, um ihre Welt aufrechtzuerhalten, ohne Erkenntnis der Krankheit zum Tode, ohne Erkenntnis der Lebenslügen, dabei gab es nur hell und dunkel, Tag und Nacht, Tod und Leben. Ganz angenehm hier, warm, weich, torfig, feucht wie im Mutterleib, Mutter Erde, Mutterboden, hatte er sich schlimmer vorgestellt, wahrscheinlich wegen all dieser bleichen Menschengeschichten vom Tod. Der grauenhafte Tod, der als Knochengestell ans Krankenbett tritt, Herr Doktor, helfen Sie mir, verschreiben Sie mir ein Wundermittel, ein Beutel Gold für mein Leben, drehen Sie das Bett herum, der Tod steht zu meinen Füßen. Der Tod war die Krankheit, vor der sie sich fürchteten, deshalb mußten sie alle gesund sein, mußten unbedingt und auf Teufel komm raus 321
glauben, gesund zu sein. Wenn das Leben so war, wie es nun mal war, dann war das Sterben doch ganz angenehm, alles Vorurteile, alles nur Vorurteile. Warm, weich, torfig, doch ganz angenehm. Dunkel hier, im Gegensatz zum künstlich verlängerten, blendenden Licht da oben. Stimmen waren da, gedämpft, letzte Erinnerung, Beileidsgerede, Kranzgeflüster, Abdankungsgeschwätz. Andere Stimmen drängten sich vor, sie lagen näher, la‐ gen um ihn herum, waren für ihn noch unverständlich, eigentlich nur Geräusche, aber der Tod war ein guter Übersetzer. Die Schaufeln der Totengräber, die ihn mit Erde bedeckten, sein Ende bekräftigten, seine Auf‐ lösung, sein körperliches Nichts, das angenehme Hin‐ übergleiten in eine andere Welt, so warm, so weich, so torfig, ein wohltuendes Glück. Daß die Menschen das nicht begriffen. Hochansehnliche Trauerversammlung, so hart das Schicksal auch Volk, Land und Unternehmen berührte und erschütterte ... oft im engsten Kreise gemeinsam die Frage geprüft: Wird es möglich sein, das Waschmittel der Vorkriegszeit, den berühmten Namen wieder auf den Markt zu bringen? Sind wir wieder soweit, daß wir es wagen können, dieses Fabrikat, das in aller Welt Ruhm für sich gewonnen hat, nun wieder auf den Markt zu geben? Da wurde mir als Bundeswirtschafts‐ minister blitzschnell deutlich, daß hier eine Frage ge‐ stellt war, die nicht das Schicksal eines Unternehmens allein berührte ... Mir wurde deutlich, daß mit der Ent‐ scheidung dieser Frage zugleich auch eine Schicksals‐ 322
frage an die Volkswirtschaft gestellt worden war ... Wir haben es erlebt, als das bekannte und berühmte Waschmittel wieder in den Verkehr gelangte, daß im Volke das Vertrauen erwuchs, daß nun wieder Friede eingekehrt sei. Den Schild, den er aus Vaters Händen übernahm, er hat ihn blank und rein erhalten, er hat seinen Glanz vermehrt, er gibt ihn weiter an seine Söh‐ ne. Wir glauben und bitten zu Gott, daß Sie das Erbe so rein, so strahlend bewahren mögen: Schlußchoral aus der Johannispassion. Johann Sebastian Bach. Wie herabschwebende Vögel segelten die kleinen blauen Briefchen aus einer Dachluke in die Straße, dünnes Luftpostpapier, im Wind treibend, schwebende Worte, die unbeachtet unter Autoreifen und die Schuhe der Menschen gerieten. Er sammelte sie auf, las sie und erstieg, die Worte zurückverfolgend, eine dunkle Holz‐ treppe, die unter das schräge Dach eines alten Hauses führte. Ein junges Mädchen saß mit geschlossenen Augen auf dem Boden, Licht fiel durch eine offene Dachluke auf ihr Gesicht, das träumend in die Wolken sah. Räucherstäbchen mit ihren dünnen Rauchfahnen betrauerten gebleichte Tierskelette, Ratten, Mäuse, Vögel, Igel. Er setzte sich auf einen mit Blumen bemalten Kasten, die blauen Luftpostbriefchen in der Hand. Sie legte den Finger auf die Lippen. Er wußte nicht, in welcher Andacht sie sich befand, er schwieg, die Stunden waren ihre treuen Gefährten in der Geduld. Als die Nacht hereinbrach, zündete sie Kerzen an, die Skelette der Tiere bewegten sich leicht im warmen Licht, die Dachpfannen knackten, verloren die Hitze des 323
Tages und ruhten in der kühlen Nacht. Sie las aus einem indischen Buch vor, er verstand die Sprache nicht, die singenden Worte, wußte nicht, was sie ihm mitteilen wollte. Er besuchte sie in unregelmäßigen Abständen, in der Kälte der Nacht und der Glut der Sommertage, sah zu, wie sie alte verblichene Seidengewänder aus einem Koffer auspackte und versuchte, damit zu tanzen. Manchmal war sie unerklärlich abwesend und überließ ihm den Raum. Er begann zu schreiben, gewöhnte sich daran, seine Worte zu begreifen, die langen endlosen Sätze wie Viadukte in einem Bogen über das Papier zu fuhren, das Leben in Sprache zu verwandeln. Sie las seine Worte, gefielen sie ihr, warf sie die Zettel aus der Dachluke. An guten Tagen war das ein schönes Schneetreiben. So lernte er alles zu vergessen und wieder neu zu beschreiben, aus einer immer tieferen Erinnerungsschicht heraus zu schreiben, lernte den Worten zu folgen, den Sätzen, die aus der Vergessen‐ heitswelt emporstiegen. In einer Nacht flog sie wie ein Vogel in ihren Seiden‐ gewändern flatternd durch die Dachluke auf die Straße. Die Skelette der Tiere schrien im Kerzenlicht. Die Worte vergingen und waren nicht mehr einzufangen. Werte Trauergemeinschaft, tief ergriffen an der Bahre eines Mannes ... leuchtendes Vorbild, der erste Arbeiter unseres Hauses, Pionier der Arbeit, nicht Herr im Haus ... die Belegschaft hat die Treue gehalten, der Auftrag ist erfüllt, der Name aus der Wirtschaft nicht wegzudenken, der dritten Generation dieselbe Treue wie der ersten und der zweiten ... der Tod den Hermelin 324
des Königs oder den Rock des Bettlers streift, den Kameraden von der Seite reißt oder den Werkmann im schaffenden Alltag ... Maß und Wert einer heimgegan‐ genen Persönlichkeit rechtfertigen den hohen Anspruch von Besonderheit und Einmaligkeit, Erfolg und Auf‐ schwung als Preis der Mühen: Männerquartett. Wie sie so sanft ruhen, alle die Seligen. Oh, what a wonderful morning. Ella trat aus dem Hotel vor dem Hofgarten, stand in der Sonne eines stillen Sonntagvormittags, sah die schwebenden Blüten der Magnolienbäume, das tanzende, glitzernde Wasser des Schalenbrunnens, breitete die Arme aus und sang mit ihrer klaren Stimme What a wonderful morning, Ella Fitz‐ gerald sang für ihn ein Sonntagmorgenkonzert. Oscar Peterson kam aus dem Hotel, Ray Brown, Roy Eldrid‐ ge, Gene Krupa, Flip Phillips, Herb Ellis, Jazz at the Philharmonie on tour. Er stieg mit den Musikern in den Bus, nicht nur wegen der Autogramme, auch wegen des Traums, der für einen Moment wahr wurde, und nachdem der Fahrer zum drittenmal gerufen hatte: Wenn Sie nicht aussteigen, sind Sie heute abend in Montreux, nahm er zum Vergnügen der Musiker auf der hintersten Bank Platz, fuhr mit und sah das Land mit den Augen der Fremden, mit den Augen der Rei‐ senden, mit den Augen der Menschen, die auf dieser Erde herumziehen, weil sie keine Nation, kein Land, keinen Ort brauchen, weil sie in der Musik leben, so wie es Menschen gibt, die in der Malerei und in der Literatur leben, die keinen festen Erdenpunkt brauchen, um eine Existenz zu führen, weil die Existenz in den 325
Worten und Bildern und Noten ist und nicht auf dem Besitz eines alten Familienhauses, eines Geschäfts oder einer Fabrik beruht, der Beurkundung ausgedehnter Äcker und Wälder, sondern weil es das einfachste Leben auf der Welt ist. Die Räder drehten sich, die Welt zog vorbei wie ein Wandertheater, Wälder, Felder, Häuser, Kirchtürme, vorbeigleitende Orte, anonyme Städte, namenlose Länder, die einfach da waren, entlang der niemals en‐ denden Straße, on the road, schnell sich drehende Schall‐ platten, 78 Umdrehungen in der Minute, bunte Labels, leuchtende Rillen, der tanzende Tonarm, ein knistern‐ des Rauschen, New York, Verve, Apollo, Bethlehem, Victor. Drei‐Minuten‐Glück, der Tonarm sprang zurück, die Platte lief aus, Stille. In der Bewegung der vergehenden Zeit war für ihn nichts mehr von Bedeu‐ tung, was außerhalb der Klänge, Bilder, Worte war, und so, das war von nun an sein einziger Wunsch, so möchte er aus der Welt der Menschen verschwinden, unerkannt ins Vergessen gehen, in die völlige Vergessenheit, das war von nun an sein Wunsch, einen anderen Wunsch hatte er nicht mehr, unerkannt ins Vergessen gehen. An der Grenze holten ihn Uniformierte aus dem Bus. Verehrte Trauernde. Ehren und Auszeichnungen, Eh‐ renbürger und Ehrendoktor, wir ehren uns selber, indem wir ihn ehren ... geistiger Führer, Freund der Kunst ... auch ich hierhergeeilt, Abschied zu nehmen ... bis ins Tiefste der Seele erschüttert ... der Geist des Verstorbenen ... Erkenntnis der Notwendigkeit ... 326
sterben ist nur — eines Tages enden: Beethoven. Dritte Sinfonie Es‐Dur. Eroica. Geld wird durch Arbeit verdient. Der kohlenschwarze Heizungskeller unter der Erde, eine heiße Hölle, noch einige Grad mehr und man würde verdampfen, mit dem unberührbaren Monstrum in der Mitte, ein Teufelsaltar, der mit seinem glühenden Atem jeden Tag zwei Tonnen Koks schluckte; jeden Tag zwei Tonnen Koks mit der riesigen Schaufel, die allein schon schwer in den Händen lag, auf eine Rutsche über seinem Kopf hochschaufeln, sie auf knirschenden Rädern durch den Kohlenstaub zum Ofen schieben, auf den Ofen steigen, mit einem Haken die obere Klappe aufziehen, in der flimmernden, gasigen Luft die Rutsche hochstemmen und den Koks in die brennende Masse zu seinen Füßen schicken, im vesuvischen Funkengestöber um ihn her‐ um. Zuvor mit einer drei Meter langen, kaum zu diri‐ gierenden Zange, durch eine der Vorderklappen die weißglühende, leicht zerbrechende Schlacke heraus‐ heben, die, mit Wasser abgespritzt, über viele Rottöne in zischend weiße Wolken überging, zu einer schwarzen Kruste erkaltete. Über Armen und Beinen alte Woll‐ strümpfe, die Haut wurde in der unerträglichen Glut versengt, auf dem Kopf ein angebrannter Hut, die Haare fingen im Funkenflug Feuer. Irgendwelche Leute hatten es warm, ihm blieben die täglichen zwei Tonnen, die von Stunde zu Stunde schwerer wurden, in den Pausen zum Nachdenken rororo, Camus, Sisyphos. Ab 17 Uhr bis in die Nacht Büros putzen, Etage um Etage im Akkord, Büros mit Publikumsverkehr wurden 327
besser bezahlt, Industrie‐ und Handelskammer, Ver‐ fassungsschutz, Amt für Führerscheine. Papierkörbe und Aschenbecher leeren, dunkle, ausladende Schreib‐ tische abwischen, Glasplatten polieren, das klebrige Bohnerwachs aus großen Eimern auf die roten Kunst‐ steinböden verreiben, mit der schweren, kaum zu haltenden, sich immer wegdrehenden Bohnermaschine Zimmer und Gänge blankbohnern, am nächsten Tag wieder hundertfach übereinander die ängstlichen, vorsichtigen, vergeblichen Schritte der Antragsteller, Bittsteller, Fragebogensucher, am Abend erneut die blanke Unschuld des Amtes für die Schritte des nächsten Tages. Zum Nachdenken rororo, Camus, Sisyphos. Morgens um fünf die frischen Schlagzeilen aus der Rotationsmaschine, stinkende Druckerschwärze in handlichen Paketen, im Dunkel der Straßen in die klap‐ pernden Briefkästen geschoben, damit sie in jeder Wohnung den Tag erhellten: Adenauer. Erhard. Stalin. De Gaulle. Eisenhower. Kalter Krieg. Die Zone. Ber‐ linkrise. Gipfeltreffen. Weltfrieden. UNO. Europa ja oder nein. Bleibt die D‐Mark hart? Ist die neue Kunst noch Kunst? Brandt weiht Berliner Allee ein. Sepp Herberger und Fritz Walter. Die fortgeschriebene und durchnumerierte Tageschronik der anscheinend unab‐ wendbaren, sich selbst erzeugenden Ereignisse, in Ru‐ briken unterteilt, um die unverstandenen Fragmente dieses allumfassenden Chaos aus unzusammenhängen‐ den Meldungen als vernünftigen und daher folgerichti‐ gen Ablauf darzustellen, als reales Geschehen der Welt. Auf den Parkbänken schliefen die Obdachlosen in den 328
vergessenen Schlagzeilen vom Vortag. Ruhe sanft in Frieden. Zum Nachdenken rororo, Camus, Sisyphos. Seine Mutter am Küchentisch, im Lichtkreis der Deckenlampe, vor ihr kleine Geldhäufchen, die sie hin und her schob, um einige Münzen erhöhte oder ver‐ kleinerte, begleitet von konzentrierten Worten: Miete, Strom, Gas, Wasser, Heizung. Das war die eine Seite des Küchentischs, die andere Seite etwas variabler: Brot, Kartoffeln, Mehl, Margarine, Eier. Das jedesmal aufge‐ löste Geldhäufchen Kleidung. Nach der Umverteilung in Zeitungspapier eingewickelt. In der Mitte des Tisches, nicht zur Disposition stehend, die Raten für den Küchenschrank, den Wohnzimmerschrank, das Sofa, die zwei Sessel, der Kühlschrank blieb vorerst Wunsch. Stundenlanges sorgfältiges Einteilen, die Zah‐ len auf kariertem Papier waren ihr zu unsicher, sie mußte das Geld sehen. Die abstrakten Ratenverträge lagen neben den Zeugnissen für lebenslange ehrliche und gewissenhafte Arbeit zwischen der Bettwäsche. Aber Selbstmord, lieber, freundlicher Camus, Selbst‐ mord wurde nie erwogen, war nicht einmal einen Ge‐ danken oder einen Satz wert, denn so war das Leben. Selbstmord? Das Wort hätte erstauntes Unverständnis hervorgerufen. So war das Leben. Ehrende Trauergemeinde. Ein Leben voll Glanz und Sonne und Schönheit und auch ein wenig dunkler Schatten ... dieser Mann schuldlos, treu, gewissenhaft, trug das Ehrenkleid des unschuldig Inhaftierten ... er erlebte, wie menschliches Vergessen und wilde Gier unreine Hände ausstreckten nach sauberem Werk und 329
guter Arbeit ... schwerer Stunden Rätselfragen, wo ist Gott? Mich hangen tausend Lichter nach und bleiben doch im Dunkeln ... ein ganz Großer ist dahingegangen, ein knorriger Eichbaum, dem es Freude bereitete, mit Stürmen zu kämpfen, wurde gefällt ... einer höheren Macht hat es gefallen, das Schicksal gesprochen, seinem Urteil müssen wir uns unterwerfen, fassungslos und ohne Trost steht die Gefolgschaft vor dem toten Gründer und Führer unseres Werkes, getreu seinem Geiste ... über der Familie steht die Firma, über der Firma steht das Vaterland: 6. Sinfonie. Peter Tschaikowsky. Das unbekannte, unerkannte, versteckte Wunder der Stadt war ein Luftschutzbunker aus der Kriegszeit, ein Hochbunker, der zur Tarnung und zur Irreführung der Bomber in Form einer Kirche erbaut worden war, nach dem Krieg tatsächlich Kirche wurde, durch den Willen eines Geistlichen, gegen den Willen der Stadt, die darin bestenfalls ein Abbruchobjekt sah. Die sinnvollste Architekturumwandlung, die es je gab, dazu noch für die Ewigkeit gebaut — ein düsterer Betonklotz mit engen Gängen und Kammern, in denen die Angst‐ schreie der eingesperrten, ihren Tod erwartenden Men‐ schen nun von den Gebeten der Überlebenden erlöst wurden. Dieses Haus versetzte die Menschen nicht in Täuschung, sondern in Enttäuschung, in die Kontinuität des Erlebten, stellte also die Identität der Stadt und ihrer Einwohner dar, einer Stadt, in der die Einwohner sich zurechtgefunden hätten, wäre dieses Haus Maßstab geworden. 330
Aber die Stadtplaner entwarfen eine neue Stadt, ein schneeweißes Modell, eine Kulisse mit hohen Häusern, breiten Straßen und großen Plätzen. Zwischen weißen Autos und Straßenbahnen standen vereinzelt und ein wenig verloren winzige Figürchen, die Menschen dar‐ stellten, maßstabgetreu, unbewegt, ohne Schatten im unschuldigen Weiß dieser künstlichen Stadt. Die Häu‐ ser waren rechteckig, die Straßen gerade, die Plätze quadratisch, die Menschen plötzlich sehr klein. Sie sa‐ hen von oben in diese gleichmäßig ausgeleuchtete Welt ohne ein Stäubchen Schmutz, ohne Sonne, Mond und Sterne, ohne Wind und Regen, Hitze und Kälte, und sie sahen sich als Dekoration zwischen den weißen Blöcken, sehr einsam und sehr unbedeutend. Es war die Zukunft, die keine Vergangenheit brauchte und in der Gegenwart funktionierte. Man konnte das Licht über der Stadt ausschalten und wieder einschalten. Es war alles so wie es war. Es war nichts dahinter. Da waren keine Fragen, da waren nur Antworten. Und auf dem Platz, auf dem er als Kind gespielt hatte, auf dem im Gedächtnis der Menschen einmal Barrikaden gegen putschende Generäle errichtet worden waren, auf dem ein abstürzender viermotoriger Bomber vollbeladen in Mietshäuser gestürzt war und Menschen in Fackeln verwandelt hatte, sollte nun das höchste Hochhaus stehen mit Wasserfällen und hängenden Gärten. Zum Vergessen. Der Sarg des Patriarchen glitt vom Katafalk und nahm auf den demütigen Schultern schwarzgekleideter Män‐ ner wie auf langen ruhigen Wellen Fahrt auf: ein Sta‐ 331
pellauf in den Tod, ein Pharao mit seinen Ruderern auf dem Weg zur ewigen Gedenkstätte, begleitet von den Weihrauchwolken des Sinfonieorchesters und den psalmodierenden Worten des Gedenkens und der Ehr‐ furcht, die einem gebührten, dessen Zeit vergangen war, verbunden mit der Ermahnung an die Lebenden, daß die neue Zeit sich der vergangenen würdig erweise, im Geiste des sich dem Grabe nähernden Großen, ru‐ hend auf den Schultern vieler Kleiner, die in der Zeit nicht mal ihren Namen hinterließen, während das von ihnen Geschaffene wie eine Pyramide seinen Namen trug. Langsam näherte sich die dunkle Pforte zwischen den vom Feuer geschwärzten Quadertürmen und dem schmiedeeisernen ausgeglühten Tor, die Stadt der Toten in ihrem unverstandenen Schweigen. Der Trauerzug, durch das Tor zusammengedrückt, blieb enger beisam‐ men zwischen Marmorengeln, Stelen und Obelisken, den Tempeln der Erbbegräbnisse und den vielen nor‐ mierten Steinplatten, Name um Name, Jahreszahl nach Jahreszahl, kaum lesbar, zerbröselt, von Flechten über‐ zogen; ein von einer Bombe gespaltener Schutzengel sah hilflos in den kalten Himmel, in dem sich das Licht vorbeiziehenden Wolken verbarg. Hinter den verschatteten Tannen und Buchsbäumen freischwebende Autobahnanschlüsse, graue Betonpfei‐ ler ragten mit rostigen Armierungseisen ins Leere. Gelbe Kräne pendelten mit ihren langen Armen um sich selbst. Ein Flugzeug setzte zur Landung an, dröhnte über den Friedhof hinweg, winzige Bullaugen, keine 332
Gesichter. Lebende, die auf ihrem Weg eine Sekunde lang den Weg eines Toten kreuzten. Das weiße Papier, lange weiß, Nichts im Nichts, ein einziger durchgehender Strich ohne abzusetzen, von der Hand durchgezogen, eine ununterbrochen sich fortsetzende, in sich geschlossene Lebenslinie, Augen, Nase, Mund nur angedeutet, eine schmale Kontur, nicht ausgemalt, nicht aufgefüllt, kein Dekor, keine Perspektive. Der Versuch anwesend zu sein, in der Welt zu sein als unsichtbarer Beobachter, nur indirekt zu erkennen in den Blicken der anderen, im Echo ihrer Stimmen, im Spiegel ihrer Erinnerung. Die Existenz eines Abwesenden, ein Dasein ohne Illusion, ohne Ver‐ kleidung, unvollendet in seinen Bruchstücken, im Ver‐ such, genau zu sein, nur zusammengehalten durch eine von der Hand gezogene Linie. Ein einziger durch‐ gehender Strich auf weißem Papier. Ein Selbstporträt. Ein Lebenszeichen. Er sah Mischa, der auf sein Bett starrte, das nun für einen anderen frisch bezogen war, einen neuen Sterbenden erwartete, von weither angereist, hierher‐ gelockt, angeblich um das Leben zu gewinnen. Mischa sagte: Wir liegen im Grab. Wir sind schon lange tot. Aber deswegen kein Beileid. Es ist angenehm, in seinem Grab zu liegen. Endlich alles hinter sich zu haben. Diesen unnützen, sinnlosen, verwirrenden, das Gehirn vernebelnden Kram, der sich das Leben nennt und die Menschen allein läßt, weil es kein Leben ist. Immer nur die verführerische Hoffnung. Sie hat noch jeden mit 333
ihren glitzernden Worten in die Täuschung geführt. Mit ihr laufen wir immer aufs neue in unser Elend. Eine reichlich verlotterte Dame. Sie ist für jeden da. Jeder kann sie jederzeit haben. Sie ist das einzige, was in diesem Leben umsonst zu haben ist. Altgediente Worte, verpackt in hübsche Sätze, mit denen die Menschen seit Jahrhunderten belogen und betrogen werden. Was mich betrifft, ich lebe in der Verzweiflung. Ich ziehe die Verzweiflung allen anderen Haltungen vor. Ein Leben ohne Illusion, ohne die leeren Versprechungen der Hoffnung. Die Verzweiflung ist mir lieb, sie ist eine gute Freundin. Eine sehr anständige, kulante und hellsichtige Dame ohne jeden falschen Glauben. Sie macht einem nichts vor. Sie ist absolut seriös. Sie sagt, wie es ist, ehrlich und aufrichtig, ohne ausgeborgte Worte. Mit so einer Dame lege ich mich gerne ins Grab. Er sah die alte schwarzgekleidete Frau aufrecht, verstei‐ nert, nach innen sehend, in das vergangene Leben ver‐ sunken, das nun nichts mehr bedeutete. Alle Heldenta‐ ten, alle Verbrechen endgültig vergangen und verjährt, jede Erzählung davon unglaubwürdig, weil nur die Ge‐ genwart zählte, die sich als Gericht über die Vergangen‐ heit einsetzte und urteilte, Schuldsprüche und Freisprü‐ che ausloste, während die alte Frau schwieg. Vergessen die alten Namen der Herkunft, aufgehoben in den end‐ los wiederholten Erzählungen einer langen Wanderung durch die Welt. Vergessen die Geschichten, die einmal das Eigene waren, das einzige, was sie wirklich besaß und die ihr das Leben deuteten. Vergessen ihre Stimme, die ihm alles übertragen hatte, die sich von ihr löste, 334
sich verlor, wie sich nun seine Stimme verlor, in der tiefen Stille derer, die nicht mehr in der Welt waren. Im Sterbezimmer hinter den hellen Milchglasscheiben vorbeitreibende weiche Schatten, dunkle Segel eines unendlichen Schlafs, im Schweigen eines langsam da‐ hinkriechenden Tages, im abnehmenden Licht der ge‐ zählten Stunden, die mühsam die Nacht wie einen schwarzen vereisten Berg erstiegen, auf dem er einmal als ein verendetes Tier lag, zu erschöpft, um sein Leben zu retten. In der Stille das geduldige Erwarten des ersten Morgen‐ grauens, vor langer Zeit in einem Fenster, das auf eine Straße sah und ihm die Menschen zeigte, nun die Erlö‐ sung des letzten Tages nach der letzten Nacht, nach den vielen Tagen und Nächten, die einmal sein Leben waren im explodierenden Todesstrudel der Bomben, im erstickenden Tod des versagenden Atems. Der Heilige Abend nach dem Krieg. Menschen in Kel‐ lerlöchern, eine Decke, eine Kerze, zuschauen, wie sie ausbrannte. Die Reste der Stadt in tiefer Nacht. In der Kälte erstarrte, verhungerte Leichen in Bombentrich‐ tern. Die sich nie mehr verlierende Einsamkeit, in der jeder für immer allein war. Die Sonne über zersplittertem Spiegelglas, das auf der Straße lag. Das für alle Zeit Festgelegte existierte nicht mehr, die Welt setzte sich neu zusammen. Menschen irrten durch ein Leben aus Fragmenten. Träumende 335
Kindheit ohne jede vorgegebene Bedeutung. Stillstand. Nur der Atem war die Zeit. Das leuchtende Karussell vor der neuen Silhouette der Stadt. Hellpoliertes Messing, tiefroter Samt, gemalte Bilder einer schönen Welt, Hochhäuser und Brücken, Berge und Seen, Automobile und Flugzeuge, mit dröh‐ nender Orgelbegleitung sich drehend, sich drehend und doch auf der Stelle stehend. Der Tag ist der Morgen, der auf den Abend folgt. Die Nacht ist der Abend, der auf den Morgen folgt. Der Tag ist der Morgen. Die Nacht ist der Abend. Weiß des Tages. Schwarz der Nacht. Alles löste sich auf in einem einfachen Muster der Vergänglichkeit, alles verschwand unter den steifen Laken der Zeit, so wie man Leichen bedeckt, die ihre Gestalt verlieren. Alles war ausgelöscht, als hätte es nie existiert, die Menschen verloren ihr Gesicht, vergaßen ihre Worte und erwarte‐ ten das Ende. Vor der Tür Schritte, auf dem Gang sich nähernd und entfernend, Stimmen, kaum vernehmbare Worte, un‐ zusammenhängende Sätze. Geschichten ohne Anfang, ohne Ende, der Anfang ging verloren, das Ende war unbekannt. Das Licht erscheint im Dunkel der Nacht, Schatten durchwandern die Welt, ehe die Nacht wieder das Licht verbirgt. Es war das Beständige. Es gab nur das. Alles andere war nur Erfindung des Menschen, um die 336
Spanne zwischen Geburt und Tod, die als vergehende Zeit erschien, durch einen erdachten Sinn zu ertragen. Aber da war kein Sinn, da war nicht mal die Zeit, nur ein vorgegebener Ablauf, Wechsel von Hell und Dun‐ kel. Am Strand eine sterbende Möwe, hilflos sich drehend, das verschmutzte Gefieder noch im Wind, der lautlos aufgerissene Schnabel, der verdrehte Kopf, das Zittern der Flügel; die Krallen strecken sich, die Augen erstar‐ ren, der tote Körper im feuchten Sand. Erstarrte Bewegung. Wiederholte Wiederholung. Still‐ stehende Zeit. Er nahm den festen grauschwarzen Karton, in dem die Fieberkurve steckte, richtete sich auf, schrieb auf der Rückseite der Fieberkurve seine Worte, schrieb seine Worte durch die Nacht bis in den neuen Tag. 337
Das Meer lag in der tiefen Nacht in einem schwe‐ ren ruhigen Atem, in einer Stille wie vor der Geburt, während das herausgestoßene, abbrechende Todes‐ atmen eines Menschen den Tag erwartete, das Licht weit hinter dem Meer, das wie ein jahrtausendealter schwarzer Stein unter den Sternen schlief. Zentaur 2004‐12‐11
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