Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 564 Die Landschaft im Nichts
Auf geheimen Wegen von Hans Kneifel Atlans Vorstoß zum ...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 564 Die Landschaft im Nichts
Auf geheimen Wegen von Hans Kneifel Atlans Vorstoß zum Zentralkegel Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Schiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den August des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL entscheidende Impulse zu positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, hat längst eine Normalisierung des Lebens an Bord stattgefunden. Allerdings sorgen unerwartete Ereignisse immer wieder für Unruhe. So geschieht es auch, als die SOL auf dem Flug nach Ploohnei in ein MiniUniversum verschlagen wird, das die Landschaft im Nichts enthält. Ein geheimnisvoller Kontrahent hat es darauf abgesehen, die Solaner von ihrem Schiff zu locken. Doch der Gegner verrechnet sich – und Atlan unternimmt einen Vorstoß AUF GEHEIMEN WEGEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide dringt in den Zentralkegel ein. Lyta Kunduran und Sanny - Atlans Begleiter. Brooklyn - Wegbereiterin für Atlans Vorstoß. Federspiel - Ein Wächter wird überlistet. Tdibmufs - Er lädt die Solaner ein, Urlaub zu machen. Der Heimatlose - Ein Roboter.
1. Ein erster Impuls, der durch die Hauptverbindungen des riesigen Körpers fuhr, weckte das Geschöpf ENI'AIL auf. Trotzdem verharrte das gigantische Ding unbeweglich. ENI'AIL besaß kein eigenes Bewußtsein. Es war ein Teil von allem. Es war von Befehlen und einer Unzahl feinster Umweltreize abhängig. Abermals huschten unhörbare Befehle durch die gewaltige Konstruktion, die dem schuppigen Körper eines phantastischen, urzeitlichen Tieres oder einer verfaulenden Dschungelpflanze glich. An Hunderten von Tentakelenden öffneten sich sensorische Flecken. Die Impulse hatten das Geschöpf in einen Zustand versetzt, der ENI'AIL auf kommende Ereignisse vorbereitete. Zwischen Felsen und dicht bewachsenen Bezirken des Landes hatten sich die Tentakelenden wie Federn aufgerollt, wie gespannte Spiralen. Nur der Hauptkörper der langen, dicken Schlange war deutlich zu erkennen, die vielfachen Abzweigungen verbargen sich am Abhang des gelben Windes unter Felsen, Sandhügeln, Geröll und wild wuchernden Gewächsen. ENI'AIL rührte sich nicht um einen Millimeter. Es verließ seinen Platz am Hang niemals. Aber in dem Augenblick, da reine Energie in den Körper strömte, verwandelte sich ENI'AIL in eine tödliche Gefahr für jeden, der sich in weitem Umkreis zeigte – am Boden oder in der Luft darüber. Nicht einmal ENI'AIL wußte, daß es und seinesgleichen Roboter waren; seltsam hochempfindliche Wesen zwischen Leben und Maschine, zwischen Fleisch und Konstruktion. Sie waren von einer unbekannten Macht
hergestellt worden, um einen Teil des Schutzgürtels zu bilden. Nur einen kleinen Teil; von anderen Bestandteilen zwischen dem Bauwerk und dem Gipfelgrat wußten die Lianen und die anderen Giganten nichts. ENI'AIL war aktiviert worden. Wenn etwas in seinem Handlungsbereich auftauchte, gleichgültig, was es sein würde, handelte die gigantische Liane mit der ihr eigenen Schnelligkeit und mit tödlicher Konsequenz. Noch war kein Feind zu sehen, kein Gegner zu spüren. Die Liane wartete. Ihre gefährlichen Systeme waren aktiviert worden. Dies bedeutete das sichere Zeichen, daß Geschöpfe auftauchen würden, die es zu zerstören galt.
* Vorlan Brick strich mit der bloßen Hand über sein schwarzes Haar, wandte sich an den Arkoniden und erklärte: »Böse Zungen meinen, wir trieben zu viel Aufwand für diesen rätselhaften Tdibmufs und seine unlogische Landschaft im Nichts. Starten wir?« Atlan machte eine abschwächende Handbewegung und deutete dann in die Richtung der SOL. Aus sämtlichen Luken und Hangarschleusen schoben sich wahre Unmengen von kleinen Raumflugkörpern. Korvetten und Space-Jets bildeten die größte Anzahl der Schiffe, die alle die Landschaft im Nichts zum Ziel hatten, oder »Paradiso nirwana«. Diese Bezeichnungen gaben den wahren Inhalt der selbstgestellten Aufgabe nur undeutlich wider. Wie winzige Wespen ihren gewaltigen Bau umschwirrten die potentiellen Gäste Tdibmufs, die eingeladenen Urlauber, das große Fernraumschiff. »Warte noch, Vorlan«, meinte Sanny. »Wir müssen uns noch mit Solania genau abstimmen.« Die beiden Jets trieben in zwei verschiedenen Pulks langsam auf die riesige Scheibe im leeren Raum zu. Obwohl die Solaner in der
Mehrzahl von der künstlichen Welt und deren Einrichtungen zumindest fasziniert, zum Teil sogar hingerissen waren, unterschätzte niemand die verborgenen Gefahren – von denen bereits einige nachdrücklich in Erscheinung getreten waren. Gegenüber dem einladenden Tdibmufs hatten sich die Verantwortlichen der SOL darauf hinausgeredet, ihre Leute auf den Urlaub vorbereiten zu müssen. Außerdem wären besondere Maßnahmen zu treffen, um das Funktionieren der Schiffseinrichtungen auch während der Abwesenheit von fast der ganzen Mannschaft sicherzustellen. Atlan beugte sich vor und näherte sein Gesicht dem eingebauten Mikrophon. Federspiel und sogar Sanny, die Molaatin, trugen wie alle anderen Mitglieder des kleinen Teams die hervorragend ausgerüsteten Einsatzanzüge. Der Arkonide nickte Solania von Terra zu und musterte ihr Bild auf dem Monitor. »BINGO Eins an BINGO Zwei. Wir verlassen den schützenden Schwarm so spät wie möglich, in Ordnung?« »So und nicht anders plane ich es auch«, antwortete Solania. »Es wird wohl noch einige Zeit dauern.« »Wir haben es nicht eilig«, warf Oserfan ein. »Steht die Verbindung zwischen Federspiel und Bjo?« erkundigte sich Atlan mit einem weiteren Seitenblick auf Federspiel. Schweigend nickte Federspiel. Er sagte nichts. Das Team, das mit zwei Space-Jets zu landen versuchen würde, bestand nur aus zehn Personen. Ein genauer Aktionsplan war längst entwickelt worden. Breiskoll hatte sich ebenso wie Joscan Hellmut entschlossen, die Landschaft im Nichts nicht zu betreten. Dafür saßen sie in der Ortungsabteilung und versuchten, zu kontrollieren, was auf der dünnen Scheibe vor sich ging. Zwar standen die Jets und die Funkzentrale der SOL – noch! – in perfekt funktionierender Verbindung, aber die Unterbrechungen waren in der letzten Zeit viel zu häufig gewesen, als daß es Zufall hätte sein können.
Lyta »Bit« Kunduran nahm deshalb am Einsatz an der Seite Atlans teil, weil zu vermuten war, daß sich im Zentralkegel Positroniken oder ähnliche Einrichtungen befanden. Breckcrown Hayes Stimme dröhnte trocken durch die Lautsprecher. »Viel Glück, BINGO Eins und Zwei!« sagte er. »Paßt gut auf. Das Leben von mehr als hundert Solanern hängt von euch ab.« »Wir bringen alle wieder heil zurück«, versicherte Tralee Sharri, eine junge Frau der Pionierabteilung. »Hoffentlich!« kam es aus der SOL. Atlan und der High Sideryt arbeiteten auch während dieser rätselhaften Unterbrechung der langen Reise eng zusammen. Das Vertrauen zwischen ihnen hatte bisher jedem Angriff von außen standgehalten. Während die SOL langsam um die Sonne Super gekreist oder einen Punkt in der Nähe Supers umflogen hatte, waren die Robotfabriken des Schiffes zu neuer Aktivität angelaufen. Die Mitarbeiter, Programmierer und alle, die sich mit den Anlagen beschäftigten, hatten sich mit grimmigem Eifer an die Arbeit gemacht. Oserfan unterbrach Atlans flüchtige Überlegungen und sagte kurz: »Erste Transmitteraktivitäten. Schaltzeiten erfolgen nach Plan.« Atlan sah die Anzeigen eines winzigen Sichtschirms, nickte zufrieden und antwortete zufrieden: »Sehr schön. Durch den auffallenden Verkehr der Schiffe und die Transmitteremissionen werden wir Tdibmufs hoffentlich gehörig verwirren!« »Davon gehen wir aus!« bekräftigte Hayes aus der SOL. Ebenfalls aus der Zentrale der SOL wurde nach einem vorsichtig kalkulierten Plan der seltsame Gastgeber verständigt. Hayes ging in einzelnen Abschnitten vor. Je länger die bisher deutlich erkennbare Hauptperson dieser verblüffenden kosmischen Rätselwelt im unklaren gelassen wurde, desto sicherer konnten sich die Solaner fühlen. Die ersten Schiffe waren also inzwischen auf der Ebene
gelandet, hatten die mitgeführten Transmitter aufgestellt und aktiviert. Die ersten Hosties gingen durch die Transmitter. Der seltsame Name war für die Gäste Tdibmufs' geprägt worden. Es waren nämlich keine Menschen. Das auffallende Geschehen auf den Ortungsanlagen, über die zweifellos auch Tdibmufs verfügte, dazu die vielen Transmitterschocks, die er ebenso sicher anmessen konnte und würde, sollten ihn verwirren. Etwa dreißigtausend Hosties befanden sich in den Raumschiffen und bewegten sich aus mehreren Transmittern heraus, um sich anscheinend fröhlich, entspannt und nichtsahnend über die paradiesischen Zonen der Landschaft im Nichts auszubreiten. Alle Hosties waren Roboter! Sie waren nach mehr als zwei Dutzend Originalen hergestellt worden. Sie sahen aus wie Solaner! Natürlich, sagten sich Atlan und Hayes, würde diese Täuschung nicht lange wirken. Die etwa hundert echten Solaner, die zwischen den Hosties aus den landenden Schiffen kamen oder die Transmitterschenkel passierten, waren die wirklich handelnden Faktoren dieses schwierigen Einsatzes. Während die Jets und die Korvetten in wirren Flugbahnen, sowohl ihre Positionen als auch die Geschwindigkeiten ständig verändernd, sich auf die einzigartige, künstliche Landschaft der Scheibe zubewegten, hielten sich BINGO I und II jeweils im Zentrum einer besonders dichten Ballung von Flugkörpern. »Je mehr wir uns der ›Landschaft‹ nähern«, sagte Sanny plötzlich, die ununterbrochen die Nebelzone, den Reflex des Zentralkegels über der Ebene und die schroffen Bergspitzen der Formation betrachtet hatte, die von den Solanern Alpenin getauft worden waren, »desto weniger traue ich Tdibmufs.« »Kannst du endlich deine Abneigung begründen?« fragte Vorlan. Er bewegte die Jet inmitten eines kleiner gewordenen Pulks anderer
Schiffe auf jenen Teil der Landschaft zu, die auf der hinteren Seite des Gebirges lag. Also im »Norden«, wie es die Ortung der SOL definiert hatte. Auch viele bereits vorhandene Roboter waren umgestaltet worden. Eine äußere Hülle war aufgebracht worden, eine Täuschung, die ihnen das Aussehen von Menschen verlieh und die unsichtbaren, unbekannten Machthaber der LiN verwirren sollte. Eine wahre Heerschar von angeblich Urlaubssuchenden würde binnen kurzem sich über das Feriengebiet ergießen. »Nein!« antwortete die Molaatin nach einiger Zeit des Nachdenkens. »Ich bin aber sicher, daß Bjo mit seiner Vorsicht recht hat.« Das Vorhaben, das Hayes und Atlan gestartet hatten, war nicht nur gut vorbereitet, sondern entsprach langer und intensiver Überlegung. Ob zu Recht oder nicht, vermuteten die beiden Verantwortlichen einen hinterhältigen Plan, der möglicherweise von Tdibmufs ausgeheckt worden war. Aber ebenso wahrscheinlich war, daß Tdibmufs nur ein Werkzeug war wie beispielsweise die Metallmenschen oder die Libellenmenschen. Für Hayes und Atlan stand fest, daß man die Solaner aus dem Schiff locken wollte. Deshalb dieses großangelegte Täuschungsmanöver. Warum die Besatzung das Schiff verlassen und sich bis auf den letzten Mann in der Landschaft im Nichts verlieren sollte, war für beide Verantwortliche noch unklar. Aber die Falle würde auf diese Weise nicht funktionieren; in kosmischen Verschwörungen und den Versuchen, ihnen elegant auszuweichen, war Atlan ein wahrer Meister. Auch nur deshalb, sagte sein Logiksektor, weil dein Mißtrauen dir keinen anderen Ausweg mehr offen ließ. Atlan nickte schweigend; genau dies traf zu. Die wahren Machthaber hinter dieser illusionären Landschaft waren unbekannt;
offensichtlich schienen sich die Herren von Tdibmufs nicht einig darüber zu sein, mit welchen Mitteln die Solaner von Bord gelockt werden sollten. Von der SOL kam die verschlüsselte Durchsage: »Aktion verläuft bisher nach Plan.« Atlans Ziel war der Zentralkegel. Das seltsame Bauwerk befand sich südlich der höchsten Erhebungen des Alpenin-Gebirges und östlich der Zone im Nebel. Es galt als sicher, daß der Vorstoß schwierig und gefährlich sein würde. Zwischen dem Gebirge und dem Rand der Scheibe, deren glatter Fels im Licht der Sonne an einigen Stellen grelle Reflexe warf, befand sich ein schmaler Streifen Land, innerhalb dessen es keine feststellbaren Siedlungen gab. Es schien sich um wildes, unbewohntes Land zu handeln. Die Fernortung hatte keinerlei Spuren oder Bewegungen feststellen können – aber in diesem Land war Illusion alles, die Realität wandelte sich ständig. »Auch wir gehen nach Plan vor«, bestätigte Atlan halblaut. In langsamem Flug driftete ein Schwarm von Schiffen, der sich in zwei wolkenähnliche Zusammenballungen geteilt hatte, auf die sichelförmige Landfläche zu. Ununterbrochen gingen die Informationen hin und her. Auf den Monitoren der beiden Jets zeichneten sich die aufgenommenen Szenen ab. Kommentare kamen aus den Lautsprechern. Tdibmufs befand sich bei den landenden Schiffen und begrüßte die Solaner. Seine Transportkugel schwebte zwischen den einzelnen Gruppen hin und her. Mit ruhigen Gesten und tiefen Blicken seiner vertrauensvoll blickenden Augen schüttelte er Hände, sprach mit den Ankömmlingen und deutete hierhin und dorthin. Federspiel brummte verdrossen: »Je mehr er sich um die Hosties kümmert, desto weniger bemerkt er uns.« Unter den Strahlen der gelben Sonne funkelten die Bereiche des
ewigen Eises auf den Bergspitzen und den Hängen auf. Die Schiffe schwebten näher heran. Einige Korvetten nahmen Fahrt auf und fegten über die fast fünftausend Meter hohen Berge hinweg. Ein Schwarm Jets schlängelte sich zwischen den Hängen und Schrunden hindurch. »Irgendwo verbirgt sich hier Hidden-X«, meinte Solania von Terra. »Oder zumindest beobachtet es alles.« »Nicht unwahrscheinlich, deine Ansicht«, stimmte Acarra Vy zu. Der stämmige Mann saß vor den Ortungsschirmen der BINGO II und versuchte, Einzelheiten des vor ihnen liegenden Gebietes zu erkennen und präzise herauszuvergrößern. Plötzlich wurde eine wichtige Passage aus einer Unterhaltung zwischen Tdibmufs und einer kleinen Gruppe Hosties wiederholt und in größerer Lautstärke wiedergegeben. »… willkommen. Ich hoffe, daß auch die letzten Kameraden von Bord kommen werden«, sagte der Gastgeber. Ein Solaner, offensichtlich kein Roboter, antwortete in überaus herzlichem Tonfall: »Sie werden kommen. Aber du mußt verstehen, daß es seine Zeit braucht, um das riesige Schiff entsprechend vorzubereiten.« »Ich verstehe. Wie lange werden sie dazu benötigen?« Die Antwort klang vage, aber der Mann war ein guter Schauspieler. »Wir rechnen, daß die letzten Besatzungsmitglieder in etwas mehr als zwei Tagen endlich auch Urlaub wie wir machen können.« »So lange braucht ihr?« Trotz der Tatsache, die ihn nicht erfreute, verlor Tdibmufs nichts von seiner würdevollen Herzlichkeit. »Wir schaffen es nicht in kürzerer Zeit. Nicht wahr?« Der Solaner wandte sich an die Umstehenden. Sie nickten und erwiderten reichlich abgelenkt und zerstreut, daß es sich genau so verhielte. »Es ist wohl nicht zu ändern. Wenn ich euch einlade, dann möchte
ich nicht, daß andere griesgrämig abseits stehen müssen«, erklärte der grauhaarige Mann in der zerschlissenen Bordkombination. »Breitet euch aus! Nehmt Besitz von diesem herrlichen Land unter der gelben Sonne.« »Mit Vergnügen!« Atlan schob den Lautstärkeregler zurück, als er auf dem Bildschirm sah, wie die Hosties wartende Transportmittel bestiegen und davonfuhren. Grimmig sagte er: »Sie wollen unbedingt, daß sich die SOL bis auf den letzten Mann leert. Welch eine edle Absicht!« »Und ein durchsichtiges Vorhaben. Wer immer in die SOL eindringen will, er will keine Wachen und keine Verteidiger. Sie scheinen nicht in sein Konzept zu passen.« Cobus Arutunian lachte sarkastisch. Er kauerte neben Acarra vor der Ortung und sah zu, wie Solania die Jet geschickt dicht über dem Boden in einigermaßen schnellem Flug steuerte. Hin und wieder folgte der Diskus den Formen eines steilen, eisverkrusteten Hanges, der im Sonnenlicht grell aufstrahlte. Über ihnen bewegten sich die größeren Schiffe auf die große Ebene zu. »Irgendwann wird es zum großen Knall kommen«, sagte Vorlan. »Dann sind auch hoffentlich Collinia Brackfaust und ihre Leute gefunden und in Sicherheit gebracht worden«, murrte Atlan. »So groß ist Paradiso nirwana auch wieder nicht.« Einige Minuten vergingen, ohne daß zwischen BINGO I und II Kommandos gewechselt wurden. Dann sagte Solania plötzlich: »Ein fabelhafter Landeplatz. Ich gehe hinunter, Atlan. Dort, schräg rechts, die eisverhangenen Felsrücken.« Atlan blickte hinüber und erkannte, was sie meinte. Sofort gab er zurück: »Ausgezeichnet. Ich suche einen ähnlichen Platz.« Die beiden Jets hatten die letzten Gipfelgrate überflogen. Jetzt steuerte BINGO II auf eine überhängende Felsenmasse zu, die eine
Art unregelmäßigen Tunnel bildete. Gigantische Eiszapfen und breite, blasige Vorhänge aus gefrorenem Wasser hingen in dicken Schichten über dem Stein und schufen eine Höhle, aus der leicht zu entkommen war. Ein paar Schüsse mit den Hitzestrahlern konnten in kurzer Zeit einen großen Teil der Eismassen schmelzen. Vorsichtig und langsam steuerte Solania die Jet durch ein Stück phantastische Landschaft. Das Sonnenlicht wurde von den kantigen, runden und wachsartig verlaufenden Eisschichten vielfach gefiltert und in vielen Spektren gebrochen. Dann fuhren die Landestützen aus, und am Rand eines schrägen, weit nach unten ziehenden Hanges sank die BINGO II auf das massive Eis herunter. Direkt vor der Schnittkante der beiden Diskusschalen begann der Hang, nur getrennt von einem welligen Vorhang aus vielfarbig flimmerndem Eis. Von diesem Punkt hatten die Insassen des Diskus einen fast ungehinderten Blick über die gesamte Ebene, den riesigen Nebel und die beiden Ausläufer des Alpeningebirges. Und fast direkt vor ihnen, nicht weit entfernt von der absoluten Mitte der Landschaft im Nichts, stand der Zentralkegel. »Ich habe ebenfalls einen hervorragend getarnten Landeplatz entdeckt«, meldete sich kurz darauf der Arkonide. BINGO I wurde zwischen einem kleinen Wald aus bizarren Felsnadeln hindurchgesteuert. Die letzten Flugkörper schwebten über das Gebirge, blinkten mit ihren Scheinwerfern und nahmen Kurs auf die Treffpunkte, von denen bereits einige leere Raumschiffe starteten. Die Jets des Einsatzkommandos waren allein. Über den Felsen, die wie die Stacheln eines aufgeregten Igels nach allen Seiten aus dem Boden wuchsen, hatten sich Brücken und Bögen aus milchigem Eis gebildet. Immer wieder staubten Schauer von Bruchstücken herunter und klirrten auf das Metall der Flugkörper. Unter einem fast waagrecht schwebenden Felsen, der einer dreieckigen Zunge glich und ebenfalls von gewaltigen
Eismassen bedeckt war, stellte Atlan den Diskus ab. Unmittelbar vor den Landestützen fing eine riesige Halde an, die sich wie das Bett eines geschmolzenen Gletschers oder die Spur einer Lawine aus feinem Geröll bis tief zu den bewachsenen Hügeln am Fuß der Bergriesen erstreckte. Von links trieb ein nicht zu heftiger Wind eine gelbe, dünne Wolke den Hang abwärts und auf den Zentralkegel zu. Das Bauwerk sah, mit den Linsen der Ortung betrachtet, von hier aus sehr klein und unbedeutend aus. Die Wolke wirkte wie ein gefärbter Nebel, der mit biegsamen Fingern oder Krakenarmen von den Klippen des Alpenin hinunter in die Ebene schwebte. »Es ist«, sagte Atlan trocken, »kein großer Unterschied zwischen dem, was wir uns in unseren Überlegungen vorgestellt und dem, was wir hier vorgefunden haben. Es wird wohl auch weiterhin so bleiben.« »Deswegen die achtundzwanzigtausend falschen und die hundert richtigen Urlauber!« bekräftigte Bit Kunduran. »Wie lange wollen wir uns hier verstecken?« »Wir brechen in Kürze auf!« sagte der Arkonide. Niemand an Bord konnte in Wirklichkeit ahnen, ob sich die Machthaber hinter der Landschaft im Nichts, der rätselhafte Chef von Tdibmufs (oder war er vielleicht selbst sein eigener Vorgesetzter?), möglicherweise sogar Hidden-X, einig über ihre Absichten und über die Methoden waren. Die Absicht war ohne jeden Zweifel, die Solaner restlos von Bord zu locken und hier in eine subtile Form der Gefangenschaft zu überführen. Übertriebene Gastfreundschaft an einem Ende der Skala, bösartige Attacken auf dem anderen. Mit den Angriffen wollte der Geheimnisvolle offensichtlich die Solaner dazu zwingen, schon allein aus Erschöpfung sich nur noch an den Gedanken an Urlaub zu klammern. Zudem rechnete »man« nicht ohne Grund mit dem Hunger der Solaner nach Erlebnissen und Abenteuern, die außerhalb der Erlebnissphäre im Innern eines
Raumschiffes lagen. Ein recht originelles Spiel mit gefährlichem, vielleicht tödlichem Hintergrund, flüsterte das Extrahirn. Atlan und die Schiffsführung sahen als Quintessenz aller dieser und zahlreicher anderer Überlegungen in diesen Versuchen nur Zweifel und Widerspruch. Und hinter allem vermutete Atlan ein Stück des Geheimnisses, das mit der gewaltigen Menge verschwundenen Nickels und mit Hidden-X verbunden war. Er stand auf und deutete auf Sanny. »Wir werden dich tragen. Federspiel, Lyta und ich versuchen so schnell wie möglich, den Kegel zu erreichen.« »Wann brechen wir auf?« stellte sie abermals die Frage. Sie kannte wie jeder des Kommandounternehmens die einzelnen Stufen des Einsatzes. »Wenn uns Solania das Zeichen gibt!« Atlan ging ans Pult, schaltete die Verbindung zwischen den Jets und sah, daß auch in BINGO II versucht wurde, das Gelände genau einzusehen und einzelne Punkte festzulegen, an denen Atlans Vorstoß sicherer und schneller gemacht werden konnte. »Solania?« fragte Atlan. »Zehn Minuten. Dann riskieren wir den Vorstoß.« »Verstanden.« »Und du, Vorlan, bleibst unsere letzte Chance, wenn alles schiefgeht. Ich denke, es wird nicht ganz leicht werden.« »Das habe ich von Anfang an einkalkuliert«, schloß Vorlan.
2. Mit dem Namen Brooklyn schien Solania von Terra auch einen Teil ihres bisherigen Verhaltens abgelegt oder geändert zu haben. Sie wirkte, als sie hinter dem Sessel des Piloten stehenblieb und
sich mit allen Fingern durch das graue Haar fuhr, tüchtig, kühl und entschlossen. Sie strahlte Atlan auf dem Bildschirm an und hob auffordernd den Daumen in die Höhe. »Wir sind startbereit!« »Ihr müßt uns jeden einzelnen Einsatzpunkt optisch genau schildern. Ein kurzer gesprochener Kommentar wäre nicht weniger wichtig.« »Keine Sorge. Wir übermitteln soviel Informationen wie möglich.« Die Jet BINGO II startete. Die Leistung der Maschinen wurde hochgefahren. Der Diskus hob sich um zwei Meter, bis die durchsichtige Kuppel fast die Stalaktiten aus Eis berührte. Dann drehte der Flugkörper vorsichtig um hundertachtzig Grad. Die Landebeine wurden mit leisem Fauchen eingezogen, die Landeteller verschwanden in Vertiefungen der unteren Schale. Der Pilot bugsierte die Jet aus der Höhle heraus, flog einen Haken und startete zum Flug über die vielen Hänge hinunter zur Ebene. Bis zum Zentralkegel betrug die Entfernung mehr als zweihundert Kilometer. »Paß gut auf, Atlan!« flüsterte Solania eindringlich ins Mikrophon. Zwischen Eisplatten, Felsentrümmern aller Farben und in jeder Größe und Form und ausgehöhlten Gesteinsformationen schob sich der Diskus hangabwärts. Sämtliche Linsen und Instrumente waren auf den ersten Abwurfort gerichtet und übertrugen die Bilder in die Systeme von BINGO I. Die Pause des vorsichtigen Abwartens und des Versteckens war vorbei. Der Pilot jagte die Jet dicht über dem Chaos der Formationen aus Eis und Gestein abwärts. Zunächst geschah absolut nichts. Die Solaner waren fast enttäuscht, denn sie rechneten stark mit irgendeiner Form der Gegenwehr. Die Rückseite und Teile des höchsten Grates des Alpenin schienen, vom Zentralkegel aus gesehen, tatsächlich nicht unter Beobachtung zu stehen. Längst waren alle Beiboote der SOL gelandet. Die meisten von
ihnen waren bereits wieder gestartet und auf dem Rückflug in das Fernraumschiff. Unaufhörlich spien die Transmitter Scharen und Gruppen von Hosties aus. An anderen Stellen der Landschaft im Nichts herrschte scheinbar fröhlicher Wirrwarr, nur von Nichtfachleuten als »Urlauberverkehr« zu identifizieren. Noch hatte der Gegner nicht reagiert. Seine Verteidigungsanlagen, von denen sicherlich achtundneunzig Prozent unbekannt waren, reagierten auch zehn Minuten nach dem Start der ersten Jet noch immer nicht. Die BINGO II wurde im Zickzack, stets etwa ein Dutzend Meter über dem Boden des abschüssigen Geländes, auf ein kleines Plateau zugesteuert. Dort färbte Bewuchs aus verschiedenfarbigem Moos die netzartig auseinanderfließenden Spalten. Der erste Abwurfort war nicht ganz zweieinhalbtausend Meter vom ersten Versteck der BINGO II entfernt und lag rund hundertfünfzig Meter tiefer. Hier zeigten sich erste Spuren von pflanzlichem Leben. Man sah aber weder Tiere, die vor dem runden Schatten flüchteten, noch andere Bewegungen. Solania fragte kurz und auffordernd: »Cobos! Acarra! Seid ihr fertig?« »Bereit zum Abwurf, Solania.« In gefährlich schnellem Flug jagte die Jet auf den anvisierten Punkt zu und hielt nach einem riskanten Bremsmanöver schwebend an. Am Rand der Bodenschleuse, die bereits weit geöffnet war, tauchten die beiden Raumfahrer auf. Sie kippten einen länglichen, kastenförmigen Gegenstand aus der Schleuse. Er hing, perfekt ausbalanciert, an einem dünnen Tau. Der metallene Kasten schwebte schnell die wenigen Meter abwärts. Er war etwa mannslang und an den Kanten und Eckpunkten metallverstärkt. Als das Gerät den eisbedeckten Boden berührte und sich eine Kante in einem Spalt festkeilte, löste sich der automatische Haken. Die Jet startete, als Vy und Arutunian noch das Tau einholten. Solania rief über Funk: »Du kannst aufbrechen, Atlan. Das erste Gerät ist abgesetzt worden.«
»Verstanden«, erwiderte der Arkonide. »Danke. Weiter so.« Selbstverständlich wurden sowohl die Funksprüche als auch die Impulse der optischen Übermittlung seit Anfang der großangelegten Aktion verschlüsselt und in den Empfängern erst dekodiert. Bisher gab es für die Solaner keinen einzigen Hinweis dafür, daß die ständig wechselnden Kodierungen von den versteckten Herrschern des Paradiso nirwana entschlüsselt worden waren. Die BINGO II schlug einen weiteren Zickzackkurs ein und überwand in blitzschnellem Risikoflug einen großen Bereich zwischen den einzelnen Bergen und Gipfeln. Schatten packten den Diskus, hüllten ihn sekundenlang ein und gaben ihn wieder frei. Im grellen Sonnenlicht funkelte das kleine Raumschiff auf, kippte nach rechts und nach links und wich vor jedem Hindernis zur Seite aus. Solania ahnte, daß sich die Freunde von Tdibmufs wehren würden, sobald das Gefährt sich aus dem Schutz der Felsen hinausgewagt haben würde. Der zweite Abwurfpunkt, der vom Versteck aus anvisiert worden war, tauchte in etwa dreißig Kilometern Entfernung auf. Er schälte sich aus einer flachen, zwischen den Zacken schwebenden gelben Nebelwolke. »Ihr habt gute Bilder, BINGO Eins?« fragte Solania erregt. »Tadellose Arbeit – bisher!« knurrte Atlan und sah zu, wie sich die Mitglieder der kleinen Crew zum Ausstieg fertigmachten. Die fünf Insassen von BINGO Eins merkten sich, so gut sie es vermochten, jeden Quadratmeter des Geländes um die einzelnen Punke. Der zweite Halt erfolgte schnell und mit großer Sicherheit. Es war ein riesiger Steinhaufen inmitten eines steilen Geländeabschnitts. Der Boden des Einschnitts war voller weißer, runder Kiesel in allen denkbaren Größen. Die Gegend wirkte, als sei sie irgendwann entstanden, als die Gletscher der Berge Jahrzehnttausende lang ununterbrochen wütende Gießbäche zu Tal schickten. Einige Dutzende versteinerter Baumstämme lagen kreuz
und quer im Bachbett der Klamm. Die Jet blieb nur wenige Sekunden in der Luft stehen – Zeit genug, um einen zweiten Kasten herunterzulassen und am Rand der Steinplatte waagrecht zu deponieren. Die Kupplung des Hakens schnappte. In der Lautlosigkeit zwischen den steinübersäten Hängen wirkte das Geräusch wie eine kleine Detonation. Das Seil wurde in rasender Schnelligkeit eingeholt. Eine einfache Zeitschaltung begann im Innern des länglichen Kastens zu ticken, während sich das summende Geräusch der abfliegenden Scheibe entfernte und nur noch leise zwischen den Wänden der wasserlosen Klamm widerhallte. Dann war die Jet verschwunden. Dreißig Sekunden tickten langsam; dann ertönte im Innern des Kastens ein Summen, eine Serie knackender Geräusche, und das technische Gerät faltete sich nach vier Seiten auseinander. Ein helles, fast jenseits der menschlichen Hörschwelle arbeitendes Summen fing an. Zwei Seitenwände verwandelten sich in Arme aus stumpfem Metall, die sich mit federnden Andrucktellern auf den Stein preßten. Zwei Rohre schoben sich heraus, deren Endglieder sich in den Stein krallten. Dann balancierte sich der Mittelteil, der gleichzeitig geringfügig angehoben wurde, in der Waagrechten aus. Die Außenflächen des Kastens schoben sich zu einer Art primitiver Plattform zusammen. Es waren einfache Mechaniken, die hier arbeiteten; robuste Schaltungen und ebenso zweidimensionale Aktionen ergänzten sich sinnvoll. Zwei Klappen zogen sich knirschend zurück. Dann erschienen mit einem puffendkrachenden Laut zwei Energiesäulen, die sich nach etwa zwei Metern Höhe krümmten und sich an den Schnittpunkten der Linien trafen. Der Abstand zwischen den flimmernden Energiesäulen betrug mehr als eineinhalb Meter. Ein Transmitter hatte sich aktiviert. Er stand anscheinend völlig unmotiviert in einer eisklirrenden
Landschaft, die so aussah, als habe sie seit Jahrtausenden kein Leben gesehen. Über das feine, sirrende Geräusch lagerte sich plötzlich ein ganz anderer Laut. Er schwoll an, nahm ab, wurde lauer und leiser, raste die halbe Tonleiter hinauf und herunter und verwandelte sich im Laufe von einer Minute in ein Heulen, Jaulen und Winseln. In der Luft erschienen riesige weiße, federartige Kristalle, die von einem Luftsog weggerissen wurden, der durch den V-förmigen Einschnitt der Klamm fauchte, seine Geschwindigkeit vergrößerte und zusehends an Energie gewann. Binnen kurzer Zeit tobte aus dem hangabwärts gelegenen Schlund der Klamm ein orkanartiger Schneesturm. Seine Wucht und die Wut, die sich in dem ununterbrochen lauter werdenden Ächzen und Heulen offenbarte, nahmen in beängstigender Schnelligkeit zu. Der erste Sturmstoß packte die Jet, als sie im Messerflug zwischen einer Reihe von Steinkegeln hindurchraste. Der Pilot hatte den Angreifer, der von hinten und von unten kam, nicht bemerkt. Das Heulen und Wimmern wurde im Innern der BINGO II von den Geräuschen des Antriebs überdeckt. Die Wut der Elemente faßte den Diskus, riß ihn aus der eingeschlagenen Flugbahn und wirbelte ihn hundert Meter aufwärts und nach links. Der kontrollierte Flug ging in ein hilfloses Taumeln über. Oserfan wußte jetzt, daß sich die Landschaft im Nichts zu wehren versuchte. Überließ er die Jet dem Verteidiger, würde sie abstürzen. Versuchte er, den Diskus in eine Luftschicht zu bringen, in der jener Schneesturm keine Gefahr mehr war, würde BINGO II mühelos geortet werden – die Mission wäre ab diesem Zeitpunkt mehr als nur gefährdet. Also wich er nach vorn aus, in die direkte Richtung auf den dritten Zielpunkt zu. Der Schneesturm schien eine bestimmte Form eigener
Intelligenz zu entwickeln, drehte sich und begann sich nach rechts zu schrauben, verwandelte sich in einen Hurrikan, der mit mehreren trichterförmigen Ausläufern nach dem Diskus griff, ihn schüttelte und aus der Luft zu reißen drohte. Solania schrie überrascht und zutiefst erschrocken: »Alle Kraft auf die Maschinen!« »Schon geschehen«, ächzte Oserfan und schob die Fahrthebel bis zum Anschlag nach vorn. Vor wenigen Sekunden noch hatten sie das nächste Ziel undeutlich sehen können; jetzt befanden sie sich im Zentrum eines weißen, glitzernden Infernos, das sämtliche Ortungsanlagen vorübergehend lahmgelegt hatte. Akustische und optische Warnsignale blinkten auf den Pulten und tobten sich geräuschvoll in der Steuerkanzel der Jet aus. Der Pilot, an dessen Sessellehne sich Solania klammerte, zog den Diskus schräg hoch und versuchte sich zu erinnern, ob in der Flugbahn Hindernisse aus Eis oder Felsen gewesen waren. Atlan hörte, wie Sharri rief: »Wir sind völlig blind … wohin fliegen wir …?« Wie ein Geschoß, über zwei Achsen kippend und in rasender Geschwindigkeit, befreite sich die Jet plötzlich aus den Fängen des Schneesturms. Sie erschien wie eine wirbelnde Scheibe im hellen Sonnenlicht, hoch über dem Schneesturm und deutlich sichtbar für jede Art Ortungssystem. »Verdammt!« schrie Solania. »Hinunter! Wir müssen den dritten Transmitter absetzen!« Der nächste Punkt befand sich etwa siebzig Kilometer direkter Linie vom Zentralkegel entfernt. Es war – wenigstens hatten dies die holografischen Aufnahmen der SOL-Ortung so und nicht anders gezeigt – eine runde, sandige Ebene voller kleinwüchsiger, exotischer Bäume, die entfernt an eine surrealistische Sahara-Oase erinnerte. Irgendwo dort unten lag sie, hinter einigen fahlgelben Wolken verborgen. Die Besatzung von BINGO II blickte sich kurz um.
Hinter sich, zwischen den kantigen Blöcken der letzten Felsen, sahen sie die rasenden Wirbel des Schneesturms. Er hatte sich in viele Krakenarme aus makellosem Weiß verwandelt, die durch die Luft tasteten und das entflohene Opfer zu suchen schienen. Aus den Lautsprechern der Interkomanlage dröhnten die Worte: »Hier Atlan. Wir empfangen klar die FunktionsbereitschaftsSignale des zweiten Transmitters.« Der erste Kleinsttransmitter würde von Atlans Kommandoeinheit selbst aktiviert werden. So war es ausgemacht. »Verstanden. Wir hatten vorübergehend Schwierigkeiten«, murmelte Solania erschöpft. »Wir machen weiter.« Die Jet wich zunächst nach rechts aus, ging tiefer und versuchte, wieder ihren geringen Abstand zum Boden herzustellen. Die eigentliche Gebirgsregion war verlassen. Jetzt lagen vor den Eindringlingen große Hügel mit gerundeten Taleinschnitten. Aus den Farben des Felsens und des Eises war ein schütteres, herbstliches Grün geworden. Einzelne Büsche und Sträucher tauchten auf. Zwischen den Hügeln lagen seltsame Dinge. Es konnten Lebewesen sein, die sich zu verbergen versuchten. Oder lavaähnliches, in merkwürdigen Formen erstarrtes Gestein. BINGO II huschte über die Hügel hinweg. Noch bevor der Diskus sich den ersten, schwarzen Dingen näherte, bewegten sich diese halb versteckten Lebewesen – oder was sonst sie tatsächlich darstellten. Sie wölbten ihre Körper hoch, zogen lange, dreieckige Gliedmaßen an sich und richteten sich auf. Noch erkannten die Insassen der Jet die drohende Gefahr nicht. Es waren etwa zwei Dutzend dieser Körper, die größer wurden, je mehr man von ihnen sah. Flügel streckten sich, die Vogelkörper standen plötzlich auf riesigen Beinen, und Hälse und Köpfe hoben sich aus dem Gestrüpp und den Büschen hervor. Plötzlich standen rund fünfundzwanzig Tiere da, reckten die Geierköpfe hin und her und richteten wie auf ein Kommando den Blick auf die heranrasende Jet.
Fast gleichzeitig falteten sich die großen, kantigen Schwingen auseinander. Die Flügel schüttelten sich hart und schnell. Die Lebewesen, eine Mischung aus Vögel und Saurier, legendären Drachen nicht unähnlich, duckten sich tief in die Täler hinein und ließen ihre Blicke nicht von der näherkommenden Jet. Dann sprangen sie in die Höhe und gewannen hüpfend und mit vorgestreckten Hälsen Raum. Binnen Sekunden schwebten sie schräg aufwärts. Sie beschrieben wirre Bahnen, und ihre Bewegungen wurden schneller und sicherer. Es war, als habe ein langer tiefer Schlaf sie überraschend freigegeben. »Verdammt!« rief Tralee erschrocken. »Eine neue Teufelei der Landschaft im Nichts.« Vor der Kanzel der Jet bildeten die riesigen Tiere – ihre Flügelspannweite war kaum geringer als vierzig Meter – einen großen, halbrunden Bogen. Sie hatten inzwischen eine Höhe von rund hundert Metern erreicht und schienen sich auf den Eindringling stürzen zu wollen. Ihre riesigen Klauen und die Hakenschnäbel waren nach vorn gereckt; die Köpfe wirkten so angriffslustig wie die eines wütenden Falken von gigantischen Ausmaßen. »Cobos!« sagte Solania nach einem kurzen Blick auf die neue Gefahr. »Ans Geschütz! Sofort!« »Schon begriffen!« war die Antwort. Mit wenigen Schritten wechselte Arutunian hinüber in den Feuerleitstand des Hochenergiestrahlers. Klickend bewegten sich Schalter. Die Jet wurde schneller, raste geradeaus weiter. »Wenn ihr mich fragt«, stieß Oserfan hervor, »dann sind dies irgendwelche Kunstgeschöpfe. Irgendwelche Roboter von Paradiso.« »Kann sein. Aber gefährlich sind sie trotzdem!« gab Solania zurück. »Wir versuchen auszuweichen. Wenn es nicht mehr geht, wehren wir uns. Klar?«
»Einverstanden!« Der Diskus flog Ausweichmanöver sowohl nach rechts und links als auch nach unten. Entscheidend war für Solania, daß sie möglichst schnell die kleine Lichtung erreichten. Die Drachenvögel waren alles andere als langsam oder gar ungeschickt. Sie näherten sich schnell von drei Seiten. Die ersten beiden Zusammenstöße vermied der Pilot mit schnellen, geschickten Manövern ohne große Schwierigkeiten. Kurz bevor der dritte Vogel seine schimmernden Krallen und den riesenhaften Schnabel in die Außenhülle der Jet rammen konnte, flammte der Strahl des kleinen Geschützes auf. Der aufgerissene Schnabel sah aus wie eine große, spitze Zange. Die Augen leuchteten eisblau und besaßen keine beweglichen Lider. Die Schwingen schienen die Jet förmlich umarmen zu wollen; sie dunkelten die Zone unterhalb der Kuppel fast völlig ab. Der grelle Strahl fraß sich durch das pechschwarze Gefieder. Er verschwand im Innern des Riesentiers. Gleichzeitig ließ der Pilot den Diskus durchsacken, um dem Zusammenprall zu entgehen. Aus dem Innern des Drachens stießen Stichflammen nach allen Seiten. Dann detonierte der riesige Körper in einem grellen Blitz. Glühende Bruchstücke wirbelten nach allen Seiten, lange Rauchfahnen hinter sich herziehend. Ein gezacktes Stück Metall prallte klirrend gegen die Außenhaut des Raumschiffs. »Es wird spannend, Freunde. Das Paradies schlägt zurück.« Solania duckte sich instinktiv, als der nächste Riesenvogel heranraste. Er kam im Sturzflug von schräg oben. Die Jet wich auf einem Fluchtkurs aus und näherte sich dabei wieder um einige Kilometer dem nächsten Zielpunkt. Der Umstand, daß die Schutzschirme nicht aufgebaut worden waren, hatte einen wohlüberlegten Grund: die Energieemissionen der Projektoren waren für die Bewohner der »Landschaft« mühelos zu orten. »Wir können uns wehren«, brummte Acarra. Dicht hinter dem Diskus krachten in rasendem Flug zwei Drachenvögel zusammen. Ihre Schwingen und Krallen verhakten
sich ineinander. Beide Riesenkörper trudelten in senkrechten Spiralen zu Boden und lösten sich erst dicht über einem buschbestandenen Hügel voneinander. Der nächste Robotgigant, der sich von hinten auf die Jet stürzte, wurde durch einen hervorragend gezielten Schuß Arutunians vernichtet und brach in einem Hagel aus weißglühenden Trümmern auseinander. »Jedenfalls ist jetzt unser Inkognito zum Teufel«, bemerkte Solania höchst undamenhaft. Der Pilot der Jet manövrierte meisterhaft. Der Flugkörper war aus zwei Gründen den Riesenvögeln überlegen. Sie entwickelten keine so große Geschwindigkeit, und durch ihre große Anzahl waren sie sich gegenseitig im Wege. In komplizierten Manövern entkam der Diskus den Drachenvögeln und raste, schon wieder geradezu herausfordernd dicht über dem Boden, dem Ziel entgegen. »Bisher waren die Abwehrmechanismen robotischer oder energetischer Natur«, überlegte Tralee laut. »Was ist, wenn wir lebenden Wesen gegenüberstehen?« »Das halte ich zwar für nicht ausgeschlossen«, antwortete Solania und sah zu, wie Cobos einen Vogeldrachen abschoß, der sich mit angewinkelten Schwingen auf die durchsichtige Kuppel fallen lassen wollte, »aber für kaum wahrscheinlich. Alle Berichte, die wir kennen, sprechen von Robotern und Androiden.« Die Vögel blieben zurück, aber sie versuchten, die Jet einzuholen. Zwischen den auslaufenden Hügeln und dem kleinen Stück der ebenen Landschaft schien der Boden zu kochen und zu brodeln. Zwischen den Büschen, den Rankengewächsen und den kleinen Bäumen hob sich das Erdreich und löste sich in unzählige kleine Staubwirbel auf. Ein Windstoß kam von rechts und ließ die dahinschießende Jet erzittern. Hinter dem Diskus wirbelte und riß der Luftsog eine gewaltige Wolke aus Staub und trockenem Erdreich in die Höhe. Diese Staubmassen verbanden sich mit den überall aufsteigenden Massen. Innerhalb einer halben Minute hatte sich die freie Sicht verdunkelt; sofort zog der Pilot die Jet hoch und
versuchte, den Staubwirbeln zu entkommen. »Die nächste Schikane!« bemerkte Solania trocken. »Ausweichen! Sie wollen uns daran hindern, in gerader Linie auf den Zentralkegel zuzufliegen. Begriffen?« »Selbstverständlich.« Atlan meldete sich über Sichtfunk und fragte besorgt: »Ihr seid offensichtlich in ernsthaften Schwierigkeiten. Oder sehe ich das falsch?« Sofort antwortete Solania: »Verglichen mit dem, was wir bisher an Bord der SOL erleben durften, ist das geradezu ein netter Ausflug. Keine Sorge, Atlan – wir kommen durch und werfen auch den letzten Transmitter in unmittelbarer Nähe des Kegels ab.« Nicht ganz überzeugt gab der Arkonide zurück: »Das wäre zweckmäßig. Wir verlassen gerade die Jet und riskieren den Abstieg zum ersten Gerät.« »Nicht zu hastig! Ich weiß nicht, wann wir am Ziel sein werden.« Die Abhänge, über die der gelbe Wind strich, waren jetzt nicht mehr sichtbar. Vom Gebirge kommend, baute sich eine riesige Staubwalze auf. Der Wind drängte von rückwärts heran, kippte in großer Höhe wie eine Brandungswelle um und griff nach der Jet. Nur geradeaus gab es noch einige Löcher in der riesigen Wolke. Gerade noch konnte man mit bloßem Auge und auf den Schirmen der optischen Ortung das Ziel erkennen. Die Jet setzte ihre Geschwindigkeit abermals herauf und jagte aus dem Zentrum des Sandsturms hinaus. Aber unter ihr hoben sich die rötlich gelben Staubschichten und zwangen den Piloten, ihnen auszuweichen und in größerer Höhe zu fliegen. Über dem Wellenkamm der Sandfront erschienen wieder die dunklen Körper der Drachenvögel und kamen beängstigend schnell näher. Diesmal wartete Cobos keinen Befehl mehr ab, drehte das Geschütz in die Richtung der Verfolger und zielte besonders sorgfältig. Die Zielverfolgung arbeitete fast vollautomatisch, und
mit fünf Schüssen aus dem Projektor vernichtete Cobos drei der riesigen Kreaturen. Die grellen Feuerbälle der Detonationen ließen den Sand aufleuchten und verwandelten ihn teilweise in brennendes Gas. Kurz darauf schrien die Lautsprecher: »Achtung! Klar für den Abwurf des nächsten Geräts!« Die Raumfahrer sprangen in den Abwärts-Antigravschacht und hoben den dritten Kleintransmitter in die Abwurfposition. Die Jet vollführte ein unglaublich riskantes Manöver, stürzte sich aus großer Höhe schräg auf die kleine Lichtung herunter, wurde hart abgebremst und über einer Gruppe aus Felsen und schattenwerfenden Bäumen angehalten. Die Triebwerke der Jet stemmten sich gegen die wütenden Stöße des gesteuerten Sandsturms. Der Transmitter glitt nach unten, setzte auf und wurde ausgeklinkt. »Fertig!« Als der Diskus wieder steil hochgezogen wurde, sahen die Raumfahrer gerade noch, wie der Mechanismus die ersten Klappen bewegte. Hustend zogen sie sich von der offenen Schleuse zurück, rieben den Staub aus den Augen und schwebten hinauf in die Kanzel. Bisher war das Vorhaben einigermaßen reibungslos geglückt, aber die Gefahren waren noch lange nicht vorbei Sie schienen sich zu steigern, je näher die Solaner dem Zentralkegel kamen. Undeutlich waren durch die Staubmassen die Körper und die Schwingen der großen Robotvögel zu erkennen, die noch immer die Jet verfolgten. Aber auch diese Giganten hatten Schwierigkeiten, ihren Gegner im Sandsturm klar zu erkennen. Zweimal feuerte der Projektor, und zwei Verfolger lösten sich auf. »Weiter hochziehen!« ordnete Solania umsichtig an. Der Diskus versuchte, nicht nur dem Einfluß des Sturmes, sondern auch den Verfolgern zu entkommen. Rund um die Kanzel wurde es allmählich heller; ein Zeichen, daß die Konzentration des gelben Staubes in der rasenden Luft abgenommen hatte.
Der vorletzte Abwurfpunkt befand sich rund vierzigtausend Meter, mehr oder weniger in gerader Linie, zwischen dem Kegel und der kleinen Lichtung. Für die Insassen von BINGO II bot sich eine Stelle an, die von großen, dunkelgrün belaubten Bäumen umsäumt war. Ein Stück Natur der Landschaft im Nichts, in der keinerlei Besiedlung und größere Bewegungen festgestellt worden waren. Wieder versuchte Solania einen Anflug, der aus großer Höhe zum Zielpunkt hinunterführte. Der Sandsturm und die Riesenvögel waren dicht hinter dem Diskus, und zwischen den Rändern der Waldzonen und den ersten Ausläufern bewegten sich die ersten Riesengewächse, die wie monströse Schlangen zwischen trockenem Laub, Büschen, Felsen und festgebackenem Erdreich lagen. Die schwarzen Lianen erwachten.
3. Lyta »Bit« Kunduran schloß die Kapuze des Einsatzanzugs; zwischen den Eisplatten und den Felsen herrschte barbarische Kälte. Sie wurde durch einen fauchenden Wind, der über die Grate des Gebirges strich, noch schärfer und beißender. Mit klammen Lippen sagte Bit: »Ab jetzt müssen wir uns auf Federspiels telepathische Beobachtungen verlassen. Immerhin hat Solania den dritten Transmitter abgesetzt.« Schnell testete sie das eingebaute Funkgerät, über das sie mit Vorlan Brick in der BINGO I verbunden war. Die letzten Nachrichten, die sie von der SOL erhalten hatten, schilderten den weiteren Verlauf der Urlauberaktion. An den Treffpunkten ging es zwar hektisch, aber scheinbar ungefährlich zu. Die Hosties verteilten sich nach den Anweisungen Tdibmufs' in die einzelnen Urlaubsgebiete.
Sanny kam aus der Jet, rutschte über das Eis und hielt sich am Landebein der Jet fest. Auch die Molaatin hatte die Kapuze über den bronzefarbenen Schädel gezogen. Die hellblauen Augen blickten unternehmungslustig. Im Augenblick gab es für die Paramathematikerin nichts zu tun; sie wartete auf Atlan, der versprochen hatte, sich ihrer anzunehmen. Federspiel sprang von der untersten Sprosse der Leiter und hakte die Schnallen der Ausrüstungstasche fest. »Solania hat Schwierigkeiten. Sandsturm, die Riesenvögel und jetzt auch irgendwelche Lianen, die nach der BINGO Zwei greifen!« bemerkte Federspiel. »Bisher schienen sie nicht in echter Gefahr zu sein!« sagte Atlan und sicherte das schwere Feldlinsengerät am Gürtel. »Sie schaffen es immer wieder, freizukommen«, bestätigte Federspiel. Atlan führte die kleine Gruppe an. Auf seinen Schultern kauerte Sanny und hielt sich an Riemen und den breiten Nähten fest. »Wir rufen dich, wenn wir deine Hilfe brauchen, Vorlan!« sagte Atlan in das kleine Mikrophon, das an einem federnden Bügel vor seinem Kinn hing. »Bis zu diesem Zeitpunkt darfst du dich umsehen und mit Solania sprechen.« »Verstanden, Atlan«, antwortete der Pilot. Atlan, Bit und Federspiel rutschten und stolperten eine schräge Fläche abwärts, die aus Kieseln und Eis bestand. Immer wieder klammerten sie sich an Eissäulen und an Felskanten an. Schritt um Schritt tasteten sie sich in Schlangenlinien auf den ersten Transmitter zu, der rund zweieinhalbtausend Schritte entfernt war. Schnell rutschten die Eindringlinge über Eisplatten und bremsten mit den Hacken der Stiefel. Die Kälte fraß sich langsam durch Stiefelsohlen und Handschuhe. Wieder breitete sich vor einer Eisplatte ein breites Band aus Geröll und eisenhartem Sand aus. Vorsichtig tappten Atlan und seine Kameraden über die Fläche und verschwanden zwischen einer riesigen Menge von aufrecht
stehenden Eiszapfen. Die Stalagmiten glänzten im Sonnenlicht. »Der Rest der Strecke ist«, keuchte Atlan, der immer wieder auf Sanny Rücksicht nehmen mußte, »hoffentlich etwas komfortabler.« »Bis zum ersten Gerät geht es immerhin abwärts.« Es war ein schwieriger Abstieg, aber er konnte ohne technische Hilfsmittel bewältigt werden. Bewußt hatte Atlan auf eine schwere und unhandliche Ausrüstung verzichtet. Er ahnte, daß sie beweglich bleiben mußten. Eisplatten und überhängende Felsen, festgefrorene Schneeflächen, ein scharfer Geländeeinschnitt voller eisverkrusteter Gesteinstrümmer und immer wieder schräge Felsen und Eisflächen lösten einander ab. Etwa zweihundert Meter weit ging es über einen breiten Sims, der erstaunlicherweise nicht eisbedeckt war. Dann tauchte hinter einer Geröllfläche das kleine Plateau auf. »Ich kann den Transmitter sehen!« rief Sanny und kippte fast von Atlans Schultern, als sie heftig zu gestikulieren begann. »Ich auch«, brummte der Arkonide. Es war schwierig, durch das Geröll zu kommen. Die Steine waren rund und locker, die meisten eisglatt. Die Stiefel rutschten, die Gestalten schwankten hin und her, zweimal schlug Federspiel seitlich in die Kiesel. Aber er war der erste, der in den breiten Spalten des Felsklotzes hochkletterte und neben dem Transmitter stehenblieb. Er drehte sich um, streckte den Arm aus und half Lyta auf die kleine Plateaufläche. »Nur ein einziger Griff …«, sagte Lyta und klappte die Sicherung eines Schalters hoch. Sie preßte den Schalter hinein und half Atlan und Sanny. Langsam und mit gewohnter Zuverlässigkeit versetzte sich das kleine Gerät in Funktionsbereitschaft. Mit einem Knall bildeten sich die beiden Transmittersäulen. Die wenigen Kontrollinstrumente signalisierten den Solanern, daß der nächste Apparat ebenso aktionsbereit war wie dieses Gerät. »Wer ist der erste?« Lyta schloß ihre großen, grauen Augen, zog die Waffe und
entsicherte sie. Dann nickte Bit und stellte sich auf die winzige Plattform. Sie machte einen energischen Schritt und war verschwunden. Sanny ließ sich an Atlans Seite herunter und folgte Bit, dann nickte Federspiel und verschwand aus der eisigen Luft. Atlan schaltete die Zeituhr, die sicherstellen sollte, daß der Transmitter nicht nur »sendete«, sondern auch »empfing«. Atlan erwartete, in einem weniger kalten und geschützteren Gebiet auf der Spitze des Steinhaufens aufzutauchen. Er legte die Hand an den Griff seines Strahlers und schritt durch die beiden kleinen Torbogensäulen. Unmittelbar darauf stand er in dem tief eingeschnittenen Bachbett. Die anderen Mitglieder des Teams kauerten auf den großen Steinen und sicherten nach allen Seiten. Die Gegend war leer, und das Heulen des Windes klang leiser. »Der erste Sprung«, bemerkte Lyta Kunduran. »Was gibt es Aufregendes von BINGO Zwei, Federspiel?« Atlan justierte das Gerät und sah die Funktionsbereitschaft des dritten Transmitters einwandfrei angezeigt. »Sie stehen kurz davor, das vorletzte Gerät abzuwerfen!« antwortete Federspiel. »Sie haben es nicht leicht.« Federspiel kletterte herauf, wartete Atlans Zeichen ab und ging zusammen mit Sanny durch den kleinen Torbogen. Nacheinander erschienen die vier Personen am Rand der kleinen Lichtung. Die Luft war voller Staub, und hinter den Stämmen der Bäume und hinter den Steinen hatten sich kleine, scharfgratige Dünen abgelagert. Die Sonne verbarg sich hinter den Staubmassen der Luft. Sie war nicht viel mehr als ein riesiger honigfarbener Ball mit einem strahlenden Hof. Unwillkürlich blickten die Eindringlinge nach oben. Sie sahen hoch über sich die Gestalten der schwarzen Vogelgiganten, die genau abgezirkelte Kreise zogen. »Offensichtlich sind wir nicht entdeckt worden«, mutmaßte Atlan. Bit untersuchte in langsamem Lauf die nähere Umgebung des
sandverkrusteten Transmitters. Sie hinterließ zwar eine Menge Spuren, entdeckte aber in der sandverwehten Fläche keinerlei fremde Spuren. Atlan sagte: »Der nächste Transmitter ist noch nicht geschaltet.« »Also werden wir hier ein bißchen warten müssen«, meinte Bit nach einem kurzen Blick in Federspiels Gesicht. Federspiel wirkte entspannt und zuversichtlich. Die Vögel kreisten jetzt über einem anderen Teil des Gebiets. Plötzlich leuchtete das Signal auf. Der nächste Transmitter war empfangsbereit.
* Jetzt waren die Impulse, die durch ENI'AIL tobten, deutlich und klar. Sie setzten jede einzelne Zelle der Riesenpflanze in Alarmzustand. Und nicht nur ENI'AIL wurde aktiviert, sondern alle anderen Riesenlianen dieses Gebiets. Zuerst bewegten sich die Enden der schwarzen Tentakel. Sie krampften sich unter den Schichten aus Blättern und Erdreich zusammen, bildeten Schlingen und Spiralen und krochen wie Schlangen auf den dicken Hauptstamm zu. Der Hauptkörper hob und senkte sich und fing an, sich an seinem dünnen Ende hochzuringeln, auch hier wieder in Spiralen. Zehn, fünfzehn Meter hoch hob sich der Vorderteil von ENI'AIL. Vier kürzere Tentakel hoben sich mit der Liane. Von der schuppigen, rauhen Haut rieselte der pflanzliche Abfall. Ein langanhaltendes Zittern lief durch den riesigen Körper. Ein Drittel der Pflanze taumelte jetzt in die Höhe und spreizte die Tentakeln, die sich ebenfalls wie rasende Schlangen bewegten, weit auseinander. An mindestens zwanzig anderen Stellen richteten sich die riesigen Lianen mit überraschender Schnelligkeit auf. Die unzähligen Spiralen, in denen sich die einzelnen Arme der vielen
Pflanzen aufgewickelt hatten, stellten sich gerade. Die Hauptkörper der Lianen wurden größer, bogen sich vorwärts und rückwärts und schleuderten die Tentakel durch die Luft. Die Reste der Pflanzenabfälle flogen nach allen Seiten. Die lichtempfindlichen Flecken wurden heller. Schützende Membranen zogen sich zurück und zeigten den »Augen« der Riesenlianen den hellen Himmel, die einzelnen Bestandteile der Landschaft und die sich schlängelnden Tentakel und Körper der benachbarten Riesenlianen. Zwischen dem Zentralkegel oder besser dessen weiterer Umgebung – und den Ausläufern des Gebirges erhob sich ein riesenhafter Zaun aus rund dreißig Meter hohen Pflanzen. Sie bildeten ein bewegliches Gatter, dessen freie Zwischenräume sich ununterbrochen veränderten, größer und kleiner wurden, je nachdem, wie sich die Lianen und die Hauptäste bewegten. Bereits ein Drittel der robotischen Pflanzenmonstren befand sich in der Luft. Rund zwei Drittel der phantastischen Körper lagen noch in den Abschnitten zwischen den Hügeln, zu Spiralen zusammengerollt und bereit, beim ersten Impuls zu handeln. Im Innern aller Tentakel wurden die Energieleitungen geflutet. Von den Spitzen der Lianen züngelten fahle Blitze.
4. Fast vierzig Kilometer vom Zentralkegel entfernt, unter schützenden Bäumen, in der Nähe einer fast idyllisch wirkenden Quelle, befand sich eine winzige Sandfläche, die nur aus der Vogelperspektive zu sehen war. Dorthin sollte der vierte Transmitter. Atlan würde einen geschützten Platz vorfinden, auf dem wohl niemand das kleine Gerät erwartete. Von diesem Punkt würde die kleine Crew den letzten Transmitter erreichen können – dieser letzte Abwurf, das ahnten alle Insassen von BINGO II, würde der
schwierigste sein. Die Jet, dem Sandwind ebenso entkommen wie den Vogelriesen, schwirrte in einer langgezogenen Spiralbahn auf den Transmitterpunkt zu. »Dieses Lianenzeug … was meinst du?« fragte Oserfan. »Sind sie ebenso halbintelligent wie die Superadler?« Solania zog die Schultern hoch. »Was weiß ich? Rechne mit dem Schlimmsten.« Die Pflanzen, die in unaufhörlicher Bewegung waren, bildeten in weniger als tausend Metern Entfernung von dem Rand eines wirklichen Waldes einen Halbkreis. Sie schützten den Abwurfpunkt, ohne zu wissen, daß er von Solania ausgesucht worden war. Der Pilot versuchte einen ersten Scheinanflug, um die Möglichkeiten dieser lebenden Barriere zu testen. Als sich die Jet der nächsten Pflanze genähert hatte, verwandelte sich nicht nur diese Liane, sondern auch die beiden Nachbargeschöpfe. Sie schossen von drei Seiten auf die Jet zu und wuchsen in rasender Schnelligkeit. Schließlich, als ein harter Ruck durch die Hauptstämme ging und sämtliche Lianen herumwirbelte, waren die Kunstpflanzen mindestens hundert Meter hoch. In seinem Schrecken feuerte Cobos auf die nächsten Tentakel, aber schon reagierte der Pilot. Der Diskus kippte um die Hochachse, wirbelte zur Seite und wurde fast senkrecht hochgezogen. »Ausgezeichnet«, stöhnte Tralee. »In letzter Sekunde.« Die Bahnen der Hochenergieschüsse durchtrennten mehrere Lianen und riefen einen Vorhang aus Überschlagblitzen hervor. BINGO II zog sich aus der Reichweite der Pflanzen zurück, übersprang sie in einem respektvollen Sicherheitsabstand und versuchte auf der anderen Seite der pflanzlichen Barriere sofort wieder, in Bodennähe zu kommen. Die schwarzen Gewächse beugten sich in die Richtung des Flüchtenden, peitschten sich selbst förmlich vorwärts und schleuderten die Tentakelenden hinter dem
blitzenden Ding her. Aber sie verfehlten die Jet um Dutzende von Metern. »Und jetzt schnell zum Punkt. Atlan wartet!« sagte Solania hart. Bisher war der Einsatz nach ihrem Geschmack abgelaufen. Abenteuerlich, aber nicht tödlich. Die Jet schwebte vorsichtig weiter der Lichtung abwärts, und der vierte Transmitter fiel sacht in den Sand. »Weiter!« Es war ausgemacht worden, daß der fünfte Transmitter so nahe wie möglich am Kegel, aber nicht gerade am Fuß des Bauwerks abgelegt werden sollte. Auf den Bildern der Fernortung boten sich drei, vier Plätze für dieses Versteck an. Atlan wollte den Turm in Ruhe aus gewisser Entfernung studieren, ehe er den letzten Vorstoß wagte. Nach geglückter Mission würde sich auch BINGO II wieder an der alten Stelle des Alpenin verbergen. Die Jet startete und näherte sich dicht über den Baumkronen dem Kegel. Nur hin und wieder warfen sie einen kurzen Blick auf das düstere Bauwerk vor ihnen; ihr Interesse galt ausschließlich dem Gelände unter dem Flugkörper. »Etwas schneller«, ordnete Solania an und ließ das Schloß des Sicherheitsgurts einrasten. Mehr als sechshundert Meter ragte hinter dem Wald der Kegel auf. Er schien, je mehr sich die Jet langsam und jede Deckungsmöglichkeit ausnutzend näherte, größer und wuchtiger zu werden. Flüchtig schimmerten zwischen den Bäumen die Flächen zweier unterschiedlich großer Seen. »Diesmal muß es schnell gehen«, sagte Solania unvermittelt, während der Diskus zwischen den Baumriesen auf die winzige Lichtung zusteuerte. Zweige berührten die Außenschale. Kleine Äste wurden zurückgebogen und brachen ab. »Ich ahne, daß wir in ernsthafte Schwierigkeiten kommen.« Die Lianen peitschten weit hinter der Jet in das Gelände. Der fünfte und letzte Transmitter wurde eingehängt und über die offene
Schleuse geschwenkt. Hinter den nächsten Baumreihen gab es plötzlich Bewegungen. Ab und zu sahen die Solaner zwischen den Stämmen graue Flächen. Sie bewegten sich ruckartig, verschwanden plötzlich und tauchten an anderen Stellen wieder auf. Oserfan sagte scharf: »Roboter! Schnell – 'raus mit dem Gerät!« Die Jet sank mit einem harten Ruck senkrecht nach unten. Krachend barsten trockene Zweige. Ein Regen von Blättern ging nieder. Aus der Schleuse pendelte der Transmitter herunter und schlug mit einem Ende in den Sand, dicht neben den nassen Steinen der Quelle. In diesem Moment verwandelte sich die Umgebung in ein Chaos aus Gestalten, Bewegungen und peitschenden Energieentladungen. Als der erste harte Stoß die Jet traf, riß Acarra seinen Strahler heraus und durchtrennte mit einem einzigen Schuß das Tau, an dem der Transmitter hing. Mit beiden Händen klammerte sich Vy an den Griffen fest und versuchte zu erkennen, ob das Gerät sich auseinanderklappte. Ohne zu wissen, was die anderen unter der Kuppel sahen, wußte er, daß sich entscheidende Dinge anbahnten. Tatsächlich reagierte der zuverlässige Mechanismus auf den entscheidenden Impuls. Neben den versickernden Wasserlachen der Quelle klappten sich die einzelnen Basisteile des Transmitters auseinander. »Geschafft!« stöhnte Acarra Vy und schwang sich in den Antigravschacht. Als der Diskus in die Höhe taumelte, wurde er hart gegen die Innenwände geschleudert. Wieder war es, als würden riesige Hämmer gegen die Jet schlagen. Als Vy und Sharri in der Kanzel auftauchten, erschraken sie. Rund um die Jet hatten sich riesige Körper aufgebaut. Sie sahen aus wie zwanzig Meter große Roboter und – es waren Roboter. »Notstart! Zurückschießen!« schrie Solania. Die Jet hatte es bisher geschafft, etwa dreißig Meter hoch zu steigen und sich etwa ebenso weit von der Abwurfstelle zu
entfernen. Aus den Armen und den Brustkästen der riesigen Maschinen zuckten violette Feuerstrahlen. Auf dem Pult vor dem Piloten leuchteten flackernd die roten Signalfelder. Unablässig schossen die Maschinen auf die Jet. Trotzdem bahnte sich der Diskus heulend und zitternd einen Weg durch die Baumkronen und von der Abwurfstelle weg. Aber immer mehr Geräte und Antriebseinheiten fielen aus. Die Scheibe kippte, verlor an Höhe, fing sich wieder und machte einen Sprung durch eine Buschgruppe. Die schwarzgrauen Maschinen, größer als zwanzig Meter und außerordentlich flink, feuerten weiter. Sie richteten ihre Projektoren auf die Teile der Jet, die zum Antrieb gehörten. Solania drückte einen Schalter. Knirschend schoben sich die Landebeine aus der Unterschale. Als die Jet durch die zerfetzten Büsche schwebte, kippte sie und schlug krachend einmal gegen die Seite eines schroffen Felsens. Die Insassen wurden von den Beinen gerissen, die angeschnallten Raumfahrer klammerten sich an den Sessellehnen fest. Knallend barst die hydraulische Mechanik von zwei Landebeinen. Die Teller brachen ab und rollten vor die metallenen Füße der Roboter. Luken rissen auf, Funken schlugen aus den zerrissenen Leitungen. Unter der Kuppel gellten Schreie auf. Als der Diskus zurückgeschleudert wurde, richtete er sich wieder auf und landete krachend auf der unteren Schale. Die Reste der Landebeine bohrten sich tief in den Boden. Sofort kamen von allen Seiten die Roboter und rissen die ausgebeulten Luken auf. Die Maschinen arbeiteten schweigend, schnell und mit sicheren Griffen. Sie nahmen die Jet in rasender Eile halbwegs auseinander. Fetzen der Verkleidung und Teile der Luken flogen davon. Die transparente Kuppel wurde zerschnitten und entfernt. Der erste Roboter griff ins Innere und hob Tralee Sharri heraus. Tralee hing bewegungslos in den Griffen der Maschine.
Als wüßten sie genau, wonach sie zu suchen hatten, entfernten die riesigen Roboter die Waffen und die wichtigen Teile der Ausrüstung. Tralee wurde rasch davongeschleppt, die Waffen und Gegenstände ließ die Maschine achtlos fallen. Solania von Terra wachte aus der Benommenheit auf und schrie: »Was tut ihr mit uns? Wir sind Gäste von Tdibmufs.« Keiner der Roboter gab eine Erklärung ab. Auch Solania wurde entwaffnet und davongeschleppt. Während die fünf Raumfahrer aus der zertrümmerten Jet herausgezerrt wurden, nahm die Stärke des Sonnenlichts langsam ab. Bäume, Büsche und Felsen wurden zu undeutlichen, dunklen Silhouetten. Die Luft wurde schwärzer, die Sterne zeichneten sich immer deutlicher ab. Die Raumfahrer waren zunächst noch zu benommen, und deshalb entging ihnen der Anfang dieser Veränderung. Einige Sekunden später aber begriffen sie. Die Umgebung löste sich auf. Aus den Robotern, die schlagartig ihre Bewegungen verlangsamten, wurden seltsame fliegende oder schwebende Geräte. Sie stiegen vom Boden auf, der sich ebenfalls auflöste. Die Raumfahrer wurden von schillernden Blasen umhüllt, langsam drang die Weltraumkälte von allen Seiten auf sie ein. Das Gelände in all seinen vielfältigen Formen war verschwunden. Rings um die Gefangenen gab es nur noch Weltall und Sterne und eine kleine, stechende Sonne; Einauge strahlte grell in die Augen der Raumfahrer. Die Roboter flogen in einer geraden Linie auf ein seltsames Gebilde zu, das vor ihnen im All kreiste und sich drehte. Es sah aus wie ein durchlöcherter Felsen, ein von Gängen und Öffnungen durchzogener brauner Asteroid. Die Gefangenen kämpften mit dieser neuen Wirklichkeit. Sie vermochten den schnellen Wechsel zwar zu begreifen, aber sie akzeptierten ihn nicht. Die Landschaft im Nichts war für sie verschwunden! Einige Zeit lang schwankten die Gefangenen zwischen ihrem
Zweifel, diese Verwandlung oder Auflösung zu glauben und der Bereitschaft, die neue Umgebung zu akzeptieren. Dann aber entschlossen sie sich, aus dem bisher Erlebten zu lernen. Riesige schwarze Vögel, Staubstürme, gelbe Nebelbänke, die monströsen Lianen und die großen Roboter … die Verwandlung der Landschaft im Nichts in einen Abschnitt des leeren Kosmos war ein Trugbild, eine gelenkte Illusion. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem Ziel der seltsamen schwebenden Prozession. Solania hoffte, daß Federspiel gerade in diesen Augenblicken versuchen würde, sie zu belauschen. Dann würde Atlan erfahren, daß im letzten Augenblick der Transmitter abgeworfen werden konnte. Und daß alle fünf Raumfahrer gefangengenommen und in diesen seltsamen Felsen gebracht worden waren. Die Eingänge und Stollen des Asteroiden begannen von innen heraus zu leuchten. Ein phosphoreszierendes Licht machte sämtliche Löcher deutlich und verwandelte den Felsklotz in ein merkwürdig gespenstisches Gebilde. Ein Roboter verschwand mit seiner Last im Innern. Die anderen folgten und schwebten durch die gewundenen Korridore, ohne ein einziges Mal anzustoßen. Minuten später befanden sich die fünf gefangenen Solaner in einer Höhle. Die Wände, der Boden und die Decken bestanden aus festgepreßtem Erdreich, das mit großen Steinen und Felsen durchsetzt war. Ein massives Gitter schloß die Höhle ab. Dies war für die Gefangenen einer der letzten Beweise. Cobos setzte sich und lehnte seinen Rücken gegen die rauhe Wand. »Wir befinden uns irgendwo in der Nähe des Zentralkegels, und zwar in einer Erdhöhle. Man hat uns das Verschwinden von Paradiso nirwana vorgespiegelt.« Solania zog die Schultern hoch und antwortete bedächtig: »Wahrscheinlich hast du recht. Wenn sie anders vorgegangen wären, also zuerst die Illusion und dann erst der Angriff der
Maschinen, hätten wir es nicht geschafft.« »Vorläufig sind wir ausgeschaltet.« »Auch das wird sich ändern. Ich vertraue auf Federspiels Fähigkeiten«, erklärte Solania. Atlans Weg zum Zentralkegel war geebnet. Ob der Arkonide allerdings den dringend benötigten Erfolg haben würde, war fraglich. Jetzt dachte niemand mehr daran, die versteckten Machthaber der Landschaft im Nichts zu unterschätzen.
5. Die Umgebung, die sich den Eindringlingen jetzt bot, enthielt weitaus mehr Bekanntes. Sie war nicht mehr von Eis, Schnee und Kälte gekennzeichnet, sondern von Staub, grellem Sonnenlicht und den harten Schatten der Bäume. Atlan sprang zur Seite und hob die Waffe. Aus den Zweigen und von den Blättern der kleinen Bäume rieselte gelber Staub. Die Eindringlinge zogen die Kapuzen von den Köpfen. Noch immer segelten in großer Höhe jene riesigen schwarzen Vögel. Federspiel sagte kurz: »Alles ruhig? Ich sehe keine Verteidiger.« »Solania hat ihre Ziele hervorragend ausgesucht. Bisher befanden wir uns stets im Niemandsland.« Das Wasser der Quelle plätscherte. Jenseits der großen Bäume, deren Zweige in einem warmen Wind rauschten, erhob sich der Zentralkegel. Von hier aus wirkte er klein und unbedeutend. Atlan sah sich aufmerksam um und meinte: »In Kürze sind wir alle ein wenig klüger, hoffe ich.« Federspiel zuckte plötzlich zusammen und rief unterdrückt: »Sie sind in Gefahr! Sie haben den fünften Transmitter abgeworfen … jetzt wird die Jet von Robotern beschossen.« »Verdammt«, meinte Bit. »Also doch! Erzähle uns alles im
Zusammenhang, Federspiel!« »Ruhe!« verlangte Federspiel und schloß die Augen. Er blieb schweigend stehen und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Aufmerksam blickten ihn Bit und Sanny an. Atlan durchstreifte den Raum zwischen den Baumstämmen und suchte nach Spuren. Sicher hatte das Vordringen der Jet BINGO II die Überwachung der Landschaft im Nichts abgelenkt. Atlans Vordringen war bis jetzt also nicht bemerkt worden; oder aber Tdibmufs seltsame Freunde warteten noch ab, ehe sie zuschlagen und die zweite Gruppe festsetzen konnten. Durch den Staub stapfte Atlan heran und schob den Strahler in die Schutzhülle zurück. »Tatsächlich! Niemandsland«, sagte er halblaut. »Können wir weiter, Federspiel?« Er beugte sich hinunter und kontrollierte die Instrumente des Gerätes. Er hoffte, daß sämtliche Transmitter jene zwei Tage lang nicht entdeckt werden würden, die sie für den Einsatz geplant hatten. Bisher war die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, gering – aber jede Patrouille des Paradiso nirwana würde die zuletzt eingeschalteten Geräte unschwer finden können. Vermutlich ahnt niemand, schaltete sich der Logiksektor ein, daß BINGO Zwei Transmitter abgesetzt hat. Federspiel stieß keuchend die Luft aus und erklärte: »Sehr schlimm … sie sind alle gefangengenommen worden. Das hat sich so entwickelt …« Er gab eine gedrängte Schilderung der Vorfälle seit dem Augenblick, als die Jet den Riesenlianen entkommen waren. Der Vorfall mußte in rasender Schnelligkeit abgelaufen sein, denn Solania und ihr Team hatten keine wirkliche Chance gehabt, den Robotern zu entkommen. Dann berichtete Federspiel von der fast perfekten Illusion, die das Verschwinden der »Landschaft« vorgegaukelt hatte, und schließlich erfuhr Atlans Team und kurz darauf auch Vorlan Brick, daß die Gefangenen offensichtlich nahe
des Zentralkegels in einer unterirdischen Erdhöhle eingeschlossen waren. Vorlan meldete sich aus der BINGO I: »Ich schicke eine kodierte Meldung an Hayes. Einverstanden?« »Es dürfte besser sein«, schaltete sich Federspiel ein, »wenn ich ohne Entdeckungsgefahr mit Breiskoll spreche. Vielleicht wird die Meldung dadurch sogar etwas ausführlicher.« »Schon begriffen!« sagte Brick und desaktivierte das Funkgerät. Atlan deutete auf das Gerät und lächelte kurz. »Der letzte Sprung, Freunde«, sagte er halblaut. »Riskieren wir's?« Lyta machte einen schnellen Sprung und befand sich wieder im Schatten der Bäume. Sie zischte aufgeregt: »Die Vögel! Sie haben uns gesehen! Schnell!« Sofort blickten die vier Solaner nach oben. Aus dem lockeren Verband der kreisenden Drachenvögel hatten sich drei Riesen gelöst und kamen mit weit ausgebreiteten Schwingen herangesegelt. Sie flogen, zueinander seitlich versetzt, übereinander und zielten mit den stämmigen, langen Hälsen und den weit aufgerissenen Schnäbeln auf die winzige Lichtung. Die Tiere wirkten unverkennbar gefährlich. Atlan und sein Team wußten, was Solania mit ihnen erlebt hatte. »Du hast recht. Wir müssen den Robotern entkommen. In den Transmitter!« sagte Atlan hart und schob Lyta auf die beiden Säulen zu. Mit dem charakteristischen Geräusch verschwanden zuerst Lyta, dann Sanny und Atlan, zuletzt folgte Federspiel. Sie tauchten fast am Fuß des Turmes wieder auf. Der Zentralkegel, sechshundertfünfzig Meter hoch, war ein bemerkenswertes Bauwerk aus Gestein und Glas. Hinter den gläsernen Flächen schienen sich nichts anderes als leere Räume zu befinden. Atlan schätzte den Durchmesser des Kegels an der Schnittfläche, an der er aus dem Boden wuchs, auf rund dreihundert Meter. Die beiden Seen und die ruhige Landschaft, die sich rund um den Kegel ausbreitete, erzeugten in Atlan keinesfalls ein falsches
Gefühl der Ruhe und Sicherheit. »Entfernung etwa drei Kilometer«, schätzte Bit ab und schlich vorsichtig zwischen den Bäumen auf das Bauwerk zu. »Der Kegel sieht von hier aus wie ein uraltes Bauwerk, wie ein Denkmal«, sagte die Molaatin und blinzelte. »Eindeutige Verwitterungserscheinungen. Glaubst du immer noch, daß der Kegel ein Schlüssel ist für viele Vorkommnisse auf der Landschaft im Nichts?« »Ich bin fest davon überzeugt«, entgegnete Atlan. »Dort einzudringen dürfte alles andere als einfach sein.« Atlan und Bit schalteten ihre Detektoren ein. Federspiel lauschte mit seinen telepathischen Sinnen in den Turmbau hinein. Die vier Solaner gingen vorsichtig und langsam auf den Kegel zu. Sie entfernten sich in Schlangenlinien vom Transmitter, der ihrer Meinung nach hervorragend versteckt war. Atlan merkte sich jede Einzelheit des Geländes, um später schnell zurückfinden zu können. Als sich die Bäume lichteten und die Waldzone einen freien Blick gestattete, blieb Atlan stehen und schaltete das schwere Fernglas ein. Hinter dem Arkoniden flüsterte Federspiel: »Ich kann in diesem Turm kein menschliches Wesen orten. Jedenfalls keinen wirklich lebenden, denkenden Organismus. Aber ich spüre so etwas wie einen mentalen Druck.« Atlan suchte die Außenansichten des Kegels Meter um Meter ab. Das Mauerwerk aus wuchtigen Quadern war tatsächlich ziemlich stark verwittert. Dies deutete auf ein relativ hohes Alter des Kegels und somit der Landschaft im Nichts hin, auch wenn Atlan jetzt und hier keinen festen Vergleichswert fand. »Ich kann keinen mentalen Druck feststellen«, sagte Sanny leise. Bit pflichtete ihr bei und murmelte: »Ich auch nicht.« Die gerundete Haube, die vom kegelförmigen Hauptbau durch einen deutlichen Einschnitt abgesetzt war, schien auf einem inneren,
von hier aus nicht sichtbaren Tragegerüst aufgebaut zu sein. Einige Glasflächen spiegelten das Licht der Sonne Einauge wider, andere ließen Atlans Blick ungehindert in die anscheinend leeren Räume fallen. Es mußten Treppen oder Rampen oder ähnliche Einrichtungen hinter dem Glas sein. Undeutlich erkannte Atlan im obersten Teil des Bauwerks und, deutlicher weiter unten, große sechseckige Formen. Sie sahen wie die klassische Form von Särgen aus. Kopfschüttelnd setzte der Arkonide das Glas ab. »Es ist von hier wirklich nichts zu erkennen. Aber ich glaube nicht an diese harmlose Tarnung. Nicht eine Sekunde lang. Übrigens spüre ich auch keinen Druck, Federspiel.« »Ich merke ihn noch immer«, meinte Federspiel hartnäckig. Nach wenigen Schritten setzte Atlan seine Detektoren noch einmal ein. Auch jetzt empfing er nur einige schwache Signale, die nicht zu definieren waren. »Es klingt«, sagte er nachdenklich, »ziemlich langweilig. Von hier aus wirkt alles recht harmlos.« »Jedenfalls ist der Kegel alles andere als ein Denkmal«, stellte Sanny fest. »Wann wollen wir eindringen?« »In ein, zwei Stunden«, gab Atlan zurück. »Bei Einbruch der Dunkelheit. Bis dahin müssen wir versuchen, eine Möglichkeit zum Eindringen zu finden. Ich glaube nicht, daß man uns freiwillig eine Luke öffnet.« Federspiel wußte, daß er zurückbleiben und den letzten Transmitter bewachen mußte. So war es abgemacht. Der letzte und zugleich blitzschnelle Fluchtweg war für das Kommandounternehmen lebenswichtig. »Daß nur Federspiel die mentale Strahlung bemerkt, ist verständlich«, sagte Atlan, mehr im Selbstgespräch, als sie zwischen Buschwerk und hohen, schilfähnlichen Gewächsen auf den Kegel zu pirschten. »Bit ist mentalstabilisiert, ich bin gegen solcherlei Strahlungen ohnehin immun, und Sanny ist es ebenso wie ich.« »Aber sie ist tatsächlich unverändert vorhanden«, beharrte
Federspiel. Atlan drehte sich um und sagte: »Ich glaube dir ja!« Die Eindringlinge nutzten jede Deckung aus. Die Roboter, von denen die Jet überfallen worden war, hatten sich entfernt. Nach den Trümmern der Jet wollten sie nicht suchen; vielleicht fanden sie BINGO II zufällig. Aber unaufhörlich achteten sie auf jedes Geräusch und jede Bewegung. Sie schlichen durch das Buschwerk, das keinerlei Pfade aufwies. Es gab weder Lichtschranken noch Fallgruben, wenigstens nicht in diesem Teil unterhalb des riesigen Bauwerks. Ein großer Baum war umgestürzt und bildete, von Luftwurzeln überwuchert, eine Art Brücke. Lyta kletterte gewandt den schrägen Stamm hinauf und klammerte sich an den ausgebleichten Wurzeln fest, als sie langsam den Kopf drehte und die Umgebung absuchte. Die Sonne sank dem Horizont entgegen. Lyta hob die Hand über die Augen, duckte sich plötzlich und machte eine warnende Bewegung. Vorsichtig huschte sie herunter und flüsterte: »Ich habe einen breiten Pfad gesehen. Er führt wahrscheinlich ringförmig um den Turm herum. Dort sind Roboter, so groß wie wir. Sie wirken verdammt gefährlich.« »Sie kommen näher?« wollte Federspiel wissen. Bit nickte und zeigte in die Richtung, in der sie die Wächter gesehen hatte. »Ja. Sie kommen zwei Dutzend Schritte von hier entfernt vorbei. Auf mich wirken sie, als ob sie auf programmierter Patrouille sind.« Atlan verließ sich auf diese Erklärung Bits; wenn sie von derlei Maschinen sprach, war es sicher, daß ihre Auskünfte stimmten. Federspiel winkte kurz. Atlan hob Sanny auf, und sie duckten sich nach einigen Schritten hinter eine Barriere aus moderndem Holz, Felsbrocken und dichtem, verfilztem Gebüsch. »Robotische Streifen«, flüsterte Atlan. »Das bedeutet, daß an diesem Turm wirklich etwas dran ist.« Sanny gab zurück:
»Ich glaube, ich habe so etwas wie eine unsichtbare Wand am Fuß des Turmes gespürt. Wir werden es nachher überprüfen können.« Die Schatten wurden länger, der Zentralkegel warf seinen Schatten direkt über das Versteck. Die schweren Schritte der Roboter knirschten auf dem Sand oder Kies des Weges. Die Maschinen bewegten sich nicht im Gleichschritt, und ein feines Summen überlagerte ihre Geräusche. »Die Wachen scheinen uns nicht zu sehen«, brummte Federspiel, die Hand auf dem Griff der Waffe. »Das kann nur ein Vorteil für uns sein«, antwortete Atlan. Sie befanden sich jetzt länger als eine Stunde in der unmittelbaren Nähe des riesigen Bauwerks. An sämtlichen Stellen, die von ihrem Versteck aus einzusehen waren, hatte sich nichts bewegt. Es gab keinerlei verräterische Geräusche oder andere Aktivitäten. Der Turm wirkte noch immer nicht anders als ein großes Monument. Die Schritte und das Summen der Roboter wurden schwächer und waren schließlich, als sie links hinter dem Turm verschwanden, nicht mehr zu hören. »Federspiel bleibt hier«, entschied Atlan und deutete auf das bizarre Wurzelwerk des umgestürzten Baumes. »Du wirst uns beobachten, nötigenfalls eingreifen, und ansonsten hoffen wir, heil wieder aus dem Kegel herauszukommen.« »Vorausgesetzt«, nickte Federspiel, »daß ihr überhaupt hineingelangt.« »So ist es.« Das erste Drittel des Weges kannten sie bereits. Es dauerte nicht lange, und sie verließen das Dickicht aus Büschen und rasselnden Bambusgräsern. Die Sonne Einauge hing als großer, roter Ball über dem Horizont. Ein Bergmassiv und einige Bäume ragten in die Sonne hinein und bildeten schwarze Silhouetten. Atlan, mit Sanny auf den Schultern, und Lyta Kunduran sprangen über einen wassergefüllten Graben und hatten nach wenigen Schritten eine leere Grasfläche vor sich, die direkt an den etwa fünfzehn Meter
breiten Kiesstreifen anschloß. Sanny meinte leise: »Der Weg ist selbstverständlich angelegt und wird von Bewuchs freigehalten. Ich kann nichts anderes feststellen – es ist die Straße, auf der die Robots den Turm bewachen.« »Genau dasselbe denke ich auch«, sagte Atlan. Sie versuchten, im Gras keine deutliche Spur zu hinterlassen. Atlan trat in Lytas Fußspuren, und Bit suchte trockene oder schüttere Stellen aus. Schritt um Schritt näherten sie sich der Grenze zwischen Kies und Gewächsen. Dann knirschte der Untergrund unter ihren Sohlen. »Schneller!« drängte Atlan, lief über den Pfad und versuchte, nur geringe Geräusche zu verursachen. Über seinem Kopf stieß Sanny plötzlich hervor: »Halt! Die Wand!« Atlan bremste, aber er konnte nicht verhindern, daß er mit der Schulter gegen ein hartes Hindernis prallte. Er fluchte unterdrückt, streckte den rechten Arm vor und tastete das unsichtbare Feld vor sich ab. Lyta erklärte trocken: »Wie es Sanny schon gesagt hat: ein Hindernis, das wir nicht sehen können.« Sie versuchte, einige Meter von Atlan entfernt, ebenfalls eine Unterbrechung in der gekrümmten Fläche zu erkennen. Weder in der Höhe der Fußknöchel noch so weit über ihrem Kopf, wie sie erreichen konnte, gab es die kleinste Lücke. Ebenso erging es Atlan, der sich langsam nach rechts bewegte und versuchte, etwas anderes unter seinen Fingerspitzen zu tasten als eine Wand, die so hart und so glatt wie massives Glas war – und völlig unsichtbar. »Verdammt!« sagte Atlan schließlich. »Wir können die ganze Nacht an dieser Mauer entlangtasten.« »Ein sinnloses Unternehmen«, meinte Sanny. »Inzwischen kommen die Roboter dort hinten wieder zurück.« »Verstanden«, sagte Lyta und ging zurück zu der Stelle, an der sie den breiten Weg betreten hatte. »Wir werden in unserem Versteck
bei Federspiel beraten.« Sie liefen zurück und kauerten sich wieder zwischen den Bambusgräsern nieder. Die Sonne verschwand hinter dem gezackten Horizont. Die Spitze des Zentralkegels schien im roten Licht aufzulodern. Gerade, als die Köpfe der Eindringlinge unter den Spitzen der Halme verschwanden, tauchte jenseits des Turmes in der Luft ein Paar starker Scheinwerfer auf. »He! Ein Gleiter oder etwas Ähnliches«, sagte Sanny in plötzlicher Aufregung. »Wir bekommen Besuch.« »Vermutlich bekommt der Zentralkegel Besuch«, korrigierte Lyta. »Der Gleiter wird landen, denke ich.« Die Maschine kam aus einer Höhe von weniger als fünfhundert Meter, flog um den Turm eine weite Schleife und landete dann etwas abseits von der Linie, die Atlans und Bits Fußspuren bildete. Der Kiel der Maschine schrammte einige Meter über den Kiesweg, dann hielt der Gleiter an. »Kannst du etwas erkennen?« fragte Lyta. Atlan hob das Glas an die Augen und sah, daß der Gleiter nicht mehr neu war. Seitenwände und Kanten waren zerschrammt und von Beulen übersät. Das Innere der geräumigen Kabine war schwach erleuchtet, ein Scheinwerfer leuchtete in Atlans Richtung. Er wurde ein wenig geblendet, aber er sah, daß auf der ihm abgewandten Seite die Tür aufgeschoben wurde und eine mittelgroße Gestalt ausstieg. Licht glänzte auf dem Körper des Fremden. Atlan hob die Hand ans Ohr und versuchte, irgendwelche Geräusche zu erkennen. Wenn der Ankömmling dort drüben tatsächlich Gammler, also Tdibmufs einzigartiger Roboter mit nur einem Arm war, dann erwartete Atlan, daß dessen knarrende und knirschende Gelenke bis hierhin zu hören waren. Er hörte tatsächlich eine Folge von undeutlichen Geräuschen, die so klangen, als bewege sich Metall. Aber es konnte ebensogut der Gleiter sein oder dessen Aggregate. Selbst das hervorragende Glas konnte Atlan nicht genau zeigen, ob der Körper dort drüben aus
Fleisch und Blut oder aus Metall war; er sah auch nicht, ob der linke Arm fehlte. Aber der Arkonide erkannte deutlich, daß die humanoide Gestalt durch die unsichtbare Barriere ging, als sei sie nicht vorhanden. »Gammler oder nicht …«, flüsterte Atlan, aber Sanny kam ihm zuvor und erklärte mit großer Bestimmtheit: »Das Sperrfeld ist erloschen. Wir können zum Turm durchstoßen!« »Einverstanden!« sagte Atlan und richtete sich auf. Die Gestalt ging schnell und entschlossen, als sei sie diesen Weg schon oft gegangen, auf den Fuß des Turmes zu. Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Die Scheinwerfer des Gleiters waren die einzigen Lichtquellen weit und breit. Atlan und Bit benützten abermals ihre eigene Spur und schlichen auf den Gleiter zu, umrundeten die Maschine und gingen weiter. Im Stillen rechneten sie damit, wieder gegen die unsichtbare Grenze zu stoßen, aber das Sperrfeld war tatsächlich abgeschaltet. »Du hast einmal wieder recht gehabt«, flüsterte Atlan zu Sanny hinauf. Jenseits des Weges, der als hellerer Streifen in der Schwärze der Gegend erkennbar blieb, gab es wieder hohes Gras und niedriges Buschwerk, ab und zu von kleinen Gruppen mittelgroßer Bäume unterbrochen. Die Blätter raschelten in einem kühlen Nachtwind. Dunkel und unheimlich ragte die gewaltige Masse des Turmes vor den drei Solanern auf. »Wir sind auf der Spur des späten Besuchers«, sagte Bit einmal. »Und dort vorn sind die letzten Möglichkeiten für ein einigermaßen gutes Versteck.« »Du hast recht«, erklärte Atlan nach einigen Schritten. »Der Besucher kann zurückkommen und uns womöglich überraschen.« »Noch etwa hundert Meter ist die Mauer entfernt.« Hinter einigen der gläsernen Unterbrechungen der Flächen aus Felsquadern zeigte sich ein erster, sehr schwacher Lichtschein. Da Atlan und Bit ihre Köpfe weit in den Nacken legen mußten, um
überhaupt etwas zu sehen, vermochten sie die Lichtquellen nicht zu erkennen. Sie gingen schräg über das Gras bis zu einer Gruppe aus vier oder mehr Bäumen, deren Stämme von runden Büschen umgeben waren. Einige helle Blüten rochen betäubend, als die Eindringlinge sich durch die harten, stacheligen Zweige zwängen. »Der Pilot des Gleiters, ob es nun tatsächlich Gammler war oder nicht«, sagte Bit nach einer Weile, »ist nicht auf der uns zugewandten Seite in den Turm eingedrungen.« »Ich habe seine Schritte auch viel länger gehört«, bemerkte der Arkonide. »Irgendwo dort hinten, links, ist er verschwunden.« »Es wird uns nicht gerade leicht gemacht«, maulte Sanny. »Aber ich bin gewiß, daß unsere Erfolgserlebnisse nicht mehr lange auf sich warten lassen werden.« »Ich bekomme langsam Hunger«, fügte Atlan hinzu. Sein Extrasinn meldete sich und sagte: Es scheint, daß der Fremde nur einen kurzen Besuch macht. Vielleicht ist die abgeschossene Space-Jet der Grund. Sie warteten bereits eine Viertelstunde. Aber noch einmal rund fünfzehn Minuten vergingen, ehe von links wieder Geräusche zu hören waren. Das untätige Warten zerrte an den Nerven Atlans, Sannys und Lyta Kundurans. Auch Federspiel im anderen Versteck wurde von Minute zu Minute unruhiger. Für jeden Teilnehmer des Kommandounternehmens stellte sich der aufragende Zentralkegel mit seinen wenigen beleuchteten Glasflächen als geheimnisvolle Konstruktion dar; niemand konnte sich vorstellen, wie Atlan in den Turm eindringen konnte. Die Geräusche wurden lauter, schärfer und besser erkennbar. Es war ein schleifendes Knarren, das in die Laute gleichmäßiger Schritte überging. Atlan versuchte konzentriert, irgend etwas zu erkennen, aber das wenige Licht aus den gläsernen Öffnungen des Kegels war einfach zu schwach dazu. Ein etwa mannsgroßer Körper bewegte sich an den drei Wartenden vorbei, zielstrebig auf die Scheinwerfer des Gleiters zu
und bis zur Tür. Einige Sekunden lang blieb die Gestalt stehen. Auf ihrem Körper erschienen einige Lichtreflexe. Entweder spiegelten sie sich auf stumpfem Metall oder auf einem Stoff, der dieselben Effekte hervorrief. Sanny flüsterte in Atlans Ohr: »Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß es sich um den Roboter Gammler handelt. Aber ich kann nicht sicher sein.« »Auf jeden Fall hat der Besucher etwas im Turm zu tun gehabt.« »Das ist richtig«, antwortete die Molaatin. »Es ist ohne Schwierigkeiten zu berechnen.« Die Gleitertür schnappte in die Zuhaltungen. Das Summen wurde durchdringender und höher, der Gleiter hob sich und drehte. Langsam schwebte er schräg aufwärts und setzte dann die Geschwindigkeit herauf. Mit rot glimmender Rückfront raste die Maschine davon und war Minuten später nicht mehr zu sehen. Lyta meinte schulterzuckend: »Ich bin sicher, daß die unsichtbare Barriere sich wieder aufgebaut hat.« »Da bin ich ebenso sicher«, schloß Atlan. »Ich glaube, wir können es riskieren.« Vorsichtig schoben sie sich aus der Deckung hervor. Jetzt befanden sie sich sozusagen im Schutz der transparenten Schutzfelder. Die Sorge um die gefangengenommene Jet-Besatzung trat für die nächste Zeit in den Hintergrund. Atlan und Lyta huschten hinüber zum Mauerwerk des Zentralkegels und tasteten sich daran entlang. Immer wieder schaltete Atlan die sorgfältig abgeschirmten Handscheinwerfer ein, und Lyta betrachtete den Sockel des Gemäuers durch die Spezialbrille des Restlichtverstärkers. »Nicht die geringste Spur eines Einstiegs!« sagte sie nach einigen Dutzenden Schritten. »Wenn wir einmal rund um den Turm gewandert sind, wissen wir mehr«, gab Atlan zu. »Weiter, und mit der gebotenen Vorsicht.«
Sie mußten nicht nur mit den beobachteten Robotern und deren einschlägigen Reaktionen rechnen, sondern mit anderen Verteidigungseinrichtungen, vor denen sie sich in jedem Fall in acht nehmen mußten. Zwischen dem unordentlichen Grasbewuchs und den wuchtigen Quadern wucherten Pflanzen in allen Größen, Farben und Formen, und alle wirkten sie völlig unverdächtig und nicht im mindesten gefährlich. Auch Sanny, die jeden Lichtstrahl ausnutzte und ihre gedanklichen Berechnungen anstellte, konnte nicht weiterhelfen. Es dauerte eine Stunde und etwas mehr, bis sie die mehr als tausend Meter des Umfangs an der Turmbasis hinter sich gebracht hatten. Dann sagte die Molaatin plötzlich: »Wir müssen zurück!« Vor sich sahen sie bereits wieder die kleine Baumgruppe, ihr letztes Versteck innerhalb des Sicherheitsbereichs. »Warum das?« murmelte Bit enttäuscht. Sie hatten bis zur Höhe von rund drei Metern nicht den geringsten Spalt in den Steinbrocken oder in den Fugen dazwischen sehen können. Und sie hatten den Turm tatsächlich völlig umrundet und waren keinen Moment lang nachlässig geworden. Die Maschinen waren zweimal an ihnen vorbeigekommen, mehr als hundert Meter weit entfernt, und ihre Ortungsanlagen richteten sich offensichtlich stets nach draußen. »Die einzigen Öffnungen, die ich einigermaßen deutlich erkennen konnte, waren in etwa dreißig Metern Höhe. Dort hinten, also etliche hundert Schritt zurück.« »Sie hat recht!« bekräftigte Bit und entfernte sich langsam von der hochragenden Mauer. Sie hatten die Öffnungen gesehen, ihnen aber nur geringe Bedeutung zugemessen, da die Solaner keine Kletterausrüstung bei sich hatten. Bis zum letzten Schritt hofften sie, einen Eingang zu finden. Nichts. Als sie ein Stück zurückgegangen waren und sich weiter vom Zentralkegel entfernt hatten, blickten sie wieder nach
oben und sahen nun die Öffnungen deutlicher. Tatsächlich befanden sie sich rund dreißig Meter über dem Erdboden der Landschaft im Nichts. Zwei rechteckige Öffnungen, ebenfalls schwach von innen beleuchtet, lagen dicht nebeneinander. Zehn Meter über diesen Luken oder Schleusen befanden sich zwischen den glasverkleideten Teilen und denen, die aus Mauerwerk bestanden, zwei kleinere, weniger breite Öffnungen. Atlan riskierte es, mit einem weiter gefächerten Lichtstrahl aus dem kompakten Handscheinwerfer die Strecke vom Boden bis zum unteren Rand der beiden Luken die Quader und die Glasflächen aus dem Dunkel zu reißen. Sofort schaltete er wieder ab. Für Bit und Sanny war die kurze Zeitspanne ausreichend gewesen. Die ehemalige Magnidin wisperte: »Die winzigen Fugen und Risse taugen nichts. Die Quadern haben nur unbedeutende Vorsprünge. Ich konnte es an den Schatten erkennen. Niemand von uns kann dort hinaufklettern.« »Nicht einmal du, Sanny?« fragte Atlan. »Ich kann es versuchen. Aber viele Chancen rechne ich mir nicht aus«, meinte sie zweifelnd. »Versuche es trotzdem«, bat Lyta. »Ich glaube, ich habe irgendwelche Schleifspuren im Gestein gesehen. Oder jedenfalls senkrechte Linien.« Sanny tippte gegen Atlans Schläfe. »Bringe mich dort an die Wand. Vielleicht bin ich tatsächlich die einzige, die hinaufklettern kann.« Atlan ging schnell bis zur Wand des Zentralkegels, lehnte sich mit den Schultern gegen den rauhen Stein und spürte, wie sich die Molaatin auf seinen Schultern halb kletternd, halb stehend umdrehte und tatsächlich mit wenigen Griffen ihre Finger und Füße in kaum sichtbaren Spalten verankerte. Sie turnte langsam aufwärts. Atlan stieß sich ab, drehte sich um und ließ immer wieder den Scheinwerfer kurz aufblitzen.
Aus einer Höhe von sieben, acht Metern flüsterte Sanny: »Danke!« Um kein zu großes Ziel zu bieten, kauerten sich Bit und Atlan ins Gras. Inzwischen befand sich Sanny im Bereich der ersten Lichtquelle und war nicht mehr auf Atlans Lampe angewiesen. Je höher sie kletterte, desto schneller schien es zu gehen. Fasziniert und voller Spannung sahen die beiden anderen Eindringlinge zu. »Sie schafft es!« murmelte Bit voller Begeisterung und stieß Atlan mit dem Ellenbogen in die Rippen. »Das ist erst der Anfang«, antwortete der Arkonide und hoffte, daß die Kette der lautlosen und nicht anmeßbaren Kommunikation funktionierte: Bit, Sanny und er, von Federspiel abgehört, von ihm weitergegeben an Bjo Breiskoll und somit an den High Sideryt. Die Molaatin befand sich jetzt knapp unterhalb der beiden tiefergelegenen Öffnungen. Einige Stunden der seltsamen Nacht auf Paradiso nirwana waren vergangen. Die Schwärze schien vollkommen zu sein. In den grünen Bezirken rund um den mächtigen Turm ertönten die Stimmen von Tieren – oder von hervorragenden Projektionen. Von oben kam eine eindringliche Stimme. »Ich bin in einer Luke. Es gibt hier Hebel und … Schaltungen.« »Kennst du ihre Bedeutung?« rief Atlan unterdrückt, die Hände trichterförmig vor dem Mund. »Es muß die Steuerung für einen Aufzug sein.« »Das wäre die Lösung für viele Probleme«, rief Atlan nach oben. »Hauptsächlich für die Transportfrage nach oben und in den Turm hinein.« »Wartet!« Es blieb ihnen nichts anderes übrig als zu warten. Sie starrten bewegungslos nach oben. Sanny hatte sich über die Unterkante des Loches oder der Luke geschwungen, und ihre Gestalt wanderte als vergrößerter Schatten über die Wände der Luke. Harte, metallische Laute waren zu hören. Immer wieder drehten sich Lyta und Atlan
um, hoben die Läufe ihrer Waffen und sicherten nach allen Seiten. Die schweren Schritte der Roboter, die im Kies knirschten, bildeten eine aufregende Geräuschkulisse, aber je länger Bit und Atlan sie hörten, desto weniger bedrohlich klangen sie. »Achtung! Der Aufzug kommt herunter!« Undeutlich war zu erkennen, daß zwei Greifer aus der kantigen Luke klappten, zwischen sich einen Kasten aus gitterähnlichem Material. Dünne Seile, an schweren Rollen geführt, zitterten leicht hin und her, als der Kasten langsam nach unten glitt und sich mit breiten Rädern aus weichem Material gegen die Steine und die glatten Glasflächen abstützte. In diesem Moment waren Bit und Atlan sicher, daß sie einen wichtigen Schritt vorwärts getan hatten. Aber erst in dem Moment, wenn der Korb mit ihnen wieder in der Luke stand. Sie machten sich keine Gedanken, aus welchem Grund der Zentralkegel ausgerechnet auf diese Art zu betreten war. Die Prallflächen des Liftkorbes versanken fast lautlos im Gras. Atlan half Lyta Kunduran über die etwa ein Meter hohe Kante, dann schwang er sich selbst in den Korb. Sofort nahm die kleine Molaatin eine Schaltung vor. Der Korb bewegte sich in mäßiger Geschwindigkeit aufwärts, hielt an und kippte dann langsam einwärts in die geräumige Luke. Bit und Atlan hatten sich kaum bewegt. Ihre Hände umklammerten noch immer die Kolben der feuerbereiten Waffen. Während sie langsam bis in mehr als dreißig Meter Höhe schwebten, fast lautlos, spähten sie ununterbrochen nach unten, wo sich hinter dem leicht flimmernden Vorhang aus Energie deutlich der kreisringförmige Pfad der Roboter abzeichnete. Aber glücklicherweise befanden sich die Maschinenwächter auf der anderen Seite des Zentralkegels. Sanny legte einen Schalter um, der für ihre winzigen Finger viel zu groß war, sprang fröhlich in die Höhe und rief: »Wir sind alle im Turm! Willkommen, Atlan.«
Skeptisch wisperte der Logiksektor: Der erste Schritt war einfach. Mit Sicherheit fangen die Schwierigkeiten jetzt an! Sie sahen sich um. Abgesehen von einem primitiv anmutenden Schaltpult und der nicht viel interessanteren Liftanlage bestanden Boden, Decke und die Wände der Luke aus roh gemauertem Stein. Die meisten Quader waren nicht einmal rechtwinklig, sondern schienen grob aufeinandergesetzt zu sein. Im hinteren Teil des würfelförmigen Raumes gab es eine runde Öffnung im Boden, in der die Eindringlinge einige Stufen einer Wendeltreppe erkannten. Maschinen oder technische Einrichtungen, die vergleichbar waren mit hochentwickelten Robotern oder etwa der Ausstattung des Ysterioons, gab es nicht. Dieser Raum machte einen ausgesprochen nüchternen, fast archaischen Eindruck. Atlan blickte enttäuscht von einem zum anderen und sagte endlich resigniert: »Wir sollten eine Pause einlegen. Hoffentlich haben wir uns nicht auf einen falschen Weg führen lassen.« »Das ist nicht ausgeschlossen«, entgegnete Sanny betreten und kauerte sich am Rand der Wendeltreppe nieder. »Aber vielleicht stoßen wir am Ende der Treppe auf interessante Einrichtungen.« Wieder einmal schien Atlans Ziel, die vermuteten Geheimnisse der Landschaft im Nichts zu lösen und in Verbindung mit dem Auftrag der Kosmokraten zu bringen, in weite Ferne gerückt. Auch er setzte sich und packte die Vorräte an Getränken und Nahrungsmittel aus; sie waren sättigend und wogen nicht viel, aber sie konnten keine richtige Mahlzeit ersetzen. Der wahre Charakter des Zentralkegels war offensichtlich schwer zu ergründen.
6.
Die Folgerungen des Extrasinns waren präzise und klar wie immer: Solania hat durch ihren spektakulären Einsatz die Abwehrmechanismen des Zentralkegels und einiges mehr gebunden. Dieser Vorgang hat es euch ermöglicht, in die Tiefe des Zentralkegels vorzudringen. Macht das Beste daraus! Der Arkonide trank den letzten Schluck des warmen, exotisch schmeckenden Kraftgetränks und verschloß sorgfältig das flache Gefäß. Ihr Aufenthalt war nicht lang gewesen; nur eine knappe halbe Stunde. Aus dem rätselhaften Innern des Zentralkegels war kein einziger Laut zu vernehmen gewesen. »Dringen wir endlich ein?« fragte Lyta und verstaute ein Reinigungstuch in der Tasche des Kampfanzugs. »Treibt dich die Neugierde oder ein unbezähmbarer Forschungsdrang?« erkundigte sich Atlan in gutmütigem Spott. Bit warf ihm einen langen Blick aus ihren grauen Augen zu und wischte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. »Ich möchte nur innerhalb der selbstgesetzten Zeit soviel wie möglich über dieses kosmische Rätselwerk erfahren und auch etwas über die wahren Hintergründe. Wir waren uns einig, daß hier der Schlüssel zu allem zu finden ist.« Atlan stand auf und hob Sanny auf seine Schultern. »Geht in Ordnung«, sagte er. »Suchen wir diesen Schlüssel!« Sie hatten keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Bit schaltete ihren Scheinwerfer an und lief leichtfüßig und schnell die Stufen der Treppe hinunter. Atlan folgte ihr. Mindestens fünfzehn volle Drehungen weit folgten sie der Wendeltreppe abwärts, dann kamen sie in einen großen Raum, der nichts anderes als eine leere Halle darstellte, aus Steinen gemauert und mit einer glatten, grauen Decke. Die einzige Öffnung rechts war ein Torbogen, der nach wenigen Schritten sich zu einem engen Spalt verkleinerte, der im Zickzack, stets leicht abwärts, durch scheinbar massives Mauerwerk der gleichen rustikalen Art führte. Erinnerungen an Wehrgänge, an die Tiefen dämmeriger Tempelbauten, an Felshallen oder Höhlen in
Bergen überfielen den Arkoniden. Es war weder feucht noch trocken, es gab keine Tropfsteine, keine Fallen oder Sensoren, in den schmalen Gängen existierte nicht ein einziger Leuchtkörper. Mehrmals kamen sie in größere oder kleinere Räume, von denen eine Seite nach draußen wies, in diesem Fall leuchteten Teile der Decke oder der Wände in mattem Licht. Und stets war die Außenwand aus Glas oder einem rauchfarbentransparentem Material mit den gleichen Eigenschaften. Draußen war nichts zu erkennen, es war tiefste Nacht. Die Gänge und Kammern, mutmaßte Atlan, während sie schnell und schweigend versuchten, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und dem Ort ihres Eindringens zu bringen, verbargen den wahren Charakter des Zentralkegels, indem sie ihn verzerrten. Was lag hinter diesen gemauerten Wänden? Woher kamen die Leitungen für die Beleuchtung? Warum besaßen riesige, total leere Kammern ab und zu durchsichtige Wände? Und weswegen gab es hier absolutes Dunkel und im nächsten Saal stumpfe, aber ausreichende Beleuchtung? Einmal, nach einer Stunde etwa, stieß Sanny einen langen, tiefen Seufzer aus und sagte: »Bestimmte Abschnitte werden versteckt. Ich kann dies aus der Lage der einzelnen Hohlräume berechnen.« Hin und wieder verzweigten die winkeligen Gänge. Ob sich die Eindringlinge entschlossen, den linken Weg zu gehen oder den anderen bevorzugten: das Ergebnis war gleichartig. Immer wieder kamen sie in identisch aussehende Räume und verließen diese wieder durch schmale Gänge, Korridore und Spalten. »Der Kegel setzt sich weit in das Innere der. Landschaft im Nichts fort«, sprach Bit die Gedanken der Solaner aus. »Es geht ständig abwärts.« Die Vermutung, die Sanny ausgesprochen hatte, wurde immer mehr zur Gewißheit. Die schmalen Gänge, an deren Knotenpunkten
einfache, lichtschwache Lampen die Umgebung in fahle Helligkeit tauchten, befanden sich in dicken Mauern. Diese Mauern trennten die wirkliche Einrichtung des Zentralkegels voneinander. »Wir sollten uns einen Weg durch die Mauern freischießen!« schlug Bit vor. Atlan schüttelte den Kopf. »Noch scheinen wir nicht entdeckt zu sein. Mit diesem Vorgehen würden wir unnötig Lärm erzeugen. Warten wir noch etwas.« Wieder folgten Treppen und Rampen, Ecken und Durchlässe, labyrinthische Winkel, die oft so schmale Durchgänge freiließen, daß Atlan und Bit hintereinander gehen mußten. Überall waren jetzt die einfachen, spärlichen Leuchtquellen. Die Eindringlinge folgten den einzelnen Punkten und gelangtem immer tiefer in das Fundament des Turmes hinein. Längst hatten sie auch den letzten Rest von Orientierung verloren. Aber durch alle Spalten und Gänge strich ständig ein fast nicht spürbarer Luftzug. Es gab hier keine stinkenden Bezirke und keinen Sauerstoffmangel. Eine ausnehmend lange Reihe Stufen, eigentümlich flach, führte zwischen sauber gemauerten Quadern abwärts. Am Ende der Treppe sahen sie intensives rotes Licht. »Immerhin – etwas Abwechslung in der Beleuchtung«, bemerkte Atlan sarkastisch und lief die unzähligen Stufen abwärts. Das Licht wurde intensiver und strahlte die Quadern an, die übergangslos in glattes, gleichmäßiges Mauerwerk übergingen. Der Gang wurde nach einigen Metern breiter, endete in einem kantigen Durchgang, hinter dem nicht nur das Licht wechselte, sondern auch der gesamte Charakter des Korridors. Das Licht war jetzt eisig grün und stechend grell. Atlan und Bit blieben überrascht stehen. Sie befanden sich am Anfang einer Anlage, die aus mehreren senkrechten, glatten Mauern bestand, zwischen denen sich senkrechte Durchgänge zeigten. Die Mauern spannten sich zwischen Boden und Decke; zahlreiche Schatten bildeten auf dem Boden verwirrende Muster. Der Boden
bestand aus aufgerauhtem Stein. »Wir haben keine andere Möglichkeit, als geradeaus weiterzugehen«, sagte Atlan. Er wurde nervös, denn er hatte im Zentralkegel ganz anderes vermutet als uralt scheinende Gemäuer. Jetzt sah es aus, als würden sich die Umstände ändern. »Nehmen wir diese Möglichkeit wahr!« stimmte Bit zu. »Wir haben immerhin einen Punkt erreicht, an dem sich die Mauern und das Licht ändern.« Sie gingen vorwärts, schoben sich zwischen den ersten Mauern hindurch, schritten weiter und schlugen einen Weg ein, der aus lauter rechten Winkeln bestand. Mauern schoben sich von rechts und links heran, die einzelnen Durchlässe befanden sich einmal genau vor den Eindringlingen, dann rechts oder links von ihnen, schließlich wieder hinter ihnen und an ganz anderen Stellen. Atlan sagte, keineswegs verblüfft: »Ein echtes, klassisches Labyrinth! Eine weitere Überraschung der Landschaft im Nichts!« Nach einigen Dutzenden Schritten veränderte sich das Labyrinth abermals und wurde dreidimensional; schräge Rampen führten aufwärts und abwärts. Aus dem grünen Licht wurde eine blaue Lichtflut, die aus allen Winkeln sickerte und die Solaner aufregte. Wozu dieser gemauerte Irrgarten dienen sollte, verstand keiner von ihnen. Sollten Eindringlinge verrückt gemacht werden und schließlich verhungern? Eine durchaus zutreffende Überlegung, sagte der Logiksektor eindringlich. Wieder blieb Atlan stehen und wandte sich an Sanny, deren Gewicht auf seinen Schultern ständig größer zu werden schien. »Ich glaube, du mußt uns wieder einmal helfen, Sanny!« »Bisher habe ich das System noch nicht herausgefunden, nach dem der Irrgarten aufgebaut ist. Aber wir sind fast niemals einen Umweg gegangen.« »Zufall«, schwächte Bit ab. »Das kommt noch!«
Fünfzehn Schritte, dreißig, fünfzig … immer in rechten Winkeln. Dann tauchten spiegelnde Flächen auf und Projektionen, die massive Wände, Öffnungen und Kammern vortäuschten. Zuerst erschraken die Solaner, wichen vor ihren eigenen Spiegelbildern aus und gingen in ein Stück des Labyrinths hinein, das sich als totes Ende entpuppte, dann, scheinbar in der Mitte einer riesigen Kammer mit flackernden Lichteffekten an Wänden und Decke, sagte die Molaatin: »Wir müssen nach rechts. Zwanzig Schritte, dann scharf nach rechts zurück.« »Erkennst du die Projektionen?« »Zum größten Teil.« Atlan gehorchte schweigend und fand sich schnell zwischen den bekannten hellen Wänden und Abschnitten wieder. Die Parafähigkeit der kleinen Sanny wurde strapaziert. Bit vermochte zwischen Schein und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden. Atlan würde in neunzig Prozent aller Fällen blind hineingelaufen sein. So bewegten sie sich stundenlang, wie es schien, zwischen wirklichen und scheinbaren Wänden hin und her und aufwärts und abwärts, stolperten durch Schreckenskammern, tauchten in Nebel und Rauch ein, die von blendenden Lichtblitzen flackernd erhellt wurden, folgten immer wieder den Worten und Hinweisen der Molaatin. Der Irrgarten schien, sagte Sanny einmal, grundsätzlich wie ein Kreisring auszusehen, aber er konnte auch eine Schlangenform haben, von irgendeinem außenliegenden Punkt aus gesehen. Andere Trugbilder tauchten auf und reizten die Nerven der Eindringlinge. Jedes neue Mittel der Machthaber oder Erbauer des Zentralkegels verblüffte zunächst und zeigte eindeutige Wirkung. Jedesmal verirrten sich die Solaner und wurden aus dem betreffenden Teil des Labyrinths nur durch Sanny wieder hinausgeführt. Vorübergehend vergaßen sie ihre Erschöpfung und die schmerzenden Füße.
»Ich denke«, stellte Lyta Kunduran nach abermals einer Weile fest, »daß sich die Schrecken noch steigern werden.« »Ich bin deiner Meinung«, knurrte der Arkonide. Wieder schlugen die Wellen der Lichteffekte, der scheinbaren und der tatsächlich vorhandenen Mauern, Spiegel und Projektionen über den Eindringlingen zusammen. Schritt um Schritt kämpften sie sich weiter durch die Teile des Irrgartens. Ihre Schritte und die Geräusche ihres Atems hallten in den Korridoren, Ecken, Winkeln und Rampen wider. Dann gab es vor ihnen ein neues, erschreckendes Geräusch. Gleichzeitig erweiterte sich der Irrgarten, abermals kamen neue Ebenen und neue Formen der Wandstücke hinzu. Fauchende und zischende Laute hallten, sich als Echo vervielfältigend und steigernd, den Solanern entgegen. »Achtung. Es hört sich an, als wären dort Tiere eingesperrt!« rief Atlan unterdrückt und zog langsam die Waffe aus der Hülle. Bit tat es ihm gleich. Mit gemischten Gefühlen ließen sie sich von Sannys leiser, gezwungener ruhiger Stimme den Geräuschen entgegendirigieren. Das Zischen wurde dröhnend laut, schwer tappende Schritte kamen hinzu. Der Boden schien zu beben, während die Solaner über einen schmalen Steg balancierten, der sich über einem Abgrund spannte. Neben den Stiefeln Atlans und Bits brodelte schwarzer Rauch, durch den es aus der scheinbaren Tiefe zuckte und leuchtete. »Vielleicht auch nur Projektionen?« »Möglich. Alles scheint möglich zu sein hier im Turm«, sagte Bit und hob den schweren Strahler. Noch dreißig Meter trennten die Solaner vom Ende der knappen Rampe, die sich wie eine Mauer in scharfen Winkeln zwischen schroffen Wänden erstreckte. Laute Atemzüge, dumpfe Tritte und einige heulende Schreie ertönten aus einem Eingang hervor. Auch dieses Stück der Zentralkegel-Inneneinrichtung war merkwürdig genug. Er hatte
starke Ähnlichkeit mit einem irdischen Triumphbogen aus vorgeschichtlicher Zeit. Die Konstruktion war bizarr; sie bestand aus riesigen Steinbrocken, die nur an den Stellen bearbeitet waren, an denen sie aufeinanderstießen. »Laßt euch nicht allzu sehr beeindrucken!« warnte Sanny. »Vermutlich wird unsere Phantasie überanstrengt.« »Ein schwacher Trost«, brummte Atlan. Sie holten tief Luft und sprangen vom Ende des Steges. Die Torsäulen glitten vorbei, ein riesiger Raum breitete sich vor ihnen aus. Während die Wände aussahen wie normale Mauern, bestand der gesamte Boden aus einer Anzahl großer und kleinerer, höherer und weniger hohen Hügeln. Ein Licht herrschte, wie es unter den Kronen der Bäume eines Regenwaldes zu sehen war. Kaum hatten Atlan und Bit den unmittelbaren Bereich des Tores verlassen, änderte sich die Szene völlig. In dem Heulen, mit dem sich Dutzende hundegroßer Tiere auf die Eindringlinge stürzten, ging Sannys aufgeregte Stimme unter. »Der Boden ist in Wirklichkeit gerade! Achtet darauf.« Sofort, in einem blinden Reflex, feuerten Bit und Atlan. Sie rannten geradeaus und begannen zu stolpern, als sie die ersten kleinen Hügel aufwärts und wieder herunterrannten. Ihre Füße gehorchten den falschen Eindrücken, den der Verstand noch nicht korrigiert hatte. Die Tiere waren Phantasiegestalten. Sie schienen nur aus Krallen, Zähnen, Stacheln und leuchtenden Augen zu bestehen. Überall dort, wo die Feuerstrahlen der Waffen einschlugen, lösten sich die Gestalten auf. Aber das Rumoren und Fauchen wurde unverändert lauter. Ein neuer Ansturm der kleinen Bestien trieb die Solaner quer durch die Halle. Lyta stieß hervor: »Sie wollen, daß wir eine bestimmte Richtung einschlagen.« Atlan nickte, bückte sich vorsichtig und versuchte, mit dem Lauf der Waffe eine anspringende Bestie zu berühren. Sofort lösten sich die Tiere rund um ihn auf. Wieder schrie die Molaatin:
»Fiktivbilder! Hervorragende Illusionen. Laßt euch nicht erschrecken …« Aus der linken Wand des riesigen Raumes, der plötzlich einen völlig ebenen Boden hatte, polterten kleine Steinbrocken. Sprünge und Risse bildeten sich. Das Licht wurde strahlender. Dann krachten große Brocken und Quadern herunter. Ein kantiger schwarzer Schädel rammte durch die auseinanderbrechende Wand. Die Solaner standen fast im Zentrum der riesigen Halle, die mehrere Ausgänge hatte. Sie wandten sich nach der entgegengesetzten Seite, rannten einige Schritte und blieben dann verblüfft stehen. Atlan wirbelte herum, verlor beinahe Sanny von den Schultern und feuerte viermal auf den Kopf, den Hals und die Brust des fauchenden Riesentiers, das sich wie ein gepanzerter Dinosaurier seinen Weg durch die Mauer bahnte. »Verdammt!« fluchte er, feuerte nochmal und sah, wie die Energie der Waffe weitere Teile der Mauer wegsprengte. Das Tier zog sich zurück und schrie gellend. Als sich die Glut und der Rauch verzogen hatten, war auch das Tier verschwunden. Atemlos sagte Sanny: »Die Gestalten sind verschwunden. Sie haben uns in eine bestimmte Richtung drängen wollen.« »Und zwar in diese Richtung«, sagte Bit und zeigte mit der Waffe auf einen der Ausgänge. »Dann sollten wir dem Hinweis gehorchen und dorthin weitergehen«, schlug Atlan vor und deutete genau in die Gegenrichtung. Neben dem Loch in der Mauer, das sich zu neun Zehnteln bereits wieder geschlossen hatte, befand sich ebenfalls ein verschlossener Durchgang. »Der Abwehrmechanismus des Zentralkegels ist in voller Aktion«, meinte Sanny halb entgeistert und halb zuversichtlich. »Die Machthaber um Tdibmufs lassen sich wirklich etwas einfallen.« Langsam und mit schleppenden Schritten gingen sie auf das Portal zu, stießen es auf und sahen, daß die Mauer ebenso unversehrt war
wie zuvor. Kopfschüttelnd folgte Atlan und hörte Sanny sagen: »Wir sind wieder einmal, wenn auch nur für wenige Schritte, auf dem Weg zur Außenwand des Kegels.« »Ob uns das etwas nützt, ist fraglich.« »Ihr sollt nicht plaudern, sondern rennen«, warf Bit schroff ein und stürmte mit neu erwachten Kräften vorwärts, »weil der Turm mit Sicherheit gleich wieder neue Teufeleien entwickelt.« Atlan mußte sich inzwischen auch sagen, daß sie sich seit rund zehn Stunden im Zentralkegel befanden und nicht den geringsten Hinweis auf das gefunden hatten, das sie eigentlich suchten. Durch die Mauern und Steine ging plötzlich ein schauerliches Ächzen; es hörte sich an, als ob Geschundene aufstöhnen würden. »Was soll das schon wieder?« überlegte Atlan laut und rannte hinter Lyta her. Aus der Decke lösten sich nacheinander große Flächen und sackten waagrecht herunter. Sie verbreiteten Fahnen von Gesteinsstaub und zerschellten mit lautem Krachen auf dem Boden. Bit sprang zur Seite und entging einer stürzenden Mauer nur um Haaresbreite. Ein Steinbrocken, der über den Boden kollerte, traf Atlan am Schienbein und rief einen stechenden Schmerz hervor, der ihm das salzige Sekret aus den Augen trieb. Sanny kreischte auf. »Die zusammenbrechenden Mauern sind real!« »Ich hab's gemerkt.« Bit verschwand hinter einer großen Wolke aus Staub und brechendem Gestein. Sanny versuchte, von Atlans Schultern zu klettern, und überrascht half er ihr dabei. Die Molaatin lief dorthin, wo Bit verschwunden war. Atlan folgte ihr und versuchte, einen Gegner zu erkennen oder die Regelmäßigkeiten dieses gefährlichen, weil realen Angriffs zu entschlüsseln. Langsam trieb die bewegte Luft der Klimaanlage den Schleier aus Staub von Atlan fort. Je größer die Gegenwehr wurde, mußte er sich sagen, desto größer war auch die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich einer Stelle näherten, an der Tdibmufs oder dessen Vorgesetzter sie wirklich nicht haben
wollte. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit grimmiger Freude. »Bit!« rief er. »Wo steckst du?« Sie rannten stolpernd und im Zickzack durch einen Korridor des Labyrinths. Unablässig kippten Teile der Mauern vor und hinter ihnen zusammen, unaufhörlich fielen Teile der Decke herunter. Atlan setzte mit einem gewaltigen Sprung über einen Schutthaufen und sah schräg vor sich, in einer tiefen Nische, undeutlich Sannys kleine Gestalt. Die winzigen Beleuchtungskörper vermochten kaum, den Staub zu durchdringen. »Sanny!« »Hierher, Atlan!« Eine Seitenwand der Nische brach zusammen. Atlan riß keuchend und hustend die Molaatin an sich und sprang durch die entstandene Öffnung. Sie befanden sich in einem düsteren Bereich; der niedrige Saal sah aus wie eine Grabkammer. Hinter den beiden sank fast geräuschlos eine dicke Stahlplatte herunter und schloß sie vom Rauch und Lärm der Korridore aus. Atlan sah erschrocken, daß Sannys Gestalt, die eben noch vor einem der bekannten Leuchtkörper vorbeigerannt war, sich einfach auflöste. Lasse dich nicht erschüttern! Ein neuer Trick, schrie der Logiksektor. Atlan befand sich in einem langgestreckten Raum, der entfernt einer ägyptischen Grabkammer glich. Eine Reihe langer Särge war vor ihm aufgebaut. In dem düsteren Licht sahen Wände und Särge mehr als schauerlich aus. Atlan wollte zurück zu Bit und Sanny. Er war sicher, daß er einer Projektion der Gestalten gefolgt war, die seine Begleiter gewesen waren. Es konnte eine tödliche Sache sein, diese Form der gesteuerten und hervorragend gelenkten Illusionen zu unterschätzen. Ebenso tödlich war es, die Machthaber der Landschaft im Nichts für einfallslos zu halten! Atlan sprang vorwärts, schob seine Fingerkuppen unter den eckigen Deckel des nächststehenden Sarges. Mit einer kurzen
Kraftanstrengung hob er den Deckel hoch und ließ ihn seitlich am Unterteil zu Boden gleiten. Leer! stieß der Extrasinn hervor. Der Sarg war wirklich und gegenständlich, ebenso wie die anderen Behälter. Atlan untersuche noch vier weitere »Särge« und dachte darüber nach, daß seine Definition für den Zentralkegel nicht unbedingt gelten mußte … hier konnte eine solche Sargform eine ganz andere Bedeutung haben. Atlan drehte sich herum und hob die Waffe. Flüchtig bemerkte er, daß er Teile der Ausrüstung verloren hatte, unter anderem das Fernglas. Er zuckte die Schultern und feuerte auf die Mauer neben der Stahlplatte. Spalten öffneten sich, das zerstrahlte Gestein prasselte zur Seite und zu Boden. Dort draußen erzeugten die Verteidigungseinrichtungen des Turmes Projektionen von Bit und Sanny und möglicherweise auch von ihm. Es war fast sicher, daß sich die wirklichen Personen verirrten, weil sie den Projektionen folgten. Er mußte zurück; hoffentlich war wenigstens Sanny in der Lage, die Wirklichkeit zu erkennen. Seine Schüsse brachen ein großes Loch in die Mauer. Der Gesteinsstaub und der Rauch der verbrannten Gase, die sich ätzend auf die Schleimhäute legten, zogen durch die Öffnung in das Korridorsystem des Irrgartens ab. Gleichzeitig hob sich die Stahlplatte wieder in die Höhe. »Hier sind wir – und wir sind die echten!« rief Lyta Kunduran. »Wir haben uns verirrt, weil wir Projektionen gefolgt sind«, bekräftigte Sanny. »Ich war in der Lage, zwischen echt und falsch unterscheiden zu können.« Ihre Fähigkeiten waren wirklich außerordentlich, sagte sich Atlan und winkte die beiden bis zum gewaltsam geschaffenen Durchbruch. Er warf einen langen Blick durch das Loch. Vor seinen Augen tat sich eine ganz andere Welt auf. Er lachte vor Erleichterung und sagte halblaut:
»Zufällig haben wir gefunden, was wir suchten! Hier!« Nebeneinander blickten sie in einen mittelgroßen Saal hinein. Helles Licht spiegelte sich an zahllosen Maschinen, Pulten und Aggregaten. Alles war blitzsauber und ließ ein hohes Maß an Technisierung erkennen. Direkt im Blickfeld, vor einer Mauer mit einem jener riesigen Außenfenster, erhob sich ein wuchtiges Gerät aus Röhren, scheibenförmigen Platten und Kugelelementen. Auch Bit stieß einen lauten Atemzug aus und meinte: »Ich glaube, wir sind am Ziel.« Sie kletterten nacheinander durch die gezackte Öffnung, deren Ränder Hitze ausstrahlten. In der großen Schicht Staub, die sich vor dem Durchbruch ausbreitete, hinterließen sie drei deutliche Spuren.
7. Sie schwärmten aus und begannen einen ersten, flüchtigen Rundgang durch die Anlage. Der Maschinensaal war zweifellos an der Außenseite des Zentralkegels erbaut; der Grundriß war ein Abschnitt aus einem Kreisring. In der »Außenwand«, die trotz der Glasfläche (hinter der nichts zu erkennen war) unterhalb des Bodenniveaus liegen mußte, entdeckten die Solaner einen großen, aber verschlossenen Durchgang, der von kompliziert erscheinenden Schlössern gesichert war. Es war eine massiv erscheinende Doppeltür. Vor dem Maschinenaggregat trafen sie sich wieder. Atlan deutete darauf, klopfte sich den Staub vom Einsatzanzug und meinte: »Ich mag mich irren, aber die Anordnung der Bauelemente deutet auf eine Antigraveinrichtung hin.« Bit inspizierte die Schaltpulte, verfolgte Leitungen und Energieschienen mit den Blicken und gab schließlich zu: »Ich glaube, du hast recht. Mit größter Sicherheit können sie im Zentralkegel Antigraveinrichtungen mit großen Kapazitäten
betreiben.« »Also ist der Turmbau tatsächlich voller hochentwickelter Technik!« schloß Sanny. »War es das, was du sehen wolltest, Atlan?« »Nur ein winziger Teil davon«, antwortete er. »Könnt ihr versuchen, den Türkode oder besser den Kode der Sperren zu knacken?« »Ich versuch's.« Bit nahm Sannys Hand und zog die Molaatin zu den kastenförmigen Elementen der Doppeltür. Sie waren übersät von Drucktasten, Drehreglern und Leuchtfeldern. Zunächst blieben beide vor den Schließanlagen stehen, musterten sie intensiv und fingen dann an, leise miteinander zu reden. Bit tippte gegen einige Tasten, unterhielt sich weiter mit der Molaatin, zuckte die Schultern und ließ ihre Finger weiter über den Oberflächen der Schloßanlagen spielen. Wieder tippte sie einige Tasten, drehte an den Reglern, überlegte schweigend und machte einige ratlose Gesten … und wieder sprach Sanny leise auf sie ein. Fünf unterschiedliche Leuchtfelder blinkten in unregelmäßigem Rhythmus auf. »Ich weiß nicht«, murmelte Atlan, »ob es wichtig ist, daß wir ausgerechnet dieses Tor öffnen sollen.« »Der einzige Weg aus diesem Saal hinaus«, antwortete Bit und versuchte weiter, die positronische Sperre und deren Kode zu entschlüsseln, »führt durch dieses Tor. Wir wollen so viel wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich erfahren. In diesem Saal erfahren wir so gut wie nichts.« »Auch richtig«, brummte Atlan. Bit und Sanny schafften es innerhalb von weniger als zehn Minuten, den Öffnungsmechanismus zu entschlüsseln. Nach einer wilden Blinkerei der Leuchtfelder ertönte im Innern des flachen Schaltkastens ein durchdringendes Summen, das die Solaner förmlich alarmierte. Dann schwangen die Portaltüren langsam und geräuschlos nach innen auf.
»Also denn!« Im Korridor hinter den weit geöffneten Türen beleuchteten große, rechteckige Deckenelemente die Wände und den Boden. Die Solaner gingen etwa fünfzig Meter geradeaus durch den leeren Gang. Der Korridor mündete in einen würfelförmigen Raum; auch er befand sich nach Sannys Berechnungen im Erdreich, tief unter der Schnittlinie zwischen Untergeschoß und Bodenhöhe. Im Hintergrund der Kammer befanden sich zwei ovale Öffnungen. Neben ihnen waren an der metallisch glänzenden Wand Pfeile und Dreiecke angebracht. Sie wiesen nach oben und nach unten, wie in der SOL, und sie kennzeichneten die Richtung, in die jene Antigravschächte arbeiteten. »Nach oben oder unten?« wollte Bit wissen. Atlan spielte seine Erfahrung aus, als er antwortete: »Im allgemeinen gehorcht die Technik ab einer bestimmten Organisation den gleichen Gesetzen. Die wirklich großen Aggregate befinden sich meist unterhalb der Gebäude. Gehen wir also unten nach.« Der Antigravschacht funktionierte ebenso zuverlässig und einwandfrei wie fast alle einschlägigen Anlagen in der SOL. Die Eindringlinge ließen sich nach unten tragen und genossen die lange Phase der Ruhe und der Ereignislosigkeit. Etwa nach fünfzig Metern versperrte eine rötlich schillernde Energieschicht den Weg. Sie bestand aus einer Kugel, die den Fallschacht ausfüllte. Atlan stieß einen Warnruf aus und klammerte sich an einen großdimensionierten Haltebügel. Als Sanny an ihm vorbeiglitt, packte er sie und zog sie zu sich heran. Bit drehte sich in der Luft und erwischte einen weiter unten liegenden Bügel. Sie rief dem Arkoniden zu: »Wir werden die positronische Sperre beseitigen müssen. Aber irgendwann kommen wir nicht mehr weiter.« Atlan bewegte die Waffe hin und her und versicherte grimmig: »Wenn es nicht mit List geht, können wir es vielleicht mit Gewalt
schaffen.« Vorsichtig näherten sich Sanny und Bit dem Schaltelement, nachdem sie es nach kurzer Suche und mit Hilfe von Atlans Handscheinwerfer gefunden hatten. Es dauerte diesmal nur wenige Minuten, bis sie den Kode herausgefunden hatten. Die Energieblase löste sich lautlos auf. Die Solaner schwebten weiter abwärts und suchten die Röhre nach einem weiteren Hindernis ab. Der Antigravschacht lag in einem milden Dämmerlicht; noch hatten sich keine anderen Alarmanlagen eingeschaltet. Der Antigravschacht führte nach einer weiteren freien Strecke von rund dreißig Metern in ein System von leeren Kammern. Pfeile und unleserliche Schriftzeichen oder Zahlen deuteten in eine bestimmte Richtung. »Der Turm oder sein Fundament hat hier einen kleineren Durchmesser«, stellte Atlan fest, als die nächsten Antigravschächte in sein Blickfeld kamen. »Schätzungsweise zweihundert Meter im Durchmesser«, pflichtete Sanny bei. Nachdem die Solaner zwei energetische Sperren hatten abschalten können, sanken sie durch die nächsten Schächte weiter abwärts. Einmal fielen sie langsam an Wänden vorbei, hinter denen sie labyrinthartige Teile des Turminnern erkannten. Aber bisher hatte es, außer während des Zwischenfalls mit den Projektionen, keine Bewegungen gegeben. Kein Mensch, kein Robot und kein menschenähnliches Wesen hatte sich den Solanern gezeigt oder sich ihnen in den Weg gestellt. War der Turm eine vollautomatisierte Zentrale? Dunkle Räume hinter kleinen Sichtöffnungen, helle Säle jenseits der Fenster, Mauern und Einblicke in Maschinenstationen, ab und zu etwas, das wie ein Mosaik aus dem Irrgarten aus Steinen, Mauern und Spiegeln wirkte, das waren die Eindrücke der nächsten Minuten. Schließlich endete der letzte Antigravschacht auf einer Ebene, auf der es nicht mehr weiter nach unten ging.
»Endstation?« fragte sich Bit und schlich entlang der Wände und Vorsprünge auf die nächste größere Lichtquelle zu. Atlan hob die erschöpfte Molaatin wieder auf seine Schultern und folgte Bit. Bisher hatten sie erfahren müssen, daß die Erbauer des Zentralkegels alles darangesetzt hatten, um jeden Eindringling hoffnungslos zu verwirren. »Es scheint tatsächlich das unterste Basisgeschoß des Turmbaus zu sein«, murmelte Atlan nach einigen Dutzenden Schritten. Hinter ihnen lagen Korridore und Kammern, die normale Ausmaße hatten. Die ineinandergreifenden Kammern und kleinen Säle wurden zum Zentrum des Turmschafts hin durch eine Stahldoppeltür abgeschlossen, die weit größer war als alle anderen, die bisher aufgetaucht waren. »Dahinter liegt das Zentrum des Fundamentschafts, nicht wahr, Sanny?« fragte Atlan. Die Molaatin erwiderte nach einigen Sekunden des Überlegens und »Berechnens«: »Richtig. Es ist kein anderer Schluß möglich.« Das Metall des Tores und die Wände waren glatt. Ein Öffnungsmechanismus war nicht zu entdecken. Als Atlan und Bit überlegten, ob sie die Torangeln mit den Strahlern aufbrennen sollten, drehte sich ein Stück der Wand zurück, und ein Roboter tauchte auf. Er war etwa zweieinhalb Meter groß und wies annähernd humanoide Körperformen auf. Mit zwei Strahlprojektoren, die unübersehbar bösartig glimmten, deutete er auf die Eindringlinge. In einer fremden Sprache sagte er etwa: »Ihr steht vor einer Zentrale. Nennt mir den Kode. Sonst muß ich euch als unerwünschte Eindringlinge ausschalten.« Seine Stimme klang dunkel. Obwohl weder Bit noch Atlan ihn verstanden, ahnten sie genau, was er wollte. Dazu kam die Bedrohung der beiden schweren Waffen. Sanny löste sich aus Bits Hand, stellte sich vor der Maschine auf und antwortete etwas in derselben Sprache. Gegenüber dem Giganten wirkte sie zierlich, winzig und verloren.
Wieder sprach der Robot, dann antwortete die Molaatin. Hinter der Maschine, die einige Schritte näherkam, schloß sich die Mauer ohne einen sichtbaren Spalt. »Was war das? Ich kenne die Sprache nicht?« flüstere Atlan. Ohne sich umzudrehen, antwortete Sanny: »Wir sprechen molaatisch.« Sie sagte etwa zwei längere Sätze zu dem metallisch schimmernden Roboter, der sie aus leuchtenden Sehzellen unbeweglich musterte. Die Projektornadeln deuteten unverändert auf Atlan und Lyta Kunduran. Während der Robot und Sanny miteinander sprachen, öffnete sich langsam das schwere Schott zur Zentrale. Der Roboter drehte sich herum und ging den drei Solanern voraus in den angrenzenden Raum hinein. Bit wandte sich an die Molaatin. »Ihr habt wirklich molaatisch gesprochen?« »Ja. Er fing damit an; es war ganz leicht, ihn sofort zu verstehen. Er verlangte den Kode.« »Das dachten wir«, versicherte Lyta nach einem fragenden Blick zu Atlan. »Hast du etwa den Kode gekannt? Undenkbar!« Die hellblauen Pupillen leuchteten auf, als Sanny entgegnete: »Der Roboter, er nennt sich übrigens ›der Heimatlose‹, ist uralt. Ich nannte ihm das älteste molaatische Sprichwort. Ich konnte ausrechnen, daß der Heimatlose genau dieses Sprichwort hören wollte.« »Welches Sprichwort?« fragte Atlan. Sanny winkte lässig ab. »Du würdest es nicht richtig verstehen. Es hat etwas mit einem Fisch, einem Stein und der Geschichte des Erzes zu tun. Außerordentlich kompliziert. Kommt!« Vor ihnen breitete sich ein kreisrunder Raum aus, der, obwohl fremdartig und exotisch, augenblicklich an die Zentrale eines Raumschiffs erinnerte. Unüberhörbar meldete sich der Logiksektor. Achtung, Arkonide. Zuviel Seltsamkeiten, überstrapazierter Begriff des
Zufalls. So ist es, sagte er zu sich selbst. Bisher war im Bereich der Landschaft im Nichts nur Interkosmo gesprochen worden. War er einem neuen Geheimnis auf der Spur- in diesem Fall einer Seltsamkeit, die sich gefährlich gegenüber den Solanern auswirken konnte? Bisher hatte er nur von den fünf Molaaten jene Sprache gehört, und auch davon nur so wenig, daß er nur einige Brocken davon verstand. Und hier sprach der Heimatlose molaatisch, eine kosmische Ewigkeit von der Galaxis All-Mohandot entfernt und in einem Gebilde, das aller Erfahrung nach künstlich und sinnestäuschend aufgebaut war. Nur er hatte diese seltsame Eigentümlichkeit bemerkt; Sanny, obwohl ein psionisches Genie, tat so, als sei es an der Tagesordnung, ausgerechnet jetzt und hier ihre Muttersprache zu hören. Die Solaner traten in den innersten Ring der riesigen Anlage, der aus einem schrägen Kreisring aus Pulten bestand. Der Robot blieb hinter ihnen stehen. Sanny kletterte auf ein Pult, setzte sich auf die Abdeckung eines kleinen Monitors und unterhielt sich leise mit der riesigen Maschine. »Aha!« sagte Bit nur. Atlan sah zu, wie sie zielbewußt auf eine Konsole zuging und ihn über die Schulter zu sich herwinkte. »Dieses Aha sagt mir«, meinte Atlan voller Spannung, »daß du etwas entdeckt hast. Ein Spielzeug für dich?« »Einen Terminal, der mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mit dem Hauptrechner des Zentralkegels zusammengeschaltet ist.« »Tatsächlich?« Dies wäre ein unerwarteter, wenn auch dringend erwünschter Erfolg. Atlan wartete ab, bis Bit mit untrüglich erscheinender Sicherheit einige Schalter aktiviert hatte, dann hörte er wieder ihre zögernde Stimme. Sie war völlig in ihre Gedanken versunken und versuchte, mehr intuitiv als bewußt, mit dem Computer zu verkehren. »Jedenfalls habe ich als Partner einen sehr leistungsfähigen
Computer erwischt. Nicht so groß wie SENECA, aber ziemlich leistungsfähig. Mal sehen, was wir hier haben …« Einige Bildschirme, keiner wesentlich kleiner als etwa zwölf Quadratmeter, schalteten sich ein. Aber noch zeigten sie keine Bilder. Während Lyta Kundurans Finger mit der Geschwindigkeit eines Virtuosen über die Tasten und Kontaktfelder flogen, leuchteten und flackerten Signallampen auf. Auf kleinen Monitoren erschienen Zeichen und Begriffe, verschwanden wieder, wurden durch andere ersetzt. »Kannst du mir sagen, was du suchst? Und was du vermutlich gefunden hast?« fragte der Arkonide und wartete darauf, bis auf den Bildschirmen überraschende Informationen auftauchten. Er wußte nicht, was er zu sehen erwartete – aber irgend etwas würde Bit aus den Speichern herauslocken. Der mittlere Bildschirm flimmerte kurz, dann erschien dort, langsam vergrößert, ein vertrautes Bild. Die SOL! Lautlos entstand unterhalb des Bildes der riesigen SOL eine Schriftreihe. Wieder waren die Zeichen nicht zu erkennen. Scharf sagte Atlan: »Sanny! Falls dies molaatische Schrift ist – übersetze bitte.« »Es ist molaatisch. Logischerweise heißt es: ›Die SOL, das Raumschiff der Fremden.‹ Nicht mehr.« Der Roboter und die Molaatin schienen mittlerweile Freunde geworden zu sein. Zumindest hatte die Maschine ihre schweren Waffenprojektoren eingefahren und unterhielt sich mit dem winzigen Geschöpf. Worüber sie sprachen, war für Bit ebensowenig zu verstehen wie für Atlan. Die Bilder wechselten: auf dem mittleren Bildschirm begann sich die Landschaft im Nichts zu drehen und zeigte sich im vollen Licht der Sonne Super oder Einauge. Sanny erklärte: »Die Bildunterschrift bedeutet: Landschaft im Nichts,
verschiedene Ansichten.« »Aha!« murmelte diesmal Atlan. Es klang ziemlich sarkastisch. Ein benachbarter Bildschirm zeigte gestochen scharf den einarmigen Roboter von Tdibmufs. »Das ist der Roboter, den die Solaner ›Gammler‹ nennen«, klärte sie die Molaatin auf. Der Schirm links vom Zentralbild änderte seine Farbe und produzierte ein Abbild von Atlan. Atlan erschrak kurz, fing sich rasch wieder und betrachtete eigentümlich fasziniert sein eigenes Abbild. Er konnte sich nicht an den Augenblick erinnern, an dem diese Aufnahmen gemacht worden waren – es konnte, trotz seines perfekten Erinnerungsvermögens, praktisch jederzeit gewesen sein. »Atlan«, übersetzte Sanny, ebenfalls verwirrt und staunend, »einer der wichtigsten Anführer der Solaner.« Das nächste Bild, ebenfalls mit einer entsprechenden Unterschrift, zeigte die Sonne Super. »Was ist das für ein Programm?« fragte Atlan heiser. »Es waren die ersten gespeicherten Informationen, die unter der höchsten Klasse der Wichtigkeit eingeordnet waren«, sagte Bit. »Hier! Wenn das nicht wichtig ist!« Breckcrown Hayes baute sich auf dem Zentralbildschirm auf. Er wirkte ungewöhnlich lebensecht; es handelte sich um das Original, nicht um eine von den Herren der »Landschaft« hergestellte Kopie oder Maske. »Ausgerechnet Breck! Was werden sie noch gespeichert haben …?« brummte Atlan im Selbstgespräch und blickte kopfschüttelnd auf die verschiedenen Bilder. Zwischen den einzelnen Übersetzungen und immer dann, wenn sie sich von ihrer Verwunderung erholt hatte, sprach Sanny mit der Maschine. Fast gleichzeitig löschte der Zentralrechner alle Abbildungen und projizierte ein anderes Bild. Es war grundsätzlich anders als alles bisher Gesehene.
Ein offensichtlich riesengroßes, unregelmäßig geformtes Gebilde aus blitzendem Metall. Es gab keine beschreibbaren Regelmäßigkeiten. Das Ding ähnelte entfernt einem unregelmäßigen Vielflächen-Körper. Die Außenflächen waren unterschiedlich groß, offensichtlich bewegten sich die Größenverhältnisse zwischen einigen Quadratkilometern und mehreren Tausend Quadratkilometern. Der Text unter dem Bild wurde von Sanny übersetzt. »Das Flekto-Yn.« »Keine weitere Erklärung?« fragte Atlan. Sanny schüttelte schweigend den Kopf. Die Flächen waren ineinander verschachtelt, wie bei einem unregelmäßig gewachsenen Kristall, und sie hatten keine regelmäßigen Umrisse. Gerade Linien und Brüche waren vorherrschend, und wenn der Maßstab der Wiedergabe bei der SOL, der Landschaft im Nichts und dem rätselhaften Flekto-Yn derselbe war, dann betrug der Gesamtdurchmesser dieses fremdartigen Körpers ungefähr hundertfünfzigtausend Kilometer. Er war also größer als ein Großplanet! Kann das Metall, das dort so glänzt, vielleicht Nickel sein? fragte drängend der Logiksektor. Die vielen Flächen waren mit etwas Phantasie als Teile von Hohloder Parabolspiegeln zu bezeichnen. Zwischen ihnen gab es Zonen, aus denen helles Licht in die Dunkelheit des Alls strahlte. Das Flekto-Yn schwebte in einer Zone des Alls, in der es keine Sterne gab. Oder aber sie waren aus der Projektion ausgeblendet worden. Die Lichtquellen aus seinem Innern stellten also die einzigen Beleuchtungseffekte dar. Das Licht erzeugte auf den vielfach gebrochenen Außenflächen wirre Folgen von Reflexen, Blitzen, Strahlen und tiefe, mysteriöse Schatten. Atlan wandte sich an Bit. »Es gibt keine Spuren von irgendwelchen technischen Einrichtungen an der Oberfläche dieses Gebildes. Kannst du etwas
zur Erhellung dieser Fragen beitragen?« »Nein«, sagte sie ärgerlich. »Ich bewundere nur den einzelnen, auffallend großen Hohlspiegel in der Mitte. Er ist auch ungewöhnlich gleichmäßig.« »Kreisförmig ist er, im Gegensatz zu allen anderen oder jedenfalls den meisten anderen Spiegeln«, führte Atlan weiter aus. »Ob dies eine bestimmte Bedeutung hat?« »Keine Ahnung. Außerdem ist dieser Spiegel ziemlich tief in das System eingebettet. Es können fünf- bis sechstausend Kilometer sein.« Das Flekto-Yn führte auf dieser Bildwiedergabe keine erkennbare Bewegung durch. Es hing oder schwebte nur, von unsichtbaren Lichtquellen mehr als schwach beleuchtet, im leeren Raum. Es gab neben ihm weder Sterne, Sonnen noch die Abbildungen von Galaxien. »Rätselhaft!« sagte Sanny, die inzwischen ihr Gespräch mit dem Heimatlosen beendet hatte und neben Bit vor dem Schaltpult stand. »Höchst rätselhaft. Warum verwendet man in der Landschaft im Nichts meine Sprache?« »Wenn ich das wüßte!« antwortete Atlan. Noch mehrmals spielte die Zentrale Recheneinheit die Inhalte der Speicher auf die Bildschirme. Abermals erschienen, in veränderter Reihenfolge, die Gegenstände und Personen samt den Bildunterschriften. Die Vorgänge waren lautlos, abgesehen von einem feinen Summen im Innern des Terminals. Es gab keine Worte und keine Musik oder andere Laute. Schließlich sagte Atlan, der sich mißtrauisch nach dem Robot umsah: »Der Umstand, daß unter anderem auch ich gespeichert bin, deutet darauf hin, daß die Herren von Paradiso nirwana uns schon seit geraumer Zeit beobachten.« »Ob sie allerdings die genaue Bedeutung der gezeigten Bilder kennen und sie richtig verarbeiten können …« Bit ließ das Ende ihres Fragesatzes offen.
»Wer weiß?« entgegnete Sanny. Die drei Solaner waren einen großen Schritt weitergekommen. Sie wußten in etwa, welche Informationen hier gespeichert wurden. Aber noch hatten sie keine Möglichkeit, dies herauszufinden. Ratlos blickten sie sich an. Atlan hob die Schultern und breitete die Arme in einer fragenden Geste aus. »Für wen sind diese Bilder und Erklärungen gedacht, Bit?« »Keine Ahnung. Es war schwer genug, die Recheneinheit zu überlisten. Andere oder mehr Erklärungen liefert der Computer leider nicht …« Im selben Augenblick löschte der Rechner sämtliche Bilder. Bit stieß überrascht hervor: »Eine Notschaltung. Das Sicherheitssystem schaltet und handelt. Wir werden in Schwierigkeiten kommen, Atlan.« »Das sind wir seit mindestens vierundzwanzig Stunden!« Auch die Monitore erloschen. Die Kontrollichter auf dem Pult flammten noch einmal auf und wurden desaktiviert. Aus dem Hintergrund des Raumes war eine anlaufende Sirene zu hören; der Ton schraubte sich langsam die Tonleiter hinauf und schwoll an und ab. Summer ertönten, vor einigen Pulten schoben sich schwere Metallgitter aus dem Boden. Vor dem Hauptportal senkte sich mit einem hallenden Getöse eine riesige Gitterkonstruktion aus der Decke und fiel krachend in Öffnungen am Boden. Energiegitter entstanden, nachdem in blitzschneller Geschwindigkeit an unzähligen Stellen Projektoren aus den Flächen herausgekippt waren. Durch das Inferno des Lärmens schrie Atlan: »Wir müssen wieder flüchten! Schnell, hierher!« Der Heimatlose drehte seinen Oberkörper hin und her und fuhr seine Waffen aus. Er schien unschlüssig zu sein, was er tun sollte. Atlan richtete seine Waffe auf ihn und war bereit, abzudrücken, aber die Maschine verhielt sich ungewöhnlich. Sie wandte sich mit einer Reihe schneller Schritte einem Abschnitt der Mauern zu, der nicht durch Metall- oder Energiegitter geschützt
war. Aus den Projektoren brachen kreischende Feuerstrahlen und schlugen in die Steine und das Verbindungsmaterial ein. Krachend, prasselnd und in einer Reihe kleiner Explosionen entstand von oben nach unten ein etwa drei Meter großes Loch. Atlan zog Bit zu sich heran und blieb in achtungsvoller Entfernung hinter dem Roboter stehen. Beide hielten sich die Ohren zu und sahen, wie Sanny auf die Maschine zurannte und sich am Unterschenkel der Metallkonstruktion festklammerte. Schwarzer Rauch und eine gewaltige Staubwolke versperrten den Blick auf das Loch, das unter dem gezielten Beschuß des »Heimatlosen« immer größer wurde. Dann bückte sich die Maschine, hob Sanny auf und bettete den kleinen Körper vorsichtig in die Armbeuge. Eine Sekunde später stürmte der Robot durch den Rauch auf den Durchbruch zu und verschwand im angrenzenden Raum. »Hinterher! Unsere beste Chance, Bit!« schrie Atlan, riß Bit an der Hand hinter sich her und hielt die Luft an, als sie durch den Rauch tappten und stolperten. Der Roboter schien nur sein eigenes Überleben und das von Sanny programmiert zu haben. Atlan und Lyta hörten die schweren Schritte, die sich nach rechts entfernten. Sie warfen sich herum und folgten dem gleichmäßigen Geräusch durch die letzten Ausläufer der Rauchwolke. Sanny schien sicher zu sein oder zumindest sich im Arm der Maschine sicher zu fühlen, denn sie schrie nicht einmal um Hilfe. Hoffentlich verfolgt Federspiel mit, was hier geschieht, dachte sich Atlan. Wieder schob sich einer der einfachen Beleuchtungskörper in sein Blickfeld. Er wußte, daß er sich jetzt wieder in dem Gebiet außerhalb der technikerfüllten Säle und Anlagen befand – im Irrgarten oder in der unmittelbaren Nähe des Labyrinths. Die rasend schnellen Schritte des Heimatlosen wurden leiser und entfernten sich noch mehr. »Die Lage hat sich … verdammt schnell geändert«, keuchte Bit.
Atlan antwortete kurz: »Uns hilft der Robot nicht.« Einige hundert Schritte lang rannten sie im Zickzack durch die Öffnungen zwischen den Mauern. Im Staub waren die Schrittspuren der Maschine halbwegs gut zu erkennen. Dann tauchten die ersten Illusionseffekte auf; spiegelnde Flächen, neblige Zonen, die in wechselnde Farben getaucht waren. Einige Abschnitte einer Höhle wechselten plötzlich mit den glatten Mauern und den Spiegelflächen, die sich drehten und kippten und wölbten. Tropfsteine, einzeln und in breiten Vorhängen, stellten sich den Flüchtenden in den Weg. Das Heulen der Sirenen und das schauerliche Schnarren anderer Alarmanlagen erfüllte diesen Teil des Labyrinths. Die Schritte des Robots waren nicht mehr zu hören. Der Heimatlose und Sanny waren – vielleicht – in Sicherheit. Ohne zu wissen, wohin sie rannten, versuchten sich Bit und Atlan in Sicherheit zu bringen. Sie folgten jedem erkennbaren Weg, ob er nun breit oder kaum zu erkennen war. Nach links führte aus der nebelerfüllten Höhle eine weiße Rampe augenblicklich folgten die Flüchtenden diesem neuen Weg. Die Rampe brachte sie in einen anderen Teil des Labyrinths. Es bestand wieder aus grob gemauerten Bögen, Spalten und Mauern. Das Bewußtsein, daß sie sich hoffnungslos verirrt hatten, wurde in ihnen immer deutlicher. Schwitzend liefen sie, nachdem ein kalkweißer Feuerstrahl dicht über ihren Köpfen hinweggeheult war, in den nächsten Bereich hinein, der einigermaßen hell war. Ein Beleuchtungskörper zersplitterte klirrend. Eine Zone schloß sich an, in der die gesamte Bodenfläche mit hellem Sand bedeckt war. Rechts von ihnen zeigte sich eine Nische. Dort schob sich eine schmale Tür auf, und eine glänzende Gestalt sprang in die Richtung der Rennenden. Ein Robot! rief der Logiksektor. Der Robot ließ sich ebenso wie Atlan und Bit von einer Spiegelfläche täuschen, die sich in diesem Augenblick bewegte. Der
Strahl aus der Energiewaffe zertrümmerte den Spiegel und schmolz einige Bruchstücke. »Jetzt verfolgen sie uns gezielt!« rief Bit erschrocken. »Wir haben keine Chance mehr!« »Das wird sich zeigen«, knurrte der Arkonide und riß sie mit sich in die nächste Deckungsmöglichkeit. Es war ein Wall aus demselben Sand, wie er auch den Boden bedeckte. Atlan hob die Waffe über die kleine Kuppe und zielte auf den herankommenden Roboter. Der Feuerstrahl aus dem Blaster traf die Maschine in den Kopfteil, ließ die Positronik detonieren und schleuderte den kopflosen Torso rückwärts in den aufstiebenden Sand. Zwei weitere Roboter kamen aus versteckten Kammern oder Seitengängen hervor, konnten sich unbemerkt bis auf etwa zehn Meter den Flüchtenden nähern und wurden erst dann von Atlan bemerkt. Bit feuerte an Atlan vorbei und traf den Waffenarm einer Maschine. Atlan hechtete zur Seite und schoß während des Sprunges. Er traf nicht; neben dem Roboter explodierte ein Teil einer Wand und überschüttete die Maschine mit Mauerbrocken und Gesteinsstaub. Ein zweiter Schuß des Arkoniden zerstörte den Robot. Aber da war es bereits zu spät. Von allen Seiten näherten sich Roboter. Sie richteten ihre Waffen auf Bit und Atlan und bildeten binnen weniger Sekunden einen dichten Ring um die beiden Solaner. Lyta verlor, als sie versuchte, sich zwischen zwei Robots hindurchzudrängen, die Waffe. Als sie sich bückte, trat der schwere Stahlfuß des Robots auf den Lauf des Strahlers. Atlan, auf den sich gleichzeitig drei Maschinen stürzten, rief ihr zu: »Es ist sinnlos, Bit. Wir sind am Ende.« Er selbst glaubte noch nicht ganz daran. Er hoffte, daß sich eine Möglichkeit zeigte, den Maschinen zu entkommen. »Ich habe verstanden«, antwortete Lyta Kunduran und senkte den Kopf. Die Roboter hatten eindeutige Befehle. Sie hatten beide
Flüchtenden entwaffnet und schleppten sie jetzt mit sich zurück durch das Labyrinth. Ihre stählernen Fingerglieder umklammerten die Unterarme und Oberarme mit Griffen, die nicht aufzubrechen waren. Etwa die Hälfte des Weges, den Atlan und Bit durch das Labyrinth gerannt waren, wurden sie schweigend und schnell zurückgeführt. Dann blieben die Robots stehen. Sie bekamen unhörbare neue Befehle oder überlegten, in welche Richtung sie ihre Gefangenen bringen mußten.
8. Federspiel war völlig entspannt, aber ebenso wachsam. Er hatte eben eine halbe Stunde geschlafen und kaute jetzt auf einem Konzentratwürfel. Hinter einer dichten Barriere aus dornigen Büschen war die Hängematte zwischen zwei Baumstämmen gespannt. Durch eine Lücke im Gebüsch sah Federspiel wie ein rotes Auge das Kontrollicht, das die Funktionsfähigkeit des Transmitters anzeigte. Es war ruhig. In der tiefen Dunkelheit der Nacht gab es nur wenige Geräusche. Sie waren leise und regelmäßig und beunruhigten Federspiel nicht. Trotzdem steckte seine Waffe entsichert und griffbereit im breiten Gürtel. Federspiel schraubte den Verschluß der Flasche auf, nahm einen langen Schluck des warmen, Vitamin- und nährstoffreichen Spezialgetränks und befestigte die Flasche wieder am Anzug. Mehrmals hatte er seine suchenden Gedanken in die Richtung Solanias und ihrer Mitgefangenen gerichtet. Die Lage war unverändert. Sie saßen in ihrem unterirdischen Gefängnis und warteten darauf, daß sich am Ende eines mehr als fünfzig Meter tiefen Schachtes endlich wieder das Tageslicht zeigte. Federspiel hob den Kopf, konzentrierte sich und lauschte
schweigend. Die Natur, eine Mischung zwischen urtümlicher Landschaft und gezielter Parkschönheit, war still. Keine Gefahr! sagte sich der Wächter neben dem ersten Transmitter des Fluchtwegs. Er ließ sich wieder zurücksinken. Atlan, Sanny und Bit befanden sich irgendwo tief im Basisgeschoß des Zentralkegels, der wie ein gigantischer Schatten scheinbar unmittelbar neben Federspiels Versteck hinaufragte und eine schwarze Silhouette vor der Weltallschwärze bildete. Nach einer Phase der Aufregung befanden sich Atlan und seine beiden Spezialistinnen vor wichtigen Feststellungen. Federspiel sagte sich, daß es in einigen Minuten wieder an der Zeit sein würde, festzustellen, was die Solaner wirklich herausgefunden hatten. Ein, zwei große Vögel flogen ein Dutzend Meter über ihm durch die Baumkronen. Sekunden später fielen ein paar abgerissene Blätter auf Federspiels Schultern. Er drehte sich langsam in der Hängematte und hob die Beine heraus. »Hmm«, machte er. »Ziemlich langweiliger Job, den mir Atlan aufgebrummt hat.« Er meinte, daß er noch den Rest der Nacht und den gesamten folgenden Tag würde warten müssen. Wieder pfiff ein Vogel. Ein anderer, gegenüber, antwortete. Irgendwo unter den Baumkronen ertönte ein aufgeregtes Flattern. Federspiel wurde mißtrauisch; nicht wegen der aufgeregten Tiere, sondern wegen des Umstands, der ihre Aufregung hervorrief. Er stellte die Sohlen auf die Erde, schwang sich geräuschlos aus der Matte und preßte seinen Rücken an den dicken Stamm. Lautlos und regungslos horchte er ins Dunkel. Die Geräusche schienen zu wandern; sie beschrieben einen Kreis rund um seinen Platz. Er konnte nichts sehen. Die suchenden Gedankenströme, die er ausschickte, fingen nicht die geringsten Ausstrahlungen denkender Wesen ein.
Ein scharfes Knacken von rechts. Ein Winseln von links. Und dann blendete eine gewaltige, grelle Lichtflut von allen Seiten auf ihn ein. Er erschrak, duckte sich, schloß die Augen und riß die Waffe aus dem Gürtel. Der erste Schuß, aufs Geratewohl abgegeben, erzeugte schräg vor ihm eine gewaltige Detonation. Federspiel wurde von Panik gepackt. Vor seinen Füßen schlug ein Feuerstrahl ein und überschüttete ihn mit Erdreich. Sein linkes Handgelenk wurde gepackt und nach hinten und oben gerissen. Er stöhnte vor Schmerz auf, und gleichzeitig traf ein harter Schlag sein rechtes Handgelenk. Er registrierte betäubt, daß die Waffe aufgefangen wurde, bevor sie den Boden berührte. »Verdammt! Sie haben mich überlistet.« Er knurrte vor Wut und wand sich in dem eisenharten Griff. Er schlug mit der freien Faust wild um sich und spaltete sich fast die Knöchel, als er gegen hartes Metall hämmerte. Roboter! durchfuhr es ihn. Dann war der Ring um ihn geschlossen, und nachdem sich seine Augen an die drastisch veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er, daß ihn etwa ein Dutzend humanoid aussehender, etwa eineinhalb Meter großer Roboter umstanden. Er sah auch, wie sich mehrere Maschinen aus dem Kreis lösten, auf den Transmitter zu trampelten und ihn schweigend anstarrten. Dann flammten dröhnend die Waffen der Robots auf und konzentrierten ihre Glutbahnen auf den Transmitter. Das unendlich wichtige Gerät zerschmolz unter massiver Lichtentwicklung, funkensprühend und qualmend bis zur Unkenntlichkeit. Federspiel senkte den Kopf. Er war wütend auf sich selbst, denn er sagte sich, daß er versagt hatte. Er war wehrlos, und die Roboter, die ihn durch die Dunkelheit davonschleppten, unterstrichen diese hoffnungslose Lage, in die er sich selbst gebracht hatte. Er war zu verwirrt und zu niedergeschlagen, um die Informationen zur SOL zurückzugeben.
Die Roboter trampelten Pflanzen und Buschwerk nieder, hoben Federspiel immer dann in die Höhe, wenn er Gefahr lief, gegen einen Stein zu stoßen oder sich die Schienbeine an Hindernissen anzustoßen. Federspiel erkannte daraus, daß sie ihn nicht umbringen wollten. Trotzdem war er sicher, versagt zu haben. Die folgenden Ereignisse gaben ihm recht.
9. Vor den vier Robotern und den beiden Gefangenen öffnete sich knirschend eine abschottende Stahlplatte, die bisher halb von einem Geröllhaufen verschüttet gewesen war. Der Arkonide knurrte: »Jetzt sind wir wirklich die Gefangenen des Zentralkegels.« »Immerhin leben wir noch«, versuchte ihn Bit aufzumuntern. »Und in kurzer Zeit wird sich ein Kreis geschlossen haben.« »Welcher Kreis?« »Derjenige, der uns wieder an den Anfang unserer wohlvorbereiteten, aber fehlgeschlagenen Mission zurückbringt.« »Ich bin nicht der Auffassung, daß dieses Kommandounternehmen gänzlich fehlgeschlagen ist«, verteidigte Atlan ihre Anstrengungen. Die Stahlplatte schlug hart knackend gegen die oberen Magnetlager. Dahinter lag ein hell erleuchteter Raum. Dieser Teil des Labyrinths war Atlan und Bit unbekannt. Die Roboter zogen sie schnell durch die Öffnungen eines AntigravAufwärtsschachts. Langsam schwebten sie lange Zeit aufwärts. Bit murmelte während des Schwebens: »Sie bringen uns über das Bodenniveau hinauf.« »Vermutlich werden wir in ihr Gefängnis transportiert. Merkwürdig, daß es in den oberen Bezirken des Zentralkegels liegt.«
»Was ist hier eigentlich nicht merkwürdig?« Atlan erlaubte sich ein kurzes, ironisches Lachen. Die Maschinen schwangen sich trotz ihrer Last geschickt aus dem Schacht hinaus, tappten durch einen Korridor, bogen dreimal rechts und wieder einmal links ab und kamen, nachdem sich eine Strahlensperre aufgelöst hatte, in einen Raum, der starke Ähnlichkeit mit dem Hangar eines kleinen Raumschiffs hatte. Eine Scheibe stand darin, Gruppen von Tiefstrahlern schalteten sich nacheinander ein. Sie zeigten ein Gerät, das Atlan schweigend als Flugscheibe bezeichnete; eine flache Schale mit auf gewölbten Rändern und zahlreichen Haltegriffen. »Das könnte das Flugboot zum Flekto-Yn sein«, witzelte Lyta Kunduran, als die Roboter sie über den Rand der Konstruktion hoben und dort festhielten. Die Flugscheibe hatte einen Durchmesser von rund zehn Metern. An ihrer Außenseite befanden sich eingeformte Vertiefungen und dahinter zahlreiche Scheinwerfer in verschiedenen Farben. Dies waren nur einzelne Impressionen, die von Bit und Atlan wahrgenommen wurden. Auch den Arkoniden verfrachteten die Maschinen reichlich unsanft ins Innere der Schale und fesselten sein Handgelenk ebenso wie das Lytas an einem Haltebügel. Summend glitt eine große, undurchsichtige Glasfläche nach außen. Nur vier Roboter befanden sich in der Flugscheibe. Einer hantierte an den Kontrollen des schwebenden Geräts. Die Scheibe hob sich, glitt leise summend nach vorn und schwirrte dann davon, mitten hinein in die Dunkelheit nahe des Turmes. Warmer Fahrtwind schlug in die Gesichter der beiden Terraner. »Wohin bringt ihr uns?« sagte Atlan laut. Er bekam keine Antwort. Die Roboter standen neben ihnen und rührten sich nicht. Ihre Programmierung war hervorragend. Die Machthaber der Landschaft im Nichts hatten voll zugeschlagen und beabsichtigten weder, die Gefangenen gleich umzubringen, noch ihnen die geringsten Informationen zu geben.
Immerhin ist dies ein Zeichen, wisperte der Logiksektor, daß sie euch nicht unterschätzen. Denke an die Bilder, die Bit hervorzauberte. »Wohin wohl?« fragte Bit rhetorisch. »In den Knast, mit Gewißheit«, gab Atlan zurück. Er versuchte, den mißlichen Ausgang ein wenig sportlich zu sehen. Es mißlang. Die Flugscheibe beschrieb einen Kurs, der selbst für Atlan und sein photographisch exaktes Gedächtnis nicht mehr nachvollziehbar war. Im Zickzack und in ständig wechselnder Höhe bewegte sich das Fahrzeug durch die stockfinstere Nacht. Einmal sah Atlan die schweigende Silhouette des Turmes, dann wieder den Glanz der Sterne auf der Oberfläche eines Sees, ein drittesmal eine große Fläche leicht zitternder Blätter. Baumwipfel wurden überflogen, dann glitt die Scheibe wieder abwärts und wurde auf einen kaum wahrnehmbaren Hügel zugesteuert. »Da ist ein Licht, wenn auch ein schwaches Licht …«, murmelte Bit. Sie war ebenso niedergeschlagen wie Atlan. Aber sie dachte wohl daran, daß sie als Magnidin einmal einen Teil der Macht in der SOL repräsentiert hatte, auch wenn ihr Idol Chart Deccon nicht mehr existierte. Sie versuchte, die Ereignisse mit stoischer Gelassenheit zu betrachten – es gelang ihr nur unvollkommen. Atlan, in diesen Techniken weitaus mehr bewandert, stellte fest, daß es auch ihm nicht ganz gelang: er war tatsächlich niedergeschlagen und wütend. Allerdings wußte er noch nicht, auf wen er seine Wut richten sollte. Nicht auf die Roboter. Sie waren nur die Ausführenden. Die Flugscheibe hielt vor einem Loch an, das im Scheitelpunkt des Hügels undeutlich zu erkennen war. Die Roboter öffneten die Handfesseln Atlans und Bits, faßten ihre Gefangenen wieder an den Oberarmen und verließen schwebend die Flugscheibe. Inzwischen hatten die Solaner festgestellt, daß sie die meisten größeren Stücke ihrer Ausrüstung verloren hatten. Ein voller Erfolg also, meldete sich das Extrahirn. Atlan stieß, scheinbar völlig unmotiviert, ein Gelächter aus. Die
Roboter schwebten in exaktem Gleichmaß aus der Flugschale hinaus, die in der Luft stehenblieb, dann auf den schwachen Lichtschein des Loches zu und anschließend senkrecht abwärts. Atlan und Bit sahen, daß an ihnen Erdreich mit eingebetteten Felsen und Steinen nach oben vorbeizogen. Etwa fünfzig, sechzig Meter weit sanken die Gefangenen durch den reichlich engen Schacht abwärts, dann befanden sie sich in einer annähernd würfelförmigen Höhle, die eine Kantenlänge von zwanzig großen Schritten hatte. Eine einfache Lampe, derselbe Typ wie im Labyrinth des Zentralkegels bis zum Überdruß gesehen, befand sich in der Decke. Die Roboter setzten Bit und Atlan ab, drehten sich schweigend um und entfernten sich schnell durch den Kamin nach oben. Atlan stand im Zentrum der Höhle und drehte sich langsam einmal um seine Achse. »Willkommen«, sagte Solania von Terra halblaut. »Erfolg auf der ganzen Linie, wie?« Atlan war nicht überrascht; er wußte, daß die BINGO-II-Besatzung gefangengenommen worden war. »Es gibt einige überraschende Informationen. Wir können sie gleich diskutieren. Viel schlimmer ist es, daß ich Federspiel hier sehen muß.« Federspiel lehnte neben Oserfan an der Wand und hob beide Hände in der Parodie einer Begrüßung. »Sie haben mich ebenso überrascht wie euch, Atlan«, sagte er halblaut. »Im Augenblick haben wir alle ungewöhnlich schlechte Karten.« »So ist es«, meinte Bit. »Jetzt können wir uns nur noch auf Sanny und ihre bemerkenswerten Fähigkeiten verlassen. Wie war das mit dem Transmitter, Federspiel?« Er schilderte die verblüffende Schnelligkeit und den Erfolg des Überfalls. Er wirkte sehr schuldbewußt. Nur etwas mehr als die Hälfte der Zeit, die für den Einsatz veranschlagt worden war, war
vergangen. Atlan breitete die Arme aus und sagte in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete: »Wir sind hier. Wir haben sicher einige Zeit. Also werden wir unsere Erfahrungen schildern und zusammenlegen. Es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht zu einer Lösung kämen oder zu einer Idee, wie wir binnen kurzer Zeit unsere reichlich bedauernswerte Lage ändern könnten.« »Atlan, der Bordoptimist!« sagte Tralee Sharri. »Wir haben moralische Aufrüstung mehr als bitter nötig.« »Ich weiß. Mir ergeht es nicht anders«, sagte Atlan, setzte sich zwischen Solania und Federspiel auf den nackten Boden und fing an zu berichten. Er begann am richtigen Schnittpunkt; als sie das letztemal miteinander über Funk gesprochen hatten. Aber das Interesse erwachte erst richtig, als er das rätselhafte Flekto-Yn erwähnte und die Folge der Bilder, die Bit dem Zentralcomputer entlockt hatte. Trotzdem warteten sie alle auf das erste Licht des nahenden Tages – als ob es einige ihrer schweren, kaum lösbaren Probleme aus der Welt würde schaffen können. Federspiel wirkte nicht nur wegen seines angeblichen Versagens niedergeschlagen. Er mußte Atlan mitteilen, daß seine telepathischen Fähigkeiten hier in diesem Gefängnis vollkommen versagten. »Etwas schottet mich regelrecht von der Umgebung ab«, bekannte der Solaner traurig. Und doch zuckte er Stunden später wie unter einem geistigen Hieb zusammen und sprang auf die Beine. Mit weit geöffneten Augen starrte er vor sich hin. »Da ist …«, stammelte er, brach aber wieder ab. Atlan trat zu ihm und legte beruhigend eine Hand auf seine Schulter. Seit dem Verlust seiner Schwester neigte Federspiel bisweilen zu depressiven Verhaltensweisen.
»Mach dir keine Sorgen, Atlan«, flüsterte Federspiel. »Mit mir ist alles in Ordnung. Aber ich hatte eben ein merkwürdiges Erlebnis, das nicht meiner strapazierten Phantasie entsprungen sein konnte.« Der Arkonide wartete geduldig, bis der Telepath fortfuhr. »Sternfeuer«, erklärte Federspiel. »Ihr Bewußtsein streifte mich für Sekunden. Sie ist hier in der Nähe, aber jetzt spüre ich nichts mehr.« »Was hat sie gesagt?« »Merkwürdig.« Federspiel schüttelte den Kopf. »Sie sprach von sich in der Mehrzahl. Und sie sagte geschwächt, sie kämen jetzt, weil Atlan den Schalter getroffen habe.«
ENDE
Das Multi-Bewußtsein, bestehend aus Oggar, Sternfeuer und Cpt'Carch, hat einen Impuls empfangen, der es zum Ort des gegenwärtigen Geschehens ruft – zur Landschaft im Nichts. Damit wird es endgültig ernst – und die LiN erweist sich als das, was sie von Anbeginn war: eine WELT DER ILLUSIONEN … WELT DER ILLUSIONEN – so lautet auch der Titel des nächsten AtlanBandes. Der Roman wurde von H. G. Francis geschrieben.