KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
R I C H A R D KATZ
AUF MEINER KLI...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
R I C H A R D KATZ
AUF MEINER KLIPPE T I E R B E O B A C H T U N G E N IN DER BUCHT VON R I O D E J A N E I R O
VERLAG
SEBASTIAN
MURNAU-MÜNCHEN
LUX
INNSBRUCK-BASEL
„Gemischte Meeresfrucht" Als ich auf meiner Klippe lag und ins Meer sah, fiel mir der Name eines Gerichts ein, das ich in Venedig in einer kleinen Schenke an der Rialto-Brücke gegessen habe: „Frutta Mista di Mare" — „Gemischte Meeresfrucht" Die „Gemischte Meeresfrucht" war ein gebackenes Allerlei aus kleinen Tintenfischen, Sardinen, Schnitzeln größerer Fische, Seespinnen, Krebsschwänzen und was der Wirt sonst noch an Kostproben des nahrhaft durchwimmelten Meeres zur Hand hatte. Es war kein Gericht zum Sattessen, und es hing vom Zufall ab, was man in ihm fand. Genau so will ich die Tiere beschreiben, welche diese Klippe bewohnen, besuchen und auf ihr zu sehen sind; durcheinander: als „Gemischte Meeresfrucht". Meine Klippe wölbt ihre vom Salzwasser rund gewaschenen felsigen Schultern gerade gegenüber meinem Inselhaus, so daß ich sie auch vor Augen habe, wenn ich nicht auf ihr liege, sondern, wie jetzt, am Schreibtisch sitze. Nur der Vorgarten und die Straße trennen mich von ihr, so daß es wenige Punkte der Erde gibt, die ich so gut kenne wie diese schmale Felsbastion. Denn ich wohne ihr nun schon mehr als sechs Jahre gegenüber. Das Haupt meiner kleinen Klippe ist mit einem Zinnenkranz ummauert, auf dem, je nach der Tageszeit, Liebespaare, Angler oder auch nur Müßige sitzen. Wenn im Sommer lärmende Sommerfrischler auf die Klippe kommen, ziehe ich ins Gebirge, dessen Gipfel an klaren Tagen über die Bai herüberschimmern. Auf ihrem Scheitel trägt die kleine Klippe einen Mast, an dem an Festtagen die Fahne Brasiliens aufgezogen wird. Einmal im Jahr singen hier die Schulkinder der Insel in ihren weißen und blauen Uniformen das Fahnenlied. Deshalb heißt der Strand auch „Fahnenstrand". Die Klippe selbst aber heißt anders. Man merkt schon, es ist eine besondere Klippe, nicht bloß eine der vielen Felszacken, die namenlos aus der Bai von Rio de Janeiro aufsteigen. So klein sie ist, so bedeutend ist sie. Außer Zinnenkranz und Fahnenstange besitzt sie auch eine Kanone! Zwischen zwei ihrer Zinnen liegt ein altes eisernes Kanonenrohr, 2
zwar ohne Unterbau, doch eindrucksvoll dick. Daß es so dick ist, hat ihm im letzten Kriege das Leben gerettet; denn die InselJungen, die sich begeistert anstrengten, es der Alteisen-Sammlung des Heeres einzuverleiben, haben es nicht von der Stelle bekommen. So richtet die alte Kanone ihr verrostetes Maul nach wie vor ziellos ins Blau der Bai, eine leere Drohung, vor der nicht einmal die scheuesten Möwen Angst haben, die kleinen braunen, die mit angelegten Flügeln im Sturzflug tauchen. Nach der Kanone heißt die Klippe „Ponta do tiro" — „Spitze des Schusses" —, obschon ich noch nichts anderes auf ihr schießen gesehen habe als ein spatziges Negerbübchen mit seiner Gummischleuder. In mancher Nacht kracht es freilich so, daß, wer an Geister glaubt, annehmen könnte, die alte Kanone bollere im Traum gegen Indianer und Piraten los. Wer aber Bescheid weiß, schimpft, aus dem Schlaf geschreckt, auf die Barbaren, die allen Verboten zum Trotz mit Dynamit fischen und dabei das Mehrhundertfache dessen zerstören, was sie aufsammeln können. Daß der Fischbestand der Bai immer geringer wird, verschulden jene Piraten der Fischerei, denen man fast wünschen möchte, die alte Kanone beschösse sie mit Kartätschen. Aber die alte Kanone tut nichts dergleichen. Meine Klippe liegt in der Bai von Rio, der „Guanabara", wie sie hier melodisch mit ihrem indianischen Namen genannt wird. Sie ist die schönste Bucht der Welt. Die nächst großartige Bai, die von San Francisco, bleibt hinter ihr immer noch so weit zurück wie der Silberfasan hinter dem Goldfasan. Wer diese farbenprächtigen Hühnervögel nicht kennt, kann sie sich im Zoo ansehen. Die Klippe ist ein Teil der „Gouverneurs-Insel", welche die größte der Bai ist und sogar eine eigene Straßenbahn hat. Rechtlich gehört sie zur Hauptstadt; tatsädilich gibt es viele Hauptstädter, die sie noch nie besucht haben und, so hoffen wir Inselbewohner, auch nie besuchen werden. Denn wir schätzen eine stille Insel und ländliche Lebensführung. Doch das ist hier nicht weiter wichtig. Begnügen wir uns mit der kleinen Klippe. Sogar deren Zinne, die Fahnenstange und die Kanone können wir wieder vergessen. 3
Wir brauchen nur ihren dunkelgrauen Felsrumpf, den sie schräg an die Straße legt, als sei er eine bequeme Treppe. Erst wer sich an den scharfen Bohrmuscheln, die ihn unter Wasser besiedeln, die Zehen zerschnitten hat, weiß, daß er das nicht ist, und macht den schlüpfrigen, schmalen Pfad ausfindig, der frei von Muscheln ist.
Austern, Asseln und Garneelen Es wäre bequemer, vom Sandstrand aus zu baden, der nahe der Klippe beginnt, und die anderen machen das auch. Es ist ein weißer, bei Ebbe recht breiter Sandstrand, den die See so sanft bespült, daß Kinder dort ohne Aufsicht baden dürfen. Ja, es ist ein besonders sicherer Badestrand, auf den die Insel stolz ist und den die Inselleute täglich von Schwemmholz und Algen säubern lassen. Bleibt einmal ein Seeigel auf ihm liegen, sieht man ihn schwarz auf weiß und kann ihm aus dem Wege gehen. Oder man kann ihn vorsichtig aufbrechen und den gelben Inhalt schlürfen, der mit Zitronensaft eine Delikatesse ist. Aber eben weil der Sand rein ist, ziehe ich die Klippe vor, die vielerlei Leben Unterschlupf gibt. Nicht nur Bohrmuscheln sind ihr unter Wasser angewachsen, sondern auch Austern, die schmackhaft, wenn auch so klein sind, daß erst mehrere Dutzend ein Gericht geben. An sie kommt man aber nur in den tiefen Ebben des Neumonds heran, und selbst dann waren eineinhalb Dutzend meine beste Beute. Sie sind Stammgäste der Klippe, sie und die Wasserasseln, die aus den Poren des Felsens auf die übersonnten feuchten Platten huschen. Sie sind so neugierig, daß sie einen, wenn man sich ruhig verhält, mit ihren Fühlern betasten. Obwohl sie größer und fester als Landasseln sind und einen grauen Ringpanzer tragen, sind sie ungemein beweglich. Rührt man sich, stäubt die ganze Schar wie mit einem Ruck davon. Dann halten sie ebenso plötzlich inne und sehen sich neugierig um. Diese Neugierde wird ihnen zum Verhängnis. Die Buben, die sie jagen, wissen, daß beim ersten Zugriff keine zu fangen ist und schlagen deshalb rasch ein zweites Mal zu, einen halben Meter weiter, weil die Wasserasseln etwa dort stehen bleiben, um zurückzublicken. So haschen sie viele. Wasserasseln sind ein begehrter Köder am Angelhaken. 4
Der Rochen schwebt wie ein Vogel durch das Wasser Noch begehrter freilich als allerbester Köder, sind die Krevetten oder Garneelen, glasklare Krebschen, die nur aus Kopf und Schwanz zu bestehen scheinen. Trotzdem sind sie sehr teuer; ein Kilo kostet doppelt so viel wie ein Kilo Seezunge. Darum widmen sich die Fischer ausschließlich ihnen, wenn ihre Schwärme in seichtes Wasser ziehen. Zum Krevettenfang benutzt man kreisrunde feinmaschige Netze, die ringsum mit Bleikugeln beschwert sind, so daß sich das Netz unter Wasser schließt. Der Fischer wirft das Netz offen in einen Garneelenschwarm und zieht es geschlossen an einer Schnur wieder hoch, die in der Mitte des Netzes geknüpft ist. Brasiliens Küste ist reich an Garneelen. Eine Art wird so groß wie Flußkrebse. Leider ist sie die seltenste. Von solchen Riesenkrevetten geben schon fünfundzwanzig ein Kilo! Die mittelgroße, rosige Sorte, die nur acht Zentimeter erreicht, ist die zarteste und teuerste; sie wird gewöhnlich gesotten und auf Reis serviert. 5
Am häufigsten sind die kleinen Garneelen, von denen fünf- bis sechshundert aufs Kilo gehen. Sie kommen meist in die Konservenfabriken, wo sie gekocht, gedörrt und zwischen Salz in Kisten gepackt werden. Im Frühling kommen sie in Schwärmen an unsern Strand. Einzelne treiben sich das ganze Jahr um die Klippe herum, und die Angler fangen sie in Tüchern, die sie im seichten Wasser den Boden entlang führen. Aufgeschreckt springen die Garneelen ins Tuch. Noch behender freilich springen sie wieder hinaus, so daß die Angler Mühe haben, ihre Köderbüchse zu füllen. Sonntagsangler kaufen ihre Garneelen von einem verträumten, alten Fischer, der als Maß eine halbe Kokosschale verwendet, von der er behauptet, daß sie genau ein halbes Kilo faßt. Größere Garneelen liefert er auch in meine Küche, und das höchste, was ich dort nachgewogen habe, waren dreihundertundzehn Gramm. Doch da ich den Alten nicht erzürnen wollte, bezahlte auch ich ein halbes Kilo. Garneelen sind schwer zu beobachten, weil ihre glasklare dünne Schale sie im Wasser fast unsichtbar macht. Nur ihre sehr langen, zwirndünnen Fühler verraten sie. Doch zucken Krevetten so schnell davon, daß es mir noch nie gelungen ist, eine mit der Hand zu fangen. Entwischen sie, hüpfen sie unter den nächsten Stein oder graben sich so rasch in den Sand ein, daß sie verschwunden sind, wenn das Wasser sich wieder klärt. Sie sind noch flinker als Wasserasseln.
Die Seeanemonen Wer ein Tier der Klippe in Muße beobachten will, halte sich an die Seeanemonen, die zwischen zwei Felsrippen eine kleine Kolonie bilden: vier braune und eine grüne. Die laufen einem nicht davon. Sie haften fest, als seien sie wirklich das, was das Volk sie nennt, „Blumen der Steine". Sie siedeln knapp unter der Ebbe-Linie, so daß sie, tritt das Wasser bei Neumond besonders weit zurück, trocken liegen. Dann ziehen sie ihren Blätterkranz, der eigentlich ein Fühlerkranz ist, ein und warten bessere Zeiten ab, indem sie der Luft nur den Strunk preisgeben. Einer Seeanemone ist Hast fremd. Ihre Fußscheibe haftet am schattigen Fels, den sie einmal als zuverlässig erkannt hat, und nicht Sturm, nicht Springflut noch Tiefebbe vertreiben sie von 6
dort. „Schlechte Zeit, rechte Zeit — gehn vorüber alle beid", ist ihr Wahlspruch. Seit sechs Jahren sehe ich die gleichen fünf Seeanemonen am gleichen Platz. Es heißt, daß Seeanemonen auf ihrer Fußscheibe schneckengleich über den Meeresboden kriechen. Diese tun das nicht. Mag übersiedeln, wer will; sie sind beständig. Sommer, Winter, Weltkriege, Revolutionen, Flut, Sturm, Ebbe — was kümmert sie das! Unter den Bewohnern der Klippe ist die Seeanemone der geduldigste — wenn auch nicht der mildeste. Denn im Grunde ihres Herzens ist ein gieriges Geschöpf, das seine blütenblätterhaften Arme ins Wasser kräuselt, um zu fangen und zu fressen. Dabei erscheint eine Seeanemone dem naiven Blick als liebliches Wesen von pflanzenhafter Bescheidenheit, während sie in Wirklichkeit nur darauf giert, daß ein harmloses Tierchen sich in ihren Blättern verträumt. Ich habe gesehen, wie so eine Seeanemone eine ganz kleine Wasserassel erwischte, und, wahrlich, es war kein schöner Anblick. Im Nu schlug sie ihren Blütenblätterkranz um das muntere Tierchen. Und kaum daß die kleine Assel im Leibesschlauch verschwunden war, der den Stiel der Blüte bildet, stülpten sich die Fangarme wieder blumenhaft zart aus, als wäre nichts geschehen. „Die Seeanemonen", beobachtete Prof. Oskar Schmidt, „würgen große Stücke Fleisch hinab, am liebsten aber saugen sie Miesmuscheln und Austern aus. Ich habe oft der Fütterung im Aquarium zugesehen, wozu sich natürlich am besten die großen Arten mit langen Fangarmen eignen. Denn als wahre Fangarme erweisen sich alsdann die F ü h l e r . . . Von dem ihnen gereichten Fleisch pressen sie nicht etwa nur den Saft aus, sondern sie verdauen es vollständig. Nur die Fettmassen, welche man ihnen mit magerem Fleisch zusammen reichte, wurden wieder ausgestoßen." So gründliche Beobachtungen lassen sich auf der Klippe nicht anstellen, weil hier die Seeanemonen unter der Flut versinken. Also zitiere ich den Aquarium-Beobachter, den keine Gezeiten hindern. Mir selbst gruselt es vor Seeanemonen, obschon ihr Kelch nicht größer ist als der einer richtigen Frühlingsblume. 7
Der Stachelrochen Als ich eines hellen Morgens auf meiner Klippe lag — ich nenne sie „meine", obschon ich sie nicht einmal dann kaufen könnte, wenn ich wollte, weil Land in unmittelbarer Seenähe der Marine vorbehalten ist — und den silbrigen Fischchen zusah, die winzig wie ein Fisch-Kindergarten das glasklare Wasser durchschwänzelten, sah ich sie mit einemma.1 davonhuschen, obschon ich gewiß keine Bewegung gemacht hatte, denn, wenn ich Tiere beobachte, bleibe ich ganz ruhig. Fort waren sie, und statt ihrer war etwas da, was wie ein großer Schmetterling aussah. Ein sehr großer Schmetterling: einen Meter quer von Flügelspitze zu Flügelspitze. Doch so groß es war: Mit der Grazie eines Schmetterlings hoben und senkten sich seine hellen Flügel, oben lichtgrau und unten fleischig rosa. Es war, wie ich ernüchternd sah, ein Plattfisch und ein Raubfisch dazu: ein Stachelrochen. Jedes Wesen, sei es Mensch, Tier oder Pflanze, sollte in seiner natürlichen Umgebung beobachtet werden. Ein ausgestopfter Rochen ist ein garstiges Ding, und im Nationalmuseum von Rio kann einem vor dem ausgestopften riesigen Rochen grauen, der aus eben dieser Bai stammt. Etwas ganz anderes aber ist es, einen Rochen in der Bai schwimmen zu sehen. So anmutig schwebte der Rochen um die Klippe, daß ihm meine Zuneigung gehörte, obschon meine Vernunft nicht aufhörte, mich vor seinem Stachel zu warnen. Die Fischer sagen, der Stachel des Rochens sei giftig. Deshalb schneiden sie dem Rochen, der ihnen ins Netz geht, sogleich den Stachel unter der Schwanzwurzel ab sowie — sicher ist sicher! — den Schwanz dazu und vergraben das alles tief im Sande, damit niemand versehentlich auf den Stachel trete. Eine weise Vorsicht, denn Rochenstich tut weh. Der Naturforscher Bates berichtet, er habe starke Männer gekannt, die ein Rochenstich für Monate gelähmt habe. In tropischem Flußwasser — denn sie kommen in Süß- wie Seewasser vor — haben Stachelrochen zwei eingeborene Diener des Forschungsreisenden Schomburgk gelähmt. „Da unsere Indianer", schreibt er, „diesen gefährlichen Feind kannten, untersuchten sie 8
immer, sobald die Boote über Sandbänke geschoben oder gezogen wurden, den Weg mit einem Ruder oder Stock. Ungeachtet dieser Vorsicht wurde einer unserer Ruderer doch zweimal von einem Fisch am Fuß verwundet. Sowie der Beklagenswerte die Wunden erhielt, wankte er der Sandbank zu, stürzte zusammen und wälzte sich, die Lippen zusammenbeißend, vor wütendem Schmerz umher, obschon seinem Auge keine Träne entrollte und seinem Mund kein Schmerzensschrei entfloh. Noch waren wir damit beschäftigt, dem armen Schelm seine Schmerzen soviel wie möglich zu lindern, als unsere Aufmerksamkeit durch einen lauten Aufschrei vom Leidenden abgezogen und auf einen anderen Indianer gerichtet wurde, der ebenfalls gestochen worden war. Der Knabe besaß noch nicht die Charakterfestigkeit, um wie jener den Ausdruck seines Schmerzes zu unterdrücken; unter durchdringendem Geschrei warf er sich auf den Boden, wühlte sein Gesicht und seinen Kopf in den Sand ein, ja biß sogar in diesen hinein. Niemals habe ich einen Fallsüchtigen in solchem Grade von Krämpfen befallen gesehen. Obgleich beide Indianer nur auf dem Spann und an der Sohle des Fußes verwundet waren, fühlten doch beide die heftigsten Schmerzen in den Weichen, der Gegend des Herzens und unter den A r m e n . . . Die Krankheitszeichen hatten sehr viel Ähnlichkeit mit denen, die den Schlangenbiß begleiten. Ein kräftiger und rüstiger Arbeiter, der kurz vor unserer Abreise von einem Stachelrochen verwundet worden war, starb unter den fürchterlichsten Krämpfen." Und über Meerrochen — wie den, der mit solcher Grazie meine Klippe umflügelt — schrieb Wyatt GM aus der Südsee: „Der gefürchtete Fisch, von dem es mehrere Arten gibt, ist in der Südsee sehr gewöhnlich... Eingeborene haben mitunter das Unglück, auf einen verborgenen Fisch zu treten. In demselben Augenblicke hält der Rochen den Unachtsamen fest und treibt ihm den am Schwänze sitzenden gezahnten Stachel ins Fleisch. Die Spitze dieser schrecklichen Waffe bricht fast immer ab; bleibt sie im Körper stecken, ist keine Hoffnung auf Erhaltung des Lebens. Sitzt die Spitze im Fuße oder Bein, so pflegt man auf der entgegengesetzten Stelle einzuschneiden, da man nur in der Richtung des Stoßes die widerhakige Spitze herausziehen kann. Am Schwanz trägt der Rochen zwei solcher langer knochenharter Stacheln, wovon der zweite unter 9
dem ersten liegt. Es kommt häufig vor, daß der Ersatzstachel schon eine beträchtliche Länge erreicht hat, bevor der erste abgestoßen wird .. . Gelangt ein solcher Stachel in den Rumpf eines Menschen, so hat er das ' Bestreben, bei jedem Atemzuge des Verwundeten sich wie eine Nadel immer tiefer einzubohren; wird dann ein edler Teil erreicht, tritt mit Sicherheit der Tod ein . . . " Obwohl diese Schilderung auf Gift schließen läßt, besitzt der Rochen keine Giftdrüse. Viele Zoologen halten ihn deshalb für ungiftig und begründen die heftige Wirkung des Stachels lediglich mit seinen Widerhaken. So meint der vortreffliche USA-Zoologe Gutright: „Nachdem man Unglücksfälle gelesen hat, wäre es nut natürlich anzunehmen, daß der Stachelrochen eine Giftdrüse besitzt . . . Da ist erstens der heftige Schmerz gleich nach der Verwundung, zweitens eine Lähmung, die sich rasch auf die Zentren der Lymphbahnen erstreckt, und drittens die Hartnäckigkeit, mit der die Wunde die Heilung verweigert . . . Untersuchungen haben indes keine Giftdrüse ergeben, und der Stachel ist gewiß nicht hohl. Anderseits ist an seiner Wurzel eine beträchtliche Schleimhaut feststellbar, die reichlich Schleim absondert, so daß der Stachel meist damit bedeckt ist. Wahrscheinlich enthält dieser Schleim eine gewisse Bakterienart. Da nun nicht wenige Bakterien Gifte absondern, läßt sich annehmen, daß in dieser Hautabsonderung Bakterien ein sehr kräftiges Gift produzieren, das die beschriebenen Folgen hervorruft." Aber Gutright irrt sich; denn jedermann weiß, daß Vergiftungen durch Bakterien einige Zeit brauchen, um zu wirken. Ein Rochenstich aber ruft — wie ein Schlangenbiß oder ein Bienenstich oder die Berührung einer Brennessel — sofort heftigen Schmerz hervor, was darauf schließen läßt, daß auch bei ihm Gift in die Wunde eintritt. Selbst die giftigsten Bakterien bringen hingegen erst nach geraumer Zeit Blutvergiftung, Starrkrampf, Tollwut oder sonst eine Abscheulichkeit zustande. So wohlwollend ich sonst Tiere beurteile: hier glaube ich jenen Zoologen, die den Rochen tatsächlich auch ohne Giftdrüse für giftig halten, und den Fischern, die ihn doch genau kennen. Unter den erlegten Rochen, die unser Fährschiff oft nach der Stadt bringt, sind große Rochen darunter, zwanzig, dreißig Kilo 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.07 12:07:33 +01'00'
Schwimmende Königsqualle schwere Kerle. Auf dem Trockenen gleichen diese eckigen Fische Kinderdrachen, die auf der Erde liegen. Das Volk ißt sie gern, obschon ihr Fleisch hart und faserig ist und an den Geschmack des andern Plattfisches unserer Bucht, der Seezunge, nicht heranreicht. Dafür sind Rochen billig. Seit Stockfisch wegen der hohen Transportkosten fast unerschwinglich geworden ist, macht eine Fischfabrik in Rio aus Rochen „Nationalen Stockfisch". 11
Das die Klippe anmutig umsegelnde Wesen läßt sich von all dem nichts anmerken. Gelassen schwingt es seine flossengesäumten hellen Flanken, ohne Scheu vor mir, der die Beine mit Hast aus dem Wasser gezogen hat. Ein Rochen hat keine Angst vor einem Menschen, und eigentlich brauchte auch ich keine Angst vor dem Rochen zu haben, der an mir vorbeischwimmt. Der Rochen, den man sieht, ist ungefährlich. Er greift nicht an. Wozu auch? Sein Maul ist so klein und schwach bezahnt, daß er auf Bodenfischchen, Garneelen und anderes Kroppzeug des Meeres angewiesen ist. Gefährlich ist nur der Rochen, den man nicht sieht. Gestochen wird man, wenn man auf einen Rochen tritt, der sich in den Sand eingewühlt und mit Kies und Muscheln so bedeckt hat, daß man ihn nicht erkennt. Doch sind solche Fälle außerordentlich selten. Auf dieser Insel kenne ich nur einen und auch den nur vom Hörensagen: ein Fischerjunge wurde, als er beim Einschieben des Kanus auf einen Rochen trat, in die Ferse gestochen. Er stürzte schreiend zusammen. Obwohl ihm ein Arzt den Stachel ohne Säumen aus dem Fersenballen schnitt, hinkte der Junge monatelang. Dieser einzige Fall hat sich vor mehr als zehn Jahren ereignet, und dabei kommen Rochen bisweilen in solchen Schwärmen an unsern Strand, daß die Buben sie mit Haken auf den Sand bugsieren.
Haie von mancherlei A r t . . . Ein anderer Fisch, mit dem meine Phantasie mich zu plagen pflegt, ist der Hai. Es gibt Haifische in der Bai und es gibt sogar viele. Aber in den letzten vierzehn Jahren hat sich auf unserer Insel kein einziger Fall ereignet, in dem sie einen Menschen angegriffen hätten. Danach habe ich mich gewissenhaft erkundigt, und wenn ich die Frist mit vierzehn Jahren bemesse, so deshalb, weil ich darüber hinaus keine verläßliche Auskunft bekam; es mögen auch mehr Jahre sein. Nein, die Haifische der Rio-Bai tun Menschen nichts zuleide. Schon deshalb nicht, weil die meisten bloß Hammerhaie sind, die zwar fürchterlich aussehen, aber ein so kleines Maul haben, daß sie sich, wie die Rochen, mit kleinen Fischen und Krebsen begnügen müssen. 12
Auch Würmer fressen sie. So teuflisch der breite Plattschädel und so torpedohaft unwiderstehlich sein drei, vier, ja fünf Meter langer Leib auch aussieht: der Hammerhai ist in der Tat ein harmloser Kroppzeugfresser. Meinen ersten Hammerhai habe ich in Australien gesehen, als ich im Hafen von Brisbane schwamm, und ich kann mich nicht erinnern, je schneller geschwommen zu sein als damals. Wahrscheinlich hat sich auch der Hammerhai, so schnell er konnte, davongemacht; ich habe mich nicht umgesehen; ich hatte es zu eilig. Wer je einen Hammerhai gesehen hat, wird das verstehen. Man stelle sich den Leib eines menschenfressenden Blauhais vor — nur noch stromliniger — mit einer Schwanzflosse wie ein Dampferruder und einer geradezu phantastisch zackigen Rückenflosse, dazu einen Kopf, wie ihn kein anderes Lebewesen dieser Erde besitzt, platt und außerordentlich breit, einen richtigen Querhammer, der, sieht man ihn zum erstenmal, ein bleckendes Maul zu sein scheint. Sieht man ihn ruhig an — am ruhigsten einen ausgestopften —, bemerkt man jedoch, daß es ein harmloser Wasserkopf ist, an dessen beiden äußersten Enden, den Hammerkanten sozusagen, große dumme Augen sitzen, während das Maul, das man riesig und scharfbezähnt an des Hammers Breitseite vermutete, klein und harmlos dort sitzt, wo man die Kehle erwartet hätte. Es gibt eine Menge Haie, Hundshaie und Katzenhaie und Schweinshaie und Heringshaie und Walhaie und Eishaie, sogar Sternhaie gibt es, und unter ihnen sind viele, die man zu Unrecht verabscheut. Den Menschen greifen nur wenige Arten an. Der Menschenhai hat viele Namen und wenige Tugenden; die Australier nennen ihn „Graue Nonne"; am Roten Meer spricht man einfach vom „Menschenfresser", und in Brasilien gibt es sechs volkstümliche Namen für ihn, unter anderem „Färberin" und „Großschnauze". Daß auch diese Liste nicht vollständig ist, erfuhr ich, als ich am Strande von Bahia badete. Jemand rief: „Melancia!" („Wassermelone!)", und alles strebte dem Ufer zu. Da ich annahm, ein Händler riefe sein Obst aus, folgte ich gemächlichen Tempos. Erst an Land erfuhr ich, daß der Ruf vor Menschenhaien gewarnt hatte, die einen Geruch ähnlich dem der Wassermelone verbreiten sollen. 13
In Rio kommen Menschenhaie nicht in der Bucht, sondern nur am Strand des freien Atlantik vor und sind auch dort so selten, daß ich nicht an sie geglaubt hätte, wenn nicht einer von ihnen — seltsamer Zufall! — vor wenigen Tagen erst einen Menschen getötet hätte. Ein Student, der nahe dem Strand von Copacabana schwamm, schrie plötzlich gellend auf und sank. Freunde faßten ihn unter den Armen und brachten ihn mit wenigen Schwimmzügen an Land. Dabei sahen sie im klaren Wasser einige sehr große Fische vorbeiziehen. Ein Hai hatte dem Studenten den Oberschenkel zerfleischt und die Kniescheibe zermalmt. So schnell ärztliche Hilfe kam: der Arme verblutete, bevor man ihm helfen konnte. Der Fall hat viel Aufsehen erregt, doch da er der erste war, seit der Badestrand von Copacabana berühmt geworden ist — und das sind an die zwanzig Jahre her —, betrachtete man ihn als so seltene Ausnahme, daß der Strand kurze Zeit darauf wieder belebt war. Es beschattet das helle Bild meiner kleinen Klippe unverdientermaßen, auf ihr so ausführlich an Menschenhaie und Stachelrochen zu denken. So viel frohes Leben umspült sie! Aber was ist zu tun — da ist die Phantasie und da ist die Erinnerung, die ihr noch hilft, das glitzernde Wasser zu trüben. Da ist die Erinnerung an einen Menschenhai, der bisweilen noch in meinen Träumen auftaucht: Auf den Strand von Atami, das ein Städtchen Mitteljapans ist, hatten Fischer einen großen Menschenhai eingeschleppt — „Tigerhai" heißt er dort. Als ich ihn sah, mußte er schon einige Zeit auf dem Trockenen gelegen haben, denn die Fischerboote waren aufs Land gezogen, und nur noch einige Kinder bestaunten den mächtigen Fisch, der da, den speckglänzenden Bauch nach oben, auf dunkeln Steinen lag. Über seine gebrochenen Augen krochen Fliegen. Das Dreieck des Mauls klaffte gen Himmel. Es war ein Maul, in dem ich bequem Platz gehabt hätte, denn der Hai war mehr als fünf Meter lang, und der Kegel seines Leibs schwoll von Schwanz zu Kiemen unheimlich an. Weder vor- noch nachher habe ich einen so starken Hai gesehen. An den aufgerissenen Kiefern starrten, wie an Baumsägen, die scharfen flachen Zähne. 14
Ich prüfte, wie scharf sie seien, und strich mit dem Finger über sie. In diesem Augenblick fühlte ich Gegendruck. Gespenstisch langsam hob sich der mächtige Unterkiefer. Ein Kind schrie auf. Ich sprang zurück. Doch schon sank die Kinnlade wieder, und der riesige Fisch lag so reglos wie vorher. Es geschah mir nichts, und es geschah überhaupt nichts weiter, als daß die Nähe eines lebenden Wesens einen scheinbar toten Hai zu einer kleinen Reflexbewegung galvanisiert hatte. Dennoch: Jene langsam sich hebende Reihe starrender Zähne habe ich nicht vergessen. An sie dachte ich auch — und es überlief mich —, als ich an eine Spalte meiner Klippe eines jener täschchenartigen Eier angeheftet fand, die an Größe und Gestalt nur von Haien oder von Rochen stammen können, wie denn Rochen und Haie überhaupt verwandte Familien sind. So verstehen wir, weshalb die Eier dieser beiden Fisch-Sippschaften sich so zum Verwechseln ähnlich sehen, daß ich dem Ei an meiner Klippe nicht anmerken konnte, ob es sich zu einem harmlosen, wenn auch grotesken Hammerhai, zu einem Stachelrochen oder, Gott behüte, gar zu einem Menschenhai entwickeln werde. Auf alle Fälle habe ich es abgenommen und an Land geworfen. Es gibt auch ohne das genug Haie und Rochen.
Jäger und Gejagte Die Sonne steht schon hoch über dem Brotfruchtbaum. Die Achtuhr-Sirene tönt von den großen grauen Benzin-Tanks her, die im schönen Antlitz der Bai wie Pockennarben sind. Beine und Bücher schwingend, galoppieren Schulkinder um die Straßenkurve der Schule zu. Dann ist es wieder still um die graue Klippe. Die einlaufende Flut führt ihr einen Schwärm ganz kleiner stumpfnasiger Tainhas-Fische zu. Erwachsen würden sie einen vorzüglichen Tafelfisch geben, wären sie nicht jetzt schon Futter der Dourados, dicker goldglänzender — und gleichfalls schmackhafter — Zweikilo-Fische, die unter dem dichtgedrängten Schwärm der Kleinen schwimmen und aus dem Vollen schnappen und schlingen. Ihre breiten Rücken schimmern bläulich herauf; wenn sie sich zum Bisse hochschnellen, blinken gelbgolden die Flanken auf. Unten die räuberischen Dourados, oben die Möwen, die den Schwärm kreischend umkreisen und immer wieder niederstoßen, 15
um sich einen Schnabel voll zu holen: Die kleinen Tainhas wissen vor Angst nicht aus noch ein, so daß die flirrende Welle ihres Zugs schnurstracks der Klippe entgegeneilt, als wollten sie sich verzweifelt auf den Felsen schleudern. Erst knapp vor dem Fels bricht sich der Kurs so jäh, daß die obersten Fischchen übers Wasser schnellen. Das Kräuselfeld des Wassers und der Möwenschwarm der Luft ziehen seewärts ab .. . Hoch oben, wo die Sonnenhitze das Himmelsblau weißlich glüht, schwebt ein Paar Fregattvögel, unbeeindruckt von dem Gewühl der kleinen Fische. Großartig ist das schwebende Gleiten dieser schnellsten aller Vögel. Dem Umriß ihrer schmalen Sichelflügel und ihre« Zackenschwanzes mag man so lange mit dem Blicke folgen, bis einen der Sonnenglast nur noch bunte Feuerflecke sehen läßt, ohne auch nur einen einzigen Flügelschlag wahrzunehmen. Fregattvögel durchgleiten die Luft mehr, als daß sie in ihr flögen. Die Gelehrten sind sich noch nicht darüber einig, wie sie das fertigbringen. Vielleicht machen sie sich die Luftwellen zunutze, die den unten rollenden Meereswellen entsprechen. Wie immer: Das Segeln des Fregattvogels unterscheidet sich vom Segeln der Landvögel — der Falken etwa — so deutlich wie ihre Flügel. Bei Landseglern sind sie breit und gewölbt, bei Meerseglern schmal und flach. Unsere Segelflugzeuge können zwar das Segeln der Landvögel nachahmen, nicht aber das Segeln des Fregattvogels überm Meere. Er ist nicht nur der schnellste, er ist auch der eleganteste Flieger über den Meeren. „So flink auch Seeschwalben und Möwen sind", schreibt Audubon, „der Fregattvogel überholt sie mühelos. Habicht, Wander- und Gerfalke, die ich für die schnellsten Falken ansehe, sind genötigt, ihre Opfer zuweilen eine halbe Meile weit zu verfolgen, bevor sie sich ihrer bemächtigen können: Der Fregattvogel hingegen stürzt sich aus seiner Höhe mit der Schnelligkeit eines Blitzes hinunter auf den Gegenstand seiner Verfolgung, den sein kühnes Auge vorher fischen sah, schneidet ihm jeden Rückzug ab und zwingt ihn, die verschlungene Beute, die er just gefangen hat, ihm vorzuwürgen." Der Schluß scheint mir übertrieben. Daß der Fregattvogel eine Möwe oder einen Pelikan zwingt, ihm einen erbeuteten Fisch aus dem Kropf zu erbrechen, habe ich noch nie gesehen. 16
Seestern öffnet eine Auster 17
Da der Fregattvogel schneller ist als irgendein lebendes Wesen — ich habe ihn einen Schnelldampfer, der achtzehn Knoten lief, das sind dreiunddreißig Kilometer in der Stunde, so spielerisch umkreisen gesehen, als läge das Schiff vor Anker —, wäre es nur Zeitverschwendung, wenn er eine Möwe zwänge, ihm einen Fisch „vorzuwürgen". Er fängt sich ihn einfach selbst, indem er — wie ich immer wieder beobachte — über die Wasseroberfläche streicht. Er will ihn frisch haben, bei Fischen kommt es sehr auf Frische an. Mir ist ein Fisch, der frisch aus dem Wasser kommt, unter allen Umständen lieber als einer vom Eis. Geschweige denn einer aus dem Kropf eines Pelikans! Hingegen pflichte ich Brehms Urteil bei: „Besonders hervorragenden Verstand scheint der Fregattvogel nicht zu besitzen." Nicht selten, wenn ich von meiner Klippe zu jener strauchbewachsenen anderen Klippe schwimme, die das Ende der Fahnenbai markiert, kommt es vor, daß ein Fregattvogel, der majestätisch die Höhe durchsegelte, meine alterszähe Person für genießbar hält. Er schießt dann aus dem Äther so tief herab, daß er unmittelbar über meinem Kopf schwebt, und ich mit überflüssiger Deutlichkeit seinen geraden, erst an der Spitze raubvogelhaft herabgekrümmten Schnabel sehe — einen meißelstarken gelben Schnabel, den meine Phantasie sogleich des Augenaushackens verdächtigt. Tatsächlich tut der Schnabel nichts dergleichen; er nötigt mich nicht einmal, ihm etwas „vorzuwürgen". Sondern der Fregattvogel hebt, mich schiefen Kopfes anäugend, seine schmalen Schwingen, flattert — ja, um sich aus Wassernähe zu heben, muß selbst ein Fregattvogel flattern! — und fliegt davon; während ich, der den allzu nahen Raubschnabel mit über Gebühr ausgreifenden Armen und mit Beinen einzuschüchtern versucht hatte, dem elegantesten Flieger aller Meere befreit nachblicke. Er ist nur' ein Fregattvogel eines Paares, das bei meiner Klippe fischt; ich nehme an, es ist das Männchen, das sich vor seiner Frau aufspielen will. In der kühleren Zeit fliegen Fregattvögel zu Dutzenden in die Bai ein. Von unserer Inselfähre sah ich schon ganze Geschwader von ihnen über dem Kai kreisen, wo sie im Abfall der Markthalle nach Beute spürten. 18
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„Von Hunger gequält, vergißt der Vogel jede Rücksicht", vermerkt Brehm, „stürzt sich z. B. unmittelbar vor den Ortschaften auf Fische oder Fleischstücke, die er im Wasser schwimmen sieht, hinab, oder sammelt sich mit anderen seiner Art scharenweise um ein größeres Aas, das an den Strand getrieben wurde, und versucht, von ihm so viel wie möglich abzureißen . . . Gefangene Fregattvögel gelangten neuerdings dann und wann in unsere Käfige, halten bei geeigneter Pflege auch jahrelang in ihnen aus. Diejenigen, welche ich sah, entschlossen sich nicht, selbständig zu fressen, mußten daher gestopft werden. In unschöner Stellung verweilten sie fast regungslos stunden-, selbst tagelang auf derselben Stelle." Wenige Schilderungen haben mich so traurig gestimmt wie diese. Der König der Lüfte „gestopft" . . . „in unschöner Stellung" . . . „fast regungslos" . . . Ach, denken wir nicht daran! Sehen wir lieber dem Paar dort oben zu, das in Freiheit herrlich kreist.
Seltsames Meergetier Eines trüben Morgens, an dem die Bai Nebel zu tiefen Wolken aufdunstete, war das Wasser um meine Klippe von einer Unmenge gurkenförmiger Quallen wie zu Gallert geronnen. Sie schwebten aufrecht so nahe aneinander, daß die Bai hier milchig aussah, weil sie sozusagen mehr Quallen als Wasser enthielt. Es schien, als trieben die Gurkenquallen willenlos mit der einkommenden Flut, doch bei aufmerksamerem Zusehen ergab sich, daß sie auch Eigenbewegung hatten, etwas wie einen Atem, der ihre spannenlangen Leiber abwechselnd anschwellen und einsinken ließ. Mit Hilfe dieser Bewegung hielten sie gegeneinander Abstand wie Soldaten, die, nebeneinander marschierend, Tuchfühlung halten. Ihren dickwalzigen Leibern entlang zogen sich fadendünne weiße Rippen, so daß sie aussahen wie aus venezianischem Fadenglas geblasen. Sie paßten, wie dafür angefertigt, zum trüben Morgen, in dem die Sonne nur als verschwommener roter Fleck hinterm Milchglas der Wolken glomm. Nach wenigen Stößen gab ich es auf, das Heer der Quallen zu durchschwimmen. Zwar erwies eine Probe, daß diese Quallen keine 19
brennenden Nesselfäden besaßen, doch war mir das Gefühl schleimigen Umdrängtseins widerlich. Als ich am selben Tage bei verrinnender Flut zur Fähre ging, sah ich vom ganzen etwa zwei Kilometer langen Strandweg aus keine einzige Gurkenqualle mehr im Wasser. Nur einige waren verendet auf dem Trockenen liegengeblieben. So kommen und gehen hier große Wanderzüge von Lebewesen, ohne kaum eine Spur zu hinterlassen. Einmal sind Wasser und Sand voll platter Schwämme — „Hufeisen des Meeres" nennt das Volk sie nach ihrer Form —, ein andermal ziehen Sardinen so dicht gedrängt küstenwärts, daß einem tatsächlich kein Platz zum Schwimmen bleibt, ja daß ihre obersten Schichten von den unteren aus dem Wasser gedrückt werden. So reich an Sardinen ist die Bai an heißen Sommertagen! Doch dann ist sie wieder viele Monate lang so frei von ihnen, als seien alle vierzig Sardinenarten ausgestorben, die an der Küste Brasiliens heimisch sind. Dafür treiben dann zu vielen Tausenden fein lilafarbene Schirmquallen ein, die einen, gerät man in ihre Nesselfäden, höchst unfein brennen. Arm oder Fuß, der sie berührt, wird brennrot und schwillt juckend an. Es gibt die Zeit der Garneelen — und von denen hat wieder jede Art ihre Zeit — und die Zeit kleiner Meer-Schnecken mit steilen spitzen Häuschen. Manchmal liegt die Klippe voll braunen Blasentangs; manchmal bespült die Flut sie mit rosa Muschelschalen. Wer sich nicht mit der Beobachtung der ständigen Klippenbewohner begnügt, braucht ein volles Jahr, um auch nur die regelmäßig wandernden Besucher kennenzulernen. Und dabei gibt es seltenere Gäste. Doch nie ist die See verlassen, nicht einmal das bißchen Seewasser um meine Klippe. Nie bleiben ihre Wege leer. Dichteres Leben durchpulst das Meer als die Luft oder die Erde. Tropisches Meer zumal. Das überschäumt von Leben! Selbst im insekten- und vogelreichen Brasilien muß man weithin blicken, um schwirrende Kolibris, flatternde Sing- oder Schreivögel zu sehen, und man muß zuwarten, bis einem ein Schmetterling oder eine Wespe durchs Blickfeld fliegt. Bodenwärts erblickt 20
man zwar fast stets Ameisen, doch nur bei geduldigem Ausharren auch größeres Getier, wie Eidechsen oder Schlangen oder Ratten oder gar ein Gürteltier. Im Meer hingegen weiß man nicht, wohin man zuerst sehen soll: Fischchen und Fische, Muscheln und Quallen, Asseln und Krabben, Tümmler und Schwämme, Garneelen und Seeigel — etwas ist immer da, was man beobachten kann, und seien es auch nur die sanft um sich tastenden Fühler einer Seeanemone. Nährbouillon des Lebens ist das Meerwasser, so daß es wohl richtig ist, wenn der alte griechische Philosoph Thaies von Milet es als Prinzip des Lebens ansah. Selbst die paar Kubikmeter Salzwasser, die ich von meiner Klippe beobachten kann, sind reicher an Leben als das weite Luftmeer, das mein Blick bis zu den Bergen
Die Kokoskrabbe mit einer Kokosnuß 21
durchspäht, und das gute Stück der „Gouverneurs-Insel" dazu, das ich von hier aus überblicke. So dicht das Leben das Meer erfüllt: so vielfältig und formenreich ist es auch.
Seepferdchen und Seesterne Eine Wasserhose, aus Wolken und Wellen zusammengewirbelt, hat mir das Haus abgedeckt. Rot stäubten die Dachziegel über Garten und Straße. In launischem Zickzack dreht sich der Wirbel vorwärts. Links am Strand kracht ein dicker Mangobaum, noch aus der Kolonialzeit, zu Boden, rechts in meinem Garten bleibt die dünne Königsakazie stehen, die ich selbst gepflanzt habe. Die rotlaubige Canna wirbelt zerfetzt davon, die grünblättrige im Nebenbeet bleibt stehen. Seltsam sind die Wege einer Wasserhose. Mein Nachbar zur Rechten verliert nur dürre Äste, gefällig überspringt ihn der Wirbel, meinem Nachbar zur Linken aber hat er vom schönen Bananenhain auch nicht einen Schaft ungeknickt gelassen. Über den verdschungelten Hügel hinter meinem Hause hüpft die Wasserhose hinweg, aber fünfhundert Meter weiter dreht sie dem fleißigsten Mann der Insel aus Salatköpfen, Zuckerrohr und Orangenbäumchen einen unentwirrbaren Haufen. Warum wohl trifft ein Sturm so oft daneben? Das Wasser ist mir durch die Stubendecke gelaufen — leidigerweise auch noch Salzwasser! Der Wirbelwind hat es aus der Bai gesogen und mir an den Kopf geworfen. Sprechen wir lieber von etwas Erfreulichem. Von Seepferdchen zum Beispiel. Eines oder das andere weidet bisweilen auf den Algen meiner Klippe. Früher kamen sie in Rudeln, und es war hübsch zuzusehen, wie sie, die knochigen Wickelschwänze um Stengel geschlungen, aufwärts schwebten und mit ihren langen steifen Röhrenschnauzen die Algen entlang schnupperten. Die schneckenschwänzigen Pferdchen des Meeres glitzern im Wasser so hellblau und hellgrün, daß der Maler blauer Pferde, Franz Marc, seine Freude an ihnen gehabt hätte. Dabei drehen sie ihre dunkeln Kugelaugen wie Chamäleons nach allen Seiten. 22
Seepferdchen sind, so belehren uns die Zoologen, nicht mit Chamäleons verwandt und schon gar nicht mit Pferdchen, sondern sie sind Fische; genauer gesagt Knochenfische, nur daß sie ihre Knochen außen tragen; oder, noch genauer gesagt, „Büschelkiemer", die die Algen, um die sich ihr Schwanz schlingt, nicht etwa fressen, sondern nach winzigen Krebschen oder sonstwie fleischiger Nahrung absuchen. Seepferdchen können schon deshalb keine Pferde sein, weil sie Eier legen, und dies noch dazu auf so abwegige Weise, daß das Weibchen seine Eier auf den Bauch des Männchens legt, das sie dort befruchtet und in seiner Bauchtasche ausreifen läßt, als sei es ein weibliches Känguruh. „Die große Wunderwerck Gottes und Geschicklichkeit der Natur erzeigen sich in viel wunderbarlichen Geschöpften", bemerkte dazu fromm der alte Zürcher Geßner im 18. Jahrhundert, „insonderheit in diesem gegenwärtigem Meerthier oder Fisch, welcher mit Kopf, Halsß, Maul, Brust, Halsßhaar sich gäntzlich einem irrdischen Pferd vergleichet, außgenommen der Hindertheil oder Schwantz, so eine andere Gestalt hat" . . . Von der Klippe haben die Inselbuben leider schon die meisten Seepferdchen weggefangen, um sie an der Sonne zu trocknen und — liegen zu lassen. Was ließe sich auch mit getrockneten Seepferdchen anfangen? Seesterne, die sie gleichfalls von meiner Klippe plündern, kann man wenigstens als Talismane gegen den bösen Blick an die Haustür nageln. Ach ja, Seesterne! Auch sie sind stete Besucher meiner Klippe. Fast jede Flut bringt welche mit und läßt sie liegen. Seesterne gehören zu den vollendetsten Lebewesen. Hier sträube ich mich gegen die Zoologen, die sie unter die niederen Tiere einreihen. „Niedere?" Wieso? Weil sie nicht zwei Beine haben wie wir, sondern fünf oder gar sieben? Doch die Zoologen beharren auf ihrer Meinung: Der Seestern gehört zu den niederen Tieren. Zwar besitzt der Seestern auf jeder Fußspitze ein vollkommenes — wenn auch sehr kleines — Auge, zwar betätigt er Saugnäpfe 23
zum Tasten und andere zu Bewegung und Angriff, zwar ist er mit Mund, Magen und Darm ausgestattet, zwar ist er, wenn auch nur spannenlang, doch so muskulös, daß er Austern aufdrücken kann, was kaum ein Mensch ohne Werkzeug zustande bringt, zwar atmet und kaut und liebt er, legt Eier und brütet sie auch noch in. einer Leibestasche aus; zwar ist er imstande, sich außerdem noch durch Sprossung zu vermehren, so daß jedes Bein, das er abstößt •— oder sonstwie einbüßt — wieder zu einem vollständigen Seestern werden kann, während ihm selbst das verlorene nachwächst: Dessenungeachtet reiht ihn die Zoologie ganz tief unten ein, ja macht ihm gerade seine Lebenszähigkeit zum Vorwurf. Für viele Zoologen nämlich bedeutet das Komplizierte auch das Vollendete. Darin unterscheiden sie sich vom Techniker, der die einfachste Lösung für die eleganteste hält. Danach würde es ein Kennzeichen niederer Art sein, sich ein verlorenes Bein nachwachsen zu lassen, statt es durch eine Prothese zu ersetzen. Technisch besehen ist es die ideale Lösung. Der Naturfreund bescheidet sich, einem fleischfarben schimmernden Seestern zuzusehen, der langsam über den Fels wandert, die Beinspitzen aufgekrümmt, die Leibesscheibe leicht angehoben. Er gleitet über eine kleine rosa Muschel und senkt auch schon den Leib darauf hinab. Drei Beine umschlingen die kleine Muschel, zwei geben Halt, indem sie, ausgestreckt, ihre Saugnäpfe an den Fels pressen. Mehr sehe ich nicht, denn die Scheibe des Seesterns ist viel größer als das rosa Müschelchen. Nach dieser geringen eigenen Beobachtung gehe ich von der Klippe ins Haus, um im Band „Niedere Tiere" nachzuschlagen, den Professor Schmidt zu „Brehms Tierleben" beigesteuert hat. Über das Fressen eines fünffüßigen Seesterns schreibt er: „Am liebsten gehen die Seesterne auf Schnecken und Muscheln. Sie legen ihre Bauchscheibe mit den Saugfüßchen und dem Munde um die Beute, die zwar anfänglich Deckel und Schalen fest anzieht und verschließt, allein wohl infolge des Ausscheidens eines betäubenden Saftes bald in ihrem Widerstände nachläßt, so daß eine Art von häutigem Rüssel, welchen der Seestern ausstülpt, in das Weichtiergehäuse eindringt oder es umfaßt und dessen Inhalt aufsaugt." Wie ich wieder, also belehrt, auf die Klippe zurückkehre, ist der 24
Seestern fort, und vom rosa Müschelchen liegen nur noch die Schalen da. Auf der Straße naht mit unmäßigem, doch harmlosem Getöse die kleine Straßenbahn der Insel. Nicht einmal der Martinfischer nimmt ihr ausgeleiertes Geklapper ernst, sondern bleibt auf der Mastspitze eines nahebei vertäuten Segelboots sitzen. Das Volk sagt dem Martinfischer nach, er lasse seinen Kot ins Wasser fallen, um damit die Fische zu ködern. Das Volk hält ihn überhaupt für listig. Aus eigener Anschauung kann ich das nicht bestätigen, obschon ich ihm oft zusehe. Der Martinfischer ist kein Vogel, der sich übersehen ließe. Dazu schnarrt er zu eindringlich. Er schnarrt wie die „Ratschen", die wir als Buben in der Karwoche drehten, wenn die Glocken „nach Rom geflogen" waren. Landet er auf dem Leitungsdraht vor meinem Fenster, schnarrt er mir die Feder aus der Hand. Dabei wippt er angestrengt, um zwischen seinem übergroßen Plattschnabel und seinem kümmerlichen Schwanz das Gleichgewicht zu halten. Er benimmt sich wie ein Clown, der einen Seiltänzer nachmacht. Ein anderer, größerer Martinfischer sitzt gern auf der Mündung der alten Kanone. Er bevorzugt aussichtsreiche Plätze. Den Kopf hält er schief und guckt ins Meer. Der Martinfischer gehört in die Familie unserer Eisvögel, ist aber größer als sie. Dagegen fehlt ihm ihr wunderschönes Blau; er hat eine weißlich helle Brust und ist im übrigen nur dunkelgrün und rostrot gefleckt. Zum Fischen stürzt er sich jagdgierig mit dem Kopf voran ins Wasser, bringt aber, wenn er wieder hochflattert, nur ausnahmsweise etwas mit. In zwei Stunden hat er siebzehnmal getaucht und nur fünf Fischchen hochgeholt. Gesehen habe ich drei und auf die beiden andern aus seinem schlingenden Gehabe geschlossen. Hinter der Straßenbahn klappern gemächlich ein paar Pferde heran, von denen ich nicht weiß, wem sie gehören. Keinesfalls gehören sie zu unserem Strand. Der braune Hengst hat schiefe Hinterbeine, so daß er im Fluchtgalopp vor entrüsteten Gartenbesitzern mit dem Hinterteil schlenkert, als wolle er seine Verfolger höhnen. Die Stute ist ein Grauschimmel und so dickbäuchig, als sei sie wieder guter Hoffnung. Da aber das Füllen, das hinter 25
ihr läuft, nicht älter sein kann als ein paar Wochen, hat sie vermutlich nur nasses Gras gefressen. Das Füllen ist ganz der Papa; fahlbraun und x-beinig. Die Pferdefamilie weidet die Böschung ab, auf der mein Haus steht. Ich raffe zusammen, was an Steinchen um mich liegt, weil ich ihre Neigung kenne, an meinen Hibiskus-Büschen zu rupfen. Der Hengst hört das Geräusch, wirft einen vorwurfsvollen Blick auf die Steinchen und führt seine Familie an meinem Garten vorbei. Nach einiger Zeit erweist ein entrüsteter Aufschrei hinter der Straßenkurve, daß er sie ins Gemüse des Nachbarn geführt hat. Es trommelt von galoppierenden Hufen, und die drei Pferde biegen um die Ecke. Sie sind schon um die nächste, bevor der Nachbar auftaucht, zwecklos einen Rechen schwingend. Dann lärmt das Straßenbähnchen auf dem Rückweg, und hinterher johlen ein paar Buben strandwärts. Als sie in meine Nähe kommen, werden sie still, aber nicht meinetwegen. Es ist Tiefebbe, und sie gehen auf Krabbenfang aus.
Krabbcnvolk Auf unserer Insel gibt es zweierlei Krabben: stelzbeinige Landkrabben mit blauem — richtig ultramarinblauem! — Leib und mattbraune Seekrabben mit kräftigeren Scheren. Die Landkrabben leben vorzugsweise in den Mangrovensümpfen der dem Festland zugekehrten Seite unserer Insel. Sie sind schlanker und größer — spinnenmäßiger, sozusagen — als die gedrungenen Seekrabben. Die größte Landkrabbe sah ich auf dem Fischerkai von Rio. Ein Mann, der im Hauptberuf Sardinen verkauft, hielt sie an einem Bindfaden wie einen Hund an der Leine; und zahm wie ein Hund benahm sie sich auch. Flink stelzte sie auf ihren vier Paar Beinen im Kreise, wobei sie das fünfte Paar Gliedmaßen, die beiden schmalen, langen Scheren, mehr spielerisch als abwehrend bald ausstreckte, bald an sich zog. Sie war ein starkes, gewandtes Tier mit einem etwa fünfzehn Zentimeter breiten, schönen blauen Rückenschild und bewegte ihre langen Beine mit der Zierlichkeit eines Weberknechts. Zahm und neugierig kam sie auf mich zu. Ihr Herr zeigte mir, daß sie sich den Rücken streicheln ließ. 26
Er versicherte, daß es keine tüchtigere Mausfängerin gäbe als seine „Toto" (einen Namen hatte sie also auch), und die Umstehenden bestätigten das. Ein Fischer mit einem gelben, wie Leder genarbten Gesicht beteuerte sogar, daß solch eine Krabbe mehr Mäuse fange als die flinkste Katze. Ein in sauberes Weiß gekleideter Bürger erklärte, daß er seine Hauskrabbe um keinen Preis hergeben würde; so zahm sei sie und so gut fange sie Mäuse und so lieb sei sie zu den Kindern! Es war die einzige zahme, mäusefangende Landkrabbe, der ich je begegnet bin, und die größte dazu; doch ihr Eigentümer verlangte hundert Cruzeiros für sie, und obzwar hundert Cruzeiros nur etwa zwanzig Deutsche Mark sind, hielt ich den Preis für übertrieben. Sparsamkeit hat mich also verhindert, Toto zu kaufen. Auch Verlegenheit. Wie sollte ich sie nach der Insel bringen, ohne von aller Welt angesprochen zu werden? Wohl auch Angst. Und wenn sie mich doch kniff? Ich bin einmal von einer Krabbe gekniffen worden, die nicht halb so groß war wie die zahme, und es hatte so weh getan, als hätte sie mir die Ferse abgezwickt. Dabei hatte ich nur einen blauen Quetschfleck. Denn Krabbenscheren sind zwar stark, aber so stumpf, daß sie nur schmerzhaft kneifen, doch nicht richtig schneiden können. Krabbenzwicken ist wie Pferdebeißen. Der häßlichsten Krabbe hingegen bin ich vor vielen Jahren auf den Fidschi-Inseln begegnet: einer Kokoskrabbe, langschwänzig, fahl, mit Scheren zum Fürchten. So eine Kokoskrabbe klettert nachts auf eine Palme hoch, setzt sich auf eine reife Kokosnuß, schneidet sie über sich ab und läßt sich mit ihr zwanzig, dreißig Meter zu Boden plumpsen. Dort schneidet sie ihr die Schale auf und frißt den süßen Kern. Ich habe nur eine gesehen, denn solche Krabben sind sehr scheu. Dazu haben sie auch allen Grund: Die Eingeborenen sind scharf hinter ihnen her, einmal weil sie ihnen die Kokospalmen plündern und dann weil sie gut schmecken, denn sie sind sehr fett. Doch die Südsee ist weit. Wenden wir uns den Krabben zu, die in den Löchern meiner Klippe und unter den Steinen um sie wohnen, den gedrungenen braunen Seekrabben, die ähnlich aussehen wie die Taschenkrebse der Nordsee. Sie heißen aber anders: Siris. 27
Wie die meisten brasilianischen Tiernamen, stammt auch dieser aus der Indianersprache. Die Sin's meiner Klippe sind nur klein. Auf der Insel Paqueta, tiefer innen in der Bai, gibt es erheblich größere und auch viel mehr. Für einen Cruzeiro — so etwas wie zwanzig Pfennig — bekam man dort ein Dutzend, und der Händler kochte sie einem noch in seinem Hause, denn wenn man Siris kocht, stinken sie sehr. Dafür schmecken sie um so besser, wenn sie gekocht sind. Das Muskelfleisch in ihrer Leibeskapsel ist zarter als Hummer; fein, wenn auch wenig ergiebig, schmecken auch die Beine, und die Scheren sind ein ganz besonderer Leckerbissen. An Siris bleibt die Gouverneurs-Insel, so groß sie ist, weit hinter Paqueta zurück. Man fischt hier Siris mit einer Art Schmetterlingsnetz, in da» man ein Stück rohes Fleisch tut. Buben, die weder das eine noch das andere besitzen, drehen bei Tiefebbe wenigstens die Steine um und versuchen, die rasch rückwärts fliehenden Siris mit der Hand zu fangen. Die Beute steht in keinem Verhältnis zu den gekniffenen Fingern. Für einen richtigen handgroßen Siri muß man hier so viel bezahlen wie auf Paqueta für ein ganzes Dutzend. Die Krabben gehören zu den unterhaltsamsten Tieren: neugierig, flink und streitlustig wie sie sind. Begegnet ein Siri einem andern, streckt er in Fechterstellung die Scheren vor und öffnet sie drohend zum Zwacken. Sie kämpfen gern, und deshalb sieht man häufig Siris mit nur einer Schere. Auch Siris ohne Scheren gibt es; sie dürften kein leichtes Leben haben. Selten sind beide Scheren einer Krabbe gleich groß. Bisweilen sieht man Siris mit einer breiten und einer ganz schmalen Schere, so daß man vermuten möchte, diese sei einer abgezwickten nachgewachsen. Die Krabben meiner Klippe sind vorzugsweise hinter Wasserasseln her. Kommt eine Assel einem Krabben-Schlupfloch zu nahe, stürzt sich der Siri hervor, packt sie mit der Schere und zerrupft sie im Maul. Es gibt wenig, was Siris nicht fräßen. Ich habe sie schon, gleich Seepferdchen, Algen abweiden gesehen, nach winzigen Tierchen, 28
nehme ich an, jedenfalls bewegten sie ihre Kiefer ununterbrochen, und ich habe sie auch kleine Fische tödlich umarmen sehen. Meist schwimmt das arme Fischchen nur noch mühsam auf der Seite, während der Sin ihm mit den Scheren den weichen Bauch bearbeitet. Es heißt, Siris fräßen hauptsächlich Aas, aber ich habe sie zu oft auf der Jagd gesehen, als daß ich dem beipflichten möchte. Sie greifen auch Fische an, die viel größer sind als sie selbst. So sah ich einen Sin' einen gut dreißig Zentimeter langen Fliegenden Fisch umklammern und ihm mit den Scheren die Brustflossen zerfetzen. Ich kann mir nicht erklären, wie eine Krabbe einen Fisch erbeuten kann, der sich an die hundert Meter übers Wasser fortzuschnellen vermag. Vielleicht mit einer Finte. Ein Siri ist listenreich. Seine gestielten Rundaugen drehen sich schlau nach allen Seiten; in fast unmerklich kleinen Rucken pirscht er sich heran, macht sich aber vor jeder verdächtigen Bewegung in Eile rückwärts davon. Wird einem Sin die Flucht abgeschnitten, verteidigt er sich, so klein er ist, mit großem Mut. Meine Hündin hatte den Ehrgeiz, Siris zu fangen; mit der Geduld eines Anglers durchschnüffelte sie immer wieder das seichte Wasser nach ihnen. Die Buben lachten über sie, wenn sie bei Ebbe unternehmungslustig hinter ihnen her kam. Nun, das einzige Mal, daß sie einen Sirf gefangen hat — er war dem Zugriff eines Jungen entwischt und noch zu benommen, um sich vor ihr in acht zu nehmen — fing eigentlich er sie, indem er sich an ihrer Lefze festkniff. Obschon es nur eine kleine Krabbe mit zarten Scheren war, hatte ich Mühe, sie von der jaulenden Hündin loszubekommen, denn was Krabben packen, das halten sie auch fest. Das wird ihnen manchmal zum Verhängnis, denn eine gereizte Krabbe kneift sich an einem hingehaltenen Stock so fest, daß man sie daran an Land bringen kann. Doch ist eine Krabbe nicht so dumm wie manche Menschen, mit einem überlegenen Feind ohne Not anzubinden. Läßt man ihr den Rückzug in ihr Loch frei, zieht sie ihn stets einem Kampf vor, wobei sie schlaue Winkelzüge macht, um ihren Schlupfwinkel nicht vorzeitig zu verraten. So mutige, gewandte und listige Tiere nun sind meist Raubtiere. 29
Daß die Siris als Aasfresser verrufen sind, hängt vermutlidi damit zusammen, daß man sie schon einmal bei verendeten Tieren angetroffen hat. Doch sollte man solche Fälle nicht verallgemeinern, da sich die meisten fleischfressenden Tiere auch an mühelosere Aasnahrung halten. Aale bevorzugen Aas deutlich vor lebender Nahrung, ohne daß wir uns dadurch den Geschmack an ihnen verderben lassen. Im allgemeinen halte ich den Abscheu vor aasfressenden Tieren für ein Vorurteil. Hyänen und Schakale wirken aus andern Gründen widerlich — obzwar ein echter Naturfreund wie Brehm sich nicht genug tun kann, das artige Benehmen seiner jungen Hyänen zu rühmen, und es ohne Schakale vermutlich auch keine Spitze und Terriers gäbe. Anderseits achtet jedermann den Kondor für ein majestätisches Tier — ist er doch sogar Wappenvogel! —, und der Schweizer Gelehrte Tschudi zitiert über ihn: „Er packt den Fels mit krall'ger Der Sonne nah' im öden Land, Im blauen Luftmeer ist sein Stand."
Hand,
Um dann fortzusetzen: „Wenn er aber mit unsäglicher Gier seine Beute kröpft, große Fetzen von Aas hinunterwürgt und dann, vollgefressen, kaum noch einer Bewegung fähig, neben den Resten seines die Umgebung verpestenden Mahles zusammengekauert dasitzt, ist er doch nur ein ekelhafter Aasgeier." Warum „ekelhaft"? — Wer ekelt sich vor Ameisen, abschon die meisten Ameisen Aas fressen? Wer ekelt sich vor den Tümmlern, die so gründliche Aasfresser sind, daß das hiesige Fischereigesetz sie als Reiniger der Bai vor Verfolgung schützt? Dort drüben, nicht zwanzig Meter von der Klippe, krümmen zwei, rund auf- und niedertauchend, ihre blanken Rücken, und' alle sehen ihnen wohlgefällig zu. Als einmal eine Tümmler-Familie — zwei Große, ihr Kind zwischen sich — mit spielerischer Leichtigkeit neben unserem Fährdampfer einherschwamm, kopfab, kopfauf, kopfab: eilte alles aufs Oberdeck, um die Grazie dieser speckrunden Delphine zu bewundern. Dennoch sind sie Aaasfresser. 30
Weshalb sollte es anrüchiger sein, tote Fische zu essen als „Schnepfendreck" oder durchgelegenen Käse? Doch abgesehen von ästhetischen Bedenken: Aasfresser sind sehr nützliche Tiere. Wie sähe unsere Erde aus, würde sie nicht ständig von Aasfressern gesäubert! Im besondern die tropischen Länder mit ihrer raschen und heftigen Verwesung! Daß Brasilien von Ameisen überlaufen ist, hat nicht nur Nachteile, sondern auch den Vorteil, daß der Boden von Leichen und Unrat gesäubert wird. Tote Mäuse werden in ihren Löchern umgehend von Ameisen verzehrt, tote Kakerlaken über Nacht zerlegt und abtransportiert; tote Kröten, Vögel, Schlangen würden einem den Garten, tote Ratten das Abflußrohr verpesten, wären nicht die aasfressenden Ameisen da, die sie beseitigen. Für größeres Aas sind die Geier zuständig, die schwarzen, etwa truthahngroßen „Urubus", die man so häufig ihre aufmerksamen Kreise ziehen sieht. Und sieht man sie nicht, so sehen doch sie alles: von hoch oben in der Luft, von den Bäumen, deren höchste Gipfeläste sie wie große schwarze Früchte beladen, von den Misthaufen, die sie mit den Hühnern durchscharren, vom Strand, den sie nach toten Fischen durchwühlen. Kein totes Küken entgeht ihnen. Das ungleich stärker belebte Meer müßte verjauchen, würde es nicht ständig von Tümmlern, vielerlei Fischen, Krabben, Muscheln und Quallen gesäubert.
* Es ist Sommer geworden. Von Tag zu Tag besetzen mehr Sommerfrischler die Zinnen meiner Klippe. Selbst auf der Kanone haben sie sich breitgemacht. Die Fische fliehen vor planschenden Kindern und angelnden Vätern. Ich auch. Es ist Sommer und damit Zeit geworden, daß ich ins Gebirge ziehe. Die Insel verdoppelt ihre Einwohnerzahl, und in solcher Dichte vertrage ich Menschen nicht mehr. Nicht, als ob ich gerade gegen diese etwas einzuwenden hätte. Europäische Sommerfrischler lärmen noch mehr und die brasilianischen machen sich wenigstens nicht voreinander wichtig. Es sind Leute, unter denen ich sonst gern lebe. 31
Dafür als Beleg ein paar Verse über die Brasilianer. Sie sind mir auf der Klippe eingefallen, von der mich nun die verdrängen, denen sie gewidmet sind: Der Liebe leicht dahingegeben Und leicht der Freundschaft und dem Spiel; Ein heiteres, kein langes Leben, Gewinn, nicht Sicherheit ah Ziel; Eifrig zumeist, beständig selten, Rasches Erglühn, rasches Erkälten; Gastfrei und ritterlich, Wenn hassend: bitterlich; Gute Freunde, arge Feinde: Mir behagt ihre Gemeinde. ... Nur eben auf meiner Klippe behagt sie mir so wenig wie irgendeine andere menschliche Gesellschaft. Seufzend packe ich meine Koffer. Gerade jetzt, wo die Bai am angenehmsten kühlt, kann man vor Sommerfrischlern nicht in ihr schwimmen! Auch die Fregattvögel sind schon fort. Der Himmel weiß, wohin. Fregattvögel fliegen weit. Die weißen Möven sind geblieben. Im Tiefflug schnappen sie Brotbrocken und Brezeln. Endlich etwas anderes als die ewigen Sardinen! Auch die Singvögel bleiben noch; doch sie singen nicht mehr; sie bauen Nester. Der Ernst des Lebens ist auch an sie herangetreten. Schon läßt die Sonne die bleichen Stadtkörper der Sommerfrischler im ersten Sonnenbrand karmin aufleuchten . .. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Ullstein (2. Umschlagseite: Seeanemonen) L u x - L e s e b o g e n 3 8 1 (Naturgeschichte) H e f t p r e i s 3 0 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1,80) durch jede Buchhandlung und iede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig — Druck: Hieronymus Mühlberger. Augsburg — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München — Herausgeber: Antonius Lux.
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