Nr. 324
Aufbruch der Odinssöhne Sie folgen Sigurds Ruf von Hans Kneifel
Aufbruch der Odinssöhne
Die Hauptpersonen d...
24 downloads
607 Views
294KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 324
Aufbruch der Odinssöhne Sie folgen Sigurds Ruf von Hans Kneifel
Aufbruch der Odinssöhne
Die Hauptpersonen des Romans: Sigurd – Odins Lieblingssohn ruft zum Treffen. Fongerreilson – Ein Mädchen aus dem Nichts. Heimdall – Er gerät in die Gefangenschaft der Gordys. Balduur – Er reitet ein Ungeheuer. Honir – Der Odinssohn verliert seine Maske. Sicherheitsvorkehrungen haben verhindert, daß die Erde des Jahres 2648 einem Überfall aus fremder Dimension zum Opfer gefallen ist. Doch die Gefahr ist durch die energetische Schutzschirmglocke nur eingedämmt worden, denn der Invasor hat sich auf der Erde etabliert – als ein plötzlich wiederaufgetauchtes Stück des vor Jahrtausenden versunkenen Kontinents Atlantis. Atlan und Razamon, der Berserker, haben als einzige den »Wölbmantel« unbeschadet durchdringen können, mit dem sich die geheimnisvollen Herren der FESTUNG ihrerseits vor ungebetenen Gästen schützen. Die Männer sind auf einer Welt der Wunder und der Schrecken gelandet. Das Ziel der beiden ist, die Beherrscher von Pthor schachmatt zu setzen, auf daß der Menschheit durch die Invasion kein Schaden erwachse. Nach vielen gefahrvollen Abenteuern, die am Berg der Magier ihren Anfang nahmen, haben Atlan und Razamon, zu denen sich inzwischen der Fenriswolf gesellt hat, durch die Ausschaltung des Kartaperators der Menschheit bereits einen wichtigen Dienst geleistet. Jetzt nach der Zerstörung der Eiszitadelle, sind die Kampfgefährten bereits zu fünft. Ihr gemeinsamer Weg führt gegen die FESTUNG! Andere Krieger haben dasselbe Ziel. Die empfangen Sigurds Ruf – und damit beginnt der AUFBRUCH DER ODINSSÖHNE …
3
1. Auf Atlantis die Asen sich finden und reden vom riesigen Raubwurm, denken da der drohenden Dinge und der alten Runen des Raterfüsten. Wieder werden die wundersamen Runentafel-Bruchstücke im Gras sich finden, die vor Urtagen ihr eigen waren … Sigurd lehnte sich bequem zurück und streckte die Hand aus. Das kleine Tier mit dem flammenden Fell und den winzigen Funkenentladungen aus den Haarbüscheln der Ohren machte einen Satz zur Seite und zischte erschrocken. »Keine Furcht, Kleiner«, murmelte der Odinssohn und lachte leise. »Du störst mich nicht beim Nachdenken!« Das Tier war so groß wie seine Hand. Es hatte große, bernsteinfarbene Augen und einen langen und buschigen Schwanz, der beweglich war wie eine Schlange und lebendig wie ein Feuer. Ununterbrochen züngelten winzige kalte Flammen aus allen Teilen des Pelzes. Das Tier wirbelte mit dem Schweif und rannte quer über den Tisch, turnte am massiven Holz herunter und lief auf das Kaminfeuer zu. Von dort aus fauchte es: »Denke nur, Göttersohn. Ändern wirst du dadurch nichts.« Es hatte eine giftige, stechende Stimme. Wieder lachte Sigurd und bewegte seine Schultern im dicken Pelz, der in mehreren Lagen den Sessel bedeckte. »Zuerst wird Heimdall eintreffen«, murmelte er schließlich. Hugin und Munin waren ausgesandt worden, um seine Brüder zusammenzurufen. Sigurd wußte, daß der Ausnahmefall da war, Ragnarök war nahe. »Dann, denke ich, kommt Honir, und zuletzt Balduur, der den weitesten und beschwerlichsten Weg hat.« Auch jetzt, wie zumeist, war Sigurd al-
4 lein. Er wußte, daß er weniger verschlossen und zurückgezogen als seine Brüder war. Immer wieder zog es ihn zu den anderen Gruppen auf Pthor. Der flammende Nußfresser war am Tage und in den Nächten sein einziger Partner in diesem riesigen Haus. Aber es gab keinen Grund, weswegen sich Sigurd einsam oder verlassen fühlte. »Niemand wird kommen«, wisperte das Tier. Aus den mächtigen Kloben sprangen mit hellem, scharfem Krachen glühende Funken und versengten die Felle vor dem Kaminsockel. »Schweige, Ratatöskr!« sagte Sigurd scharf. »Sie werden alle kommen. Ragnarök bringt sie auf die Beine.« Sein halblanges, rötlichblondes Haar schimmerte im Licht der Flammen. Ratatöskr ringelte seinen Schwanz um seinen Körper, legte den Kopf auf die Vorderpfoten und funkelte den Göttersohn listig an. Sigurd gab den Blick mit seinen blauen, großen Augen zurück, dann kuschelte er sich wieder in die Pelze. Von draußen kam ein flüchtiges knirschendes Geräusch herein. Es klang, als ob ein Riese seinen Fuß in feuchten Sand gesetzt hätte. Der Abschnitt der Straße der Mächtigen zwischen Donkmoon und Aghmonth war dreihundertdreißig Kilometer lang. Das Land auf beiden Seiten des breiten, stumpfsilbernen Streifens war eine grüne, von dichtem Gras bewachsene Halbebene. Kleine, buschbewachsene Hügel unterbrachen das flache Land, von düsteren Bäumen in einem schwärzlichen Grün bedeckt. Büsche und Rankengewächse wucherten am Fuß der Erhebung. Dort, wo die schimmernde Straße in einer Bucht fast die Küste des Landes Ptah berührte, änderte sich das Land und wurde schroffer und hügeliger. Südlich der Straße, fast unmittelbar dort, wo die altsilbern anmutende Fläche in den Grasstreifen überging, ragte das Lichthaus Sigurds auf. Das Klima war gesund, es herrschten milde Temperaturen. Nur hin und wieder wehte in den Nächten ein kühler Wind. Dies war eine solche Nacht; deswegen loderten die Flam-
Hans Kneifel men aus der dunklen Glut der Holzkloben. »Ja«, sagte Sigurd und streichelte die pelzgeschmückten Armlehnen des Sessels. »Sie werden kommen. Sie sind anders als mein Schatten. Und … anders als mein Sohn. Anders als Bördo.« »Sie sind alle gleich. Sie stammen alle vom Raterfürsten ab«, zischte das Tier. Aus seinen Ohrspitzen zuckten kleine weiße Blitze. Ratatöskr wirkte wie ein Bestandteil des Kamins, wie ein Teil des Feuers. »Die Söhne Odins mögen zurückgezogen leben und gewisse Eigenarten haben. Aber es sind würdige Söhne eines großen Vaters«, sagte Sigurd laut. »Du weißt es.« Ratatöskr stieß ein meckerndes, schrilles Lachen aus. Er schien nicht Sigurds Meinung zu sein. Das Lichthaus, Sigurds Wohnstatt, war ein wuchtiger Klotz von sechzig Meter Höhe. Die Grundfläche betrug fünfzig zu fünfzig Meter. Tag und Nacht strahlte das fast würfelförmige Lichthaus über die Umgebung. Die Wände waren von innen nach außen durchsichtig, aber das strahlende Leuchten verhinderte, daß jemand hineinsehen konnte. Wäre jemand nahe genug an die Mauern herangekommen, dann hätte er feststellen müssen, daß sie wie geronnene, verfestigte Energie wirkten. Die leuchtende Erscheinung war nicht wärmer oder kälter als jede andere Wand auf Pthor. Sechs Stockwerke gab es. Sigurd lebte ausschließlich im untersten Bereich, und dort hatte er es sich in dem Haus, das Odin einst mit einem furchtbaren Blitz erschaffen hatte, gemütlich gemacht. Wuchtige Möbel aus hellem Holz, steinerne Platten, kostbare Pelze und viele andere, farbige Einrichtungsgegenstände sagten etwas über das heitere, lockere Wesen Sigurds aus. Er wartete, aber er wartete ohne Unruhe oder Nervosität. Sie würden kommen, seine drei Brüder. Wieder knackte es im Kamin. Funken stoben auseinander und fielen in die Glut zurück. Um die Kanten des Gebäudes winselte der abendliche Wind. »Ihr habt niemals Kontakt miteinander
Aufbruch der Odinssöhne gehabt!« schrie zischend das Tier und legte den Schwanz in umgekehrter Richtung um den zusammengekauerten Körper. »Warum sollten sie jetzt kommen?« »Weil Hugin und Munin sie gerufen haben. Weil sie wissen, daß es dringend ist«, gab Sigurd zurück und stand auf. Er reckte seine Muskeln und merkte, daß er weder müde noch hungrig war. Ragnarök, die Götterdämmerung! Der Tag war nahe, an dem man hoffen konnte, Odins Rückkehr zu erleben. Der Tag näherte sich, an dem die Macht der Herren der FESTUNG ihr Ende fand. Eine seltsame Spannung hatte Sigurd ergriffen, aber es war weder Angst noch die Erwartung des Kampfes. Es war das Gefühl großer, wichtiger Änderungen. Er zog seinen leichten Umhang von der Rückenlehne des Sessels, warf ihn über die Schultern und ging auf den Eingang zu. Ein gedanklicher Befehl ging an die Energiebarriere. Sie öffnete sich, als Sigurd durch die drei Meter hohe und doppelt so breite Schleuse ging, einem einfachen Rahmen in der glatten, kristallin wirkenden Wand. Hinter dem Göttersohn schloß sich die Mauer lodernder und vernichtender Energie wieder. Das Licht des riesigen Würfels strahlte gleichmäßig nach allen vier Seiten und bildete einen unregelmäßigen Kreis von Helligkeit, der bis über die Straße und weit in das Grasland hinausreichte. Der Wind murmelte und pfiff und zerrte an den Säumen des weiten Mantels. Langsam ging Sigurd entlang der Straße und blickte nach Norden. Der Blick zur FESTUNG war wie immer durch die wallenden, nebelartigen Energieschleier versperrt. Kam Honir mit seinem seltsamen Gefährt, der Windrose, durch den Abend die Straße entlanggerast? Lenkte Balduur eines seiner schnellen Yassel? Und konnte er noch nicht das Rattern und Klirren der Raupenketten von Heimdalls
5 metallenem Skorpion hören, dem Truvmer mit seinen mächtigen, die Dunkelheit durchbrechenden Scheinwerfern? »Nichts zu sehen. Und nichts zu hören«, murmelte Sigurd in den Wind. »Aber sie werden kommen.« Sigurd selbst war ein großer, schlanker Mann. Er wirkte wie ein Mann von fünfundzwanzig Jahren, aber seine Augen zeigten sein wahres Alter an. Trotzdem strahlten sie freundliche Aufgeschlossenheit aus. Nichts Düsteres ging von Sigurd aus, den sie einst Odins Lieblingssohn genannt hatten. Er zuckte die breiten Schultern und ging einmal rund um sein Lichthaus. Er blieb innerhalb des Lichtscheines, aber von den harmlosen, meist pflanzenfressenden Tieren dieser Landschaft brauchte er nichts zu befürchten. Und die Ungeheuer der Gnitaheide, wie er die Ebene Kalmlech nannte, wagten sich niemals bis hierher. Vor dem Eingang blieb er abermals stehen und horchte in die Nacht hinaus. Nichts. Er dachte den Befehl, die Energiewand klaffte wie ein schwerer Vorhang nach beiden Seiten auseinander. Wohlige, nach Rauch schmeckende Wärme schlug ihm aus dem Innern des Hauses entgegen. Achtlos warf er seinen Umhang über einen niedrigen Tisch und nahm einen silbernen Humpen von einem Haken. »Vergiß nicht, mir von deinem Nachttrunk zu geben!« wisperte grell das Tier mit dem buschigen Schwanz. Vor Erregung begannen sich die kalten Flammen zu ändern. Sie brannten jetzt stechend gelb und in dunklem Purpur. »Keine Sorge, du hysterischer Nußfresser.« Sigurd zapfte sich ein schaumgekröntes, helles Bier aus dem Faß und kehrte zu seinem Lieblingsplatz zurück. Er trank den ersten Schluck, der immer der beste war, und wischte mit dem Handrücken über die Lippen. Dann nahm er eine Schale vom Tisch, goß etwas Bier hinein und stellte sie neben sich auf den Boden.
6 »Dein Nachttrank, Ratatöskr!« sagte er und hob den Humpen an die Lippen. Wieder drang ein lautes Geräusch von draußen durch die Mauern. Zuerst war es ein Klirren und Klingen. Es wurde ständig lauter und schrecklicher. Sigurd sprang auf, stellte den Humpen zurück und griff, nachdem er auf den Kamin zurannte, seine Garpa. Jetzt dröhnten tiefe, lang hallende Glockenschläge durch die Nacht. Sigurd konnte sich das Geräusch nicht erklären, aber es schien, daß die Straße der Mächtigen in Gefahr war – die Midgardschlange unter den Straßen. Ein Gedankenbefehl riß die Energiebarriere zur Seite. Rasend vor Sorge und bereit, jeden Angreifer abzuwehren, rannte Sigurd aus dem Lichthaus und gerade auf die Straße zu. Das Klirren und die dröhnenden Schläge erfüllten die Nacht mit ihrem Lärm. Nach fünf Sätzen blieb Sigurd stehen und sah sich wachsam um, die Garpa in beiden Händen. »Was geschieht hier?« flüsterte er entsetzt. Unter seinen Sohlen spürte er plötzlich, wie sich der Boden bewegte. Es war kein wirkliches Beben, sondern ein starkes Vibrieren. Zögernd machte er ein paar schwankende Schritte auf die Straße zu, die im Licht seines Hauses lag. Dann weiteten sich seine Augen. Die Straße bewegte sich! Das breite silberne Band zitterte und schüttelte sich. Die Kanten wurden undeutlich. Staub und Sand wallten auf und bildeten Schleier. »Die Straße? Ein weiteres Zeichen?« Ein fürchterlicher Eindruck! So weit Sigurd sehen konnte, erhoben sich auf beiden Seiten der Straße die Wolken des hochgeschleuderten Staubes. Der Boden bebte und zitterte noch immer. Irgendwelche Effekte ließen das Metall der Straße jene lauten Glockentöne erzeugen. Sigurd glaubte, daß sich die Straße aus dem Boden reißen wollte. Oder daß eine unsichtbare Macht an dem Metallband riß und zerrte. Die Nacht war erfüllt von dem infernalischen Getöse. Sigurd erkannte keinen Gegner und nichts, wogegen er sich wehren konnte. Er
Hans Kneifel ging abermals einige Schritte vorwärts und berührte die Straße mit der Hand. Mit einem unterdrückten Fluch fuhr er zurück. Die Straße war heiß! Sie glühte nicht, aber ihre Temperatur war höher, als sie der Göttersohn ertragen konnte. Das Lärmen und die Staubwolken wurden stärker und drohender. Sigurd fürchtete, die Straße würde in einzelne Bruchstücke zerrissen werden. Er bewegte sich rückwärts und hustend aus dem Bereich des hochgewirbelten Sandes hinaus. Aufgeschreckte Vögel rasten wie Pfeile kreischend hin und her, durch Dunkelheit und Staubwirbel. Der Wind trug die gewaltige Wolke langsam nach Osten. Durch die wogenden Schleier leuchtete kantig und kreideweiß das Lichthaus wie eine gespenstische Erscheinung. Mühsam hielt sich Sigurd auf den Beinen; er schwankte hin und her wie ein Betrunkener. Dann erreichten Lärm und Dröhnen einen neuen Höhepunkt und vermischten sich mit dem Schreien der Vögel zu einem chaotischen Geräusch. Vor Sigurd, der würgend und hustend auf sein Haus zutorkelte, fielen zwei große Vögel zu Boden. Sie zuckten mit den Flügeln. Ihre Köpfe lagen in einem falschen Winkel zur Seite. Dann riß der Lärm urplötzlich ab; ein letzter Glockenschlag donnerte über die Hügel hinweg. Sigurd, dicht vor der Energiebarriere, wirbelte herum und versuchte, durch die Staubmassen hindurch die Straße zu erkennen. Die plötzliche Ruhe war ebenso betäubend und seltsam wie die krachende und zitternde Straße. Regungslos stand Sigurd da und wurde sich langsam bewußt, daß er seine Rüstung nicht angelegt hatte und nur die Waffe in der Hand hielt. Hoch über ihm verhallten die aufgeregten Schreie und das Geräusch Hunderter schlagender Flügel. »Vater Odin!« sagte er erschüttert und spuckte Sand aus. »Wenn das dein Zeichen war, dann weiß ich jetzt, Ragnarök ist na-
Aufbruch der Odinssöhne he.« Langsam trieben die Staubwolken weg und klärten das Bild. Unverändert lag die Straße der Mächtigen an ihrem Platz. Das Gras und die kleinen Büsche und Pflanzen am Rand des breiten Bandes waren über und über mit Sand bedeckt. Das Silber der Straße selbst glänzte unverändert schwach. Ratlos stand Sigurd da und wußte nicht im entferntesten, was er von diesem Erlebnis halten sollte. Rechts von ihm rissen die Staubschleier auseinander. Eine Gasse entstand. Eine helle Gestalt näherte sich langsam. Sigurd hob die Waffe mit den blitzenden, auseinanderstrebenden Schneiden und fuhr sich über die Augen. Eine Frau näherte sich der Grenze zwischen Lichtschein und Dunkelheit. Mit jedem Schritt wurde sie deutlicher. Unter ihren hellen Stiefeln, an denen Gold zu funkeln schien, erhoben sich aus dem Gras kleine Staubwölkchen. Wie gebannt starrte Sigurd die Erscheinung an. Die Art, wie sie sich näherte, hatte etwas Unwirkliches. Der Göttersohn schloß die Augen und atmete tief ein und aus. Als er wieder hinsah, war die junge Frau nicht verschwunden. Im Gegenteil, sie kam unverändert auf ihn zu. Ein bodenlanger weißer Mantel umhüllte sie halb. Langes Haar fiel über die Schultern, und auf der bloßen Haut der nackten Arme glänzten riesige Schmuckstücke. Seit undenklichen Zeiten sah Sigurd wieder einmal eine Frau. Undeutlich entsann er sich der jungen Valjarin, die ihm einen Sohn geschenkt hatte. Aber sie war ebenso ins Dämmerlicht der Jahre verschwunden wie Bördo und Sigurds Schatten. Er senkte die Garpa und ging auf die Frau zu. Große Augen lächelten ihn an. »Wer bist du?« fragte er mit heiserer Stimme. Ihre Schönheit blendete ihn und machte ihn verlegen. »Ich bin Fongerreilson«, sagte sie mit einer Stimme, deren Klang ihn erschauern ließ. »Ich bin aus der FESTUNG geflohen.
7 Und du?« »Sigurd heiße ich«, sagte er und schluckte. »Dann bist du der Hüter der Straße der Mächtigen, von dem viel gesprochen wird«, erklärte sie in einem Tonfall, als habe sie ihn seit Jahren gesucht und erst jetzt gefunden. »Du willst zu mir?« staunte er. »Wohin sollte ich sonst? Ich habe so gut wie keine Erinnerungen. Ich weiß nur, daß du derjenige bist, den ich suchte.« Sigurd starrte sie fasziniert an. Fongerreilson war von außerordentlich großer Schönheit. Aber sie war keine kalte, nichtssagende Schönheit, sondern sie besaß eine Ausstrahlung, die Sigurd genau erkannte und richtig einschätzte. Zwar wäre er auch von weniger begeistert gewesen, aber Fongerreilson war eine der schönsten, interessantesten und begehrenswertesten Frauen, die er jemals kennengelernt hatte. Er war hingerissen. »Weißt du genau, daß du mich gesucht hast?« fragte Sigurd und blieb vor ihr stehen. Unter dem weiten Mantel mit dem schweren, bestickten Saum trug sie schweres Geschmeide in seltsamen, schlangen und feuerzungenartigen Mustern, das ihren Körper besonders reizvoll zeigte. »Wen sonst? Ich kenne sonst keinen Namen. Und jetzt bin ich froh, daß ich dich gefunden habe. Du siehst so aus, wie ich dich in meinen Träumen gesehen habe.« Ihr offenes Lächeln versetzte Sigurd einen Stich der Begeisterung. Er erkannte, daß Fongerreilson ihre Worte ehrlich meinte und ergriff ihren Arm. Vorsichtig zog er sie in die Richtung des Lichthauses. »Willst du hineinkommen? Dumme Frage – es gibt hier kein anderes Gebäude weit und breit. Weißt du, warum die Straße der Mächtigen zitterte und bebte?« Sie schüttelte den Kopf. Ihr herrliches Haar flog um ihre Schultern. »Nein. Ich wurde von dem Staub und dem Lärm überrascht. Das also ist dein Haus?« »Es ist das Lichthaus, das mein Vater mit einem Blitz erschaffen hat«, pflichtete er ihr bei. »Komm. Es gibt ein wärmendes Feuer,
8 und es gibt alles, was du brauchst.« Sigurd faßte sich schnell. Die junge Frau, nur ein paar Fingerbreit kleiner als er, stützte sich schwer auf seine Schulter und ging neben ihm auf die Barriere zu. Lautlos zerstreute sich das blitzende Energiefeuer nach den Seiten und gab den Blick auf den riesigen Saal frei und auf den mächtigen Kamin. In seinen Träumen und Vorstellungen hatte sich Sigurd immer wieder nach einer Frau gesehnt. Aber da er selten seinen Abschnitt der Straße verließ, da ihn die Mädchen und Frauen in den Städten kaum interessierten, blieben seine Wünsche unerfüllt. Hier und heute wußte er, daß ein Teil seiner kühnsten Träume wahr werden konnte. Und ausgerechnet jetzt waren die drei Brüder hierher unterwegs. »Du bist aus der FESTUNG geflüchtet?« »Ja. Ich bin gerannt und gewandert. Immer wieder habe ich Pausen gemacht. Die letzten Stunden … ich kann mich nicht mehr erinnern. Nacht, Staub, dann der Lärm und die Vögel. Es war furchtbar.« Hinter ihnen schloß sich die Barriere. Mit schrillem Kichern sprang das Tierchen auf. Das Fell leuchtete und brannte in vielen kupfergrünen Flämmchen. Ratatöskr sprang auf das Geländer der Wendeltreppe, die sich durch die leeren Ebenen der Stockwerke bis zum Dach zog. Mit Fauchen und Zischen und geschwungenem Schwanz raste Ratatöskr das Geländer aufwärts und verschwand. Sein giftiges Geschrei verhallte. Verblüfft blickte die junge Frau Sigurd an. »Was war das? Ein Tier?« »Ein Tier. Es spricht und hat einen bemerkenswerten Charakter. Es lenkt ab. Sein Element ist das Feuer. Ratatöskr trägt mir jedes Gerücht zu, das er hört.« Fongerreilson blieb neben dem Feuer stehen und ließ den Mantel von den Schultern gleiten. Die Flammen funkelten und strahlten aus dem Geschmeide zurück. Blitzende Reflexe erfüllten einen Teil des Raumes. Der Göttersohn deutete auf seinen Sessel. »Du wirst müde sein. Und hungrig. Setz dich. Sag mir, was du willst.« Achtlos lehnte
Hans Kneifel er seine seltsame Waffe an einen Tisch. Natürlich war er aufgeregt; eine normale und verständliche Reaktion. Fongerreilson schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, deutete auf den halbleeren Humpen und sagte: »Deine Freundlichkeit ist eines Göttersohnes würdig. Es gefällt mir alles. Du gefällst mir am meisten. Rieche ich dort etwas Kühles, Trinkbares?« »Bier?« Sie strahlte ihn an. »Wenn es von dir kommt, ist mir alles gleich lieb.« Sigurd wußte, daß niemand die geringsten Informationen mitbrachte, dem es gelungen war, aus der FESTUNG zu entkommen. Alle Wesen, die aus diesem geheimnisvollen Gebiet lebend die Umgebung erreichten, besaßen keine Erinnerung mehr an die zurückliegende Zeit und die Ereignisse und Erlebnisse in dieser Zone. Auch Fongerreilson würde es nicht anders ergehen. Er holte einen seiner schönsten Becher und schenkte ihn voll. Vorsichtig trug er ihn zum Kamin und reichte ihn lächelnd der jungen Frau. Als sich ihre Hände dabei berührten, ging es wie ein Schlag durch ihn. Seine Einsamkeit war vorbei. Er war sicher, daß Fongerreilson bei ihm bleiben würde.
2. Halten will ich den jungen Helden Sigurd im Arm – sterben müßte er sonst. Fongerreilson kam aus dem Bad und roch nach den Kräutern und kostbaren Ölen. Sigurd erinnerte sich: Es war Jahre her, daß es diesen Geruch hier gegeben hatte. Der Mantel lag locker um die schlanken Schultern der jungen Frau. Ihr Haar war feucht, und ihr Gesicht strahlte. Barfuß ging sie über die dicken weißen und bräunlichen Felle und kam zu dem schweren Sessel, in dem Sigurd ausgestreckt
Aufbruch der Odinssöhne lag. Er hob den Becher. »Je länger du hier bist, desto schöner siehst du aus«, sagte er. Er wirkte völlig ruhig, aber in seinen Adern nisteten das Begehren und gleichermaßen die Furcht, enttäuscht zu werden. »Du sagst, daß ich dir gefalle? Ich bin unsicher. Seit ich aus der FESTUNG kam, weiß ich, daß ich unwissend bin.« Sie trank. Das Bier schien ihr zu schmecken. Sigurd lachte voller Freude und strich mit den Fingerspitzen über ihre Wange. »Du magst unwissend sein. Aber du bist wirklich und schön. Und ich habe mich seit Jahren nach einer Frau gesehnt. Nach einer jungen Frau wie dich. Du siehst, ich bin ehrlich. Wirst du auch ehrlich zu mir sein?« »Niemand würde es wagen, einen Göttersohn zu betrügen«, antwortete sie und warf ihm einen brennenden Blick unter den langen Wimpern zu. »Meine Brüder wissen davon ein böses Lied zu singen«, sagte Sigurd und nickte sarkastisch lächelnd. »Aber jedesmal haben wir furchtbare Rache genommen.« Zwei verschiedene Überlegungen beherrschten ihn. Einerseits riß diese junge Frau seine kühnsten Erwartungen und Vorstellungen mit sich. Die langen Jahre der selbstgewählten Einsamkeit hatten ihn empfindsam und anfällig gemacht. Aber sein immerwährend waches Mißtrauen schlief auch jetzt nicht ein. Diese Frau – Fongerreilson, wie sie sich selbst nannte, umgab ein Geheimnis – und er war sicher, daß jedes schöne Erlebnis mit einer besonderen Form der Ernüchterung bezahlt werden mußte. Ruhiger geworden, trank er sein Bier und musterte die junge Frau, die unter seinen Blicken dahinzuschmelzen schien. Sie wand sich in ihrem Sessel und funkelte ihn voller Begehren und schlecht versteckter Leidenschaft an. »Weißt du«, sagte sie schließlich und starrte in die flackernden Flammen, »ich fühle mich, als ob ich zum zweitenmal gebo-
9 ren worden wäre. Viele meiner Erinnerungen sind verlorengegangen. Ich weiß nur, daß dein Lichthaus mein Ziel war.« »Man sagt, daß alle Flüchtlinge der FESTUNG sämtliche Erinnerungen verlieren«, schränkte er vorsichtig ein. Er war nahe daran, sich über Fongerreilson zu stürzen und sie mit der verzehrenden Glut seiner Leidenschaft zu verbrennen. »Das trifft sicher auch in meinem Fall zu. Ich weiß nur mit großer Sicherheit, daß ich dich unendlich männlich und hinreißend finde«, sagte sie schwankend. »Mehr weiß ich nicht. Mir ist, als wäre ich eine Holzfigur, die an Fäden hängt und sich nach dem Willen eines Puppenspielers bewegt.« Sigurd mußte wieder lachen. Dabei erkannte er, daß er sich seit langer Zeit nicht mehr so wohl gefühlt hatte. Die Anwesenheit dieses schönen Geschöpfes änderte alles – auf durchaus positive Weise. Aber – konnte sie nicht ein Werkzeug der finsteren Herren der FESTUNG sein? Dann wäre ihre Anwesenheit für ihn eine deutliche, kalte Gefahr wie schon so viele Gefahren davor. Er versuchte, sich abwartend zu verhalten. Aber er merkte, daß ihm das nicht so leicht gelingen würde. Seine Kenntnis anderer Wesen sagte ihm, daß sich Fongerreilson mit großer Sicherheit in ihn zu verlieben begann. Warum zögerte er dann noch immer? »Wenn du Probleme dieser Art hast«, sagte er heiser und nahm die leeren Becher in die Hand, um sie wieder vollzuschenken, »dann kannst du sicher sein, daß ich dir helfen werde.« Seine Brüder, die sicherlich schon nahe des Lichthauses waren, würden sehr verwundert sein, ein solch schönes Weib hier zu finden. Er kam mit den gefüllten Bechern wieder zurück und beugte sich über das Mädchen. »Willst du bei mir bleiben?« flüsterte er. »Wohin sollte ich sonst gehen?« Er setzte sich auf einen niedrigen Schemel neben dem Sessel und legte seine Arme auf die Armlehnen. Sein Gesicht war nur noch
10 zwei Handbreit von den Augen Fongerreilsons entfernt. Er sah ihre Haut und die feinen Adern an der Schläfe. »Und wie lange bleibst du? Ich war lange allein, mußt du wissen, und ich bin wehrlos, wenn ich in deine Augen sehe.« »Auch das weiß ich nicht. Deine Wehrlosigkeit … ich weiß nicht, wie ich sie ausnützen soll.« Sie blickten sich über die schaumbedeckten Ränder der Becher an. Es waren Blicke einer seltsamen, brennenden Eindringlichkeit. Sigurd dachte flüchtig, daß sie in einer gewaltigen Einsamkeit die beiden einzigen lebendigen Wesen waren. Das unergründliche Schicksal hatte sie zusammengeführt. Er nahm Fongerreilsons Hand und führte sie an seine trockenen Lippen. Sie beugte sich über ihn und strich zögernd, aber dennoch leidenschaftlich über sein Haar. »Ich werde dich lieben«, hauchte sie. »Bleib bei mir«, flüsterte er und küßte sie. »Bald werden meine Brüder kommen, und wir werden beratschlagen. Heimdall wird der erste sein; ein starker, dunkler Geselle. Aber er wird dich mögen, ich bin ganz sicher. Komm mit mir, Fongerreilson.« Ihre Küsse waren heiß und leidenschaftlich. Ihr Körper drängte sich ihm entgegen. Sie wurde in seinen Armen weich und noch begehrenswerter. Er zog sie hoch und stellte den Becher achtlos weg. Sie hielten sich in den Armen. Er küßte ihre Augen und strich mit den Lippen über ihren langen glatten Hals. Sie antwortete mit einem heiseren Laut, halb Stöhnen, halb Seufzen. »Ja. Ich komme mit dir. Und ich werde bei dir bleiben.« Sigurd merkte, wie ihn der Rest der Beherrschung und Selbstkontrolle verließ. Aus einem der oberen Stockwerke erklang das protestierende Kichern Ratatöskrs; er achtete nicht darauf. Er legte seinen Arm um Fongerreilsons nackte Hüften und zog sie mit sich. Im Hintergrund des Raumes, aber noch im Bereich des rötlichen Lichts des Kaminfeuers, war sein Lager. Ein riesiges Bett,
Hans Kneifel ausgelegt mit herrlich duftenden weichen Fellen und bortenreichen Leinentüchern. Bündel von weißen, schlanken Kerzen steckten in goldenen Leuchtern. Auf kleinen, niedrigen Tischen standen Karaffen und Pokale; einige Bücher lagen geschlossen oder aufgeschlagen auf dem erhöhten Boden. Als die beiden Pthorer auf das Lager zugingen, beherrschten Leidenschaft und sehnsüchtiges Erwarten sie; sie kannten nur noch sich und vergaßen die Umwelt völlig. Miteinander sanken sie auf das Lager. Unter Sigurds Fingern lösten sich die Klammern der Schmuckstücke. Gold, Silber und Edelsteine klirrten und klapperten leise. »Sigurd, Liebster – zünde ein paar Kerzen an. Ich will dich sehen«, flüsterte Fongerreilson. »Ja, auch ich will dich erkennen. Sofort …« Sigurd sprang auf und entzündete die Kerzen eines Leuchters an einem Kienspan, den er aus dem Feuer zog. Worte, dachte er; sie mochten töricht klingen und lächerlich in den Ohren anderer. Aber selbst wenn sie übertrieben schienen, so liebte er sie deshalb, weil sie das Zeichen dafür waren, daß seine Einsamkeit vorbei war. War sie es wirklich? Er schob, als er mit dem Leuchter und den brennenden Kerzen durch die Tiefe des Raumes zum Lager ging, alle mißtrauischen Gedanken zur Seite. Er wollte sich nur noch freuen und genießen. Aber die riesigen Schatten einiger Möbelstücke ließen ihn nicht los. Sie deuteten eine seiner möglichen Entwicklungen in naher, düsterer Zukunft an. Er stellte den Leuchter neben das Lager. Fongerreilson hatte den schweren Schmuck und die winzigen Kleidungsstücke abgestreift und streckte ihre Arme aus. »Komm zu mir«, flüsterte sie. Sigurd beugte sich über sie und küßte sie hungrig. Unter ihren Zärtlichkeiten vergaß er alles. Er gab sich der Leidenschaft ihrer ersten Nacht hin und wußte, je mehr Zeit verging, welche Fehler er in den zurückliegenden einsamen Jahren begangen hatte. Die
Aufbruch der Odinssöhne lanzenförmigen Flammen der Kerzen sandten dünne schwarze Fäden zur hohen Decke. Alle die Träume der Jahre voller Einsamkeit begannen wahr zu werden. Auf eine Frau wie Fongerreilson hatte er, ohne es zu wissen, gewartet, und jetzt zitterte ihr Körper in seinen Armen.
11 daß ich mich in meinem ganzen Leben noch niemals so wohl und glücklich gefühlt habe. Wenn die Zukunft so oder ähnlich ist, dann ist sie mir willkommen.« Sie lächelte verträumt, streckte sich aus und bettete ihren Kopf in die Höhlung zwischen Sigurds Arm und Schulter. Sie schlief ein und war glücklich.
* Die Kerzen waren fast heruntergebrannt. Die Nacht ging ihrem Ende zu, der Morgen war nicht mehr fern. Fongerreilson richtete sich auf und lehnte ihren schmalen Rücken gegen eines der schwellenden Polster. Düster und rot leuchtete die Glut des Kaminfeuers vom anderen Ende des Raumes bis hierher und zeichnete mit schwarzen Schatten die Linien des anderen Körpers nach. Fongerreilson ahnte, daß sie nicht das Ereignis war, das Sigurd in ihr sah. Alle ihre Erinnerungen waren in einem dichten, farbigen Nebel erstickt, der sich nur selten und für winzige Augenblicke lichtete. Wer war sie wirklich? »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie unhörbar. Woher kam sie? Aus der FESTUNG? »So scheint es zu sein. Ich bin fast sicher!« Was hatte sie hier zu tun? Gehorchte sie irgendwelchen Befehlen? »Ich weiß nur, daß ich mich in Sigurd verliebt habe. Aber … Befehle? Ich weiß nichts. Ich bin wie blind, wie neugeboren.« Spürte sie etwas? Gab es etwas, wozu sie gezwungen wurde? Etwas, das in ihrer Vergangenheit zu suchen war? »Ich spüre nur, daß ich eine Frau bin, die von Sigurd geliebt wurde. Und – seine Liebe war herrlich. Je länger ich hier bin, desto mehr werde ich über mich erfahren. Mit Sigurd zusammen, durch ihn und seinetwegen.« Wie wird es mit ihm und mir weitergehen? »Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher,
* Ratatöskr raste aufgeregt die Wendeltreppe herunter, huschte zum Feuer und ringelte sich neben der heißen Asche zusammen. Durch einige halbtransparente Flächen in der Wand strahlte die Morgensonne in den Raum. Das Tier – jetzt mit fast schwarzem Fell, über das nur hin und wieder Wellen von dunkelroten Flämmchen liefen –, schnatterte laut und grell. Dieses Geräusch riß Sigurd aus einem intensiven Traum voller Schönheit und Begierde. Er hob den Kopf und sah den schlanken Körper neben sich. Im Schlaf hatte Fongerreilson einige Felldecken halb über ihre Schultern gezogen. »Ruhig! Still!« zischte Sigurd und schob einige Strähnen des weichen, vollen Haares zur Seite. »Wecke sie nicht auf, du Untier!« Das Kichern war leise, aber unüberhörbar. »Du weißt, daß den Herren der FESTUNG nichts verborgen bleibt, Sigurd?« kam es vom Feuer her. Sigurd stand auf und ging in den Küchenteil seiner Halle. Dort trank er durstig eiskaltes Wasser und kauerte sich neben der erkaltenden Glut nieder. »Das wissen wir, Ratatöskr!« sagte er leise, aber bestimmt. Zischend und fauchend gab das Tier zurück, mit dem buschigen Schwanz zuckend: »Sie werden wissen, daß du deine Brüder, die Göttersöhne, zu dir gerufen hast!« »Sie können es gern wissen. Zwischen ihnen und uns herrscht bewaffneter Friede. Das weißt selbst du.« Der Schwanz des kleinen Tieres loderte auf wie eine orangegelbe Fackel.
12
Hans Kneifel
»Sie wollen wissen, was der Grund ist!« »Das werden sie herausfinden, wenn es soweit ist«, sagte Sigurd leise und sah sich um. Fongerreilson schlief noch immer. »Sie haben Fongerreilson geschickt, als Spionin. Denke daran. Auch sie wird dich verraten und verlassen, wie damals die Mutter deines Sohnes Bördo!« »Unsinn!« fuhr Sigurd auf. »Ich erwürge dich, du Wurm der Gehässigkeit.« »Ich sage nichts mehr. Denke an meine Warnungen. Du weißt, wie viele Gerüchte ich erfahre. Sigurd! Ich habe dich gewarnt.« »Und nun bleibe ruhig und störe unseren Schlaf nicht. Wir müssen ausgeruht sein, wenn meine Brüder kommen. Wir werden sie würdig empfangen. Still jetzt, ja?« Das Tier rollte sich wieder zusammen, einige schwache Funken zuckten aus den Haarbüscheln der Ohren, dann sagte Ratatöskr giftig: »Schon gut, Göttersohn.« Sigurd ging schweigend zurück, betrachtete eine Weile seine schöne junge Geliebte und legte sich dann neben sie. Seit undenklicher Zeit war er aufgewacht und hatte sich glücklich und zufrieden gefühlt.
3. Hell bläst Heimdalls Horn, es kündet das Ende, Odin spricht mit der Stimme des Schwertes … Heimdall sang laut, während er das Fahrzeug in die Richtung Donkmoons steuerte. Noch immer hatte er die gekrächzte Botschaft Hugins und Munins in den Ohren, die ihn zu Sigurd rief. Er war – selten erfüllten ihn solche Gedanken – locker und gelöst und guter Stimmung. Wenn Sigurd ihn rief, mußten große Dinge und Entwicklungen in Fluß geraten sein! Während die Ketten des kleinen Truvmers klapperten, rasselten und schepperten, sang
er mit dunkler Stimme die Zeilen des alten, fast unbekannten Liedes der Göttersöhne. Eigentlich wollte Heimdall nicht nach Donkmoon fahren, aber immer wieder blickte er auf die Zeiger der Uhren vor ihm. Die Maschine funktionierte nicht vollkommen und störungsfrei. »Was Sigurd von mir will, ist rätselhaft. Aber ich kenne seine Art. Er würde niemals etwas Unüberlegtes tun.« Der kleine Truvmer glich dem Fahrzeug, das Heimdall dem Trommler zur Verfügung gestellt hatte, nur in wenigen Einzelheiten. Die beiden Gleisketten waren kürzer und breiter und erlaubten eine kurzfristig höhere Geschwindigkeit. Fahrerkabine und Motorteil sahen wie zwei Würfel aus, verbunden durch ein Ringsegment. Das Metall schimmerte silbern und bläulich. Die kleinere Version des Truvmers wurde von Heimdall selten benutzt. Er bevorzugte das größere, stärkere Fahrzeug. Der MiniTruvmer war mehr für den Betrieb auf der Straße der Mächtigen gedacht. Es gab nur zwei Sitze und wenig Raum für Waffen, Vorräte, Treibstoff und Ausrüstung. Kröbel, der skullmanente Magier, hatte ihn mit seiner schrillen und übertriebenen Art gewarnt, aber die Verpflichtungen des Blutes waren stärker gewesen. »Dieser verbrecherische Urahn aller Gordys!« fluchte Heimdall. »Mein Zorn ist mächtig, und zahlloses Ärgernis wird über sie hereinbrechen, bei Odin!« Heimdall steuerte dicht neben der silberschimmernden Straße entlang und überdachte seine Situation. Nach allem, was er über die Technik dieses kleinen Fahrzeugs wußte, würde er wohl die Gordys um Hilfe bitten müssen. Dabei war genau abzuwägen, wie weit sie gewillt waren, die Form zu wahren. In diesem Fall blieb er der souveräne Sieger. Wenn sie sich jedoch herabließen, wie Barbaren oder Unzivilisierte zu reagieren, gab es unweigerlich einen tödlichen Kampf. Vor den angestaubten Scheiben des Fahrzeugs zog die Landschaft zwischen dem festungsartigen Lettro und der Siedlung der ar-
Aufbruch der Odinssöhne roganten und schwer begreiflichen Gordys vorbei. Heimdall senkte den Kopf und blickte die Anzeigen seiner Überwachungsinstrumente an. Die Maschinen liefen gleichmäßig und rund. Die Energieversorgung zeigte beruhigende Werte. Aber einige verschlissene Teile der Mechanik arbeiteten alles andere als zufriedenstellend. Binnen weniger Kilometer würden sich die Zahnräder weiter abgenutzt haben. Entweder mußte Heimdall seinen Weg zu Fuß fortsetzen oder die fraglichen Teile instandsetzen lassen. Sein Problem war, daß er zwar die Reparatur vornehmen konnte, aber ihm die Einzelteile fehlten. Der nächste Platz, an dem er sie beschaffen oder herstellen lassen konnte, tauchte gerade am Horizont auf: Donkmoon, die Stadt der Gordys. Die ersten kleinen Weiler zeigten sich, umgeben von Feldern, Plantagen und Silobauwerken, eingebettet in grüne, schlanke Baumgruppen. »Ich muß die Energiebarriere umfahren und … hinein nach Donkmoon! Feige flüchtet der Feind«, sang Heimdall herausfordernd. »Es rächt sich der Riese. Hallend wird Heimdall, der Held, seine Khylda schwingen …« Alles waren Strophen alter, längst versunkener Lieder, die er zusammen mit Odin gesungen hatte. Er wußte, daß es in Donkmoon unweigerlich ernsthafte Probleme geben würde. Seine Beziehungen zu den Angehörigen der Donkmoon-Gordys waren ausgesprochen gespannt – es gab geheime, aber kaum jemals offene Feindschaft. Der Angriff auf seine Sammlung von Parraxynth-Bruchstücken war ein treffendes Beispiel gewesen. Ein zweites Beispiel schob sich jetzt zwischen den langsamer fahrenden Truvmer und die Stadtgrenzen. Die Energiebarriere! Etwa zehn Meter hoch und drei Kilometer breit, versperrte sie nicht nur die Straße der Mächtigen, sondern zwang ihn und jeden
13 anderen zu gewaltigen Umwegen. »Nein!« sagte er entschlossen und steuerte den kleinen Truvmer nach links. »Ich greife sie frontal an. Ich zwinge sie, sich wohl zu verhalten!« Listenreiches Vorgehen schätzte er nicht sonderlich. Er entschied sich, wie fast immer in seinem langen Leben, für das direkte Vorgehen. Die Barriere vor ihm wurde deutlicher; eine halb durchsichtige Mauer aus schillernder und wallender Energie in seltsam fahlen Farben. Die Ketten des Fahrzeugs ratterten jetzt über einen schmalen Streifen Schotter, der in eine noch schmalere Straße überging. Es war ein Fahrweg zwischen einzelnen Feldern. Aus den Büschen und einem sumpfigen Graben voller Abfall und verrottender Pflanzenhaufen stürzten sich kläffend echsenartige Tiere mit breiten Schneidezähnen auf die Elemente der Ketten und verbissen sich wütend darin. Einige der Tiere wurden mitgerissen, herumgewirbelt und niedergewalzt, die anderen hörten mit ihren sinnlosen Angriffen auf und warfen sich über die blutenden Kadaver. Ein scharfer Summton und ein aufgeregtes Blinken neben den Lenkhebeln unterbrachen die düsteren, von Kampf und Auseinandersetzungen erfüllten Gedanken Heimdalls. »Verdammt!« stieß er hervor. »Es wird Zeit, daß ich die Stadt erreiche!« Die Signale zeigten einen gefährlichen Abnutzungszustand der Räder und Wellen an. Mit sehr viel Glück schaffte er es noch um die Barriere herum und nach Donkmoon. Abermals verringerte er die Geschwindigkeit und versuchte, von dem steinigen Pfad auf die Grasspuren auszuweichen. Das Fahrzeug schwankte, kippte nach vorn und überwand rutschend zunächst die eine Seite eines flachen Grabens, durchfuhr dann stickig riechendes schwarzes Wasser und kletterte auf der anderen Böschung schräg wieder hinauf. Die Energiebarriere kam im spitzen Winkel näher. Auf einem flachen Dach eines der Farmhäuser erschien ein Mann, unverkennbar ein Gordy. Er
14 blickte mit einem aufblitzenden Instrument in die Richtung Heimdalls. Der Göttersohn stieß ein dumpfes Gelächter aus. Man hatte ihn gesehen. Von jetzt ab würde sich die Nachricht über sein Eindringen in rasender Eile verbreiten und entsprechende Reaktionen erzeugen. »Zunächst wird die Verblüffung ihr Verhalten bestimmen …«, murmelte er in stillem Zorn und steuerte die Maschine durch ein Feld aus kriechenden Ranken und blutroten Früchten. Die Ketten zerfetzten die Stengel und die melonenartigen Früchte und bedeckten sich mit Blattresten und dem klebrigen Schleim, der aus den Melonen drang. Hundert Meter weiter hinterließ der Truvmer eine breite Doppelspur in einem frisch angesäten, feuchten Acker. Nun verliefen die Spuren fast parallel zur Barriere. Auch jenseits der flimmernden Schleier war nichts anderes zu erkennen als diesseits – eben Felder, einzelne Häuser und die landwirtschaftlichen Nutzbauten. Aus der nächstgelegenen Farm stürzten sich zwei riesige Hunde auf die Maschine, umkreisten sie knurrend und bellend und machten immer wieder Versuche, das halb geöffnete Fenster der Fahrerkabine zu erreichen. Heimdall ignorierte die kläffenden Wachtiere völlig und hielt auf einen riesigen Monolithen zu, der dieses Ende der Barriere kennzeichnete. Der Stein schien das Sonnenlicht in sich einzusaugen und stand schwarz, fast bläulich schimmernd, mitten in einer herrlich grünen Weide. Brummend und klirrend – ab und zu erzeugten die defekten Zahnräder schrill kreischende Geräusche – zogen die schweren Profile tiefe Spuren durch die junge Saat. Heimdall war bereit, augenblicklich zu handeln und einen Angriff der Gordys zurückzuschlagen, aber niemand stellte sich ihm in den Weg, als er den Monolithen umrundete und wieder direkten Kurs auf die Silhouette des Stadteingangs nahm. Vor ihm lagen flache Felder und niedriges Buschwerk. Er behielt die Geschwindigkeit
Hans Kneifel bei und fuhr streng geradeaus. Tatsächlich! Die Gordys wahrten eine bestimmte Form. Sie beobachteten ihn, aber sie griffen ihn nicht an. Sogar die Hunde hörten auf, den Truvmer zu umkreisen. »Ha! Widerwillige Gastfreundschaft!« fauchte er und tastete nach der Waffe. Die unzähligen Kuppeln, teilweise rot, zum anderen Teil orange oder in einer Mischfarbe zwischen beiden Extremen gehalten, wurden deutlicher und schärfer im Sonnenlicht. Hin und wieder erzeugten dicht über dem Boden entlanghuschende Energieprallwagen funkelnde Reflexe. Die höchsten Kuppeln waren im Zentrum dieser seltsam kalten Stadt zu sehen, in der rund fünfzehntausend Mitglieder der Familien lebten und arbeiteten. Der Truvmer klirrte auf der Straße der Mächtigen, die kurz vor den beiden Stahlmonumenten im Boden verschwand. Noch immer kein offener Angriff! dachte Heimdall und wußte nicht, was er davon in Wirklichkeit zu halten hatte. Voller Spannung fuhr er weiter. Das breite Metallband verschwand, ein Streifen saftiges Gras folgte, dann fing der Bereich der eigentlichen Stadt an. Die Plätze und schon diese breite Straße bestanden aus einer fugenlosen, gegossenen Schicht aus Kunststoff. Aus den Eingängen der kuppelartigen ersten Häuser, aus vorbeischwebenden Prallfahrzeugen und von verschiedenen Teilen der Straße starrten die schwarzhaarigen Gordys den Truvmer und seinen Insassen an. Langsam bewegte Heimdall seinen Kopf und suchte einen Platz, an dem er bekommen würde, was er brauchte. Heimdalls Fahrzeug war der Mittelpunkt einer lautlosen, aber herausfordernden Neugierde. Das Geräusch der unregelmäßig arbeitenden Antriebseinheiten erzeugte hallende Echos zwischen den Kuppeln aus Rot und Orange. Gordys! dachte Heimdall voller Unbehagen. Man wußte niemals, was hinter ihren arroganten, kalt und hart wirkenden Gesichtszügen vorging.
Aufbruch der Odinssöhne Je weiter Heimdall in die Stadt hineinfuhr, desto größer wurden die Gruppen, die plötzlich erstarrten, sich herumdrehten und ihn mit auffallend großen, blauen Augen anstarrten. Sie waren zuviele; falls sie sich entschlossen, ihn herauszufordern, würde er unterliegen. Seit langem kannte er die Gordys, und er hatte sie niemals richtig verstehen können. Sie waren Pthorer wie er, aber sie schienen aus einem anderen Universum zu stammen. Schlank und hochgewachsen, absolut menschlich, wirkten sie ebenso autoritär wie intelligent. Sie wurden von Wissenschaftlern regiert, die ihrerseits ihre Anordnungen direkt von den Herren der FESTUNG erhielten. Einige anstrengende Minuten vergingen. Die ausgeleierten Räder drehten immer wieder durch, und der Truvmer beschrieb einen Zickzackkurs. Endlich erkannte Heimdall zwischen zwei kleineren Kuppeln eine halb geöffnete Halle, in der Gordys und Maschinen an abgestellten und teilweise auseinandergenommenen Prallfahrzeugen hantierten. Abermals heulten die Maschinen auf, als Heimdall die Richtung änderte und darauf zusteuerte. Er beschrieb einen Weg aus Schlangenlinien zwischen regungslos stehenden Gruppen, die ihn fasziniert und absolut kalt und schweigend betrachteten wie ein seltsames, abenteuerlich aussehendes Wesen, das das Gleichmaß der Beschäftigung empfindlich störte. Knackend und fauchend blieb das Fahrzeug direkt vor der Halle stehen. Schnell schaltete Heimdall die Maschinen aus und griff nach der Khylda. Er sprang aus der Kabine auf den Boden, der unter dem schweren Gewicht leicht zu federn schien. Langsam, im Schutz seiner Rüstung, ging er auf die ihm zunächst stehende Gruppe zu. Die Männer und zwei der kleineren, weniger kantig wirkenden Frauen hielten längliche Werkzeuge in den Händen. »Ihr wißt, wer ich bin«, stellte Heimdall fest. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben, um
15 niemandem einen Grund zu geben, seine Bitte abzulehnen. »Du bist Heimdall und hast offensichtliche Schwierigkeiten mit diesem abenteuerlichen Apparat«, entgegnete förmlich ein Gordy. »Abenteuerlich nur dem Aussehen nach. In Wirklichkeit sehr brauchbar. Ja, so ist es. Ich habe Schwierigkeiten.« Ein schlanker Mann in mittleren Jahren trat einige Schritte vor und stützte sich schwer auf sein gegabeltes Werkzeug. »Was bringt dich, Heimdall, auf den kühnen Einfall, annehmen zu wollen, wir würden dir helfen?« Klirrende Arroganz und das Wissen über das delikate Verhältnis zwischen Heimdall und dem Rest dieses Teiles von Pthor sprach aus der Frage. Heimdall zwang die Versuchung nieder, seine Khylda zu schwingen und dem Gordy den Kopf von den eckigen Schultern zu trennen und entgegnete in gleichem Tonfall: »Ich bin Odins Sohn. Ihr seid die Werkzeuge der Herren der FESTUNG. Uns trennt nur der Besitz der Bruchstücke. Wir haben niemals offen gegeneinander gekämpft. Ich vertraue darauf, daß wir ohne Haß oder Heimtücke miteinander auskommen können.« Die anderen hörten schweigend und regungslos zu. Wie immer, konnte Heimdall auch jetzt nicht einmal ahnen, was sie wirklich dachten. Der schlanke Mann murmelte: »Eine kühne, wenn auch zutreffende Annahme. Du glaubst, wir können den Truvmer reparieren?« »Gegen angemessene Bezahlung, versteht sich. Ich bin sicher, daß es nur ganz kurze Zeit dauert.« Heimdall spürte keinerlei Feindseligkeit, sondern eine Mischung aus Abwarten, der Bereitschaft, zu einer teuflischen List zu greifen, und ebenso nötigenfalls die Bereitschaft, sich gegen ihn zusammenzuschließen und Falschheit anzuwenden. Er war sicher, entsprechend reagieren zu können, wenn es notwendig wurde. Er grin-
16 ste kalt unter seinem Helm und fragte: »Ich weiß, daß ihr den Truvmer reparieren könnt. Die Frage ist – wollt ihr ihn auch instandsetzen? Für mich, den Sohn Odins?« »Eine Frage von außerordentlich großer Tragweite!« bestätigte der Werkstattleiter kühl. »Ich bin nicht an Tragweiten, sondern an einer schnellen Reparatur interessiert«, schränkte Heimdall ein. »Dann werden wir tun, was zu tun ist. Wo ist der Schaden?« »Im Getriebe, Herr der Zahnräder!« erklärte Heimdall düster. Er deutete mit der Spitze der schweren Waffe auf die Stelle, an der sich ein kleiner Rauchfaden erhob. Knackend kühlte das Metall ab. »Wir werden den Schaden rasch behoben haben«, sagte der Mechaniker oder was immer er in Wirklichkeit war. »Die übliche Form der Bezahlung?« »Die übliche Form«, bestätigte Heimdall. Er sah sich um. Die Szenerie hatte sich kaum verändert. Die Blicke und die schweigende Aufmerksamkeit der Gordys hatten ihn bis hierher wie eine Mauer geleitet. Noch jetzt war er im Zentrum ihres Interesses. Einige Gruppen kamen unmerklich näher heran. »Es wird eine Stunde dauern. Dort drüben ist ein öffentliches Lokal; du kannst Hunger und Durst stillen«, meinte eine der Frauen. »Danke.« Heimdall blickte in die Fahrerkabine hinein und stellte fest, daß sämtliche dort vorhandenen Ausrüstungsgegenstände für die Gordys von Donkmoon reichlich uninteressant waren. Was wirklich wichtig war, trug er am Körper. Er konnte also das Fahrzeug hier stehenlassen. Er löste den Riemen des Helmes, nahm den Helm unter die Schulter und ging mit schweren Schritten zur nächsten kleineren Kuppel. Dort standen und saßen etwa fünfundzwanzig Stadtbewohner und starrten ihn an. Er verlangte ein Bier und eine dicke Scheibe Braten. Über einen hohen Tisch schob schweigend eine junge Frau einen
Hans Kneifel Humpen und das Fleisch auf einem großen Teller. »Ich danke dir«, sagte Heimdall, nahm einen kräftigen Schluck und biß ins Fleisch. Die seltsame, spannungsgeladene Stille entnervte ihn. Sie schien schlimmer als ein Kampf zu sein. Irgend etwas hatten sie unzweifelhaft vor. Er selbst war nur ein einzelner gegen sie alle. Trotzdem glaubte er nicht, daß sie sich zu offenem Kampf oder gar zu Mord hinreißen lassen würden. Scheinbar ruhig aß er den Braten und trank den Humpen leer. Er zahlte mit einem winzigen Quork und wandte sich ab. Kröbel hatte ihn gewarnt, immer wieder und mit steigender Erregung! Er hätte auf ihn hören sollen. Fünfzehntausend Gordys, jeder von ihnen ein favorisierter Kastenangehöriger der Herren der FESTUNG, schienen inzwischen zu wissen, wer ihre schimmernde Stadt betreten hatte. Als Heimdall langsam zu der Werkstatt hinüberschlenderte und die schwere Waffe in der Rechten federnd hochhob, war er entschlossen, einerseits sich keine Blöße zu geben, andererseits auch die reservierte Höflichkeit und die Arroganz der Gordys nicht herauszufordern. Sie durften auf keinen Fall ihr Gesicht verlieren. Er sah, daß man den Truvmer ins Innere der kuppelförmigen Halle gezogen hatte. Mindestens fünf Arbeiter beschäftigten sich mit der Reparatur. Summen und Klappern ertönte und hallte weit über den Vorplatz. Heimdall blieb neben dem auseinandergenommenen Antriebselement stehen und fragte laut: »Geht es voran mit der Reparatur?« Ein Arbeiter mit ölverschmierten Unterarmen schaute auf und antwortete: »Wir sind bereits mit dem Zusammenbau beschäftigt. Einige andere Teile waren reichlich mitgenommen und mußten ausgetauscht werden.« »Ich verstehe. Ich warte hier, wenn ihr gestattet?« »Nimm Platz und warte!« Heimdall setzte sich auf eine eiserne Kiste und sah den Arbeitern zu. Sie hantierten un-
Aufbruch der Odinssöhne glaublich schnell und sicher mit Werkzeugen und Ausrüstung. Niemand schien ihn jetzt mehr zu beachten. Mit einiger Sicherheit hatten sich die Wissenschaftler von ihrer Verblüffung erholt, die FESTUNG hatte ihre Befehle gegeben, und die Art des Vorgehens gegen den Göttersohn stand fest. Heimdall schluckte einen Fluch hinunter und sah zu, wie sich Schlüssel und Zangen bewegten, wie Schrauben und Nieten befestigt wurden. Die Fähigkeit dieser gordyschen Mechaniker war eindrucksvoll. Mit dumpfem Knirschen wurden die Kettenglieder zusammengezogen, gespannt und ineinander befestigt. Aus den Lagern quoll weißes, harzig aussehendes Fett. Derjenige Mann, der zuerst mit Heimdall gesprochen hatte, trat vor ihn. »Die Reparatur ist beendet, Odinssohn.« Heimdall griff in die Innentasche seines Gürtels und zog eine Kette von kleinen Quorks hervor. »Ich danke. Was schulde ich dir, Gordy?« »Mir schuldest du nichts. Aber man wird dir eine Rechnung stellen … dort, sie kommen bereits.« Er deutete zum Ausgang. Während sich eine hydraulische Plattform drehte und bewegte und den Truvmer aus der hell erleuchteten Halle schob, hielt seitlich des Eingangs einer der tropfenförmigen Prallwagen an. Mehrere schlanke, in metallartig schimmernde Anzüge gekleidete Gordys stiegen aus und gingen entschlossen auf Heimdall zu. Der Odinssohn stand auf, von einer dunklen Vorahnung gepackt. Mit dem schnellen Blick des erfahrenen Kämpfers sah er, daß sich jetzt auch die Gruppen draußen auf Plätzen und Straßen zu bewegen begannen. Es wirkte, als ob Hunderte Gordys einen großen Kreis um die Werkstatt und den Truvmer bilden wollten. Es sind Wissenschaftler, stellte Heimdall bei sich fest. »Was wollt ihr?« fragte er laut. »Du hast bei uns arbeiten lassen. Dafür hast du Bezahlung zugesichert, Heimdall«, erklärte einer der Stadtvorsteher. Heimdall hob die Quorks hoch, jene klei-
17 nen Knochen der legendären Raubkatze. »Ich bin gewillt, schnell zu zahlen und ebenso schnell Donkmoon zu verlassen«, sagte er düster. »Das ist nicht die Art der Bezahlung, die wir vorziehen!« sagte der Wissenschaftler und hob abwehrend die Hände. »Es ist die Bezahlung, die überall auf Pthor gültig ist. Sollte sich in Donkmoon inzwischen etwas geändert haben?« »Nein. Die Änderung betrifft nur dich und uns allein. Du kennst seit langem unsere Wünsche. Sie werden immer dringender.« Heimdall setzte seinen Helm auf und steckte die Quorks zurück. Einige Sekunden vergingen. Niemand sprach, die Umstehenden schienen auf einen Ausbruch zu warten. Dann knurrte Heimdall mit seiner dunklen Stimme: »Ihr verlangt im Ernst für diese kleine Reparatur meine Bruchstücke? Die Teile, die im versiegelten Lettro vor euch sicher sind? Die kostbaren und unersetzlichen Parraxynth-Bruchstücke? Undenkbar.« Der Wissenschaftler blieb ungerührt und deutete auf den Truvmer. »Wir haben unseren Teil des Vertrags erfüllt. Erfülle du deinen. Wir warten auf die Bezahlung.« Heimdall nahm die Khylda in beide Hände, verzichtete aber darauf, die energetische Verstärkung einzuschalten. In mühsam erzwungener Ruhe sagte er: »Ihr habt mir halb entstofflichte Gordys geschickt, die in selbstmörderischem Angriff in den Wänden steckenblieben. Ihr habt versucht, mit List meine Bruchstücke zu stehlen. Und jetzt besitzt ihr die unverschämte Frechheit, als Bezahlung alle meine Parraxynth-Bruchstücke zu verlangen. Ihr müßt von Sinnen sein.« »Keineswegs«, lautete die arrogante Antwort. »Was hättest du an unserer Stelle getan? Du weißt, warum diese Bruchstücke so wichtig sind, daß jeder sie sucht und viele dafür gestorben sind?« »Das wissen wir alle ganz genau«, versicherte Heimdall. »Trotz allem: Lassen wir
18 diese dummen Spiele, die unserer nicht würdig sind. Ich bin bereit, einen angemessenen Preis in der Quork-Währung zu entrichten, aber über die Herausgabe der Bruchstücke vermag ich nicht zu verhandeln.« Seine Stimme ließ erkennen, daß er ernsthaft zornig wurde. »Du bist nicht willens, deine Schuld zu entrichten. Zuerst aber hast du gesagt, daß du unsere übliche Form der Bezahlung akzeptierst. Göttersöhne haben in Donkmoon andere Voraussetzungen zu beachten als ein anderer Wanderer von Pthor.« »Aber nicht solche. Könnt ihr mich zwingen?« Die kalten, wachsamen Augen des Gordys musterten ihn erbarmungslos. Der Wissenschaftler war sich seiner kaum angreifbaren Position sicher. »Wir werden dich sicherlich nicht töten, um in den Besitz der Parraxynth-Teile zu kommen. Aber wir kennen viele Möglichkeiten, unsere Ziele zu erreichen.« »Kampf?« wollte Heimdall aufgebracht wissen. Sein Daumen suchte den Schalter, und die Khylda begann herausfordernd zu summen. »Angesichts einer Übermacht von fünfzehntausend zu eins ein indiskutabler Gedanke für dich, Heimdall!« schränkte der Wissenschaftler ein und lächelte kühl. »Wer will mich daran hindern, einige Quorks hinzuwerfen, in den Truvmer zu klettern und die Stadt schneller zu verlassen, als ich sie betreten habe? Ich bin sicher, daß die Herren der FESTUNG mein Vorgehen billigen werden.« »Sie mißbilligen rohe Gewalt, richtig«, gab der Gordy zurück, noch immer unerschütterlich und, wie es schien, von leichter, sarkastischer Heiterkeit erfüllt. »Aber sie haben nichts gegen List, Einfallsreichtum oder die vielen Praktiken der Überredungskunst.« Heimdall nestelte einige Quorks von dem Band und drückte sie dem Gordy in die Hand. »Versuche«, sagte er drohend, »mich zu überreden.«
Hans Kneifel Der Gordy nickte und spielte mit den Knochen. Dann hob er die Hand und sprach in die Richtung der Handfläche: »Ich beschuldige dich hiermit der bewiesenen Zahlungsunwilligkeit. Die Berater werden sich mit dieser Angelegenheit beschäftigen müssen. Bis zu diesem Zeitpunkt mußt du dich als unser unfreiwilliger Gast betrachten.« Heimdall hob die Waffe und drehte seinen breiten Körper. Jetzt hatte sich die Umgebung tatsächlich verändert. Mindestens zweihundert Gordys kamen plötzlich von allen Seiten auf ihn zu. Sie sahen entschlossen aus, und die Waffen waren keineswegs mechanische Geräte, sondern tödliche Strahlwaffen. Die Gordys kamen schnell näher und bildeten binnen kurzer Zeit um Heimdall und die Wissenschaftler einen engen Kreis. Mindestens zehn Dutzend Waffen richteten sich auf den Göttersohn. »Was erhofft ihr euch von dieser … Maßnahme?« knirschte Heimdall. Er fühlte, wie ihn eine heillose Wut ergriff. Gleichzeitig spürte er die tiefe Resignation darüber, daß er ihnen in diese einfache Falle gegangen war. Aber noch lebte er. Er würde sich auch aus dieser Notlage befreien können. »Letzten Endes deine Einsicht, Heimdall«, verkündete der Gordy überraschend milde. »Wir wollen nichts anderes als die für dich wertlosen Bruchstücke.« »Ihr werdet sie niemals bekommen, bei Odin!« brüllte er. Der Wissenschaftler machte eine kurze Handbewegung. »Führt ihn ab, bringt ihn zu seinem Gefängnis. Wir haben viel Zeit und viel Geduld.« Sie entwaffneten ihn nicht einmal. Die Wissenschaftler traten zur Seite, und etwa hundert Gordys brachten Heimdall tiefer in die Kuppelstadt hinein. Der Mann, der mit ihm gesprochen hatte, lehnte sich gegen die Verstrebungen des Truvmers und blickte der Gruppe nach. Natürlich hatten sie den Truvmer gründlich durchsucht, um etwas zu fin-
Aufbruch der Odinssöhne den, das wie der Schlüssel zum versiegelten Lettro, der eigentlichen Schatzkammer, aussah. Nichts hatten sie gefunden. Irgendwann würde Heimdall müde werden und Zeichen von Schwäche zeigen. Dann konnte man ihm die Rüstung abnehmen. Dort fanden sie mit Sicherheit den bewußten Schlüssel. Wenn er lange genug in seinem Gefängnis blieb, mußte er einfach einschlafen. Gewalt durfte nicht angewandt werden. Die Herren der FESTUNG wollten es nicht. Die wuchtige und große Gestalt Heimdalls machte allerdings nicht den Eindruck, als würde er die Parraxynth-Bruchstücke gern und bald herausgeben.
4. Es ist der Wind von Kalmlech, der die Melodie der Windharfe erschafft; so wird Häßliches zur Schönheit Balduur zog kurz am Zügel, stützte sich hoch und warf einen kurzen Blick zurück zu dem letzten, gerüstähnlichen Burkollturm. Fünfzig Sprünge weit ragte das Wasserschloß des Bruders auf; es wirkte verlassen und abweisend. Ein milder Wind erzeugte auf und abschwellende Töne. Summend und singend kamen undeutliche Melodien vom höchsten Punkt des Wasserschlosses. Das Yassel streckte den Hals und stieß einen langgezogenen, unruhigen Laut aus. Die Sonne stand blutrot zwei Handbreit über dem Horizont. Die kümmerlichen Büsche und die knorrigen Bäume, vom Wind geformt, wirkten wie überpudert und verstaubt. Das rote Licht funkelte auf den metallischen Teilen von Balduurs Rüstung. Balduur war rasch aufgebrochen, nachdem die Raben ihm den Ruf übermittelt hatten, und um Zeit zu sparen, ritt er nur bis zum Wasserschloß des Bruders. »Ob Honir schon aufgebrochen ist?« murmelte er und trieb das Yassel an. Das Tier
19 riß den Schädel hoch und galoppierte auf den Rundbau zu, der sich undeutlich im dunklen Wasser des Kelch-Or-Sees spiegelte. Der aufragende Turm war leer, niemand stand hinter den Zinnen. »Schloß Komyr scheint verlassen zu sein«, stellte Balduur fest und verdrängte sowohl die Gedanken an Fenris, den verschwundenen und vermutlich verendeten Riesenwolf, als auch an Opal, die seine Lebensenergie nicht mehr brauchte. Der Schmerz dieses doppelten Verlusts verschwand, wenn er die Landschaft durcheilte und an die Botschaft des anderen Bruders dachte. Mitten auf der Brücke, vor sich die wuchtigen Bohlen des Haupttors, hielt er das Reittier wieder an. Er lauschte, aber er hörte nichts anderes als die schmelzenden Töne der Windharfe. »Bruder Honir!« schrie er, so laut er konnte. Das Yassel zuckte zusammen, und Balduur zog am Zügel. Keine Antwort. Nichts und niemand rührte sich. Ein Windstoß fuhr über die Ufer des Sees hinweg und riß Staubwirbel in die Höhe, drehte sie zu ungleichmäßigen Säulen und ließ sie zusammensinken. »Honir!« Balduur ritt bis zum Haupttor, zog sein Schwert und hämmerte, sich weit aus dem Sattel beugend, mit dem Knauf gegen die Bohlen. Donnernde Schläge hallten, laute Echos kamen aus dem Hof über die Mauer hinweg. Das Wasserschloß war also leer und verlassen. Balduur riß am Zügel und zwang das Tier, sich herumzudrehen. Dann rammte er dem Yassel die Fersen in die Flanken, beugte sich im Sattel vor, schob das Schwert zurück und ritt von der Brücke herunter, scharf nach rechts, und galoppierte weiter. Er kannte das Risiko, das er mit seinem Versuch, Zeit zu sparen und den langen Weg abzukürzen, einging. Honir war bereits auf dem Weg zu Heimdall und Sigurd. Also blieb ihm nichts anders übrig, als
20 quer durch den Süden der Ebene Kalmlech oder Gnitaheide, wie Honir diesen Ort der Schrecken nannte, nach Donkmoon zu reiten. Eine Aussicht, die ihn keineswegs begeisterte. Aber jeder andere Weg und jeder andere Versuch würde viel Zeit kosten. Sigurds Botschaft war dringend gewesen – sie klang, als ob Ragnarök unmittelbar bevorstünde. Er, Balduur, hatte von allen Wächtern an den Straßenabschnitten der Mächtigen den weitesten Weg. »Und die Nacht bricht an!« murmelte er, federte in den Bügeln und beugte sich weit über den Hals des Tieres. Durch den trockenen Wirbel der Hufe glaubte er, das Brüllen und Schnauben der Horden der Nacht zu hören. Es würde ein Rennen gegen die Zeit werden. Die Sonne war zu einem Viertel hinter dem flachen, ausgezackten Horizont versunken. Jeder Gegenstand warf einen langen, tiefschwarzen Schatten auf einem riesigen, düsterroten Grund. Unter den Hufen des Yassels spritzten Kiesel und Sandfahnen nach hinten. Der Süden, dachte er und blickte über die Schulter nach hinten, nach Norden und Westen, der südliche Rand von Gnitaheide war der ungefährlichste Teil dieser Ebene. Balduur hoffte, nur wenige versprengte oder gar keine Monstren anzutreffen. Schon tagsüber war der Aufenthalt hier gefährlich; in der Nacht waren die Horden entfesselt und rasend. Eine gute Weile lang hielten das Yassel und er ein scharfes Tempo durch, aber als er die Atemzüge des Tieres lauter und schärfer werden hörte, drosselte er die Geschwindigkeit und ließ das Tier in einen langsamen Trab zurückfallen. Sein roter, schwarzgefütterter Umhang wehte hinter ihm her und schlug immer wieder schwer auf die Kruppe des Tieres. Er hatte nur Vorräte für zwei und Wasser für drei Tage mitgenommen, unter breiten Gurten an der Seite des Sattels angebracht. Sein Schatten vor ihm wurde immer länger und verzerrte sich dort, wo er scheinbar in der trockenen, flachen Landschaft verschwand.
Hans Kneifel »Die Bestien! Sie sind auf dem Weg zur Tränke. Am Dämmersee …« flüsterte er und fühlte wieder einen vorübergehenden Ansturm seiner Gedanken. Fenris und Opal, der immer hilfreiche Robot … Balduur, der seit dem Tod Opals immer mehr von seiner früheren Kraft und Energie zurückgewann, wußte nicht, daß die Bestien von Kalmlech mehr denn je blutgierig und unruhig waren. Sie hatten schon viel zu lange auf die Gelegenheit warten müssen, ihren mörderischen Instinkten nachgeben zu dürfen. Sie streiften ruhelos, aufgeregt und bis zur Raserei gereizt durch die Ebene. Sie waren nicht mehr zu kontrollieren. Balduur dachte zum erstenmal daran, als er hinter sich einen gellenden Schrei hörte, der in einem schmatzenden Gurgeln endete. Er hielt das Yassel mit einem harten Zügelruck an. Die Sonne war untergegangen. Hinter der Horizontlinie gab es einen furchtbaren roten Schein, der vom unteren Rand langgezogener Wolken aufgefangen wurde. Erste Sterne zeigten sich im Zenit. Aber im Nordwesten und im Norden lag letzter Lichtschein auf riesigen Staubwolken, die von der Gnitaheide hochgewirbelt wurden. Das muskulöse Tier unter Balduur bewegte sich unruhig und begann zu zittern. Der Boden bebte unter den Erschütterungen, die Hunderte und Tausende schwerer Körper hervorriefen. Sie rannten ruhelos und gierig hin und her und schienen nach Blut zu gieren. Immer wieder ertönten Schreie aller Art: langgezogenes Stöhnen, grelles Kreischen, hustenähnliches Gebell und röhrendes Jaulen. Es war ein höllischer Chor, der immer lauter wurde. Dies konnte nur bedeuten, daß die abendliche Luft den Schall besser trug, und daß die Monstren auf ihren schnellen Vorstößen immer näher nach Süden beziehungsweise Südosten vorstießen. Balduur stieß einen langen Fluch aus und trieb mit den langen Enden des Zügels das Tier wieder an. Das Yassel reagierte augenblicklich. Seine Furcht war deutlich. Es galoppierte in ra-
Aufbruch der Odinssöhne sender Schnelligkeit davon, genau in die Richtung, in die der Göttersohn reiten wollte. Aber nach wenigen Augenblicken hörte er hinter sich ein lautes, seltsames Geräusch. Es war, als ob riesige Schwingen sich in großer Geschwindigkeit bewegen würden. Wieder blickte er über die Schulter. Ein Schatten verfolgte ihn! Er erkannte nur undeutlich so etwas wie mehrere Paare von halb durchsichtigen, schwarzen Libellenflügeln. Sie bewegten sich so schnell, daß Einzelheiten nicht mehr wahrzunehmen waren. Der Körper der Bestie, die mindestens so groß war wie sein Reittier und er zusammen, ließ lange Spinnenbeine mit scharfen Krallen erkennen, einen schuppigen Rüssel, der sich unaufhörlich bewegte und einen Skorpionschwanz, der zur Steuerung diente. Aus den riesigen Facettenaugen des Ungeheuers schossen zwei stark gebündelte Lichtstrahlen hervor und bewegten sich suchend wie zwei unabhängig gesteuerte Scheinwerfer. Ein eisiger Schrecken durchfuhr Balduur, als einer der Strahlen über ihn hinweghuschte und seine Rüstung aufschimmern ließ. Die schreckliche Riesenlibelle flog in etwa dreißig Meter Höhe über ihn hinweg, richtete plötzlich beide Strahlen auf den Flüchtenden und schoß in schrägem Sturzflug auf ihn zu. Das Reittier wurde herumgerissen, und der Angriff ging ins Leere. Als sich das Tier mit dem dröhnenden Brummen seiner großen Flügel wieder hochschwang, sah Balduur, daß ein großer Teil des Skorpionschwanzes in hellem Rot leuchtete. Als er die dumpfen, langsamen Schritte eines offensichtlich sehr schweren Tieres hörte, verstand er alles. Die schwarze Libelle lebte mit dem nachfolgenden Riesentier in einer Art Symbiose zusammen. Nachts erhellte sie die Umgebung und strahlte die Beute an. Der leuchtende Hinterkörper zeigte dem nachfolgenden Monstrum den Weg des Angriffs. Balduur griff mit einer Hand ans Kinn und schnallte den Helm fest, dann nahm er die Zügel in die Linke
21 und hielt den Schild mit dem schweren, kantigen Helmschutz hoch. Er zog sein Schwert und wußte, daß es Kampf geben würde. Das Yassel raste in einem donnernden Galopp dahin. Er brauchte es nicht mehr anzutreiben; das Geräusch der schwirrenden Schwingen und die verschiedenen, zuckenden Lichterscheinungen versetzten das Tier in irrsinnige Furcht. Wieder stürzte sich die schwarze Skorpionlibelle von links auf den Reiter. Balduur riß den Arm hoch und kippte ihn. Der große Schild schützte Kopf und Nacken, und unter ihm ragten die langen Hörner des Helmes hervor. Das Schwert beschrieb einen blitzenden Halbkreis, aber der Schlag traf nicht. Die Krallen verhakten sich im Schild, ein Stachel scharrte über die Erhöhungen und Tiefen der Schildzier, der Körper tauchte mit seinem roten Licht für wenige Sekunden das Bild der Gruppe in eine fahle Helligkeit. Ein trompetender Schrei klang hinter dem Reiter auf. Die zweite Bestie hatte ihre Beute erkannt und griff an, aber das Tier war noch weit genug entfernt. Balduur erkannte, daß es ein Kampf auf Leben und Tod werden würde. Er setzte sich im Sattel zurecht, versuchte Einzelheiten der Gegend zu erkennen, durch die sein Reittier galoppierte, und faßte den Schwertgriff fester. Er konnte nur gegen eines der Tiere kämpfen. Diesmal stürzte sich der Symbiont in einem spitzeren Winkel auf den Reiter und kam gleichzeitig von der Seite her. Wieder rissen und zerrten die Krallen am Schild. Die Flügel ließen den Umhang flattern und wirbelten Staub und Sand hoch. Balduur hing schräg aus dem Sattel, kippte den Schildarm herunter und schlug in einem weit ausholenden Hieb nach den Flügeln. Als die Schneide des Schwertes auf Widerstand traf, ertönte ein markerschütterndes Heulen dicht über seinem Kopf. Das Yassel scheute und brach in einer Reihe wilder, bockender Sprünge aus. Als Balduurs Körper hochgeschleudert wurde, stach er mit dem Schwert zu und
22 spürte, daß er abermals getroffen hatte. Dann gab es ein Geräusch wie von einer riesigen Peitsche. Etwas zuckte aus der Schwärze der Nacht heran und traf den Hals des Tieres mit brutaler Gewalt. Das Yassel wurde um neunzig Grad herumgerissen, zu Boden geschleudert und getötet. Instinktiv hatte Balduur die Stiefel aus den Bügeln gezogen und rollte jetzt im Fallen seinen Körper zusammen. Mit einem krachenden Klirren landete er, nachdem er sich zweimal überschlagen hatte, auf dem Rücken in Sand und Geröll, wurde zur Seite geworfen und kam taumelnd wieder auf die Füße. Schwankend stand er da und holte keuchend Atem. Die schwarze Libelle flatterte wieder langsam hoch. Ein betäubender Geruch breitete sich aus. In letzter Agonie schlug das Reittier mehrmals aus und riß tiefe Furchen in den Sand. Die Libelle ließ sich fast senkrecht auf den Kadaver fallen, und in diesem Augenblick sprang Balduur mit einem tiefen, heiseren Knurren der Wut vor. Wieder schnellte der lange Schwanz vor, aber sein Endstück traf nur den Schild des Odinssohns. Balduur wurde einige Meter zurückgeschleudert und sah im schwindenden Licht einen Giganten aus der Wüste auf ihn zutappen. Ein gewaltiges Tier, mit einer Unmenge horniger und knochiger Zacken gepanzert, mit Vorderpranken, die es immer wieder hochhob. Die Bestie kam schwankend und in erheblicher Geschwindigkeit näher. Aus dieser Entfernung wirkten die Bewegungen immer gleichförmiger und schneller. Balduur streckte das Schwert seitlich aus, hob den Schild und drang auf die Libelle ein. Das Tier hatte sich auf das tote Yassel gestürzt und begann, mit schmatzendem Röcheln den Bauch des Kadavers aufzureißen. Balduur rannte von rechts heran und trennte mit einem einzigen Schlag, der seinen Körper bis in die Hüftgegend erschütterte, den leuchtenden Skorpionschwanz ab. Der Körperteil flog, sich krümmend und ringelnd, durch die Luft und schien dann über den Sand und das Geröll wie eine riesi-
Hans Kneifel ge Schlange hinwegzukriechen. Die Libelle stieß einen gewaltigen Schrei aus, der weithin über die Wüste hallte. Es war eine Mischung aller Geräusche, die Balduur in seinen langen Jahren je gehört hatte. Dann war er wieder nahe genug heran und schlug auf die Flügel der Libelle los. Das dünne Gewebe aus Knochen und ledrigen Häuten riß mit knirschenden Geräuschen. Immer wieder züngelte der schuppige Rüssel auf Balduur zu, aber er wehrte ihn mit Schwertschlägen, schweren Tritten und dem Schild ab, den er wie eine Waffe handhabte. Die Libelle wurde von der Gier nach Blut und Fleisch und der Notwendigkeit, sich gegen den rasenden Mann verteidigen zu müssen, hin und her gerissen. Sie versuchte einerseits immer wieder, große Fleischbrocken aus den Schenkeln und dem Bauch des Kadavers herauszureißen, andererseits griffen ihre Spinnenbeine nach Balduur, und immer wieder peitschte der Rüssel ihm entgegen, Blut und Knochensplitter von sich schleudernd. Balduur hielt einen Moment inne und wartete. Dadurch vergaß über seinem Blutdurst dieses Tier den Angreifer vorübergehend. Es drehte den Kopf mit den breiten Kiefern dem blutbesudelten Kadaver zu und begann hungrig zu kauen und zu schlingen. Balduur sprang vor, holte aus und schlug dreimal mit äußerster Kraft zu. Der erste Hieb trennte den schuppigen Rüssel dicht vor dem Kopf ab. Der nachfolgende Hieb schlitzte den Körper der Libelle der Länge nach halb auf und ließ ihn auseinanderklaffen. Die Lichtstrahlen aus den Facettenaugen blinkten noch einigemal matt und zeigten Balduur genügend, um einen sicheren dritten Schlag anbringen zu können. Er stieß das Schwert senkrecht nach unten und spießte die Libelle förmlich am Kadaver des Yassels auf. Die Bestie der Nacht zitterte wie unter Stromstößen. Ihre gellenden Schreie verebbten und liefen in ein hohles Fauchen aus. Balduur sprang über das Knäuel aus zerfetz-
Aufbruch der Odinssöhne ten und blutenden Gliedmaßen hinweg, wirbelte herum und erwartete den nächsten Angriff. Einige Sekunden lang herrschte Ruhe. Die schweren, tappenden Schritte der herankommenden Bestie hatten aufgehört. Vor dem eine Spur helleren Himmel ragte die Silhouette eines pechschwarzen Kolosses auf. Balduur sah sie jetzt deutlich, denn das Tier war bis auf etwa dreißig Meter herangekommen. Jetzt hob es sich auf die Hinterbeine und reckte zwei Gliedmaßen hoch, die auf abenteuerliche Weise wirkten, als wären sie verunstaltete Hände, Finger und Unterarme eines Pthorers. Als Balduur den Kopf erkannte, sah er, daß dieser Eindruck auch auf ihn zutraf: Er wirkte trotz riesiger Augen, knochiger Augenwülste und eines breiten Maules irgendwie menschlich. Das Ungeheuer aus dem Heer der Horden der Nacht ließ sich wieder auf die Vorderpranken fallen und stampfte in einem klatschenden Paßgang näher heran. Der Rücken war von einer Doppelreihe von pyramidenförmigen Platten aus Horn und Knochen bedeckt; sie zog sich von den Ohren bis zur Schwanzspitze hin. Als die Bestie direkten Kurs auf Yassel und Libelle nahm und schräg an Balduur vorüberstampfte, sah er ein drittes Beinpaar und die langen Krallen. Eine Wolke von Gestank, die ihn halb betäubte, hüllte ihn ein. Das Untier stieß einen dröhnenden, trompetenden Schrei aus und machte sich über die beiden Kadaver her. »Wenn er satt ist, kämpft er wohl weniger wild?« murmelte Balduur keuchend und senkte das Schwert, bis dessen Spitze den Boden berührte. Er zog sich aus dem Bereich der stinkenden Wolke zurück und beobachtete unausgesetzt aus einer Entfernung von einem Dutzend Metern das Verhalten des Ungeheuers. Als die Bestie jetzt mit den beiden Vorderpranken zugriff und mit einem Ruck den Körper des Reittieres in zwei Hälften riß, konnte Balduur die Größe abschätzen. Vom Kopf bis zur Schwanzspitze maß der Koloß mindestens dreißig Meter, und die höchste
23 Stelle zwischen den vordersten Schulterblättern war mehr als zwölf Meter vom Boden entfernt. Die Haut schien aus dickem, fettem Leder zu bestehen, das rund um die knotigen Gelenke in viereckige Falten zerfiel. Das Krachen der Knochen, das Reißen von Haut und Sehnen, die schlingenden und schmatzenden Geräusche und das wohlige Grunzen des Tieres dauerten mehr als eine Viertelstunde. Dann waren die Reste der zwei Kadaver verschwunden. Ein stechender Geruch nach Blut und den Ausscheidungen des Ungeheuers hing wie eine Giftwolke dicht über dem Boden. Balduur wandte sich ab und atmete tief ein. Als er angriff, drehte sich der Koloß halb herum, ließ sich wieder zu Boden sinken und legte den Kopf flach auf den Sand. Der lange Schwanz schwang sausend hin und her und peitschte Steine und Staub vom Boden hoch. Balduur, der mit der Schwertspitze auf eines der großen, dunklen Augen gezielt hatte, unterbrach verwirrt seinen Angriff. Er wechselte den Griff und schlug die Breitseite des Schwertes hart auf die hornigen Nasenöffnungen des Tieres. Jaulend und aufheulend zog sich der Gigant zehn Meter zurück und schüttelte verdrießlich den Kopf. Dann streckte er beide Vorderpranken seitlich aus, zog die dreieckigen, wie Stahl glänzenden Krallen ein und blies eine Mischung aus Gas, heißer Luft und Gestank aus den Nasenlöchern. Halb gelähmt vor Erstaunen blieb Balduur vor dem Ungeheuer stehen und wußte nicht, was er tun sollte. Verzweifelt suchte er nach einer Lösung seiner Probleme. Das Tier aus der Wüste Kalmlech schien sich vor ihm zu fürchten! »Du bist schuld daran, daß ich zu Fuß weiterwandern muß!« schrie Balduur wütend. »Ich werde dich strafen!«
5. »Lange schlief ich, länger schlummerte
24 ich, lang ist des Lebens Leid.« Lied der Walküren Honir blickte wachsam nach vorn. Vor der roten Scheibe der Sonne bewegten sich die Ströme heißer Luft und ließen die riesigen Feuerkugel wallen und zittern. Diese Waberlohe paßte zu Ragnarök. Ein weiteres Zeichen, daß sein Treffen mit Sigurd und den anderen wichtiger war als alles andere. Nicht sein Treffen; ihr Treffen. Denn in Wirklichkeit war sie Thalia. Der hochgewachsene Fremde mit dem kühnen Blick hatte ihr diesen lange verdrängten Umstand wieder deutlich gemacht. Die Blicke, mit denen er sie gemustert hatte … »Nein!« stieß sie hervor. »Ich darf nicht daran denken. Odin würde mich strafen!« Es war eine schnelle, nur selten gefährliche Fahrt bis hierher gewesen. Die Windrose hatte Honir ohne Zwischenfälle über die Straße der Mächtigen gebracht. Honir beabsichtigte noch immer, auch für den letzten Teil der Fahrt das breite Metallband zu benutzen. Dreihundert Kilometer hatte Honir zurückgelegt, und jetzt befand er sich bereits jenseits der Stadt Zbahn. Sigurd hatte gerufen. Er hatte Hugin und Munin ausgesandt, die ihre Botschaft laut und eindringlich gekrächzt hatten. Schloß Komyr lag verlassen und verschlossen hinter ihr. Lange hatten die Strukturen der gerüstähnlichen Beobachtungstürme der Abfallfresser die Fahrt begleitet, aber auf dem Abschnitt der Straße, den Honir kontrollierte, hatten weder Fallen noch besonders dramatische Vorfälle die Geschwindigkeit herabsetzen und die Fahrt aufhalten können. Die Windrose fuhr ruhig und schnell weiter, auch als Honir Zbahn umrundete und ihren Kurs nach Norden änderte. Sie wollte zu Heimdall, und wenn sie ihn nicht mehr antraf, dann fuhr sie abseits der Straße geradewegs zu Sigurd, ihrem Lieblingsbruder. Das Tageslicht schwand, in wenigen
Hans Kneifel Stunden würde tiefste Nacht herrschen. Dann gab es in der ständig wechselnden Landschaft nur noch das Licht der fremden Sterne. In Harst, der Vorstadt von Zbahn, brannte am Marktplatz ein gewaltiges Feuer. Honir wußte nicht, aus welchem Grund, aber als er sich umdrehte, sah er den zuckenden Lichtschein hinter den Dächern. Das Glühen verlor sich, die Windrose rollte geradeaus weiter und nahm ihren Weg den nächsten Hügel abwärts. Noch immer schwankte Honirs Überzeugung, was ihn selbst betraf. Seine Brüder wußten und ahnten nicht, daß Honir eigentlich Thalia war. Thalia wußte genau, daß sie niemals den Mut haben würde, ihnen zu sagen, daß sie nicht Honir war. Das Mädchen – in seltenen Momenten der Erkenntnisfähigkeit begriff sie sich nicht als Mann – hatte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Herz nach besten Kräften getarnt und versteckt. Bis damals jener aufregende Fremde gekommen war und ihre Wunden versorgt hatte. Durch ihn war auch die Tarnung zerstört worden. Die Sicherheit der Maske schwand dahin, wieder hob das Gespenst der Furcht vor der Entdeckung sein Haupt. Dies waren die Gedanken Thalia-Honirs, als das Mädchen in der schweren, braun und hellblauen Rüstung im Sitz der Windrose hockte, die Vars-Kugel auf dem Schoß und vor sich die immer dunkler werdende Landschaft zwischen Zbahn und Zbohr. Sie hatte das Gebiet der Technos betreten. Natürlich fürchtete sie die Technos nicht. Die meisten Bewohner von Pthor verhielten sich den unsterblichen Göttersöhnen gegenüber reserviert und distanziert. Sie wagten es nur selten, sie anzugreifen. Aber verschiedene Einrichtungen mochten, ohne daß es geplant war, der einsamen Gestalt in dem rollenden Doppelrad gefährlich werden. Trotzdem – Honir hatte keine Furcht, denn als Sohn Odins durfte er weder sich selbst noch anderen gegenüber Angst zeigen.
Aufbruch der Odinssöhne In Wirklichkeit war Honir natürlich verzweifelt. Aber die Verzweiflung war nur innerlich, denn die Tarnung war wieder perfekt. Optisch perfekt, natürlich, aber ihre Brüder würden es nicht durchschauen. Seine Brüder, korrigierte sie sich. Sie kannten nur Honir. Thalia war ihnen unbekannt. Und sie bewegte sich neunundneunzig von hundert Stunden wie ein Mann und kämpfte vor allem immer wie ein Mann. Dieser verdammte, faszinierende Fremde! Er hatte alles wieder ins Wanken gebracht! Warum war er gekommen? Und doch … »Ich ahne, daß er wichtig ist. Er und sein Freund, der ein Atlanter sein muß«, flüsterte Honir. Die Stimme klang durch die Schlitze des Helmes dunkel und tief. Honir griff mit der Hand im schweren Stulphandschuh nach vorn, klappte in der einfachen Steuerung ein Fach auf und zog den Scheinwerfer hervor. Er befestigte die Halbkugel seitlich am inneren Ring der Windrose und betätigte den Schalter. Eine breite Lichtflut überschüttete zwanzig Meter vor der Windrose das Gelände. Sand und Erdreich, niedrige Büsche und kriechende Pflanzen wurden deutlich sichtbar. Hin und wieder glühten die gelben Augen kleiner Raubtiere aus der Dunkelheit auf und verschwanden, wenn das Tier schnell und ohne Geräusche flüchtete. Die Windrose bewegte sich jetzt ziemlich genau in nördlicher Richtung. Hinter Honir mit seinem seltsamen, schnellen Gefährt blieb jenes Stück der Straße der Mächtigen zurück, die einst der Sage nach der gewaltige Odin selbst beherrscht hatte. Odin, Honirs Vater. Der Göttervater, der keine Tochter duldete und nur Söhne haben wollte. Der Grund ihrer langen Verzweiflung. Honir verdrängte diesen Gedanken und konzentrierte sich mit erheblichen Schwierigkeiten wieder auf ihre gewohnte, männliche Maske – in der langen Zeit ihres Lebens hatte sie lernen müssen, männlich zu handeln und vor allem, männlich zu denken. Die Fahrt ging, im Lichtschein des star-
25 ken Strahlers, etwas schneller weiter. Die sinkende Sonne war verschwunden. Nur noch ein halbrundes Feld vager, rötlicher Helligkeit blieb am westlichen Himmel und wurde immer schwächer. Hin und wieder begann ein Stern zu blinken.
* Nach einiger Zeit blitzten rechts und links des Weges würfelförmige Gebäude auf. Sie waren wahllos in die Gegend verstreut. Lockerer Sand und Felsbrocken, umrankt von zähen und dornigen Pflanzen, unterbrachen die wüstenartige Natur der vor Honir liegenden Strecke. Aber das grelle Licht verscheuchte die Raubtiere, die hier auf Beute lauerten. Außerdem rollte die Windrose so schnell dahin, daß ein Angriff sinnlos sein würde. Eine sichelförmige, nur wenige Meter hohe Düne schob sich zwischen den unbekannten Bauwerken in den Weg des Gefährts. Honir hob das rechte Bein und stützte den Fuß gegen den inneren Ring unterhalb des Armaturenbretts, um eventuelle Stöße abzufangen. Die Windrose verringerte ihre Geschwindigkeit nicht, als sie die flache Steigerung hinaufrollte, einen kurzen Sprung machte und dann wieder auf der windabgewandten Seite der Düne landete. Eine Wolke aus feinem, gelbgolden funkelnden Sandkörnern stob in die Höhe. Nach zwanzig Meter begann es laut zu knistern und zu klirren; es war, als rollte das Gefährt über zerbrochenes Glas. Als Honirs Hand zu den Hebeln zuckte, war es schon zu spät. Vor der Windrose breitete sich eine große Fläche aus, die wie ein Kreisring aus Diamantsplittern aussah. Es roch stechend nach unbegreiflichen, nie gekannten Dingen. Das Knirschen und Klirren und Knistern wurde lauter. Die Windrose ratterte jetzt hart über eine Fläche aus Kristallen, die unter dem Gewicht des äußeren Reifens zerbrachen und zerpulvert wurden.
26 Seltsame, blumenartige Dinge, ebenfalls aus gewachsenen und wuchernden Kristallen bestehend, reckten sich rechts und links der breiten Spur hoch, die der abbremsende Reifen der Windrose fürchte. Sie zerbrachen mit einem gläsernen Klirren, wenn sie das Metall traf. Alles geschah in Sekundenschnelle. Dann sank durch die immer dünner werdende Kruste der Kristalle die Windrose tiefer und tiefer ein. Da sie sich viel langsamer bewegte und zudem zu schlingern begann, bohrte sich die Kante des äußersten Reifens tiefer ein. Irgendeine Flüssigkeit schwappte in den Raum zwischen Außen und Innenring. Ein kurzer, heftiger Schrecken traf Honir. Dann verlor das Gefährt den festen Grund und kippte um. Die Geschwindigkeit war geringer geworden. Mit einem schnellen Griff löste Honir den breiten Gurt, der um sein Becken lief und ihn am Sitz festhielt. Die Lichtflut traf jetzt einen Kreis aus einer undefinierbaren Flüssigkeit, die in sämtlichen Farben schimmerte und schillerte. Honir wurde nach links aus dem Sitz geschleudert. Die Windrose trudelte noch einige Meter, kippte dann nach rechts und schlug schwer in den kristallenen Rand, der den annähernd festen Grund von der Flüssigkeit trennte. Es konnte ein See sein, den die Technos für ihre Abfälle oder irgendwelche giftigen Chemikalien verwendeten. Honir brach durch die dünne Kristalldecke, breitete die Arme aus und versuchte, den Fall abzubremsen. Mit einem ohrenbetäubenden Geräusch brachen breite Spalten in der Kristallschicht auf. Honir versank in der stinkenden, ätzenden Brühe und schnappte ein letztesmal nach Luft. Dann fühlte er sofort Grund; die Knie schlugen hart auf den Boden des Teichrandes. Augenblicklich richtete sich Honir auf, aber er troff vom roten Kristall des Helmes bis zu den Oberschenkeln von diesem undefinierbaren Zeug. Honir hustete würgend; die Flüssig-
Hans Kneifel keit verströmte einen unbeschreiblichen Geruch, der die Schleimhäute angriff. Dann stemmte er sich hoch, seine Sohlen spürten schlammigen Grund. Der Scheinwerfer der Windrose war nur zu einem Teil von der Flüssigkeit bedeckt und strahlte fast flach über Flüssigkeit und Kristalle. Die schneeweißen, teilweise transparenten Kristalle brachen das Licht, veränderten prismatisch die Farben und reflektierten sie zum Teil. Mit dumpfen Flüchen stapfte Honir durch die brechende Kristallgewächse. In der rechten Hand hielt er den Griff der VarsKugel. »Ich hätte den Bereich des schlafenden Fafnirs nicht verlassen sollen«, knurrte er und blieb stehen, als er festen Boden unter sich spürte. Von der Stelle, an der er in diese Brühe geschleudert worden war, bis hierher, waren es weniger als ein Dutzend Meter. Überall begann die Haut zu prickeln und zu jucken. Die Haut? Eine neue Welle des Entsetzens ergriff Honir. Er ging einige Schritte und blieb im Licht aus dem Scheinwerfer der Windrose stehen. Das Kribbeln und Stechen wurde schärfer und lästiger. Schweigend vor Furcht überlegte Honir, daß diese Erscheinung nur eines zur Folge haben konnte … Er sah an sich herunter. Zwischen den Teilen der Rüstung und der Panzerung begann die Muskelmaske zu brodeln und leise zu zischen. Dünnhäutige Blasen erschienen in den Spalten und zerplatzten mit prasselnden Geräuschen. Binnen kurzer Zeit setzte sich diese Erscheinung über den gesamten Körper fort. Gleichzeitig merkte Honir, wie die Teile der Rüstung abzufallen schienen und nicht mehr straff auf der Haut auflagen. »Nein!« stöhnte Honir auf. An einigen Stellen hatte sich die mehr oder weniger dicke Schicht der Muskelmasse soweit aufgelöst, daß sie als milchige Flüssigkeit aus den Stiefeln, den einzelnen Teilen der Metallrüstung und den übereinanderliegenden Lederflächen sickerte. Ein Ge-
Aufbruch der Odinssöhne fühl hilfloser Wut überkam Honir. Die Muskelmasse war ersetzbar, aber ausgerechnet jetzt und hier, auf dem Weg zu den Brüdern, auf dem Weg zu dem wichtigsten Ereignis seit undenkbar langer Zeit. »Was soll ich tun?« Der männliche Verstand sagte, daß es Sinnvolles zu tun gab. Die Windrose war die einzige Möglichkeit, dieser Situation zu entkommen. Also mußte das Gerät wieder ans sichere Ufer dieses Giftsees gebracht werden. Hustend und fluchend stapfte Honir auf einem anderen Weg auf das breite Rad zu, brach abermals ein und hielt sich schließlich am äußeren Ring der Windrose fest. »Der Aufrichtemechanismus …« Der Erbauer dieses Gefährtes hatte solche Fälle vorhergesehen und eine kleine, aber wirksame Anlage eingebaut. Ein Hebel klappte in eine andere Stellung, und im Inneren des äußeren Reifens begannen versteckte Aggregate zu summen. Ruckweise richtete sich der Doppelring auf und versank noch etwas tiefer. Honir sprang zurück, ehe das Metall ihm die Zehen zerquetschen konnte. Bis zu einem Drittel war die Windrose eingesunken. Honir, aus dessen Handschuhstulpe die Reste der sich auflösenden Maske flossen und in den Chemikaliensee tropften, streckte den Arm aus und bewegte den Hebel für die Rückwärtsbewegung nach unten. Mit mahlendem Geräusch drehte sich das Band und schob in handbreitengroßen Rucken das Fahrzeug rückwärts durch splitternde Kristalle und durch die vielfarbig schillernde Brühe auf den Sand zu. Schließlich, nachdem Honir neben der Windrose durch den unbeschreiblichen Gestank, die klirrenden Kristallschollen und die faulige Brühe gestapft war, blieb die Windrose auf dem schmalen Stück des fast waagrechten Sandstreifens stehen und drehte sich um die senkrechte Achse. Von allen Teilen lief das üble Zeug tropfend herunter. Der Scheinwerfer leuchtete jetzt genau die breite, tief eingedrückte Spur im Dünenhang an.
27 »Ich könnte vor Wut heulen!« sagte Honir. Das Kribbeln und Jucken hatte aufgehört, aber bei jeder Bewegung klapperten die Teile der Rüstung. Zusammen mit der Nässe, dem Gestank und der Ausweglosigkeit der Lage drohte die Situation ihn hilflos zu machen. Er blieb vor dem Scheinwerfer stehen und sah sich an. Ein Bild des Jammers und der Auflösung. Die vermischten Chemikalien hatten nur die Maske, nicht aber die zahlreichen Verbindungsteile der Rüstung angefressen. Die harten Panzer und Metallteile klapperten gegeneinander und schimmerten ölig. Sie wirkten wie eine alte, abplatzende Haut, als ob der Panzer für einen viel größeren Mann angefertigt worden wäre. Ohne Halt und in den Bewegungen sehr hinderlich, entwickelte die Rüstung ein Eigenleben. Honirs Stimmung schwang zwischen Wut und Verzweiflung. So konnte sie Heimdall, Balduur und Sigurd nicht unter die Augen treten. Aber es war ebenso sinnlos, hier stehenzubleiben. Honir hob die Schultern und warf sich die VarsKugel an der Kette über die Schulter. Der Aufprall erzeugte ein hohles und blechernes Geräusch. Als Honir sich in den Sitz der summenden Windrose setzen wollte, ertönte über ihm ein mehrstimmiges Lachen. Eine männliche Stimme sagte: »Ein seltsamer Vogel hat sich in unserem Abfallsee verirrt. Sein farbenprächtiges Gefieder ist ganz zerrupft und naß.« Die Sprache war reinstes Pthora, aber die Stimme klang rauh und hart. Technos! Honir hob den Kopf und sah auf dem Kamm der Düne mindestens fünf Technos stehen, die mit ausgestrecktem Arm auf ihn zeigten und ein donnerndes Gelächter anstimmten. Ihre Körper begannen bereits transparent zu werden; undeutlich zeichneten sich die gerippeartigen Linien und Winkel ab. Es waren fast zwei Meter große Gestalten, jeder wirkte wie ein Zwillingsbruder des anderen. »Ich bin Honir und vertrage keinen solchen Spaß!« schrie der Göttersohn in heillosem Zorn. Er sprang zur Seite, schwang die
28 VarsKugel und stürmte den Dünenhang aufwärts. Die Technos von Zbahn lachten noch immer, das Gelächter verstärkte sich, als Honir mit rasselnder Rüstung im tiefen Sand ausrutschte und Schwierigkeiten hatte, die abschüssige Fläche zu erklettern. »Ihr habt mich nicht umsonst verspottet!« donnerte die dunkle Stimme aus dem Helm. Sie klang, als käme sie aus einer Höhle. Die Kugel pfiff heulend durch die Luft. Ein oder zwei Technos hörten zu lachen auf. »Hörst du, Sandmeister, wie die Zähne klappern? Oder ist es die Rüstung?« schrie einer von ihnen. »Ich lehre euch Respekt und Ehrfurcht!« Honir rannte im Licht des Scheinwerfers zur Seite, erreichte den Dünenkamm und drang auf den ersten Techno ein. Seine sinnlose Wut, verstärkt durch die halbe Hilflosigkeit, hatten eine Möglichkeit gefunden, sich zu entladen. Der Techno erkannte, daß der Spaß zu Ende war, und versuchte zu flüchten. Aber er hatte die Schnelligkeit des Göttersohns erheblich unterschätzt. Noch ehe der Techno den Waggu aus dem breiten Gürtel reißen konnte, traf ihn die Kugel an der Brust. Es gab einen hohlen und dumpfen Knall, als der Schlag das Leder traf und ihn in die Richtung des Kristallstreifens schleuderte. In einer langgezogenen Sandwolke überschlug er sich mehrmals, rollte weiter und schrie laut, als er zwischen den auseinanderbrechenden Kristallornamenten landete. Vier andere Technos sprangen in verschiedene Richtungen auseinander und flohen. Honir setzte dem ersten von ihnen nach. Ihm war es gleichgültig, ob eines dieser Geschöpfe aus der FESTUNG getötet wurde oder nicht. Sie hatten es gewagt, einen Göttersohn zu verspotten. Aus der Höhe des Dünenkamms sprang Honir schräg nach unten und traf mit beiden Stiefeln die Schulter des ersten Technos. Zusammen brachen sie in den rutschenden Sand und überschlugen sich. Die Kugel wurde in einer Spirale durch die Luft geschleudert. Honir ließ sie liegen, als er sich wieder
Hans Kneifel auf den Füßen befand. Dann ging er mit den Fäusten auf den Techno los. Ein wilder Hagel von Schlägen traf die nicht vom Lederpanzer geschützten Teile des seltsamen Körpers. Der Techno versuchte zu rennen und zur Seite zu springen, aber Honir verprügelte ihn ohne jedes Erbarmen. Mit jedem Schlag und jedem Treffer ließ die Wut etwas nach; es war ein Erlebnis der Erleichterung. Lange aufgestauter Zorn entlud sich jetzt und hier. Gurgelnd und wimmernd brach der hochgewachsene Bewohner Zbahns zusammen. Honir bückte sich, nahm den Griff der Waffe in beide Hände und begann, den nächsten Techno zu verfolgen.
6. Balduur senkte den Schild und schrie wütend: »Los! Wehre dich! Greife an! Ich werde dich ebenso töten wie deinen leuchtenden Pfadfinder!« Das Ungeheuer, dessen Kopf noch immer durch den Sand schleifte, brummte in höchster Verzweiflung auf. Es schien Balduur zu fürchten oder ihn irgendwie als Herren, als Sieger oder als Dompteur zu erkennen. »Schnell! Ich habe nicht viel Zeit. Mein Blut kocht – ihr habt mein Reittier gefressen!« schrie er abermals, obwohl er sicher war, daß bestenfalls der Klang seiner lauten Stimme das Tier einschüchterte. Er hämmerte ein zweitesmal das Schwert auf den mächtigen Hornbuckel hinter den runden, anliegenden Ohren. Es gab ein Geräusch, als habe er eine hohle Tonne getroffen. »Oder …«, sagte er verdutzt, als das Tier auch das zweite Beinpaar seitlich ausstreckte und den mächtigen Körper noch mehr nach unten absenkte. »Oder willst du etwa mein Reittier sein?« Er konnte es ausprobieren. Das Risiko konnte nicht mehr viel größer werden. Er rannte, sich außerhalb der Reichweite der Krallen haltend, auf den Schwanz
Aufbruch der Odinssöhne des Tieres zu und turnte schnell – das Schwert allerdings befand sich nach wie vor schlagbereit in seiner Faust – den Rücken aufwärts. Die knöchernen, mit Haut und Horn überzogenen Platten waren wie eine Treppe. Dicht hinter dem Kopf, zwischen dem ersten Schultergelenk und den Ohren, die wie verrückt zuckten und zitterten, blieb er stehen. »Auf!« dröhnte er. Er schmetterte seinen Schild in den Spalt zwischen zwei Platten. Das Tier schien zu verstehen, was er wollte. Vermutlich besaß es tatsächlich etwas Intelligenz. Oder es war bereits einmal auf ähnliche Weise benutzt worden. Es erhob sich langsam zu seiner vollen Höhe und trompetete aufgeregt. Mit jedem der heulenden Geräusche wallte eine neue Wolke von Gestank und rauchfarbenen Gasen hoch. Betäubt schüttelte Balduur den Kopf, als sich der Koloß in Bewegung setzte. Die Wolke aus tierischem Gestank wurde dünner. Die sechs Beine bewegten sich in einem komplizierten Rhythmus. Balduur zählte eine Weile lang die schweren, rumpelnden Takte, aber er kam immer nur auf fünf. Schließlich gab er es auf. Der Kampf und die Anspannung der letzten Minuten hatten ihn die Umgebung und die zusätzlichen Gefahren vergessen lassen. Nun hörte er wieder im Norden die Schreie und den Lärm der Ungeheuer. Auf der Gnitaheide schienen sich die Horden der Nacht noch immer auszutoben. Hin und wieder sah er, wenn er sich umdrehte, ein kurzes Aufblitzen, wie von einem riesigen Auge, das sich öffnete und schloß. »Nach Donkmoon!« sagte er einigermaßen zufrieden und schlug mit dem Schwert rechts und links vom Hornkamm auf die weichere Haut der Flanken. Sein seltsames Reittier schmetterte einen gewaltigen Trompetenstoß in die Nacht hinaus. Donkmoon! Dort würde er Heimdall treffen in seinem festungsartigen Wohnwürfel. Oder aber war der Bruder schon auf dem Weg zu Sigurd, der am weitesten im Osten
29 wohnte? Vermutlich war es so. Dann würden sie alle einzeln ankommen. Auch gut. Der schwarze Tierriese, der immer schneller dahintrabte, war darüber hinaus ein hervorragender Schutz gegen andere Bestien dieser Zone. Es gab sicherlich nicht viele, die größer und furchtbarer waren. Außerdem schien er nicht mehr hungrig zu sein, was die Gefahren für Balduur weiter heruntersetzte. Balduur entspannte sich ein wenig und dirigierte mit einigen Schwerthieben den Riesen in eine andere Richtung. Durch flaches Land trabten sie jetzt nach Osten.
* Der Himmel war dunkel, eine scharfe Mondsichel schob sich hinter dem fernen Taamberg-Massiv hoch. Zahllose Sterne einer fremden Welt, eines unbekannten Himmels standen in der Schwärze. Mondlicht und Sternenlicht schufen schwache Helligkeitszonen auf den flachen Teilen des Geländes, aber dort, wo es Schatten gab, war nichts zu unterscheiden. Kaum war die schräge Staubfahne zu erkennen, die vom Schwanz und den sechs tappenden Gliedmaßen hochgewirbelt wurde. Balduur setzte sich abermals bequemer hin. Sein Sitz war ruhig; das Tier schaukelte leicht hin und her. Die Schultern hoben und senkten sich in sanften Wellen. Es gab kaum harte Stöße. So vergingen zwei oder zweieinhalb Stunden, in denen sie dahinglitten. Ihr Weg führte durch anscheinend völlig unbewohntes Land. Es gab keine Feuer und keinen Lichtschein am Horizont. Nur Sterne, Mond und Dunkelheit. Die Geräusche aus der Ebene Kalmlech wurden leiser und unwichtiger, aber noch waren diese Gefahren nicht ganz umgangen worden. Ab und zu ertönten wütende Schreie und klatschende Zusammenstöße, die man nicht beobachten konnte. Ein Zeichen, daß es noch immer Horden der Nacht in dieser Zone gab.
30
Hans Kneifel
* »Ich werde dich ›Gruck‹ nennen, du Untier!« schrie Balduur und hieb mit dem Schwert zwischen die Ohren, um sein Reittier anzuspornen. So oder ähnlich klang das Geräusch, mit dem sich ein neuer, tiefer Atemzug ankündigte, der jedesmal fauchend und zischend dieses Gas auswarf, an dessen Geruch sich Balduur bereits wohl oder übel hatte gewöhnen müssen. Gruck trompetete herausfordernd und wich einigen schwarzen Felsbrocken aus, die übergangslos aus dem trockenen Untergrund hervorbrachen. Die Geräusche des schweren Tieres mußten in der Stille der Nacht weithin zu hören sein, dachte Balduur. Und tatsächlich schien Gruck etwas zu wittern oder zu spüren, wenn auch sein Symbiont nicht mehr vor ihm her flog und Signale gab. Zuerst war es nur ein großes Paar gelbgrüner Augen, das von rechts zwischen den Felsen und den dornigen Büschen hervorstarrte und zwinkerte. Der Schrei des Kolosses klang jetzt nicht nur herausfordernd, sondern etwas ängstlich und vor allem wütend. Plötzlich waren jene kaum sichtbaren Angreifer überall rund um Gruck und seinen erschrockenen Reiter. Mindestens drei Dutzend Raubtiere, dem Abstand der Augen nach zu urteilen so groß wie ein Wolf. Nicht so groß wie der Fenriswolf, dachte Balduur und packte den Schwertgriff fester. Sie bildeten, mit dem Giganten mitlaufend, einen lautlosen Kreis um Balduur und Gruck. Wieder trieb der Göttersohn sein Reittier nach links. Dort war ein offenes Stück Sand und Geröll zu erkennen, durchsetzt von halbkugeligen kleinen Gewächsen. Ein besserer Platz für einen Kampf, der unausweichlich schien. Aber Gruck bewies in diesem Augenblick, daß er mehr war als ein hirnloses Monstrum. Er änderte seine Laufrichtung abrupt und trat dabei auf drei oder
vier der heranspringenden, knurrenden Bestien. Sie stießen quiekende Todesschreie aus, als sich die tonnenschweren Gewichte auf sie preßten und sie in formlose Kadaver verwandelten. Gruck wurde nicht langsamer und rannte geradeaus weiter. Sein Schwanz verwandelte sich in ein Mordinstrument und wischte in langen, peitschenschnurartigen Windungen dicht über dem Boden hin und her. Die kleinen Tiere, die in den Bereich der Knochen, der Hornplatten und der Muskelstränge unter der schwarzen Haut gerieten, landeten mit zerbrochenen Knochen nach einem Flug, sich überschlagend und Todesschreie ausstoßend, irgendwo in der Wüste. Die ersten Angreifer sprangen an den Flanken Grucks hoch. Balduur preßte seine Schenkel zusammen, um seinen Halt nicht zu verlieren. Das Schwert beschrieb Halbkreise, die Schwertspitze stach zu, und immer wieder knirschten die Reißzähne der wolfsähnlichen Tiere in den Kanten des Schildes. Balduur kämpfte ebenso leise wie die Raubtiere. Nur ab und zu knurrte einer der Angreifer geifernd auf, wenn er sich mit einem gewaltigen, fast senkrechten Sprung an der Flanke des riesigen Tieres hinaufschnellte und den Reiter angriff. Dann zischte Balduurs Schwert waagrecht durch die Luft und traf die Vorderläufe, den Hals oder den Schädel eines der Wölfe. Die Artgenossen kümmerten sich nicht um die sterbenden oder toten Tiere. Je länger der schnelle Kampf dauerte, desto wütender wurden sie. Hin und wieder hob Gruck einen der beiden Vorderfüße, packte ein Tier und schmetterte es mit einem einzigen Schlag in den Boden. Noch immer war Gruck nicht entscheidend langsamer geworden, und selbständig hatte er die Laufrichtung wieder nach Osten geändert. Unentwegt versuchten die Raubtiere ihn anzugreifen. Aber unter den unaufhörlichen Schwerthieben und der tatkräftigen Hilfe des Giganten starben mehr und mehr dieser nächtlichen Jäger. Hinter dem
Aufbruch der Odinssöhne Ungeheuer, entlang der tief eingedrückten Doppelspur, lagen die blutenden und verstümmelten Kadaver der Raubwölfe. Balduur beugte sich tief aus seinem improvisierten Sitz und stach mit dem Schwert wie mit einer Lanze tief in den aufgerissenen Rachen eines hochspringenden Wolfes. Das Schwert drang tief ein. Im Todeskampf schlossen sich klirrend die Zähne und Kiefer des Tieres um das Metall. Balduur schüttelte das Schwert und schwang es dann; der Körper rutschte schwer von der Schneide. Zwei der Tiere sprangen zurück, als der Kadaver dicht vor ihnen in den Sand schlug. Sie rissen die Köpfe hoch und stießen ein langgezogenes, schauerliches Heulen aus. »Wir haben gesiegt, Gruck!« schrie Balduur. Wieder war ein trompetender Schrei, der in ein Gurgeln und eine neuerliche heiße Wolke von Gestank ausklang, die Antwort. Mit zitternder Hand schob Balduur das blutige Schwert zurück in die Scheide. Dann lockerte er die Muskeln der verkrampften Schenkel und lehnte sich erschöpft gegen den hochragenden Knochenkamm. »Weiter nach Donkmoon, zum Lettro Heimdalls. Er wird mich bewirten und dir einige Schafe oder Ziegen vorwerfen, die er den Gordys gestohlen hat!« versprach Balduur, dessen Laune sich ein wenig gebessert hatte. Allerdings begann er jetzt Hunger und Durst zu spüren. Und … er wurde müde. Das schnelle Rennen in östlicher Richtung ging weiter.
* Der dritte Techno schrie gellend auf, als ihn die schwere Kugel der Waffe zwischen die Schultern traf und in den Sand warf. Sofort war Honir über ihm, riß ihn auf die Beine und schmetterte die Faust in sein Gesicht. »Ich werde dir zeigen, was es heißt, einen Göttersohn zu beleidigen!« donnerte Honir. Die Rüstung klapperte und schepperte bei jeder hastigen Bewegung.
31 »Ich wußte nicht«, gurgelte der Techno, den die Schläge rückwärts den Dünengrat entlangtaumeln ließen, »daß du Honir bist, Herr!« »Außer mir fährt niemand mit der Windrose!« knirschte Honir und schlug abermals zu. Die beiden letzten Technos rannten um ihr Leben in die Nacht hinaus, in die Richtung der glänzenden Würfelbauten. »Ich habe die Windrose …«, begann er, dann schleuderte ihn ein letzter, wütender Hieb den Hang hinunter. Er hinkte in großer Eile davon und verschwand in der Dunkelheit. Honirs Zorn war fast völlig verraucht. Die Unsicherheit und die Scham über das Verschwinden der männlichen Maske aber waren geblieben. Er hob die Vars-Kugel auf, warf sie über die Schulter der dröhnenden und schlenkernden Rüstung und stapfte hangabwärts zurück zur Windrose. »Und was jetzt?« fragte Honir sich laut. Er setzte sich in den mittleren der drei Sitze und zog den Hebel. Der äußere Reifen begann sich zu drehen und zog die Windrose neben der alten Spur die Düne hinauf. Auf dem Kamm drehte Honir das Gefährt und orientierte sich. Heimdall? Ein zuverlässiger, düsterer Mann. Aber immer hatte Honir von ihm Entgegenkommen und ein bestimmtes Maß von Verständnis erfahren. »Gut. Ich fahre zu Heimdall.« Die Windrose drehte sich schneller. Der warme Wind der nächtlichen Wüste wurde kühler und fuhr zwischen die Spalten und in die Öffnungen der Rüstung. Honir empfand den Luftzug als Erleichterung, obwohl das stechende Jucken aufgehört hatte. Aber noch stanken alle Teile der Ausrüstung einschließlich der Polster des Fahrzeugs nach den Chemikalien des Techno-Sees. Mit Sicherheit würden die Technos die Vorkommnisse an die Herren der FESTUNG weitergeben, aber dieser Umstand vermochte Honir nicht zu stören.
32
Hans Kneifel
* Der Nachthimmel verlor seine Farbe. Während sich am östlichen Horizont ein schmaler Streifen aus hellem Grau abzuzeichnen begann, verschwanden die ersten Sterne. Honir brauchte nicht viel Zeit, um sich zu orientieren. Er befand sich unmittelbar vor dem Lettro Heimdalls; in kurzer Zeit mußte er auf die Straße der Mächtigen stoßen, an deren östlicher Seite das rechteckige Kastell aus dem kargen Boden aufragte. Ruhig rollte die Windrose dahin. Honir fuhr nicht mehr so schnell wie unmittelbar vor dem Unfall. Die innere Unruhe war stärker geworden. Was würde Heimdall sagen, wenn die Maske Honirs nicht mehr existierte? Welche Erklärung würde weiterhin diese Lüge aufrecht erhalten können? Brennende Scham überflutete Honir abermals. Vor dem ovalen Lichtschein der starken Lampe tauchte zwischen leichten Erhöhungen das matt schimmernde Band der Straße auf. Die Richtung der Windrose wurde geändert, und kurze Zeit später rollte das Gefährt über den breiten Streifen hinweg, wurde schneller und fuhr in einer Staubwolke auf der östlichen Seite nach Nordwesten. Das Lettro mußte jeden Moment aus der Morgendämmerung auftauchen. Mit schwarzen Gedanken der Hoffnungslosigkeit beschäftigt, steuerte Honir, mechanisch und ohne die Landschaft eines Blickes zu würdigen, die Windrose geradeaus. Wie konnte Honir in diesem Aussehen den drei Brüdern unter die Augen treten? Und … wenn einer davon wußte, dann wußten es binnen kurzer Zeit alle anderen. Je näher die Windrose sich dem ersten Ziel näherte, desto mehr sanken Mut und Entschlossenheit. Honir hielt an, als sich am Horizont die kantigen roten Mauern undeutlich abzeichneten. Die entsetzlich eintönige Landschaft rundum lag da wie tot. Nichts regte sich. Selbst der Wind war eingeschlafen. Honir kämpfte einen lautlosen Kampf ge-
gen sich selbst. Dann schoß das Bewußtsein, ein Göttersohn zu sein, durch seine Überlegungen. Er gab sich einen Ruck und schüttelte den Kopf, als könne er dadurch die Verzweiflung der letzten Tage und besonders der letzten Stunden abschütteln. Die Windrose setzte sich zuerst langsam, dann schneller in Bewegung und steuerte das kantige Wohngebäude an. Was würde Heimdall sagen? Honir hörte schon jetzt das dunkle, dröhnende Gelächter des Bruders. Es würde gutmütig sein, aber nichtsdestoweniger sarkastisch, verletzend und bloßstellend. Das Lettro wurde schärfer und deutlicher und größer. Die Farbe des Himmels hatte sich geändert. Nur im Westen war es noch dunkel. Im Osten zeigte sich ein breiter Streifen einer goldenen und rosafarbenen Morgendämmerung. Noch gab es keine Sonnenstrahlen, und sämtliche Gegenstände und Geländemerkmale schienen in einem leichten Dunst zu liegen. Unverändert hielt Honir mit der Windrose auf die Mauern zu und zog schließlich eine leichte Kurve. Die Windrose hielt vor einem wuchtigen Tor. Honir kletterte hinaus und erkannte im zunehmenden Licht, daß die Umrandung des Tores aus wuchtigen Steinquadern und massivem Mauerwerk ausgebessert worden war. Auch die massiven Bohlen des doppelten Torflügels waren teilweise ersetzt. Metallnägel und breite Bänder schienen vor kurzem erneuert worden zu sein. Hatte jemand versucht, Heimdalls Wohnung zu stürmen? Honir ging bis dicht vor das Tor und hämmerte mit dem Griff der VarsKugel gegen die Balkenkonstruktion. Im offenen Hof dahinter gab es laute Echos. Niemand kam, und niemand antwortete. Honir wartete einige Minuten, dann trat er einige Schritte zurück, schwang die Waffe über dem Kopf und ließ die schwere Kugel mindestens zwei dutzendmal gegen das Tor donnern. Das Geräusch war fünfmal so laut wie vorher. In das Dröhnen der letzten Schläge misch-
Aufbruch der Odinssöhne te sich eine helle, schrille Stimme. Sie schrie in unangenehmem Tonfall: »Wer stört die Ruhe und Besinnlichkeit des skullmanenten Magiers?« Honir glaubte, sich verhört zu haben. Laut gab er zurück: »Hier ist Honir, der Sohn Odins. Ich will meinen Bruder Heimdall sprechen. Ich brauche Essen, Rast und Ruhe. Und seinen Rat.« »Honir ist draußen? Nun – Heimdall ist davon. Er gehorchte dem Ruf der Raben Odins, die Sigurd ausgeschickt hat. Und das Lettro ist versiegelt gegen die Angriffe der verfluchten Gordys.« Die dicken Bohlen dämpften die Lautstärke. Trotzdem waren die Stimmen jeweils auf der anderen Seite recht gut zu verstehen. »Auch ich wurde von den Raben gerufen. Ich will mit Heimdall zusammen weiterfahren. Wer bist du? Der Diener? Dann öffne das Tor!« »Ich bin Kröbel, der einzige Freund und der Berater in allen Fragen qualifizierter Magie«, schrillte es auf der anderen Seite. »Ich sehe dich nicht. Wer sagt mir, daß du in der Tat der Sohn Odins bist?« »Öffne die kleine Pforte und sieh hindurch. Und spanne meine Geduld auf keine zu harte Folter!« donnerte Honir zurück. »Heimdall hat mir verboten, sein Heim zu verlassen.« »Ich werde euch nicht berauben. Sieh mich an. Ein einziger Blick, und du wirst erkennen, daß ich ebenso ein Sohn Odins bin wie dein Herr.« »Wie mein Freund«, berichtigte Kröbel mißmutig. Dann zog er einen winzigen Pfropfen aus dem massiven Tor; eine Art Schraube aus metallverstärktem Holz. Ein Auge starrte Honir lange und zwinkernd an. Dann rief wieder die hysterisch klingende Stimme: »Ich werde Ärger bekommen. Aber bevor du den Besitz Heimdalls an dich bringen kannst, werden auch dich skullmanente Verwünschungen, magische Sprüche und vielerlei tödliche Krankheiten niederwerfen.« »Dieses Risiko gehe ich ein. Und alles für
33 ein Bad, für Essen und Trinken und zwei Stunden Aufenthalt. Öffne, Knecht!« In der Seite des massiven Portals öffnete sich knarrend und widerstrebend eine schmale und niedrige Tür. Auch sie bestand aus Bohlen und wuchtigen Metallbändern. Auf der anderen Seite stand ein kleiner, bärtiger Mann, der gleichermaßen verwahrlost und boshaft wirkte. Aber nach einem langen Blick auf die Rüstung und die Waffen Honirs sagte er mit Entschlossenheit: »Ich kenne dich nicht, Honir. Aber ich erkenne einen Sohn Odins, wenn er vor mir steht.« Außerdem mußte er die Windrose erkennen, die schräg hinter Honir direkt vor dem Portal stand. »Du hast Glück. Ich hätte sonst die Torangeln zerschmettert.« »Sie sind von Heimdall gegen die bösen und verbrecherischen Gordys versiegelt worden. Tritt näher, Sohn Odins.« Honir zwängte sich mit Mühe durch die kleine Öffnung. Die Gefahr der Entdeckung war verschoben. Der Bruder Heimdall hatte den Truvmer benutzt und war längst unterwegs zu Sigurd. Honir gedachte, diesen kurzen Aufenthalt so gut wie möglich zu nützen und dann weiterzufahren. Kröbel, wie sich dieser merkwürdig aussehende Mann nannte, würde ihm dabei helfen. Das Problem, den Brüdern zu begegnen und mit ihnen zusammen Ragnarök zu erwarten, blieb trotzdem ungelöst.
7. »Doch er erwachte, der Ruhe beraubt, er fühlte die Arme in engenden Banden und seine Füße von Fesseln umspannt.« Heimdall befand sich seit mehreren Stunden in einem anderen Gefängnis. Er kannte die Taktik: Wenn man einem Mann den
34 Schlaf nahm und ihn immer wieder unterbrach, dann steigerte sich die Müdigkeit in eine Art Ohnmacht. In diesem Stadium wurde jeder wehrlos und ein Opfer derer, die ihn gefangengenommen hatten. Noch immer befand er sich in Donkmoon. Es war tiefste Nacht. Aber auf den Plätzen und Straßen und in vielen Kuppelbauten brannten vielfarbige Lichter. Eine Scheinwerferbatterie beleuchtete den kleinen Truvmer, der noch immer auf dem freien Platz der Werkstatt stand und mit seinem Vorderteil dorthin deutete, wo Heimdall jetzt viel lieber sein würde: am Ausgang der Gordystadt Donkmoon. Sie warten darauf, daß ich einschlafe. Dann werden sie versuchen, mir das Geheimnis des versiegelten Lettros zu entreißen! dachte Heimdall und ging mit schleppenden Schritten die Grenze seines Gefängnisses entlang. Es war ein Gefängnis, das er mit Verblüffung und lautlosem Grimm betrachtete. Zuerst hatten sie ihn hierher eskortiert. Hierher: das war eine riesige Wohnkuppel mit vielen Öffnungen, Fenstern und Türen, die in den Innenraum zeigten. Dieser Teil der Anlage war wie ein Hohlzylinder geformt. Als sie ihn gezwungen hatten, hier hereinzugehen, stand auf dem Boden der orangefarbenen Kuppel eine Art Käfig aus fingerdicken Metallgittern. Sie hatten ihn in diesen würfelförmigen Käfig hineingestoßen und die Tür mit einem einfachen Schloß gesichert. Dann, kaum daß er sich im Innern dieser Konstruktion befand, hatte sich ein Motor winselnd in Bewegung gesetzt. Klirrende und rasselnde Ketten zogen den Käfig, dessen Kantenlänge nicht mehr als drei Meter betrug, in die Höhe. Jetzt schwebte Heimdall unerreichbar für jeden und ohne die geringste Chance, ausbrechen zu können, in etwa zwanzig Meter Höhe. Ein Fluchtversuch war sinnlos; er würde sich zu Tode stürzen. Vater Odin! dachte er halb verzweifelt und halb zynisch. Deine Söhne kommen immer wieder in merkwürdige Lagen!
Hans Kneifel Er setzte sich im Mittelpunkt des Käfigs nieder und begann zu überlegen. Natürlich hatte er Seile und einen Gürtel bei sich. Natürlich würde er mit wenigen Hieben seiner Waffe die Zuhaltungen des reichlich primitiven Schlosses sprengen können. Aber ebenso sicher war, daß die Gordys seinen Fluchtversuch sehr schnell registrieren würden. Sie waren versessen darauf, ihn zu berauben, wenn er schlief. Warum sollte er ihnen diesen Gefallen nicht tun? Er grinste schweigend unter dem Schutz seines Helmes. Wieder richtete sich sein Blick durch einige große Scheiben auf den Truvmer. Nach seiner Schätzung war es Mitternacht oder darüber. Zweifellos schliefen viele der Gordys dieser Stadt. Aber ebenso sicher war es, daß ihn Hunderte wacher Augen anstarrten und jede seiner Bewegungen belauerten. Konnte er von seinen Brüdern Hilfe erwarten? Nein! Denn keiner von ihnen wußte, wo er sich jetzt befand. Also mußte er alles tun, um sich selbst zu befreien. Er dachte nach, grinste abermals und setzte sich auf den Boden des schwankenden Gefängnisses. Dann streckte er sich aus und behielt die Hand am Griff der nicht aktivierten Khylda. Kurze Zeit später konnte er sicher sein, daß er den Eindruck eines Mannes hervorrief, der vor Müdigkeit und Erschöpfung eingeschlafen war. Die leichten, schaukelnden Bewegungen des Käfigs hörten auf. Eine Zeitspanne ungewisser Dauer verging … Heimdall schlief zweimal ein und erwachte kurz darauf. In Wirklichkeit hatte er insgesamt drei Stunden tief geschlafen. Als er das drittemal aufwachte, merkte er, daß man den Käfig aus der Höhe dieses »Innenhofs« herunterließ. Er stellte sich schlafend und rührte sich nicht. Er spürte, wie der Boden des Gefängniskäfigs im Zentrum der Kuppel sehr sanft aufsetzte und blieb regungslos liegen. Aber er war bereit, augenblicklich zu reagieren.
Aufbruch der Odinssöhne Keiner der Gordys war nahe genug herangekommen, also besaß Heimdall seine gesamte Ausrüstung noch. Er war fest entschlossen, ihnen eine böse Überraschung zu bereiten. Er wollte schleunigst hier hinaus. Natürlich unterschätzte er ihre Waffen nicht einen Augenblick lang. Sie wollten ihn überwältigen und durchsuchen. Er blieb liegen und stellte sich schlafend. Unter den Blenden des Helms hervor sah er, wie sich eine Gruppe Gordys am Käfigeingang zu schaffen machte. Einige von ihnen trugen kleine Strahlwaffen. Während er die ganze Zeit über ein lebhaftes Treiben auf den Straßen und der Innenfläche der Kuppel beobachtet hatte, schien jetzt der größte Teil der Bevölkerung Donkmoons zu schlafen. Dies kommt meinen Plänen entgegen, dachte er und spannte seine Muskeln. Schließlich war der Ruf Sigurds nur der Anfang. Wenn es wirklich die Götterdämmerung sein sollte, dann ging damit die Herrschaft der FESTUNGS-Herren ihrem Ende entgegen. Heimdall fühlte, wie sein Zorn auf die Gordys und ihre Wissenschaftler hochkochte. Jetzt öffneten sie die Käfigtür. Heimdall handelte mit derjenigen kämpferischen Schnelligkeit, der er schon mehrmals sein Leben verdankt hatte. Er sprang auf, schaltete die Khylda ein und stieß einen donnernden Schrei aus. Mit einem langen Sprung war er an der gitterartigen Öffnung, rammte sie mit der Schulter und schleuderte dadurch drei Gordys weit zur Seite. Ein Schrei der Überraschung und des Entsetzens hallte durch den Innenraum der Kuppel. Heimdall schwang seine schwere, zweischneidige Waffe, deren Enden in hohen Schwingungen vibrierten. Er wußte nicht mehr genau, an welcher Stelle sich der Truvmer befand, aber er sah den Eingang zu diesem Wohngebäude deutlich vor sich. Wie ein Rasender stürmte er auf den gerundeten Ausschnitt zu, und seine Waffe traf die wenigen Gordys, die es wagten, sich ihm entgegenzustellen.
35 Er wollte niemand töten, also führte er seine Schläge zwar mit dramatischen Bewegungen, aber er begnügte sich, die schlanken Gestalten umzuwerfen, niederzuschlagen oder zur Seite zu rammen. Dreißig lange Schritte im Zickzack brachten Heimdall bis zum Ausgang. Hinter ihm schrien sich die Gordys verwirrte Kommandos zu. Heimdall wurde langsamer und drehte sich suchend herum. Etwa fünfhundert Meter weit entfernt stand der Truvmer noch immer in der Nähe der Werkstatt. »Schnell! Dorthin!« stieß er hervor und begann zu rennen. Noch hatte keiner seiner Verfolger auf ihn gefeuert. Das schien zu heißen, daß jene unbekannten Strahlwaffen tödliche Energie auswarfen. Heimdall änderte seinen Kurs und schlug wieder eine andere Richtung ein. Er mußte schnell sein, es dauerte einige Zeit, den Truvmer zu aktivieren. Unter den riesigen Bäumen hingen große Kugeln in der Luft. Sie verbreiteten einen milchigen Schein, der sich im Plastikmaterial der Straßen und Plätze spiegelte wie in einer Pfütze. Auf einigen naheliegenden Kuppelbauten flammten jetzt blinkende Lichter in blau, rot und gelb auf. Ein hochfrequentes Sirren breitete sich aus und schmerzte in Heimdalls Ohren. Alarm! Alles würden die Herren der FESTUNG bald erfahren haben. Der Odinssohn hetzte zwischen den Bäumen entlang, stieß einige angreifende Gordys zur Seite und schlug einen Haken, als dicht vor ihm ein Energiestrahl in den Boden zuckte und eine rauchende Flammenspur zog. Er kam dem Truvmer immer näher. Dort stand er, in grelles Licht getaucht! Heimdall wurde langsamer und duckte sich hinter einem flachen Rampenbauwerk, als etwa zwanzig Männer auf den Truvmer zurannten, sich umdrehten und zwischen dem Göttersohn und seinem Fahrzeug eine breite Wand aus Detonationen, Flammen und Rauch erzeugten. »Ich komme hier nicht durch!« rief er wütend und suchte einen anderen Weg. Sofort
36 rannte er los und umrundete mit riesigen Schritten den nächstliegenden kleineren Kuppelbau. Es war also doch ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Zumindest hatte er sich falsch verhalten, als er die Reparatur bezahlen wollte. Diejenigen Gordys, die sich jetzt auf den Straßen befanden und ihre Häuser verließen, waren nicht zufällig hier. Sie machten Jagd auf ihn und wollten verhindern, daß er aus Donkmoon flüchtete. Sie waren entschlossen und schnell. Immer wieder tauchten andere auf und feuerten gezielt auf ihn. Nicht um ihn zu treffen, sondern um ihn in eine bestimmte Richtung zu treiben. Aber – sie schienen nur unzureichend mit den tödlichen Waffen ausgerüstet zu sein. Er kam hinter der Kuppel in einen kleinen Park, lehnte sich an einen Baumstamm und starrte hinüber zum Truvmer. Zwei schwere Prallwagen zogen und schoben den Truvmer von seinem Platz weg. Die Scheinwerfer waren abgeschaltet worden. Das Gespann schien sich auf eine große, wuchtige aussehende Kuppel zuzubewegen. Heimdall fluchte laut, aber er mußte erkennen, daß die Übermacht zu groß war. Es würde sinnlos sein, weiterhin zu versuchen, den Truvmer zu erobern. »Aber noch bin ich nicht geschlagen!« stieß er hervor. Wider besseres Wissen rannte er aus der Dunkelheit zwischen den Gewächsen heraus und in höchster Schnelligkeit auf den Truvmer zu. Die Wachen rund um das Fahrzeug eröffneten, sobald sie ihn sahen, das Feuer und schufen abermals eine flammende Barriere vor dem Truvmer. Die beiden Schlepper wurden schneller und zogen das Fahrzeug durch den vorspringenden Eingang der orangefarbenen Kuppel, auf deren Spitze Scheinwerfer wie wild rotierten. Augenblicklich änderte Heimdall wieder die Richtung seiner Flucht. Als er quer über einen kleinen Platz hastete, sah er, über die Schulter zurückblickend, wie sich wuchtige Portale hinter den Fahrzeugen schlossen. Aus! Ohne daß er mit den
Hans Kneifel Gordys zu einer Vereinbarung in ihrem Sinn gekommen war, würde er die Stadt nicht verlassen, wenigstens nicht mit seinem kleinen Truvmer. Sinnloser Haß drohte ihn zu ersticken, aber er mußte einen kalten Verstand behalten. »Ins Zentrum?« fragte er sich laut. »Nein!« gab er sich die Antwort und setzte sich wieder in Bewegung. Er mußte versuchen, den westlichen Randbezirk zu erreichen und sich dort zu verstecken. Vielleicht gelang es ihm, einen der GordyTropfenwagen zu stehlen und seinen Weg damit fortzusetzen. Oder er fand irgendwo einen Zugor. Zwei Schüsse fauchten über seinen Kopf hinweg, ehe er die freie Fläche überquert hatte und wieder im Schatten von Bäumen, Treppen und Gebäuden verschwinden konnte. Er setzte zu einem kurzen Spurt an, der ihn durch ein Gewirr immer schmalerer Straßen und Gäßchen in eine Zone brachte, die am Rand der Stadt lag. Heimdall suchte ein Versteck. Die Geräusche des Alarms, die hallenden Schritte der Verfolger und die Schreie wurden leiser. Die Anzahl der Lichtquellen und die Menge beleuchteter Fenster und Öffnungen nahm ab, je weiter Heimdall kam. Er suchte die schmalsten Wege und sah schließlich vor sich den runden Umriß einer mittelgroßen Kuppel. Sie wirkte nicht bewohnt, aber aus ihrem Inneren drangen summende und klickende Geräusche. Geduckt und schnell, den tiefbraunen Pelzumhang um den Körper geschlungen, kroch der älteste Sohn Odins auf einen seitlichen, kleinen Eingang zu. »Verfluchtes Donkmoon! Es war eine außerordentlich geschickte Falle. Und ich, der größte Narr Pthors, ging freiwillig ins Netz«, flüsterte er mit seiner tiefen Stimme und wischte sich den Schweiß aus dem Bart, als er sich langsam aufrichtete und um sich spähte. Er schien unbeobachtet zu sein. Langsam setzte er Schritt um Schritt. Gräser und Moose, kleine Büsche und betäubend riechende Blüten reichten dicht bis an
Aufbruch der Odinssöhne den untersten Rand der Kuppel. Als er die Hand auf das Plastikmaterial legte, spürte er undeutliche Vibrationen. Es schien irgend eine Energiestation zu sein. Er stieß das Tor auf und zwängte sich mit einer Drehung seines mächtigen Körpers hindurch. Mildes Licht flammte auf, hastig schloß er die Tür und nahm die Streitaxt ein wenig kürzer hinter der gekanteten Doppelschneide. Er stand am untersten Rand einer schmalen Treppe, die steil aufwärts führte und nach etwa hundert Stufen vor einer Wand endete. Entschlossen warf er sich vorwärts und stürmte so schnell und leise, wie er konnte, die Stufen aufwärts. Dann wandte er sich nach rechts und kam nach einigen Minuten auf einen Steg, der aus Metall und Plastik zusammengesetzt war. Der Steg lief in halber Höhe des Kuppelinnern der Rundung entlang und verschwand im Halbdunkel. Heimdall blieb stehen und musterte die Anlage vor und unter ihm. Der riesige, halbkugelige Raum war angenehm kühl und von zahllosen leisen Geräuschen erfüllt. Seltsame Maschinen pulsierten hier und waren an wenigen Stellen durch kleine Lichter angestrahlt. Zwischen vielen Teilen der verwirrenden Anlage spannten sich schenkeldicke Taue oder Kabel. Die Geräte hatten phantastische Formen und sahen aus wie manche der ausgewaschenen und skurril geformten Felsen rund um das Taambergmassiv. Von ihnen ging ein überzeugender Eindruck geballter Kraft aus. Als Heimdall den Kopf bewegte, erkannte er mehr Einzelheiten. Langsam ging er auf dem Steg weiter, bis er sich einer runden Plattform genähert hatte. Vor ihm befand sich ein fast geschlossener Kreis von Geräten, die wie dunkle Fenster aussahen. Heimdall betrachtete eines nach dem anderen und erkannte, daß diese Geräte Ausschnitte der Wirklichkeit zeigten. Sie lieferten verkleinerte Bilder der nächtliche Umgebung von Donkmoon und einigen Plätzen
37 der Stadt. Vieles davon erkannte er wieder, unter anderem auch den Eingang zur Stadt. Sie haben mich also kommen sehen. Eher, als ich es dachte! sagte er erbittert zu sich und versuchte zu erkennen, ob sie ihn noch immer verfolgten. Oder ob einer der Wissenschaftler womöglich seine Spur aufgenommen hatte. »Früher oder später werden sie mich finden. Es gibt nicht viele Verstecke in dieser kalten, glatten Stadt aus Kunststoff!« murmelte Heimdall. Er setzte sich in einen Sessel, der nicht für seine Körpergröße und sein Gewicht hergestellt worden war. Die Khylda schaltete er aus und lehnte sie an eines der gläsernen Geräte. Aufmerksam betrachtete er die Bildschirme und sah, daß sich an verschiedenen Stellen der Stadt Gruppen zusammenfanden. Sie trugen Scheinwerfer und alle denkbaren Waffen. Sie sahen entschlossen und aufgeregt aus. »Sie suchen mich also!« Blieb er hier, hatte er gute Möglichkeiten, sich zu verteidigen. Sie würden dieses wichtige Bauwerk nicht einfach zerstören. Versuchte er, das freie Land zu erreichen, war er dort wehrlos. Selbst wenn er die Glasscheiben hier zerschlug, würden sie Mittel und Wege haben, ihn zu entdecken. Sie waren als einzelne Gegner von Bedeutungslosigkeit, aber diese Menge war für ihn tödlich. Was sollte er tun? Heimdall war ratlos und wütend, am meisten auf sich selbst. Es gab keine Möglichkeit, einen der Brüder zu Hilfe zu rufen. Er stand wieder auf und ging ruhelos hin und her. Dann sagte er sich, daß er seine Kräfte verschleuderte. Er suchte sich einen bequemen Platz und einen Winkel, in dem man ihn nicht sofort entdecken würde. Dann breitete er den zweimal zusammengefalteten Umhang auf dem Boden aus, lockerte den Riemen des Helmes und streckte sich aus, den Griff der Waffe in der rechten Hand. Er schlief ein; er wußte, daß ihn das geringste Geräusch jäh auffahren lassen
38
Hans Kneifel
würde. Fünf Stunden ließen ihn die Gordys schlafen. Dann war der erste Trupp, der im Licht des neuen Tages die Spuren gesehen und verfolgt hatte, am Eingang der Kuppel. Heimdall stand auf, reckte sich und atmete die kühle, streng riechende Luft ein. »Der letzte Kampf fängt an«, sagte er leise. Er war bereit, ihnen bis zum letzten Blutstropfen einen Kampf zu liefern, den Donkmoon niemals vergessen würde.
8. Ratatöskr, »Rattenzahn«, das Eichhörnchen, eilt am Stamm der Esche Yggdrasil auf und ab und spricht über jedes Gerücht; so bringt er ständig Ärger in die Welt. Fongerreilson räkelte wollüstig ihren Körper und nahm einen langen Schluck aus Sigurds Pokal. Es wurde Morgen, und die Asche im Kamin begann zu erkalten. Langsam zog die junge Frau eine der vielen weichen Felldecken über die Hüften und blickte Sigurd an. Der Sohn Odins kauerte vor dem Kamin und schichtete Holzkloben übereinander. »Du bist unruhig, Sigurd?« fragte Fongerreilson leise. Er drehte sich halb herum und warf ihr einen leidenschaftlichen Blick zu. »Langsam werde ich unruhig. Etwas muß geschehen sein.« »Wie meinst du das?« Ratatöskr schnellte sich von seinem Platz neben dem erkaltenden Gluthaufen hoch, stieß ein langgezogenes, fast zwitscherndes Gelächter aus und schrie heiser: »Sie weiß es genau! Deine Brüder sind in zahllose Fallen gestolpert. Sie werden niemals pünktlich ankommen. Ragnarök beginnt mit starker Verspätung, Sigurd!«
Schneeweiße Flammen tanzten über den Pelz des Tieres. Aus den Ohren schlugen knisternde Entladungen. »Sei still, sonst zünde ich mit dir das Feuer an!« drohte Sigurd lachend. Er fühlte sich herrlich. Aber die Sorge wollte nicht weichen! Wo waren Heimdall, Balduur und Honir? Wann kamen sie endlich? Hatte etwas sie aufgehalten? Oder waren sie in ernsthafter Gefahr? »Ich glaube, dein Freund mit dem buschigen Schwanz haßt mich«, sagte Fongerreilson mit einem Lächeln, das ihre Unsicherheit zeigte. »Was, meinst du, kann geschehen sein?« »Ich erwarte meine Brüder!« rief Sigurd. »Das hast du mir bereits gesagt. Aus welchem Grund?« »Ich habe bestimmte Zeichen gesehen und verschiedene Dinge erfahren. Die Götterdämmerung Ragnarök steht kurz bevor. Vielleicht können wir es miterleben, wie die Herren der FESTUNG im Chaos untergehen und Odin zusammen mit uns die Herrschaft antritt.« »Und … deine Brüder sind auf dem Weg hierher?« »Ja. Hugin und Munin haben sie benachrichtigt, die schnellen Raben, deren Augen nichts entgeht.« Ratatöskr stieß ein meckerndes Geräusch aus und sprudelte aufgeregt hervor: »Und mir entgeht kein Gerücht! Die Herren der FESTUNG schicken ihre künstlichen Geschöpfe umher. Sie sollen die Göttersöhne und die beiden Fremden verderben.« »Das macht die Fremden zu meinen Freunden!« beharrte Sigurd, schob Ratatöskr mit dem Handrücken zur Seite und entzündete das Feuer. »Du meinst, die Brüder sind aufgehalten worden?« erkundigte sich die Frau. »Das meine ich. Und meine Unruhe wird größer. Aber ich bin sicher, du hast inzwischen Hunger. Dort hinten steht ein Tisch. Seine Platte biegt sich; alles ist vorhanden, was uns schmeckt.« Fongerreilson schüttelte den Kopf und
Aufbruch der Odinssöhne flüsterte: »Ehe wir solch triviale Dinge tun, solltest du mich noch einmal küssen.« Sigurd lachte und blickte in die aufzüngelnden Flammen. »Nichts lieber als das. Trotzdem mache ich mir Sorge um Heimdall. Er hat den kürzesten Weg zum Lichthaus.« »Vergiß Heimdall für eine kleine Weile«, sagte die junge Frau. Die Verliebtheit und die Nacht der Leidenschaft hatten Sigurd keineswegs eingeschläfert. Zwar brachte er Fongerreilson keinerlei Mißtrauen mehr entgegen, aber dennoch umgab sie irgendein Geheimnis. Sie wirkte wie ein Pthorer, dem ein künstliches Gedächtnis oder fremde Erinnerungen aufgepfropft worden waren. Sicherlich, sie kam aus der FESTUNG und hatte ihre Erinnerungen verloren. Aber trotz aller Lebendigkeit und Echtheit kam sie ihm merkwürdig vor. Eine gewisse Melancholie schien sie zu beherrschen und wich nicht einmal in Momenten äußersten Glücks. Indessen maß er allen diesen Einschränkungen keine allzu große Bedeutung bei. Sie hatten sich getroffen und waren glücklich. Der Zustand, den er in langen und enttäuschenden Träumen immer wieder herbeigesehnt hatte, war eingetroffen. Er war so glücklich wie nie. Mit Sicherheit glaubte er zu wissen, daß auch Fongerreilson glücklich war. »Für eine Weile bist du wichtiger«, sagte Sigurd und setzte sich neben sie. »Aber ich kann meine Sorgen nicht vergessen.« »Das werde ich nicht von dir verlangen«, meinte sie schläfrig. »Komm, mein Liebster.« Selbst wenn er versucht hätte, sich ihr zu entziehen, er hätte es nicht vermocht. Aber er wollte es gar nicht und begann, sie zu liebkosen. Ihre Finger strichen über seinen Körper, und wieder begriff Sigurd, welches Glück er gehabt hatte, als die Straße der Mächtigen gezittert und gebebt hatte.
*
39 Eine Stunde oder etwas später kam Sigurd, in einen pelzbesetzten Umhang gehüllt, aus dem hintersten Teil des Lichthauses. Er hatte ausgiebig geduscht und roch nach seltenen Kräutern und Ölen. Während er das Essen vorbereitete und durch einen Gedankenbefehl die Barriere des Eingangs öffnete, stand Fongerreilson auf und rief leise: »Du brauchst nicht lange auf mich zu warten. Ich komme schnell wieder zurück.« »Laß dir Zeit«, gab er zurück. Graziös bewegte sich Fongerreilson durch den Raum und schob den schweren Vorhang vor den Baderäumen zur Seite. Das Geräusch fließenden Wassers mischte sich in das lustige Prasseln des Feuers und in das Klappern von Geschirr. Sigurd war hungrig und müde. Sie würden den Tag verschlafen, nachdem sie gegessen hatten. Jeder würde dann in den Armen des anderen liegen und träumen. Er sang leise vor sich hin; es waren uralte Lieder aus Odins Runenbuch, die er längst vergessen zu haben glaubte. Er trat zwei Schritte zurück und musterte den Tisch. Alles, was sein Haus an ausgesuchtem Essen bieten konnte, breitete sich farbig und duftend hier aus. Ratatöskr rannte im Zickzack durch den Raum und näherte sich Sigurd. Das Tier war in hellster Aufregung, als es sich im Stoff des Umhangs festkrallte und bis auf Sigurds Schulter hinaufkletterte. Gellend schrie Ratatöskr: »Ich habe dich gewarnt, du Narr!« Diesmal waren Haß und Nervosität unverkennbar. Sigurd drehte den Kopf und fragte erschreckt: »Was ist los?« »Deine Geliebte! Ein Geschöpf der FESTUNG! Sie ist ein Spion!« »Geh weg. Du bist verrückt!« brummte Sigurd unwillig, war aber plötzlich wieder voller Mißtrauen. »Du willst die Wahrheit nicht sehen, verliebter Tölpel!« kreischte Ratatöskr. »Geh in
40 dein prunkvolles Bad und schaue selbst! Schnell!« Sigurds Blick brannte in den kleinen, dunklen Augen des Tierchens. Dann packte er Ratatöskr und setzte ihn vorsichtig ab. Mit schnellen Schritten lief er unhörbar durch den Raum und blieb vor dem Bad stehen. Er wußte, daß jeder Eintretende im riesigen Spiegel zu sehen war, wich nach links aus und spähte von der anderen Seite in den nicht streng abgeteilten Raum. Fongerreilson stand da und starrte wie hypnotisiert in den Spiegel. In ihrem linken Oberschenkel war ein halbkugeliges Loch, zwei oder drei Fingerbreit tief. Die falsche Wunde blutete nicht, sondern zeigte keinerlei Unterschied zu der anderen Haut, über die noch vor kurzer Zeit seine zitternden Finger gestreichelt hatten. In der rechten Hand, zwischen drei Fingern, hielt Fongerreilson einen schwarzen Apparat, der ein Funkgerät sein mußte. Ein kalter Stich der abgrundtiefen Enttäuschung traf den Sohn Odins. Er starrte regungslos in das Gesicht seiner schönen Geliebten. Ihre Augen waren stumpf und ausdruckslos. Die Gesichtszüge schienen eingefroren zu sein; die junge Frau wirkte nun wie ein Automat. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie sprach nicht. Zwei verschiedene Absichten stritten sich in ihr. Das Wasser aus den Duschöffnungen rauschte und prasselte. Es roch nach Badeöl und Seifenschaum. Sigurd war gelähmt. Seine Gedanken überschlugen sich. Die Geliebte, ein Spion? Fongerreilson – ein Geschöpf der Herren der FESTUNG? »Nein!« flüsterte er mit trockenen Lippen. Fongerreilson sah und hörte nichts. Sie war geistesabwesend und schickte sich an zu tun, was man ihr irgendwann befohlen hatte. Jetzt fing sie zu sprechen an. »Ich bin bei Sigurd. Er hat mich aufgenommen. Er redet mit mir über alles. Sigurd erwartet sorgenvoll …« Sigurd sprang nach vorn und entriß Fongerreilson das Gerät. Unfähig zu sprechen,
Hans Kneifel von einer heillosen, tobenden Wut erfüllt, holte er aus und schmetterte das Gerät zu Boden. Er bückte sich, hob das summende Ding auf und schleuderte es quer durch den großen Raum gegen die Rückwand des Kamins. Das Gerät zerplatzte, es gab einige Explosionen, dann fiel es in das Feuer und detonierte in einer Stichflamme. Keuchend wandte sich Sigurd an Fongerreilson. »Ich habe mich in dich verliebt«, sagte er mit heiserer Stimme. »Und du … du bist eine Kreatur der FESTUNG!« Sie blickte ihn mit seelenlosen Augen an und begriff nichts. Dann huschte etwas wie Erkennen über ihr Gesicht, ihre Augen fixierten ihn, sie senkte den Kopf. »Was … ist … geschehen?« flüsterte sie stockend. Mit einem neuerlichen Schock der Verblüffung sah Sigurd, daß sich die Haut ihres Schenkels wieder glatt über die Stelle spannte, an der er eben noch jenes Loch gesehen hatte. Enttäuschung, Wut und Resignation beherrschten ihn. Er wußte nicht, wie er reagieren sollte. In einem flüchtigen Moment ruhiger Überlegung verstand er, daß Fongerreilson nicht aus freiem Willen gehandelt hatte. Sie war nichts als ein Werkzeug. »Was geschehen ist? Das fragst du mich?« stieß er zitternd hervor. Seine Stimme gehorchte ihm nicht. Wie durch einen dicken Vorhang hörte er das grelle Gelächter Ratatöskrs. »Ja. Ich frage dich. Ich weiß es nicht … plötzlich zwang mich etwas. Ich habe etwas getan …« »Du hast mit den Herren der FESTUNG gesprochen. Du bist ein Spion! Ausgerechnet du!« schrie er wütend. Sie wich langsam vor ihm zurück. Der Umhang glitt von ihren Schultern und fiel auf die Fliesen. »Ich weiß nicht, was ich bin«, sagte sie hilflos. Sie wirkte, als ob sie aus einem tiefen Schlaf erwachen würde. »Ich habe es eben erlebt. Warum hast du mir das angetan? Du hast unsere Liebe vernichtet.«
Aufbruch der Odinssöhne Eine zweite, noch schrecklichere Erkenntnis packte ihn. Ungläubig, aber sicher, daß er die Wahrheit erkannt hatte, murmelte er: »Du mußt ein Dello sein. Ein Kunstgeschöpf! Ein Androide. Fongerreilson … ausgerechnet du!« Wenn die Wut und die Enttäuschung ihn nicht so ausschließlich in ihrem Bann gehalten hätte, hätte er merken müssen, daß Fongerreilson tatsächlich nicht wußte, was geschehen war. Er hätte einsehen müssen, daß sie nicht im geringsten dafür verantwortlich gemacht werden konnte, was seinen Zorn zu Recht erregt hatte. Sie zwang sich mit übermenschlicher Anstrengung dazu, ihm zu antworten. Mühsam rang sie nach dem richtigen Ausdruck. »Ich«, begann sie zögernd, »ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist. Erst war nichts mehr, und dann, als die Staubwolken vorbei waren, sah ich dich. Ich habe dich sofort geliebt. Plötzlich kam es über mich wie ein … Zwang.« Er biß die Zähne aufeinander. Seine Kiefer begannen zu schmerzen; er spürte es nicht. »Weiter!« stieß er hervor. »Ich mußte dieses Ding herausholen und ihnen berichten, was ich gesehen und gehört habe.« »Ihnen? Wem?« Hilflos hob sie ihre vollkommenen Schultern. »Du glaubst es mir nicht: Ich habe keine Ahnung! Wirklich!« »Bei Odin!« stöhnte er auf. »Ragnarök ist nahe, und die Wunder mehren sich von Stunde zu Stunde. Du bist kein wirklicher Pthorer, sondern eine künstliche Frau, ein Dello. Und du weißt nicht einmal, wer dich geschickt hat, um Odins Söhne auszuspionieren und alle ihre Geheimnisse den Herren der FESTUNG mitzuteilen?« Ein doppelter Schock hatte ihn gepackt und schüttelte ihn bis zur völligen Hilflosigkeit: Die Einsicht, verraten zu werden, das Bewußtsein, einen Dello geliebt zu haben, und … nein, es war ein dreifacher Schock!
41 Und dazu kam das Mitleid mit diesem Geschöpf, das letzten Endes ebenso hilflos war wie ein Tier, wie ein geschundener und gepeitschter Sklave. Aber die letzte Einsicht vermochte die Mauer aus Ratlosigkeit nicht zu durchstoßen. Fongerreilson gewann in dieser Zeit, in der er alle möglichen Gedanken hatte, Überlegungen verwarf und sich bemühte, zu einer vorläufigen Einsicht zu kommen, ihre Fassung und Selbstsicherheit zurück. Sie bückte sich und hob den Umhang auf. Sie befestigte schweigend die schwere Spange, die beide Teile zusammenhing, über ihrem Hals. Dann blickte sie Sigurd mit einer kalten Ruhe der Verzweiflung an und sagte leise, um Festigkeit in ihrer Stimme bemüht: »Ich weiß nicht, Sigurd, was du denkst. Ich kann mir vorstellen, was du empfindest. Dich ekelt vor mir. Ich kann es verstehen, aber ich kann nicht anders: Ich liebe dich. Was soll ich tun? Was willst du, das ich tue?« Er wandte sich ab, aber ihre Augen trafen sich in der Fläche des riesigen Spiegels. »Ich kann nicht mehr. Geh!« »Ich soll gehen?« fragte Fongerreilson tonlos. »Ja. Laß mich allein. Ich bin vernichtet. Meine Träume sind zu Nichts zerronnen«, sagte er und merkte nicht, daß er die falschen Worte sprach. Seine Verzweiflung war abgrundtief. Sein Glücksgefühl war vollkommen gewesen. Und jetzt war er in die tiefste Tiefe der Verzweiflung geschleudert worden. Wenn sie nicht ging, würde er sie erdrosseln oder mit dem nächstbesten Gegenstand, den er in die Finger bekam, niederschlagen. »Wohin soll ich gehen? Ich kenne keinen Weg und habe nichts, wo ich bleiben kann«, erklärte sie einfach. »Ich will allein sein«, sagte er. Ein Gefühl wie nach einem langen, erbarmungslosen Kampf gegen eine Übermacht von hervorragenden Gegnern erfüllte ihn. Schwäche, Resignation und ein erbärmliches Gefühl in der Gegend zwischen Herz und
42 Lenden, das einen baldigen Zusammenbruch ankündigte. Er sah geistesabwesend, wie Fongerreilson ihn mit einem Blick voller Niedergeschlagenheit und Unsicherheit ansah und an ihm vorbei durch den schweren Vorhang ging. Sie bewegte sich schweigend zwischen den Einrichtungsgegenständen des untersten Geschosses entlang und schenkte jedem Platz, den sie kennengelernt hatte, einen langen Blick. Sigurd zerriß es fast das Herz, aber er sah regungslos zu. »Geh doch endlich!« flüsterte er. Er war sicher, daß er das genaue Gegenteil meinte. Aber er war hilflos seinen Gefühlen gegenüber. Fongerreilson drehte sich nicht mehr um. Sie ging am Kamin vorbei und an Ratatöskr, der auf dem Sims kauerte, funkensprühend und mit ständig wechselnden Flammenbündeln auf seinem Fell. Ohne ein weiteres Zeichen bewegte sie sich auf nackten Sohlen, nackt unter ihrem Umhang, auf den weit geöffneten Eingang zu. Dahinter flammte am Himmel die Morgendämmerung. Sekunden später stand sie auf den Steinplatten des kleinen Vorplatzes und verharrte. Aber sie drehte sich weder um, noch sagte sie etwas, sondern ging geradeaus auf die Straße der Mächtigen zu und schritt in westliche Richtung. Nach fünfzehn Schritten verschwand sie aus dem Blickfeld Sigurds, der regungslos im Bad stand und sich im Zentrum chaotischer Gefühle befand. Als sie Sigurd das letztemal angesehen hatte, mußte er sehen, daß sie weinte. Jetzt fiel es ihm ein: Noch niemals hatte er gehört, gelesen oder gesehen, daß ein Dello derartiger Gefühlstiefe fähig war. Tränen in den Augen eines Androiden? Langsam ging der Göttersohn bis zum Kamin und lehnte sich gegen die weißgeschlämmten und rußbedeckten Steine. Was sollte er tun? Ratatöskr funkelte ihn an. Sigurd starrte das Tier an und hob die Schultern. Er war völlig ratlos. Halbwegs geistesabwesend schleppte er
Hans Kneifel sich bis zum Eingang des Lichthauses und sah dem weiblichen Dello nach. Fongerreilson ging in der Mitte des staubigen Metallbandes langsam nach Westen. Jetzt befand sie sich etwa an der Stelle, an der sie vor kurzer Zeit aus den hochgewirbelten Sandschleiern aufgetaucht war wie eine Erscheinung einer Traumwelt. Sigurd wußte, daß er unwiderruflich etwas verloren hatte, was er niemals wieder – wie lange auch sein potentiell ewiges Leben dauern mochte – erleben würde. Trotzdem fand er die Kraft nicht, ihr hinterherzulaufen und sie zurückzuholen. Er blieb stehen, als sei er festgenagelt, und sah, wie sie immer kleiner wurde. Ihre bloßen Fußsohlen hatten auf dem Staub des Metallbandes gleichmäßige Spuren hinterlassen, die optisch immer kleiner wurden und enger beieinander standen. Es gab niemanden, mit dem er sprechen konnte. Keiner der Brüder war hier, der ihm einen Rat geben konnte. Ratatöskr war alles andere als ein Gesprächspartner in wichtigen Dingen. Sigurd war noch niemals in seinem langen Leben vor einer solch wichtigen Entscheidung gestanden. Er war ratlos und völlig desorientiert. Er glaubte, nicht die Wirklichkeit, sondern einen Traum zu erleben. Weit vor ihm war eine Gestalt, die eine Spur hinterließ, und deren Umhang den Staub der Monate und Jahre von der Straße der Mächtigen wischte. »Fongerreilson!« schrie er. Sie hörte es nicht. Oder wollte es nicht hören. Er holte Atem und begann zu rennen. Zwanzig, dreißig Schritte weit lief er, dann kam ihm die Unsinnigkeit seines Verhaltens zu Bewußtsein. Es war sinnlos. »Odin! Vater! Hilf mir! Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist!« schrie er keuchend und merkte, wie sich seine Stimme überschlug. Aber es bebte weder das Metallband, noch erschien Odin. Und nicht einmal dieses verfluchte brennende Eichhörnchen kam und lachte gellend. Sigurd drehte sich um und
Aufbruch der Odinssöhne ging gesenkten Kopfes zurück in sein Lichthaus. Ein Gedankenbefehl aktivierte die Energiebarriere. Sigurd tappte wie ein Schlafwandler zu seinem Lager und warf sich auf die Leinentücher und die Felldecken. Sie strömten den Duft der jungen Frau aus. Er wünschte sich, tot zu sein und nicht mehr denken zu müssen. Wenn doch endlich Heimdall käme! Oder noch besser: Honir, dieser schlanke, blonde Jüngling, der über alle Fragen und Probleme des Lebens so zu sprechen wußte. Niemand wird kommen! dachte er in einem neuerlichen Anflug von Verzweiflung. Er vergrub seinen Kopf in den Unterarmen und ließ einen langen, tiefen Seufzer aus. Eine rasende Lust, die Rüstung anzulegen und sich in einen wilden, besinnungslosen Kampf zu stürzen, ergriff ihn mehr und mehr. Aber nicht einmal diese Erleichterung war ihm gegönnt. Es gab nichts und niemanden, gegen den gekämpft werden konnte. Abgrundtiefe Trauer erfaßte ihn, Selbstmitleid und das Gefühl, erbärmlich versagt zu haben, suchten ihn heim. Die Müdigkeit überwältigte ihn voller Erbarmen, und er fiel in einen unruhigen Schlaf, schreckte immer wieder hoch und fühlte, daß sein Herz wie rasend hämmerte. Jedesmal, wenn er aufwachte, wußte er, daß er laut geschrien hatte. Jedesmal versuchte er, das Echo seines Schreis aufzufangen. Er wußte, daß er nur ein einziges Wort gebrüllt hatte. »Fongerreilson!«
9. Aus Odins Runenbuch: Ragnarök, das ist das letzte Schicksal der Götter und Herrscher, das ist der Weltuntergang und die Götterdämmerung, die neues Leben bringt.
43 Honir drückte die knochige Hand Kröbels und nickte dankend. Sie standen auf beiden Seiten des massiven Tores. Der Magier hatte alles getan, um Honir den kurzen Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Jetzt, die schweren Riegel in der Hand, sagte er warnend: »Ich habe es Heimdall immer wieder gesagt! Geh auch du nicht nach Donkmoon. Die Gordys würden dich als Geisel nehmen.« »Ich habe es nicht vor. Ich werde mit der Windrose zu Sigurd fahren, nirgendwo sonst hin.« Kröbel wirkte erleichtert und meinte: »Das Lettro ist versiegelt. Ich bin geschützt vor den Gordys. Und auch die Parraxynth-Teile sind sicher. Sie werden nicht wieder angreifen. Du wirst die Spuren des kleinen Truvmers sehen und ihnen folgen?« »Wenigstens eine Zeitlang«, versprach Honir und sah zu, wie Kröbel das kleine Tor schloß und verriegelte. Dann setzte sich Honir in die Windrose. An vielen Stellen glitzerten im Licht der Morgensonne die Kristalle des TechnoSees. Die Maschine rollte an, entlang einer Mauer, dann bog sie nach Nordosten ab und wurde schneller. Zwangsläufig mußte Honir auf den Straßenabschnitt Sigurds treffen. Und spätestens dort würde die Verzweiflung Honir wieder eingeholt haben. Gleichmäßig summend rollte die Windrose dahin, durch leicht hügeliges Gelände voller Sand und Felsen, vorbei an einzelnen grünen Inseln aus Büschen und Bäumen. Links erhoben sich wie eine Erscheinung die Kuppeln der Gordystadt; vor ihnen breiteten sich die Felder und Plantagen aus. Honir hielt, der Warnung Kröbels folgend, einen großen Abstand zu den Anlagen, über denen die erhitzte Luft flirrte und flimmerte.
* Die Windrose rollte aus und hielt. Honir stieg aus und betrachtete die Umgebung, als könnte er etwas Überraschendes
44
Hans Kneifel
erkennen. Etwas, das er auf der Fahrt bis hierher übersehen hatte. Dieses Zögern, dieser Halt waren Ausdruck der alten, wohlbekannten und verhaßten Gefühle. Honir war ratlos und niedergeschlagen. »Dort vorn, in einer halben Stunde Fahrt, ist Sigurds Lichthaus!« sagte er leise. HonirThalia hatte einfach Angst. Jetzt gab es kein Zurück mehr, aber sie wich der Entscheidung aus, indem sie auch nicht mehr weiterfuhr. Sieben Schritte neben der Windrose ragte ein Stein aus dem karg bewachsenen Boden. Rechts und links von Honir verschwand das staubige Band der Straße in der Linie des Horizonts. Die Sonne brannte heiß herunter; unter der Rüstung begann Honir zu schwitzen. Er fühlte sich unbeschreiblich. Mit einem seufzenden Laut setzte er sich auf den Stein und blickte in die Richtung, in der das Lichthaus stand. »Und jetzt? Was soll ich tun?« Honir brauchte jemanden, der ihm half. Er war wenigstens jetzt völlig unfähig zu jeder Entscheidung. Selbst ein Ereignis, das von außen kam und ihn zwang, etwas zu unternehmen, würde ihn aus der Apathie und der Verzweiflung herausreißen. Aber es geschah nichts, abgesehen davon, daß die Sonne höherstieg und heißer brannte. Später kam ein warmer Wind auf und trieb Staubschleier vor sich her.
* Zur selben Zeit wurde Balduur aus seinem halben Schlaf gerissen. Gruck, sein schneller schwarzer Drache, veränderte seine Gangart und benahm sich unruhig und auffällig. Balduur riß den Kopf hoch, hielt sich fest und brummte unwillig: »He! Was soll das? Bisher hast du dich ganz manierlich benommen!« Gruck ließ sich nicht beeinflussen. Er verdoppelte seine Geschwindigkeit und lief plötzlich fast unhörbar auf seinen sechs säulenartigen Beinen dahin. Balduur merkte, daß der Koloß sich auf die Zehen erhoben hatte und in einem halsbrecherischen Ga-
lopp auf die einzige große Gruppe aus Gestrüpp und Bäumen zufegte, die es ringsum gab. Der gewaltige Körper und ebenso der Odinsohn waren über und über mit Staub bedeckt; es war schwer, sie in der gleichfarbenen Landschaft deutlich zu erkennen. Balduur hielt sich fest und wartete ab. Sein Körper wurde immer wieder hochgeschleudert und nach vorn und hinten geworfen. Die Hände rutschten an den wuchtigen Knochenzacken ab. Dann preschte Gruck durch ein Feld niedriger Büsche hindurch, hob den Hals und das erste Beinpaar und stürzte sich auf ein langgestrecktes, rostfarbiges Tier, das kreischend und quietschend zu entkommen versuchte. Aber einer der handartigen Vorderläufe ergriff das Tier kurz hinter dem Kopf, hob es in einer mühelosen Bewegung hoch und schüttelte es in der Luft. Das Kreischen erstarb ganz plötzlich. Als der Gigant mit langsamerer Gangart zwischen zwei Bäumen hindurchbrach, Äste und Zweige zerfetzte und sich Balduur tief ducken mußte, um nicht aus seinem Knochensattel gerissen zu werden, begriff der Sohn Odins, warum sich Gruck selbständig gemacht hatte. »Hunger und Durst!« lachte Balduur verständnisvoll. Fast ohne einzige Pause war Gruck die ganze Nacht hindurch gelaufen und gerannt. Jetzt hielt er an einer sumpfigen Wasserstelle so abrupt an, daß Balduur fast aus seinem Sitz geschleudert wurde. »Verstanden, Drache!« schrie er und turnte vorsichtig über den langen Rücken und den Schwanz abwärts. Seine Muskeln schmerzten, und er ächzte auf, als er den Schild zu Boden gleiten ließ und sich dehnte und streckte. Langsam ging er durch das niedergewalzte und zerfetzte Gestrüpp zur Wasserstelle. Der Angriff des Drachen hatte einen Schwarm schwarzer Vögel aus den Baumkronen aufgescheucht. Aufgeregt schreiend flatterten die Tiere jetzt über der Baumgruppe.
Aufbruch der Odinssöhne Gruck hatte seinen riesigen Schädel halb in das schwarze Wasser getaucht und soff mit gierigen Schlucken. Ab und zu hörte er damit auf und riß gewaltige Fetzen aus dem toten Tier. Es war ein unbeschreibliches Bild; Balduur sah eine Weile lang fasziniert zu und wandte sich dann ab. Schließlich suchte er rund um das schlammige Loch und fand schließlich eine winzige Quelle, die klares Wasser über weißgespülte Steinbrocken ausschüttete. Balduur bückte sich und trank, reinigte sein Gesicht und seine Hände und befestigte dann den Helm mit dem Band dergestalt, daß er über dem linken Oberarmgelenk hing. Abermals tauchte er seinen Kopf ins Wasser und fühlte sich erfrischt. Die Müdigkeit war verflogen. »Und jetzt – auf zu Bruder Heimdall. Falls er noch in seinem Wüstenfort ist!« sagte er zu sich und kletterte wieder auf den Rücken des Kolosses, der geräuschvoll schmatzend seine widerliche Mahlzeit beendete und abermals eine Unmenge Wasser in sich hineinsoff. Gruck riß schließlich seinen Hals in die Höhe und stieß einen geradezu fröhlichen Trompetenschrei aus. Die Vögel rasten in wilder Flucht nach allen Richtungen davon. »Auf! Wir holen Heimdall ab!« brüllte Balduur und dirigierte den Koloß mit Schwerthieben aus dem Wäldchen heraus und in die zuerst eingeschlagene Richtung. Das Blut und das Wasser hatten auf dem bestaubten Körper seltsame Spuren hinterlassen. Das wuchtige Tier sah dadurch noch gefährlicher und drohender aus. Aber es setzte sich willig in Marsch, bewegte seine massigen Beine und rannte quer durch das leere Land auf Heimdalls Behausung zu. Zwei Stunden und etwa siebzig Kilometer weiter: Balduur verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, daß er mit perfekter Sicherheit genau den richtigen Punkt anvisiert hatte. Aus der langweiligen Umgebung hob sich wuchtig die kantige, rote Anlage. Plötzlich, noch bevor Gruck das Tor erreicht hat-
45 te, brüllte Balduur: »Halt!« Mit dem flachen Schwert hielt er den Drachen an. Dann beugte er sich weit aus seinem Sitz und erkannte ganz deutlich zwei verschiedene Spuren. Er erkannte sie auf den ersten Blick und grinste zufrieden. »Also doch! Heimdalls Truvmer und, diese Spuren überschneidend, Honirs Windrose. Sie haben sich hier getroffen und sind auf dem Weg zu Sigurd.« Sofort preschte der Drache weiter und nahm seinen Weg in genau nördliche Richtung. Östlich von Donkmoon schnitt der Kurs Sigurds Straßenabschnitt, und dann waren es weniger als hundertdreißig Kilometer, die Gruck noch zu laufen hatte. Balduur wußte, daß Heimdall nichts von den Gordys hielt und sie auf eine gleichgültige Art haßte. Auch war es Balduur klar, daß Heimdall die größte Fragmente-Sammlung hatte, und daß die Gordys sie ihm neideten. Keinen Unfrieden stiften, dachte er und hielt sich jenseits der Farmen und der landwirtschaftlichen Betriebe, von denen Donkmoon umgeben war. Trotzdem stießen Gruck und die Gordys zusammen.
* Die Sonne der fremden Welt, die sich so beharrlich verbarrikadiert hatte, stand zwischen Mittag und Morgen. Ihre heißen Strahlen schienen alles Leben zu lähmen und an den Boden zu spießen. Der Himmel war vollkommen blau und wolkenlos; nur ein warmer Wind aus Westen bewegte die dunkelgrünen Blätter und die Rispen der Gewächse, die von den Gordys angebaut wurden. Weit vor sich erkannte Balduur aus der Höhe seines Sitzes das östliche Tor Donkmoons. Kurz davor befand sich die zweite, östliche Energiebarriere, die quer über Sigurds Straßenabschnitt lag. Zehn Meter hoch, ragte sie auf jeder Seite fünfzehnhundert Meter
46 weit in die grüne Landschaft hinein. Gruck lief ruhig und in gleichmäßigem Fünfer-Schrittmaß auf das südliche Ende der Barriere zu. Aus nördlicher Richtung, also aus der Stadt, ebenfalls nach Süden fahrend, näherten sich drei große, tropfenförmige Energieprallwagen. Einer war silbern, die beiden hinteren glänzten in grellem Orange. Balduur beschattete seine Augen mit der Hand und spähte aufmerksam in die Richtung der Fahrzeuge. In jedem saßen fünf Gordys, und im selben Moment entdeckten sie Gruck. Die Wagen hielten nicht an, aber plötzlich schoben sich lange, glänzende Waffenläufe in die Luft und richteten sich auf Gruck. »Sie sehen mich wohl nicht, diese FESTUNGS-Sklaven!« grollte Balduur und setzte seinen Helm mit den riesigen Hörnern auf und riß an der Schnalle des Kinnbands. Ein grelles Aufblitzen bewies ihm, daß er recht hatte. Heulend fuhr ein Energiestrahl schräg über den Schädel des Giganten hin und erzeugte eine kochendheiße Glutwelle. Gruck reagierte augenblicklich; alle sein Instinkte brachen innerhalb eines Sekundenbruchteils aus. Er senkte den Schädel, stieß ein schauerliches Heulen aus und rannte auf den ersten Wagen zu. Seine Beine bewegten sich wie riesige Maschinenteile. Wieder schoß einer der Gordys, aber auch der zweite Schuß traf nicht. Er fuhr parallel zum Boden dahin und setzte einen langen Streifen der gelbgrünen Pflanzen in Brand. Durch die Flammen und die Rauchwolke stampfte das Ungeheuer aus der Ebene Kalmlech dahin und zielte auf den ersten Energieprallwagen. Durch die dumpfen Geräusche des Schrittes und das pfeifende Krachen, mit dem der Schwanz die Plantage verwüstete, hörte Balduur die aufgeregten Schreie der Gordys. Er senkte den Kopf hinter die Knochenplatte und faßte Schild und Schwert fester. Die Entfernung zwischen dem führenden Wagen und Gruck verringerte sich rasend schnell. Die beiden folgenden Fahrzeuge wichen
Hans Kneifel nach links und rechts aus. Aber auf der linken Seite hielt sie die Energiebarriere auf. Gruck erreichte den Wagen, warf sich im rechten Winkel herum und schlug mit seinem gewaltigen Schwanz zu. Ein Entsetzensschrei aus mehreren Kehlen, das Geräusch aus der Kehle des Drachens und die Laute, mit denen die massigen Hornplatten und Knochenschuppen den Wagen zu Schrott schlugen, hochrissen und gegen den Boden warfen, vermischten sich zu einem infernalischen Chaos. Balduur hob das funkelnde Schwert und schrie: »Ihr müßt wahnsinnig sein! Ihr habt Balduur, den Göttersohn, als Gegner! Zeig es ihnen, Gruck!« Zahlreiche Schreie gellten auf. »Die Horden der Nacht kommen!« »Balduur reitet auf dem Giganten!« »Er kommt, um seinen Bruder zu rächen!« Den letzten Satz verstand Balduur ganz genau. Er schwang sich mit einem weiten Sprung vom Rücken des Drachen und landete weich im Ackerboden. Sein Schwert schlug klirrend gegen den Schild, als er auf die erste Gruppe der vor Schreck gelähmten Gordys zurannte. Dann hob er das Schwert und schrie: »Ich räche meinen Bruder! Wo ist er?« Mit seinen gewaltigen Kräften machte sich Gruck über den zweiten Wagen her, hob ihn hoch und kippte ihn einfach um, dann zertrampelte er ihn in rasender Wut und hämmerte seinen Schwanz in die Reste der Konstruktion. Die Schläge und das Knirschen des verformten Metalls dröhnten über die Felder, als Balduur einen Gordy einholte, mit dem Schild zu Boden schlug und ihm die Spitze des Schwertes an den Hals setzte. »Mein Bruder! Wo ist er?« Über das arrogante Gesicht des Mannes breitete sich tödlicher Schrecken aus. Angsterfüllt stieß er hervor: »In Donkmoon!« »Heimdall ist in Donkmoon? Undenkbar!« schrie Balduur. Seine Augen blitzten
Aufbruch der Odinssöhne wild. Der Bruder war in echter Gefahr! »Sein Truvmer war defekt.« »Und? Sprich, oder du stirbst!« »Wir haben ihn repariert. Er sollte mit Parraxynth-Stücken zahlen …« »Was er abgelehnt hat. Schneller! Ihr habt ihn gefangengenommen?« »Ja«, winselte der Gordy, als er das Schwert spürte. Ein Tropfen Blut erschien an der Spitze. »Aber er ist entkommen. Jetzt belagern sie ihn.« »Er lebt noch?« »Er kämpft wie ein Rasender!« »Und ich werde ihm helfen, bei Odin! Ihr Gordys verdient, ausgelöscht zu werden. Niemals werdet ihr auch nur ein ParraxynthBruchstück bekommen. Gruck! Hierher! Hör auf, ihre Wagen zu vernichten!« Mit einer wahren Freude an der Zerstörung hatte Gruck seinen dritten glänzenden Gegner angenommen und zerstörte ihn mit brutaler Gründlichkeit. Die Trümmer des Prallwagens wirbelten nach allen Seiten, und der lange Schwanz peitschte hin und her und verjagte die Gordys, die alles zurückließen und in die Richtung der Stadt rannten. Gruck hörte auf und sah sich, wild trompetend, um. Es gab keinen erkennbaren Gegner mehr. Balduur zog sein Schwert zurück und sagte drohend: »Ich werde meinem Bruder helfen. Wehe, wenn ihm ein Haar gekrümmt wurde. Dann radieren wir Donkmoon aus und brennen die Stadt nieder. Denn Ragnarök wird kommen, und ihr alle seid dann unsere Sklaven. Dort rennen deine todesmutigen Freunde – renne hinter ihnen her.« Er wandte sich um und kletterte wieder zurück in seinen Sitz. Gruck brauchte nicht mehr angetrieben oder dirigiert zu werden. Er schlug eine höllische Geschwindigkeit ein und rannte den flüchtenden Gordys hinterher. Sie flohen genau in die Richtung der Stadt, die aus dieser geringen Entfernung nicht mehr zu verfehlen war. Die roten und orangefarbenen Kuppeln wurden größer, und je näher Balduur der Stadtgrenze kam – nach wenigen Schritten hatte der furchterre-
47 gende Drache die rennenden Gordys überholt –, desto lauter wurden die Geräusche vor ihm. Die halbe Bevölkerung schien auf den Beinen zu sein, um seinen Bruder zu bekämpfen. Die Furcht, zu spät zu kommen, packte Balduur, und gleichzeitig wuchs seine Wut. Er saß kampfbereit auf dem Drachen und hoffte, dem Bruder noch helfen zu können. War es zu spät? Hatten die Herren der FESTUNG den Befehl gegeben, alle Rücksichten gegenüber dem Sohn Odins fahren zu lassen? Lebte Heimdall noch? Wenn er noch am Leben war, dann würde er kämpfen …
10. Heimdall wußte, daß es nicht mehr lange dauern konnte. Die Übermacht war zu groß, aber noch immer verteidigte er sich. Seine Rettung war, daß es zu ihm nur einen einzigen Weg gab. Solange er es nicht zuließ, daß die Gordys diesen Steg enterten, war er in trügerischer Sicherheit. Aber auch der Fluchtweg war derselbe Steg, und dies bedeutete, daß er abermals gefangen war. Er stand wie ein Koloß in der Mitte der Treppe aus Stahl, Holz und Kunststoff und schwang unaufhörlich die Khylda. Ein leichter Tisch, dessen Beine er herausgerissen hatte, diente ihm als Schild. Wieder sprang ein Gordy mit einer kurzen, gedrungenen Wurflanze die Stufen hoch und schleuderte das Geschoß mit aller Kraft auf Heimdall, als er noch zehn Stufen weit entfernt war. Die Lanze zischte durch die Luft und bohrte sich tief in die Platte, die Heimdall im richtigen Moment hochriß. Gleichzeitig feuerten eine Ebene weiter unten eine Gruppe von Angreifern ihre Skerzaals ab. Die Bolzen mit den geschärften, gepanzerten Spitzen prasselten in die Wand, trafen mit dröhnenden Geräuschen Stufen und Geländer. Eine zog eine tiefe Kerbe in Heimdalls Helm, eine andere klirrte gegen die vibrierende Schneide der Streitaxt.
48 Heimdall klemmte seine Waffe einen Moment lang zwischen die Knie, riß den Speer aus der Tischplatte und jagte ihn schräg hinunter in die auseinanderspringende Gruppe der Skerzaalschützen. »Ergib dich, Heimdall«, schrie ein Wissenschaftler. »Dann kommst du mit dem Leben davon. Wir werden dich hier aushungern!« »Diesen Moment wird keiner von euch erleben«, schrie er zurück, packte die Khylda und schlug nach einem weiteren Angreifer, der einen langen, gezackten Speer in beiden Armen hielt und damit Heimdall rammen wollte. Die Schneide der Axt spaltete die Waffe in zwei Teile. Ein Fußtritt beförderte den Gordy die Treppe abwärts. Von unten erscholl ein Rachegeheul. Sie setzten noch immer keine Energiewaffen ein, sondern versuchten es mit klassischen Waffen. Die Kabel und Maschinen, alle die Geräte und Schaltstellen – sie waren wohl zu kostbar. Überdies galt noch immer, daß die Übermacht und somit alle Möglichkeiten auf der Seite der Gordys waren. Heimdall beschloß, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Als der nächste Angriff erfolgte, handelte er entsprechend. Von unten schossen die Gordys gezielt mit den Skerzaals. Die armbrustgleichen Waffen schleuderten die langen Bolzen, die klirrend von den Teilen seiner Rüstung abprallten, ohne ihm zu schaden. Hin und wieder riß ein Geschoß einen Schlitz in den Pelzumhang. Zwei Gordys rannten die Treppe aufwärts und schwangen Streitäxte; geradezu Kinderspielzeug im Vergleich zu seiner Khylda. Er erwartete sie ruhig. Als die Männer nahe genug heran waren, schlug er blitzschnell von rechts nach links und schmetterte ihnen die Waffen aus den Händen. Die dicken Stiele wurden von der haarfein geschliffenen Schneide mühelos zertrennt. Heimdall setzte nach unten, packte mit der Linken einen Angreifer und wirbelte ihn hoch. Dann schleuderte er ihn nach unten, in die Gruppe der Wartenden hinein.
Hans Kneifel Ein Knäuel von Gliedmaßen und Körpern verkeilte sich ineinander und polterte krachend und schreiend die Treppe hinunter. Schnell folgte Heimdall und schlug mit der Axt vor sich hin und her. Die Gordys, die zwischen den Maschinen verteilt waren, begannen laute Schreie auszustoßen und schossen und warfen mit allem, was sie hatten. Einer feuerte aus einer Energiewaffe und ließ drei Meter stählernes Geländer weißglühend aufzischen. Heimdall kämpfte, Schritt um Schritt nach unten springend, die lange Treppe frei und warf einige bewegungslos daliegende Gordys hinunter zu den anderen. Ein Mann schlug schwer zu Boden, die anderen wurden aufgefangen. Ein Heulen des Zorns war die Antwort. Dann stürmte er wieder aufwärts und bezog seinen geschützten Platz am oberen Ende der Stufen. Man hatte, als der Angriff vor zwei Stunden begann, den Haupteingang geöffnet. Es war ein Tor in der Form eines liegenden Ovals. Heimdall kannte die Lage dieser Öffnung. Sie befand sich direkt am Abschluß einer breiten Straße aus geriffeltem Plastik. Dorther drang Tageslicht in den Raum hinein. An der Länge der Schatten, die jene Stadtbewohner dort warfen, erkannte der Göttersohn, daß es früher Mittag sein mußte. Nirgendwo war ein Ende abzusehen. »Der Kampf ist aussichtslos!« schrie ein neu angekommener Gordy, seiner Ausstattung nach ein Wissenschaftler, also jemand in leitender Position – wie alle anderen aber auch nur ein Werkzeug der FESTUNG. »Warum gibst du nicht auf, Heimdall?« Heimdall hob seine Axt und stieß ein gräßliches Gelächter aus. Er deutete mit der Waffe, deren Schneiden nicht genau sichtbar waren, auf eines der dicken Hauptkabel. »Was geschieht, wenn ich hier zuschlage, Gordy?« Wieder hörte er Rufe des Entsetzens und der Furcht. »Wir werden dich belagern bis zum Ende der Zeit.«
Aufbruch der Odinssöhne »Meine Brüder und Vater Odin werden kommen und mich befreien«, schrie er zurück, obwohl er die Trostlosigkeit seiner Lage erkannte. »Das denkst du!« »Ich weiß es«, gab er zurück und beobachtete mit neu erwachtem Mißtrauen, wie sie eine Maschine in die Kuppel hineinfuhren. Eine Art Geschütz oder ein Projektor war auf der Ladefläche montiert. Das Gerät sah aus wie ein rätselhafter Fisch oder ein Phantasiegebilde aus vielen Farben und zusammengesetzten, kühnen Formen. Ein leicht gekrümmter Dorn, der in eine nadelfeine Spitze auslief, ragte aus dem Konglomerat hervor und begann sich jetzt zu bewegen. Er zielte auf Heimdall, der diese Vorbereitungen mit steigender Unruhe registrierte. »Was habt ihr vor? Wollt ihr eure Anlagen vernichten?« schrie er hinunter. Niemand befand sich im Augenblick auf der Treppe. Die Wissenschaftler würdigten Heimdall keiner Antwort. Seine Furcht wuchs, weil er die Natur dieser neuen Waffe nicht kannte. Daß es eine Waffe war, die sich gegen ihn richtete, erschien ihm sicher. Er veränderte langsam seine Stellung und sah, daß die Nadelspitze seinen Bewegungen folgte. Eine Art doppelter Schild wurde hochgeklappt, zwei Gordys nahmen in kleinen Sesseln hinter dem Gerät Platz. Dann dröhnte ein hartes, metallisches Geräusch durch die Kuppel. Es klang, als schlüge man mit aller Kraft auf ein krachendes Stück Blech. Ein fahler Blitz zuckte aus der Nadelspitze, fauchte eine Handbreit neben Heimdall vorbei und verglühte in der nächsten Wand. Nein! Heimdall korrigierte sich: Es war eine runde Fläche aus Eis, das sich langsam auflöste und einen dünnen Nebel bildete. Eine Waffe, die mich besiegt, aber keine wertvollen Geräte zerstört! schoß es blitzartig durch seine Gedanken. Er sprang zurück. Wieder donnerte das Geschütz auf. Heimdall warf sich zu Boden und spürte einen
49 eiskalten Hauch in seinem Rücken. Augenblicklich sprang er auf und warf sich herum. Er entging dem nächsten Schuß und zog sich hinter eine Ansammlung von Geräten zurück. Der nächste Strahl aus eisiger Energie jagte zwischen den Geräten hindurch und landete genau auf dem breiten Blatt der Khylda. Der Schock setzte sich durch den Schaft und den Handschuh fort. Heimdall stieß einen erschrockenen Schrei aus. »Es wird ernst«, flüsterte er und wechselte, auf dem Boden um die Längsachse seines Körpers rollend, augenblicklich die Position. Nach dem harten Geräusch des Schusses und den vielfältig gebrochenen Echos wurde es in dem Innenraum der großen Kuppel totenstill. Alle Gordys warteten darauf, daß Heimdall voll getroffen wurde und liegenblieb, denn dann waren sie endlich an ihrem Ziel. Heimdall dachte nicht mehr daran, daß er auf alle Fälle lebend davonkommen sollte – er war in rasender Schnelligkeit damit beschäftigt, den Schüssen aus dieser seltsamen Kältekanone zu entgehen. Wieder jagte ihn ein Schuß aus der Deckung und vereiste einen breiten Streifen des Bodens. Heimdall spürte an den Zehen im Kampfstiefel ein Stechen, dann breitete sich die Lähmung aus. Die Zehen wurden gefühllos, aber seine Schnelligkeit litt nicht darunter. Sie nagelten ihn hier oben auf dem kreisförmigen Abschnitt fest. Wenn die anderen die Treppe stürmten, kam er in echte Bedrängnis. Er sah sich um und packte dann einen Sessel, den er hochriß und vor sich hielt. Mit einem Sprung war er am Geländer, duckte sich und wich einem neuen Schuß aus. Ehe die Maschine wieder neu eingerichtet war, schleuderte er mit aller Kraft das Möbelstück in die Richtung des Projektors. Der Sessel prallte auf das Fahrzeug, aber er traf das Geschütz nicht. Sofort fauchte wieder ein Schuß auf und traf den unteren Rand des Pelzumhangs. Die Felle verwandelten sich in knisterndes und brechendes Material und fielen in Fetzen zu Boden. Heimdall wirbelte herum und duckte sich.
50 »Wir werden dich gleich besiegt haben, Heimdall!« brüllte jemand von unten herauf. Das letzte Wort mischte sich in das krachende Geräusch eines Schusses, der so nahe an Heimdalls Kopf vorbeiging, daß sich die Haut seines Gesichts abkühlte. Er sprang auf das obere Ende der Treppe zu und befand sich hier außerhalb jeder Deckung. Heimdall hatte noch genug Zeit, um einen Blick nach unten zum Eingang zu werfen, wo eine breite Bahn Licht hereinströmte und die Kuppel erhellte. Die Skerzaalschützen hatten sich zurückgezogen, nur der Wagen und die Bedienungsmannschaft standen noch dort, aber vor dem Eingang wartete eine große Masse Stadtbewohner auf den Ausgang des Kampfes. Es würde nicht mehr lange dauern. Heimdall sprang wieder zurück. Er hatte gesehen, daß die Treppe leer war. Also brauchte er sich um einen zweiten Angriff aus dieser Richtung im Augenblick keine Sorgen zu machen. Sie verstanden es wirklich nicht, richtig zu kämpfen, diese verdammten Gordys. Nach dem nächsten Schuß, der das linke Handgelenk des Odinssohns traf und augenblicklich lähmte, breitete sich in dem tiefgestaffelten Ring der Zuschauer Unruhe aus. Schreie ertönten, die Gordys bewegten sich unruhig. An den Rändern des Halbkreises rannten die ersten Stadtbewohner rechts und links in panischer Flucht weg. Heimdall hörte nur den Lärm, aber er erkannte den Grund nicht, als er sich mit einem Hechtsprung wieder zwischen den Bildschirmgeräten zu Boden warf und knapp dem nächsten Schuß entging. »Verdammte Gordys!« schrie er und blieb keuchend liegen. Dann hob er den Kopf. Von draußen ertönte ein markerschütternder, fanfarenähnlicher Schrei. Es war ein Geräusch, das er nur aus großer Entfernung gehört hatte. Kaum war er abgerissen, krachte wieder ein Abschuß dieses verdammten Projektors und zwang ihn, den Kopf auf den Boden zu pressen.
Hans Kneifel
* Der Drache, dachte Balduur, versetzt die Gordys mehr in Schrecken als jede andere bekannte oder unbekannte Waffe. Gruck stürmte mit steigender Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt und fegte mit kräftigen Schlägen seines Schwanzes alles hinweg, was er nur treffen konnte. Ab und zu packte er mit einem oder dem anderen Vorderfuß einen kleinen Baum, riß ihn im Rennen mitsamt der Wurzel aus und warf ihn in Richtung einer kreischend flüchtenden und auseinanderrennenden Gruppe von Gordys. Oder er zerschlug einen der kleinen, tropfenförmigen Wagen. Hinter ihm und Balduur, der sich tief zwischen die Knochenplatten duckte, waren Plätze und Straßen leergefegt. »Recht so, mein schwarzer Liebling!« keuchte Balduur und hielt sich krampfhaft fest. Diese Bestie verhielt sich intelligenter als sein bestes Yassel und kämpferischer als jedes andere Tier, das er je kennengelernt hatte. Wo war Heimdall? Sie befanden sich jetzt fast im Zentrum Donkmoons. Balduur hob den Kopf und versuchte, hinweisende Einzelheiten zu erkennen. Die meisten Straßen und Plätze, die er sehen konnte, waren leer. Dort, wo gegen seinen Bruder gekämpft wurde, mußte sich eine größere Massierung der Stadtbewohner zeigen. Dort vorn! Unverkennbare Zeichen! Ein großes Kuppelgebäude am Rand der Stadt. Nur noch ein paar kleine rote Kuppeln und dann Felder und Baumreihen in geordneten Anlagen. Einzelne Gordys und Gruppen rannten darauf zu. Dort, wo das Plastik des Platzes und die hochsteigende Wand der Kuppel zusammenstieß, stand ein dichter Halbkreis von Männern. Das Schwert Balduurs zuckte hoch und krachte in die Hornplatten. »Dorthin, Gruck!«
Aufbruch der Odinssöhne
51
Das Tier verstand, änderte in vollem Lauf seine Richtung um ein paar Grad und stob quer über einen kleinen Platz auf die Ansammlung zu. Gruck stieß einen langen, gräßlichen Schrei aus, rannte weiter und warf sich kurz vor der ovalen Öffnung herum. Sein muskelstarrender Schwanz bewegte sich hin und her, die Hornschuppen und Knochenplatten schepperten über das Plastik, und die Spitze riß ein Dutzend Gordys von den Füßen. Als sich der Drache wieder herumdrehte, brach offene Panik aus. Balduur richtete sich auf und schrie, so laut er konnte: »Bruder Heimdall! Hier bin ich. Balduur kommt, um dich zu rächen.« Aus dem Innern der Kuppel ertönte ein gefährlich klingendes Krachen. Der Drache stürmte weiter. Balduur erschrak und warf sich seitlich zwischen den Hornzacken aus dem Sitz, denn Gruck rannte weiter, brach mit wilder Kraft durch den Eingang und schrammte mit dem Kamm aus Horn und Knochen durch den Rahmen des Portals. Hinter ihm hagelte es Metalltrümmer und Plastikfetzen. »Heimdall!« schrie Balduur ein zweitesmal. Hoffentlich hatte er sich nicht in der Beurteilung der Situation geirrt. Aus der Kuppel antwortete ihm eine tiefe, dröhnende Stimme. »Hier bin ich, Bruder!« Balduurs Erleichterung war groß. Er blinzelte, bis sich seine Augen auf die veränderten Lichtverhältnisse eingestellt hatten. Vor ihm sah er ein anderes Fahrzeug, und im sel-
ben Augenblick drehte sich Gruck halb herum und zerschmetterte das Ding mit einem einzigen Peitschenschlag seines Schwanzes. Huschende Gestalten zerstreuten sich in alle Richtungen. Balduur schrie: »Hierher, Heimdall!« Undeutlich sah er über sich eine Gestalt, die aus dem dunklen Hintergrund an das Geländer eines Steges rannte, sich darüberschwang und dann den Sprung wagte. Balduur hob den Arm mit dem Schild und merkte, daß Heimdall sich daran festhielt und mehr schlecht als recht vor ihm auf dem breiten Rücken des Tieres landete. »Zurück, Gruck – schnell!« dröhnte Balduur. Der Drache vollführte ein schnelles Manöver, drehte sich im Kreis und rannte wieder aus der Kuppel hinaus. Balduur packte Heimdall an den Schultern und drückte ihn mit aller Kraft nach unten. Das Ungeheuer verließ in einem neuerlichen Regen von Bruchstücken die Kuppel und stürmte davon. Balduur brauchte sein Schwert nicht einzusetzen. Gruck, der schwarze Drache, lief nach Süden und dann wieder nach Osten, auf Sigurds Lichthaus zu. Sie waren aus der Falle der Gordys von Donkmoon entkommen. Wichtigere Dinge lagen vor ihnen.
ENDE
ENDE