Niklas
Luhmann
Aufsätze und Reden Reclam
Niklas Luhmarm
Aufsätze und R e d e n Herausgegeben von Oliver Jahraus
Ph...
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Niklas
Luhmann
Aufsätze und Reden Reclam
Niklas Luhmarm
Aufsätze und R e d e n Herausgegeben von Oliver Jahraus
Philipp Reclam jun. Stuttgart
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18149 Alle Rechte vorbehalten © für diese Ausgabe 2001 Philipp Reclam jun. GmbH Sc Co., Stuttgart Copyrightvermerke für die Texte siehe Seite 297 f. Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed. in Germany 2007 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH Sc Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-018149-2 www.reclam.de
Inhalt
Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
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31 . . .
Was ist Kommunikation? Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?
76 94
. .
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Autopoiesis als soziologischer Begriff
137
Ist Kunst codierbar?
159
Das Medium der Kunst
198
Erkenntnis als Konstruktion
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Die Paradoxie der Form
243
Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung
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Textnachweise 297 Nachwort: Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns . . . 299
Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme
I Mit »Theorie« kann sehr Verschiedenes gemeint sein und sehr Verschiedenes beabsichtigt werden. Die folgenden Überlegungen akzeptieren für diesen Begriff keine epistemologischen Richtlinien, geschweige denn eine aus methodologischen Gründen einzig-richtige Fassung. Solche Vorschriften gibt es nicht unabhängig von einer sozialen Wirklichkeit, die sie erzeugt und verwendet. Wenn die Absicht ist, diese soziale Wirklichkeit, die unter anderem Theorien erzeugt und verwendet, durch eine Theorie als »soziales System« zu begreifen, kann diese Theorie die eigene Form nicht als gegeben oder als vorgeschrieben voraussetzen. Sie kommt zur Klarheit über sich selbst nur in der Wejse, daß sie sich in ihrem eigenen Gegenstandsbereich wiederentdeckt. Theorien dieser A r t haben, anders gesagt, ein selbstreferentielles Verhältnis zu ihrem Gegenstand; und dies nicht nur insofern, als sie bei der Auswahl der Aspekte, unter denen sie ihren Gegenstand konstituieren, selbst beteiligt sind; sondern in dem sehr viel radikaleren Sinne, daß sie sich selbst als einer ihrer Gegenstände erscheinen. Diese allgemeine Problematik selbstreferentieller Theorieverhältnisse schließt es jedoch nicht aus, mit gewissen Vorentscheidungen zu beginnen. Wir unterscheiden zu diesem Z w e c k e zwei Typen theoretischer Intentionen. Wir wollen zeigen, daß diese Unterscheidung (1) sich relativ rasch inhaltlich fruchtbar machen läßt und daß sie (2) relativ rasch sich soziologisch, und zwar gesellschaftstheoretisch bzw. wissenschaftssoziologisch, wieder einfangen läßt. Die Unterscheidung knüpft an die Frage an, wie die L e benswelt im Sinne der alltäglichen Weltvoraussetzung pro-
Zu einer Theorie sozialer Systeme
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blematisiert wird. Der eine Weg setzt eine Ordnung als gegeben voraus und problematisiert deren Defekte. Die klassischen Titel dafür waren Perfektion und Korruption bzw. Privation. In der vollen Perfektion kulminierten Natur und Moral, Sein und Sollen: Est autem virtus nihil aliud nisi perfecta et ad summum perducta natura . Und als Problem empfand man entsprechend das Nichterreichen der Perfektion oder die Imperfektion der Perfektion dieser Welt. So denken Arzte über Gesundheit und Krankheit. Auch die »social problems« - Soziologie verfährt nicht anders. Sie fragt nicht nach den Gründen für konformes, sondern nach den Gründen für abweichendes Verhalten, nicht nach den Annehmlichkeiten des Stadtlebens, sondern nach den Slums. Sie zieht ihren moralischen Impetus aus den Problemen, denen sie gesunde Zustände -vorzieht. Die Keynes'sche Theorie der Geldwirtschaft hatte ihren Ausgangspunkt in der Weltwirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit - und nicht in der Frage, wie eine Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten überhaupt möglich ist . Auch die Anhänger des cargo-Kultes und ihnen nahestehende Marxisten denken so: Sie nehmen an, daß ein Schiff mit allen benötigten Gütern unterwegs sei, aber irgend jemand die Ankunft verhindere. Zum anderen Theoriemodell geht man über in dem Maße, als man gerade das Normale für unwahrscheinlich hält. Das erfordert, darauf kommen wir zurück, den Mut und die Theoriemittel für kontrafaktische Abstraktionen. Periodisch kommen solche Fragestellungen immer wieder hoch, und zwar anscheinend im Zusammenhang mit Ausdifferenzierungsschüben im Wissenschaftssystem der Gesellschaft. Descartes hatte die Zeit als radikal diskontinuierlich begriffen mit der Folge, daß jede (normalerweise doch ganz unproblematische) Kontinuität einer Erklärung bedurfte. Die Erklärung hieß mit einem alten Begriff: creatio continua. Hobbes hatte umgekehrt Zeit vorausgesetzt und auf dieser Basis soziale Beziehungen problematisiert: Wenn 1
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Zu einer Theorie sozialer Systeme
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jeder dem anderen Gewalt antun kann, muß jeder dem anderen in dieser Hinsicht zuvorkommen, was die Unsicherheit und die Notwendigkeit antezipierender Gewaltanwendung erneut steigert mit der Folge, daß im Naturzustand der Kampf aller gegen alle unvermeidlich ist . Die Erklärung des normal doch ganz friedlichen Zusammenlebens vermittelt dann die staatlich fundierte civil society. Im gleichen Duktus des Theorie-Interesses wird Kant durch Hume zur Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile geführt, für die dann eine transzendental-theoretische Lösung gesucht wird, weil Selbstreferenzen im Theorieaufbau (auf die wir uns hier getrost einlassen) vermieden werden sollen. Seitdem ist die Frageform »wie ist ... möglich?« ein Indikator für diesen Typ des Theorieinteresses . Diese skizzenhaften Bemerkungen dürften genügen, um den Unterschied der Theorietypen und die Bedeutung dieses Unterschiedes für die neuzeitliche Wissenschaftsbewegung zu verdeutlichen. Nur zur Klarstellung sei noch angemerkt: Der Unterschied hat nichts mit den politischen Importkategorien »progressiv« und »konservativ« zu tun . Problemtitel wie conservatio, Bestand, Selbsterhaltung werden schlicht fehlinterpretiert,.wenn man sie als »konservativ« liest, wie das in den neueren Theoriediskussionen immer wieder geschieht . Sie bezeichnen - eher gegenteilig, jedenfalls aber nicht im gleichen Kontext - ein radikales Theorieinteresse des zweiten Typs, ein Interesse an Defiguration der Fakten , an Auflösung und Rekombination. Das gleiche gilt für den Problemtitel System . Will man sich auf diesen zweiten, radikaleren Theorietyp einlassen, stellt das hohe Anforderungen an die Konstruktion der Theorie. Sie muß das Normale, alltäglich Erfahrbare ins Unwahrscheinliche auflösen und dann begreiflich machen, daß es trotzdem mit hinreichender Regelmäßigkeit zustandekommt. Die Welt, wie sie ist und bekannt ist, muß von der Aussageebene des Unwahrscheinlichen her rekon4
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Zu einer Theorie sozialer Systeme
struiert werden. Diese Forderung ist n o c h kein logisch oder epistemologisch faßbares Programm; aber man kann an Beispielen sehen, wie es möglich ist. Im Folgenden soll dies an drei Beispielen gezeigt werden, die unabhängig voneinander entstanden sind, sich aber zu einem Forschungsprogramm integrieren lassen. W i r denken an die Themen: »doppelte Kontingenz« (II), »Kommunikation« (III) und »System als Reduktion von Komplexität« (IV).
II Das allgemeine Problem einer sozialen Kombination von individuellen Freiheiten ist sehr viel älter. Es war aber unter Maximierungsgesichtspunkten formuliert worden . Von »doppelter Kontingenz« spricht man seit Parsons unter einem anderen Blickpunkt. Gemeint ist nun: Wenn E g o sein Handeln in Abhängigkeit von Alter und zugleich Alter sein Handeln in Abhängigkeit von E g o wählen muß, wie ist soziale Ordnung dann überhaupt möglich? Jeder müßte, um sein Verhalten selbst bestimmen zu können, wissen, wie der andere entscheidet, kann dies aber n u r wissen, wenn er weiß, wie er sich selbst entscheidet. Soziale Situationen sind daher zunächst charakterisiert durch zirkuläre Unfähigkeit zur Selbstbestimmung. Wie ist dann aber das, was wir als normal vorfinden, nämlich soziale Ordnung, trotzdem möglich? Schon im Parsons-Modell ist berücksichtigt, daß sowohl E g o als auch Alter je für sich doppelte Kontingenz erleben. M a n muß also von (mindestens) zweifacher doppelter Kontingenz sprechen, denn beide wissen, daß beide in Abhängigkeit vom je anderen entscheiden. Jedes E g o erfährt Alter als alter E g o . Parsons scheint anzunehmen, daß sich schon daraus für jeden die Einsehbarkeit der Notwendigkeit einer gemeinsam akzeptierten Wertordnung ergibt, die es ermöglicht, wechselseitig zuverlässige Verhaltenserwartungen zu 10
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Zu einer Theorie sozialer Systeme
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bilden. Ein Grundproblem, vergleichbar dem des »prisonner's dilemma« , wird in geradezu klassischer Weise durch Berufung auf Vernunft gelöst. Die Einsicht, daß es ohne Einsicht nicht geht, schließt die Theorie ab; und sie bildet zugleich dasjenige Fundament, das die Theorie mit dem von ihr beschriebenen Gegenstand teilt. An dieser Stelle gleitet die Theorie - vielleicht zu schnell - v o m Problem der unwahrscheinlichen Normalität zum Problem der gefährdeten Gesundheit über. Das ist der Punkt, an dem Hobbes den Leviathan eingeführt hatte. Im weiteren geht es dann in Bezug auf die civil society oder in Bezug auf die Wertordnung der K u l t u r um Konformität oder Devianz, um Implementation, um Artikulation mit anderen Funktionserfordernissen, um Interpénétration. Wenn Optionen im Aufbau der Theorie einen solchen Umschlag des Gesamtklimas zur Folge haben, ist jedoch Vorsicht geboten. Man muß sich fragen, ob man den Übergang zu einem andersartigen Theorieinteresse will, w o m i t man ihn erzeugt und was dann der An s a t z bei einem Unwahrscheinlichkeitstheorem noch bedeutet. Ich vermute, daß dieser Umschlagseffekt mit zwei (bei Parsons nur implizit getroffenen) Entscheidungen erzeugt wird. Die eine besteht in der Auffassung v o n Kontingenz als »Abhängigkeit von . . . «. Die andere besteht in der Voraussetzung, daß die doppelte Kontingenz letztlich in jedem Einzelnen ausgetragen werden muß und hier im Wege der Selbstkonsultation zur Einsicht führt - also ohne Kommunikation! So explizit wie in der Behandlung des »prisonners's dilemma« wird dies Merkmal »ohne Kommunikation« nicht formuliert; aber es ergibt sich daraus, daß jede Kommunikation immer schon soziale Ordnung voraussetzen müßte und folglich die Theorie, wenn sie an dieser Stelle schon Kommunikation voraussetzen würde, als Theorie selbstreferentieller Systeme formuliert werden müßte. Die Auffassung von Kontingenz als »Abhängigkeit von... « entstammt einem schöpfungstheologischen Kontext . Kein 12
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Z« einer Theorie sozialer Systeme
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Wunder also, daß sie zu einer Theorie überleitet, die an Perfektion orientiert ist. A l s von G o t t geschaffen, mußte die ganze Welt als perfekt und zugleich als kontingent begriffen werden: als vollkommen, so wie sie ist; und als auch anders möglich, da der allmächtige G o t t die Welt auch anders hätte einrichten können. Dieser abstraktere, logische und modaltheoretische Sinn des Kontingenzbegriffs ist jedoch der ursprüngliche . Er wird gewonnen durch Negation von Notwendigkeit und von Unmöglichkeit. Kontingentes ist weder notwendig, noch unmöglich, also so, wie es ist, und auch anders möglich. Handeln ist zunächst in diesem modaltheoretischen Sinne kontingent, und zwar aus eigenem Recht und nicht deshalb, weil es von etwas anderem abhängt. Deshalb ergibt sich doppelte Kontingenz nicht erst als Folge reziproker Abhängigkeit, sondern immer, wenn Handlungen sich aneinander orientieren - auch dann, wenn dadurch Abhängigkeiten erst geschaffen werden, und auch dann, wenn dadurch Abhängigkeiten gerade vermieden werden sollen . Abstrahiert man den Begriff der Kontingenz auf diese seine Grundbedeutung hin, wird damit jedes Handeln als Vollzug einer Selektion erfahrbar. Entsprechend wird jedes Ereignis verwendbar als Information. Jede Handlungssituation ist offen für Wahlmöglichkeiten; jeder Handlungsvollzug ist Herstellung einer Selektion, der man noch ansieht, daß sie auch anders hätte ausfallen können . Vor dem Handeln und nach dem Handeln: Kontingenz ist das durchlaufende Moment, die zeitliche Einheit v o n Projektion und Erinnerung. U n d sie ist diese Einheit, weil sie ein Problem ist, das alles, was vorkommt, als Material zur Bestimmung verwendet . Geht man von diesem Kontingenzbegriff aus, wird doppelte Kontingenz zu einer Situationsdeutung, für die alles, was an Handlung beigetragen wird, dem selektiven S y stemaufbau dient. Wie immer zufällig eine Handlung zustandekommt : sie erhält ihren spezifischen Sinn dadurch, 14
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Z» einer Theorie sozialer Systeme
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daß beide, Ego und Alter, davon ausgehen können, daß sie von beiden als Selektion behandelt wird. Nur in diesem Deutungskontext kann sich überhaupt »gemeinter Sinn« sozialen Handelns (Max Weber) bilden. Das Handeln kann dann immer noch Konsens oder Dissens formieren, kann auf Kooperation oder auf Konflikt zusteuern; aber es kann nicht vermeiden, daß es zu akkordierten, sich aufeinander einlassenden Selektionen und damit zur Bildung sozialer Systeme kommt. Abstrakt gesehen, sind Ego wie Alter frei, sich aufeinander in der Form erfahrener doppelter Kontingenz einzulassen. Sobald sie dies tun, entstehen jedoch Nichtbeliebigkeiten, in der Form eines Systems, demgegenüber man dann nur noch die Wahl hat, zu kontinuieren oder abzubrechen. Sie werden Opfer einer necessitä cercata , der sie sich nur unter Opfern wieder entziehen können. Das Problem der doppelten Kontingenz erklärt, mit anderen Worten, die Autokatalyse sozialer Systeme. Das Problem selbst ist der Autokatalysator, der Systembildung aus Zufallsanlässen hochwahrscheinlich macht und dabei selbst nicht verbraucht wird, sondern als Kontingenzproblem fortbesteht. Man kann auch sagen: Als doppelte Kontingenz gewinne der selbstreferentielle Zirkel sozialer Situationen eine Form, die zugleich dafür sorgt, daß die Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit überführt wird; daß die leerlaufende reziproke Interdependenz unterbrochen wird und daß nahezu jeder Zufall als Interdependenzunterbrecher in Anspruch genommen werden kann. Ein solches Konzept entspricht genau den Anforderungen des zweiten Theorietyps: Es behandelt die Genese und laufende Reproduktion sozialer Systeme zugleich als unwahrscheinlich und als normal. Die Unwahrscheinlichkeit liegt in der Frage, wie es überhaupt zu akkordiertem Handeln kommen kann, wenn jeder bei sich selbst und beim anderen Spielraum für andere Möglichkeiten unterstellt. Es kann aber durch eine genauere Analyse der doppelten Kon19
2« einer Theorie sozialer Systeme
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tingenz gezeigt w e r d e n , daß gerade dies
einen Prozeß der
S e l e k t i o n u n d A n s c h l u ß s e l e k t i o n i n G a n g s e t z t , d e r die offene K o m p l e x i t ä t des soziale S y s t e m e
Möglichen einschränkt und dadurch
entstehen
läßt.
Daß
dies
geschieht,
ist s o
gut wie unausweichlich, jedenfalls normal. Allerdings kann aus Begriff u n d E r f a h r u n g v o n d o p p e l t e r K o n t i n g e n z nicht hergeleitet w e r d e n , w i e gehandelt w i r d u n d welche Systeme entstehen.
D e m K o n z e p t fehlt, das ist d e r Preis, d e n m a n
für
universalistische
hat,
die p r o g n o s t i s c h e u n d die
Geltungsansprüche
immer
zu
zahlen
Kraft;
es
erklärt
erklärende
allenfalls, d a ß ü b e r h a u p t soziale S y s t e m e an Zufällen entlang entstehen u n d eine nicht m e h r zufällige O r d n u n g festlegen.
Das
mag
manche
Ansprüche
an
Theorie
unerfüllt
lassen; a b e r es ist T h e o r i e in e i n e m p r ä z i s e a n g e b b a r e n Sinne,
nämlich
im
Sinne
der
Option
für
einen
bestimmten
T h e o r i e t y p u n d d e r Bereitstellung hinreichender Plausibilitätsgrundlagen.
Die
Unwahrscheinlichkeit
des
Normalen
w i r d in eine wissenschaftsfähige B e g r i f f s f o r m gebracht, die sich f ü r w e i t e r e B e a r b e i t u n g eignet. M a n sieht n u n : E s geht um Enttautologisierung v o n Selbstreferenz, um Autokatalyse, um Einschränkung der Zufallssensibilität im Systemaufbau,
und
damit
sind
wichtige
Vorentscheidungen über
die weitere T h e o r i e e n t w i c k l u n g getroffen.
III Einen z w e i t e n G e s i c h t s p u n k t d e r K r i t i k an P a r s o n s hatten wir
schon
genannt,
Letztfundierung
der
dann
aber
sozialen
zurückgelassen:
Ordnung
daß
die
anscheinend ohne
K o m m u n i k a t i o n z u s t a n d e k o m m t , n ä m l i c h auf G r u n d einer bloßen Einsicht v o n Individuen, die ihrerseits durch Sozial i s a t i o n e r k l ä r t w i r d . M a g d i e s e E i n s i c h t n u n als V e r n u n f t p o s t u l i e r t sein o d e r als eine A r t v o n p r ä m i s s i v e r Illusion: Sie bietet d e r T h e o r i e die M ö g l i c h k e i t , den G r u n d sozialer Ordnung in
die
Bereitschaft v o n
Individuen
zu
verlegen,
Z» einer Theorie sozialer Systeme
15
ähnlich wie man früher den Menschen als animal sociale, als zur Ordnung bestimmte Natur postuliert hatte. So kann man eine strikt selbstreferentielle Konstruktion sozialer Ordnung vermeiden, verpflichtet sich aber eben damit einem Theorietyp, der als Natur, Vernunft oder Wertkonsens eine wie immer unvollkommen realisierte Perfektion zu Grunde legt. Zu einer Alternative sind wir durch die Interpretation von »doppelter Kontingenz« schon angeregt. Man müßte sagen: Soziale Ordnung kann nur über den Prozeßtyp produziert werden, den sie selbst ermöglicht: über Kommunikation. Denn nur Kommunikation kann Systeme mit geschlossener zirkulärer Selbstreferenz über sich hinausführen. Dies haben nicht zuletzt die Forschungen zum »prisonner's dilemma« gezeigt . Kommunikation hat die hier geforderten Eigenschaften, weil sie anderes und sich selbst zum Thema machen und zwischen diesen beiden Thematisierungsrichtungen hin und her pendeln kann. Kommunikation ist ein notwendig reflexiver, sich selbst als Kommunikation einbeziehender Prozeß; aber sie ist dies nur, weil sie immer auch etwas anderes als sich selbst meint, immer von etwas anderem handeln muß - und sei es nur als Vorwand für Selbstdarstellung oder für Kommunikation um ihrer selbst willen. Will man Kommunikation in diesem Sinne als sich selbst fundierenden Prozeß begreifen, entsteht auch hier die Frage des anzuschließenden Theorietyps. Normalerweise denkt man bei Kommunikation Verständlichkeit gleich mit und fragt dann, weshalb die Kommunikation ihr Ziel, Konsens zu bilden, manchmal verfehlt. Konsens ist das telos der Kommunikation - auch in dem Sinne, daß Konsens die Kommunikation beendet, da sich nach dem Konsens Kommunikation nicht mehr lohnt. Diese Version des Problems - offensichtlich eine Theorie vom Typ Perfektion - stützt sich zusätzlich auf die Metapher der »Übertragung«. Die Kommunikation wird dann gedacht als Prozeß, der Wissen 20
16
ZK einer Theorie sozialer Systeme
oder doch Information überträgt - was ihr manchmal mißlingt. Man kann dann überlegen, wie sich Kommunikationsleistungen verbessern lassen, besonders bei zunehmender Komplexität und zunehmenden Kosten des Prozesses selbst. Man gewinnt damit alle Vorzüge eines hoch generalisierten, aber doch an Praxis orientierten »social problems approach«. Man kann aber auch fragen, wie Kommunikation überhaupt möglich ist. Voraussetzen muß man ja ihrerseits hochkomplexe, selbstreferentiell geschlossene Systeme, nämlich Systeme, die Umweltkontakt nur durch komplex konditionierten Selbstkontakt haben können. Sowohl als Sender wie auch als Empfänger von Mitteilungen sind solche Systeme stets überwiegend mit sich selbst beschäftigt. Der Kommunikationsprozeß hat daher stets sehr viel geringere Komplexität als die beteiligten Systeme selbst . Ist es unter solchen Umständen nicht ganz unwahrscheinlich, daß Kommunikation schon auf der Ebene der Verständlichkeit, von Konsens ganz zu schweigen, überhaupt zustandekommt? Auch hier erweitert sich dadurch, daß man das normal Funktionierende für unwahrscheinlich erklärt, der semantische Raum der Theorie. Man muß nun erklären, wie Kommunikation trotzdem zustandekommt. Hierzu passende Antwortversuche lassen sich aufspüren. Man muß sie allerdings aus weiter Verstreuung zusammenführen und ihnen zuweilen einen Problembezug und einen Leitgedanken unterlegen, der noch nicht klar formuliert war. Der wohl wichtigste Gedanke ist, daß man mit Freiheit leichter umgehen kann als mit Abhängigkeiten, die so komplex konditioniert sind, daß man sie doch nicht durch Kommunikation übermitteln oder wahrnehmen oder kalkulieren kann. Selbst in einem mechanistischen Universum müßten, so Donald MacKay , Systeme sich wechselseitig Indeterminiertheit unterstellen, weil den Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten die erforderliche Komplexität 21
22
Zu einer Theorie sozialer Systeme
17
fehlt. Dies Konzept der erzwungenen Freiheitskonzessionen harmoniert mit der Umlagerung des Handlungsbegriffs auf Attributionsprozesse, wie sie durch neuere Forschungen in der Sozialpsychologie angeregt wird . Danach wird Handeln durch soziale Prozesse der Fremd- bzw. Selbstzurechnung konstituiert; man kreiert sozusagen sich selbst und den anderen als selbst-handelnd, weil man nur so Kausalitäten lokalisieren, Kausalpläne entwickeln und sich am Geschehen beteiligen kann. Diese Theorieentwicklungen unterlaufen die Annahme, Handeln sei - entweder als natürlicher Prozeß oder als subjektiv gemeinter Sinn - das Baumaterial, aus dem Systeme gebildet werden. Statt dessen müßte man nun sagen: Systeme artikulieren sich selbst als Handlungssysteme, um über sich selbst kommunizieren zu können. Es ist dann nur konsequent, einer Anregung von Gordon Pask zu folgen und zu sagen: nicht Handlung, sondern Kommunikation sei die elementare Einheit, aus der selbstreferentielle soziale Systeme gebildet werden . Für anspruchsvolle Kommunikationsprozesse ist sicher erforderlich, daß die Kommunikation zur Handlung erklärt und als Handlung behandelbar ist; aber es gibt auch Kommunikationen, die gemeint und gehandelt zu haben man leugnen kann, vor allem indirekte und nonverbale Kommunikation. Was jeweils als Handlung zählt, ist demnach Resultat von Festlegungen, Ausfluß eines »negotiated order«, fast könnte man sagen: Verhandlungssache. Das System »retifiziert« sich selbst als Handlungssystem und kann auf dieser Grundlage Unendliches wie Endliches, Bewußtes als abgegrenzt, Geschehenes als irreversibel behandeln, ohne die Kontingenz leugnen zu müssen, die die Produktion und Reproduktion des Systems erst ermöglicht. Schließlich trägt all das zur Überführung des Unwahrscheinlichen in Normalität bei, was den Kommunikationsprozeß befähigt, sich auf Komplexität einzulassen - einerseits die Differenz von Sprachcode und Kommunika23
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25
18
2.u einer Theorie sozialer Systeme
tionsprozeß, andererseits die Differenz von Themen und Beiträgen zum Thema und schließlich die zeitliche Sequenzierung, die ein Schritt für Schritt erfolgendes Abarbeiten von Themen ermöglicht, ohne daß in jedem Moment wieder von vorne begonnen werden muß. Insbesondere das Instrument sprachlicher Kommunikation ist für Anlässe und Themen so weit offen, daß es in praktisch jeder Situation, die als doppelkontingent interpretiert wird, zum Prozessieren der anlaufenden Selektionen zur Verfügung steht.
IV
Die soeben skizzierten Analysen zum Thema »doppelte Kontingenz« und »Kommunikation« haben einen verdeckten Bezug zur Systemtheorie. Dieser Zusammenhang kann aber erst expliziert werden, wenn auch die Systemtheorie das angestrebte Auflösungsniveau erreicht. In der Analyse doppelter Kontingenz und kommunikativer Prozesse ist Systembildung bereits impliziert: Selektion ist nur als Systembildung und in unseren Zusammenhängen nur als selbstreferentielle Systembildung möglich. Alles selektive Geschehen wählt nämlich doppelt: einerseits das, was bevorzugt wird im Vergleich zu anderen Möglichkeiten, und zum anderen den Möglichkeitsbereich, aus dem gewählt wird, in Abwendung von dem, was für irrelevant gehalten wird. Man wählt, anders formuliert, immer im System auch das System mit seiner besonderen Umweltperspektive. Insofern konsumiert Kommunikation unter der Bedingung doppelter Kontingenz zwangsläufig soziale Systeme als Selektionszusammenhänge besonderer Art. Soziale Systeme sind aber nicht nur deshalb unwahrscheinlich und normal, weil sie durch Kommunikation unter der Bedingung doppelter Kontingenz gebildet werden. Sie sind es auch aus eigenem Recht. Besser gesagt: Es gibt auch innerhalb der Systemtheorie Tendenzen, den Theorie-
Xu einer Theorie sozialer Systeme
19
typ zu wechseln und Systeme nicht als imperfekte Perfektion, sondern als unwahrscheinliche Normalität aufzufassen. Diese Entwicklung geht von mehreren Quellen aus, die durch kleinere Stichgräben verbunden werden können. Ein Ausgangspunkt ist die sich vor allem in den Wissenschaften des organischen Lebens durchsetzende Einsicht, daß alle Systeme sich in Bezug auf eine Umwelt entwickeln und ihre Strukturen auf ihre Umwelt einstellen. Das bedeutet, daß Systeme nicht auf Gestalt, nicht auf ihre eigene schöne Perfektion hin interpretiert werden, sondern auf das Problem ihres Aufbaus und ihrer Erhaltung in einer Umwelt, die von sich aus diese Systembildung nicht betreibt. Ein anderer Ausgangspunkt hat teils kognitive, teils entscheidungstheoretische Quellen. Er besagt, daß Begriffsbildung stets dazu dient, die undurchschaubare hohe Komplexität der Realität zu vereinfachen und so aufzubereiten, daß systemeigene Prozesse anschließen können . Diesem mehr epistemologischen oder kognitionspsychologischen Ansatz entspricht in der Theorie des Entscheidens, oder allgemeiner: des problemlösenden Verhaltens die Vorstellung, daß selbst die Rationalitätskriterien auf Komplexität eingestellt werden und auf die begrenzten Fähigkeiten zur Informationsverarbeitung Rücksicht nehmen müssen . Beide Theorierichtungen, die systemtheoretische und die entscheidungstheoretische, formulieren ihren Gegenstand als »unwahrscheinlich und trotzdem . . . « . Beide bemühen sich um Normalisierung des Unwahrscheinlichen. Beide liegen parallel und lassen sich deshalb zusammenführen. Dies kann allerdings nicht in der schlichten Form der Gleichsetzung geschehen; nicht einfach dadurch, daß man Umwelt als komplex und das System als Reduktion ansieht. Dadurch würde man verkennen, daß die Theorie der Kognition und die Theorie des Entscheidens auf Prozeßebene formuliert sind und daß deshalb zusätzlich die Differenz von Struktur und Prozeß zu berücksichtigen ist. So richtig es ist, daß Systeme als strukturierte Ganzheiten Umwelt26
27
20
Zu einer Theorie sozialer Systeme
komplexität reduzieren, so sehr muß zusätzlich beachtet werden, daß dies durch den Aufbau systemeigener Komplexität geschieht, so daß für alle Prozesse im System so-
wohl externe als auch interne Komplexität zu reduzieren ist. Reduktion heißt dabei in beiden Fällen das Gleiche: Herstellung einer vereinfachten Version als Voraussetzung für die Anschlußfähigkeit weiterer Prozesse. Für Zwecke einer Grobdarstellung kann man deshalb formulieren: Systeme sind im Verhältnis zu ihrer Umwelt durch ein Komplexitätsgefälle ausgezeichnet. Sie können geringere Komplexität im Verhältnis zu höherer Komplexität aufbauen und erhalten, indem sie die Komplexitätsdifferenz intern kompensieren, nämlich durch abgestimmte Selektion von Strukturen und Prozessen ausgleichen. Daraus folgt, daß Systeme, die dank dieser Leistung existieren, in der Form basaler Selbstreferenz operieren. Sie können nicht Punkt-für-Punkt mit Umweltzuständen korrespondieren; sie erzeugen und verändern statt dessen eigene Zustände stets mit Bezug auf andere eigene Zustände und haben nur in der Form von Selbstkontakt Umweltkontakt . Genau dadurch entsteht die Notwendigkeit, in den Prozessen immer zugleich externe und interne Komplexität abzuarbeiten. Wie dies einerseits unwahrscheinlich, andererseits möglich und normal ist, das behandeln die Theorien der Konzeptformierung, der Kognition, der Entscheidungsprozesse, der Problemlösungsstrategien. Dies Konzept selbstreferentieller Systeme weist für den Bereich sozialer Systeme auf die Analyse von Kommunikation und doppelter Kontingenz zurück . Diese Begriffe explizieren basale Selbstreferenz auf der Ebene der Elemente und Relationen bzw. der elementaren Ereignisse und Prozesse eines Systems; sie machen deutlich, daß und wie jedes Ereignis im Kontext von doppelter Kontingenz und Kommunikation etwas über sich Hinausgehendes intendiert und dabei antezipieren muß, daß es selbst daraufhin befragt wird. Die traditionellen Konzepte der Selbstreferenz, der 28
29
Za einer Theorie sozialer Systeme21 Reflexivität, der Reflexion werden damit aus der Subjekttheorie in die Systemtheorie überführt, sie werden als Realitätsstrukturen behandelt, und Erkenntnis erscheint dann als einer der systemgebundenen Prozesse der Selbstabstraktion von Realität.
V
Kein Wunder, daß bei solchen Theorieentwicklungen die Epistemologie in ihr eigenes Objekt zurückverlagert wird. Das gilt für Ansätze zu einer biologischen Epistemologie , für evolutionstheoretische Rekonstruktionen der Strukturprobleme der Wissenschaftstheorie und nicht zuletzt für das Eindringen von wissens- und wissenschaftssoziologischen Perspektiven in die Behandlung von Theoriegeschichte und über Theoriegeschichte in die rationale Rekonstruktion von Wissenschaft schlechthin . Generell drückt sich das in der Einsicht aus, daß keine Erkenntnistheorie es vermeiden kann, den Gegenstand der Erkenntnis so zu definieren, daß sie selbst als einer ihrer Gegenstände wiederauftaucht - wie die Philosophie in der Philosophie Hegels . Daß dies schwierige Fragen der Logik aufwirft, ist bekannt und wird nicht übersehen . Aber es wäre eine blanke Illusion, diese realitätsimmanenten Probleme durch die einfache Unterscheidung von Subjekt und Objekt lösen zu wollen . Wie erkenntnistheoretische Fragen dieser Art im systemtheoretischen Kontext weiterbehandelt werden können, muß hier offen gelassen werden. Es gibt bisher eigentlich nur ein immer wieder verdrängtes und immer wieder aufbrechendes Problembewußtsein . Eine hinreichend systematische Behandlung würde die hier gegebenen Möglichkeiten sprengen. Statt dessen wählen wir unseren, eigenen Ausgangspunkt, die Unterscheidung zweier Theorietypen, und fragen nach ihm im Kontext des Realitätsbereichs der 30
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2» einer Theorie sozialer Systeme
Gesellschaft, in d e m er w i e d e r a u f t a u c h e n müßte. Wir versetzen, mit anderen W o r t e n , eine P r ä m i s s e unserer Überlegungen in ihren Gegenstand zurück
3 7
.
E m p i r i s c h fällt z u n ä c h s t auf, d a ß d a s I n t e r e s s e a n T h e o rien, die die U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t des
N o r m a l e n behaup-
ten, schubweise auftritt. In der Mitte d e s 1 7 . Jahrhunderts mit Descartes und H o b b e s u n d mit einer empirisch orientierten
Naturforschung,
die
mit
Infragestellung
o h n e sich deshalb im a n t i k e n S i n n e a l s Skepsis hen
3 8
;
sische
dann wieder um
1800,
Revolution
ausgerüstet
und
Transzendentalphilosophie; gleich
angeregt d u r c h die franzö-
und
wissenschaftsnäheren,
anfängt,
zu verste-
mit
Historismus
schließlich
radikaleren
in
und
einem
und zu-
theoretisch
z e r s p l i t t e r t e n S i n n e seit d e r M i t t e d e s 2 0 . J a h r h u n d e r t s . A l l e 1 5 0 J a h r e - das m a g Z u f a l l sein o d e r a u c h anzeigen, daß die Renormalisierung
von
Unwahrscheinlichkeitsbehauptun-
gen eine gewisse Zeit braucht. Inhaltlich spezifisch einen
ging
es
im
ersten
wissenschaftlicher
Weg
zwischen
Anlauf
darum,
Perspektiven
Dogmatismus
und
und
auf G r u n d Verfahren
Skeptizismus
hin-
durch zu finden. D e r Dogmatismus w a r unhaltbar geworden, weil er ungeprüfte H i n n a h m e semantischer Vorgaben forderte, insbesondere v o n Seiten der Religion. D e r Skeptizismus w a r unhaltbar g e w o r d e n , weil er die leere Selbstreferenz in der F o r m der universellen Negierbarkeit symbolis i e r t : d a s » i c h w e i ß , d a ß i c h n i c h t s w e i ß « . W e d e r die e i n e n o c h die andere Tradition k o n n t e f ü r eine sich verselbständigende Wissenschaft Theoriegrundlage werden, und insof e r n m u ß t e a u c h j e d e A u f f o r d e r u n g z u r O p t i o n i n d e r einen oder
anderen Richtung vermieden
werden.
Der Dog-
m a t i s m u s h ä t t e d e n n a u c h i m a r i s t o t e l i s c h e n K o n t e x t z u ein e r Theorie der Perfektion geführt, d e r Skeptizismus hätte d a s W i s s e n s e l b s t f ü r u n w a h r s c h e i n l i c h e r k l ä r t u n d sich d a mit
begnügt.
Von
keinen
Unwahrscheinlichkeit können.
des
dieser
Positionen
Normalen
aus
hätte
theoriefähig
die
werden
Z« einer Theorie sozialer Systeme
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Während das 17. Jahrhundert sich vor diesem Dilemma in die praktische Forschung rettet , stellt sich im 18. Jahrhundert schon die Aufgabe, deren Erfolge zu erklären. Damit verlagert das Unwahrscheinlichkeitsproblem sich in die nun entstehende Erkenntnistheorie. Das Problem der Skepsis wird verschoben: Aus einem Zweifel an der Wahrheit des Wissens wird der Zweifel, ob man je wissen könne, daß wahres Wissen wahr sei . So wird dies Problem wegabstrahiert. Statt dessen ergibt sich aus der Forschung das Problem der Kausalität, das Problem der Induktion, das Problem der Synthesis und im Anschluß hieran die Frage: Wie ist Erkenntnis in der Form synthetischer Urteile möglich? Die Wissenschaft beginnt sich mit den Konsequenzen ihres eigenen Auflösevermögens zu beschäftigen. Sie entwickelt Reflexionstheorien über sich selbst und führt in diesem Rahmen die Fragestellung »Wie ist ... möglich?« ein. Das leitet eine Phase der Disbalancierung ein, in der man die Bedingung der Möglichkeit von Gegenständen auf die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen zurückführt . Im Wissenschaftssystem selbst entwickeln sich im 19. Jahrhundert jedoch Disziplindifferenzierungen und in ihrem Gefolge ein immenses Anwachsen des Wissens, das seine Primärrechtfertigung in Anwendungen sucht. Das Beibehalten des Anspruchs auf Kontrolle durch Erkenntnistheorie wird eher zum Zeichen der Unterentwicklung eines Faches. Allgemeine Wissenschaftsprogramme werden eher von der Methodologie als von der Erkenntnistheorie aus vorgeschlagen: Man denke an Popper. Entsprechend tendiert man zur Rückverlagerung der strukturellen Vorbedingungen für Erkenntnis aus dem Subjekt in den Gegenstand: Herbart, Marx, Jhering, um nur einige zu nennen. Infolgedessen muß die Begrifflichkeit, mit der die Unwahrscheinlichkeit des Normalen behauptet werden kann, neu erarbeitet werden, und zwar gegen gleichzeitig wirksame massive Hilfs- und Heilungserwartungen der Gesellschaft. Es ist dies die Konstellation, von der wir aus39
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gegangen sind; die Lage, in der theoriespezifische Leistungen gefordert sind, die das Unwahrscheinliche des Normalen ins N o r m a l e vermitteln. Diese ganze Geschichte kann man mit Hilfe soziologischer Theorie nochmals erzählen u n d in ihrer inneren Konsequenz vielleicht besser verstehen. Sie erscheint dann als Geschichte (1) des U b e r g a n g s des Gesellschaftssystems von primär stratifikatorischer zu primär funktionaler Differ e n z i e r u n g u n d in diesem historischen Rahmen (2) als Geschichte der zunehmenden Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Die Ausdifferenzierung nimmt im Laufe der betrachteten Geschichtsepoche zu u n d reagiert zugleich auf ihre eigenen Konsequenzen. Sie hat es im 17. Jahrhundert zunächst mit der Konsolidierung von Ablösungsprozessen zu tun u n d verspricht dafür N u t z e n - als Relation (!) zu ihrer gesellschaftlichen U m w e l t . Sie reflektiert bei aller Fortführung der Nutzenperspektive im 18. Jahrhundert Erfolge u n d fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit sozusagen post factum: für etwas, w a s evidentermaßen möglich ist. Die Leitfigur wechselt von Bacon zu Newton. Auf Grund zureichender Konsolidierung der eigenen Systemautonomie entwickelt sich dann im 19. Jahrhundert die Disziplindifferenzierung als interne Differenzierung des Wissenschaftssystems . Von da ab mehren sich disziplinspezifische Probleme einerseits u n d mit ihnen Probleme der Interdisziplinarität; u n d andererseits Probleme, die daraus folgen, daß die gesellschaftlichen Auswirkungen, die sich aus der Ausdifferenzierung u n d der Autonomie der Wissenschaft ergeben, für die Wissenschaft selbst nicht mehr kontrollierbar u n d jedenfalls nicht mehr auf die einfache Formel des N u t z e n s zu bringen sind. In dieser U m s e t z u n g von funktionaler Spezifikation in systemstrukturelle Differenzierung liegen die Bedingungen der M ö g l i c h k e i t , Alltagserfahrungen von Normalität, die gesellschaftlich durchgängig verfügbar sind, für wissenschaftsspezifische Z w e c k e aufzulösen. N u r so ist der Zu42
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gang zu Theorieformen möglich, die d a v o n ausgehen, daß N o r m a l e s auf unwahrscheinliche W e i s e zustandegekommen ist. Bei geringer Ausdifferenzierung von Wissenschaft bleibt hierfür nur die Wahl einer Einstellung: Skepsis. Bei weitergetriebener Ausdifferenzierung e i n e s hinreichend komplexen Kommunikationszusammenhiangs für Wissenschaft k a n n daraus Forschung w e r d e n . Die hiermit angebotene Erklärung ist e i n d e u t i g selbstreferentiell konstruiert. Die Theorie der Gesellschaft als eines sozialen Systems, das im Laufe der Geschichte durch Evolution seine Differenzierungsform w e c h s e l t , ist ihrerseits eine Theorie des Typs, dessen Genese sie zu erklären sucht. Ist das s c h l i m m ? Selbstverständlich d a r f die Theorie nicht eine rein tautologische Fassung e r h a l t e n . Jede Selbstreferenz m u ß sich enttautologisieren. A b e r g e n a u das ist garantiert, w e n n man sie als S y s t e m - m i t - G e s c h i c h t e und als S y stem-in-einer-Umwelt versteht - als S y s t e m also, für das Interdependenzunterbrechungen u n d A s y m m e t r i s i e r u n g e n zu den Existenzbedingungen gehören. 44
Anmerkungen 1 Cicero, De legibus I, VIII, 25. 2 Dies Beispiel und eine ähnliche Fragestellung bei Axel Leijonhufvud, Schools, >Revolutions<, and Research Programmes in Economic Theory, in: Spiro J. Latsis (Hrsg.), Method and Appraisal in Economies, Cambridge Engl. 1976, S. 6 5 - 1 0 8 (87ff.). 3 Vgl. Méditations de la philosophie première, Méditation troisième, zit. nach: Œuvres et Lettres (éd de la Pléiade), Paris 1952, S. 297. 4 Vgl. Leviathan, Part I chap. 13, zitiert nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1953, S. 63 ff. 5 Siehe etwa im Anschluß an Kant die Frage, w i e Erziehung (unter der Bedingung von Freiheit) überhaupt möglich ist, bei Ritter, Kritik der Pädagogik zum Beweis der Nothwendigkeit einer all-
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Zu einer Theorie sozialer Systeme gemeinen Erziehungs-Wissenschaft,
Philosophisches Journal 8
(1798), S. 47-85, oder bei Karl Salomo Zachariae, Über die Erziehung des Menschengeschlechts durch den Staat, Leipzig 1802, S. 21 f., 66 ff. Einer der wenigen ernsthaften Versuche zu einer
der Frage entsprechenden Theorie ist Johann Jakob Wagner, Philosophie der Erziehungskunst, Leipzig 1803. Schleiermacher und Herbart führen dagegen das vorherrschende Theorieinteresse mit dem Hinweis auf die institutionelle Gegebenheit von Erziehung wieder auf den erstgenannten Theorietyp zurück, und das begründet ihren Erfolg in der Pädagogik.
6 Zu deren soziologischer Interpretation vgl. Niklas Luhmann, Der politische Code: »Konservativ« und »progressiv« in system-
theoretischer Sicht, in: [Soziologische Aufklärung 3], S. 267-286. 7 Hierzu wichtig Manfred Sommer, Die Selbsterhaltung der Vernunft, Stuttgart 1977. Vgl. auch Hans Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung: Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt 1976. 8 »Son récit ... défigure le fait«, wirft d'Alembert dem Docteur Bordeu v o r - im Rêve de d'Alembert, Diderot, Œuvres, (ed. de la Pléiade), Paris 1 9 5 1 , S. 961. 9 Auch dies übrigens bereits im 18. Jahrhundert, damals aber in einer bewußt subjektiven, hypothetischen, auf Erkenntnisentwürfe abzielenden Bedeutung.
10 Vgl. nur William Blackstone, Commentaries on the Laws of England Bd. 1, 1765, zitiert nach der Ausgabe London 1821, S. 127ff.; Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, zitiert nach der Ausgabe (ed. von Kirchmann) Leipzig 1870. 11 Siehe als erste Formulierung das »General Statement« in: Talcott
Parsons / Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge Mass. 1 9 5 1 , S. 1 3 - 2 9 (16). Vgl. auch Talcott
Parsons / Robert F. Bales I Edward A. Shils, Working Papers in the Theory of Action, Glencoe III. 1953, S. 35; Talcott Parsons, Interaction: Social Interaction, International Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 7, New York 1968, S. 4 2 9 - 4 4 1 (436f.).
12 Vgl. Anatol Rapoport / Albert R. Chammah, Prisonner's Dilemma: A Study in Conflict and Cooperation, Ann A r b o r 1965.
13 Vgl. z. B. Philotheus Boehner (Hrsg.), The Tractatus de praedestinatione et de praescientia Dei et de futuris contingentibus of
William Ockhara, St. Bonaventura N. Y. 1945; Celestino Solaguren, Contingencia y creación en la filosofía de Duns Escoto, Verdad y Vida 24 (1966), S. 5 5 - 1 0 0 .
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14 Vgl. Alhrecht Becker-Freyseng, Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus >contingens<: Eine Untersuchung über die Bedeutung von >contingere< bei Boethius und ihr Verhältnis zu den Aristotelischen Möglichkeitsbegriffen, Heidelberg 1938; Storrs McCall, Aristotle's Modal Syllogism, Amsterdam 1963,
insb. S. 66 ff.; Heinrich Schepers, Möglichkeit und Kontingenz: Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leibniz, Turin 1963. 15 Zur Kritik an Parsons unter diesem Gesichtspunkt Niklas Luhmann, Generalized Media and the Problem of Contingency, in: Jan J. Louhser et al. (Hrsg.), Explorations in General Theory in Social Science: Essays in Honor of Talcott Parsons, New York . 1976, Bd. 2, S. 507-532. 16 Vgl. eine entsprechende Interpretation v o n Entscheidungspro-
zessen bei Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, in:
[Soziologische Aufklärung 3], S. 335-389. 17 Daß wir »alles« sagen, heißt zugleich, daß Zufall als Grund für Bestimmung genügt. Im Hinblick darauf findet man oft einen dritten Sinn des Kontingenzbegriffs - nämlich Zufälligkeit. 18 Und auch darauf, ob es Zufall ist oder nicht, kommt es nicht an! 19 Diese Formulierung bei Matteo Peregrini, Difesa del savio in Corte, Macerata 1634, S. 250 - bezogen auf das Leben am Hofe, aber auch auf Freundschaft (soziale Beziehungen) generell.
20 Vgl. James L. Loomis, Communication, The Development of Trust and Cooperative Behavior, Human Relations 12 (1959), S. 3 0 5 - 3 1 5 ; Harvey Wichman, Effects of Isolation and Communication on Cooperation in a Two-Person Game, Journal of Personality and Social Psychology 16 (1970), S. 1 1 4 - 1 2 0 . 21 Aus dem Bereich der Forschung mit ähnlicher Problemstellung
vgl. etwa /. Y. Lettvin I H. R. Maturana / W. S. McCulloch I W. H. Pitts, What the Frog's Eye Tells the Frog's Brain, Proceedings of the Institute of Radio Engineers 47 (1959),
S. 1940-1951; John R. Piatt, The Step to Man, New York 1966; Donald M. MacKay, Freedom of Action in a Mechanistic Universe, Cambridge Engl. 1967; ders., Information, Mechanism and Meaning, Cambridge Mass. 1969; ders., Formal Analysis of Communicative Processes, in: Robert A. Hinde (Hrsg.), Nonverbal Communication, Cambridge Engl. 1972, S. 3 - 2 5 ; Peter
M. Hejl I Wolfram Köck / Gerhard Roth (Hrsg.), Wahrnehmung und Kommunikation, Frankfurt 1978. 22 A. a. O. (1967).
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23 Vgl. z. B. Edward E. Jones et al., Attribution: Perceiving the Causes of Behavior, New York 1971; E.Jerry Phares, Locus of
Control in Personality, Morristown N . J . 1 9 7 6 ; John H. Harvey et al. (Hrsg.), New Directions in Attribution Research, Hillsdale N. J. 1976. Zur Auswertung für den Handlungsbegriff vgl. auch
Niklas Luhmann, Erleben und Handeln, in: [Soziologische Aufklärung 3], S. 67-80. 24 Hierzu vgl. für Anwendung auf Politik Robert Axelrod (Hrsg.), Structure of Decision: The Cognitive Maps of Political Elites, Princeton N . J . 1976; für Anwendung auf Erziehung Niklas
Luhmann / Karl Eberhard Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979), S. 345-365. 25 Pask sagt: »conversation«. Siehe: A Conversation Theoretic A p -
proach to Social Systems, in: R. Felix Geyer I Johannes van der Xouwen (Hrsg.), Sociocybernetics Bd. 1, Leiden 1978, S. 1 5 - 2 6 mit weiteren Hinweisen.
26 Vgl. Jerome S. Bruner / Jacqueline Goodnow I George A. Austin, A Study of Thinking, New York 1956; O.J. Harvey / David E. Hunt I Harold M. Schroder, Conceptual Systems and Personality Organization, New York 1961. Siehe auch Egon Brunswik, Representative Design and Probalitistic T h e o r y in a Functional Psychology, Psychological Review 62 ( 1 9 5 5 ) , S. 1 9 3 - 2 1 7 . 27 So insbesondere die Kritik des Prinzips d e r optimalen Entscheidung durch Herbert A. Simon, Models of Man, Social and Rational: Mathematical Essays on Rational Human Behavior in a Social Sewing, N e w York 1957. Vgl. auch Maynard W. Shelly / Glenn L. Bryan (Hrsg.), Human Judgments and Optimality,
New York 1964; Walter R. Reitman, Cognition and Thought: A n Information-processing Approach, Ne-w York 1965; Herbert A. Simon, The Sciences of the Artifical, Cambridge Mass. 1969. Siehe ferner Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Tübingen 1968, Neudruck Frankfurt 1 9 7 3 . 28 Siehe für biologische Systeme Humberto R. Maturana, Neurophysiology of Cognition, in: Paul Garvin (Hrsg.), Cognition: A
Multiple View, New York 1970, S. 3-23; Heinz von Foerster, Notes pour une epistemologie des objets vivants, in: Edgar Mo-
rin I Massimo Piatelli-Palmarini (Hrsg.), L'Unite de l'homme, Paris 1974, S. 4 0 1 - 4 1 7 . 29 Man spricht in diesem Zusammenhang auch von »mutualistischer« oder von »dialogischer« Systemkonstitution. Vgl. Stein
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Braten, Systems Research and Social Sciences, in: George J. Klir (Hrsg.), Applied General Systems Research: Recent Developments and Trends, New York 1978, S. 6 5 5 - 6 8 5 (658 f.). 30 Vgl. die Hinweise oben Anm. 28.
31 Vgl. Donald T. Campbell, Evolutionary Epistemology, in: Paul Arthur Schupp (Hrsg.), The Philosophy of Karl Popper, La Salle III. 1974, Bd. I, S. 4 1 2 - 4 6 3 mit dem Vorschlag, Evolutionstheorie dort einzusetzen, wo klassisch das Induktionsproblem und das Gebot der Vermeidung von Selbstreferenz gestanden hatte. 32 Siehe an Hand eines besonderen Falles Niklas Luhmann, Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie, in: [Soziologische Auf-
klärung 3], S. 1 0 1 - 1 2 5 . 33 Etwa bei der denkenden Betrachtung der Majestät des Monarchen. Grundlinien der Philosophie des Rechts § 2 8 1 . Die Philosophie sieht sich selbst an dieser Stelle vor, da sie nur in bezug auf sich selbst das Vertrauen haben kann, daß dieser »schwerste Begriff für das Räsonnement« (§ 279) ihr nicht zu schwer werde.
34 Vgl. etwa Francisco J. Varela, A Calculus for self-reference, International Journal of General Systems 2 (1975), S. 5-24. 35 Hierzu eingehend Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bde. Hamburg 1976-1980. 36 Siehe etwa auf den v o n Alfred Korzybski gelegten Grundlagen Robert P. Pula, General Semantics as a General System which Explicitly Includes the System Maker, in: Donald E. Washburn I Dennis R. Smith (Hrsg.), Coping with Increasing Complexity: Implications of General Semantics and General Systems Theory, New York 1974, S. 6 9 - 8 1 .
37 Vgl. dazu den Begriff des »reentry« bei George Spencer Brown, Laws of Form, London 1969, Neudruck 1 9 7 1 , S. 69ff.
38 Vgl. zu letzterem Richard H. Popkin, The History of Scepticism from Erasmus to Descartes, 2. Aufl. New York 1964; Henry G. van Leeuwen, The Problem of Certainty in English Thought 1 6 3 0 - 1 6 9 0 , Den Haag 1970.
39 Vgl. programmatisch Joseph Glanvill, The Vanity of Dogmatizing (Eine Erstfassung hieß »Scepsis Scientifica«), London 1661; zitiert nach dem Nachdruck der drei Fassungen Hove, Sussex 1970. Bemerkenswert ist v o r allem, daß weder Descartes noch Hobbes die eigentliche Wissenschaftsbewegung beeinflussen. Oberflächlich gesehen war dies motiviert durch die Ablehnung von »Me-
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Zu einer Theorie sozialer Systeme taphysik« und von »Materialismus«. A b e r semantische Aversionen dieser A r t sind selbst erklärungsbedürftig. Sie hängen vermutlich damit zusammen, daß die Unwahrscheinlichkeitsbehauptungen sich weder auf hinreichende Operationalisierungen, noch auf ein bereits konsolidiertes Wisserischaftsvertrauen stützen konnten und deshalb als unbrauchbar erschienen.
40 Vgl. Pierre Daniel Huet, Traité Philosophique de la Foiblesse de l'esprit humain, Amsterdam 1723, Nachdruck Hildesheim 1974, insb. S. 180. 41 Typisch die oben Anm. 5 angeführte Literatur: Die Frage nach der Möglichkeit von Erziehung wird gleichgesetzt mit der Frage nach der Möglichkeit der Erziehungswissenschaft. 42 Hierzu näher: Niklas Luhmann, Differentiation of Society, Canadian Journal of Sociology2 (1977), S. 29-53; ders., G e sellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt Bd. 1, 1980, Bd. 2, 1981. 43 Zu den damit verbundenen begrifflich-theoretischen Problemen
vgl. Rudolf Stichweh, Differenzierung d e r Wissenschaft, Zeitschrift für Soziologie 8 (1979), S. 8 2 - 1 0 1 . 44 Einwände der Logik liegen auf der Hand; aber sie können an die Logik selbst zurückgegeben werden, die sich in der gleichen Situation findet. Die traditionelle Gleichschaltung des binären logischen Schematismus mit der ontologischen Metaphysik hatte für Erkenntnis sozusagen einen Fluchtpunkt bereitgehalten: das Subjekt, für das Negation trotz Identität möglich und Widerspruchsvermeidung geboten war. Vgl. die Rekonstruktion dieses
Zusammenhanges bei Gotthard Günther, Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion, Archiv für Philosophie 7 (1957),
S. 1-44, neu gedruckt in Günther a. a. O. Bd. 1, 1976, S. 31 ff. Aber das unter axiomatischen Geboten operierende Subjekt ist keine adäquate Repräsentation ausdifferenzierter Wissenschaft schon deshalb nicht, weil Wissenschaft ihrerseits als soziales Kommunikationssystem »mutualistisch« o d e r »dialogisch« konstituiert ist. Die Aüsdifferenzierung eines Sozialsystems für Wissenschaft hat die Logik von der Ontologie abgelöst und sie mit ihrer eigenen Selbstreferenz konfrontiert. Das mag über kurz oder lang auch ihr ein Systembewußtsein aufzwingen, mit dem sie in sich selbst das wiedererkennt, was sie in ihren Gegenständen ausschließen wollte.
Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien
I Seit dem 19. Jahrhundert stützen A r b e i t e n an einer Gesellschaftstheorie sich auf zwei F u n d a m e n t e : auf Annahmen über Systembildung u n d Systemdifferenzierung und auf A n n a h m e n über Evolution. Diese Doppelfundierung ermöglicht Polemiken und R e l a t i o n i e r u n g e n . Sie ermöglicht es, den Bestand u n d die Bedeutung einer gefestigten Ordnung als unentbehrlichen A u s g a n g s p u n k t jeder wissenschaftlichen A n a l y s e (auch und gerade v o n Veränderungen) zu behaupten u n d andererseits eine Ü b e r t r e i b u n g systemu n d strukturtheoretischer O r d n u n g s b e h a u p t u n g e n im Hinblick auf den sozialen Wandel z u r ü c k z u w e i s e n . In polemischer Perspektive kann dann die eigene Position mit einer Z u r ü c k w e i s u n g der Übertreibung der Gegenposition begründet werden. Daß diese A r g u m e n t a t i o n s t e c h n i k nicht längst ermüdet hat, liegt an den M ö g l i c h k e i t e n der Relationierung, die jene dichotomische S t r u k t u r eröffnet. Man k a n n Thesen über Systembildung u n d T h e s e n über Evolution getrennt formulieren u n d sie sodann z u e i n a n d e r in B e z i e h u n g setzen. So heißt es etwa bei Klassikern der Soziologie, daß Evolution mit Hilfe der Darwinschen Mechanism e n die Komplexität des Gesellschaftssystems steigere; oder daß Evolution zu zunehmender Systemdifferenzierung u n d z u r Umstellung von s e g m e n t ä r e r auf funktionale Differenzierung führe; oder daß Kvolution soziale Differenzierung als Schichtengegensatz aufbaue, verstärke, vereinfache u n d schließlich aufhebe. D i e Erkenntnisgew i n n e stecken hier in Aussagen über Relationen, sie werden
32 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien durch Techniken der Relationierung u n a b h ä n g i g formulierter Sachverhalte hereingeholt. Eine solche Perspektive u n d M e t h o d i k unterscheidet sich prinzipiell von der alteuropäischen Gesellschaftsphilosophie, die bestimmte normative u n d moralische Annahmen, die auch den Forscher binden, in A u s s a g e n über die Natur des Menschen u n d der menschlichen Gesellschaft eingebaut hatte u n d die menschlichen u n d gesellschaftlichen Verhältnisse im Hinblick auf ihre Perfektion/Korruption beurteilte. Demgegenüber distanziert die neuartige soziologische Relationierungstechnik den Forscher s t ä r k e r von seinem Gegenstand u n d unterstellt diesem h ö h e r e Kontingenz. Die Erkenntnis steckt dann nicht mehr im Herausdestillieren u n d Nachvollziehen des natürlichen Ethos gesellschaftlichen Zusammenlebens; sie ist nicht m e h r durch die Notwendigkeit dieses Ethos gedeckt. S o n d e r n sie setzt in den Annahmen über S y s t e m b i l d u n g u n d ü b e r Evolution Kontingenz voraus u n d begründet ihren Erkenntnisgewinn darauf, daß Kontingentes nicht beliebig kombiniert werden kann, also Relationierungen K o n t i n g e n z verringern . M a n kann die Kühnheit dieser Erkenntnistechnik und den Grad ihrer Ausdifferenzierung aus lebensweltlich-moralischen Bindungen b e w u n d e r n u n d sich doch fragen, ob sie an jene relativ einfache A u s g a n g s d i c h o t o m i e von System u n d Evolution gebunden ist oder ob s i e , in ihrem Prinzip einmal erkannt, in k o m p l e x e r e u n d d a m i t sachadäquatere Gesellschaftstheorien überführt w e r d e n kann. Eine immanente Kritik jener älteren Konzeptionen ist hier nicht möglich; aber es fällt auf, daß sie vor allem den Bereichen Kommunikation, Motivation, Rationalitätskriterien, Kultur und Geschichte nie voll gerecht g e w o r d e n sind u n d daher immer einen S c h w ä r m von Kontrasttheorien neben sich hatten, sei es auf mehr ökonomisch-utilitaristischer, sei es auf mehr kulturhistorischer u n d n e u e r d i n g s wieder auf moralisch-politischer Grundlage. Diese Beobachtung stimuliert nun die Frage, ob es nicht möglich sei, zu einer begriffsrei1
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
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cheren u n d damit sachadäquateren Gesellschaftstheorie zu k o m m e n . Die Desideratenliste Kommtxnikation/Motivation/Rationalität/Kultur/Geschichte gibt d a f ü r einen ersten Hinweis. N i m m t man ihn auf, dann bietet sich d e r Versuch an, mit Hilfe vorhandener Ansätze zu einer T h e o r i e symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien d e r Gesellschaftstheorie ein drittes Fundament zu geben. N e b e n dem primär sachlichen Aspekt der Systemdifferenzierung nach unterschiedlichen Funktionen und dem primär zeitlichen Aspekt der Evolution k ä m e dann in der S o z i o l o g i e auch der spezifisch soziale Aspekt menschlicher B e z i e h u n g e n gleichrangig zur Geltung, nämlich die Frage, w i e m e h r e r e seligierende Systeme sich zueinander in Beziehung setzen.
II A l s erster hat Talcott Parsons auf G r u n d ä l t e r e r Vorstellungen namentlich zur Analogie von Geld u n d sprachlich vermittelter Kommunikationen (Simmel 1 9 2 0 ; Burke 1962: 108 ff. u n d passim; Mead 1934: 292) d a s Konzept einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien entwickelt . Parsons geht davon aus, daß bei evolutionär zunehmender Systemdifferenzierung die kontingenten Beziehungen wechselseitiger A b h ä n g i g k e i t zwischen den Teilsystemen und die daraus folgenden Prozesse (interchanges) nicht mehr die Form eines ad h o c Tausches (barter) von Bedürfnisbefriedigung gegen Bedürfnisbefriedigung annehmen können. Vielmehr m u ß j e d e s System seine Einzelbeziehungen zu einem anderen S y s t e m nach Maßgabe generalisierter Bedingungen der Kompatibilität mit den übrigen Zwischensystembeziehungen s t e u e r n können. Die Vielzahl der Außenbeziehungen, die bei Systemdifferenzierung anfallen, m u ß daher durch s y m b o l i s c h generalisierte »Tauschmedien« w i e z u m Beispiel Geld vermittelt werden. 2
34 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Jedes Teilsystem m u ß dann im Verhältnis zu anderen sow o h l auf der Basis konkreter Direktbefriedigungen als auch auf einer symbolisch generalisierten Ebene komplementäre Erwartungen bilden und mit anderen verkehren können (double interchanges). Solche Tauschmedien werden im Laufe der Evolution als Spezialsprachen für bestimmte A r ten von Zwischensystembeziehungen ausgebildet. Sie entwickeln sich also in bezug auf Folgeprobleme funktionaler Differenzierung. Innerhalb der Einzelsysteme kommt es dann zur Institutionalisierung medienspezifischer Kriterien (coordination standards, z u m Beispiel Zahlungsfähigkeit), die als Ersatzindikatoren das Bestandsproblem operationalisieren. Diese Konzeption soll hier nicht » i m m a n e n t kritisiert«, sondern verallgemeinert, das heißt gezielt weiterentwickelt werden. Dazu dienen uns folgende Anknüpfungspunkte: (1) Parsons sieht: Systemdifferenzierung erzeugt kontingente Beziehungen zwischen Teilsystemen. Kontingenz bedeutet bei dieser Ableitung aber nur: »Abhängigkeit von . . . « . Diese Fassung des Kontingenzbegriffs können w i r erweitern durch Rückgriff auf den allgemeinen modaltheoretischen Begriff der Kontingenz, der das »Auch-andersmöglich-Sein« des Seienden bezeichnet und durch Negation von U n m ö g l i c h k e i t u n d N o t w e n d i g k e i t definiert w e r den kann . Kontingenz in diesem Sinne entsteht dadurch, daß Systeme auch andere Zustände annehmen können, und sie w i r d zur doppelten Kontingenz, sobald Systeme die Selektion eigener Zustände darauf abstellen, daß andere Systeme kontingent sind. (2) Die Begrenzung auf Tauschbeziehungen bzw. wechselseitige Bedürfnisbefriedigung (gratification) kann aufgegeben werden, i n d e m man das Bezugsproblem erweitert auf Kommunikation schlechthin. M a n w i r d dann nicht mehr von Tauschmedien, sondern von Kommunikationsmedien sprechen. K o m m u n i k a t i o n setzt Kontingenz voraus u n d besteht in der Information über kontingente Selektion 3
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 35 von Systemzuständen (MacKay 1969). D a m i t w i r d das Problem abstrahiert, auf das K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n sich beziehen: Es geht nicht notwendig um Erreichen der vollen Reziprozität , sondern um Sicherstellung der erfolgreichen A b n a h m e v o n Kommunikationen. (3) Bei einer Fassung des Kontingenzbegriffs als Abhängigkeit wechselseitiger Bedürfnisbefriedigung u n d bei Anschluß an eine Gesellschaftstheorie, die v o m Problem Differenzierung/Integration ausgeht, stellt s i c h für Parsons das Grundproblem der Systemerhaltung in d e r F o r m der symbolischen Generalisierung übergreifender Werte, die die Komplementarität u n d die wechselseitige A n e r k e n n u n g der Erwartungen sichern. Grundform s y m b o l i s c h e r Generalisierung mit dieser Funktion ist für ihn die Sprache. Symbolisch generalisierte Tauschmedien sind f ü r ihn daher Sonderformen der Sprache. Der S c h w e r p u n k t der A n a l y s e liegt damit in der Vermittlung zweier Ebenen: e i n e s allgemeinen, gesellschaftlich integrierten Vorverständigtseins u n d konkreter, auf Befriedigung von Bedürfnissen abzielender individueller Transaktionen (entsprechend d e r linguistischen Unterscheidung von code u n d message). Das Problem der Motivation z u r A n n a h m e selektiver R e d u k t i o n e n wird ins Psychologische verschoben u n d mit den K o n z e p t e n Internaiisierung u n d Sozialisation gelöst . Es bleibt ungeklärt, ob u n d w i e die Kontingenz individuellen Handelns in der Struktur sozialer Systeme abgebildet u n d verstärkt werden k a n n ; sie k o m m t , w e n n man von der n e u e r e n philosophischen Tradition her interpretiert, als Zufall und nicht als Freiheit in Betracht (Ritsert 1966 u n d 1968). Diese Beschränkung suchen w i r dadurch zu ü b e r w i n d e n , daß w i r C o d e s nicht als Werte oder als S y m b o l r e i h e n schlechthin ansehen, sondern mit einer spezifischen Abstraktion als Disjunktionen: als » J a oder N e i n « , » H a b e n oder Nichthab e n « , »Wahrheit oder U n w a h r h e i t « , » R e c h t oder Unrecht«, »Schönheit oder H ä ß l i c h k e i t « . (4) Die hier vorgeschlagenen A b s t r a k t i o n e n haben be4
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Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
griffstechnisch das Ziel, die Theorie d e r Kommunikations medien aus einer zu starken Fixierung an Folgeprobleme der evolutionären Differenzierung herauszulösen und sie gegenüber Evolutionstheorie u n d Systemtheorie zu verselbständigen. Damit gewinnt man ein offeneres Konzept, von d e m aus man Beziehungen z w i s c h e n Systembildung, Evolution u n d Medien-Funktionen auf der Ebene des Gesellschaftssystems neu überlegen kann. Andererseits muß man verzichten auf das für Parsons w i c h t i g e Ziel, die A u s sagen über Kommunikationsmedien a u s einer allgemeineren Systemtheorie theoretisch abzuleiten.
III K o m m u n i k a t i o n setzt Nichtidentität d e r an ihr Beteiligten v o r a u s , daher auch Differenz der Perspektiven u n d daher auch U n m ö g l i c h k e i t vollkommener K o n g r u e n z des Erlebens. Diese Grundlage aller K o m m u n i k a t i o n w i r d in der sprachlichen K o m m u n i k a t i o n strukturell akzeptiert u n d durch Bereitstellung von Negationsmöglichkeiten berücksichtigt . Durch ihr Negationspotential übernimmt die Sprache die F u n k t i o n einer Duplikationsregel, indem sie für alle vorhandenen Informationen z w e i Fassungen zur Verfügung stellt: eine positive u n d eine negative. Strukturen mit dieser Funktion einer Duplikationsregel w o l l e n wir (in A n l e h n u n g an biogenetische, nicht an linguistische Konzepte) Codes nennen. Ü b e r C o d e s erreichen Systeme eine U m v e r t e i l u n g von Häufigkeiten u n d Wahrscheinlichkeiten im Vergleich zu dem, w a s an Materialien oder Informationen aus der U m w e l t anfällt. Ob k o m m u n i k a t i v bejaht oder verneint w i r d , hängt dann nicht mehr direkt von Vork o m m n i s s e n in der U m w e l t , sondern v o n intern steuerbaren Prozessen der Selektion ab. Andererseits wächst mit diesem Prinzip k o m m u n i k a t i v e r Ausdifferenzierung ein internes R i s i k o - das R i s i k o des Abreißens v o n Selektions7
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Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 37 zusammenhängen. Kommunikation, und e r s t recht sprachliche Kommunikation, bewirkt zunächst nur das Ankomm e n einer Information, das (wie immer g r o b e und unzureichende) Verstehen ihres Sinnes, nicht a b e r damit zugleich auch die Ü b e r n a h m e der Selektion als P r ä m i s s e weiteren Erlebens u n d Handelns. Durch K o m m u n i k a t i o n erreicht m a n daher zunächst nur eine Ü b e r t r a g u n g von Selektionsofferten. Die Sicherstellung des k o m m u n i k a t i v e n Erfolgs, die w i r k s a m e Ü b e r t r a g u n g der Selektion s e l b s t in anschließendes Erleben und Handeln hängt von weiteren Voraussetzungen ab. Die durch Sprache gesteigerte Kontingenz erfordert Zusatzeinrichtungen in der F o r m weiterer symbolischer C o d e s , die die w i r k s a m e Ü b e r t r a g u n g reduzierter Komplexität steuern. In älteren Gesellschaftsformationen archaischen Typs lagen diese Funktionen teils bei der S p r a c h e selbst, teils bei den unmittelbaren Verhaltenskontrollen d e r Interaktionssysteme unter Anwesenden. Sie w u r d e n d u r c h einen relativ geringen Alternativen-Spielraum und d u r c h relativ konkrete »Realitätskonstruktionen« mit g e r i n g e m Auflösungsvermögen abgesichert. Erst die Erfindung d e r Schrift hat neuartige Problemlösungen erzwungen u n d auf spätarchaischen Grundlagen (vor allem im Bereich v o n Eigentum und M a c h t ) zur Entwicklung besonderer M e d i e n - C o d e s geführt (Goody u n d Watt 1963; Goody 1 9 7 3 ) . Schrift ist nämlich eine Z w e i t - C o d i e r u n g der Sprache, die diese mitsamt ihrem J a / N e i n - S c h e m a t i s m u s in einem anderen Zeichensystem nochmals d u p l i z i e r t und für Verw e n d u n g außerhalb von Interaktionskontexten zur Verfügung hält. Damit werden Gesellschaftssystem und Interaktionssysteme stärker differenzierbar, es k o m m t zu einer immensen Erweiterung des Kommunikationspotentials in räumlicher u n d zeitlicher Hinsicht, zu neuartigen Äquivalenten für Gedächtnis, und entsprechend verlieren die M ö g l i c h k e i t e n interaktioneller M o t i v s u g g e s t i o n und -kontrolle auf der Ebene des Gesellschaftssystems an Bedeu9
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tung. Die Negationspotentiale der Kommunikationsprozesse können nun nicht mehr so u n m i t t e l b a r w i e zuvor »sozialisiert« werden. Die Gründe f ü r die Annahme von Selektionsofferten müssen auf a b s t r a k t e r e r Basis rekonstruiert w e r d e n , sie müssen auf K o m m u n i k a t i o n mit Unbekannten eingestellt sein und die V e r q u i c k u n g mit einem archaischen Ethos der Sozialbindung u n t e r Nahestehenden abstreifen. Das ist der historische A u s g a n g s p u n k t für die Ausdifferenzierung besonderer s y m b o l i s c h generalisierter Kommunikationsmedien. Eine genetische Konstellation, ein A u s l ö s e - A n l a ß fixiert natürlich nicht schon den gesamten Funktionskontext der evolutionären Errungenschaft. A u s A n l a ß von Schrift entstehende Kommunikationsmedien s i n d nicht auf schriftliche Kommunikation beschränkt, sie m ü s s e n auch interaktionsfähig sein und bleiben. Geld z u m Beispiel wird ausgemünzt, Wahrheit im Dialog vertreten, und selbst der Machthaber m u ß gelegentlich seine P r ä s e n z als Kontrollmittel einsetzen. Aber die Kompatibilität mit Schrift steigert die durch M e d i e n - C o d e s r e g u l i e r b a r e Kontingenz, die noch übergreifbaren Situations- und Selektionsverschiedenheiten. Die mit Erwartungsbildung verträglichen Negations- und Unsicherheitspotentiale k ö n n e n gesteigert w e r den, w e n n etwa Wahrheit logisch s t r u k t u r i e r t oder Recht so in Geltung gesetzt werden kann, d a ß rechtmäßiges Verhalten Unrechttun ausschließt. Der immensen Erweiterung des k o m m u n i k a t i v e n Potentials für Konsens und für Dissens entspricht eine neue Präg n a n z der Funktion. In den w e n i g e n Jahrhunderten nach der gesellschaftsweiten Verbreitung d e r Schrift in der griechischen Stadt entstehen für alle Kulturbereiche (zunächst mit A u s n a h m e der Religion) n e u a r t i g e Kunst-Terminologien, Begriffsschöpfungen, z u m Teil durch Substantivierungen (philia, aletheia), z u m Teil d u r c h Aufwertungen (nomos), z u m Teil durch Abschleifungen und Vereinheitlichungen (Herrscher-Bezeichnungen) - siehe Dirlmeier
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 39 1931; Beardsley 1918 (für n o m o s ) ; Ostwald 1969; Stegmann von Pritzwald 1930. Damit w e r d e n C o d e - P r o b l e m e thematisierbar, e t w a solche der binären Struktur des Logik-Codes der Wahrheit im A n s c h l u ß an Parmenides oder solche der rechtlichen Codierung politischer Macht im Anschluß an die Sophisten, u n d Nichtnegierbarkeiten w e r d e n problematisierbar. Im Anschluß daran nehmen das Denken in Perfektionsvorstellungen und das Fragen nach Begründungen ihren Lauf. Die Funktion solcher Codes w i r d jedoch nicht mitreflektiert.
IV Die allgemeine Funktion generalisierter Kommunikations medien, reduzierte Komplexität übertragbar zu machen u n d für Anschlußselektivität auch in hochkontingenten S i tuationen zu sorgen, gehört zu den Grundvoraussetzungen des Aufbaus komplexer Gesellschaftssysteme. Ohne sie könnte die Kontingenz des Erlebens u n d Handelns nicht nennenswert gesteigert w e r d e n . Die am S y s t e m Beteiligten w ü r d e n sich auseinanderseligieren, w ä r e nicht gewährleistet, daß der eine die Selektionen des anderen als Prämissen eigenen Verhaltens übernimmt. N u r u n t e r diesen beiden Voraussetzungen hoher Kontingenz der Selektionen und ausreichender Nichtbeliebigkeit in den Relationen zwischen ihnen können komplexe Systeme entstehen, die strukturell offen lassen u n d doch synchronisieren können, w i e man sich im einzelnen verhält. J e d e Theorie der Kommunikationsmedien hat demnach davon auszugehen, daß nichtidentische Selektionsperspektiven vorliegen u n d selektiv zu verknüpfen sind. Selbst Wahrheit, selbst M a c h t reguliert eine kontingente Selektion beider Kommunikationspartner. H i n z u kommt, daß beide Partner sich wechselseitig als selektiv erlebend u n d handelnd erfahren u n d dies bei eigenen Selektionen in Rech-
40 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien nung stellen können. Geschieht dies, so w i r d der Selektionsprozeß reflexiv. D i e Kettenbildung k a n n antizipiert und z u m Selektionsmotiv gemacht werden: M a n stellt zum Beispiel Informationen mit W a h r h e i t s w e r t (Unwahrheitswert) für das Erleben anderer bereit; oder m a n seligiert das H a n deln anderer. Solches Durchgreifen d u r c h Selektionsketten kann in M ä r k t e n u n d in Bürokratien z u r Routinesache, in Liebesangelegenheiten z u r Sache sensibilisierter Erfahrung werden; immer setzt es einen C o d e v o r a u s , der die Selektionstypik hinreichend spezifiziert u n d d i e Kommunikation auf artgleicher Bahn hält. W i e aber k o m m t es zur Differenzierung u n d Spezifikation solcher M e d i e n - C o d e s ? Warum gibt es nur eine Sprache (eine Übersetzungsgemeinschaft der Umgangssprachen), aber eine M e h r z a h l von Kommunikationsmedien? Für Parsons ergibt sich die A n t w o r t auf diese Frage im Anschluß an sein Vier-Funktionen-Schema direkt aus der funktionalen Systemdifferenzierung. Es muß und kann nach der A r c h i t e k t o n i k dieses A n s a t z e s pro Systemebene nur vier M e d i e n geben, für soziale S y s t e m e z u m Beispiel nur Geld, Macht, Einfluß u n d Wert-Engagements. Unsere Abstraktion des Bezugsproblems e r z w i n g t eine andere Antwort. Wenn das B e z u g s p r o b l e m in der Kontingenzsteigerung liegt, die in der Ausdifferenzierung von Kommunikationsmedien einerseits vorausgesetzt, andererseits weitergeführt w i r d , ist anzunehmen, daß die Differenzierung der Medien durch Folgeprobleme solcher Kontingenzsteigerungen ausgelöst w i r d . Das zentrale Folgeproblem von Kontingenzsteigerungen besteht aber in d e r Notwendigkeit der Zurechnung v o n Selektionsleistungen. In dem Maße als (und in den Themenbereichen, in denen) Kontingenz zunimmt, w i r d es n o t w e n d i g , Selektionsleistungen zu verorten; man muß z u m i n d e s t Adressen u n d Einwirkungspunkte ausfindig machen können, w e n n schon nicht feststeht, w a s geschehen ist oder w i r d . Natürlich sind an allem Geschehen immer System und
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 41 U m w e l t kausal beteiligt. A l l e Zurechnung läuft auf ein künstliches Zurechtstutzen von Kausalannahmen hinaus u n d ist insofern konventionell, das heißt selbst kontingent. Sie kann durch R e d u k t i o n kausaler Komplexität Zurechn u n g s s c h w e r p u n k t e wählen, u n d dies in zweifachem Sinne: im (eigenen bzw. fremden) System oder in der (eigenen bzw. fremden) U m w e l t . U m Kurzbezeichnungen verfügbar zu haben, sollen Selektionsprozesse, die in diesem Sinne auf Systeme zugerechnet werden, Handeln genannt werden u n d Selektionsprozesse, die auf U m w e l t e n zugerechnet werden, Erleben . N i m m t man hinzu, daß mediengesteuerte Selektionsübertragungen asymmetrisch verlaufen u n d daß mindestens z w e i Partner, Alter als Sender u n d Ego als Empfänger, beteiligt sind, dann ergeben sich vier Grundkonstellationen, die die Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter M e d i e n - C o d e s in sehr unterschiedliche Richtungen steuern. Der Übersicht-halber seien diese Konstellationen mitsamt den zugeordneten M e d i e n nochmals in der Form einer Kreuztabelle zusammengestellt. 10
Egos Erleben
Egos Handeln
Alters Erleben
Ae^>Ee (Wahrheit/ Wertbeziehungen)
Ae-^Eh (Liebe)
Alters Handeln
Ah-» E (Eigentum/Geld/ Kunst)
Ah-^E (Macht/Recht)
e
h
Die Ü b e r t r a g u n g von Selektionen mit d e m ' S t a t u s bloßen Erlebens in solche mit d e m gleichen Status stellt völlig andere Anforderungen an einen Code, als wenn es um H a n d l u n g s k e t t e n geht, w e n n also Alter durch eigenes H a n d e l n ein H a n d e l n Egos auswählt. A u c h die Misch-
42 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien formen unterscheiden sich beträchtlich je nach dem Zurechnungsmodus. Wenn Ego den Erlebenshorizont A l ters durch sein H a n d e l n honorieren soll, stellt das ganz andere Probleme, als w e n n für ihn ein H a n d e l n Alters bloßes Erleben zu bleiben hat, o b w o h l Alter kontingent seligiert. So gewichtige Unterschiede können in komplexeren, hochkontingenten Gesellschaften nicht mehr durch einheitliche Realitätskonstruktionen überbrückt w e r d e n . Erst bei hinreichender Spezifikation von Zurechnungskonstellationen w i r d jene spezifische Leistung der Kommunikationsmedien möglich: durch die A r t der Selektion zur Annahme zu motivieren. Die aus der Differenzierung von Zurechnungsweisen folgende Konstellationstypik k a n n nun (unter angebbaren evolutionären Voraussetzungen) benutzt werden, um das zu erreichen, w a s M e d i e n - C o d e s von der Sprache im allgemeinen unterscheidet, nämlich Präferenzen zu codieren. M e d i e n - C o d e s sind Präferenz-Codes. Ihre Duplikationsregel beruht auf der Wert/Unwert-Dichotomisierung von Präferenzen. Sie konfrontiert Vorkommnisse, Fakten, Informationen mit der Möglichkeit, Wert oder U n w e r t zu sein, z u m Beispiel w a h r oder unwahr, stark oder schwach, recht oder unrecht, schön oder häßlich. Daraus entstehen ein spezifizierter Selektionsdruck und im Gegenzug dazu Anforderungen an das Religionssystem, die Einheit solcher Disjunktionen plausibel zu machen, namentlich in der Form von T h e o d i z e e n " . Zur Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien k o m m t es i m mer dann, w e n n eine solche C o d i e r u n g von Präferenzen sich einbauen läßt in eine spezifizierte Zurechnungskonstellation und sich damit verwenden läßt zur Regelung von Sonderproblemen u n d z u m Aufbau funktionsspezifischer Sozialsysteme. Angesichts von Einwänden gegen diesen hochabstrakten Theorieansatz sind, bevor w i r auf einzelne Medien eingehen, noch einige Klarstellungen erforderlich. 12
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 43 Vor allem ist zu beachten, daß Selektionsübertragungen im täglichen Leben auch in hochkomplexen Gesellschaften nach w i e vor w e i t h i n selbstverständlich u n d problemlos ablaufen. Gerade im interaktioneilen Zusammenleben ist es w e d e r möglich noch notwendig, ständig Zurechnungsfragen aufzuwerfen u n d zwischen Erleben u n d Handeln zu differenzieren. Die oben skizzierten Interaktionskonstellationen sind nicht als solche schon problematisch. Es muß daher immer noch ein Spezialproblem (im Falle der Erlebnisübertragung z u m Beispiel eine gewisse Unwahrscheinlichkeit von Informationen) h i n z u k o m m e n , soll die Orientierung an Kommunikationsmedien in Funktion treten. Das erklärt zugleich, daß ein u n d dieselbe Interaktionskonstellation A n l a ß geben kann zur Entwicklung verschiedener Kommunikationsmedien mit unterschiedlichen PräferenzCodierungen. So w i r d die Konstellation, daß Alter selektiv handelt u n d Ego dessen Selektion b l o ß erlebt, dann problematisch, w e n n Alters H a n d e l n im Zugriff auf knappe Güter besteht (Luhmann 1972 a); aber auch dann, wenn es in der willkürlichen Herstellung von Gegenständen (Werken, Texten) besteht, die trotz ihrer unnatürlichen Entstehung den N a c h v o l l z u g ihrer Selektivität im Erleben erzwingen. Für das eine Sonderproblem w i r d das M e d i u m Eigentum/ Geld, für das andere das M e d i u m Kunst entwickelt. Im Hinblick darauf, daß M e d i e n Sonder-Codes für hochspezifizierte Probleme darstellen u n d Leistungssteigerungen ermöglichen, k a n n m a n sie auch als evolutionäre Errungenschaften interpretieren und sie mit Hilfe der Unterscheidung von Lebenswelt und Technik analysieren (Husserl 1954). Die Technizität der M e d i e n besteht genau darin, für Sonderlagen neuartige Kombinationen von Selektion u n d Motivation verfügbar zu machen. M a n muß dabei berücksichtigen, u n d das unterscheidet uns, w i e oben angedeutet, von Parsons, daß bei so voraussetzungsvollen Leistungen die konsensuelle Legitimation u n d psychische Internalisierung v o n Wertsymbolen allein
44 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien die erforderlichen Motive k a u m e r z e u g e n kann. Vielmehr müssen die Annahmemotive in die Selektivität selbst verlagert werden. Die Selektion muß gerade durch ihre Konting e n z sich durchsetzen und verbreiten k ö n n e n , sie muß als Selektionsweise motivieren können . Das ist selbstverständlich nur unter besonderen B e d i n g u n g e n möglich. Genau diese Bedingungen bezeichnen d i e Nichtbeliebigkeit der Medien, sie sind strukturelle B e d i n g u n g e n der Möglichkeit ihrer Entwicklung. Insofern i s t der evolutionäre Spielraum für Medienentwicklungen eingeschränkt im Sinne des » G o l d e n w e i s e r principle« struktureller Limitation des M ö g l i c h e n {Goldenweiser 1913). 13
V Probleme lösen sich nicht selbst. Problembegriffe allein können nicht erklären, daß und w i e es zu Problemlösungen kommt. M a n kann ohne Zweifel davon ausgehen, daß keine Gesellschaft existieren könnte, die den Kommunikationserfolg dem Zufall überließe. (Das wäre im übrigen eine gute Definition von sozialer Entropie als gleiche Wahrscheinlichkeit von A n n e h m e n und Ablehnen). M a n kann dann aus der Existenz von Gesellschaften schließen, daß dieses Problem in der einen oder anderen Weise gelöst w i r d . Damit ist jedoch nicht viel gewonnen. Einen Schritt darüber hinaus vollziehen w i r mit der These, daß es v o r allem z w e i strukturelle Errungenschaften sind, die w i e Autokatalysatoren wirken, nämlich in Kommunikationssystemen erzeugt w e r d e n und dann die Chancen k o m m u n i k a t i v e n Erfolges im Prozeß der Selbstselektion des Systems verstärken : das sind symbolische Generalisierung u n d binare Schematisierung ( C o d e - B i l d u n g ) . U b e r symbolische Generalisierungen w i r d es möglich, Identität und Nichtidentität zu kombinieren, also Einheit in der Mannigfaltigkeit darzustellen u n d als Beschränkung 14
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Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 45 des Möglichen erwartbar zu machen. M i t Hilfe symbolischer Generalisierungen kann deshalb jeder Partner einer Kommunikationsbeziehung seine eigenen Selektionen kommunikationslos mit einer interpretierten Realität und Intentionalität anderer abstimmen, in d e r er selbst als Objekt v o r k o m m t . Binäre Schematisierung setzt diese Leistung voraus u n d ermöglicht überdies: [ 1 ] in der Sozialdimension das Zumuten harter, aus n u r z w e i Elementen (z. B. recht/unrecht) bestehender Alternativen ; [2] in der Zeifdimension ein Progressivwerden v o n Operationen in d e m Sinne, daß eine Selektion auf die andere aufbauen, sie jederzeit wiederholen (also ihre Wiederholbarkeit implizieren) u n d bei festgehaltenem Sinn fortsetzen oder ersetzen k a n n ; [3] in der Sachdimension das Übergreifen sehr heterogener Situationen durch lange, inhaltlich zusammenhängende Selektionsketten, indem man e t w a aus Wahrheiten, die in einer Situation gefunden w u r d e n , für ganz andere S i tuationen Schlüsse zieht, oder Ü b e r m a c h t in einer Situation gebraucht, um g a n z andere Situationen zu beherrschen. Mit Hilfe solcher Strukturen läßt sich erreichen, daß in besonderen Problemlagen, w e n n sie gehäuft vorkommen (was durch Systemspezialisierung erreicht werden kann), relativ einfache Informationsverarbeitungsregeln produktiv werden, das heißt S y s t e m e von sehr hoher Komplexität aufbauen . Dieser Sachverhalt läßt sich an H a n d einzelner Kommunikationsmedien u n d ihrer j e w e i l i g e n Sonderprobleme genauer darstellen: 16
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(1) Den A u s g a n g s p u n k t für den Aufbau komplexer Satzzusammenhänge mit Wahrheitsanspruch scheinen zwei Sonderprobleme zu bilden, über deren evolutionären Primat als »starting mechanisms« (Gouldner 1960: 176 f.) man sich streiten mag: die kognitive (lernende) Verarbeitung von Überraschungen u n d das Lernen mit Hilfe anderer (vicarious l e a r n i n g ) . Im einen Falle geht es um rasche Neubildung haltbarer Erwartungen angesichts von Enttäuschun20
46 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien gen, im anderen Falle geht es um Z e i t g e w i n n beim Aufbau komplexer Umweltreduktionen, der d a d u r c h erreichbar ist, daß man andere für sich lernen läßt, n ä m l i c h andere Erfahrungen machen läßt u n d selbst nur n o c h aus zweiter Hand, aus Kommunikationen lernt. Der Z u s a m m e n s c h l u ß beider Problemlagen unter einem logisch schematisierten Wahrheits-Code bringt für beide gewichtige Vorteile: Er löst, sow e i t er reicht, Enttäuschungserklärungen heraus aus den magisch-religiösen Prozessen k o l l e k t i v e r Angstverarbeitung u n d aus den Institutionen für n o r m a t i v e , kontrafaktische Erwartungsstabilisierung (Luhmann 1972 b: 40-64). U n d er macht die Frage der Ü b e r t r a g b a r k e i t von Erlebnisselektionen relativ unabhängig von d e n moralischen, ja sogar von den sozialhierarchischen Qualifikationen der Kommunikanten, insbesondere von Wahrhaftigkeit und Prestige. Dies geschieht durch Konditionierung des Zurechnungsprozesses, durch s y m b o l i s c h e Generalisierung u n d binäre C o d i e r u n g der B e d i n g u n g e n , unter denen die Beteiligten sich einig sein können, d a ß eine thematisierte Selektion auf beiden Seiten als Erleben zu behandeln ist . M i t Hilfe eines symbolisch generalisierten C o d e s , der die Ausschaltung zurechenbarer Differenzen unter den Beteiligten reguliert, kann eine im Prinzip u n b e k a n n t e , nur z u fällig u n d nicht wahrheitsförmig erscheinende U m w e l t l a u fend abgetastet werden. Die anfallenden Resultate bleiben in der F o r m festgestellter Wahrheiten oder festgestellter U n w a h r h e i t e n zurück. Die Ausdifferenzierung solcher Code-Bedingungen schafft mithin eine Lage, in der z u n ä c h s t zufällig anfallende, dann eigens gesuchte, dann systematisch geschaffene U m w e l t i n f o r m a t i o n e n wissenschaftlich p r o d u k t i v werden, nämlich Wahrheiten u n d U n w a h r h e i t e n mit hohen A n schlußwerten erzeugen. Entsprechend w i r d die Wahrheitsrelevanz z u n e h m e n d wissenschaftsintern definiert, und direkte Lebensweltbezüge w i e Angst v o r Gewittern, Kostbarkeit des M a t e r i a l s , Ehrwürdigkeit d e r Institution treten 21
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 47 als M o t i v e der Annahme von k o m m u n i z i e r t e n Selektionen z u r ü c k . Die Wissenschaften w e r d e n zu einer A r t selbstkritischen Masse, die das A u f l ö s u n g s v e r m ö g e n gegenüber der N a t u r ins Unabsehbare steigert u n d d a d u r c h z u m Faktor weiterer gesellschaftlicher E n t w i c k l u n g w i r d . (2) In ganz andere Richtung steuert e i n M e d i u m , das das Zurechnungsproblem in einem P u n k t e a n d e r s strukturiert: das von Ego ein Handeln im Sinne der Erlebnisreduktionen eines Alters verlangt. Die M a x i m e d e r Handlungswahl Egos w ä r e hier: Wie erlebt mich A l t e r ? O d e r : Wer kann ich sein, daß mein Handeln die Erlebnisselektionen Alters bestätigt? U n d nicht etwa: W i e handelt A l t e r , w a s hat Alter getan, w i e befriedigt mich A l t e r ? Ein dafür geeigneter Komplex kultureller und moralischer Vorschriften läuft seit der A n t i k e unter der Bezeichnung p h i l i a / a m i c i t i a , zunächst im Sinne einer öffentlichen Tugend mit Schwierigkeiten der Differenzierung gegen Politik ( G e r e c h t i g k e i t ) , gegen Ökon o m i e (Nutzfreundschaft) u n d gegen R e l i g i o n (Gottesliebe). Problematisch u n d stärker ausdifferenzierungsbedürftig w i r d dieses M e d i u m erst seit d e m Mittelalter mit zunehmender Individualisierung der Lebensführung, besonders in den höheren Schichten. D i e Unwahrscheinlichkeit der Selektionsübertragung w i r d g r ö ß e r in dem Maße, als Ego eine mehr oder w e n i g e r private S o n d e r w e l t konstituiert u n d A l t e r sich gleichwohl h a n d e l n d , also sichtbar, darauf einläßt. Diese Möglichkeit w i r d in der beginnenden N e u z e i t unter neuen Aspekten der Freundschaft gleichgesinnter Seelen u n d der passionierten L i e b e kultiviert und gerade als A b w e i c h u n g gesellschaftlich legitimiert (Tenbruck 1964). Entsprechend der U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t solcher Beziehungen müssen die Freiheiten der Rekrutierung für Intimbeziehungen zunehmen (Blood 1967). Die Entw i c k l u n g kulminiert schließlich in der Vorschrift, Ehen auf persönliche, passionierte L i e b e zu g r ü n d e n (Waller und 22
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Hill 1951: 93-215; Goode 1959; Aubert 1965; Fürstenberg 1966).
48 Symbolisch generalisierte Kommunikcztionsmedien Damit w i r d das M e d i u m auf Z w e i e r - B e z i e h u n g e n zugeschnitten, also durch die Regel » D u u n d kein anderer« binär schematisiert . Auf diese Weise k a n n die Welt dupliziert w e r d e n in eine öffentliche, a n o n y m konstituierte L e benswelt und in eine idiosynkratisch k o n s t i t u i e r t e Privatwelt, in der Ereignisse p a r a l l e l g e w e r t e t werden und das jeweilige Ich d a n k seiner Relevanz in d e r Welt des anderen eine besondere Bedeutung gewinnen k a n n , die für seine öffentliche Bedeutungslosigkeit entschädigt. Diese Duplikation dramatisiert das Problem der Selektionsübertragung und erzwingt den Transfer auf die Ebene s y m b o l i s c h e r Generalisierung. Die romantische Paradoxie des Zusammenfallens von N o t w e n d i g k e i t und Zufall, v o n Zwangsläufigkeit (Krankhaftigkeit!) und Freiheit in der L i e b e fungiert dann als genaue Chiffrierung der liebesspezifischen Zurechnungskonstellation: Die Selektion des A l t e r muß, da sie bei aller Idiosynkrasie als Erleben geliebt w e r d e n soll, nicht i h m zugerechnet und nicht unter A n d e r u n g s d r u c k gesetzt werden; man liebt ihn, » w i e er i s t « . D a s Sicheinstellen auf diese R e d u k t i o n erfordert dagegen freies Handeln, schon um überhaupt als Liebe sich profilieren zu können. Unter solchen (oder äquivalenten) S y m b o l e n findet auch hier eine A r t A u t o k a t a l y s e statt in dem Sinne, d a ß nach relativ einfachen, interaktionsfähigen Selektions- u n d Ubertragungsregeln mit Hilfe übergreifender S y m b o l i s i e r u n g e n , zum Beispiel romantischer Cliches, und einer Duplikationsregel Teilsysteme u n d Sonderumwelten von h o h e r Eigenkomplexität ausdifferenziert werden, die dann spezifische gesellschaftliche Funktionen übernehmen k ö n n e n . (3) Die umgekehrte Zurechnungskonstellation: daß A l ter handelt u n d Ego genau diese R e d u k t i o n als Erleben zu akzeptieren hat, ist keineswegs, w i e Klaus Hartmann (1973: 142) befürchtet, dieselbe Konstellation in nur umgekehrter Blickrichtung. Vielmehr stellt sich ein v ö l l i g anderes A s y m metrieproblem, nämlich statt eines Adjustierens von Handlungen auf das Erleben eines anderen h i n das bloße H i n 24
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nehmen der kontingenten Wahl eines a n d e r e n . Wenn solche Selektionsübertragung auch a n g e s i c h t s von Knappheit fungieren soll, muß erreicht werden, daß beim Zugriff A l ters auf knappe Güter andere Interessenten die Reduktion akzeptieren - u n d stillhalten. Dies ist B e d i n g u n g ausreichend spezifizierbarer, langfristiger u n d v i e l g l i e d r i g e r "wirtschaftlicher Operationen, die z u m A u f b a u eines hochkomplexen Wirtschaftssystems führen - B e d i n g u n g unter anderem für Kapitalbildung, Kreditfähigkeit u n d rationalen wirtschaftlichen Kalkül. Die C o d i e r u n g des Wirtschaftsmedhxms bedient sich der situativ leicht praktikablen Differenz von Haben und Nichthaben, abstrahiert z u r Rechtsform d e s Eigentums, das den Zugriff statisch, und zur V e r k e h r s f o r m des Geldes, das den Zugriff dynamisch legitimiert (Luhmann 1974 b: 60 ff. zu Eigentum u n d Luhmann 1972 a zu G e l d ) . Die Funktion dieses M e d i u m s liegt vordergründig in d e r selektiven Bedürfnisbefriedigung u n d in der V e r m i t t l u n g von Tauschprozessen durch unspezifizierte Ä q u i v a l e n t e . Für das Gesellschaftssystem leistet dieses M e d i u m n o c h etwas anderes: Es motiviert letztlich das Stillhalten u n d erlebnismäßige A k z e p t i e r e n aller jeweils N i c h t h a b e n d e n , mögen sie nun ihrerseits reich oder arm sein. M i t Hilfe v o n Eigentum und Geld ist mithin Reichtumstoleranz m ö g l i c h als Bedingung hoher Spezifikation ökonomischer P r o z e s s e . Davon wiederum hängt die Möglichkeit ab, den k o n k r e t e n Vollzug ökonomischer Prozesse relativ u n a b h ä n g i g zu machen vom j e w e i l i g e n Reichtumsgefälle in den B e z i e h u n g e n zwischen den Partnern . Es w a r die grandiose A b s i c h t der bürgerlichen Gesellschaftstheorie u n d -praxis, d i e s auf rein ökonomischem Wege zu erreichen u n d die p o l i t i s c h e n Funktionen auf ein M i n i m u m zu b e s c h r ä n k e n , vor allem auf Rechtsgarantie und, in der W o h l f a h r t s ö k o n o m i k , auf einen kompensierenden Folgenausgleich (Kaldor 1939). (4) Die Konstellation schließlich, daß E g o sein Handeln an das H a n d e l n eines A l t e r anschließt, w i r d immer dann 26
50 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien problematisch, wenn Alter sein H a n d e l n genau darauf z u spitzt, ein Handeln des Ego a u s z u w ä h l e n ; wenn er also zu entscheiden sucht, w i e Ego handeln s o l l . Solche Situationen reguliert das K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m M a c h t . Seine Duplikationsregel lautet: Konstruiere eine n e g a t i v bewertete A l ternative, die Alter und Ego vermeiden möchten, Ego aber dringender vermeiden möchte als A l t e r . Beispiele wären etwa: A n w e n d u n g physischer Gewalt, Entlassung aus einem vorteilhaften Dienstverhältnis. V o r dem Hintergrund eines solchen A l t e r n a t i w e r l a u f s k ö n n e n dann auf beiden Seiten mehr oder weniger u n w a h r s c h e i n l i c h e Selektionsmotive z u m Tragen k o m m e n u n d die Komplexität, deren R e d u k t i o n e n noch übertragbar sind, k a n n immens gesteigert werden. Nach vorherrschender M e i n u n g muß Macht, um gesellschaftsweit fungieren zu k ö n n e n , durch Konsens gedeckt u n d in diesem Sinne legitim s e i n . Diese Auffassung betrifft die generalisierten S y m b o l e des Macht-Code. H i n z u k o m m e n Anforderungen an die C o d i e r u n g selbst. So scheint eine Zweit-Codierung der M a c h t mit Hilfe des Schematismus Recht/Unrecht ein Erfordernis technischer Effizienz u n d operativer Spezifikation z u sein . 27
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VI M i t Sicherheit ist die Liste der bisher s k i z z i e r t e n Kommunikationsmedien nicht vollständig - w e d e r theoretisch noch empirisch. M a n könnte sich fragen, ob Wertbeziehungen für den nicht wahrheitsfähigen Erlebnisbereich eine analoge F u n k t i o n übernehmen u n d ob im K o n t e x t des Religionssystems Glauben die Funktion eines K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m s erfüllen kann. A u c h Kunst w ä r e zu erwähnen. Die z u letzt genannten Beispiele leiten jedoch s c h o n über zu einer weiteren Frage. Sie machen deutlich, d a ß die einzelnen M e dien in sehr unterschiedlichem M a ß e e n t w i c k e l t sein k ö n nen. Wenn das so ist, dann möchte m a n wissen, wovon der
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 51 evolutionäre Erfolg eines M e d i u m s abhängt; welche Bedingungen die relative Prominenz des einen oder des anderen M e d i u m s im Gesellschaftssystem bestimmen; welche Faktoren M e d i e n auswählen für eine historische Karriere. Bevor solche Fragen historisch und empirisch beantwortet w e r d e n können, müßte ein Überblick über die relevanten Variablen gewonnen werden. Dies k a n n , solange es nur um Überblick, Vergleich einzelner M e d i e n und Vorbereitung der Hypothesenbildung geht, n o c h ohne besondere Tiefenschärfe geschehen, in einem ersten A b t a s t e n der analytischen Möglichkeiten, die im Begrifflichen u n d im Empiriebezug so flach w i e möglich gehalten w e r d e n . Und nur für Ausschnitte aus diesem Gesamtkomplex wird im R a h m e n von medienspezifisch und historisch relativierten Forschungsprojekten allmählich eine Feinregulierung der Fragestellungen erreichbar sein. In diesem Sinne sollen im folgenden vorbehaltlich weiterer Auflösung vier Variablenkomplexe unterschieden werden. Sie betreffen [1] die Aus-
differenzierbarkeit medienspezifischer Subsysteme der Gesellschaft; [2] Fragen der Kompatibilität mit Umweltsystemen auf organischem, psychischem und sozialem Systembildungsniveau; [3] Möglichkeiten der Leistungsstei-
gerungen in den medienspezifisch regulierten Kommunikationsprozessen; u n d [4] die Verfügbarkeit u n d Institutionalisierbarkeit geeigneter Symbolisierungen. (1) W ä h r e n d für Parsons Medienprobleme aus der sozialen Differenzierung folgen, also an deren Schematik gebunden bleiben, ist für uns umgekehrt die Chance selbstselektiven Aufbaus komplexer Systeme für spezifische M e dien der vielleicht wichtigste Stabilisator evolutionären Erfolgs. Stabilisierung soll hier nicht Erhaltung von Beständen bedeuten, sondern erleichterte Reproduzierbarkeit von Problemlösungen. Durch Ausdifferenzierung eines Spezialsystems z u m Beispiel für Machterzeugung u n d -anwendung (politisches S y s t e m ) oder für Eigentumsnutzung und
52 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien finanzielle Transaktionen (Wirtschaft) w i r d zunächst einfach die Chance des Vorkommens medienspezifischer Sonderprobleme (in den genannten Beispielen: Weisungserteilung, Knappheit) gesteigert u n d z u g l e i c h der routinemäßige U m g a n g mit ihnen erleichtert. Relativ auf solche Systeme können besondere Erwartungen institutionalisiert werden, die nicht gesellschaftsuniversell gelten müssen, obwohl sie auf gesamtgesellschaftliche Funktionen bezogen sind. Die Leichtigkeit solcher S y s t e m b i l d u n g e n hängt historisch eng mit der » H a n d l u n g s n ä h e « d e s Zurechnungsmodus zusammen u n d w i r d w o h l deshalb zuerst am Falle des politischen Systems realisiert. A b e r a u c h andere Gesichtspunkte dürften eine R o l l e spielen, z u m Beispiel solche der Interaktionsnähe eines gesellschaftlichen Funktionskreises oder die Zeithorizonte, in denen der Übertragungserfolg feststellbar ist. Schon unter diesen Gesichtspunkten könnte man sinnvoll nach evolutionär frühen (z. B. Politik) und evolutionär späten (z. B. Wissenschaft) Ausdifferenzierungen fragen; ferner nach Entwicklungsschwellen, die durch ein neues Ausdifferenzierungsniveau spezifischer Medien (zum Beispiel für Glaubensformen in der mittleren und späten A n t i k e oder für durchgehend monetisierte Wirtschaft in der N e u z e i t ) überschritten w e r d e n und dadurch Epoche machen. A u ß e r d e m w ä r e zu klären, ob und w e s halb bestimmte M e d i e n ( z u m Beispiel Wertbeziehungen, vielleicht auch Kunst) in ihren Systembildungschancen strukturell benachteiligt sind u n d schon deshalb im Differenzierungsvorgang der Gesellschaft keine Primärfunktionen übernehmen können. (2) Probleme der Kompatibilität sind immer dort zu erwarten, wo trotz Ausdifferenzierung, u n d das ist normal, Interdependenzen fortbestehen oder gar verstärkt auftreten. W i r verfolgen hier n u r einige dieser Fragen, und zwar an H a n d von Problemen, die sich in d e n Symbolstrukturen der M e d i e n - C o d e s selbst stellen. a) A l l e M e d i e n haben ein ambivalentes Verhältnis zur
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 53 Sphäre organischen Zusammenlebens insofern, als die Präsenz der Organismen die Selektionsübertragung entweder stören oder auch befördern k a n n . Alle M e d i e n bilden daher auf der Ebene ihrer symbolischen S t r u k t u r Regulative für ihr Verhältnis zu organischen Prozessen aus. Solche R e gulative w o l l e n w i r als symbiotische Mechanismen bezeich29
nen (Luhmann 1974 a ) . Die Ausdifferenzierung u n d Spezifikation der gesellschaftlich wichtigsten M e d i e n - C o d e s hat zugleich eine Spezifikation symbiotischer Mechanismen e r z w u n g e n in dem Sinne, daß für jedes M e d i u m ein u n d n u r ein solcher M e chanismus z u r Verfügung steht: für Wahrheit Wahrnehmung; für Liebe Sexualität; für Eigentum/Geld Bedürfnisbefriedigung; für M a c h t / R e c h t physische Gewalt. Die Zuordnungen sind nicht austauschbar. M i t der Spezifikation des M e d i u m s sind vielmehr zugleich Spezifikationen organischer R e l e v a n z e n gegeben. Vergleichbar sind diese M e chanismen auch insofern, als nur hochgradig plastische, sinnhaft prägbare u n d dadurch spezifizierbare organische Prozesse in Betracht k o m m e n ; u n d ferner darin, daß sie alle eine eher marginale Stellung im Kommunikationsprozeß mit zentralen Test-, Sicherheits- u n d Beweisfunktionen verbinden. b) Im Verhältnis zu psychischen Systemen hängen alle K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n davon ab, daß Selektionsmotive nicht kurzschlüssig allein im psychischen System gebildet w e r d e n , sondern auf d e m U m w e g über soziale Kommunikation Zustandekommen (wie immer sie dann z u r Annahme oder z u r A b l e h n u n g von Selektionsofferten disponieren). Diese U m w e g i g k e i t der Motivbildung versteht sich bei anspruchsvolleren Ubertragungsleistungen nicht m e h r von selbst, sondern m u ß durch strategisch placierte Selbstbefriedigungsverbote unterstützt werden. In hochentwickelten M e d i e n - C o d e s finden sich daher immer auch S y m b o l e mit dieser Funktion: Verbote der direkt-gewaltsamen Zielverfolgung u n d Rechtsdurchsetzung; Diskreditierung jeder
54 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Selbstbefriedigung in Fragen der Sexualität und der Liebe; Abwertung u n d Benachteiligung ökonomischer Askese u n d Selbstgenügsamkeit; schließlich methodische Eliminierung aller rein subjektiven Evidenzen, introspektiv gewonnener Sicherheiten, unmittelbarer Wissensquellen (Kant 1796). Was dabei an psycho-somatischen Techniken mitdiskreditiert w o r d e n u n d unentwickelt geblieben ist, läßt sich schwer abschätzen. D i e kulturelle D o m i n a n z der MedienFunktion hat Wissen u n d Uberlieferungen in diesen Richtungen verkrüppeln lassen. c) Die Beziehungen medienspezifisch ausdifferenzierter Subsysteme zueinander u n d zu anderen Sozialsystemen werden problematisch angesichts von Interdependenzen, die zu grenzüberschreitenden Kommunikationsprozessen führen. H i e r sind bis in die neuere Zeit die verbleibenden archaischen Lebensformen auf d e m L a n d e die Hauptschwierigkeit . Infolge ihrer konstellationstypischen und funktionalen Spezifikation müssen M e d i e n die Funktionsfähigkeit anderer Gesellschaftsbereiche auf adäquaten N i veaus voraussetzen k ö n n e n . Dazu gehört zweierlei: eine gewisse Indifferenz gegen Fluktuationen im anderen Bereich (der Rechtsschutz darf nicht unmittelbar von der wirtschaftlichen Konjunktur u n d dem Steueraufkommen abhängen, die Liebe darf nicht w e g e n politischer oder ökonomischer Katastrophen aufhören) u n d die Fähigkeit, die jeweils anderen Medienbereiche unter dem Gesichtspunkt mobiler Ressourcen zu behandeln. Das sind strukturell erforderliche Potentiale . U n t e r Prozeßgesichtspunkten kulminiert diese P r o b l e m a t i k in Fragen der Konvertibilität der einzelnen M e d i e n (als Ressourcen) in andere. Die jeweils code-spezifischen Prozesse müssen getrennt gehalten w e r den, so daß z u m Beispiel w e d e r Macht, noch Geld, noch Liebe im Kontext v o n Wahrheitsbeweisen benutzt werden können; so daß man Maitressen-Politik w i r k s a m unterbindet, Abgeordnete, Richter u n d Beamte nicht bestechen, aber auch mit Wahrheit allein keine Politik machen kann, 30
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usw. W i e die Beispiele zeigen, sind dies alles hochmoralisierte, empfindliche Punkte, die in den M e d i e n - C o d e s geregelt w e r d e n m ü s s e n . Trotz solcher Konvertibilitätsverbote gibt es Zusammenhänge u n d Einflußmöglichkeiten vor allem auf motivationaler Ebene, die in der Darstellung dann unterdrückt oder cachiert werden, z u m Beispiel politische u n d ökonomische Gesichtspunkte wissenschaftlicher Themenwahl, ökonomische Gesichtspunkte der Gattenwahl, Gesichtspunkte der Konjunktur- u n d Subventionspolitik, politisch gezielte Partei- und Pressefinanzierungen etc. Für die Differenzierung der M e d i e n entscheidend ist, daß solche Integrationsmöglichkeiten bestehen, aber nicht z u m Durchgriff in die binäre Struktur des anderen M e d i u m s führen, also nicht zur Entscheidung über w a h r / u n w a h r , recht/unrecht usw. ausreichen . (3) Zusätzlich zu diesen umweltbezogenen Erfordernissen gibt es Aspekte medienspezifischer Kommunikationsstrukturen, die unter unserem Leitgesichtspunkt des Vergleichs der einzelnen M e d i e n im Hinblick auf selektive B e dingungen evolutionären Erfolgs Beachtung verdienen. a) A l l e erfolgreichen medienspezifischen Kommunikationsprozesse werden im Laufe der gesellschaftlichen Evolution reflexiv, das heißt auf sich selbst anwendbar. So k o m m t es zu Forschungen über Erkenntnisbedingungen und -methoden, zu reflexiver Liebe des Liebens, zu komplexen Eigentums- u n d Kreditverschachtelungen in Konzern- u n d Finanztechniken mit der Folge, daß man über Beteiligungen an juristischen Personen etwas haben kann, w a s man hat und nicht hat. D i e Macht w i r d zunächst in mehrstufigen Bürokratien, dann in Demokratien in dem Sinne reflexiv, daß sie auch auf Machthaber (und nicht nur: gegen M a c h t h a b e r ) angewandt werden kann. Reflexivität setzt funktionale Spezifikation der Prozesse voraus und dient unter dieser Voraussetzung der Steuerung u n d Leistungssteigerung durch zweistufige Komplexitätsreduktion 33
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{Luhmann 1 9 7 0 a ) . Eine solche S t r u k t u r w i r d bei hoher Kontingenz und Komplexität der Gesellschaft unausweichlich; sie setzt sich spätestens im Zuge d e s Durchbruchs zur bürgerlichen Gesellschaft auch in den s y m b o l i s c h e n Strukturen der M e d i e n - C o d e s fest und löst d o r t ein älteres Denk e n in Perfektionen ab (siehe unter 4 b ) . W e n n der Eind r u c k nicht trügt, den man im N a c h v o l l z u g der europäischen Reflexivitäts-Traditionen gewinnt, führen diese Strukturen eher zu einer Verstärkung d e r Medien-Differenzierung als zu ihrer Integration; sie m ü n d e n in je unterschiedliche Abschlußproblematiken ein, die jedes Medium als ein spezifisches für sich selbst offen l ä ß t u n d auf die eine Gesamtantwort w e d e r möglich noch kommunikationstechnisch erforderlich ist. Auf der Ebene des Gesellschaftssystems entspricht dem die Vorstellung d e r Welt als Gesamtheit des Möglichen, die in bezug auf Position und Negation unqualifizierbar bleibt, also weder zustimmungsfähig noch ablehnungsfähig ist. b) Eine reflexive Steuerung ganzer Medienbereiche muß relativ global ansetzen; sie befaßt sich m i t Bedingungen der M ö g l i c h k e i t k o m m u n i k a t i v e r Erfolge, nicht aber mit dem Eintreten dieser Erfolge selbst. Auf konkreteren Stufen der Kombination selektiver A k t e des Erlebens u n d Handelns stellen sich daher zusätzlich das Problem des Durchgriffs d u r c h weitreichende, heterogen zusammengesetzte Selektionsketten, der Kontrollierbarkeit des Endes durch den A n fang bei steigender Kontingenz und im Zusammenhang damit das Problem der Reichweite konkreter Antizipation u n d konkreter Folgenverantwortung. D i e größere Konkretion dieser Problemstellung bedingt größere Verschiedenartigkeit der R e l e v a n z für die einzelnen M e d i e n . Im Falle der Liebe, w o Steigerungsprozesse zwischen nur z w e i Partnern spielen, also in sich selbst zurücklaufen, ist das Problem des Durchgriffs mit dem der Reflexivität nahezu identisch. Schon der Wahrheitsproduzent findet sich d a g e g e n typisch in Situationen, in denen Anschlußselektionen ihn überra3 5
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 57 sehen; für ihn gibt es Code-Regeln, daß er das mit Fassung zu tragen, ja sogar zu provozieren hat, selbst dann, wenn die Anschlußselektionen seine W a h r h e i t in Unwahrheit u m k e h r e n (Falsifikation). Für den M a c h t h a b e r stellen sich an strukturell äquivalenter Stelle Problerne der Zentralisation politischer Verantwortlichkeit, und dies um so dringlicher, als im Bereich der Wirtschaft der Geldmechanismus gegen jede Folgenverantwortung a b s c h i r m t , indem er A n schlußselektionen abstrakt sicherstellt u n d den Zahlenden von jeder Verantwortung dafür freistellt, w a s der Empfänger mit d e m Geld anfängt . c) Verwandte Probleme stellen sich, wo i m m e r es darum geht, die Ansprüche der Medien-Codes mit Bewußtseinskapazitäten abzustimmen. H i e r z u m ü s s e n z u m Beispiel Erkennungsregeln vorgegeben werden, so daß die Partner rasch genug wissen, unter welchem C o d e jeweils kommuniziert w i r d . H i n z u k o m m e n Erfordernisse der Situationsvereinfachung, der Informationsverarbeitung unter Bedingungen zu hoher Komplexität, der S t r u k t u r h i l f e für Lernvorgänge, aber auch der Hilfe bei Lernverweigerungen. Generell darf man vermuten, daß in d i e s e m Bereich Prozesse der M e t a k o m m u n i k a t i o n s t i l l s c h w e i g e n d e r Verständigungen eine R o l l e spielen, mit denen C o d e - R e g e l n situativ auf ein geringeres Änspruchsniveau heruntertransformiert, die Diskrepanzen aber nicht thematisiert w e r d e n . d) Schließlich w ä r e auf eine E r s c h e i n u n g hinzuweisen, die mit d e m Begriff des Neben-Codes bezeichnet werden könnte. Prominente Beispiele sind: R e p u t a t i o n als Substitut für Wahrheit im Wissenschaftssystem (Luhmann 1970 b ) , gegenläufige informale Macht der U n t e r g e b e n e n über ihre Vorgesetzten u n d der Minister über i h r e Fraktionen im politischen System, u n d natürlich auch so etwas w i e Zigar e t t e n - W ä h r u n g bei Nichtfunktionieren des Geldsystems. Selbst Liebes-Beziehungen tendieren z u r Strukturverlagerung auf N e b e n - C p d e s , und z w a r b e n u t z e n sie ihre eigene Geschichte in dieser Funktion mit der F o l g e , daß man blei36
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58 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien ben m u ß , w e r man war, als man sich verliebte, und überstabilisierte Identitäten die Kommunikationsbasis der Liebe ersetzen . Bezeichnend ist die Abhängigkeit solcher Erscheinungen von Funktionsmängeln des H a u p t - C o d e s und die Beschränkung auf dessen Ordnungsbereich,. Zu den typischen Eigenschaften von Neben-Codes gehören: gegenläufige Strukturen bei gleicher Funktion, also F ä h i g k e i t zur Funktionsübernahme, größere Konkretheit u n d Kontextabhängigkeit bei geringerer Technizität u n d geringere gesellschaftliche Legitimationsfähigkeit. Die Möglichkeit, auf N e b e n - C o d e s innerhalb eines M e d i e n - B e r e i c h s zurückzugreifen, k a n n davor bewahren, Funktionsdefizite durch Inanspruchnahme andersartiger Medien auszugleichen; sie dient damit, obgleich Ü b e r l a s t u n g s s y m p t o m , der Aufrechterhaltung der A u t o n o m i e der Mediensysteme u n d ihrer funktionalen Differenzierung. (4) In den bisherigen Überlegungen w a r impliziert, daß den aufgewiesenen Problemlagen in der einen oder anderen Weise auf der Ebene generalisierter, die Kommunikationsbeziehung übergreifender S y m b o l e R e c h n u n g getragen w i r d . Es bleibt die Frage, ob dies in beliebiger Weise möglich ist, oder ob es zusätzliche »constraints« auf der Ebene generalisierter S y m b o l e gibt - sei es für alle Medien gemeinsam, sei es für einzelne Medien in verschiedener A u s prägung. W i r brauchen uns nicht auf e i n e der vielen Varianten des Ü b e r b a u / U n t e r b a u - T h e m a s festzulegen und haben auch nicht die Absicht, irgendwo die eigentlichen oder letztlich ausschlaggebenden oder langfristig wirkenden U r sachen festzumachen. Gleichwohl kann m a n erkennen, daß gewisse Probleme der Evolution generalisierter Kommunikationsmedien auf der Ebene allgemeiner symbolischer Darstellungen kulminieren und hier nicht beliebig lösbar zu sein scheinen. a) M i t ihrer letzten Sinngebung erfüllen alle Medien die F u n k t i o n v o n Kontingenzformeln. Das heißt: Sie müssen 38
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 59 verständlich u n d plausibel machen, daß in bestimmter Weise erlebt u n d gehandelt w i r d , obwohl - oder sogar: gerade w e i l - auch anderes möglich ist. Dies geschieht auf der a b straktesten Ebene eines M e d i e n - C o d e s nicht durch Begründung der Selektionen selbst, sondern nur durch Reduktion unbestimmter auf bestimmte oder doch bestimmbare Kontingenz. So fallen im C o d e der romantischen L i e b e Zufall und N o t w e n d i g k e i t zusammen, wenn die füreinander bestimmten Individuen einander begegnen. So besagt die Kontingenzformel Knappheit, daß bei angenommener S u m m e n k o n s t a n z Benachteiligungen anderer nicht vermieden w e r d e n können, wenn ein Teilnehmer sich befriedigt. So löst der C o d e der Wahrheit Kontingenzprobleme durch die A n n a h m e einer Fremdselektion oder Selbstselektion des Seins, durch eine Theorie der Schöpfung oder der Evolution, die plausibel macht, daß letzte unbestimmte Kontingenz im Gegenstand selbst limitiert ist. Im Bereich von M a c h t haben bis in die neuere Zeit Legitimitätsformeln Kontingenz reduziert mit der Erwartung, daß der höchste Machthaber, selbst w e n n er Recht setzen könne u n d deshalb ans Recht nicht gebunden sei, gleichwohl dem Recht den Respekt nicht versagen w e r d e . Das Plausibilitätsniveau solcher Kontingenzformeln bleibt bei aller medienspezifischen Abstraktion noch recht konkret, religiös u n d moralisch gebunden, ja direkt interaktionsfähig . Die im C o d e etablierten Präferenzen (für Wahrheit, Liebe, Eigentum oder »Herrschaft« im Sinne der pax et iustitia F o r m e l ) rechtfertigen den C o d e selbst, obw o h l sie nur die eine Hälfte des Möglichen bezeichnen. Der Rest w i r d in die F o r m der Theodizee gekleidet und der Religion überantwortet. Bis heute gibt es keine Kontingenzformeln, ja zumeist nicht einmal verbale S y m b o l e für die Disjunktion als Disjunktion. b) Dies hängt mit der F o r m zusammen, in der in klassischen M e d i e n - C o d e s Nichtnegierbarkeiten behandelt werden. Die alteuropäische Tradition entwickelt dafür Vorstel39
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60 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien hangen der (graduierbaren) Perfektion m i t Hilfe sprachlicher Steigerungsmöglichkeiten, in deren Superlativ das nicht mehr Überbietbare kulminiert und sich als Grund und als M a ß der Kritik zugleich setzt. In dieser Weise werden auch Codes durch Perfektionsideen symbolisiert, vor allem politische und epistemologische Terminologien und, zu einer technisch hochqualifizierten M y s t i k ausgefeilt, die Gottesliebe der mittelalterlichen Devotionspraxis . Hierfür substituiert die bürgerliche Gesellschaft d u r c h w e g Prozeßbegriffe, sei es Reflexion, sei es Evolution, mit der Folge, daß die Nichtnegierbarkeit in die Negation selber verlagert werden muß. Die Negation erzeugt, so nimmt d i e bürgerlich-sozialistische Philosophie an, die Nichtnegierbarkeiten im Duktus ihres Gebrauchs, indem sie sich als D i a l e k t i k produziert und/oder als Subjekt emanzipiert. Letztlich bleibt die Nichtnegierbarkeit der selbstreferentiellen Negation zurück. Ob von hier aus C o d e - S y m b o l i k e n reformuliert werden können, ist im Augenblick nicht zu sagen. Jedenfalls liegt keine für den Soziologen faßbare gesellschaftliche Erfahrung vor. Weder die A n t h r o p o l o g i s i e r u n g des subiectums der selbstreferentiellen Negation z u m Individuum, das m ü n d i g zu werden sucht, noch ihre Materialisierung als objektives Entwicklungsgesetz haben einen annähernd adäquaten Zugang zu den hier d i s k u t i e r t e n Medien-Problemen gefunden. c) S y m b o l e der M e d i e n - C o d e s k ö n n e n eine moralische Qualität besitzen. Sie besitzen sie i m m e r dann, wenn ihre A n e r k e n n u n g und Befolgung im E r l e b e n u n d Handeln zur Bedingung wechselseitiger m e n s c h l i c h e r Achtung gemacht w i r d . Das kann über N o r m i e r u n g e n geschehen, aber auch über normfreie Moralisierungen in R i c h t u n g auf Möglichkeiten, Verdienste und H o c h a c h t u n g zu erwerben. Ob normativ oder meritorisch konzipiert, stützt Moralisierung Negationsverbote. Sie unterbindet N e g a t i o n e n und Ablehnungen nicht zwangsläufig, sie straft sie aber mit Achtungsverlusten und mit Isolierung auf Einzelfälle, die für den 42
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 61 C o d e selbst keine prinzipielle B e d e u t u n g haben; die zum Beispiel nicht aggregiert u n d aufgewertet werden zu einer eigenen Logik u n d M o r a l des Bösen^ Der skizzierte Abstraktionsdruck, der die Kontingenzformeln und Nichtnegierbarkeiten mediengesteuerter Kommunikationsprozesse betrifft, tangiert d i e moralische Bezugsfähigkeit der M e d i e n s y m b o l e . D a m i t w i r d die Moral keineswegs aus d e m Alltagsleben eliminiert, ja nicht einmal ihrer Gefühls- u n d Treffsicherheit beraubt. Von einem Ende der Moral kann faktisch keine R e d e sein. Nicht die Menschen, aber ganz spezifische C o d e - F u n k t i o n e n werden demoralisiert im Interesse größerer Negationsfreiheiten für spezifische Operationen. In der A l l t a g s m o r a l erscheinen dann Kritik und Änderungsstreben, Reform und Revolution als Positivwertungen, ohne daß d i e Technizität der Codes sich mit dieser M o r a l vermitteln ließe.
VII Jürgen Habermas (1973: 106ff.) hat eine Motivationskrise der »spätkapitalistischen« Gesellschaftsordnung darin gesehen, daß die vorbürgerlichen u n d bürgerlichen Traditionsbestände erodiert sind u n d , w e n n überhaupt, auf Politik u n d Wirtschaft dysfunktional w i r k e n . D e n Eindruck kann man bestätigen, nicht zuletzt an den Effekten, die der politische Moralist Habermas selbst mit ausgelöst hat. Auch die hier skizzierte Theorie der s y m b o l i s c h generalisierten Kommunikationsmedien sensibilisiert für dieses Problem, freilich nicht auf der Ebene des seine Subjektivität behauptenden Individuums, sondern auf der Ebene jener soziokulturellen Transmissionsfunktionen, die den Motiven zur Ü b e r n a h m e reduzierter Komplexität eine die Interaktion transzendierende, gesellschaftsstrukturelle Prägung verleihen, indem sie die M o t i v a t i o n an die Selektion selbst binden, und z w a r an die Selektion des anderen.
62 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien Um die Behauptung einer kulturbezogenen Motivationskrise durchsichtig machen zu k ö n n e n - ihre empirische Prüfung ist eine andere Frage -, müssen w i r einen aufs Soziologische verengten Motivationsbegriff verwenden. Als Motiv soll nicht die volle, w i e i m m e r organisch/psychisch individuierte Gesamtmotorik des Einzelmenschen bezeichnet werden, sondern ein im sozialen Kommunikationsprozeß darstellbarer Grund selektiven H a n d e l n s . Insofern sind M o t i v e kontingenzabhängige Erscheinungen. Der Bedarf für M o t i v e nimmt mit steigender Kontingenz u n d steigender Selektivität zu. Das führt auf die Frage nach den motivationalen limits to growth. Dabei kann es sich (nach unserem Motivbegriff) nicht um Grenzen psycho scher Kapazität handeln; vielmehr liegen die Grenzen in den Problemen der Kombinierbarkeit von Selektionsdarstellungen, also im sozialen System. Sie fallen mit dem Problem der Arrangierfähigkeit von Medien-Funktionen zusammen. 43
M a n k a n n dieses Problem punktuell an H a n d einzelner M e d i e n - S y s t e m e verfolgen. So w ä r e z u m Beispiel zu fragen, w a s es bedeutet, w e n n nicht mehr die Durchsetzungskapazität, sondern die Entscheidungskapazität (Selektionskapazität) der Machthaber z u m eigentlichen Engpaß in Machtstrukturen w i r d ; oder w e n n sich herausstellen sollte, daß das W a h r h e i t s m e d i u m bei A n w e n d u n g auf sozialwissenschaftliche Gegenstände so hohe Selektivität zu bearbeiten hat, daß die R e d u k t i o n zurechenbares Handeln (also Motive) voraussetzen m u ß in einer Weise, die prinzipiell nicht neutralisierbar ist, das heißt: nicht in beiderseitiges Erleben aufgelöst w e r d e n kann. Zu solchen Problemen, die einzelne M e d i e n - C o d e s aufsprengen könnten, treten andere, die das A u s m a ß an Differenzierung u n d Sonderartikulation funktionsspezifischer M e d i e n betreffen. Gerade durch eine durchformulierte hochdifferenzierte Medien-Struktur w e r d e n auch die Probleme diagnostizierbar, von denen Motivationskrisen ausgehen können.
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 63 Zugleich w i r d unter den hier vorgestellten Prämissen einer allgemeinen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien erkennbar, daß Motrvationskrisen dieses Typs ihr kulturelles, in S y m b o l s t r u k t u r e n lokalisierbares Korrelat haben. Schon die sehr skizzenhaften, bewußt flach gehaltenen Ausführungen dieses A u f s a t z e s liefern eine Reihe von Anhaltspunkten für diese T h e s e , daß unsere Kulturtradition in hohem M a ß e durch Medien-Funktionen geprägt war, sozusagen aus den selbstselektiven, autokatalytischen Prozessen hervorgegangen ist, die durch MedienCodes ermöglicht und in die Richtung spezifischer Probleme der Kontingenz- und Komplexitätssteigerung geführt w u r d e n . Diese Entwicklung hat einen P u n k t erreicht, in dem Grenzen der symbolischen K o n t r o l l e von Negationspotentialen sichtbar werden. A n d e r e r s e i t s hatte weder die alteuropäische noch die neuzeitlich-bürgerliche Gesellschaftstheorie diese M e d i e n - F u n k t i o n e n berücksichtigt. Ihre Derivate bleiben als N a t u r bzw. K u l t u r außerhalb des Bereichs der Gesellschaftsbegriffe, die z u n ä c h s t primär politisch, dann primär ökonomisch b e s t i m m t w u r d e n . Daher fehlt heute ein analytisches I n s t r u m e n t a r i u m für eine soziologische Beurteilung der gesellschafts'weiten Erfahrung mit Kulturgütern, für eine kritische Einschätzung des R e flexionsniveaus von Dogmatiken, Wissenschaftstheorien, Kunstrichtungen. Bei hochentwickeltem, aber schlecht definiertem Problembewußtsein k o m m t es so zu einem hastigen Aufgebot von Verlegenheits-Behauptungen, die mehr vernebeln als klären, zu Thesen über post-histoire, Ende des Individuums, Eindimensionalität, Technokratie, Krise des kapitalistischen Staates usw. Die D i s k u s s i o n lebt dann von den Möglichkeiten polemischer A u s b e u t u n g der Unzulänglichkeiten des jeweils anderen. N i c h t zuletzt scheint die Motivationskrise der Gesellschaft a u c h eine der soziologischen Forschung selbst zu sein. Dies ist nicht nur ein Beleg dafür, daß Krisenbewußtsein ansteckt u n d rasch epidemisch w i r d , s o n d e r n vor allem ein
64 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien direkter Beleg für die Reflexivität d e s Wahrheits-Codes u n d für ihre Folgeprobleme. W i e u n t e r VI 3 a angedeutet, w e r d e n alle mediengesteuerten P r o z e s s e spätestens in der bürgerlichen Gesellschaft der N e u z e i t reflexiv. Dies geschieht evolutionär in z w e i Phasen: z u n ä c h s t durch Eröffn u n g der Möglichkeit, dann durch Totalisierung der A n w e n d u n g auf sich selbst. Solange es n u r einzelne, mehr oder w e n i g e r zahlreiche M ö g l i c h k e i t e n gibt, Macht auf M a c h t anzuwenden, Geldbeschaffung zru finanzieren, über Wahrheit zu forschen usw., kann man d e s Glaubens leben, daß die wichtigsten u n d grundlegenden Prozesse dem entzogen bleiben u n d festen Grund bieten. Wenn es zu Totalisierungen k o m m t , w e n n also alle P r o z e s s e eines bestimmten Medienbereichs, sofern sie das M e d i u m verwenden, auf sich selbst anwendbar sind, ändert s i c h die Situation, u n d m a n m u ß fragen, ob u n d w i e u n d bei w e l c h e n Medien die
Motivation Totalisierungen aushalten kann. Im politischen Bereich ist dies die F r a g e nach den motivationalen Bedingungen von D e m o k r a t i e , das heißt der A n w e n d u n g v o n spezifisch politischer M a c h t auch auf den höchsten Machthaber. In Geldsystemen stellt sich die Frage nach den Bedingungen der M ö g l i c h k e i t , den Wert des Geldes w i e d e r u m n u r durch Geld ( D e v i s e n ) zu decken bei z u nehmender Verdichtung weltgesellschaftlicher Interdependenzen. Im Wahrheitsbereich tritt d i e s e s Problem in der F o r m von A n t i n o m i e n u n d logischen Z i r k e l n auf mit der Folge, daß alles Begründen auf ein b l o ß e s Verschieben des Problems hinausläuft. Zweifellos e r z w i n g e n Totalisierungen eine Reorganisation der Mittel bis h i n e i n in die Formen der Selbst-Thematisierung (Reflexion) der Medien-Systeme. Sie führen zu einer Verlagerung e i n e s Teils der Strukturlast auf nichttotalisierbare, situativ partikularisierte N e b e n - C o d e s - z u m Beispiel auf informale M a c h t im politischen Bereich oder auf Reputation im Wissenschaftssystem. D i e logische U n m ö g l i c h k e i t braucht k e i n e reale U n m ö g lichkeit zu sein, denn L o g i k ist nur ein hochspezialisierter
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 65 Satz von Bedingungen der Möglichkeit u n t e r anderen. Nur für den Wahrheits-Code w i r d genau diese Frage prekär, sofern er den binären logischen Schematismus als Grundlage der C o d i e r u n g verwendet . Es m a g A u s w e g e in der Logik selbst geben, etwa in R i c h t u n g auf eine mehrwertige L o g i k o d e r im Sinne der binären Schematisierung von Aussagen ü b e r binäre Schematisierung. Eine Theorie der K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n wird dieses Problem nicht logisch, sondern soziologisch zu ope-rationalisieren versuchen. Ob am Ende e i n e Abschluß-Antinomie oder eine grandiose Tautologie herauskommen w i r d , hat für sie nur eschatologische B e d e u t u n g . Gegenw ä r t i g ist die Zukunft noch offen- M a n kann den Zirkel durch Abstraktion elargieren, kann ihn s t ü c k w e i s e zu vermessen versuchen, kann an Teiltheorien arbeiten und die Sicherheit nicht aus der Gewißheit des F u n d a m e n t s , sondern gerade umgekehrt daraus gewinnen, daß die Prämissen mit Hilfe von Supertheorien im Bedarfsfall w i e d e r auflösbar sein w e r d e n . Ob unter solchen Auspizien Selektionsübertragungen möglich sind u n d zu anschlußfähiger F o r s c h u n g führen können, ist damit noch nicht gesagt. N i c h t zuletzt wird dies abhängen von Fragen des gesellschaftlichen Kontextes der Forscher-Rolle u n d damit von Fragen des N i v e a u s und der Kompatibilität anderer Totalisierungen, denen der Forscher ausgesetzt ist. 44
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Anmerkungen 1 Diese Vorgehensweise impliziert im übrigen eine genaue Umkehrung der scholastischen Annahme »ex multis contingentibus non potest fieri unum necessarium« (Thomas von Aquino, Summa contra Gentiles III 86). Die Abkehr von alteuropäischen Grundpositionen liegt also keineswegs nur im Verzicht auf »praktische Philosophie« und auf moralische Grundannahmen über Natur,
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Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
Mensch und Gesellschaft, sondern zugleich in einer Revolutionierung des Fundierungszusammenhanges von Kontingenz und Notwendigkeit in der Realität und in der Erkenntnis, die in ihren Ansätzen bis auf Duns Scotus zurückverfolgt werden kann. 2 Vgl. Parsons (1967a und b); Parsons (1968). Ferner wichtig für die Übertragung des Konzepts von der Ebene sozialer Systeme auf die des allgemeinen Aktionssystems ders. (1970: 39ff.). Eine klare Präsentation der Grundzüge des Konzepts findet man fer-
ner bei Turner (1968). 3 Zu den logischen Problemen und zur Terminologiegeschichte
vgl. etwa Brogan (1967); Becker-Freyseng (1938); Jalbert (1961); Schepers (1963). Die Auffassung der Kontingenz als »Abhängigkeit von« ist nur eine schöpfungstheologisch bedingte Sonderfassung dieses allgemeinen modaltheoretischen Begriffs. Zur Entstehung dieser Sonderfassung auch Smith (1943).
4 Zu diesem Problem in der Parsonsschen Theorie vgl. Gouldner (1959). 5 Vgl. dazu auch Schräder (1966). Abschwächend sei angeführt, daß diese Lösung nicht als psychologischer Reduktionismus interpretiert werden darf. Sie wird vielmehr in eine allgemeine Theorie des Handlungssystems eingebaut, auf dessen Ebene noch nicht zwischen psychischen und sozialen Systemen differenziert werden kann. Dazu Parsons (1970: 43 ff.). 6 Nur für den Fall des Geldes kommt dies deutlich heraus, also für den Fall, daß das Medium selbst zur Verwendung in konkre-
ten Transaktionen ausgemünzt wird und dadurch seine Allgemeinheit nicht verliert. Aber das ist eine Sonderform, deren exemplarische Verwendung bei Parsons die Klärung der zu Grunde liegenden Probleme eher verstellt als fördert. 7 Dazu und zu den linguistischen Grenzen möglichen Negierens
vgl. Schmidt (1973). 8 So aber Parsons in explizitem Anschluß an Jakobson und Halle (1956). 9 Siehe z. B. Malinowski (1960); Marshall (1961). Daher ist es auch möglich, das sehr sprachnah formulierte Medien-Konzept von Parsons, in dem es primär auf die Vermittlung von symbolischen Bezügen und konkreten Transaktionen ankommt, auf die Verhältnisse archaischer Gesellschaften zu übertragen (Turner 1968). 10 Auf weitere Konsequenzen dieser Relativierung der Kategorien Handeln und Erleben auf (ihrerseits kontingente) Zurechnungs-
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 67 prozesse kann an dieser Stelle nicht angemessen eingegangen werden. Es sei nur der Hinweis notiert, daß dies ein Verzicht auf jede ontische oder essentialistische Bestimmung der Handeln und Erleben definierenden Merkmale impliziert und Handeln bzw. Erleben zur Funktion von Systembildungen werden läßt. 11 Eine gute Einführung bieten Katkov (1937), ferner Green (1944) und Lambert (1960: 63 ff.). Dabei handelt es sich nicht nur um Versuche, das Vorkommen des jeweils negativ Bewerteten zu begründen. Solche Versuche setzen vielmehr, wie immer sie angesetzt werden, die Kontingenzformel des Religionssystems, den Gottesbegriff, unter Abstraktionsdruck mit schwierigsten Folgeproblemen bei der Konstruktion des Ubergangs von unbestimmter zu bestimmbarer (binär spezifizierter) Kontingenz. Siehe nur Peter (1969). 12 Siehe v o r allem Hartmann (1973: 131 ff.). 13 Das Problem, ob und wie Kontingenz motivieren könne, stellt sich nicht nur in Gesellschaftssystemen, sondern auch in Organisationssystemen. Dazu Luhmann (1973b). 14 Oder auch wie ein »impetus« im Sinne des spätscholastischen Begriffs eines accidens, das die Fähigkeit besitzt, auf sein eigenes subiectum zu wirken. 15 »Verstärkung« hat hier zwei miteinander zusammenhängende Aspekte: Größere Häufigkeit im Vergleich zu entsprechenden Vorkommnissen in der Umwelt und größere Häufigkeit pro Zeiteinheit, das heißt Zeitgewinn. Beides zusammen ermöglicht die Ausdifferenzierung und den Aufbau voraussetzungsreich strukturierter Systeme. 16 Eine der besten Analysen dieses Mechanismus gibt Parsons (1953), vgl. ferner Parsons und Smelser (1956: 70ff.) als Anwendung auf das Problem der double interchanges zwischen Teilsystemen des Gesellschaftssystems. 17 Zu den Schwierigkeiten, exklusiver Zweier-Alternativen unter Ausschluß dritter Möglichkeiten im sozialen Verkehr zuzumu-
ten, vgl. Kelly (1958). 18 Dazu für den logischen Schematismus des Mediums Wahrheit £fey(1969). 19 Die Implikation dieser genetischen Struktur ist bei allen Medien, daß die Komplexität des schrittweise aufgebauten Gesamtsystems die Fassungskraft der Einzelentscheidung übersteigt. Das kann durch die These notwendiger Latenz von Strukturen und Funktionen ausgedrückt werden und wird bei jedem Ände-
68 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien rungsvorhaben ein praktisches Problem. Für die Theorie der Kommunikationsmedien folgt daraus, daß die Anwendung des dichotomischen Code auf Gesamtsysteme oder auch nur auf komplexe Satzzusammenhänge (Theorien), ganze Kunstwerke, Herrschaftsrollen etc. und deren Bezeichnung als wahr/falsch, schön/häßlich, rechtmäßig/unrechtmäßig hochaggregierte A u s sagen erfordert, deren Realitätsbezug (Sachhaltigkeit) problematisch bleibt. Die operativ verwendete Codierung eignet sich mithin nicht ohne weiteres zur Kategorisierung des Resultats; ihr Schematismus ist allgemeiner als ihr jeweiliges Produkt (siehe auch die Unterscheidung von Schema und Bild im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft B 176 ff.).
20 Hierzu Forschungsüberblicke bei Bandura (1965); Aronfreed (1968: 76 ff.)21 Die Unwahrscheinlichkeit dieser Errungenschaft läßt sich testen an kulturhistorischen Beobachtungen, die zeigen, daß der Gegenfall normal ist: daß Irrtümer vorgeworfen und bestraft werden, daß Sozialprestige Glaubwürdigkeit verleiht usw. Siehe nur
Hahm (1967: 15 ff.) und Vandermeersch (1965: 235 f.); oder sozialpsychologisch Shibutani (1961: 589ff.). 22 Hierzu mit zahlreichen Belegen Bachelard (1938) und ders. (1949: 102 ff.).
23 Vgl. z. B. Foster (1963) zu Andreas Cappelanus und zu Gesichtspunkten der Differenzierung von religiöser und persönlicher Liebe. 24 Wohlgemerkt liegt der konstitutive binäre Schematismus hier nicht in der Zweiheit der Personen, sondern darin, daß jeder eine Bezugsperson hat, von der er alle anderen unterscheiden kann. 25 Immerhin ist anzumerken, daß bei geringem Grad der Ausdifferenzierung von Kommunikationsmedien die Strukturen in den Motiven tatsächlich verschwimmen, vor allem natürlich auf der Ebene faktischer Interaktion, die auf Reziprozität und wechselseitige Gratifikation nicht verzichtet. So ist die Nutzfreundschaft eine der drei Freundschaftstypen des Aristoteles, die sich auf das Gute, das Angenehme und das Nützliche am Anderen beziehen (also ebenfalls aus der Perspektive des Ego entworfen sind, dessen Erscheinungswelt, phainomenon, der Freundschaft zugrunde liegt). Vgl. Nikomachische Ethik 1155b 17ff. 26 Daß dies nicht vollständig gelingt, weil das Wartevermögen des Reichen größer ist als das des Armen, ist eine Klage, die zur bürgerlichen Gesellschaft strukturell dazugehört. Siehe aber zum
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 69 Vergleich die Schwierigkeiten der Ausdifferenzierung ökonomischer Prozesse in archaischen Gesellschaften bei fehlender Differenzierung der Dichotomien Haben/Nichthaben und Reich/ A r m und bei hoher Moralisierung des Reichtumsgefälles. Dazu
Sablins (1965). 27 Für Parsons beispielsweise ist überhaupt n u r legitime Macht geeignet, als Kommunikationsmedium zu fungieren. Eine nähere Begründung fehlt ebenso wie eine Klärung d e r Frage, was Konsens faktisch und praktisch bedeutet. Außerdem wäre zu klären, unter welchen Verlusten an Information und Engagement eine Aggregation von Aktbewertungen zu Systembewertungen durchgeführt werden kann. 28 Weitere Erläuterungen stelle ich im Hinblick auf eine gesonderte Publikation zum Thema Macht zurück. Siehe Luhmann (1975). 29 In dieser Ambivalenz liegt natürlich eine wichtige genetische Bedingung der Ausbildung binärer Schematismen, die als Rekonstruktion des Ambivalenzproblems auf der Sinnebene begriffen werden können. 30 V g l dazu Eisenstadt (1963). Im Anschluß a n Shils (1961) wird diese Problematik auch durch einen Gesellschaftstypus beschrieben, der auf einem Gegensatz der Ordnungsformen in (städtischen) Zentren und (ländlicher) Peripherie beruht, einem Gegensatz, der erst in der bürgerlichen Gesellschaft durch Demokratisierung der Politik und durch Monetisierung der Wirtschaft aufgehoben worden ist. 31 Einer der bemerkenswertesten Beiträge zu diesem Thema ist immer noch Schumpeter (1953). 32 Deren Formulierung muß in einem doppelten Sinne abstrahiert werden: einmal deswegen, weil sie Dispositionsbegriffe (Modalbegriffe) erfordert; zum anderen deswegen, weil sie die Divergenzen in den System/Umwelt-Perspektiven (z. B. Wahrheifsproduktion aus der Sicht der Politik, Durchsetzbarkeit politischer Entscheidungen aus der Sicht der Wirtschaft) übergreifen muß. 33 Ein guter Testfall für solche Empfindlichkeit ist die »Technokratie-Diskussion«, besonders der moralisch aufgeladene Widerspruch, den Schelskys These von den Sachzwängen (also: Wahrheitszwängen) in der Politik gefunden hat. Siehe Schelsky (1961) und zum weiteren Lenk (1973). 34 Zur Interpretation der politischen Verfassung unter diesen Gesichtspunkten siehe Luhmann (1973 a).
70 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 35 Im übrigen fallen gerade hier interessante und klärungsbedürftige Zeitverschiebungen auf. Die Reflexivität des Glaubens und die Frage der Gründe des Glaubens an den Glauben ist bereits ein mittelalterliches Thema und liegt an der ^Wurzel von Gedankenentwicklungen, die zur Reformation führen (vgl. z. B. Heim 1 9 1 1 ) , eine Diskussion, die zugleich die Selbständigkeit dieses Mediums (z.B. die logische Unbegründbarkeit der fides infusa) zu etablieren sucht. Andererseits scheinen in. der Kunst erst neuere Strömungen eine programmatische Reflexivität in der Form einer Mitdarstellung der Herstellung der Darstellungen zu erlauben. 36 Diese Schärfe der Kontrastierung von verantwortungsüberlastetem Macht- und verantwortungslosem Geldgebrauch löst derzeit deutliche Reaktionen aus, die sich teils in ideologischen Affektionen gegen »Privatkapitalismus«, teils in zunehmenden , organisatorischen, bürokratischen, syndikalistischen Machtbildungen, teils in Schwierigkeiten mit der rechtsförmigen Codierung politischer Macht äußern. Die Effektivität von Anderungsimpulsen ist gerade an dieser Stelle unübersehbar, so wenig einstweilen abschätzbar ist, ob sich ü b e r den Organisationsmechanismus wirklich höhere Niveaus der Kombination von gesellschaftlicher Komplexität und Folgenbeherrschung entwickeln lassen. 37 Strukturell interessant ist das Problem d e r Prostituierten, die im Überschneidungsbereich von Liebe und Geld Minimierungsund Maximierungsinteressen eindeutig u n d rasch kommunizieren muß. 38 Die moderne psychologisierte Liebes-Konzeption tendiert im übrigen in einer A r t gegenromantischer Bewertung zur Legitimation dieses Neben-Code, indem sie Liebe nicht mehr auf die Erlebniswelt bezieht, in der Alter sich laufend identifiziert, sondern auf dessen Identität selbst, oder gar auf das Wachstum seiner Persönlichkeit und dergleichen. Siehe z.B. Swanson (1965),
Otto (1972). 39 Also nichts Rechtswidriges durchsetzen werde in einer Weise, die Paulus als »inverecundum« bezeichnet hat. Siehe die im Mittelalter viel zitierte und politisch ausgebeutete Digestenstelle D 32, 23. 40 Für die Knappheits-Annähme siehe zum Beispiel Poster (1965). 41 So zum Beispiel beim Einfordern jenes Mindestrespekts vor dem Recht im direkten Umgang mit dem Herrscher. Siehe hierzu
Bünger (1946: 27 f., 66 ff.).
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 71 42 Ein Beispiel aus dem 14. Jahrhundert: Hilton 1932. 43 Diese Fassung des Motivbegriffs schließt an Max Weber an. Sie-
he auch Mills (1940) und Burke (1962); ferner White (1958) und
Blum und McHugh (1971). 44 Hierzu die Einwände gegen eine mit Reflexivstrukturen arbeitende System-Theorie bei Heß (1971/72). 45 In diesen Funktionskontext ordnen sich A r b e i t e n an einer (möglichst) allgemeinen Systemtheorie ein, die durch funktionale Methodik ein Höchstmaß an noch strukturierbarem Auflösungsvermögen für realitätsbezogene Prämissen konkreter Teiltheorien zu erreichen sucht. Die Funktion solcher Supertheorien wäre mithin, für den Fall des Prämissenwechsels die Lernfähigkeit des Wissenschaftssystems zu gewährleisten unter Vemeidung des Zurückfallens auf den Anfang u n d völligen Neubeginns.
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
I O h n e K o m m u n i k a t i o n gibt es keine menschliche Beziehungen, ja kein menschliches Leben. Eine Theorie der K o m m u n i k a t i o n kann sich deshalb n i c h t n u r mit A u s schnitten aus d e m Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens befassen. Sie kann sich n i c h t damit begnügen, einzelne Techniken der K o m m u n i k a t i o n zu erörtern, auch w e n n in der heutigen Gesellschaft solche Techniken und ihre Folgen, w e i l sie neu sind, besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ebenso w e n i g genügt e s , mit einer Begriffsdiskussion zu beginnen . Das w ü r d e n u r z u m Ziel führen, w e n n man z u v o r schon weiß, w a s m a n mit d e m Begriff erreichen w i l l u n d in w e l c h e m Theoriezusammenhang er arbeiten soll. Darüber kann jedoch k e i n Konsens vorausgesetzt werden. Deshalb beginnen w i r m i t der Unterscheid u n g von z w e i verschiedenartigen theoretischen Intentionen, von denen sich der Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie leiten lassen kann. Die eine A r t von Theorie fragt nach den Möglichkeiten d e r Verbesserung der Verhältnisse. Sie l ä ß t sich leiten durch Vorstellungen der Perfektion, der Gesundheit oder im w e i testen Sinne bestmöglicher Zustände. B a c o n u n d die von i h m ausgehende Wissenschaftsbewegung haben so gedacht. N a t u r k e n n t n i s ebenso w i e Vermeidung von Fehlurteilen sind nicht unbedingt für die Erhaltung d e r Welt nötig. M a n braucht keine Optik, um richtig sehen zu können. Aber sie dienen d e m A u s b ü g e l n von Fehlformen u n d der fortschreitenden Verbesserung der Bedingungen, unter denen die M e n s c h e n leben. D i e andere A r t von Theorie beginnt m i t einer These der Unwahrscheinlichkeit. Ebenso distanziert w i e die erste von 1
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 77 bloßer Perpetuierung der Zustände, w i e s i e sind, löst sie die Routineerwartungen u n d die S i c h e r h e i t e n des täglichen L e bens auf u n d nimmt sich vor zu e r k l ä r e n , w i e Zusammenhänge, die an sich unwahrscheinlich sind, dennoch möglich, ja hochgradig sicher erwartbar w e r d e n . Im Unterschied zu Bacon hatte H o b b e s die politische T h e o r i e auf eine solche Unwahrscheinlichkeitsannahme g e g r ü n d e t ; u n d im Unterschied zu Galilei hatte Kant sich nicht m e h r auf die Möglichkeit einer natürlichen Erkenntnis d e r N a t u r verlassen, sondern synthetische Erkenntnis als s o l c h e bezweifelt und dann nach den Bedingungen ihrer M ö g l i c h k e i t gefragt. Die Leitfrage ist dann nicht die nach p r a k t i s c h e n Verbesserungen. Es geht um eine theoretische Vorfrage aller Verbesserungen: W i e kann eine Ordnung sich aufbauen, die U n mögliches in Mögliches, U n w a h r s c h e i n l i c h e s in Wahrscheinliches transformiert? D i e folgenden Ü b e r l e g u n g e n halten s i c h ausschließlich an die zuletzt genannte Fragestellung u n d suchen für den Bereich der K o m m u n i k a t i o n eine e n t s p r e c h e n d e Theorieform. D e r G r u n d dafür ist: daß n u r so die Einheit eines alle Gesellschaft fundierenden S a c h v e r h a l t s angemessen erfaßt w e r d e n kann. A b e r es gibt auch G r ü n d e der praktischen Orientierung, die sich in einer W a c h s t u m s - u n d Wohlfahrtsgesellschaft zunehmend a u f d r ä n g e n . M a n kann nicht länger naiv davon ausgehen, daß a u f der Basis von » N a t u r « - sei es physischer, sei es m e n s c h l i c h e r Natur Verbesserungen i m m e r weiter m ö g l i c h sein werden . W e n n m a n die N a t u r als ü b e r w u n d e n e U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t begreift, g e w i n n t man ein anderes M a ß für die Beurteilung des Erreichten u n d des zu Verbessernden; dann w i r d z u m i n d e s t klar, daß jede A u f l ö s u n g einer Ordnung i n die U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t einer R e k o m b i n a t i o n z u rückführt. 2
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation II
Eine Kommunikationstheorie des hier angestrebten Typs behauptet also als erstes: K o m m u n i k a t i o n ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, o b w o h l w i r sie jeden Tag erleben, praktizieren u n d ohne sie n i c h t leben würden. Diese unsichtbar gewordene U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t gilt es vorab zu begreifen, und dazu bedarf es einer sozusagen contra-phänomenologischen A n s t r e n g u n g . Diese Aufgabe läßt sich lösen, w e n n man K o m m u n i k a t i o n nicht als Phänomen, sondern als Problem auffaßt; w e n n man also nicht einen den Sachverhalt möglichst d e c k e n d e n Begriff sucht, sondern zunächst fragt, w i e K o m m u n i k a t i o n überhaupt möglich ist. Dabei stößt man sogleich auf eine M e h r z a h l von Problemen, eine M e h r z a h l von Hindernissen, die die Kommunikation ü b e r w i n d e n muß, damit sie ü b e r h a u p t Zustandek o m m e n kann. (1) A l s erstes ist unwahrscheinlich, d a ß einer überhaupt versteht, w a s der andere meint, g e g e b e n die Trennung u n d Individualisierung ihres B e w u ß t s e i n s . Sinn kann n u r kontextgebunden verstanden w e r d e n , und als Kontext fungiert für jeden zunächst e i n m a l das, was sein eigenes Gedächtnis bereitstellt. (2) Die zweite Unwahrscheinlichkeit b e z i e h t sich auf das Erreichen v o n Empfängern. Es ist unwahrscheinlich, daß eine Kommunikation mehr P e r s o n e n erreicht, als in einer konkreten Situation anwesend sind. Das Problem liegt in der räumlichen u n d z e i t l i c h e n Extension. Das . Interaktionssystem der jeweils A n w e s e n d e n garantiert in praktisch ausreichendem M a ß e A u f m e r k s a m k e i t für K o m m u n i k a t i o n , u n d es zerbricht, w e n n man erkennbar k o m m u n i z i e r t , daß man nicht k o m m u n i z i e r e n w i l l . Ü b e r die Grenzen dieses Interaktionssystems hinaus können die hier geltenden Regeln j e d o c h nicht erzwun-
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 79 gen w e r d e n . Selbst w e n n die Kommunikation bewegliche u n d zeitbeständige Träger findet, w i r d es daher unwahrscheinlich, daß sie Aufmerksamkeit voraussetzen kann. In anderen Situationen haben d i e Leute etwas anderes zu tun. (3) Die dritte Unwahrscheinlichkeit ist d i e Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs. Selbst w e n n eine Kommunikation verstanden w i r d , ist damit noch nicht gesichert, daß sie auch angenommen w i r d . M i t k o m m u n i k a t i v e m »Erfolg« meine ich, daß der Empfänger den selektiven Inhalt der K o m m u n i k a t i o n (die Information) als Prämisse des eigenen Verhaltens übernimmt, also an die Selektion w e i t e r e Selektionen anschließt u n d sie dadurch in ihrer Selektivität verstärkt. A n n e h m e n als Prämisse eigenen Verhaltens k a n n dabei bedeuten: H a n d e l n nach entsprechenden Direktiven, aber auch Erleben, Denken u n d weitere Kognitionen Verarbeiten u n t e r der Voraussetzung, daß eine bestimmte Information zutrifft. Diese Unwahrscheinlichkeiten sind nicht nur Hindernisse für das A n k o m m e n einer K o m m u n i k a t i o n beim Adressaten, sie w i r k e n zugleich als Schwellen der Entmutigung u n d führen z u m Unterlassen einer Kommunikation, die man für aussichtslos hält. Die Regel, es sei nicht möglich, nicht zu k o m m u n i z i e r e n , gilt nur innerhalb von Interaktionssystemen unter Anwesenden, u n d selbst hier regelt sie nur, daß, nicht w a s k o m m u n i z i e r t w i r d . M a n w i r d Kommunikationen unterlassen, w e n n Erreichen v o n Personen, Verständnis u n d Erfolg nicht ausreichend als gesichert erscheinen. Ohne K o m m u n i k a t i o n bilden sich aber keine sozialen Systeme. Die Unwahrscheinlichkeiten des Kommunikationsprozesses u n d die Art, w i e sie ü b e r w u n d e n und in Wahrscheinlichkeiten transformiert werden, regeln deshalb den Aufbau sozialer Systeme. So kann m a n den Prozeß der soziokulturellen Evolution begreifen als U m f o r m u n g und Erweiterung der Chancen für aussichtsreiche K o m m u n i k a 3
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Die Unwabrscheinlichkeit der Kommunikation
tion, um die herum die Gesellschaft i h r e sozialen Systeme bildet; u n d es liegt auf der H a n d , daß d i e s nicht einfach ein Wachstumsprozeß ist, sondern ein selektiver Prozeß, der bestimmt, welche Arten sozialer S y s t e m e möglich werden u n d w a s als zu unwahrscheinlich ausgeschlossen wird. Die drei Arten von U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t verstärken sich wechselseitig. Sie können nicht eine n a c h der anderen abgearbeitet u n d in Wahrscheinlichkeiten transformiert werden. Wenn eines der Probleme gelöst ist, w i r d die Lösung der anderen umso schwieriger. Wenn man eine Kommunikation richtig versteht, hat man u m s o mehr Gründe, sie abzulehnen. Wenn die K o m m u n i k a t i o n den Kreis der A n wesenden überschreitet, w i r d Verstehen schwieriger und Ablehnen w i e d e r u m leichter. Diesem Gesetz wachsender wechselseitiger Belastungen scheint die »Philosophie« ihren Ursprung zu verdanken . Sobald Schrift es ermöglicht, Kommunikation über den räumlich und zeitlich begrenzten Kreis der A n w e s e n d e n h i n a u s z u t r a g e n , kann man sich nicht mehr auf das rhapsodische M o m e n t des versgebundenen R h y t h m u s verlassen, der nur A n w e s e n d e mitzureißen vermag; man muß mit der Sache selbst argumentieren . Dies Gesetz, daß UnWahrscheinlichkeiten sich wechselseitig verstärken u n d Problemlösungen in einer Hinsicht die Möglichkeiten in anderen H i n s i c h t e n limitieren, bedeutet, daß es keinen direkten Weg zu i m m e r besserer menschlicher Verständigung gibt. Wenn man es darauf anlegt, steht man vielmehr vor einem Wachstumsproblem mit zunehmend diskrepanten Erfordernissen. Im S y s t e m der modernen M a s s e n k o m m u n i k a t i o n handelt m a n z w a r unter dem Eindruck des Funktionierens so, als ob diese Probleme gelöst wären. Von den einzelnen Arbeitsplätzen in Redaktionen oder Rundfunkanstalten aus sind sie in der Tat nicht mehr sichtbar. Dennoch w i r d m a n fragen müssen, ob die Strukturen der modernen Gesellschaft nicht wesentlich dadurch bestimmt sind, daß die Problemlösungen sich wechselseitig belasten u n d i m m e r neue Folgeprobleme auslösen. 4
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 81 III In dieser Theorie braucht man einen Begriff, der zusammenfassend sämtliche Einrichtungen bezeichnet, die der U m f o r m u n g unwahrscheinlicher in wahrscheinliche Kommunikation dienen, und z w a r für alle drei Grundprobleme. Ich schlage vor, solche Einrichtungen als Medien zu bezeichnen. N o r m a l e r w e i s e w i r d nur von Massenmedien gesprochen. Darunter versteht man Techniken, die der Extension der K o m m u n i k a t i o n auf Nichtanwesende dienen, vor allem D r u c k und Funk. Parsons hat dem den Begriff der symbolisch generalisierten » m e d i a of interchange« hinzugefügt u n d eine entsprechende Theorie am Modellfall des Geldes entworfen . Seitdem w i r d in den Sozialwissenschaften der Begriff der M e d i e n in z w e i verschiedenen Bedeutungen gebraucht und ist n u r noch aus dem jeweiligen Kontext heraus oder mit Hilfe zusätzlicher Erläuterungen verständlich. Der Vorschlag, den Begriff auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit im Kommunikationsprozeß zu beziehen u n d ihn damit funktional zu definieren, könnte diese Konfusion bereinigen und zugleich zur Klärung der Bedeutung u n d des Umfangs von drei verschiedenen Arten von M e d i e n beitragen. Das M e d i u m , das das Verstehen von Kommunikationen ü b e r das vorausliegende Wahrnehmen hinaus steigert, ist die Sprache. Sie benutzt symbolische Generalisierungen, um W a h r n e h m u n g e n zu ersetzen, zu vertreten, zu aggregieren und die d a m i t anfallenden Probleme des übereinstimmenden Verstehens zu lösen. Die Sprache ist, mit anderen Worten, darauf spezialisiert, den Eindruck des übereinstimmenden Verstehens als Basis weiteren Kommunizierens verfügbar zu machen - w i e brüchig immer dieser Eindruck zustandegekommen sein mag. Die Verbreitungsmedien sind mit der Bezeichnung als Massenmedien nicht zureichend charakterisiert. Vor allem erfüllt bereits die Erfindung der Schrift eine entsprechende 6
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
Funktion, die Grenzen des Systems der unmittelbar Anwesenden u n d der face-to-face K o m m u n i k a t i o n zu transzendieren. Verbreitungsmedien können sich der Schrift, aber auch anderer Formen der Fixierung v o n Informationen bedienen. Sie haben eine k a u m überschätzbare selektive A u s w i r k u n g auf die Kultur, w e i l sie das Gedächtnis immens erweitern, aber auch durch ihre Selektivität einschränken, w a s für anschließende K o m m u n i k a t i o n e n zur Verfügung steht. Die Kommunikationstheorie hat sich im allgemeinen auf diese beiden A r t e n v o n Medien konzentriert. Das ergibt j e doch ein arg disbalanciertes Bild. Erst w e n n man die Frage hinzunimmt, über w e l c h e M e d i e n Kommunikationen denn Erfolg haben können, gelangt man zu einer Theorie, die Kommunikationsprobleme in der Gesellschaft vollständig ins A u g e faßt. Die dritte A r t von M e d i e n kann man als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bezeichnen, weil sich in ihnen das Ziel der Kommunikation erst eigentlich erfüllt . Parsons nennt auf der Ebene sozialer S y steme als M e d i e n dieser A r t money, power, influence und value commitments. Ich w ü r d e für d a s Wissenschaftssystem Wahrheit u n d für den Bereich v o n Intimbeziehungen Liebe hinzufügen . D i e unterschiedlichen Medien erfassen die wichtigsten zivilisatorischen Bereiche des Gesellschaftssystems u n d für die neuzeitliche Gesellschaft ihre primären Subsysteme. M a n erkennt daran, w i e sehr eine Steigerung der Kommunikationschancen im Evolutionsprozeß s y stembildend g e w i r k t u n d zur Ausdifferenzierung von besonderen Systemen für Wirtschaft, Politik, Religion, W i s senschaft usw. geführt hat. Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstehen erst, w e n n die Verbreitungstechnik es ermöglicht, die Grenzen der Interaktion unter A n w e s e n d e n zu überschreiten u n d Informationen auch für eine unbekannte Zahl von N i c h t a n w e s e n d e n und für noch nicht genau bekannte Situationen festzulegen. Sie setzen, mit anderen 7
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 83 Worten, die Erfindung von generell verwendbarer Schrift voraus'. Angesichts von so stark erweiterten Möglichkeiten der Kommunikation versagen die im Interaktionssystem gegebenen, an Anwesenheit gebundenen Erfolgsgarantien. Sie müssen durch abstraktere u n d z u g l e i c h spezifischere Mittel ersetzt oder jedenfalls ergänzt w e r d e n . In der griechischen Klassik bilden sich dementsprechend neue CodeW o r t e (nömos, aletheia, philia) u n d entsprechend differenzierte N o r m s y s t e m e aus, die die B e d i n g u n g e n bezeichnen, unter denen man auch für entsprechend unwahrscheinlichere Kommunikationen noch mit Annahmewahrscheinlichkeiten rechnen kann. Seitdem ist es n i e wieder gelungen, die Erfolgsbedingungen für K o m m u n i k a t i o n in einer für alle Situationen geltenden, einheitlichen Semantik zusammenzufassen, und nach Erfindung des Druckes verschärfen sich die Differenzen zwischen diesen Kommunikationsmedien so sehr, daß sie schließlich a u c h die Prämisse einer einheitlichen, natürlich-moralisch-rechtlichen Grundlage sprengen: Staatsräson u n d amour passion, methodisch erarbeitete wissenschaftliche Wahrheit, G e l d und Recht nehmen verschiedene Wege, i n d e m sie sich auf je verschiedene Unwahrscheinlichkeiten erfolgreicher Kommunikation spezialisieren. Sie benutzen verschiedene Kommunikationswege - die Staatsräson z. B. das Militär und die Verwaltungshierarchie, der a m o u r passion den Salon, den (publizierbaren) Brief u n d den R o m a n - u n d sie führen zur Ausdifferenzierung verschiedenartiger Funktionssysteme, die schließlich den Verzicht auf eine ständische Ordnung der Gesellschaft u n d damit den Ü b e r g a n g in die moderne Gesellschaft ermöglichen. Diese knappe S k i z z e zeigt den Doppelaspekt unseres theoretischen Konzepts. O r d n u n g entsteht dadurch, daß unwahrscheinliche K o m m u n i k a t i o n t r o t z d e m ermöglicht u n d in sozialen S y s t e m e n normalisiert w i r d . Dabei steigert die Unwahrscheinlichkeit der Verbreitung, w e n n sie technisch überwunden w e r d e n k a n n , die Unwahrscheinlichkeit
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
des Erfolgs. Die Kultur w i r d durch Veränderungen im B e reich der Kommunikationstechnik unter neuartige Anforderungen gestellt. Die Art, w i e sie ihre Uberzeugungsmittel geordnet hatte, gerät unter den Druck veränderter Bedingungen der Plausibilität, so daß manches - etwa der Kult der » M e m o r i a « - erübrigt u n d anderes - etwa der Kult des » N e u e n « - ermöglicht w i r d . Insgesamt fällt der Trend zu größerer Differenzierung u n d Spezifikation auf, also auch die N o t w e n d i g k e i t , i m m e r mehr W i l l k ü r zu institutionalisieren. Dabei nimmt, w i e generell in der Evolution des L e b e n s , die Beschleunigung der Veränderung z u , so daß die Ü b e r w i n d u n g zunehmender Unwahrscheinlichkeiten in i m m e r rascherer Folge aus dem Vorhandenen heraus entwickelt w e r d e n m u ß , also insgesamt schon aus Zeitgründen unwahrscheinlicher w i r d u n d das w ä h l e n m u ß , w a s rasch geht. 10
IV D i e Ü b e r l e g u n g e n zu den A u s w i r k u n g e n der neuen M a s senmedien, die derzeit angestellt w e r d e n , lassen sich durch eine zu enge Problemstellung führen. Sie fragen, orientiert an d e m Begriff der » M a s s e « , nach den A u s w i r k u n g e n der M e d i e n auf das individuelle Verhalten. Die gesellschaftlichen Konsequenzen ergeben sich in dieser Sicht daraus, daß das individuelle Verhalten durch Massenpresse, Film u n d F u n k massenhaft deformiert w i r d . A u c h die sich abzeichnenden Veränderungen auf diesem Sektor, e t w a die Erweiterung der Zugänglichkeit von Sendungen oder sogar von K o m m u n i k a t i o n schlechthin im eigenen H a u s e werden unter diesem Gesichtspunkt antezipiert. Es soll nicht bestritten werden, daß man so forschen kann. A b e r wichtige Veränderungen k o m m e n bei dieser Verengung der Fragestell u n g gar nicht erst in den Blick. Denn die Gesellschaft ist i m m e r ein differenziertes System; sie besteht nicht einfach
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 85 aus einer großen Zahl von einzelnen H a n d l u n g e n , sondern sie bildet zunächst Teilsysteme u n d T e i l s y s t e m e in Teilsystemen, u n d nur durch Zuordnung zu s o l c h e n Teilsystemen - etwa Familien, Politik, Wirtschaft, R e c h t , Gesundheitssystem, Erziehung - kann Handeln gesellschaftliche Relevanz gewinnen im Sinne von über die S i t u a t i o n hinausgehenden Effekten. W i l l man einen Überblick gewinnen ü b e r das, w a s sich in der heutigen Gesellschaft auf Grund d e r Struktur ihrer Kommunikationsmöglichkeiten v e r ä n d e r t , muß man deshalb sehr viel umfassender ansetzen. Das Problem der Unwahrscheinlichkeit von K o m m u n i k a t i o n schlechthin und die Vorstellung der Gesellschaft als e i n e s differenzierten S y s t e m s konvergieren, denn System ist d i e ins Wahrscheinliche umgeformte UnWahrscheinlichkeit d e r Kommunikation. M a n m u ß daher sowohl die V e r ä n d e r u n g e n in der Verbreitungstechnik als auch die U n t e r s c h i e d e der Erfolgschancen von Kommunikationen u n d d e r e n Veränderung sowie die R ü c k w i r k u n g e n beider Problernbereiche aufeinander berücksichtigen. Zu all dem k o m m t noch die Frage, ob es unabhängig von der Vermittlung d u r c h Systemdifferenzierung noch direkte A u s w i r k u n g e n auf individuelle Einstellungen u n d Motive gibt, die im systemtheoretischen Sinne z u r U m w e l t des Sozialsystems Gesellschaft gehören, eben deshalb aber auf dieses z u r ü c k w i r k e n . Dies Problem einer latenten, gleichsam d e m o g r a p h i s c h e n Effektivität hat sich neuerdings auch in A n a l y s e n des Erziehungssystems aufgedrängt, so etwa unter dem S t i c h w o r t des heimlichen Lehrplans (hidden c u r r i c u l u m ) . G a n z ä h n l i c h kann man vermuten (und insofern bietet sich ein V e r g l e i c h von Massenmedien u n d Massenerziehung in S c h u l k l a s s e n an), daß auch organisierte Massenmedien das R e p e r t o i r e der Einstellungen u n d Bereitschaften selektiv b e s c h r ä n k e n , auf das andere Teilsysteme der Gesellschaft z u r ü c k g r e i f e n können. Ein so breit ausgezogenes F o r s c h u n g s p r o g r a m m kann hier natürlich nicht einmal a n n ä h e r u n g s w e i s e skizziert wer11
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kornmunikation
den. W i r müssen uns damit begnügen, e i n i g e der möglichen Fragestellungen mit Beispielen zu belegen. 1) W i e immer man die funktional z u r Erhaltung oder E n t w i c k l u n g einer Gesellschaft n o t w e n d i g e n Erfordernisse bestimmen w i l l , man k a n n nicht d a v o n ausgehen, daß die Steigerung der Erfolgschancen für K o m m u n i k a t i o n alle Funktionsbereiche gleichmäßig fördert. Die von Europa ausgehende moderne Gesellschaft hat s i c h bisher in hohem M a ß e auf w e n i g e symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien gestützt, die sich als sehr effizient erwiesen haben, vor allem auf theoretisch und m e t h o d i s c h garantierte wissenschaftliche Wahrheit, auf Geld u n d auf rechtsförmig verteilte politische Macht. Dem entsprach eine Prominenz von Wissenschaft, Wirtschaft Und P o l i t i k im Gesamtverständnis der Gesellschaft. A u c h die Parsons'sche Theorie des allgemeinen Handlungssystems g e h t davon aus, daß alle Funktionsbereiche aus der L o g i k i h r e r Differenzierung heraus gleichermaßen über ein K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m verfügen. H i e r w i r d Wunsch zur T h e o r i e . M a n wird sich jedoch mit der Einsicht zu befreunden haben, daß es für eine solche K o n g r u e n z von funktionalen Notwendigkeiten u n d Kommunikationschancen w e d e r n a t ü r l i c h e noch theoretische Garantien gibt. Dabei fällt besonders ins Gewicht, d a ß sich für alle B e m ü h u n g e n um Ä n d e r u n g von Personen, von der Erziehung angefangen bis zu therapeutischer B e h a n d l u n g u n d Rehabilitation, k e i n s y m b o l i s c h generalisiertes Kommunikationsm e d i u m hat e n t w i c k e l n lassen, o b w o h l dieser Funktionsbereich weitestgehend auf K o m m u n i k a t i o n beruht. Hier bleibt Interaktion unter Anwesenden d i e einzige Möglichkeit, Personen davon zu überzeugen, d a ß sie sich ändern müssen. Dafür gibt es im strengen S i n n e keine wissenschaftlich bewährte Technologie . W e d e r Wahrheit, noch Geld, noch Recht, noch Macht, noch L i e b e bieten ausreichende, erfolgssichere Ressourcen. Ein steigender Aufwand 12
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 87 an Personen u n d Interaktionen w i r d diesem Problembereich gewidmet, ohne daß man wüßte, ob u n d w i e man durch A u f w a n d technische Ineffizienz kompensieren kann. Das Beispiel zeigt, daß es sehr wohl disbalancierte Entw i c k l u n g gibt. In einigen Bereichen gelingt die Umform u n g des Unwahrscheinlichen ins routinemäßig Erwartbare bis hin zu Möglichkeiten technischer Steuerung komplexer Systeme, die in ihren Basisprozessen gleichwohl auf freien Entscheidungen beruhen. In anderen Bereichen stagniert die Entwicklung, w e i l bei zunehmenden Leistungsansprüchen schon innerhalb einfacher Interaktionssysteme entmutigende Schwellen der Unwahrscheinlichkeit auftreten. 2) Die nächsten Beispiele gewinnen wir, w e n n w i r nach R ü c k w i r k u n g e n der Verbreitungstechnik auf die Funktionsbereiche der Gesellschaft u n d auf ihre Kommunikationsmedien fragen. Es ist sicher, daß die Erfindung des B u c h d r u c k s sehr rasch die Bedingungen geändert hat, unter denen w i c h t i g e Funktionen des Gesellschaftssystems zu erfüllen sind. Viel von der religiösen Radikalisierung, die schließlich zu den konfessionellen Spaltungen geführt hat,, geht aufs Konto des Buchdrucks, weil er Positionen öffentlich verfestigt, die man schwer w i e d e r zurücknehmen kann, w e n n m a n mit ihnen identifiziert ist . Für die Politik ergibt sich durch den Buchdruck die Möglichkeit zu politischem Einfluß u n d politischen Karrieren außerhalb des Fürstendienstes; der Verzicht auf Ü b e r n a h m e eines A m t e s am Hofe bedeutet nicht mehr unbedingt Verzicht auf politischen Einfluß , u n d darauf m u ß die Politik sich dann einstellen. F ü r den Bereich der Geselligkeit und der Intimbeziehungen bringt der B u c h d r u c k einerseits Bildungsmöglichkeiten, andererseits fehlgeleitete Aspirationen; er verführt z u r Imitation, u n d er überzieht zugleich die M ö g lichkeiten der Imitation . Er empfiehlt Regeln, und er empfiehlt zugleich, sich nur nach Gutdünken daran zu hal14
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t e n . Allgemein formuliert, verändert d e m n a c h der Buchd r u c k die Repertoires, aus denen Funktionssysteme ihre Operationen auswählen, er kann die M ö g l i c h k e i t e n erweitern, kann die Selektion aber auch erschweren. Dies w i r d auch gelten, n a c h d e m die Massenmedien sich v o n Bildung unabhängig gemacht u n d ihre Möglichkeiten beträchtlich erweitert haben. A b e r l a s s e n sich Leitlinien erk e n n e n ? M a n ist auf M u t m a ß u n g e n angewiesen. Es mag eine A r t von Sendekultur entstehen, d i e ihre Bestätigung n u r noch darin hat, daß sie in den S e n d u n g e n vorausgesetzt w i r d . A b e r heißt das dann, daß die M o r a l die Macht k o r rumpiert, w i e A r n o l d Gehlen im Blick auf die Vereinigten Staaten vermutet h a t t e ? U n d tritt n i c h t auch der Gegenfall zugleich ins Relief: daß die M a c h t leichtes Spiel hat, die M o r a l zu korrumpieren, i n d e m sie das ändert, w a s in den Sendungen vorausgesetzt ist? Deutlicher als solche Thesen, daß Massenmedien die Voraussetzungen ändern, v o n denen d i e Politik ausgeht, zeichnen sich formalere Effekte ab. Vor allem verändert sich die Zeitstruktur einer Politik, die sich ständig in den Massenmedien spiegelt. Sie w i r d d u r c h diese Reflexivität beschleunigt, w e i l sie von M o m e n t zu M o m e n t auf die Tatsache reagieren muß, daß u n d w i e berichtet w i r d , was sie getan hat. Die Spiegeltänze, die hierzu n ö t i g sind, schließen eine Orientierung an politischer T h e o r i e w i r k s a m aus, u n d die Voraussetzungen für Teilnahme an Politik, die einerseits in Demokratien immens erweitert w o r d e n sind, werden dadurch w i e d e r eingeschränkt, daß man i m m e r aktuell informiert sein muß. Welchen Realitätsgehalt solche A n a l y s e n auch immer haben mögen, ihr Leitgesichtspunkt ist d i e allgemeine These der Selektivität aller Errungenschaften, die Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches transformieren. Auf jedem veränderten, durch neue Techniken hinausgeschobenen N i veau unwahrscheinlich-wahrscheinlicher Kommunikation müssen institutionelle L ö s u n g e n neu einbalanciert werden. 18
Die UnWahrscheinlichkeit der Kommunikation 89 U n d w i e d e r u m : Woher nehmen w i r die Garantie, daß z u friedenstellende Lösungen für jeden Funktionsbereich i m mer möglich sein w e r d e n ? 3) Von den soeben erörterten Problemen unmittelbarer R ü c k w i r k u n g e n der Verbreitungstechnik auf Funktionssysteme m u ß die Frage unterschieden w e r d e n , ob das organisierte S y s t e m der Massenmedien die persönlichen Einstellungen u n d Handlungsbereitschaften ändert, auf die die Gesellschaft als Ressourcen zurückgreifen kann, um sozial anschlußfähiges Verhalten selektiv zu motivieren . Dies hat indirekt natürlich auch w i e d e r R ü c k w i r k u n g e n auf die Möglichkeiten v o n Politik, Wissenschaft, Familienbildung, Religion usw. A b e r diese Funktionssysteme reagieren auch schon direkt u n d ohne durch Motivlagen ihrer Mitglieder dazu genötigt zu sein, auf die Massenmedien. M a n denke als Beispiel e t w a an die kirchenpolitische Problematik des Falles , » K ü n g « , in d e m Provokation u n d Reaktion, Mut und Zögern, Reformwille u n d Standpunktfestigkeit im Hinblick auf Massenmedien inszeniert sind. Dies jetzt beiseitegelassen, m a g es auch die schon erwähnte » d e m o g r a p h i s c h e « Effektivität v o n Massenmedien geben, mit der kollektive Mentalitäten geformt werden, die dann B e d i n g u n g e n vorgeben, mit denen alle sozialen Systeme rechnen müssen. Sicher darf man sich dies aber nicht so vorstellen, als ob in der Bevölkerung z u m Beispiel durch Fernsehen massenhaft auftretende, gleichförmige Einstellungen erzeugt w ü r d e n . Eher ist zu vermuten, daß gewisse Prämissen, nach denen gedruckt u n d gesendet w i r d , mitübertragen w e r d e n , u n d z w a r Prämissen, die ermöglichen, daß etwas überhaupt als Information erscheint . D i e vielleicht wichtigste Prämisse dieser A r t ist: daß etwas als neu bzw. als abweichend erscheinen m u ß , um meldewürdig zu sein. Das schließt monotone Repetition (Fußball, Unfälle, R e g i e r u n g s c o m m u n i q u e s , Kriminalität) nicht aus, sondern ein. Ein ähnliches A u s l e s e p r i n z i p ist Konflikt . M a n muß 19
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vermuten, daß solche Prämissen, die stets die Diskontinuität gegenüber der Kontinuität betonen, verunsichernd w i r ken. Man kann sich vorstellen, daß d a d u r c h Forderungen nach Sicherung vor u n d Teilhabe an Veränderungen, also Ängste und Ansprüche zugleich stimuliert werden. Für das politische u n d das wirtschaftliche S y s t e m der Gesellschaft mag es dann - gleichgültig, ob ihr Zusammenhang über privat- oder staatskapitalistische O r d n u n g e n hergestellt wird immer schwieriger w e r d e n , sich mit d e n Erwartungen der Bevölkerung abzustimmen. » A r e we asking the right questions«, hatte man sich auf einer U N E S C O - K o n f e r e n z ü b e r Massenmedien gefragt . A u c h am Ende unserer Problemskizze w i r d man nicht sicher sein können, ob es die » r i c h t i g e n « Fragen sind, und der Philosoph w i r d noch fragen w o l l e n , ob es überhaupt »richtige« Fragen gibt. Jedenfalls sollte es aber möglich sein, Problemstellungen der Kommunikationsforschung radikaler anzusetzen u n d systematischer zu entwickeln, als es bisher üblich ist. Der Zusammenhang v o n Unwahrscheinlichkeit und Systembildung ist eine der Konzeptionen, die die Systemtheorie hierfür bereithält. W e n n man vom Problem der U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t ausgeht, w i r d man ganz von selbst w e n n nicht zu richtigen, so doch zu tiefergreifenden Fragen geführt, die im Zusammenhang von Kommunikation u n d Gesellschaft ein T h e m a nicht nur einer speziellen Kommunikationsforschung sehen, sondern ein zentrales Thema der Gesellschaftstheorie schlechthin. 22
Anmerkungen 1 Klaus Merten, Kommunikation: Eine Begriffs- und Prozeßanalyse, Opladen 1977, hat den Versuch unternommen, solche Diskussionen auf übereinstimmend genannte Merkmale hin auszuwerten.
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 91 2 Für Äußerungen dieser A r t siehe etwa Joseph Glanvill, The
Vanity of Dogmatizing, London 1661; Francis Hutcheson, An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, London 1728, Preface.
3 Paul Watzlawick I Janet H. Beavin / Don D. Jackson, Pragmatics of Human Communication: A Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes, New York 1967, S. 48, 72 ff. 4 Vgl. Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge Mass. 1963. 5 Zum Entstehen von nicht versgebundenen Kunstformen der Literatur vgl. auch Rudolf Kassel, Dichtkunst u n d Versifikation bei den Griechen, Vortrag vor der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Opladen 1 9 8 1 . 6 Die hierzu wichtigsten Aufsätze sind neu abgedruckt in: Talcott Parsons, Politics and Social Structure, New Y o r k 1969. Siehe auch ders., Social Structure and the Symbolic Media of Interchange, in: Peter M. Blau (Hrsg.), Approaches to the S t u d y of Social Structure, New York 1975, S. 94—120. Aus der umfangreichen Sekundärliteratur ragen heraus: David A. Baldwin, Money and Power, The Journal of Politics 33 (1971), S. 5 7 8 - 6 1 4 ; Rainer C. Baum, On Societal Media Dynamics, in: Jan J. Louhser et al. (Hrsg.), Explorations in General Theory in Social Science: Essays in Honor of Talcott Parsons Bd. II, New York, 1 9 7 6 , S. 579-608; Jürgen Habermas, Handlung und System - Bemerkungen zu Parsons' Medientheorie, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System: Talcott Parsons' Beitrag z u r Entwicklung der
Sozialwissenschaften, Frankfurt 1980, S. 6 8 - 1 0 5 ; Stefan Jensen I Jens Naumann, Commitments - Medienkomponente einer ökonomischen Kulturtheorie?, Zeitschrift für Soziologie 9 (1980), S. 79-99, sowie die Einleitung von Stefan Jensen zu seiner Ausgabe von Talcott Parsons: Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, Opladen 1980. 7 Bei hinreichender Verständigung über das, "worum es inhaltlich geht, ist die terminologische Frage gegenwärtig völlig offen. Im Anschluß an Parsons wird teils von Tauschmedien, teils von Interaktionsmedien, teils von Kommunikationsmedien gesprochen. Keine Wortfassung befriedigt ganz. Wie oft bei theoretischen Neuentdeckungen steht in der vorhandenen Sprache kein genau treffendes Wort zur Verfügung. 8 Vgl. Niklas Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 2, Opladen 1 9 7 5 , S. 1 7 0 - 1 9 2 , und
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Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation zur Auseinandersetzung mit Parsons Niklas Luhmann, Gener-
alized Media and the Problem of Contingency, in: Jan J. Loubser et al., a. a. O., S. 507-532. 9 Vgl. für die hierfür ausschlaggebende Entwicklung in der grie-
chischen Stadt Jack Goody / Ian Watt, The Conséquences of Literacy, Comparative Studies in Society and History5 (1963), S. 304-345.
10 Vgl. Gerard Fiel, The Accélération of History, New York 1972. 11 Vgl. insb. Robert Dreeben, On What is Learned in School, Reading Mass. 1968, mit einer im ganzen wohl zu optimistischen Einschätzung. 12 Entsprechend hat die Kritik auf die Grenzen der Analogie von Geld und anderen Kommunikationsmedien hingewiesen, neuerdings besonders Habermas a. a. O.
13 Vgl. Robert Dreeben, The Nature of Teaching: Schools and the W o r k of Teachers, Glenview III. 1970, insb. S.26, 81,. 82ff.;
Niklas Luhmann / Karl Eberhard Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik, Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979), S. 345-365.
14 Vgl. Elisabeth L. Eisenstein, L'avènement de l'imprimerie et la Réforme: Une nouvelle approche au problème du démembrement de la chrétienté occidentale, Annales ESC 26 (1971), . S. 1 3 5 5 - 1 3 8 2 . 1 5 Hierzu lesenswert / . H. Hexter, The Vision of Politics on the Eve of the Reformation: More, Machiavelli, and Seyssel, London 1973. 16 Eine seit dem 17. Jahrhundert besonders in bezug auf Frauen viel diskutierte Problematik. Vgl. z. B. Jacques du Bosq, L'honneste femme, Neuauflage Rouen 1639, insb. S. 17ff.; Pierre Daniel Huet, Traité de l'origine des romans, Paris 1670, S. 92ff., Nachdruck Stuttgart 1966. Für die spätere Zeit siehe auch Georg Jäger, Empfindsamkeit und Roman, Stuttgart 1969, S. 57 ff. 17 Vgl. Erich Köhler, »Je ne sais quoi«: Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen, in ders., Esprit und arkadische Freiheit: Aufsätze aus der Welt der Romania, Frankfurt 1966,
S. 230-286; Christoph Strosetzki, Konversation: Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 1 8 . Jahrhunderts, Frankfurt 1978, insb. S. 125 ff.
18 Vgl. Arnold Gehlen, Die gewaltlose Lenkung, in: Oskar Schatz (Hrsg.), Die elektronische Revolution: Wie gefährlich sind die Massenmedien, Graz 1975, S. 4 9 - 6 4 .
Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation 93 19 Zum theoretischen Konzept, das hier vorausgesetzt ist, vgl.
Niklas Luhmann, Interpénétration - Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme, vgl. in [Soziologische Aufklärung 3,] S. 1 5 1 - 1 6 9 . 20 W i r setzen an dieser Stelle einen Informationsbegriff voraus, nach dem etwas nur als Information erscheinen kann, wenn es als Differenz seligiert wird. Das wiederum bedeutet, daß ein Vergleichsschema vorausgesetzt ist, das als Bedingung der Möglichkeit von Information fungiert, aber nicht mitübermittelt wird, also auch nicht (oder nur schwer) v o m Empfänger kontrolliert und kommunikativ beantwortet w e r d e n kann.
21 Siehe speziell hierzu Hans Mathias Kepplitzger, Realkultur und Medienkultur: Literarische Karrieren in d e r Bundesrepublik, Freiburg 1975. 22 Mass Media in Society: The Need of Research. UNESCO Reports and Papers on Mass Communication Nr. 59, Paris 1970.
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Wir haben ein nicht mehr integrierbares Wissen über psychische und soziale Systeme. M e i n Ziel ist, das geläufige Verständnis von Kommunikation zu kritisieren und ihm eine andersartige Variante an die Seite zu stellen. Bevor ich damit beginne, sind aber einige B e m e r k u n g e n über den wissenschaftlichen Kontext angebracht, in dem dieses Manöver v o l l z o g e n w e r d e n soll. Ich gehe zunächst von einem unbestreitbaren Tatbestand aus. Die uns allen vertraute Differenzierung der Disziplinen Psychologie u n d Soziologie und m e h r als hundert J a h re fachverschiedener Forschung haben zu einem nicht mehr integrierbaren Wissen über psychische u n d soziale Systeme geführt. In keinem der Fächer überblickt irgendein Forscher den gesamten Wissensstand; aber so viel ist klar, daß es sich in beiden Fällen um hochkomplexe, strukturierte S y s t e m e handelt, deren Eigendynamik für jeden Beobachter intransparent und unregulierbar ist. Trotzdem gibt es i m m e r noch Begriffe u n d sogar Theorien, die diesen Tatbestand ignorieren oder ihn geradezu systematisch ausblenden. In der Soziologie gehören die Begriffe Handlung und K o m m u n i k a t i o n zu diesen Residuen. S i e w e r d e n normalerw e i s e subjektbezogen benutzt. Das heißt: sie setzen einen A u t o r voraus, bezeichnet als Individuum oder als Subjekt, dem die K o m m u n i k a t i o n bzw. das H a n d e l n zugerechnet w e r d e n kann. D i e Begriffe Subjekt oder Individuum fungieren dabei aber nur als Leerformel für einen in sich hochk o m p l e x e n Tatbestand, der in den Zuständigkeitsbereich der Psychologie fällt und den Soziologen nicht weiter interessiert.
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Nur die Kommunikation kann kommunizieren. Zieht man diese Begriffsdisposition in Zweifel, u n d das w i l l ich tun, b e k o m m t man normalerweise zu hören: letztlich seien es doch i m m e r Menschen, Individuen, Subjekte, die handeln bzw. k o m m u n i z i e r e n . Demgegenüber möchte ich behaupten, daß nur die K o m m u n i k a t i o n kommunizieren kann u n d daß erst in einem solchen N e t z w e r k der Kommunikation das erzeugt w i r d , w a s w i r unter » H a n d e l n « verstehen. Meine z w e i t e Vorbemerkung betrifft faszinierende Neuentwicklungen im Bereich der allgemeinen Systemtheorie bzw. der K y b e r n e t i k selbstreferentieller Systeme, die früher unter dem Titel Selbstorganisation, heute eher unter dem Titel Autopoiesis zu finden sind. Der Forschungsstand ist im M o m e n t selbst in den Begriffsbildungen unübersichtlich und kontrovers. Deutlich erkennbar ist jedoch ein bis in die Erkenntnistheorie hineinreichender U m b a u der theoretischen Mittel, u n d dies in einem Sinne, der Biologie, Psychologie u n d Soziologie übergreift. Wer eine Mehrebenenarchitektur liebt, k a n n einen U m b a u der Theorie beobachten, der auf mehreren Ebenen zugleich stattfindet und damit zugleich die aus logischen Gründen naheliegende Unterscheidung der Ebenen selbst in Frage stellt.
Selbstreferenz ist kein Sondermerkmal des Denkens. Im Gegensatz zu Grundannahmen der philosophischen Tradition ist Selbstreferenz (oder » R e f l e x i o n « ) keineswegs ein S o n d e r m e r k m a l des Denkens oder des Bewußtseins, sondern ein sehr allgemeines Systembildungsprinzip mit besonderen Folgen, w a s Komplexitätsaufbau u n d Evolution angeht. Die Konsequenz dürfte dann unvermeidlich sein, daß es sehr viele verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt zu beobachten, je nachdem, welche Systemreferenz zugrundeliegt. O d e r anders gesagt: die Evolution hat zu
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einer Welt geführt, die sehr viele verschiedene Möglichkeiten hat, sich selbst zu beobachten, o h n e eine dieser Möglichkeiten als die beste, die einzig r i c h t i g e auszuzeichnen. J e d e Theorie, die diesem Sachverhalt angemessen ist, muß daher auf der Ebene des Beobachtens v o n Beobachtungen angesiedelt sein - auf der Ebene der s e c o n d order cybernetics im Sinne H e i n z von Foersters. M e i n e Frage ist nun: w i e sieht eine Soziologie-Theorie sozialer Systeme aus, w e n n sie ernsthaft versucht, sich diesen Theorieentwicklungen zu stellen? U n d meine Vermutung ist, daß man dafür nicht beim Begriff der Handlung, sondern beim Begriff der K o m m u n i k a t i o n ansetzen muß. Denn nicht die Handlung, sondern n u r die Kommunikation ist eine unausweichlich soziale O p e r a t i o n und zugleich eine Operation, die zwangsläufig in G a n g gesetzt wird, w e n n i m m e r sich soziale Situationen b i l d e n . Im Hauptteil meines Vortrages m ö c h t e ich nun versuchen, einen entsprechenden Begriff v o n Kommunikation vorzustellen - u n d z w a r einen Begriff, d e r jede Bezugnahme auf Bewußtsein oder Leben, also auf andere Ebenen der Realisation autopoietischer S y s t e m e s t r e n g vermeidet. N u r vorsorglich sei noch angemerkt, daß d i e s natürlich nicht besagen soll, daß K o m m u n i k a t i o n o h n e Leben und ohne B e w u ß t s e i n möglich w ä r e . Sie ist auch ohne Kohlenstoff, ohne gemäßigte Temperaturen, o h n e Erdmagnetismus, ohne atomare Festigung der M a t e r i e n i c h t möglich. M a n k a n n angesichts der Komplexität der W e l t nicht alle Bedingungen der Möglichkeit eines Sachverhalts in den Begriff dieses Sachverhalts aufnehmen; denn d a m i t w ü r d e der Begriff jede Kontur und jede theoriebautechnische Verwendbarkeit verlieren.
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Kommunikation kommt zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen. Ahnlich w i e Leben u n d Bewußtsein ist auch Kommunikation eine émergente Realität, ein Sachverhalt sui generis. Sie k o m m t zustande durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen - nämlich Selektion einer Information, Selektion der Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Mißverstehen dieser Mitteilung u n d ihrer Information. Keine dieser Komponenten kann für sich allein vorkommen. N u r z u s a m m e n erzeugen sie Kommunikation. Nur zusammen - daß heißt nur dann, w e n n ihre Selektivität zur Kongruenz gebracht w e r d e n kann. Kommunikation kommt deshalb nur zustande, w e n n zunächst einmal eine Differenz von Mitteilung u n d Information verstanden wird. Das unterscheidet sie von bloßer Wahrnehmung des Verhaltens a n derer. Im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen d e m Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird. Sie kann dabei die eine oder die andere Seite betonen, also mehr auf die Information selbst oder auf das expressive Verhalten achten. Sie ist aber i m m e r darauf angewiesen, daß beides als Selektion erfahren u n d dadurch unterschieden wird. Es muß, mit anderen Worten, vorausgesetzt werden können, daß die Information sich nicht von selbst versteht und daß zu ihrer Mitteilung ein besonderer Entschluß erforderlich ist. U n d das gilt natürlich auch, w e n n der Mitteilende etwas über sich selbst mitteilt. Wenn u n d soweit diese Trennung der Selektionen nicht vollzogen w i r d , liegt eine bloße Wahrnehmung vor. 7
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Es ist von erheblicher Bedeutung, an der Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation festzuhalten. Es ist von erheblicher Bedeutung, an dieser Unterscheidung von K o m m u n i k a t i o n u n d W a h r n e h m u n g festzuhalten, obwohl, u n d gerade w e i l , die Kommunikation reiche Möglichkeiten zu einer mitlaufenden Wahrnehmung gibt. A b e r die W a h r n e h m u n g bleibt zunächst ein psychisches Ereignis ohne k o m m u n i k a t i v e Existenz. Sie ist innerhalb des k o m m u n i k a t i v e n Geschehens nicht ohne weiteres anschlußfähig. M a n kann das, w a s ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestätigen u n d nicht widerlegen, nicht befragen u n d nicht beantworten. Es bleibt im Bewußtsein verschlossen u n d für das Kommunikationssystem ebenso w i e für jedes andere B e w u ß t s e i n intransparent. Es kann natürlich ein externer A n l a ß w e r d e n für eine folgende Kommunikation. Beteiligte können ihre eigenen Wahrnehmungen u n d die damit verbundenen Situationsdeutungen in die Kommunikation einbringen; aber dies n u r nach den Eigengesetzlichkeiten des K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m s , zum Beispiel nur in Sprachform, n u r durch Inanspruchnahme von Redezeit, nur durch ein Sichaufdrängen, Sichsichtbarmachen, Sichexponieren - also nur unter entmutigend schweren Bedingungen.
Auch das Verstehen selbst ist eine Selektion. Aber nicht n u r Information u n d Mitteilung, sondern auch das Verstehen selbst ist eine Selektion. Verstehen ist nie eine bloße Duplikation der M i t t e i l u n g in einem anderen Bewußtsein, sondern im K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m selbst A n schlußvoraussetzung für weitere Kommunikation, also Bedingung der Autopoiesis des sozialen Systems. Was immer die Beteiligten in ihrem je eigenen selbstreferentiell-geschlossenen B e w u ß t s e i n davon halten mögen: das Kommu-
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nikationssystem erarbeitet sich ein eigenes Verstehen oder Mißverstehen u n d schafft zu diesem Z w e c k e Prozesse der Selbstbeobachtung u n d der Selbstkontrolle.
Über Verstehen und Mißverstehen kann nicht so einfach kommuniziert werden, wie die Beteiligten es gerne möchten. U b e r Verstehen u n d Mißverstehen oder Nichtverstehen kann kommuniziert w e r d e n - allerdings w i e d e r nur unter den hochspezifischen Bedingungen der Autopoiesis des Kommunikationssystems u n d nicht so einfach, w i e die Beteiligten es gern möchten. Die M i t t e i l u n g » D u verstehst mich nicht« bleibt daher ambivalent u n d k o m m u n i z i e r t zugleich diese A m b i v a l e n z . Sie besagt einerseits » D u bist nicht bereit, zu akzeptieren, w a s ich Dir sagen w i l l « und versucht das Eingeständnis dieser Tatsache zu provozieren. Sie ist andererseits die Mitteilung der Information, daß die Kommunikation unter dieser Bedingung des Nichtverstehens nicht fortgesetzt w e r d e n kann. U n d sie ist drittens Fortsetzung der K o m m u n i k a t i o n . Die normale Technik des U m g a n g s mit Verstehensschwierigkeiten besteht schlicht in Rückfragen und Erläuterungen, in normaler, routinemäßiger Kommunikation über Kommunikation ohne besondere psychische Aufladung. U n d gegen diese N o r m a l r o u t i n e verstößt, w e r das Scheitern oder die Gefahr des Scheiterns d e r Kommunikation in der K o m m u n i k a t i o n z u z u r e c h n e n versucht: »Du verstehst mich nicht«, camoufliert aber die Härte des Problems von A n n a h m e oder A b l e h n u n g m i t einer Semantik, die suggeriert, das Problem sei gleichwohl durch Kommunikation über K o m m u n i k a t i o n zu lösen.
Was ist an diesem Kommunikationsbegriff neu? Was ist an diesem Kommunikationsbegriff neu? U n d was sind die Konsequenzen der N e u e r u n g ?
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N e u ist zunächst die Unterscheidung der drei Komponenten Information, Mitteilung, Verstehen. M a n findet eine ähnliche Unterscheidung bei Karl Bühler unter d e m Gesichtspunkt unterschiedlicher Funktionen der sprachlichen Kommunikation. Dies haben Amerikaner w i e A u s t i n u n d Searle zu einer Theorie v o n A k t t y p e n oder Sprechakten verstärkt u n d versteift. Daran wiederum hat J ü r g e n H a b e r m a s eine Typologie von Geltungsansprüchen angeschlossen, die in der K o m m u n i k a t i o n impliziert sind. Das alles geht aber immer noch von einem handlungstheoretischen Verständnis der Kommunikation aus und sieht den Kommunikationsvorgang deshalb als eine gelingende oder mißlingende Übertragung von Nachrichten, Informationen oder Verständigungszumutungen. Demgegenüber w i r d bei einem systemtheoretischen A n satz die Emergenz der Kommunikation selbst betont. Es w i r d nichts übertragen. Es w i r d R e d u n d a n z erzeugt in dem Sinne, daß die K o m m u n i k a t i o n ein Gedächtnis erzeugt, das von vielen auf sehr verschiedene Weise in Anspruch gen o m m e n w e r d e n kann. Wenn A dem B etwas mitteilt, kann sich die weitere K o m m u n i k a t i o n an A oder an B wenden. Das S y s t e m pulsiert gleichsam mit einer ständigen Erzeugung v o n U b e r s c h u ß u n d Selektion. Durch die Erfindung von Schrift u n d B u c h d r u c k ist dies Systembildungsverfahren nochmals immens gesteigert worden, mit Konsequenzen für Sozialstruktur, Semantik, ja für Sprache selbst, die erst allmählich ins Blickfeld der Forschung treten.
Bei den drei Komponenten handelt es sich um unterschiedliche Selektionen. Die drei Komponenten Information, Mitteilung und Verstehen müssen also nicht als Funktionen, nicht als A k t e , nicht als H o r i z o n t e für Geltungsansprüche interpretiert w e r d e n (ohne daß man bestreiten müßte, daß all dies auch eine mögliche A r t ihrer Verwendung ist). Es sind auch kei-
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ne Bausteine der Kommunikation, die u n a b h ä n g i g existieren könnten und n u r durch jemanden - d u r c h w e n ? durch das Subjekt? - zusammengesetzt werden müssen. Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Selektionen, deren Selektivität und deren Selektionsbereich überhaupt erst durch die Kommunikation konstituiert w e r d e n . Es gibt keine Information außerhalb der K o m m u n i k a t i o n , es gibt keine Mitteilung außerhalb der K o m m u n i k a t i o n , es gibt k e i n Verstehen außerhalb der K o m m u n i k a t i o n - u n d dies nicht etwa in einem kausalen Sinne, w o n a c h die Information die Ursache der Mitteilung u n d die M i t t e i l u n g Ursache des Verstehens sein müßte, sondern im zirkulären Sinne wechselseitiger Voraussetzung.
Ein Kommunikationssystem ist ein vollständig geschlossenes System. Ein Kommunikationssystem ist deshalb e i n vollständig geschlossenes System, das die Komponenten, aus denen es besteht, durch die K o m m u n i k a t i o n selbst erzeugt. In diesem Sinne ist ein K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m ein autopoietisches System, das alles, w a s für das S y s t e m als Einheit fungiert, durch das System p r o d u z i e r t u n d reproduziert. Daß dies nur in einer U m w e l t u n d unter A b h ä n g i g k e i t von Beschränkungen durch die U m w e l t geschehen kann, versteht sich von selbst. Etwas konkreter, ausformuliert, b e d e u t e t dies, daß das K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m nicht n u r seine Elemente - das, w a s j e w e i l s eine nicht w e i t e r auflösbare Einheit der Komm u n i k a t i o n ist -, sondern auch seine S t r u k t u r e n selbst spezifiziert. Was nicht k o m m u n i z i e r t w i r d , k a n n dazu nichts beitragen. N u r K o m m u n i k a t i o n k a n n Kommunikation beeinflussen; n u r K o m m u n i k a t i o n k a n n Einheiten der K o m m u n i k a t i o n d e k o m p o n i e r e n ( z u m B e i s p i e l den Selektionshorizont einer Information a n a l y s i e r e n oder nach den G r ü n d e n für eine M i t t e i l u n g fragen); u n d nur Kommuni-
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kation kann Kommunikation kontrollieren und reparieren. Wie man leicht sehen kann, ist die Praxis einer solchen Durchführung von reflexiven Operationen ein außerordentlich aufwendiges Verfahren, das durch die Eigenarten der Autopoiesis der Kommunikation in Schranken gehalten wird. Man kann nicht immer genauer und immer genauer nachfassen. Irgendwann, und ziemlich schnell, ist der Grenznutzen der Kommunikation erreicht oder die Geduld - das heißt die Belastbarkeit der psychischen Umwelt - erschöpft. Oder das Interesse an anderen Themen oder anderen Partnern drängt sich vor. Die Kommunikation hat keinen Zweck. Diese These der zirkulären, autopoietischen Geschlossenheit des Systems ist nicht leicht zu akzeptieren. Man muß eine Zeitlang damit gedanklich experimentieren, um allmählich zu sehen, was sie bringt. Dasselbe gilt für eine zweite, eng damit zusammenhängende These. Die Kommunikation hat keinen Zweck, keine immanente Entelechie. Sie geschieht, oder geschieht nicht - das ist alles, was man dazu sagen kann. Insofern folgt die Theorie nicht einem aristotelischen Duktus, sondern eher dem Theoriestil Spinozas. Selbstverständlich lassen sich innerhalb von Kommunikationssystemen zweckorientierte Episoden bilden, sofern die Autopoiesis funktioniert. So wie ja auch das Bewußtsein sich episodenhaft Zwecke setzen kann, ohne daß dies Zwecksetzen der Zweck des Systems wäre. Jede andere Auffassung müßte begründen, weshalb das System nach dem Erreichen seiner Zwecke fortdauert; oder man müßte, nicht ganz neu, sagen: der Tod sei der Zweck des Lebens.
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Die Theorie der Rationalität kommunikativen Handelns ist schon empirisch schlicht falsch. Oft w i r d mehr oder weniger implizit unterstellt, Kommunikation ziele auf Konsens, ab, suche Verständigung. Die von H a b e r m a s entwickelte Theorie der Rationalität kommunikativen Handelns baut auf dieser P r ä m i s s e auf. Sie ist jedoch schon empirisch schlicht falsch. M a n kann auch k o m m u n i z i e r e n , um Dissens zu m a r k i e r e n , man kann sich streiten wollen, und es gibt keinen z w i n g e n d e n Grund, die Konsenssuche für rationaler zu halten als d i e Dissenssuche. Das k o m m t ganz auf Themen u n d P a r t n e r an. Selbstverständlich ist Kommunikation ohne jeden K o n s e n s unmöglich; aber sie ist auch unmöglich ohne j e d e n Dissens. Das, w a s sie z w i n g e n d voraussetzt, ist: daß m a n in bezug auf momentan nicht aktuelle Themen die F r a g e Konsens oder Dissens dahingestellt sein lassen kann. U n d selbst bei aktuellen Themen - selbst w e n n man endlich einen Parkplatz gefunden hat u n d nach langen F u ß m ä r s c h e n das Café erreicht hat, wo es in R o m den besten Kaffee geben soll und dann die paar Tropfen trinkt - wo ist da Konsens oder Dissens, solange man den Spaß nicht durch Kommunikation verdirbt?
Alle Kommunikation ist riskant. An die Stelle einer konsensgerichteten Entelechie setzt die Systemtheorie eine andere These: K o m m u n i k a t i o n führt z u r Zuspitzung der Frage, ob die m i t g e t e i l t e und verstandene Information angenommen oder abgelehnt werden wird. M a n glaubt eine Nachricht oder nicht: die Kommunikation schafft zunächst nur diese Alternative u n d d a m i t das Risiko der Ablehnung. Sie forciert eine Entscheidtmgslage, w i e sie ohne Kommunikation gar nicht bestehen w ü r d e . Insofern ist alle Kommunikation riskant. Dieses R i s i k o ist einer der wichtigsten morphogenetischen F a k t o r e n , es führt zum
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Aufbau von Institutionen, die auch bei unwahrscheinlichen Kommunikationen noch Annahmebereitschaft sicherstellen. Es kann aber, und dies scheint mir für fernöstliche Kulturen zu gelten, auch u m g e k e h r t sensibilisieren: Man vermeidet Kommunikation mit Ablehnungswahrscheinlichkeiten, man versucht W ü n s c h e zu erfüllen, bevor sie geäußert werden, und signalisiert eben dadurch Schranken; und man w i r k t an der K o m m u n i k a t i o n mit, ohne zu widersprechen und ohne die K o m m u n i k a t i o n d a d u r c h zu stören, daß man Annahme oder A b l e h n u n g zurückmeldet. Kommunikation dupliziert die Realität. Kommunikation dupliziert also, um diesen wichtigen Punkt nochmals mit anderen Worten zu wiederholen, die Realität. Sie schafft z w e i Versionen: eine Ja-Fassung und eine Nein-Fassung, u n d z w i n g t damit zur Selektion. U n d genau darin, daß n u n etwas geschehen muß (und sei es: ein explizit kommunizierbarer Abbruch der Kommunikation), liegt die Autopoiesis des Systems, die sich selbst ihre eigene Fortsetzbarkeit garantiert. Die Zuspitzung auf die Alternative Annahme oder A b lehnung ist also nichts anderes als die Autopoiesis der Kommunikation selbst. Sie differenziert die Anschlußposition für die nächste Kommunikation, die nun entweder auf erreichtem Konsens aufbauen oder d e m Dissens nachgehen oder auch versuchen kann, das P r o b l e m zu cachieren und den heiklen Punkt künftig zu vermeiden. Nichts, was k o m muniziert werden kann, entzieht sich dieser harten Bifurcation - mit einer einzigen A u s n a h m e : der Welt (im Sinne der Phänomenologie) als dem letzten Sinnhorizont, in dem all dies sich abspielt u n d der selbst w e d e r positiv noch negativ qualifiziert, w e d e r angenommen n o c h abgelehnt werden kann, sondern in aller sinnhaften Kommunikation als Bedingung der Zugänglichkeit weiterer Kommunikation mitproduziert w i r d .
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Kommunikationen.
Lassen Sie mich nunmehr diesen T h e o r i e a n s a t z an einer Spezialfrage ausprobieren: am Problem d e r Wertbeziehung von Kommunikationen. W i r sind auf neukantianischen Grundlagen oder auch durch Jürgen H a b e r m a s trainiert, hier sogleich Geltungsansprüche zu w i t t e r n und zu ihrer Prüfung einzuladen. Die Wirklichkeit i s t einfacher - und zugleich komplizierter. Was man empirisch beobachten kann, ist zunächst: daß Werte in der Kommunikation per I m p l i k a t i o n herangezogen w e r d e n . M a n setzt sie schon voraus. M a n spielt auf sie an. M a n sagt nicht direkt: Ich bin für Frieden. Ich schätze meine Gesundheit. M a n vermeidet das a u s dem Grund, den w i r schon kennen: w e i l das die M ö g l i c h k e i t e n auf Annahme u n d A b l e h n u n g hin duplizieren w ü r d e . Gerade das scheint bei Werten unnötig zu sein - o d e r so meint man j e denfalls.
Man diskutiert nicht über Werte, sondern über Präferenzen. Werte gelten somit kraft Unterstellung i h r e r Geltung. Wer w e r t b e z o g e n k o m m u n i z i e r t , nimmt eine A r t Werte-Bonus in Anspruch. Der andere m u ß sich melden, w e n n er nicht einverstanden ist. M a n operiert gleichsam im Schutze der Schönheit u n d Gutheit der Werte und profitiert davon, daß derjenige, der protestieren w i l l , die Komplexität übernehmen m u ß . Er hat die Argumentationslast. Er läuft die Gefahr, innovativ denken u n d sich isolieren zu müssen. Und da i m m e r mehr Werte impliziert sind, als im nächsten Zug thematisiert w e r d e n können, ist das H e r a u s p i c k e n , Ablehnen oder Modifizieren ein fast hoffnungsloses Unterfangen. M a n diskutiert nicht über Werte, sondern über Präferenzen, Interessen, Vorschriften, P r o g r a m m e . Das alles heißt nicht, daß es ein Wertsystem gäbe. Es h e i ß t auch nicht, und
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das ist vor allem wichtig, daß es sich um psychologisch stabile Strukturen handele. Im Gegenteil: psychologisch scheinen Werte eine außerordentlich labile Existenz zu führen. Sie w e r d e n mal benutzt, mal nicht benutzt, ohne daß man dafür eine A r t psychologische Tiefenstruktur entdecken könnte. Ihre Stabilität ist, so w i l l ich einmal provokativ formulieren, ein ausschließlich k o m m u n i k a t i v e s Artefakt, und das autopoietische S y s t e m des B e w u ß t s e i n s geht damit u m , w i e es ihm gefällt. U n d genau deshalb, w e i l hier Strukturen der Autopoiesis des sozialen Systems im Spiel sind, eignet sich die Wertesemantik zur Darstellung der Grundlagen eines sozialen S y s t e m s für den Eigengebrauch. Ihre Stabilität beruht auf einer rekursiven U n t e r s t e l l u n g des Unterstellens und einer Erprobung der Semantik, mit der das jeweils funktioniert bzw. nicht funktioniert. D i e »Geltungsgrundlage« ist Rekursivität, gehärtet durch d i e kommunikative Benachteiligung des Widerspruchs.
Es gibt keinen Selbstvollzug der Werte. Was das B e w u ß t s e i n sich dabei denkt, ist eine ganz andere Frage. Wenn es versiert ist, w i r d es wissen, daß Wertkonsens ebenso unvermeidlich w i e schädlich ist. Denn es gibt keinen Selbstvollzug der Werte, u n d man kann alles, was sie zu fordern scheinen, im Vollzug immer noch entgleisen l a s sen, im N a m e n von Werten natürlich.
Konsequenzen für den Bereich der Diagnose und Therapie von Systemzusammenhängen. Eine derart tiefgehende Revision der System- und kommunikationstheoretischen Begrifflichkeit w i r d sicher Konsequenzen haben für den Bereich der Diagnose und Therapie von S y s t e m z u s t ä n d e n , die man als pathologisch ansieht. M i r fehlt für diesen Bereich jegliche Kompetenz und vor allem jene A r t von automatischer Selbstkontrolle, die aus
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einer Vertrautheit mit dem M i l i e u entsteht. Trotzdem möchte ich versuchen, in einer A r t Zusammenfassung einige Punkte zu beleuchten, die vielleicht einen Anlaß geben könnten, bekannte Phänomene neu zu konstruieren. Zunächst: der A n s a t z betont die Differenz von psychischen u n d sozialen Systemen. Die einen operieren auf der Basis von B e w u ß t s e i n , die anderen auf d e r Basis von Kommunikation. Beide sind zirkulär geschlossene Systeme, die jeweils nur den eigenen M o d u s der autopoietischen Reproduktion v e r w e n d e n können. Ein soziales System kann nicht denken, ein psychisches S y s t e m k a n n nicht kommunizieren. Kausal gesehen gibt es t r o t z d e m immense, hochkomplexe Iriterdependenzen. Geschlossenheit heißt also keinesfalls, daß keine W i r k u n g s z u s a m m e n h ä n g e bestünden oder daß solche Zusammenhänge nicht durch einen Beobachter beobachtet oder beschrieben w e r d e n könnten. N u r muß die A u s g a n g s l a g e der autopoietischen Geschlossenheit in diese Beschreibung eingehen. Das heißt: M a n muß der Tatsache R e c h n u n g tragen, daß W i r k u n g e n nur durch den Mitvollzug .auf sehen des die W i r k u n g e n erleidenden S y stems zustande k o m m e n können. U n d m a n muß berücksichtigen, daß die S y s t e m e füreinander intransparent sind, sich also wechselseitig nicht steuern können. Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes zu sagen, daß das Bewußtsein z u r K o m m u n i k a t i o n n u r Rauschen, nur Störung, n u r Perturbation beiträgt u n d ebenso umgekehrt. U n d in der Tat: w e n n Sie einen Kommunikationsprozeß beobachten, müssen Sie die vorherige Kommunikation kennen, eventuell T h e m e n u n d das, w a s man sinnvoll darüber sagen kann. D i e Bewußtseinsstrukturen der Individuen brauchen Sie im allgemeinen nicht zu kennen. A b e r diese A r g u m e n t a t i o n bedarf natürlich der Verfeinerung, da die K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m e oft Personen thematisieren u n d da das B e w u ß t s e i n sich daran gewöhnt hat, bestimmte Worte zu lieben, bestimmte Geschichten zu erzählen und sich so mit K o m m u n i k a t i o n partiell identifiziert.
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Das eigene Bewußtsein tanzt wie ein Irrlicht auf den Worten herum. Ein Beobachter kann also hohe strukturierte Interdependenzen zwischen psychischen und sozialen Systemen erkennen. Und trotzdem: die psychische Selektivität kommunikativer Ereignisse im Erleben der Beteiligten ist etwas völlig anderes als die soziale Selektivität; und schon bei einer geringen Aufmerksamkeit auf das, was wir selber sagen, wird uns bewußt, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; w i e sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigene Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt: sie benutzt und verspottet, sie zugleich meint und nicht meint, sie auftauchen und abtauchen läßt, sie im Moment nicht parat hat, sie eigentlich sagen will, und es dann ohne stichhaltigen Grund doch nicht tut. Würden wir uns anstrengen, das eigene Bewußtsein wirklich in seinen Operationen von Gedanken zu Gedanken zu beobachten, würden wir zwar eine eigentümliche Faszination durch Sprache entdecken, aber zugleich auch den nichtkommunikativen, rein internen Gebrauch der Sprachsymbole und eine eigentümlich-hintergründige Tiefe der Bewußtseinsaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen, aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewußtsein zu sein; irgendwie beleuchtet, aber nicht das Licht selbst. Diese Überlegenheit des Bewußtseins über die Kommunikation (der natürlich in umgekehrter Systemreferenz eine Überlegenheit der Kommunikation über das Bewußtsein entspricht) wird vollends klar, wenn man bedenkt, daß das Bewußtsein nicht nur mit Worten oder vagen Wort- und Satzideen, sondern nebenbei und oft vornehmlich mit Wahrnehmung und mit imaginativem Auf- und Abbau von Bildern beschäftigt ist. Selbst während des Redens beschäftigt sich das Bewußtsein unaufhörlich mit Wahrnehmun-
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gen, und mir selbst k o m m t es oft so vor, als ob ich beim Formulieren die Schriftbilder der Worte sehe (ein Sachverhalt, der von den Forschungen über »Verschriftlichung« der Kultur, so w e i t ich sie kenne, bisher nie beachtet worden ist). A u c h variiert von Individuum zu Individuum das A u s m a ß , in d e m man sich durch das eigene Reden von der wahrnehmenden Beobachtung anderer ablenken läßt, oder w i e weit man trotz der A u f m e r k s a m k e i t für die Sequenz der Rede daneben noch Kapazitäten frei hat für das simultane Prozessieren v o n Wahrnehmungseindrücken.
Es ist unvermeidlich, die Kommunikation dem Irrwisch Bewußtsein anzupassen. A l l dies macht es, um n u n die Systemreferenz wieder zu wechseln und auf das soziale S y s t e m d e r Kommunikation z u r ü c k z u k o m m e n , unvermeidlich, die Kommunikation diesem Irrwisch B e w u ß t s e i n anzupassen. D a s kann natürlich nicht so geschehen, daß die K o m m u n i k a t i o n stückchenweise Bewußtsein transportiert. Vielmehr w i r d das Bewußtsein, w a s immer es sich bei sich selbst denkt, v o n der Kommunikation in eine Situation des forced choice manövriert - oder so jedenfalls sieht es von der K o m m u n i k a t i o n her gesehen aus. Die K o m m u n i k a t i o n k a n n auf k o m m u n i k a t i v verständliche Weise angenommen oder abgelehnt werden (und natürlich läßt sich die T h e m a t i k faktorisieren, so daß eine Entscheidung in viele Entscheidungen dekomponiert w i r d ) . Die autopoietische A u t o n o m i e des Bewußtseins w i r d , so kann man sagen, in der K o m m u n i k a t i o n durch Binarisierung repräsentiert u n d abgefunden.
Die Kommunikation läßt sich durch Bewußtsein stören. An die Stelle der unverständlich rauschenden Bewußtseinsu m w e l t des K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m s tritt eine in der Kommunikation traktierbare Entscheidung: ja oder nein, Rück-
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frage, eventuell Verzögerung, V e r t a g u n g , Enthaltung. Die K o m m u n i k a t i o n läßt sich, anders g e s a g t , durch Bewußtsein stören u n d sieht dies sogar vor; aber i m m e r nur in Formen, die in der weiteren Kommunikation anschlußfähig sind, also k o m m u n i k a t i v behandelt w e r d e n können. Auf diese Weise k o m m t es nie zu einer V e r m i s c h u n g der Autopoiesis der S y s t e m e u n d doch zu einem hohen M a ß an Co-Evolution, u n d eingespielter Reagibilität. Ich bin mir im klaren darüber, daß d i e s e A n a l y s e noch keineswegs ausreicht, um zu beschreiben, w a s w i r als pathologischen Systemzustand erfahren. D a s wechselseitige Rauschen, Stören, Perturbieren ist, von dieser Theorie her gesehen, ja gerade der Normalfall, für den eine normale Äuffang- u n d Absorptionskapazität bereitsteht, sowohl psychisch als auch sozial. Vermutlich entsteht der Eindruck des Pathologischen erst, w e n n gewisse Toleranzschwellen überschritten sind; oder vielleicht k ö n n t e man auch sagen: w e n n die Gedächtnisse der S y s t e m e h i e r d u r c h in Anspruch genommen w e r d e n u n d Störungserfahrungen speichern, aggregieren, w i e d e r präsentieren, ü b e r Abweichungsverstärk u n g u n d H y p e r k o r r e k t u r verstärken u n d mehr u n d mehr Kapazität dafür in Anspruch nehmen. W i e dem auch sei: Von der theoretischen Position aus, d i e ich versucht habe zu skizzieren, müßte man psychische u n d soziale Pathologien deutlich unterscheiden u n d vor a l l e m vorsichtig sein, w e n n man die eine als Indikator oder g a r als Ursache für die andere ansehen w i l l .
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?
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Es ist eine Konvention des K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m s Gesellschaft, w e n n man davon ausgeht, d a ß Menschen kommunizieren können. A u c h scharfsinnige A n a l y t i k e r sind durch diese Konvention in die Irre geführt worden. Es ist aber relativ leicht, einzusehen, daß sie n i c h t zutrifft, sondern n u r als Konvention u n d nur in d e r Kommunikation funktioniert. Die Konvention ist erforderlich, denn die K o m m u n i k a t i o n muß ihre Operationen a u f Adressaten z u rechnen, die für weitere K o m m u n i k a t i o n in Anspruch gen o m m e n w e r d e n . A b e r Menschen k ö n n e n nicht kommunizieren, nicht einmal ihre Gehirne k ö n n e n kommunizieren, nicht einmal das Bewußtsein k a n n k o m m u n i z i e r e n . N u r die K o m m u n i k a t i o n kann k o m m u n i z i e r e n . D e n zu erwartenden Bedenken b e g e g n e n w i r zunächst einmal w i e folgt: W i r wissen überhaupt nicht, w i e wir es begreifen sollen, daß Bewußtsein K o m m u n i k a t i o n bewirkt. Neurophysiologische Forschungen, u n d sie sind kompliziert genug, helfen in Sachen B e w u ß t s e i n nicht weiter. Z w a r nehmen w i r nicht mehr an, daß w i r auf altindische Weise durch Konzentration des B e w u ß t s e i n s die Verhältnisse beeinflussen können; aber die uns geläufigere Vorstellung, Bewußtsein könne körperliches Verhalten oder gar K o m m u n i k a t i o n bewirken, bleibt e b e n s o mysteriös. Die A n n a h m e , daß dies geschieht, ist w o h l nichts anderes als eine Kausalattribution durch einen Beobachter; u n d wenn man sie klären w i l l , muß man folglich b e i m Beobachter ansetzen. Sieht man das einmal ein, erreicht man die Frage, ob, und gegebenenfalls w i e , das B e w u ß t s e i n an K o m m u n i k a t i o n beteiligt ist. Dies kann w i e d e r u m nicht ernsthaft bestritten
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werden, da Kommunikation ohne B e w u ß t s e i n zum Erliegen käme, so w i e das Leben ohne eine molekulare Organisation der Materie. A b e r w a s heißt: Beteiligtsein? Menschen sind zunächst auf der Basis von lebenden Zellen entwickelte lebende Organismen. Bereits Zellen sind als unerläßliche Grundsysteme des Lebens operationeil geschlossen, das heißt »autopoietisch« organisiert (vgl. Maturana 1982, S. 138 ff., 157 ff., 170 ff.; Varela 1979; Maturana, Varela 1984). Dasselbe gilt für autopoietische Systeme höherer Ordnung, also Organismen, die durch ihre eigene Autopoiesis in der Lage sind, Zellen auszutauschen. Dieselbe Geschlossenheit läßt sich am Gehirn nachweisen. Das Gehirn kann z w a r durch ein extrem geringes M a ß an A u ßenkontakten gereizt werden, hat aber die eigene Operation nur für interne Zustandsveränderungen zur Verfügung und kann mit Nervenimpulsen keinen U m w e l t k o n t a k t aufnehmen, weder als Input noch als Output. (Es gäbe in der U m w e l t ja auch gar keine Nerven, die diese Impulse aufnehmen und weiterleiten könnten.) Schon im Menschen u n d als Bedingung seines Lebens u n d Erlebens operieren also zahllose eigenständige Systeme, die durch ihre eigenen Strukturen determinieren, welche Operationen sie durchführen, obwohl sie zugleich aufeinander angewiesen sind. Desgleichen operiert das, w a s w i r als je eigenes Bewußtsein erleben, als operativ geschlossenes autopoietisches System (vgl. L u h m a n n 1985). Es gibt keine bewußte Verknüpfung eines Bewußtseins mit einem anderen Bewußtsein. Es gibt keine Einheit der Operationen mehrerer B e wußtseinssysteme, u n d w a s i m m e r als »Konsens« erscheint, ist Konstrukt eines Beobachters, also seine Leistung. Auch aktuelle Aufmerksamkeit, aktuelle Transformation von Gedanken in Gedanken, steht nur in der Form einer bewußtseinsinternen Operation zur Verfügung u n d beruht, das ist eine unerläßliche B e d i n g u n g ihrer Möglichkeit, ihrer Autonomie, ihrer strukturellen Komplexität, auf der Geschlossenheit des Systems. Das Bewußtsein kann also nicht be1
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 1 1 3 w ü ß t k o m m u n i z i e r e n . Es kann sich n a t ü r l i c h vorstellen, daß es k o m m u n i z i e r t , aber das bleibt e i n e eigene Vorstell u n g des Systems, eine interne Operation, die die Fortsetzung der eigenen weiteren Gedankenführung ermöglicht aber eben nicht K o m m u n i k a t i o n ist. D a s A r g u m e n t hält sich, das ist hoffentlich deutlich gew o r d e n , an die Ebene der faktisch aktualisierten Operationen. Die (systemübergreifende) A u s g a n g s a n n a h m e ist: daß Kognition begriffen w e r d e n m u ß als das r e k u r s i v e Prozessieren von ( w i e immer materialisierten) S y m b o l e n in Systemen, die durch die Bedingungen der Anschlußfähigkeit ihrer Operationen geschlossen sind (seien es Maschinen im Sinne des »artificial intelligence«, Zellen, G e h i r n e , bewußt operierende Systeme, K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m e ) . Die Frage, w a s ein Beobachter beobachtet u n d m i t Hilfe welcher Kausalannahmen er Zurechnungen von Wirkungen auf U r sachen durchführt, ist ein ganz anderes T h e m a . U n d darü b e r k a n n n u r durch eine Untersuchung des Beobachters entschieden werden. A b g e s e h e n v o n den Idiosynkrasien b e s t i m m t e r Beobachter u n d abgesehen auch von den gesellschaftlich komm u n i z i e r t e n Zurechnungsinteressen, mit denen dirigiert w i r d , w e r für w a s auskunftspflichtig ist u n d w e r für was v e r a n t w o r t l i c h gemacht w e r d e n kann, w e r für seine Empfindlichkeiten R ü c k s i c h t verlangen k a n n u n d w i e das » t u r n - t a k i n g « zu handhaben ist - abgesehen also von diesen besonders zu erklärenden Zurechnungen v o n K o m m u n i k a t i o n auf etwas, w a s in der K o m m u n i k a t i o n unabhängig von seiner Binnenorganisation als » P e r s o n « angesprochen w e r d e n kann, m u ß man bei einer theoretischen Erklärung, die sich auf die w i r k l i c h e n Verhältnisse einläßt, B e w u ß t seinssysteme u n d k o m m u n i k a t i v e S y s t e m e (soziale System e ) streng unterscheiden. In beiden Fällen handelt es sich u m strukturdeterminierte Systeme, das heißt u m Systeme, die jede R e p r o d u k t i o n ihrer eigenen Operationen, w a s i m m e r die externen Anlässe sind, n u r an den e i g e n e n Struktu2
1 1 4 Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? ren orientieren. In beiden Fällen handelt es sich um S y s t e me, die durch den Vollzug ihrer eigenen Operationen Differenzen erzeugen, Grenzen ziehen, eine eigene Geschichte a k k u m u l i e r e n (wie ein Beobachter feststellen kann) und mit all d e m zugleich das definieren, w a s für sie U m w e l t ist. A b e r das heißt keineswegs, daß B e w u ß t s e i n u n d Kommunikation nichts miteinander zu tun hätten. M a n muß nur genauer zu formulieren versuchen, w i e dies Verhältnis angesichts dieser k a u m zu bestreitenden Differenz zu begreifen ist. II Ein B e w u ß t s e i n s s y s t e m kann, w e n n es einmal entstanden ist, auch in M o m e n t e n ohne Kommunikation tätig sein. Es erlebt in sich selbst dies u n d das, n i m m t etwas wahr, spürt sich denken (vgl. Pothast 1987) u n d führt sogar »Selbstgespräche«. K o m m u n i k a t i o n k o m m t dagegen k a u m ohne Koinzidenz von B e w u ß t s e i n zustande. Insofern ist das Verhältnis a s y m m e t r i s c h — w i e i m m e r man Probleme der indirekten K o m m u n i k a t i o n , der nur einseitig verstandenen, aber nicht so gemeinten Kommunikation, der Kommunikation durch sprachfreie Gesten etc. begrifflich zuordnet. Keine K o m m u n i k a t i o n ohne B e w u ß t s e i n also; und doch: ohne daß das B e w u ß t s e i n k o m m u n i z i e r t ? W i r stehen damit vor der Frage: w i e ist Kommunikation auf einer derart fluiden, seinen Zustand von Moment zu M o m e n t ändernden Basis überhaupt möglich? Wie kann K o m m u n i k a t i o n sich selbst reproduzieren, w e n n sie dabei auf nervös vibrierende Gehirne u n d quirliges Bewußtsein vieler angewiesen ist? W i e kann sie sich auf Systeme verlassen, die ihre Eigenreproduktion n u r durch ständigen Wechsel ihrer Zustände durchführen können, also von Moment zu M o m e n t andere Strukturen bilden, um den nächsten Zustand aktualisieren zu k ö n n e n ? W i r a n t w o r t e n zunächst n u r mit einem Postulat: Die
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 1 1 5 Fortsetzung von K o m m u n i k a t i o n erfordert offensichtlich die Erhaltung einer eigenen Organisation, die mit diesem Material zurechtkommt, u n d die nur solange fortgesetzt w e r d e n kann, als dies der Fall ist. Vielleicht könnte man in der Tat alles, w a s k o m m u n i z i e r t w i r d , a u c h auf der Ebene von Mentalzuständen beschreiben (so w i e alle Lebensvorgänge auf der Ebene biochemischer Veränderungen) mit der einen A u s n a h m e : der Autopoiesis des emergenten S y stems; also mit A u s n a h m e dessen, w a s allein angemessen beschreiben kann, w a s K o m m u n i k a t i o n (bzw. Leben) ist. In Konsequenz dieser H y p o t h e s e übertragen w i r auch Maturanas Begriff des »conservation of adaptation« aus der Biologie in die Soziologie (siehe M a t u r a n a 1986, 1986a). Dieser Begriff widerspricht nicht dem Begriff des strukturdeterminierten S y s t e m s , sondern ist komplementär dazu gedacht. N u r w e n n ein System in seiner autopoietischen Reproduktion d e m Bereich, in d e m es operiert, angepaßt ist, kann es sich durch seine eigenen Strukturen determinieren. U n d nur w e n n es durch seine eigenen Strukturen in einem laufenden structural coupling mit seiner Umwelt in Kontakt steht, kann es die eigenen Operationen fortsetzen. Die Reproduktion findet statt oder nicht statt. Die Kommunikation w i r d fortgesetzt oder hört auf. Aber immer w e n n sie fortgesetzt w i r d , ist sie auch angepaßt, w i e immer eigendynamisch sie verfährt. Es ist also nicht etwa das Ziel der Kommunikation, sich d e m Bewußtsein, das in Anspruch genommen w i r d , anzupassen. Im Gegenteil: die Kommunikation fasziniert u n d okkupiert, wenn sie läuft u n d solange sie läuft, das Bewußtsein. Das ist nicht ihr Zweck, nicht ihr Sinn, nicht ihre Funktion. Nur: wenn es nicht geschieht, geschieht es eben nicht. Offenbar gelingt es, K o m m u n i k a t i o n an Kommunikation anzuschließen u n d dafür die unentbehrlichen Bewußtseinszustände zu aktivieren, o b w o h l die dafür n o t w e n d i g e U m welt, die Bewußtseinssysteme, aus hochlabilen, eigendynamischen, zerstreuten Mentalzuständen besteht, die (außer
1 1 6 Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? im Einzelbewußtsein) nicht direkt a n e i n a n d e r angeschlossen w e r d e n können. Jede einzelne K o m m u n i k a t i o n reduziert dadurch, daß sie Bestimmtes s a g t , den Bereich der Anschlußmöglichkeiten, hält aber z u g l e i c h dadurch, daß sie dies in der F o r m von Sinn tut, ein w e i t e s Spektrum möglicher A n s c h l u ß k o m m u n i k a t i o n e n offen mit Einschluß der M ö g l i c h k e i t , die mitgeteilte Information zu negieren, u m zudeuten, für u n w a h r oder u n e r w ü n s c h t zu erklären. Die Autopoiesis sozialer Systeme ist n i c h t s w e i t e r als dieser ständige Prozeß des Reduzierens u n d Öffnens von A n schlußmöglichkeiten. Sie kann nur fortgesetzt werden, w e n n sie in Gang ist. Sie kann Episoden bilden mit einem in Aussicht genommenen Abschluß, d e r aber i m m e r nur als Ü b e r g a n g zu anderen Kommunikationsmöglichkeiten erwartet w e r d e n kann. Episoden können durch Zwecke (tele) determiniert w e r d e n . Die Gesellschaft aber ist zwecklos u n d in der K o m m u n i k a t i o n als d u r c h Kommunikation nicht beendbar zu behandeln. M a n k a n n z w a r sagen: hört auf! A b e r das Ende der Gesellschaft kann n u r über das Ende ihrer nichtgesellschaftlichen B e d i n g u n g e n herbeigeführt werden. Bewußtseinssysteme u n d K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m e hören mithin auf, w e n n ihre Operationen nicht fortgesetzt w e r d e n . Von Anfang u n d Ende kann d a g e g e n n u r ein Beobachter sprechen. Der Beobachter beobachtet durch Anwendung einer Unterscheidung. Er unterscheidet in diesem Falle also Anfangen u n d Nichtanfangen b z w . Aufhören und Nichtaufhören. Ein System, das sich selbst beobachtet, kann nur ebenso verfahren. Es muß eine U n t e r s c h e i d u n g benutzen, um das Aufhören seines Unterscheidens zu unterscheiden. Das heißt: Aufhören kann man n u r operativ. Im Beobachten bleibt das Aufhören des Beobachtens eine Paradoxie - ein » r e - e n t r y « einer U n t e r s c h e i d u n g in sich selbst (vgl. Spencer B r o w n 1971, Glanville 1984). Um so wichtiger ist es, daß ein S y s t e m aufgrund eigener O p e r a t i o n e n paradoxiefrei beobachten kann, daß ein anderes anfängt oder aufhört.
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 1 1 7 Die Evolution der gesellschaftlichen Kommunikation ist n u r möglich in ständiger operativer K o p p l u n g mit Bewußtseinszuständen. Diese Kopplung ist z u n ä c h s t durch Sprache, sodann mit einem weiteren Effektivitätsschub durch Schrift u n d schließlich durch B u c h d r u c k erreicht worden. Entscheidend dafür ist nicht der oft b e h a u p t e t e Zeichencharakter dieser Errungenschaften, sondern d i e Ausdifferenzierung besonderer Wahrnehmungsgegenstäride, die auffallen oder faszinieren, w e i l sie keinerlei Ä h n l i c h k e i t mit sonst W a h r n e h m b a r e m haben u n d ständig in Be-wegung sind oder (wie beim Lesen) nur in B e w e g u n g b e n u t z t werden können. Sprache u n d Schrift faszinieren u n d p r ä o k k ü p i e r e n das Bew u ß t s e i n u n d stellen dadurch sicher, d a ß es mitzieht, obw o h l die Eigendynamik des B e w u ß t s e i n s dies keineswegs n o t w e n d i g macht und stets A b l e n k u n g e n bereithält. Man kann, mit gebührender Vorsicht, Sprache u n d Schrift in dieser Kopplungsfunktion als S y m b o l a r r a n g e m e n t s bezeichnen, w e n n S y m b o l nur heißen soll: daß im Getrennten die Kopplung des Getrennten präsentiert w e r d e n kann. Sprache u n d Schrift und all ihre technischen Folgeeinrichtungen sichern, mit anderen W o r t e n , für das Kommunikationssystem das, w a s M a t u r a n a »conservation of adaptation« nennt: die ständige Bewußtseinsangepaßtheit der Kommunikation. -Sie definieren damit d e n Freiraum der Autopoiesis des Kommunikationssystems Gesellschaft. Auf dieser Grundlage hat die Evolution der gesellschaftlichen Kommunikation eine ungeheure K o m p l e x i t ä t der Vernetzung aktueller Kommunikationsverläufe aufgebaut, die für jede Kommunikation, die darin abläuft, a b e r auch für jedes Bev/ußtsein, das, beteiligt oder nichtbeteiligt, Kommunikation beobachtet, vollständig intransparent ist. Darauf bezogene Erleichterungen des Beobachtens w i e die durch Massenmedien erzeugte »öffentliche M e i n u n g « oder die durch Preise erzeugten » M ä r k t e « können daran nichts Grundsätzliches ändern. Sie ermöglichen n u r eines: effektivere Rekursivität im Beobachten des Beobachtens anderer. 3
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Der Zusammenhang von Bewußtseinsangepaßtheit der . Kommunikation und der dann unvermeidlichen Eigendynam i k und Evolution von Gesellschaft z e i g t sich auch daran, daß Veränderungen der Formen, in d e n e n Sprache für das Bewußtsein wahrnehmbar w i r d , von bloßer Lautlichkeit über Bilderschriften zu phonetischen Schriften und schließlich z u m Buchdruck zugleich S c h w e l l e n im Prozeß gesellschaftlicher Evolution markieren, die, einmal genommen, immense Koplexitätsschübe auslösen, u n d dies in sehr kurzen Zeiträumen. Für das S i c h t b a r w e r d e n der Auswirkungen des Alphabets brauchte es nur w e n i g e Jahrhunderte (vgl. Havelock 1982). Das gleiche gilt für d i e Ersteinführung des Buchdrucks in Europa , "während ein g l e i c h radikaler Wandel sich bei der Übertragung auf a n d e r e Kulturen heute in weniger als hundert Jahren vollzieht ( v g l . Wood 1985). Im klassisch-darwinistischen Evolutionsschema sind derart radikale Kontinuitätsbrüche bei andererseits langen Perioden geringer struktureller V e r ä n d e r u n g schwer zu erklären. Auf der Grundlage der Theorie autopoietischer Systeme gewinnt man hierfür neue M ö g l i c h k e i t e n (vgl. Roth 1982, M a t u r a n a 1982; 1986a). D i e Komplexitätschancen autopoietischer Systeme können sich rasch und abrupt ändern, w e n n sich die Bedingungen i h r e r operativen und strukturellen Kopplung mit der für s i e notwendigen U m welt ändern; also in unserem Falle: w e n n die Prägung des Bewußtseins durch K o m m u n i k a t i o n sich neue Möglichkeiten erschließt. 4
III
Ein Bewußtsein denkt, w a s es denkt - d a s und nichts anderes. Von einem Beobachter her g e s e h e n , und dieser kann ein anderes Bewußtsein oder ein Kommunikationssystem sein, das über das beobachtete B e w u ß t s e i n kommuniziert, kann das Bewußtsein als ein Medium angesehen werden,
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d a s vielerlei Zustände annehmen und ü b e r m i t t e l n könnte. Der Beobachter kann sich ein Bewußtsein (das derweil tut, w a s es tut) als Freiheit vorstellen, vor a l l e m als Freiheit, sich beeinflussen zu lassen. Oder er kann s i c h mögliche Zustände vorstellen, die das Bewußtsein a n n e h m e n könnte, oder mögliche Prozesse, die es durchführen könnte. Als M e d i u m , als Freiheit, als Modalität, als K o n j u n k t u r - was dem B e w u ß t s e i n hiermit zugemutet w i r d , w i r d i h m durch einen Beobachter zugemutet. Der Beobachter abstrahiert damit - ein bißchen oder auch sehr w e i t g e h e n d - von der Tatsache, daß das Bewußtsein in jedem seiner Zustände und in jeder seiner Operationen durch die eigenen Strukturen determiniert ist. Statt der bestimmten inneren Kopplung, die sich von M o m e n t zu Moment ändert, unterstellt er eine mehr oder w e n i g e r lose Kopplung. Um dies unterstellen zu können, m u ß er selbst operieren als ein eigendynamisches strukturdeterminiertes System. U n d dabei vergeht Zeit. Der Beobachter k a n n auch das beobachtete S y s t e m selber sein. Von solchen Beobachtungsverhältnissen, die im Falle der bewußten Beobachtung Intendierung, im Falle der K o m m u n i k a t i o n Thematisierung des Gegenstandes der Beobachtung voraussetzen und insofern extrem aufwendig sind, ist ein anderer Fall zu unterscheiden, der gerade ein Nichtbeobachten voraussetzt. So w i e d a s Wahrnehmen beim Sehen u n d H ö r e n Licht und Luft benutzt, gerade weil es sie als M e d i u m nicht sieht und nicht hört (das Beispiel stammt von H e i d e r 1926), benutzt auch d i e K o m m u n i k a tion B e w u ß t s e i n als M e d i u m , gerade weil es das jeweils in A n s p r u c h genommene Bewußtsein nicht thematisiert. M e taphorisch könnte man daher sagen: das beteiligte Bewußtsein bleibt für die Kommunikation unsichtbar. Wenn es sichtbar w i r d , beginnt es zu stören - so w i e ein heftiges R a u s c h e n und Pfeifen der Luft bei schneller Autofahrt das H ö r e n der Worte der Kommunikation stört. A l s M e d i u m funktioniert Bewußtsein, indem unterstellt w i r d , es könne alles aufnehmen, w a s gesagt w i r d ; es sei eine lose gekoppel-
120 Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? te Menge von Elementen fast ohne Eigendetermination, in die sich einprägen läßt, was jeweils gesagt oder gelesen wird. Im Zusammentreffen von lose und rigide gekoppelten Elementmengen obsiegt jeweils die rigide Kopplung, so wie der Fuß im weichen Erdboden Spuren hinterläßt. Das, was das Bewußtsein hört oder liest, prägt sich im aktuellen Moment fast zwanghaft ein. Ob es in das Gedächtnis aufgenommen wird, ist eine ganz andere Frage, weil dies Konsistenzprüfungen im Kontext der Eigendetermination des Bewußtseinsjyste»« und seines Gehirns voraussetzt. Für den Ablauf der Kommunikation genügt es zunächst, daß das Bewußtsein, so gut wie wehrlos, mitmacht. Das führt auf die Frage: wie kann das Bewußtsein strukturdeterminiertes System und Medium zugleich sein? Die Antwort geben wir durch Hinweis auf die evolutionäre Errungenschaft Sprache. Um diese Antwort ausarbeiten zu können, muß man klarstellen, daß die Begriffe von (lose gekoppeltem) Medium und (rigide gekoppelter) Form korrelative Begriffe sind. Sie bilden eine Unterscheidung, die man einem Beobachten (diesmal: unserem) zugrundelegen kann. Ein Medium ist also Medium nur für eine Form, nur gesehen von einer Form aus (vgl. Luhmann 1986). So wenig wie Licht und Luft ist Bewußtsein Medium »an sich«. Es gibt nur Gelegenheit für die Evolution von Sprache (ob es nun »vorher« existiert und in welcher Weise oder nicht), so wie die Sprache dann wieder ein Medium ist, in das das Bewußtsein konkrete Aussageabsichten einprägen kann, indem es in einer Weise, die das Medium nicht verbraucht, Worte zu Sätzen zusammendenkt und eventuell entsprechende Kommunikationen auslöst. Das Gesetz von Medium und Form lautet: daß die rigidere Form sich im weicheren Medium durchsetzt. Das würde, gälte es uneingeschränkt, zur raschen Rigidisierung der Materie führen. Eben deshalb bieten Formen wie Sprache einen evolutionären Vorteil, die selbst wieder Medium
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 121 sein können u n d aufgrund hoher Formstrenge (Spezifikation der als Worte wahrnehmbaren Geräusche, grammatische Regeln usw.) Elemente w i e d e r entkoppeln u n d zu einer i m mensen Vielfalt möglicher Bindungen freigeben können, so daß andere Formen (prdgmata, Ideenkomplexe, Theorien etc.) sich einprägen können. Das erfordert zunächst eine Verzeitlichung der Elemente. D i e gedachten und gesprochenen Sätze sind n u r M o m e n t e eines Prozesses, die im Entstehen schon w i e d e r verschwinden. Sie sind konstitutiv instabil. Ihre A k k u m u l a t i o n w ü r d e sehr rasch eine unkontrollierte Komplexität, also C h a o s , erzeugen. M a n stelle sich nur den L ä r m vor, der entstehen müßte, w e n n die gesprochenen Worte nicht verklingen w ü r d e n , sondern i m mer weiter zu hören w ä r e n ! N u r w e i l die Elemente verzeitlicht u n d auf die Existenzweise von Ereignissen reduziert sind, kann eine Gegenselektion stattfinden, die einiges dem Vergessenwerden entreißt u n d die Effekte des »time Undi n g « (Korzybski 1958) erzeugt. Das kann sich auf den neurophysiologischen A p p a r a t laufender Konsistenzprüfungen stützen u n d schließlich, nach der Erfindung von Schrift, mit Begriffen w i e mnemosyne oder a-letbeia bezeichnet u n d verehrt w e r d e n .
IV
Kommunikation ist n u r möglich als autopoietisches S y stem. Sie reproduziert mit Hilfe von Sprache Kommunikation aus K o m m u n i k a t i o n u n d benutzt diese strukturelle Bedingung ihrer R e p r o d u k t i o n zugleich, um Bewußtsein als M e d i u m in A n s p r u c h zu nehmen. B e w u ß t s e i n ist demnach an K o m m u n i k a t i o n beteiligt als strukturdeterminiertes System u n d als M e d i u m . Das ist nur möglich, weil Bewußtsein u n d K o m m u n i k a t i o n , psychische Systeme und soziale Systeme niemals fusionieren, auch nicht partiell überlappen können, sondern völlig getrennte, selbstrefe-
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rentiell-geschlossene, autopoietisch-reproduktive Systeme sind. W i e gesagt: Menschen können nicht kommunizieren. Dies m u ß man zunächst einsehen. N u r dann kann man die spezifische Relevanz von Bewußtsein für Kommunikation in einer Weise bestimmen, die mit sonstigen Einsichten des Unternehmens »cognitive science« kompatibel ist. B e w u ß t s e i n , können w i r dann formulieren, hat die privilegierte Position, Kommunikation stören, reizen, irritieren zu können. Bewußtsein kann die Kommunikation nicht instruieren, denn die Kommunikation konstruiert sich selbst. A b e r B e w u ß t s e i n ist für die Kommunikation eine ständige Quelle von Anlässen für die eine oder andere Wendung des kommunikationseigenen operativen Verlaufs. N u r das B e wußtsein ist ja in der Lage, etwas w a h r z u n e h m e n (was einschließt: Kommunikation w a h r z u n e h m e n ) . Wahrnehmungen bleiben dann z w a r im jeweils aktivierten Bewußtsein verschlossen u n d können auch nicht k o m m u n i z i e r t w e r den; aber Berichte über Wahrnehmungen sind möglich und W a h r n e h m u n g e n können auf diese Weise, ohne je Kommunikation w e r d e n zu können, Kommunikation stimulieren und ihr die W a h l des einen oder anderen Themas nahelegen. Wahrnehmungsberichte sind keine Wahrnehmungen, die K o m m u n i k a t i o n operiert insofern blind (so w i e ja auch die N e u r o p h y s i o l o g i e des Wahrnehmens, vom Bewußtsein ganz zu schweigen, konstruktiv arbeitet und sich durch die Außenwelt reizen, aber nicht instruieren läßt). Bemerkenswert daran ist vor allem, daß die Kommunikation sich nur durch Bewußtsein reizen läßt, und nicht durch physikalische, chemische, biochemische, neurophysiologische Operationen als solche. Radioaktivität, Smog, Krankheiten aller Art mögen zunehmen oder abnehmen; das hat keinen Einfluß auf die Kommunikation, wenn es nicht w a h r g e n o m m e n , gemessen, bewußt gemacht w i r d u n d dann den Versuch stimuliert, darüber nach Regeln der K o m m u n i k a t i o n zu kommunizieren. Selbst in einem abstürzenden Flugzeug kann über den A b s t u r z nur k o m m u -
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niziert werden, wenn er bemerkt w i r d . D e r A b s t u r z selbst k a n n die Kommunikation nicht beeinflussen, sondern nur beenden. Bewußtseinssysteme und K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m e bestehen mithin völlig überschneidungsfrei nebeneinander. Sie bilden zugleich aber ein Verhältnis struktureller Komplementarität. Sie können ihre eigenen S t r u k t u r e n jeweils nur selbst aktualisieren u n d spezifizieren, daher auch j e w e i l s n u r selbst ändern. Sie benutzen e i n a n d e r aber z u gleich zu einer gegenseitigen A u s l ö s u n g solcher Strukturänderungen. Kommunikationssysteme k ö n n e n sich überhaupt nur durch Bewußtseinssysteme r e i z e n lassen; und Bewußtseinssysteme achten in h o h e m M a ß e präferentiell auf das, w a s in der extrem auffälligen W e i s e von Sprache k o m m u n i z i e r t w i r d . Unser A r g u m e n t i s t : daß die überschneidungsfreie Separierung der j e w e i l s geschlossenen S y steme eine Voraussetzung ist für s t r u k t u r e l l e Komplementarität, also für das gegenseitige A u s l ö s e n (aber eben nicht: Determinieren) der jeweils aktualisierten Strukturwahl. Dies zeigt: Kommunikationssysteme existieren sicherlich (für einen Beobachter) in einer h o c h k o m p l e x e n Umwelt, aber diese U m w e l t kann sie, u n d w i e d e r u m paßt die neurophysiologische Analogie, nur mit einem s e h r schmalen Ausschnitt ihrer Möglichkeiten effektiv r e i z e n und dadurch beeinflussen. Allgemein gilt offenbar: daß kein System seine U m w e l t beobachten (oder a l l g e m e i n e r : Kognition entw i c k e l n ) könnte, w e n n es jedes Ereignis d e r U m w e l t durch einen Eigenzustand parieren m ü ß t e . D i e Schließung der Anschlußfähigkeit eigener Operationen an eigene Operationen setzt eine scharfe Begrenzung der Sensibilität für A u ßenereignisse voraus (vgl. R o t h 1986). M a n kann also einen doppelten Filter, eine doppelte s t r u k t u r e l l e Selektivität autopoietischer Systeme erkennen. Einerseits existieren sie mit R e d u k t i o n ihrer Sensibilität auf ein s c h m a l e s Spektrum möglicher Reize, u n d gerade in diesem B e r e i c h sind ihre eigenen Operationen dann reizz
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Kommunikation operiert mit »«spezifischem Bezug auf die beteiligten Bewußtseinszustände, insbesondere wahrnehmungsaraspezifisch. Sie kann Bewußtseinszustände nicht copieren, nicht imitieren, nicht repräsentieren. Und gerade darauf beruht andererseits ihre Möglichkeit, eigene Komplexität aufzubauen und dies ins so Unwahrscheinliche zu treiben, daß es extrem unwahrscheinlich wäre, wenn ein solches System sich reproduzieren könnte, ohne seiner Umwelt, die es nicht kennen kann, angepaßt zu sein. Man muß sich nun überlegen, wie weit diese Theorie zutrifft, und wird damit auf eine evolutionstheöretische Betrachtungsweise zurückgeführt. Es gibt sicherlich (jedenfalls bei sprachfähigen Wesen) auch ein wortlos-gemeinsames Erleben als Kommunikation, das heißt auf der Basis einer für die Beteiligten verständlichen Darstellung, daß man so erlebt; etwa wenn Passanten einander ausweichen und jeder sieht,, daß der andere sieht, daß die Situation dies erfordert. Maturana würde vermutlich schon dies »Sprache« nennen, oder jedenfalls ein solches Verhalten als »languaging« bezeichnen (vgl. Maturana 1982, S. 258 ff.). Es ist aber noch extrem gebunden an wechselseitig-reflexives Wahrnehmen von Wahrnehmungen. V o n da bis zur sprachlich oralen Kommunikation und weiter bis zur Schrift, zur alphabetischen Schrift, zum Buchdruck finden wichtige evolutionäre Schritte statt, die das Kommunikationssystem Gesellschaft mehr und mehr differenzieren gegen die stets gleichzeitig mitlaufenden Wahrnehmungs- und Uberlegungsprozesse des Bewußtseins. Mehr und mehr wird Kommunikation auch dann möglich, wenn man nicht in der Lage ist, gleichzeitig wahrzunehmen, was andere wahrnehmen, und damit auch unabhängig davon, ob andere wahrnehmen, daß man wahrnimmt, was man wahrnimmt. Diese Errungenschaft ersetzt keineswegs ältere Formen oraler oder gar wortloser Kommunikation. Die Evolution ermöglicht ein Nebeneinander des Früheren und des Späteren und ermöglicht zusätzlich eine Verfeinerung und funk-
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tionale Spezifikation jener älteren F o r m e n der Kommunikation. So sind w i r in Fragen der Sexualität sicherlich raffinierter als unsere Vorfahren vor der Erfindung der Sprache u n d Schrift, o b w o h l w i r die damit verbundenen Koordinationsprobleme gerade nicht schriftlich lösen. 6
V
Das Zusammenspiel von B e w u ß t s e i n s s y s t e m e n u n d Kommunikationssystemen vollzieht sich also nicht durch Bildung eines Supersystems, das Operationen vollziehen könnte, die nach den strukturellen Determinationen dieses Systems b e w u ß t e u n d kommunikative O p e r a t i o n e n integrieren k ö n n t e n / Statt dessen sind Bewußtseinssysteme fähig, k o m m u n i k a t i v e Systeme zu beobachten, aber auch umgekehrt: k o m m u n i k a t i v e Systeme fähig, Bewußtseinssysteme zu beobachten. W i r brauchen, um dies sagen zu können, einen Begriff des Beobachtens, der nicht vorab schon psychisiert verstanden, also exclusiv auf Bewußtseinssysteme bezogen w i r d . Beobachtung w i r d hier als ein differenztheoretischer B e griff eingeführt. Beobachten ist das unterscheidende B e zeichnen. Es k o m m t auf die operative B a s i s , ob Bewußtheit oder Kommunikation, bei diesem Begriff nicht an, aber natürlich setzt er voraus, daß die Beobachtung als Operation durchgeführt w e r d e n kann und insoweit selbst Operation ist (also auch: sich selbst nur mit Hilfe einer weiteren Operation beobachten k a n n ) . Die Operationen, auch die des Bewußtseins, auch die der K o m m u n i k a t i o n , verlaufen blind. Sie tun, w a s sie tun. Sie reproduzieren das S y s t e m . Erst auf der Ebene des Beobachtens k o m m t Sinn ins Spiel, und z w a r mit all den Ausstattungen, die uns L o g i k u n d Hermeneutik vorführen: mit der Befähigung z u r Verneinung (im U n t e r s c h i e d z u r Bejah u n g ) ; mit der Fähigkeit zur logischen Modalisierung, zur 8
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Mitrepräsentation anderer M ö g l i c h k e i t e n und, darauf aufbauend, zu Modalitäten w i e N o t w e n d i g k e i t , Unmöglichkeit, Kontingenz; mit temporalen Orientierungen, die z u m Beispiel das, was operativ-gegenwärtig geschieht und das System gegen eine gleichzeitige U m w e l t differenziert, mit Hilfe der Unterscheidung von Zukunft und Vergangenheit beschreiben können; u n d nicht zuletzt: mit Vorstellungen über Kausalität. Das alles » g i b t « es nicht, wenn nicht ein beobachtendes System es sich selber g i b t . Alles, was als »Einheit« fungiert, fungiert nur durch e i n e n Beobachter als Einheit. Wenn immer man denkt oder sagt: es gibt »ein« es gibt eine Sache, es gibt eine Welt, u n d damit mehr meint als nur: es gibt etwas, das ist, w i e es ist, dann ist ein Beobachter involviert, u n d die nächste F r a g e ist dann folglich nicht: was gibt es?, sondern: wie konstruiert ein Beobachter, w a s er konstruiert, um weitere Beobachtungen anschließen zu können. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen, die aus dieser Unterscheidung v o n Operationen u n d Beobachtung zu ziehen sind, können w i r hier nicht w e i t e r verfolgen. Für die A n a l y s e des Verhältnisses von B e w n ß t s e i n und Kommunikation interessiert nur: daß die Trennung dieser Systeme offenbar eine Reintegration auf der E b e n e des Beobachtens voraussetzt, w o b e i aber B e o b a c h t u n g e n zwangsläufig getrennte empirische Operationen s i n d , die nur entweder b e w u ß t oder k o m m u n i k a t i v ablaufen k ö n n e n , aber logisch mächtig genug sind, um gerade diese Unterscheidung in der F o r m eines » r e - e n t r y « in das eigene S y s t e m wiedereinführen zu können (vgl. Spencer B r o w n 1 9 7 1 ) . Von einer rudimentären Beobachtungsfähigkeit ausgehend scheint das evolviert zu sein, w a s man als »Sinn« bezeichnen könnte, nämlich ein in den Operationen aktuell verfügbarer Verweisungsüberschuß, d e r zur Selektion z w i n g t (vgl. L u h m a n n 1984, S. 87ff., 1985 a). Sinn überzieht die aktuell laufende O p e r a t i o n mit e i n e m N e t z von Möglichkeiten u n d erlaubt es ihr daher, sich selbst als Auswahl 9
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 127 von ... zu verstehen - u n d w i e immer: s o w o h l wenn es sich um bewußte, als auch, w e n n es sich um kommunikative Operationen handelt. Ohne sinnhaftes Unterscheidungsvermögen (was in jeder einzelnen Beobachtung mitwirkende Negationen von anderem einschließt) hätten die autopoietischen Systeme für Bewußtsein u n d für Kommunikation nicht gegeneinander abgeschlossen werden können, denn sie hätten sich dann nicht von einander unterscheiden können. U n d deshalb ist auch Selbstbeobachtungsmöglichkeit eine nichteliminierbare K o m p o n e n t e der Autopoiesis psychischer u n d sozialer Systeme; sie w i r d von Gedanke zu Gedanke u n d von K o m m u n i k a t i o n zu Kommunikation
mitgeführt und ermöglicht es gerade dadurch, jedes Überlappen der Operationen zu vermeiden und beide Systeme als je für sich geschlossene Systeme zu konstituieren.
VI Je radikaler das B e w u ß t s e i n als das Subjekt aufgefaßt wird, desto schwieriger w i r d es, zu begreifen, w i e es zur Konstitution eines anderen Subjekts, eines » a l t e r ego« kommen kann. In sich selbst, sozusagen als Zwischenstück der eigenen Gedankenverknüpfungen, findet das Bewmßtsein i m mer nur eigenes Bewußtsein, aber kein anderes Bewußtsein. W i e kann es dann jemals auf die Idee k o m m e n , daß es »ichgleiche« Phänomene in der A u ß e n w e l t gibt? Die kantische Auskunft beruht auf einer petitio principii. M a n erfährt genau diese Ähnlichkeit von eigenem Bewußtsein und fremdem Bewußtsein u n d rechnet dann fürderhin damit. Im » r a d i k a l e n Konstruktivismus« ist diese Antwort aufgegriffen worden. Das erkennende Subjekt konstruiert ein Analogon zu sich selbst mit leicht veränderten Strukturen und Perspektiven u n d schafft sich damit die Möglichkeit einer Doppelprüfung der Realität aus eigener u n d aus fremder Sicht (vgl. v o n Glasersfeld 1985, S. 22 ff.). A b e r w i e kann
128 Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? ein Bewußtsein auf diese Idee kommen, außerhalb von sich selbst ein A n a l o g o n zu sich selbst zu bemerken; w i e kann es auf die Idee k o m m e n , daß beim anderen ein »Innen« gegeben sei, das d e m eigenen »Innen« gleiche und sich von dem »Innen« anderer Systeme unterscheide; und wenn schon: w i e kann in diese Analogie eine dann doch ganz andersartige Perspektive hineingearbeitet werden; u n d schließlich: w i e ist zu erklären, daß dies seit Jahrtausenden mit stupender Regelmäßigkeit bei allen » n o r m a l e n « Menschen geschieht? W i r ersetzen diese Analogie-Theorie durch eine differenztheoretische Konstruktion. Das Bewußtsein wird nicht durch einen anderen, sich selbst gleichenden Fall auf die Idee einer A n a l o g i e gebracht. Es kann vielmehr an Kommunikation n u r teilnehmen, w e n n es Mitteilung u n d Information unterscheiden kann. Die Mitteilung seligiert aus unterschiedlichen Verhaltensmöglichkeiten, die Information seligiert aus unterschiedlichen Sachverhalten, u n d die Kommunikation faßt beides in einem Ereignis zusammen (vgl. L u h m a n n 1984, S. 191 ff.): Die Unterscheidung von Mitteilung u n d Information ist konstitutiv für alle Kommunikation (im Unterschied zu bloßer Wahrnehmung), u n d sie w i r d daher als B e d i n g u n g der Teilnahme aufgenötigt. Man muß z u m Beispiel seine eigenen Mitteilungen an den Mitteilenden adressieren u n d nicht an die Information. A b e r das ist möglich u n d die Beherrschung dieser Unterscheidung kann eingeübt w e r d e n , ohne daß man Näheres über den w e i ß , d e m man das Mitteilen zurechnet. In der Praxis der Teilnahme an K o m m u n i k a t i o n w i r d diese Unterscheidung wichtig, u n d als ihr Kondensat ergibt sich dann die Unterscheidung v o n Personen u n d Dingen oder Subjekten u n d Objekten. U n d erst, w e n n diese Folgesemantik beherrscht w i r d , k a n n man überhaupt auf die Idee einer Analogie von eigenem u n d fremdem B e w u ß t s e i n kommen. Solange dies nicht (oder nicht mit der heutigen Eindeutigkeit) der Fall ist, w e r d e n die Grenzen des Kommunikationssystems Gesellschaft anders gezogen als heute; sie schließen gegebe-
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 129 nenfalls Pflanzen u n d Tiere, Tote, Geister u n d Götter ein u n d andererseits fernerstehende M e n s c h e n aus - je nachdem, w i e weit die Sozialisation dem B e w u ß t s e i n Möglichkeiten der K o m m u n i k a t i o n suggeriert. Ohne Zweifel spielt in diesem Zusammenhang auch das unmittelbare Wahrnehmen mit Einschluß des Wahrnehmens der W a h r n e h m u n g e n anderer eine R o l l e . M a n kann jedoch nicht w a h r n e h m e n , wie andere w a h r n e h m e n , sondern nur, daß andere w a h r n e h m e n . W e d e r die biochemischen noch die neurophysiologischen noch die bewußtseinsmäßigen Prozesse anderer sind zugänglich - es sei denn in der Konstruktion eines Beobachters. Es muß also immer zuerst eine Differenz von Personen u n d Objekten konstituiert sein, u n d eben dazu ist Teilnahme an Kommunikation unentbehrlich. Ausschlaggebend für die Konstitution des »alter ego« ist mithin der U m w e g ü b e r die K o m m u n i k a t i o n , die Teilnahme an einem ganz andersartig operierenden System und die Attraktivität der konstitutiven Differenz dieses Systems. A u c h insofern geht die hier präsentierte Theorie von Unterscheidungen aus u n d nicht von Einheit oder von Ähnlichkeit. Das ist auf der Ebene der Systemtheorie mit der Theorie selbstreferentiell-geschlossener S y s t e m e und auf der Ebene der Erkenntnistheorie mit einem konstruktivistischen A n s a t z kompatibel. In der Sozialtheorie müssen dann sowohl der Primat der Sprachtheorie als auch der B e griff der Intersubjektivität aufgegeben w e r d e n , u n d an deren Stelle tritt das Konzept des selbstreferentiell-geschlossenen Systems gesellschaftlicher Kommunikation.
VII Abschließend sei schließlich noch erklärt, w i e es dazu kommt, daß im K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m Gesellschaft nach w i e vor und offenbar unausrottbar die Auffassung kursiert,
1 3 0 Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? der Mensch könne kommunizieren; oder sogar: das Individ u u m könne mit der Gesellschaft kommunizieren. U n s e r Ausgangspunkt ist wieder: Kein System kann seine eigenen Operationen außerhalb seiner Grenzen durchführen. J e d e Erweiterung der Operationsmöglichkeiten, jeder Zuwachs an Komplexität heißt eo ipso: A u s d e h n u n g des S y stems. Daraus folgt, daß kein System seine eigenen Operationen zur Erstellung eines Kontaktes mit der U m w e l t einsetzen kann; denn das w ü r d e es erfordern, daß die Operationen z u m Teil, sozusagen mit einem Ende, außerhalb des Systems stattfinden. So kann kein Gehirn Nervenimpulse verwenden, um außerhalb des Gehirns nach anschlußfähigen Nervenimpulsen zu suchen. Kein Bewußtsein kann operativ aus sich herausdenken, obwohl es natürlich in sich an etwas anderes denken kann. Kein Gesellschaftssystem kann mit seiner U m w e l t k o m m u n i z i e r e n . Für die klassische Thematik von »Individuum u n d Gesellschaft« m u ß deshalb eine Begrifflichkeit gefunden werden, die auf keine der internen Operationen der betreffenden Systeme zurückgreift: weder auf b e w u ß t e Gedankenarbeit noch auf Kommunikation. Ich habe vorgeschlagen, die operative und strukturelle Kopplung, um die es hier geht, als Interpénétration zu bezeichnen, - ein sprachlich nicht sehr glücklicher u n d sicher klärungsbedürftiger Begriff. Interpénétration bezeichnet weder ein umfassendes System der Koordination noch einen operativ ablaufenden Tauschprozeß (was voraussetzen w ü r d e , daß man in dieser Hinsicht von Inputs und Outputs sprechen könnte). Theoriekonsistent kann Interpénétration nur heißen: daß im jeweiligen Bezugssystem die Einheit und Komplexität (im Unterschied zu: spezifischen Zuständen und Operationen) des jeweils anderen eine Funktion erhält. Die Art und Weise, in der das geschieht, ist natürlich nur an den jeweils systemeigenen Strukturen und Operationen aufzuweisen; anders könnte sie nicht vorkommen. Sie nimmt also in Bewußtseinssystemen andere Formen an als in kommunikativen Systemen. 10
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Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 1 3 1 Bewußtseinssysteme w e r d e n durch Interpénétration mit sozialen Systemen sozialisiert. Dies Konzept erfordert einen tiefgreifenden U m b a u der klassisch-soziologischen Theorie der Sozialisation von Fremdsozialisation auf Selbstsozialisation. Darauf k a n n hier n i c h t weiter eingegangen werden (vgl. Gilgenmann 1986). K o m m u n i k a t i v e S y steme erfahren Interpénétration dadurch, d a ß sie die Eigend y n a m i k von Menschen in körperlicher u n d mentaler Hinsicht (Bewußtsein mitmeinend) in R e c h n u n g stellen. Wir nennen das (wiederum im A n s c h l u ß an Parsons) Inklusion. D i e Terminologie, mit der dies geschieht, u n d die Zurechnungsregeln, die dafür gelten, variieren m i t der Evolution des Gesellschaftssystems. Schon einfache Gesellschaften bilden (mit einerseits sehr restriktiver, andererseits erweiterter Handhabung) Vorstellungen über Menschen bzw. analog gedachte Kommunikationspartner (vgl. Cazeneuve 1958; Hallowell 1960). Sehr früh gibt es a u c h Begriffe wie Seele zur Identifikation des M e n s c h e n v o r und nach seinem Tode. Person bleibt bis in die F r ü h m o d e r n e hinein ein vornehmlich für Rechtsbeziehungen (aber e b e n damit auch: für die Existenz als civis in einer societas) relevanter Zurechnungsbegriff. Er setzt als Zurechnungsbegriff Verfügungsgewalt, also Eigentum u n d Freiheit voraus. Von Subjekt spricht man, um die selbstreferentielle Begründung der Kognitionen des Bewußtseins durch das B e w u ß t s e i n zu bezeichnen u n d um damit in einer (dann rasch fragwürdig w e r d e n d e n ) Lehre die soziale Exterritorialität des Wissens zu markieren im Unterschied zu dem, w a s eine Zeitlang noch opinio oder common sense heißen k a n n . Der Begriff des Individuums w i r d überhaupt erst im 18. Jahrhundert eindeutig auf Personen zugeschnitten, w a s zugleich den Personbegriff transformiert. M i t solchen semantischen Veränderungen w i r d deutlich auf gesellschaftsstrukturelle Veränderungen u n d nicht zuletzt auf eine Folge des Buchdrucks, auf die neue gesellschaftliche R e l e v a n z eines »lesenden P u b l i k u m s « reagiert. A u c h in dieser Hinsicht können 12
132 Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? w i r hier nicht mehr tun, als die begrifflichen Grundlagen für ein Forschungsprogramm a n z u d e u t e n , das die gesellschaftsstrukturellen Grundlagen des W a n d e l s von Inklusionsterminologien z u m Gegenstand h ä t t e . A l l das ist uns in der Weise geläufig, d a ß w i r wissen: das W o r t M e n s c h ist kein Mensch. W i r m ü s s e n hinzulernen: Es gibt nichts, w a s als Einheit eines G e g e n s t a n d e s dem Wort entspricht. Worte w i e Mensch, Seele, P e r s o n , Subjekt, Indiv i d u u m sind nichts anderes als d a s , w a s sie in der Kommunikation b e w i r k e n . Sie sind k o g n i t i v e Operatoren insofern, als sie die Berechnung weiterer Kommunikationen ermöglichen. Sie haben limitierte Anschlußfähigkeit u n d damit ein Unterscheidungs- u n d Bezxichnungspotential. D i e Einheit, die sie bezeichnen, v e r d a n k t sich der Kommunikation. Das soll natürlich nicht h e i ß e n , daß es nichts anderes gibt als Kommunikation. N u r m u ß die Erkenntnistheorie von Was-Fragen auf Wie-Fragen. umgestellt werden. Die Einheit dessen, w a s mit einer W a s - F r a g e erfragt w e r den soll, ist immer ein Produkt des S y s t e m s , das diese Frage stellt. A l s o muß man zuerst wissen, w i e es dazu kommt, diese Frage zu stellen. Das System, und w i e d e r : gleichgültig ob ein psychisches oder ein soziales S y s t e m , fragt, wie es fragt, nach dem, w a s ist, w i e es ist. B e s s e r w ä r e es im Englischen .zu formulieren: as it is. A b e r a u c h diese Aussage ist natürlich nichts weiter als ein k o m m u n i k a t i v e s Manöver der U m d i r i g i e r u n g von K o m m u n i k a t i o n . Ob ich meine, w a s ich sage, w e i ß ich nicht. U n d w e n n ich es wüßte, m ü ß te ich es für m i c h behalten.
Anmerkungen 1 Dies gilt auch dann, wenn die Kommunikation als Kommunikation die Beobachtung kommuniziert, daß Konsens eine Tatsache ist. »Using a metalanguage which is a restriction of his language,
Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?
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L, an observer can say: >it is a fact that A and B agree Over T<, and other observers may agree, in this metalanguage, that >this is a fact<.« - so formuliert Gordon Pask auf etwas anderen Theoriegrundlagen den gleichen Sachverhalt (vgl. Pask 1981, S. 1331). 2 Das hierauf bezogene Forschungsprogramm nennt man heute »cognitive science(s)«. Siehe neben den bereits zitierten Arbeiten von Maturana und Varela vor allem Warren S. McCulloch 1965; Heinz von Foerster 1981. Im Text interessiert uns nur ein geringer Ausschnitt dieses immensen Forschungsprogramms einer operativen Erkenntnistheorie. 3 So wie im Falle des symbolon, des Zeichens früherer Gastfreund-
schaft, in der Hand des Gastes. 4 Vgl. für eine eher zu kurzfristige Einschätzung Eisenstein 1979, ferner Ong 1971. 5 »Medium« hier im Sinne von Fritz Heider 1 9 2 6 . Man mag sich auch an die bekannte Wachs-Metapher Piatons im Theaetet 191 C und 194 C - D erinnern, obwohl hier dunkel bleibt, was die Seele sonst noch ist (offenbar ein Behälter), wenn das Wachs in ihr ist als ihr Herz (Wortspiel kaer/kerös). Die bessere Seele besteht hier jedenfalls aus dem reineren Wachs, das für die Aufnahme von Formen besser geeignet ist (194 E - 195). 6 Selbst die Benutzung von gedruckten oder v o m Druck copierten Vorlagen für die Übermittlung von Liebeserklärungen ist uns suspekt, dies aber erst als Folge der Erfindung des Buchdrucks und erst seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts. Es kann dann schon wieder eine Ironie darin liegen, sich im Sexualverhalten auf gedruckte Vorlagen zu stützen - etwa auf das »erotische Riesensystem« nach Dr. L. van der Weck-Erlen, 1907, zit. nach dem Nachdruck 1978. 7 Damit ist ein anspruchsvoller Begriff von »Geist« abgelehnt; aber auch das, was man im Mittelalter vielleicht »Intuition« genannt hätte. 8 Im Englischen typisch durch ein einziges W o r t bezeichnet: distinction. Siehe z. B. die Anweisung für das Anfangen bei Spencer Brown 1971: »draw a distinction«. Spencer B r o w n berücksichtigt aber sehr wohl die immanente Dualität dieser Grundoperation und unterscheidet im weiteren distinctions und indications. 9 Um anzudeuten, daß sich hier gegenüber klassischen Erkenntnistheorien (auch solchen transzendentaltheoretischer Prägung) etwas geändert hat, spricht man heute von »Konstruktivismus«
134 Wie ist Bewußtsein an Komm.unika.tion beteiligt? oder, bei stärkerer Einbeziehung von ma.schinengestut.zten Analysen empirischer Sachverhalte, von »cognitive sciences«. 10 Selbstverständlich gilt dies nicht für soziale Systeme, die sich in der Gesellschaft ausdifferenzieren, etwa Organisationen oder Interaktionen. Solche Systeme können ihre gesellschaftliche Konstitution benutzen, um mit anderen sozialen Systemen zu kommunizieren (sofern sie kollektiv handlungsfähig sind). Zu den exzeptionellen Problemen, die aus diesem Theorieansatz für die Theologie resultieren, vgl. Niklas Luhmann 1985 b. 11 Vgl. Niklas Luhmann 1984, S. 296ff. Begriffsgeschichtlich leitet sich dieser Begriff her aus der Theorie des allgemeinen Handlungssystems von Talcott Parsons. Er bezeichnet dort das gleiche Problem, wenn auch im Kontext einer völlig anderen Theoriearchitektur. Dazu Luhmann 1978. 12 Thema des 18. Jahrhunderts wird folglich die Fusionierung dieser Terminologien - so besonders deutlich bei Buffier 1724.
Literatur Buffier, C, 1724: Traité des premières véritéz et de la source de nos jugemens. Paris. Cazeneuve, ]., 1958: »La connaissance d'autrui dans les sociétés archäiques«, in: Cahiers internationaux de Sociologie 25, S. 75-99. Eisenstein, E. L., 1979: The Printing Press as an Agent of Social Change: Communications and Cultural Transformations in Early-Modern Europe. 2 Bde. Cambridge, England. Foerster, H. von, 1981:. Observing Systems. Seaside, Cal.; dt. Übers. 1985, Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Braunschweig. Gilgenmann, K., 1986: »Sozialisation als Evolution psychischer Systeme«, in: Unverferth, H.-J. (Hg.), System und Selbstproduktion: Zur Erschließung eines neuen Paradigmas in den Sozialwissenschaften. Frankfurt/Main, S. 9 1 - 1 6 5 .
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Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? 135 Hallowell, I., 1960: »Ojibwa Ontology: Behavior and World View«, in: Diamond, S. (Hg.), Culture in History: Essays in Honor of Paul Radin. New York, S. 1 9 - 5 7 . Havelock, E. A., 1982: The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences. Princeton. Heider, F., 1926: »Ding und Medium«, in: Symposium 1, S. 108-157; gekürzte engl. Obers, in: Psychological Issues 1/3. 1959, S. 1-34. Korzybski, A., 1 9 5 8 : Science and Sanity: A n Introduction to NonAristotelian Systems and General Semantics. Lakeville. Luhmann, TV., 1978: «Interpénétration bei Parsons«, in: Zeitschrift für Soziologie 7, S. 299-302. Luhmann, N., 1984: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main. Luhmann, N., 1985: »Die Autopoiesis des Bewußtseins«, in: Soziale 4
Welt 36, S. 402^146; Neudruck in [Soziologische Aufklärung 6], S. 5 5 - 1 1 2 . Luhmann, N., 1985 a: »Complexity and Meaning«, in: The Science and Praxis of Complexity. Tokyo, S. 9 9 - 1 0 4 . Luhmann, N., 1985b: »Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?«, in: Bogensberger/Kögeler (Hg.), Grammatik des Glaubens. St. P ö l t e n - W i e n , S. 4 1 - 4 8 ; Neudruck in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1 9 8 7 , S. 227-335. Luhmann, N., 1986: »Das Medium der Kunst«, in: Delfin VII, S. 6 - 1 5 . Maturana, H. R., 1982: Erkennen: Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig. Maturana, H. R., 1986: The Biological Foundations of Self Consciousness and the Physical Domain of Existence. Ms. Maturana, H. R., 1986a: Evolution: Phylogenetic Drift Through the Conservation of Adaptation. Ms.
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Autopoiesis als soziologischer Begriff
D a s in den vorstehenden Beiträgen [in: Sinti, Kommunikation und soziale Differenzierung] diskutierte B u c h macht der Soziologie den Vorschlag, den Begriff der Autopoiesis zu übernehmen u n d damit eine tiefergelegte, auch elementare Operationen einbeziehende Theorie selbstreferentieller S y s t e m e zu gewinnen. Dabei geht es w e d e r um eine Analogie, denn der Begriff der Autopoiesis sprengt die ontologische Denktradition, die allein eine solche A n a l o g i e tragen könnte; er gibt, radikal u n d bis in die P h y s i k hinein durchgeführt, diese A n n a h m e eines Weltseins auf, das Sein und D e n k e n verbindet, u n d er verläßt die logische Tradition, die in bezug auf vorgegebenes Sein nur richtige u n d falsche U r t e i l e zuließ unter Ausschluß dritter Möglichkeiten. N o c h geht es um einen n u r metaphorischen Sprachgebrauch , das heißt: um eine nur linguistische Notlösung. Soll es sich um eine wissenschaftliche Theorie handeln, dann m u ß behauptet w e r d e n , der Sachverhalt sei so, wie die Theorie ihn beschreibt, auch wenn sogleich zugestanden w i r d , daß diese Behauptung n u r eine wissenschaftliche ( u n d z u m Beispiel keine wirtschaftliche, politische, rechtliche, gesundheitsförderliche) Behauptung ist. A b e r damit sind w i r bereits mitten in den Problemen. Im A u g e n b l i c k ist es sicherlich zu früh, ein U r t e i l über die A n n e h m b a r k e i t dieses Vorschlags zu fällen, und der Vorschlag selbst ist, mehr als der B u c h d r u c k erkennen läßt, v o n Unsicherheiten, Zweifeln u n d sich schon abzeichnenden L e r n n o t w e n d i g k e i t e n geplagt. Es geht vor allem um ein Ausprobieren: » w i e e s w ä r e , w e n n . . . « . Daß das theoretische Konzept der Autopoiesis sozialer S y s t e m e , mehr als erwartet, A u f m e r k s a m k e i t findet, liegt nicht zuletzt an diesen Unsicherheiten u n d an den vielen M ö g l i c h k e i t e n der Weiterarbeit, vor allem aber w o h l daran, daß es gegenwär1
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tig in dieser Anspruchslage k a u m k o n k u r r i e r e n d e Theorieangebote gibt. U n d auch andere D i s z i p l i n e n (und nicht nur wissenschaftliche Disziplinen ) fühlen s i c h betroffen. Eine A r t »Sömmerring«-Effekt a l s o ? Reger geistiger Austausch? Ein weiteres »Prinzip der Lebenskraft«, ein neues Seelenorgan vielleicht? Jedenfalls erinnert die Diskussion mich an das, w a s Hölderlin v o n dem Naturforscher seiner Zeit hielt: » G e r n e durchschau'n sie mit i h m d a s herrliche Körpergebäude, Doch z u r Zinne hinauf w e r d e n die Treppen zu steil.« Die Zinne - das ist die Selbstreferenz, d i e Bedingtheit des Vollen durch das Leere, des Positiven d u r c h das Negative. J e d e r m a n n sieht die massiven Zacken aufragen. Der Soziologe durchschaut die Zinne, er sieht d i e Löcher zwischen den Zacken, u n d die weisen nach u n t e n . So k o m m t es zu d e m soziologentypischen H a n g nach u n t e n , zu Oppositionsgeist, zu einer mit Verfremdungseifer betriebenen Entfremdungskritik. Was w ü r d e es n ü t z e n , w e n n man nun auch noch die Treppen fände u n d besteigen könnte, um die Zinne aus der N ä h e zu untersuchen? D i e Fernsicht erlaubt schwache begriffliche Genauigkeit u n d ( i m positiven Sinne) » S p e k u l a t i o n « . M a n kann mit » i n k o n g r u e n t e n Perspektiv e n « (Kenneth B u r k e ) arbeiten, generalisierten M o t i w e r dacht hegen, Ideologiekritik treiben, l a t e n t e Strukturen u n d Funktionen sichtbar machen, k u r z : in A n s p r u c h nehmen, die Verhältnisse zu durchschauen. M a n m a g daraufhin auf empirische Forschung hoffen. Ein a n d e r e r Weg (der empirische Forschung w e d e r ablehnt noch ausschließt) ist es: den A n s p r u c h an begriffliches A u f l ö s e v e r m ö g e n und an theoretische Genauigkeit zu steigern. W i l l man dieses Ziel weiterverfolgen, k o m m t man, z u mindest bei Theorien mit Anspruch a u f Universalkompetenz für ihren Gegenstandshereich, um das Thema der Selbstreferenz nicht herum. Es steht h e u t e im Mittelpunkt einer logischen, kybernetischen u n d erkenntnistheoreti4
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sehen Diskussion u n d beginnt, verschiedene empirische Disziplinen zu affizieren. Achtet man auf das Ausmaß und die Radikalität der theoretischen Umstellungen, kommt man nicht u m h i n , einen » P a r a d i g m a w e c h s e l « zu vermuten. A b e r es handelt sich nicht um eine wissenschaftliche » R e volution«, w e n n das heißen soll, daß sich eine neuartige Grundeinsicht plötzlich, also schnell, durchsetzt. Im Gegenteil: Die E n t w i c k l u n g meines eigenen Denkens ebenso w i e die Beobachtung der Theoriediskussion auf allgemeiner und auf soziologischer Ebene zeigen mir immer wieder, daß die im Prinzip der Selbstreferenz liegende Innovation z w a r leicht, elegant u n d mit schönen Paradoxien ausgestattet zu formulieren ist, daß aber das Durchdenken der Konsequenzen Zeit braucht und vermutlich noch für manche Überraschungen sorgen w i r d . So gibt es derzeit ein eigentümliches Mißverhältnis z w i schen der Beachtung, die die Theorie der Autopoiesis findet, und dem Vollzug der Theorieumstellungen, die sie, ernst genommen, verlangen muß. Das macht es Kritikern schwer, ihre Position zu markieren, und läßt es als weithin offen erscheinen, in w e l c h e m Umfang traditionelles Theoriegut der Soziologie übernommen, reformuliert oder aufgegeben w e r d e n m u ß u n d w a s dabei eventuell verloren geht. Natürlich das Subjekt und all das, w a s dem »Menschen« zugemutet oder angedichtet w i r d , w e n n verlangt wird, man solle ihn als » S u b j e k t « beachten. Natürlich jede transzendentaltheoretische Position; denn ihr gegenüber muß man fragen, ob die Unterscheidung von transzendental und empirisch selbst transzendental ist oder empirisch, w a s in beiden Fällen in eine Paradoxie führt. Ferner auch die Vorstellung, der M e n s c h sei - sei es als Leib, sei es als Person eine beobachtungsunabhängig gegebene Einheit. U n d schließlich, für die Soziologie w o h l am schmerzlichsten, jede kategoriale (das heißt: zur Primärdekomposition des Seins ansetzende) Verwendung des Handlungsbegriffs, die 5
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nach üblichem Verständnis z w a n g s l ä u f i g auf ein sinngebendes Subjekt verweist. Ob für diese u n d weitere Verzichte adäquater Ersatz geschaffen werden kann u n d ob die emanzipationskonservative Richtung in der Soziologie Unverzichtbares verteidigt oder nur Denkgewohnheiten festhält, i s t derzeit nicht sicher auszumachen. Z u m Teil macht es n i c h t die geringsten Schwierigkeiten, die E i n w ä n d e der K r i t i k auszuräumen. Das gilt z u m Beispiel für das Problem d e s kollektiven Lernens, denn gerade das Konzept der A u t o p o i e s i s dynamisiert das Strukturproblem w i e keine Bestandstheorie z u vor. A u c h fällt es nicht schwer, einen formalen und einen emphatischen Sinnbegriff (sprachlich z u m Beispiel sinnhaft/sinnvoll oder mit A l o i s H a h n Sinn-Sein/Sinn-Haben) zu unterscheiden, w o b e i der emphatische Sinnbegriff dann aber, weil Negation zulassend, systemrelativ gebraucht w e r d e n m u ß . ' Es lohnt aber k a u m , solche »Widerlegungen« hier im einzelnen vorzuführen. Die Schwierigkeiten für die Fortsetzung der Diskussion liegen e h e r darin, daß die Theorie selbstreferentieller Systeme ihrerseits mit ungelösten bzw. nur u n k l a r formulierbaren P r o b l e m e n ringt und daß hier Gründe dafür liegen, daß i h r e Antworten unbefriedigend, u n k l a r u n d oft zu abstrakt ausfallen. Erschwerend k o m m t hinzu, daß diese Probleme keine Punkt-für-Punkt-Beziehung zu den Herzensanliegen der Tradition haben, so daß Theoriefortschritte im Bereich der Theorie selbstreferentieller Systeme n i c h t sofort in die Eliminierung von Bedenken umgesetzt w e r d e n können. U m diese Sachlage zu verdeutlichen, w e r d e ich im folgenden mich nicht damit aufhalten zu zeigen, d a ß in meinem Buch »Soziale Systeme« genügend A n h a l t s p u n k t e für eine Beantw o r t u n g von Anfragen gegeben sind; s o n d e r n vordringlich dürfte interessieren, w e l c h e ungelösten o d e r unklar gestellten Probleme gegenwärtig den Stand d e r Forschung bestimmen. 7
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1) Einen guten Einstieg gewinnen w i r bei einem Problem, das scheinbar eine Randfrage darstellt: bei den Schwierigkeiten, die H e l m u t Spinner (mündlicher Diskussionsbeitrag) mit der These von der Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen hatte. Eine Leerformel? Ein Paradox! Die klassische, auf ein ontologisches Seinsverständnis gestützte Logik hatte sich schließlich genötigt gesehen, ihre Dreisatzsystematik (Satz von der Identität, Verbot von W i dersprüchen, Satz v o m ausgeschlossenen Dritten) durch einen Satz vom Grunde zu ergänzen. Er schloß die Systematik, in der Identität ja n u r ein M o m e n t unter anderen ist, durch einen Einheitsgesichtspunkt ab. W a s aber, wenn man sich daraufhin genötigt sehen w ü r d e , diesen Gesichtspunkt von etwas anderem zu unterscheiden, also Einheit als Differenz zu formulieren? Kann man alles, was ist, auf eine Differenz » g r ü n d e n « ? Hier hätte man mit H e i d e g g e r zu diskutieren. Statt dessen legen w i r das A n g e b o t der Evolutionstheorie vor: den Grund, daß etwas ist u n d nicht nicht ist, in der Unwahrscheinlichkeit seines Seins zu suchen u n d die Erklärungslast dafür zu übernehmen. Das heißt: Ein Beobachter von Evolution sieht diese als Paradox, als Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen, u n d formuliert dann sein Gegenstandsverhältnis mit der Frage, w i e es trotzdem möglich ist und ob es weiterhin so bleibt, w i e es ist. Es ist dann eine z w e i t e Frage (und dies w a r die Frage von Helmut Spinner), w i e man dies Unwahrscheinlichkeitstheorem aussagekräftig formulieren, w i e man also der Paradoxie entkommen könne. Die bekannteste Möglichkeit liegt im Begriff der Entropie. M a n könnte auch von der A n n a h m e ausgehen, daß kein aktuelles Ereignis irgend etw a s über die Wahrscheinlichkeit eines anderen Ereignisses besagen w ü r d e . F ü r soziologische A n a l y s e n bietet es sich an, das Theorem der doppelten Kontingenz zugrunde zu legen u n d die U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t in der Ausbildung komplementärer E r w a r t u n g e n zu sehen, die dann durch 10
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Evolution gleichwohl erwartbar gemacht werden. Ein weiteres, für Handlungstheoretiker attraktives Angebot w ä r e : von einem Uberschuß an Möglichkeiten der Verknüpfung von H a n d l u n g e n u n d damit der Möglichkeiten von Interaktion auszugehen. Es fehlt also nicht an M ö g lichkeiten, aber unübersehbar ist, daß ihre Artikulation weitere Theorieschritte erfordert, sich durch Anschlußfähigkeit rechtfertigen muß u n d nicht aus dem evolutionären Paradox deduziert w e r d e n kann. Dahinter steht letztlich die Frage nach d e m »habitus« eines wissenschaftlichen Interesses. W i e gewinnt man die besseren Beobachtungsmöglichkeiten: w e n n man Richtiges postuliert u n d sich dann für eine abweichende Realität interessiert oder w e n n man zunächst Unwahrscheinlichkeit postuliert u n d sich dann gleichsam im Gegenstromprinzip dafür interessiert, w i e F o r m trotzdem möglich wird u n d w i e man an d e m nun Wahrscheinlichen noch Spuren seiner Unwahrscheinlichkeit, Gefährdungen, Folgelasten usw. entdecken k a n n ? 2) Wo es um Erkenntnistheorie geht, finden w i r uns bereits im Bereich der A n w e n d u n g dieser Theorieentscheidung, da ja schließlich Erkenntnis selbst ein real mögliches (also unwahrscheinliches) Verhalten ist. Die Theorie autopoietischer S y s t e m e führt z w i n g e n d zu erkenntnistheoretischen Positionen, die heute unter dem Titel »Konstruktiv i s m u s « erörtert werden. Damit ist sicher keine Rückkehr zu solipsistischen oder idealistischen Erkenntnistheorien gemeint, da stets von einer Differenz von System und U m w e l t ausgegangen w i r d . A u c h ist der Begriff der Kognition gegenüber der klassischen wahr/falsch-Cödierung stark erweitert. Er k a n n am besten durch eine Definitionsreihe Beobachtung - Beschreibung - Kognition erläutert werden. Beobachtung ist die Verwendung einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (also: nicht der anderen) Seite. B e schreibung ist die Anfertigung eines »Textes« (eines A r t e fakts, eines » S c r i p t s « etc.) auf Grund von Beobachtungen. 13
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Kognition ist die Veränderung eines Systemzustandes auf Grund von Beobachtungen (bzw. B e s c h r e i b u n g e n ) . Damit läßt sich der Anspruch auf eine n e u a r t i g e empirische Erkenntnistheorie anmelden, die von Differenz (nicht von Einheit ausgeht und auf Differenz ( n i c h t auf Einheit) a b zielt, sich also mit der Erzeugung von Differenzen durch Differenzen beschäftigt. So weit, so gut. A b e r das Artikulationsniveau dieser Theorie reicht bei w e i t e m noch nicht an den Ausarbeitungsgrad klassischer Erkenntnistheorien (etwa solcher transzendentaler P r o v e n i e n z ) heran, und w e n n man nach der Konstruktion des Konstruktivismus fragt, w e r d e n anstelle einer A n t w o r t oft nur Geschichten u n d Beispiele erzählt. Fast alle im folgenden behandelten P u n k t e hängen mit diesem Defizit z u s a m m e n , wenngleich sie auch unabhängig von erkenntnistheoretischen Fragen unmittelbar theorierelevant sind. 3) D i e Stabilität von Kognitionen, a b e r auch die Stabilität der R e p r o d u k t i o n der S y s t e m o p e r a t i o n e n allgemein, läßt sich w e d e r auf ein Wesen (im Sinne e i n e s Seienden, das erklärt, w a s das Seiende ist) noch auf eine Tatsache der Vernunft (Kant), w e d e r auf einen G r u n d n o c h auf ein Apriori zurückführen. Statt dessen bietet die T h e o r i e selbstreferentieller S y s t e m e (und darin ist sie v e r w a n d t mit anderen Konzepten der » P r o z e d u r a l i s i e r u n g « ) d e n Gedanken der Rekursivität an. Operationen w e r d e n auf die Resultate von Operationen angewandt, und bei h i n r e i c h e n d langer Wiederholung w i r d sich dann, so n i m m t m a n an, diejenige F o r m herausfiltern, die unter diesen B e d i n g u n g e n stabil sein kann. Die Theorie gibt keine G a r a n t i e dafür, daß jedes S y s t e m solche Formen entwickeln kann. Für die Auswahl sorgt letztlich die Evolution. Bisher gibt es für diesen Gedanken u n d damit für das, w a s H e i n z von Foerster » E i g e n b e h a v i o u r s « oder »Eigenval u e s « nennt , aber nur mathematische u n d biologische Forschungen. M a n profitiert dabei von der o b e n genannten Erw e i t e r u n g des Begriffs der Kognition. D a s Prinzip wird 14
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generalisiert zu der Annahme, daß j e d e s System seine R e a litätsannahmen in diesem Sinne r e k u r s i v kontrolliert durch Beobachtung seiner Beobachtungen (second order Observation, second order cybernetics) . A b e r w i e das? M i t derselben Unterscheidung oder mit variierten Unterscheidungen, u n d w e n n letzteres: Wie werden Variationsmöglichkeiten limitiert? A u ß e r d e m fehlen derzeit n o c h Forschungen, die ausprobieren, w i e w e i t man mit diesem Prinzip der Rekursivität k o m m t , w e n n man es auf den B e r e i c h sinnhaft operierender b e w u ß t e r bzw. sozialer S y s t e m e überträgt. M a n k a n n also nur vermuten, daß auch d u r c h Rekursivität gedanklicher u n d kommunikativer O p e r a t i o n e n ständig R e a lität getestet w i r d , und dies mit Erfolg, w e i l die Umwelt der Systeme z w a r unbekannt ist u n d u n b e k a n n t bleibt, aber jedenfalls nichtbeliebige, diskontinuierliche Verteilungen aufweist. Diese Feststellungen gelten für a n d e r e Systeme ebenso w i e für das Wissenschaftssystem selbst. Das Wissenschaftssystem hat seine Eigentheorie, seine Wissenschaftstheorie, mithin aus einem Vergleich mit anderen Systemen abzuziehen. Es operiert ständig mit Hilfe der i n t e r n e n Unterscheidung von Fremdreferenz und Selbstreferenz, in anderen Worten: gegenstandsorientiert und t h e o r i e - und methodenbewußt. W i l l man dies bestreiten, m u ß m a n zu einem » n u r analytischen« Gegenstandsbegriff (Systembegriff, Strukturbegriff) übergehen. Das kann man n a t ü r l i c h tun, der Effekt ist aber, daß man dann nur noch die K o m p l e x i t ä t des beobachtenden Systems und nicht mehr die K o m p l e x i t ä t des beobachteten S y s t e m s , also auch nicht m e h r die Erkenntnis konstituierende Komplexitätsdifferenz erfassen kann. Nichts anderes w a r gemeint mit m e i n e r oft als erkenntnistheoretisch naiv kritisierten A u s g a n g s t h e s e : Es gibt soziale Systeme. 4) Diese Ü b e r l e g u n g führt uns auf d a s Thema, ob und w i e w e i t interne Simulation überhaupt Z u g a n g zu externen Verhältnissen gewähren können. Der s t r i k t e Konstruktivis15
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Autopoiesis als soziologischer Begriff 1 4 5 mus verneint dies, und unbestreitbar ist in der Tat, daß kein
System Operationen außerhalb der Systemgrenzen, also Operationen in seiner Umwelt vollziehen kann; und das heißt ganz konsequent, daß kein System durch eigene Operationen sich selbst mit der Umwelt verknüpfen kann. Dies m u ß man ernst nehmen, und w e n n i r g e n d w o , zeigt sich an dieser Stelle die eigentümliche U n g e n a u i g k e i t der Vorstellungen klassischer Erkenntnistheorien, a b e r auch klassischer Systemtheorien. M i t anderen W o r t e n : Eine Theorie, die behaupten w i l l , es sei möglich, S y s t e m e und Umwelten durch Prozesse zu verbinden (die dann streckenweise interne und streckenweise externe Prozesse s e i n müßten), wird gut beraten sein, w e n n sie es vermeidet, g e n a u anzugeben, um w a s für Prozesse es sich handelt. A b e r andererseits ist es auch unhaltbar anzunehmen, ein S y s t e m könne die eigenen Strukturen auf Grund eines b l o ß e n Rauschens der U m w e l t , auf Grund von Störung u n d Irritation aufbauen. Das w ü r d e viel zu lange dauern. Wenn a b e r nicht so, wie dann? Die dem Konstruktivismus am ehesten angepaßte Antw o r t lautet, daß das System die Differenz; von S y s t e m und U m w e l t in das System übernimmt in d e r Form eines » r e e n t r y « einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene (Spencer B r o w n ) . Das System sucht, m i t anderen Worten, Formen, mit denen es die eigene A u t o p o i e s i s zugleich als geschlossen u n d als offen, als rekursiv u n d responsiv organisieren kann. In der Tat scheinen s o w o h l die auf Vorstellungen hinarbeitende Gedankenarbeit des Bewußtseins als auch die Informationen bearbeitende Kommunikation bei aller autopoietischen Geschlossenheit diese Offenheit für U m w e l t w i e zwangsläufig i m m e r mitzuführen. Aber das erklärt nicht zureichend, w i e ein K o n t a k t zwischen S y s t e m u n d U m w e l t (gesehen durch e i n e n Beobachter) zustande kommt. Die Weiterarbeit an diesem Problem w i r d mehr als bisher auf die Zeitlichkeit der autopoietischen Systeme achten
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müssen, u n d z w a r in U m k e h r u n g e i n e s von Kant in der » W i e d e r l e g u n g des I d e a l i s m u s « b e n u t z t e n Arguments: N i c h t die Beharrlichkeit der D i n g e b e w e i s t einem davon affizierten Bewußtsein ihr Dasein a u ß e r h a l b des Bewußtseins, sondern die Ereignishaftigkeit d e r Operationsweise des autopoietischen Systems selber. O b w o h l auch die Einheit eines Ereignisses ein internes K o n s t r u k t ist, dem nichts in der U m w e l t entspricht, ist für das System Umwelt in dieser Form durch Simultaneität erfaßbar, das heißt als Gleichzeitigkeit von dem, w a s im M o m e n t im System und in der U m w e l t aktuell ist. U n d gerade d a r a n , daß die eigene Autopoiesis die Ereignisse sofort de-aktualisiert und sich nicht an sie bindet, kann abgelesen w e r d e n , daß irgendeine Realität in der U m w e l t anders weiterläuft u n d Ereignisse mit anderen Anschlüssen versorgt als im System selbst..Die auf Ereignisse begrenzte, sofort • w i e d e r verschwindende A k t u a l i t ä t macht mit ihrer Evidenz deutlich, daß das S y s t e m sich laufend mit einer U m w e l t integriert, aber sich gleichwohl im Hinblick auf besondere Horizonte der Selektion ausdifferenziert u n d nicht, w e n n es sich einmal auf U m w e l t einläßt, für immer an ihr k l e b e n bleibt. ' Und es ist diese Differenz, die letztlich die Extension von Raum- und Zeithorizonten erzwingt. 5) Was »Interpenetration« angeht, sei hier nur eine Ü b e r l e g u n g nachgeschoben, die im B u c h »Soziale Systeme« z w a r aus den Prämissen folgt, aber n i c h t klar genug z u m A u s d r u c k gebracht ist. Interpenetration kann nicht als K o m m u n i k a t i o n , also auch nicht als Gegenkommunikation (Giegel) begriffen werden. Denn K o m m u n i k a t i o n ist ja immer eine Operation des sozialen S y s t e m s selber, also nicht etwas, w a s dieses System mit seiner U m w e l t verbindet. Es gibt sicherlich K o m m u n i k a t i o n z w i s c h e n sozialen Systemen, etwa zwischen Organisationen; a b e r dies ist dann notw e n d i g e r w e i s e K o m m u n i k a t i o n i n n e r h a l b umfassenderer Sozialsysteme, letztlich innerhalb der Gesellschaft. Es kann keine Kommunikation sozialer S y s t e m e mit nichtsozialen 18
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S y s t e m e n g e b e n , also auch keine K o m m u n i k a t i o n zwischen Individuum u n d Gesellschaft. Es ist dann nur konsequent, w e n n man bei der Klärung des Begriffs der Interpénétration nicht auf Kommunikation rekurriert, u n d zwar w e d e r auf positive noch auf negative, w e d e r auf konformistische noch auf oppositionelle Kommunikation. H i e r liegt denn auch der Grund für d i e Schwierigkeiten in der Ausarbeitung des Begriffs der Interpénétration. W e n n man auf die Theorie der K o m m u n i k a t i o n als Basis der Definition u n d Erläuterung verzichten muß, m u ß man auf viel verzichten. Es bleibt dann nur die Möglichkeit, die im vorstehenden Abschnitt angedeutet ist: das Problem ganz aus der Sozialdimension in die Zeitdimension zu verlagern u n d Interpénétration als eine allgemeine Form der Koordination von System u n d U m w e l t zu begreifen, die sich der Simultaneität von Ereignissen bedient u n d nur so zustande k o m m e n kann. 6) Sind Ereignisse demnach identisch u n d différent? Wer die Whiteheadsche Kosmologie kennt, w i r d durch diese Fragestellung nicht überrascht sein. Sie führt uns aber noch auf ein anderes Problem, nämlich auf die Vermutung, daß die autopoietische Produktion von Einheit zugleich ein Mittel ist, Paradoxien zu erzeugen u n d fruchtbar werden zu lassen. M a n kann sich dies an den Paradoxien des binokularen Sehens verdeutlichen, das über den Eindruck der Formverschiedenheit desselben den A u s w e g der Raumtiefe erzeugt. A u c h dies ist ein Thema, das ich w e g e n seiner immanenten Schwierigkeiten bei der Abfassung des Textes » S o z i a l e S y s t e m e « u m g a n g e n bzw. nur gestreift habe, obw o h l eine Behandlung, w i e mir die anschließenden Diskussionen zeigen, erforderlich gewesen wäre. Paradoxien sind Widersprüche, die d a z u einladen, eine Position zu beziehen mit der Folge, daß man sich damit auf die Gegenposition versetzt findet. Die Fruchtbarkeit von Paradoxien besteht gerade darin, daß sie logisch nicht aufgelöst w e r d e n können. In der Tradition w a r dies zunächst 21
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eine Entdeckung der R h e t o r i k gewesen und ist mit ihr in Verruf geraten. U n d erst sehr allmählich stellt sich heute ein W i e d e r g e w i n n dieser Einsicht in d i e kreative Funktion von paradoxierenden Beobachtungen ein, wobei »Kreativität« zunächst in pathologischen, dann zunehmend aber auch in morphogenetischen S y s t e m e n t w i c k l u n g e n entdeckt wurde. Schwierigkeiten bereitet derzeit ( w i e generell bei Theorien über A b w e i c h u n g s v e r s t ä r k u n g ) die Differenzierung von positiven u n d negativen, systemaufbauenden und s y stemblockierenden Paradoxien, z w i s c h e n kreativen und vitiösen Zirkeln. Ich vermute, daß dies nicht am (seinerseits natürlich p a r a d o x e n ) Begriff der Paradoxie liegt, sondern an der Wahl von F o r m e n für die Entparadoxierung bzw. in der Terminologie von KrippendorfP : für die Umwandlung unendlicher in endliche Informationslasten. Vor allem aber hängt die Einschätzung von Paradoxien und ihrer Funktion mit einem weiteren T h e m a zusammen: dem Verhältnis von autppoietischen Operationen und Beobachtungen (einschließlich Selbstbeobachtungen) dieser Operationen. U n d auch damit landen w i r auf einem Terrain, das für Zwecke der soziologischen A n a l y s e bei weitem noch nicht hinreichend aufbereitet ist. Denn es ist klar, daß Paradoxien, w i e L o g i k überhaupt, stets nur die Beobachtung betreffen, w ä h r e n d die faktischen Operationen durchaus u n logisch u n d ohne Rücksicht auf blockierende Paradoxien weiterlaufen k ö n n e n (denn die Evolution hat sich offensichtlich nicht die Zeit genommen, sich selbst logisch zu kontrollieren). Dies heißt aber keineswegs, daß dies Problem nur analytisch, nur wissenschaftlich von Belang sei, denn unser Beobachtungsbegriff ist w e i t genug gefaßt, um auch nichtwissenschaftliche Beobachtungen u n d Beschreibungen einzubeziehen. Die Frage ist also: Welche Bedeutung haben Beobachtungen u n d speziell Selbstbeobachtungen für die operative Autopoiesis sozialer Systeme (wobei vorauszusetzen ist, daß die Beobachtung selbst eine auto22
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poietische Operation, im Falle sozialer S y s t e m e also Kommunikation ist)? 7) Wenn man diese Frage b e a n t w o r t e n könnte, könnte man dem Einwand von Johannes B e r g e r begegnen, ein Strukturbegriff, der auf R e g u l i e r u n g der Autopoiesis durch Erwartung nächster Anschlußelemente abstellt, blende wichtige strukturtheoretische Einsichten d e r bisherigen Soziologie aus. Er blendet sie nicht aus, er bezieht sie auf die Beobachtung des Systems u n d seiner Operationen. M i t dieser Auskunft gelangt man freilich zu einem der schwierigsten Probleme der Diskussion ü b e r Autopoiesis: d e m Verhältnis von autopoietischer O p e r a t i o n u n d Beobachtung. Das Problem liegt nicht in der Fassung des Begriffs. » B e o b a c h t u n g « ist leicht zu definieren. Unproblematisch ist ferner der Fall externer Beobachtung. Hier geht es nur um deren eigene Autopoiesis u n d um die dadurch ermöglichten u n d beschränkten Informationsgewinne. Unbestritten scheint auch zu sein, daß jede Beobachtung beschränkt ist durch die Autopoiesis des eigenen Systems und folglich ihre eigene Instrumentierung m i t einem »blinden F l e c k « bezahlen m u ß ; daß sie also nicht sehen kann, daß sie nicht sehen kann, w a s sie nicht sehen k a n n . Gegenwärtig w e r d e n hauptsächlich die erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser Einsichten diskutiert. A b e r haben sie auch operative Konsequenzen? Gibt es A r t e n autopoietischer Systeme, deren Autopoiesis davon abhängt, daß die sie durchführenden Operationen im selben S y s t e m laufend beobachtet w e r d e n ? Selbstbeobachtung a l s o als Bedingung von Autopoiesis? Dies habe ich für sinnhaft operierende S y s t e m e , also für soziale Systeme u n d für psychische S y s t e m e behauptet , u n d von dieser Theorieentscheidung h ä n g t sehr viel ab. Sie führt z u m Beispiel zu einem sehr engen Verhältnis von externen Beobachtungen u n d Selbstbeobachtungen, und sie enthält, je nachdem, w i e man sie interpretiert, Vorentscheid u n g e n über die M ö g l i c h k e i t e n des r e k u r s i v e n Beobachtens 26
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von Beobachtungen u n d damit über d i e im S y s t e m intern durchgeführte Realitätskontrolle. M a n k a n n daraufhin ohne S c h w i e r i g k e i t e n einsehen, daß es Zusammenhänge gibt (und ich bin vorsichtig genug, hier nicht schon gleich von Strukturen zu sprechen), die nicht zu E r w a r t u n g e n gerinnen, etwa bestimmte t y p i s c h e Muster der R e a k t i o n von Jugendlichen auf a b n e h m e n d e Karriereaussichten, bestimmte Aggregatdaten der Wirtschaft und ihre Variation, etwa die von Berger genannten Daten der Einkommensverteilung. Zu » S t r u k t u r e n « gerinnen solche Z u s a m m e n h ä n g e jedoch nur, w e n n sie beobachtet, und das heißt im sozialen System: k o m m u n i z i e r t w e r d e n . Sie bilden dann E r w a r t u n g e n für die Autopoiesis der Selbstbeobachtung u n d Selbstbeschreibung des S y s t e m s . Der Vorteil dieser k o m p l i z i e r t e n Begriffsableitung ist: d a ß sie die Aufmerksamkeit auf die Frage lenkt, innerhalb w e l c h e r Unterscheidungen bzw. gegen welche anderen Erwartungen solche Daten profiliert w e r d e n - so Einkommensverteilungsdaten möglicherweise innerhalb der gleich/ungleich-Unterscheidung (und w e n n so: w a r u m gerade so u n d nicht and e r s ? ) . M a n kann, daran anschließend, fragen, welche U n terscheidungsprojektionen eine Gesellschaft z u r Informatio n s g e w i n n u n g verwendet, w a r u m die einen u n d nicht die anderen Erfolg ( z u m Beispiel politischen Erfolg) haben und w i e strukturelle Komplexität (etwa funktionale Differenz i e r u n g ) mit R e i c h t u m an Unterscheidungsvermögen, also R e i c h t u m an Kapazität der Informationsgewinnung und -Verarbeitung, korreliert. Wenn m a n den A u s d r u c k »latente S t r u k t u r e n « beibehalten w i l l , k a n n dies nach dieser Auffassung nur heißen, daß die Gesellschaft die M ö g l i c h k e i t bereithält, sich selbst mit Hilfe des Schemas manifest/latent zu beobachten u n d auf diese Weise Zusammenhänge in Strukturen zu überführen. . 8) O h n e auf Fragen dieser Art, die in den vorstehenden Texten in F ü l l e zu finden sind, im n o t w e n d i g e n Detail eingehen zu können, möchte ich ein weiteres P r o b l e m erwäh28
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nen, das die Diskussion über A u t o p o i e s i s in den letzten J a h r e n z u n e h m e n d beherrscht und vor a l l e m für den Beitrag von Gunther Teubner zentral ist, n ä m l i c h die Frage: ob u n d w i e man sich vorstellen kann, daß autopoietische Systeme aus autopoietischen Systemen b e s t e h e n - z u m Beispiel Gehirne aus Zellen oder Gesellschaften aus Menschen oder als differenzierte Systeme aus a n d e r e n autopoietischen Systemen. Schon die Fragestellung e n t h ä l t einen irritierenden W i d e r s p r u c h z u m Begriff der A u t o p o i e s i s ; mein Eindruck ist, daß hier zur Zeit die H a u p t q u e l l e von Konfusionen u n d Meinungsverschiedenheiten der » A u t o p o i e t e n « zu suchen ist - ein Widerspruch, der g l e i c h s a m R a u m schafft für Kontroversen. Teubner w i l l hier offenbar den Weg e i n e r Abschwächung u n d stärkeren Aufgliederung des G e d a n k e n s der Autopoiesis beschreiten. Das ist einen Versuch w e r t . Ich selbst ziehe es (angesichts der gegenwärtigen D i s k u s s i o n s l a g e ) vor, am strikten Begriff der Autopoiesis festzuhalten: Ein System ist autopoietisch oder es ist es nicht, es gibt keine halb autopoietischen, halb allopoietischen S y s t e m e . Dann muß man alle Gradualisierungen mit Hilfe der S y s t e m / U m w e l t Differenz behandeln, also von mehr oder w e n i g e r weitgehender Ausdifferenzierung des Systems s p r e c h e n u n d dabei auf die Komplexität des Systems u n d d e r für es faßbaren U m w e l t abstellen. Es ist derzeit k a u m m ö g l i c h , an dieser Stelle zu entscheiden, welches Vorgehen das bessere ist. M a n sollte beide Möglichkeiten n e b e n e i n a n d e r ausprobieren - auf die Gefahr hin, daß dies A n h ä n g e r u n d Gegner der Theorie autopoietischer Systeme v e r w i r r t . 9) Ein letzter Gesichtspunkt, der e r w ä h n t w e r d e n muß, bereitet die gleichen (vielleicht sogar d i e s e l b e n ) Schwierigkeiten w i e das Problem der Selbstreferenz. Es geht um das, w a s man einen »differenztheoretischen« A n s a t z nennen könnte. A u c h hier liegt weitgehend im d u n k e l n , w i e sehr dieser Vorschlag übliche D e n k v o r a u s s e t z u n g e n berührt u n d verändert. U n d auch hier k a n n m a n den Vorschlag
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leicht akzeptieren mit der Folge, daß man im Verlauf der w e i t e r e n Argumentation (oder auch d e r kritischen Erörterung von Theoriepositionen) w i e d e r a u s den Augen verliert, w o z u man sich bekannt hatte. . Leicht akzeptieren deshalb, w e i l es differenztheoretische A n s ä t z e in H ü l l e und Fülle schon g i b t . M a n mag an die Sprachtheorie von Saussure oder an d i e »Schrift« von Derrida denken, an die »personal c o n s t r u c t s « von Kelly, an den Begriff der Information bei Bateson o d e r an die Logik von Spencer B r o w n , an die Evolutionstheorie Darwins (Differ e n z Variation/Selektion) oder an die Neo-Dialektik H e gels, die die Differenz der klassischen D i a l e k t i k von der Sozialdimension in die Zeitdimension verschiebt (aber dabei der Einheit im Begriff der B e w e g u n g u n d in den dadurch bedingten Vorstellungen von A n f a n g und Ende immer noch eine dominierende Stellung z u w e i s t ) . Vor allem ist die K y b e r n e t i k von Anfang an differenztheoretisch gedacht, denn ihr b e r ü h m t e r Thermostat r e a g i e r t nicht auf Temperatur, sondern auf Temperaturdifferenz. Ernst genommen, fordert ein differenztheoretischer A n s a t z , daß alle Wissenschaft, w i e oben bereits gesagt, es mit der Transformation v o n Differenzen in Differenzen zu tun hat und daß Einheit eigentlich nur als unscharf gesehene Differenz von Bedeut u n g ist. Das k a n n man nicht zuletzt am Begriff der Selbstreferenz erläutern. Selbstreferenz läßt sich i m m e r tautologisch formulieren: Die Gesellschaft ist das, w a s sie durch Kommunikation als Gesellschaft produziert. Gesellschaft = Gesellschaft. Eine Tautologie ist aber eine P a r a d o x i e . Sie formuliert eine Unterscheidung, v o n der s i e behauptet, daß es keine Unterscheidung ist, eine differenzlose Unterscheidung; sie behauptet etwas, w a s sich, w e n n man es behauptet, als Gegenteil von d e m erweist, w a s man behauptet. Die F i g u r der Selbstreferenz ist also, als Gegenstand einer B e obachtung genommen, eine Figur, an der sich der differenztheoretische A n s a t z als p a r a d o x e r w e i s t . M a n könnte
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dadurch in der A n n a h m e bestärkt w e r d e n , daß das Zusammenschließen von selbstreferenztheoretischen u n d differenztheoretischen A n s ä t z e n auf eine fundamentale Paradoxie aufläuft: auf eine Paradoxie jeder Beobachtung. The S a m e is Different, um einen Titel von R a n u l p h Glanville zu z i t i e r e n . Das ist nicht zur E n t m u t i g u n g gesagt, sondern als H i n w e i s darauf, daß der Schlüssel für Theoriebildung im P r o b l e m der Entparadoxierung von Paradoxien liegen dürfte, oder anders gesagt: in der kreativen Verwendung v o n Paradoxien, in der Transformation u n e n d l i c h e r in endliche Informationslasten, in der Uberführung unbestimmbarer Komplexität in bestimmbare Komplexität. Einheitssüchtige Theorien müßten dann durch Theorien ersetzt w e r d e n , die zeigen können, w i e man diesen Schritt vollziehen u n d Paradoxien auf fruchtbare W e i s e entparadoxieren kann. A u c h theoretisch orientierte Soziologen w e r d e n hier vielleicht von S c h w i n d e l gepackt w e r d e n oder dies sogar für S c h w i n d e l halten. D a r u m sei mit d e m H i n w e i s geschlossen, daß es in der Soziologie mindestens eine gut eingeführte L ö s u n g dieses Problems gibt: d i e »Mehrebenena n a l y s e « im Stile der Typentheorie nach Vorschlägen von Russell u n d W h i t e h e a d . Sie beruht offensichtlich auf einer ( w i l l k ü r l i c h e n ) U n t e r b r e c h u n g von Selbstreferenz, auf der bloßen Absicht der Entparadoxierung. U n d w e n n es schon eine fachlich bereits anerkannte M ö g l i c h k e i t gibt: w a r u m dann nicht auch andere? M u ß m a n nach all d e m nun mit einer A r t Währungsreform in der Soziologie rechnen? M u ß m a n befürchten, daß die Soziologie auf das neue Paradigma d e r autopoietischen S y s t e m e einschwenkt u n d alle Soziologen aufgefordert sind, ihre alten M ü n z e n gegen neue, autopoietische umzutauschen? Keine Sorge, ein solcher Vorgang w ä r e viel zu k o m p l i z i e r t . Er w ü r d e viel zu viel Zeit brauchen, mehr Zeit, als j e d e m einzelnen aus Karrieregründen z u r Verfügung steht. W i r w e r d e n bei einem pluralen Theoriewäh29
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r u n g s s y s t e m bleiben, aber vielleicht läßt sich durch Mitführen von universalistischen Theorien dieses oder anderen Typs die Zirkulation i m S y s t e m beschleunigen.
Anmerkungen 1 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984. 2 Daß es sich bei dem, was hier knapp als ontologische Tradition gekennzeichnet ist, nicht um die Gesamtheit des alteuropäischen Denkens handelt, sei nur vorsorglich angemerkt. Die dominante Denkrichtung hat gerade dank ihrer hohen Transparenz immer auch Selbstbeobachtungen und Zweifel an sich selbst mitgeführt etwa in der Theorie der Paradoxien, im Diskussionszusammenhang de futuris contingentibus, in der skeptischen Frage nach den Kriterien für die Wahl von Kriterien. Im großen und ganzen konnten aber solche Probleme marginalisiert oder in Religion aufgelöst werden. 3 Dieser Einwand ist anläßlich einer Tagung über »Autopoiesis and Law« am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (Dezember 1985) ausführlich diskutiert worden. Eine entsprechende Publikation wird vorbereitet. 4 Siehe etwa den Text von Vincenzo Perna zum Katalog der Ausstellung Bruno d'Arcevia, Rom 14. März - 1 1 . April 1986 (Studio d'Arte Fraticelli). 5 Ich beziehe mich hier auf ein Gespräch mit Karl-Otto Apel. Apel hält an der durch die Transzendentalphilosophie gewonnenen Einsicht fest, aber das trägt der Forderung nicht Rechnung, jede Einsicht auf eine ihr vorausgehende Unterscheidung zu beziehen. Man kann eine Theorie natürlich mit der Unterscheidung von transzendental und empirisch anfangen (im Sinne der Aufforderung von George Spencer Brown: draw a distinction!). Aber dann ist es eben dieser Theorie unmöglich, sich von ihrer Unterscheidung zu unterscheiden - es sei denn durch eine selbstreferentielle Operation: durch self-indication. Vgl. zu dieser Weiterentwicklung des Kalküls von Spencer Brown Francisco Varela, A Calculus for Self-Reference, in: International Journal of General Systems 2 (1975), S. 5 - 2 4 .
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6 Hierzu auch Niklas Luhmann, Die Soziologie und der Mensch, in: Neue Sammlung 25 (1985), S. 3 3 - 4 1 . 7 Nur vorsorglich und weil ich weiß, wie schwer es fällt, diese Konsequenz zu ziehen, sei nochmals darauf hingewiesen, daß der Begriff des »Kategorialen« im Text oben unterstrichen und erläutert ist. Es geht selbstverständlich nicht um einen Verzicht auf den Handlungsbegriff schlechthin, sondern um seine Rekonstruktion als Konstrukt von Zurechnungsprozessen im Kontext von Selbstbeobachtungen sozialer Systeme. 8 Allerdings sieht sie, als allgemeine Theorie, keinen zwingenden Grund, eine Präferenz für Lernen und gegen Nichtlernen zu formulieren. Warum sollte Lernen besser sein als Nichtlernen? Ist es nicht in einer A r t grausam, Schläfer zu wecken? Und müßte man nicht sogar annehmen, daß jede Steigerung v o n Lernfähigkeit eine entsprechende Steigerung von Nichtlernf ähigkeit voraussetzt? 9 Voll zustimmen kann ich der These von Alois Hahn: die Erfahrung von Sinnlosigkeit sei auf das Scheitern von Selbstbeschreibungen zurückzuführen. Ich gebe auch gern zu, daß die Definition von Sinnlosigkeit durch Zeichenverwirrung unzulänglich ist. Ich hatte hierbei die Produktion von Sinnlosigkeit vor A u gen und deshalb auf ein Verfahren abgestellt. Im übrigen finden wir uns hier in der Nähe von weithin ungeklärten Paradoxieproblemen: Wer Sinnlosigkeit behauptet oder anstrebt, produziert und genießt oft sogar Sinn, und wer Sinn als Sinn denken oder kommunizieren will, provoziert eben damit die Möglichkeit der Negation. Ich komme darauf weiter unten zurück. 10 Möglich war dies natürlich erst, nachdem die schöpfungstheologisch diktierte Annahme, der Anfang sei der Grund und hinter . dem Anfang stehe der Schöpfer, aufgegeben oder auf Fragen der Religion relativiert werden konnte. 11 Vgl. zu dieser Fragestellung Bernhard Waidenfels, Die Abgründigkeit des Sinnes: Kritik an Husserls Idee der Grundlegung, in: Elisabeth Ströker (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls, Frankfurt 1979, S. 124-142; neu gedruckt in: ders., In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt 1985, S. 15-33. 12 Vgl. hierzu und zu dem damit zusammenhängenden Begriff der Emergenz Klaus Gilgenmann, Autopoiesis und Selbstsozialisation: Zur systemtheoretischen Rekonstruktion von Sozialisationstheorie, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 6 (1986), S. 7 1 - 9 0 .
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13 Als Beleg dafür, wie schnell ein solches Konzept empirisch relevant gemacht werden kann, vgl. Elisabeth Colson, A Redundancy of Actors, in: Fredrik Barth (Hrsg.), Scale ans Social Organization, Oslo 1978, S. 1 5 0 - 1 6 2 . 14 Einige Beiträge jetzt in deutscher Übersetzung: Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht, Braunschweig 1 9 8 5 . 15 Siehe für eine radikale Version dieser Theorie Ranulph Glanville, Inside every white box there are two black boxes trying to get out, in: Behavioral Sciences 27 (1982), S. 1—11. 16 Dieser Einwand bei Danilo Zolo, Autopoiesis: Critica di un paradigma conservatore, MicroMega 1 (1986), S. 1 2 9 - 1 7 3 . Siehe auch ders., Reflexive Selbstbegründung der Soziologie und A u topoiesis: Uber die epistemologischen Voraussetzungen der »Allgemeinen Theorie sozialer Systeme« Niklas Luhmanns, in: Soziale Welt 36 (1985), S. 5 1 9 - 5 3 4 . 17 Ein wichtiger Hinweis hierzu ist: daß diese interne Realitätskontrolle schon auf neurophysiologischer Ebene Konsistenz/Inkonsistenz-Prüfungen, also binäre Schematisierungen voraussetzt. Vgl. Heinz von Foerster, What is Memory that it may have Hindsight and Foresight as well? in: Samuel Bogoch (Hrsg.), The Future of the Brain Sciences, New York 1969, S. 19-64. 18 2. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft, B 274ff. 19 Untersuchungen über Gleichzeitigkeit in dieser Funktion gibt es vor allem in der Biologie. Die Soziologie kennt durch Alfred Schütz Rudimente eines ähnlichen Arguments. Vgl. den A b schnitt über »Die Gleichzeitigkeit des fremden Erlebnisstromes«, in: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, S. 1 1 1 ff. Was hier auf das -Problem der »InterSubjektivität« bezogen ist, gewinnt zusätzliche Relevanz, wenn man es auch, ja primär, auf das Verhältnis der Autopoiesis von Bewußtseinssystemen und von Kommunikationssystemen bezieht. Es wird damit für den gesamten Problemkreis der »Interpenetration« und damit für die Theorie der Sozialisation relevant. In dem entsprechenden Kapitel des Buches »Soziale Systeme« sind diese Fragen nicht zureichend berücksichtigt, weil die erkenntnistheoretischen Vorarbeiten mir noch nicht hinreichend soliden Grund zu bieten schienen. Bei den vielen Unklarheiten und Anfragen gerade in bezug auf den Begriff der Interpenetration muß ich diesen Entschluß zur Ausklammerung nachträglich bedauern. 20 Für einen Seitenblick auf theologische
Konsequenzen siehe
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Niklas Luhmann, Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu? in: Hugo Bogensberger / Reinhard Kögerler (Hrsg.), Grammatik des Glaubens, St. Pölten - Wien 1985, S. 4 1 - 4 8 . Aus Gesprächen mit Theologen über dieses Problem entnehme ich, daß die Theologie durchaus Möglichkeiten hat, auf den Topos der Kommunikation mit Gott zu verzichten und ausschließlich von Kommunikation unter Menschen als F o r m der Orientierung an Transzendenz auszugehen; so sclrwer es dann fallen mag, diese Theologie Glaubenden anzubieten, die »mit« Gott kommunizieren und sich so die Glaubensgewißheit durch Annahme ihrer Kommunikation bestätigen lassen möchten. Vgl. auch dazu Heinz von Foerster, a. a. O. ( 1969). Das typische Vorgehen war: in bezug auf übliche Meinungen und Präferenzen das Gegenteil zu behaupten und dann dafür den Wahrheitsbeweis anzutreten, ohne die Wahrheit der üblichen Meinungen und Präferenzen zu bestreiten. Sehr deutlich sichtbar etwa in den beiden Schriften von Ortensio Landò, Paradossi, cioè sententie fuori del commun parere, Vinegia 1545, und: Confutatione del libro de paradossi nuovamente composta in tre orationi distinta, o. O., o. J. (aber vermutlich annähernd gleichzeitig). Für einen knappen Forschungsüberblick vgl. Klaus Krippendorff, Paradox and Information, in: Brenda Dervin / Melvin J. Voigt (Hrsg.), Progress in Communicatiori Sciences 5 (1984), S. 4 5 - 7 1 . Ferner z . B . Yves Barel, Le paradoxe et le Systeme: Essai sur le fantastique social, Grenoble 1 9 7 9 . A . a . O . , S. 54. Für Überlegungen hierzu vgl. auch Niklas Luhmann, Die Theorie der Ordnung und die natürlichen Rechte, in: Rechtshistorisches Journal 3 (1984), S. 1 3 3 - 1 4 9 ; ders., Society, Meaning, Religion - Based on Self-Reference, in: Sociological Analysis 46 (1985), S. 5-20. Siehe oben, S. 3 1 1 . Die Abstraktion der Definition hat freilich die typische Folge, daß man sie beim weiteren Hören und Lesen vergißt und den Begriff im folgenden dann so versteht, als ob von menschlichen Augen die Rede sei. A u c h versteht sich nach unserem Begriff der Beobachtung von selbst, daß man mit anderen Begriffen von Beobachtung andere Beobachtungen beobachten würde. Ein Beleg für die Annahme der Fruchtbarkeit von Paradoxien! Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a. a. O., insb. S. 227 ff.;
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ders., Die Autopoiesis des Bewußtseins, in: Soziale Welt 36 (1985), S. 402^146.. 28 Es sei hier nur noch angemerkt, daß seit Freud die Bedeutung latenter Phänomene vermutlich überschätzt wird, und dies auf Grund der Annahme, daß es für alle Latenzen einen externen Beobachter gebe, der sie richtig bzw. falsch beobachten und dadurch Kausalitäten (!) erkennen könne. 29 The Same is Different, in: Milan Zeleny (Hrsg.), Autopoiesis: A Theory of Living Organization, New Y o r k 1981, S. 252-262.
Ist Kunst codierbar?
W i l l man die Frage nach dem aktuellen Orientierungs-wert von » S c h ö n h e i t « ausarbeiten, muß man irgendeinen begrifflichen Kontext akzeptieren, der die M ö g l i c h k e i t von A n t w o r t e n limitiert. Im folgenden geschieht dies auf der Grundlage von Vorschlägen zu einer allgemeinen Theorie s y m b o l i s c h generalisierter K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n . Die methodische Intention geht auf Vergleich mit Hilfe funktionaler Abstraktion. Ich w e r d e also nicht versuchen, das Schöne als Schönes zu analysieren, um daraus zu erkennen, w e s h a l b es schön ist, u n d aus den Gründen der Schönheit dann auf dauerhafte Relevanz zu schließen. Es geht deshalb auch nicht um eine theoriefähige, begriffliche Imitation dessen, w a s Künstler oder Kunstbetrachter tun, empfinden, erleben. D i e Absicht ist vielmehr, mit Hilfe einer allgemeineren, viele Kulturbereiche übergreifenden Problemstell u n g zu erkennen, wo Bedingungen evolutionären Erfolgs liegen; u n d dann genauer, wo diejenigen B e d i n g u n g e n evolutionären Erfolgs liegen, die für das heutige Gesellschaftss y s t e m kennzeichnend sind. Ein solches Vorgehen begibt sich in eine riskante Distanz z u m Objekt. Daraus ergeben sich C h a n c e n u n d Gefahren zugleich, die reflexiv kontrolliert w e r d e n müssen. Der gleiche Verfremdungseffekt entsteht bei der A n a l y s e aller kulturellen C o d e s , auch z u m Beispiel in bezug auf den Code der Liebe o d e r den C o d e des Geldes, den C o d e der Macht u n d erst recht den C o d e der Wahrheit selbst . Es handelt sich also nicht um eine A n o m a l i e , die n u r im Verhältnis z w i s c h e n Kunst u n d Soziologie auftritt, sondern um eine konstitutive B e d i n g u n g soziologischer A n a l y s e schlechthin, um ein M o m e n t ihrer Ausdifferenzierung als Wissenschaft. 1
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In allen Fällen, in denen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstanden sind, lassen sich zugespitzte Kommunikationsprobleme nachweisen. Immer geht es um Situationen, in denen die Motivation zur Annahme der Kommunikation, das heißt z u r Ü b e r n a h m e der ihr zugrunde liegenden Selektionsleistung in das eigene Erleben oder Handeln, problematisch sein kann. I m m e r sind es Interaktionen, in denen die Kontingenz, das heißt die Möglichkeit, auch anders zu erleben oder zu handeln, auf beiden Seiten so hoch ist, daß eine Ü b e r t r a g u n g von Selektionsleistungen normalerweise nicht zu erwarten ist. In solchen Fällen können unter näher angebbaren Voraussetzungen symbolisch generalisierte K o m m u n i k a t i o n s - C o d e s entstehen, die zusätzlich zu k o m m u n i k a t i v e n auch motivationale Funktionen übernehmen u n d die Ü b e r t r a g u n g von Selektionsleistungen trotzdem sicherstellen, zumindest hinreichend erwartbar machen. Es handelt sich mithin um zunächst unwahrscheinliche Errungenschaften, die aber gleichwohl institutionalisiert w e r d e n können, w e n n in differenzierten Gesellschaften Bedarf dafür mit einer gewissen S o n d e r t y p i k u n d mit hinreichender Häufigkeit (Wiederholbarkeit) auftritt. A u c h Lösungsformen für dieses Grundproblem haben eine bestimmte Typik, die sich schon für die allgemeine gesellschaftliche M o r a l u n d dann speziell für Sonderbereiche w i e Politik u n d Wirtschaft, Intimbeziehungen und Recht, Wissenschaft u n d Kunst nachweisen läßt mit mehr oder w e niger ausgeprägter D i s k r e p a n z zu moralischen Regulativen. Die Lösung w i r d ü b e r eine Codierung von Präferenzen vermittelt. U n t e r C o d e möchte ich, in A b w e i c h u n g vom linguistischen u n d eher in A n l e h n u n g an den biogenetischen Sprachgebrauch, eine Duplikationsregel verstehen, die für Vorkommnisse oder Zustände, die an sich nur einmal vorhanden sind, z w e i mögliche A u s p r ä g u n g e n bereitstellt . Das dient der R e k o n s t r u k t i o n interaktioneller Kontingenz. Et3
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was k a n n auf Grund solcher Codierung g u t oder schlecht, stark oder schwach, H a b e oder Nichthabe, recht oder unrecht, schön oder häßlich sein, u n d z w a r für beide Kommunikationsteilnehmer beides. Damit w i r d für Interaktionen z w a r k e i n Konsens in der Wertung, gleichwohl aber ein erster S t r u k t u r g e w i n n erreicht u n d ein Satz v o n Respezifikationsregeln (Kriterien) in Geltung gesetzt, ü b e r den wiederum Konsens oder Dissens bestehen kann. Jedenfalls w i r d durch code-spezifische Strukturierung erreicht, d a ß die Kommunikation unter d e m Gesichtspunkt z u m Beispiel von Haben/ Nichthaben gebraucht w i r d , w e n n man Tauschprozesse anschließen w i l l , u n d nicht zugleich unter d e m Gesichtspunkt von gut/schlecht oder von wahr/unwahr. Damit w i r d der Ü b e r g a n g z u m Gegenwert erleichtert, w e i l befreit v o n Implikationen für andere Präferenzen-Codes. Die Kommunikation erreicht höhere Spezifikation, ich w ü r d e gern auch sagen: Technizität. Sie hebt sich mit Hilfe des eigenen binären Schematismus ab von undifferenzierten N o r m a l e r w a r tungen alltäglicher Interaktion, von den Selbstverständlichkeiten des täglichen Lebens. U n d das ermöglicht es, Regeln für die Durchführung auch von relativ unwahrscheinlichen Transaktionen zu entwickeln, z u m Beispiel die Annahme der Welt des anderen zu ermöglichen, auch w e n n sie ganz eigensinnig, idiosynkratisch entworfen ist (Liebe), oder die Ü b e r n a h m e einer Information zu ermöglichen, auch wenn sie völlig überraschend u n d ungewöhnlich ist (Wahrheit). Wenn dies so allgemein richtig ist - der Beweis kann an dieser Stelle natürlich nicht angetreten w e r d e n -, müßte es möglich sein, aus einem Vergleich mit anderen M e d i e n Codes, u n d z w a r vor allem mit solchen, die eine evolutionär erfolgreiche Karriere hinter sich haben w i e Eigentum/ Geld, M a c h t / R e c h t , Wahrheit, Gesichtspunkte zu gewinnen, die es erlauben, die gesellschaftliche und historische Stellung des besonderen Kommunikationsmediums Kunst u n d seiner C o d e - W e r t e Schönheit u n d Häßlichkeit einzuschätzen.
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Bevor w i r einige Überlegungen in d i e s e r Richtung anstellen können, muß jedoch geklärt w e r d e n , unter welchen Gesichtspunkten w i r Kunst überhaupt a l s Kommunikationsm e d i u m behandeln können. Diese Betrachtungsweise geht von der frühgriechischen F o r m u l i e r u n g der im Abstand v o n den Göttern gewonnenen K o n t i n g e n z des Wissens und Könnens als 8JiiaTfju.r| bzw. xk%vr] a n s . Sie nimmt den poietisch-technischen Werkbegriff in s i c h auf, endet aber nicht in der A n a l y s e der Eigenschaften von Kunstwerken, sondern begreift Werke als Träger außergewöhnlicher Selektionen, die es in andere Selektionshorizonte zu vermitteln gilt. Deren »Schönheit« ist daher als erstrebenswertes Ziel künstlerischer Arbeit nicht a u s r e i c h e n d zu begreifen; vielmehr ist die Artikulation des K u n s t w e r k s nach Maßgabe der Differenz von schön/häßlich eine Bedingung der Kenntlichmachung u n d Vermittlung außergewöhnlicher Selektionen. Nicht der reine Werf d e r Schönheit, sondern die Disjunktion schön/häßlich v e r m i t t e l t diejenige praktische Orientierung des Kunstschaffens u n d des (kritischen) Kunsterlebens, von der Folgen a b h ä n g e n . Das Sonderproblem, das für die Entwicklung dieses symbolischen M e d i u m s Kunst k a t a l y s i e r e n d e Bedeutung gehabt hat, dürfte in der f r a g w ü r d i g e n Überzeugungskraft gemachter, angefertigter, also auf H a n d e l n zurückführbarer u n d in diesem Sinne poietisch-technischer Dinge oder Texte liegen . U n t e r Dingen oder Texten - den Unterschied sehe ich darin, ob die Reihenfolge des stimulierten Erlebens beliebig ist oder nicht - gibt es s o l c h e , die, obwohl hergestellt, mit dem Anspruch auftreten, E r l e b e n zu führen und in eine vorgezeichnete Selektivität zu z w i n g e n . Dann muß die sichtbar gewordene Kontingenz d u r c h Mechanismen der Ü b e r z e u g u n g s b i l d u n g k o m p e n s i e r t werden. Die bloße Zurechnung des Handelns, das Erfassen der Intention, ist nur ein Distanzierungsverfahren u n d reicht allein nicht 4
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aus . Absichten sind zunächst unverbindlich. Wenn schon deutlich ist, daß W e r k e kontingent entstanden sind, ihr Dasein also einem beliebigen H a n d e l n verdanken, u n d erst recht, w e n n ihr Z w e c k und Verwendungskontext nicht (oder nicht mehr) einleuchten, ist zunächst wenig wahrscheinlich, daß Partner des gesellschaftlichen Lebens solchen Dingen oder Texten Prämissen für eigenes Erleben und H a n d e l n entnehmen. Das Problem entsteht also erst im Abstand von bloßer Eignung oder Utilität . Der Bedarf und die Wahrscheinlichkeit für Anschlußselektionen wird gering. U n d genau das ist die Situation, in der Kommunikationsmedien entstehen können, die die Tendenz umkehren und das Unwahrscheinliche ins Wahrscheinliche wenden. N a c h älterer Lehre sollte dies erreichbar sein durch die Wahrheit bzw. Wahr-Scheinlichkeit der res artificiales, und diese Auffassung blieb erhalten auch nach Ausbau der adaequatio-Lehre u n d nach einer entsprechenden »Mentalisierung« der Wahrheit. A u c h die res artificiales konnten w a h r sein in bezug auf den Formenschatz des Intellekts: dicitur enim d o m u s vera, quae assequitur similitudinem formae quae est in mente artificis; et dicitur oratio vera, inquantum est signum intellectus veri . Dieser Zusammenhang w a r in einer A n a l o g i e von Schöpfung und artificium begründet gewesen und fiel mit dieser Analogie dem zunehmenden Kontingenzbewußtsein z u m Opfer. Der Kunst w u r d e nun ein Aufweis der N o t w e n d i g k e i t von Selektionen auch u n d gerade dort abverlangt, wo eine sich spezifizierende Wahrheitsforschung nicht hinreichte. Die Differenzierung von Kunst gegen das M e d i u m der Wahrheit k a n n nicht begriffen w e r d e n als Verzicht auf k o gnitive Prozesse bei der Produktion oder Rezeption von Kunstwerken, etwa auf der Basis von Intuition und Genuß. Das w ä r e w e i t gefehlt. Sie besteht vielmehr in einer Spezifikation der Anforderungen an Kognition unter der Bedingung einer stilbedingten Absonderung, schließlich unter 7
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konsequentem Verzicht auf realitätsbezogene adaequatio . Dies gilt auch für eine in einem programmatischen Sinne »realistische« Kunst - deren Problem und deren Reiz genau darin besteht, daß sie trotzdem Kunst ist . An die Stelle der adaequatio tritt so etwas wie immanente Stimmigkeit des Kunstwerks: Dessen Elemente müssen einander fordern in einer Verdichtung, die Lücken erkennbar und Überflüssiges ausscheidbar macht. Darauf beruht die Aufhebung der (gleichwohl entstehungsnotwendigen) Kontingenz des Handelns und zugleich die Führung des Erlebens, darauf beruht die Motivation zur Übernahme kontingenter Selektionen. So hochverdichtete Interdependenz ist unnatürlich, ist normalerweise nicht vorfindbar. Sie kann keinen Außenhalt besitzen. Sie macht an sich selbst sichtbar, daß sie nur kontingent entstanden sein kann, und erfüllt zugleich die Bedingung, trotzdem zu überzeugen. Selbstverständlich ist dies nicht beliebig möglich, sondern nur unter sehr restriktiven, für Kunst spezifischen Bedingungen erreichbar. Hier wären Forschungen über Strukturbedingungen möglicher Kunstwerke anzuschließen . Gerade darin liegen die Chancen der Forschung, daß sowohl die Bedingungen der Möglichkeit von Kunst als auch deren Kompossibilität mit anderen Strukturen des Gesellschaftssystems nicht völlig frei variierbar sind, sondern Struktur, wenn auch wohl kaum eindeutige Determination, aufweisen. Wie bei anderen Kommunikationsmedien auch, muß die Symbolik eines Code für Kunst so arrangiert sein, daß es Selektionen gibt, die als Selektionen zur Annahme motivieren. (Im Falle von Macht zum Beispiel erreicht man das durch Aufstellung einer negativen Alternative, gegen die sich das vom Machthaber gewollte Handeln als positiv profiliert.) Diesem Arrangement des Code und den dadurch limitierten Bedingungen der Möglichkeit folgt das Arrangierverhalten der Praktiker, die unter dem jeweiligen Code operieren: der Künstler, der Politiker, der Forscher, der Liebenden usw. Dafür muß das Komrnunikationsme10
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dium hinreichende A n h a l t s p u n k t e geben, n ä m l i c h Kriterien für Erfolg oder Mißerfolg; nicht jedoch zuviel Anhaltspunkte, denn das w ü r d e die Kontingenz der Selektionen u n d die Zurechenbarkeit des Verhaltens gefährden. Nicht die Qualitäten der K u n s t w e r k e w i r k e n demnach auf den Betrachter, sondern ihre Selektivität; nicht die Besonderheit der Qualität, ihre H ö h e n l a g e auf einer Skala der Perfektion macht die Schönheit aus, sondern die Steuerung der Selektion im H i n b l i c k auf einen eigenen Selektionsraum - die Selbstselektivität des K u n s t w e r k s , die natürlich der »technischen« Assistenz des herstellenden (und gegebenenfalls zusätzlich: des darstellenden) Künstlers bedarf. W i e immer diese Leistung im Falle der Kunst konkret erbracht w i r d , die das Kunstleben begleitende neuzeitliche Theorie formuliert sie als Postulat, Schönheit müsse durch eine A r t innere N o t w e n d i g k e i t am K u n s t w e r k überzeugen. Als Test sozusagen der N o t w e n d i g k e i t dient das Fehlen eines Interesses, u n d daß Kunst trotzdem überzeugt. Wenn das so ist - wo bleibt dann die Duplikation der Möglichkeiten ins H ä ß l i c h e ? Sie k a n n nur als Störung auftreten und, w i e w i r noch sehen w e r d e n , ins Kunstwerk aufgenommen w e r d e n . Das treibt in die Abstraktion und die Reflexivität. D i e Schönheit erweist sich erst an der Disposition über schön u n d häßlich als notwendig. Dieser Auffassung liegt indes nach w i e vor ein rein privater Begriff des Häßlichen z u g r u n d e . Die Eigenlogik des Häßlichen w i r d nicht entfaltet, sie hat in diesem Verständnis von Kunst keinen Platz (ganz ähnlich w i e die Eigenlogik des Bösen oder die Eigenlogik der U n w a h r h e i t zu den mehr unterirdischen Problemen unserer Tradition gehört). Es könnte durchaus sein, daß in dieser durch die Präferenz für Schönes verzerrten Auffassung des C o d e Probleme liegen, die nicht zureichend zu begreifen sind, w e n n man die Krise lediglich in der s c h w i n d e n d e n phänomenalen Evidenz des Schönen sieht. Die B e d i n g u n g e n der Möglichkeit eines anderen Code-Verständnisses sind schwer auszumachen. Sie 12
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könnten in der Zeitdimension liegen und erfordern, daß man das Verständnis von Position ( e i n e r an sich guten, schönen Realität) u n d privativer N e g a t i o n ersetzt durch die Vorstellung einer evolutionsgeschichtlich festgelegten F a k tizität, die man unter D u p l i k a t i o n s r e g e l n als kontingent begreifen, sozusagen auflockern u n d als A u s g a n g s l a g e selektiver Prozesse interpretieren kann.
III Es lassen sich eine Reihe von B e d i n g u n g e n formulieren, die vorausgesetzt w e r d e n müssen, damit C o d e s ihre Funktion erfüllen können. Erst w e n n Erkenntnisse dafür gewonnen sind, kann man sinnvoll nach der Belastbarkeit solcher Bedingungen durch Veränderungen im L a u f e der gesellschaftlichen Evolution fragen. A u c h hierbei lassen sich Anregungen verarbeiten, die man durch eine A n a l y s e anderer Codes u n d anderer code-orientierter Selektionen erhält. 1) Jeder binäre Schematismus erfordert für seine A n w e n d u n g als operative M i n d e s t v o r a u s s e t z u n g Limitationalität. Das heißt: Probleme müssen s o w e i t spezifiziert sein, daß die Eliminierung einer P r o b l e m l ö s u n g die Wahrscheinlichkeit irgendwelcher anderen erhöht - und nicht schlicht Gleichgültigkeit oder Ratlosigkeit hinterläßt. Ohne diese sozusagen »stoffliche« Vorbedingung begrenzter Möglichkeiten werden, genetisch gesehen, überhaupt keine Codes ausgebildet. Das gilt nicht zuletzt a u c h vom logischen Schematismus der Wahrheit, der eine O r d n u n g von Arten u n d Gattungen oder Kontextbedingungen für Dialektik, w i e sie mit Begriffen w i e B e w u ß t s e i n ( H e g e l ) oder Materie ( M a r x ) getarnt worden sind, oder im Falle des Funktionalismus die Systemtheorie voraussetzt. Im Bereich der Kunst scheint nun diese Garantie von L i mitationalität im W e r k oder in Typen möglicher Werke zu
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liegen. Bereits für dieses grundlegende P r o b l e m gibt es keine kunsteinheitliche Lösung mehr; v i e l m e h r unterscheiden sich Kunstarten (bildende Künste, D i c h t u n g , M u s i k , Theater) durch die Art, w i e sie am W e r k P r o b l e m l ö s u n g e n limitieren. Das bedeutet zugleich, daß theoretisch über den C o d e selbst nur sehr abstrakt g e s p r o c h e n w e r d e n kann, nämlich in einer Weise, die die k o r r e l a t i v e Limitationalität n u r formal postuliert, aber nicht real miterfaßt. Dies zwingt auch die folgenden Ü b e r l e g u n g e n in eine Abstraktionslage, die offenläßt, welche Kunstarten e i g e n t l i c h gemeint sind. 2) A l l e Kommunikationsmedien b e n u t z e n generalisierte S y m b o l e , um sowohl die soziale Differenz der Partner als auch die zeitliche Differenz überbrücken u n d hinreichende Vorverständigungen herbeiführen zu k ö n n e n . Die Symbolik des M e d i u m s m u ß zumindest u n t e r s c h e i d b a r sein vom Kommunikationsprozeß selbst. Voll e n t w i c k e l t e Medien distanzieren sich darüber hinaus v o n k o n k r e t e n Wertbind u n g e n im Kommunikationsprozeß; s i e verzichten auf strukturelle Abhängigkeit von (nicht n o t w e n d i g auch auf den faktischen Gebrauch von) »intrinsic p e r s u a d e r s « . Der deutlichste Fall ist der des Geldes, an d e m man nach langem Gebrauch schließlich g e m e r k t hat, d a ß die Geldsymbole selbst gar keinen Wert besitzen (und daß, w e n n sie einen Eigenwert haben, dies ihre F u n k t i o n beeinträchtigt). A b e r selbst Liebe sollte im Prinzip u n a b h ä n g i g von intrinsic persuaders (etwa körperlicher oder seelischer Schönheit) möglich sein. In gleichem Sinne gibt es Tendenzen, dem Kunstwerk seine Qualität als intrinsic persuader zu nehmen". Seine Schönheit ist dann nicht mehr k o n k r e t - s u g g e s t i v zu wirken bestimmt. Sie w i r d manifestierte K o n t i n g e n z . Sie erschließt sich n u r dem, der ein Problem erkennt u n d die Limitierungen miterlebt, unter denen es gestellt w a r u n d gelöst worden ist unter Ausscheidung von w e n i g e r überzeugenden Möglichkeiten. Der Bezug auf den C o d e verwirklicht sich dann im Transfer von Selektivität - n i c h t im bloßen A n 13
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staunen des Objekts, in der B e w u n d e r u n g seiner Qualitäten. Nicht die Vorhandenheit w i r d i n v a r i a n t gesetzt, sondern die Relation zu anderen M ö g l i c h k e i t e n , die Überlegenheit der Ausführung einer Idee. M a n darf sicher sein, daß eine solche Verlagerung von Identitäten in Relationen u n d deren Hierarchisierung kulturelle "Wahrnehmungsprägungen voraussetzt u n d dann fördert, w i e sie nicht universell gegeben s i n d . In dieser Richtung hat die moderne K u n s t zweifellos eine beträchtliche Differenzierung von Symbolstruktur und Kommunikationsprozeß erreicht mit d e r Möglichkeit komplexeren Handelns bzw. Erlebens auf beiden Seiten. Die Frage ist, w i e weit diese D i s t a n z i e r u n g getrieben werden k a n n im Bereich der Kunst, wo ja d i e Komplexität der Kommunikation im W e r k selbst erfahrbar verankert sein m u ß . Darauf k a n n hier keine A n t w o r t gegeben werden. Sie m ü ß t e ohnehin nach Kunstarten differenziert werden. Wir halten nur fest, daß diese Steigerungsrichtung der Leistung des Kommunikationsmediums Kunst, d i e sicher an Grenzen des Möglichen stößt, nicht identisch ist mit der komparativen Steigerung einer als Perfektion begriffenen Schönheit, schön, schöner, am schönsten. Sie beruht auf dem disjunktiven Gebrauch des C o d e z u r Steuerung selektiver Prozesse. 3) Von der Orientierung an der Differenz von schön und häßlich ist demnach zu verlangen, daß s i e selektive Operationen steuert durch eine A r t match/mismatch-Technik und außerdem eine aggregierende Gesamtbewertung einzelner Kunstwerke im ganzen. Beides ist nicht dasselbe, m u ß aber gemeinsam ermöglicht w e r d e n (was nicht heißt, daß jede Reihe gut gelungener O p e r a t i o n e n zu einem guten Gesamtresultat führen muß; das m u ß a b e r ein hinreichend wahrscheinlicher »Zufall« sein). Es m ü s s e n Entscheidungsschritte orientiert w e r d e n , zugleich m u ß aber auch dafür gesorgt sein, daß Resultate weitläufiger Schrittkomplexe im zusammenfassenden R ü c k b l i c k vereinfacht reproduziert u n d beurteilt w e r d e n können. Das erstere ist unerläßliches 15
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Produktionserfordernis , das zweite geht in den Produktionsprozeß mit ein, ist aber vor allem » A b n a h m e b e d i n g u n g « , sei es für den Künstler selbst, sei es für denjenigen, der das K u n s t w e r k nur erlebt. G e s a m t b e u r t e i l u n g kann somit, auch w e n n sie intuitiv erfolgt, g e r a d e als ein technisches Erfordernis künstlerischer K o m m u n i k a t i o n angesehen w e r d e n - technisch im Sinne von zeitsparender, vereinfachter R e p r o d u k t i o n ohne R ü c k g a n g a u f U r s p r u n g und Geschichte. Die Möglichkeit, die Code-Differenz von schön und häßlich zu operationalisieren, k a n n nicht a u s dem Vorblick auf das Gesamtresultat gewonnen w e r d e n . Eben deshalb gibt es w e n i g her, zu sagen, schöne W e r k e seien das Ziel künstlerischer Arbeit . Jeder Pinselstrich, jede Wortwahl erfordert eine Entscheidung, w e n n n a t ü r l i c h auch mit gewissen Optionen ganze Ketten v o n Folgeentscheidungen k l a r sein u n d rasch vollzogen w e r d e n k ö n n e n . Es muß deshalb Gesichtspunkte des Bejahens oder Verneinens von M ö g l i c h k e i t e n geben, die zu d e m entstehenden Werk eine Beziehung des Passens oder N i c h t p a s s e n s herstellen, also im H i n b l i c k auf den Stand der Arbeit z u r Entscheidung befähigen . Dies Erfordernis hat eine g e w i s s e Autonomie, die sich aus der Unerläßlichkeit des Details ergibt; es läßt sich jedenfalls nicht durch eine A r t gesellschaftspolitisches Bew u ß t s e i n ersetzen oder überspringen. Den Zusammenhang von operativer B e w e r t u n g und Gesamtbewertung müßte man genauer k l ä r e n , um angeben zu können, ob u n d unter welchen B e d i n g u n g e n Urteile über schön bzw. häßlich v o m einen aufs andere übertragbar, das heißt z u m Ganzen aggregierbar bzw. in Teile dekomponierbar sind. Dabei hilft es, davon a u s z u g e h e n , daß zunächst nicht nur zwei, sondern drei m ö g l i c h e Relationen bestehen: Stimmigkeit, U n s t i m m i g k e i t u n d Neutralität ( U n a b h ä n g i g k e i t ) . Es scheint dies eine s e h r allgemeine Situationsstruktur zu sein , mit der man es z u m Beispiel auch bei Theorie-Kompositionen zu tun h a t : Begriffe bzw. 17
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Einzelurteile können einander bestätigen, sich widersprechen, aber auch schlicht nebeneinander möglich sein, weil sie sich nichts zu sagen haben. Die Arbeit besteht nicht nur darin, Widersprüche zu finden und durch Korrektivoperationen auszuräumen; vielmehr muß zunächst einmal Unabhängigkeit eliminiert und Interdependenz erhöht werden, so daß eine Theorie, wenn sie falsch ist, wenigstens richtig falsch ist und möglichst viel mit sich in den Abgrund reißt. Die Möglichkeit der Übertragung von Operationsbewertungen auf Gesamtbewertungen ist in dem Maße gegeben, als eine solche Entneutralisierung und Interdependenzverdichtung gelingt. Ferner wird man annehmen dürfen, daß eine binäre Schematisierung des Arbeitsganges (»so oder nicht so«) das Entstehen typisierter Komplexe und schließlich abstrakter Kompositionsregeln begünstigt, weil man mit deren Hilfe am effizientesten andere Möglichkeiten ausscheiden und zum Zuge kommen kann . Solche Typen und Regeln bilden dann zugleich diejenigen Gesichtspunkte, nach denen Werke insgesamt (wenn auch keineswegs immer schlüssig) beurteilt werden können. 4) Schon bei geringer Komplexität reichen unmittelbar werkorientierte match/mismatch-Regeln nicht aus: Sie reichen nicht aus, um die hohe, noch unbestimmte Komplexität des Anfangens zu überwinden; sie reichen nicht aus, um eine Vielzahl von Schritten in ein sinnvolles Nacheinander zu bringen. Bei zunehmendem Abstraktionsdruck können Code-Werte nicht mehr zugleich als Selektionsgesichtspunkte dienen . Zwischen dem abstrakten binären Schematismus von schön und häßlich und der regulativen Funktion des konkret entstehenden Werkes muß es eine Zwischenschicht von instruktiven Symbolen geben, die Produktion und Rezeption steuern und in gewissem Maße unabhängig machen von den Sequenzen, in denen das Kunstwerk entsteht. Alles, was diese Funktion erfüllt, möchte ich Kunstdogmatik nennen . Darunter fallen im Grenzfalle bloße 20
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C o p i e r a n w e i s u n g e n mit Bezug auf vorbildlich-schöne Muster, dann aber auch Forderungen w i e Imitation der Natur, Stilprinzipien, Design-Theorien, abstrakte Formprobleme, die schwierig zu lösen sind. Zu vergleichen w ä r e n bei anderen M e d i e n : Rechtsdogmatiken für d e n Schematismus von recht/unrecht; L e g i t i m a t i o n s m y t h e n u n d Kollektivziele für den Schematismus s t a r k / s c h w a c h ; Theorien für den Schematismus w a h r / u n w a h r ; Investitionszusammenhänge ( » U n t e r n e h m e n « ) für den Schematismus Haben/ Nichthaben. In allen Fällen haben die Dogmatisierungen eine Doppelfunktion: einerseits Richtlinien zu geben, die im Kontext der entsprechenden Operationen nicht sinnvoll negiert w e r d e n können, andererseits aber auch - u n d dies w u r d e in der üblichen Behandlung von » D o g m a t i k « seit Kant unterbelichtet - durch solche Negationsbeschränkungen die Freiheit des U m g e h e n s mit Materialien, Texten, Erfahrungen zu steigern. J e d e anspruchsvolle Kunst setzt solche D o g m a t i k e n voraus. A u f ihrer Ebene vollzieht sich der Versuch, Schönheit zu begreifen. H i e r transformieren sich gesellschaftliche Veränderungen in F u n k t i o n s b e d i n g u n g e n für Kunst, und dies nicht n u r im Sinne thematischer Vorgaben, sondern darüber hinaus in Forderungen gesellschaftsadäquater Komplexität u n d A u t o n o m i e . Ich k o m m e darauf zurück. Zunächst gilt es zu beachten, daß kunstdogmatische Definitionen des Schönen nicht identisch sind mit dem Code
selbst, der in der Disjunktion von schön und häßlich besteht. Dieser Einsicht läßt sich die H y p o t h e s e anschließen: Wenn ein Operationsspielraum für den Schematism u s von schön u n d häßlich gesellschaftlich ausdifferenziert ist, bilden sich Kunstdogmatiken zur Vermittlung von Schematismus u n d Operation und zugleich als Ebene der generalisierten Integration von Kunstsystem u n d Gesellschaftssystem, die mit relativ unabhängiger Variabilität und Nichtintegration der Einzeloperationen auf beiden Seiten kompatibel ist.
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5) Kunst kann als codierter Kommunikationsprozeß reflexiv werden und sich selbst als Disjunktion des Schönen und Häßlichen zur Darstellung bringen . Reflexivität korreliert hier wie bei anderen Kommunikationsmedien auch mit Autonomie. Dies zum Programm zu machen, ist eine Variante von Kunstdogmatik, eine evolutionär späte Form. Sie liegt noch nicht (bzw. nicht mehr) vor, wenn der Kontrast des Schönen und des Häßlichen nur benutzt wird, um einen außerkünstlerischen Schematismus zu reproduzieren - etwa als religiöse oder als politische Karikatur . Wohl aber, wenn ein Künstler sich bemüht, chromatische Passagen mit gar nicht erlaubten Tönen einzukomponieren; oder schließlich gar ein scheußliches Nebeneinander von Rosa und Zinnober durch ein Minimum an Grün gerade noch im Bild zu halten. Ein Urteil über Gelingen und Mißlingen kann sich dann nur noch auf genau dieses Programm beziehen. In allen Medien entstehen Hochformen der Reflexivität erst in der bürgerlichen Gesellschaft der europäischen Neuzeit. Erst jetzt wird Reflexivität totalisiert, das heißt auf alle Prozesse eines Medien-Bereichs anwendbar in dem Sinne, daß zum Beispiel alles Recht positiv wird, das heißt auf einer Entscheidung über die Differenz von Recht und Unrecht beruht; oder daß alle und nur solche Aussagen zur Wissenschaft zählen, die »wahrheitsfähig« sind, das heißt auf die Disjunktion wahr/unwahr antworten. Dem entsprechen Totaltheorien der bürgerlichen Dialektik (Marxismus, Systemtheorie), die den Versuch einschließen, die Unwahrheit anderer Totaltheorien als Element der Wahrheit der eigenen zu konstruieren. In diesem Sinne gibt es auch Tendenzen, Kunst mit der Disjunktion ihres Codes zu identifizieren. Die Konsequenzen kann man heute nicht zuletzt mit Hilfe von Medien-Vergleichen erkennen. Wenn der Code selbst zur Dogmatik wird, treten unlösbare A b schlußproblematiken auf. Alle Orientierungsgesichtspunkte werden vorläufig, positiv, historisch gesehen; der einzig 23
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sichere Anhaltspunkt ist die Änderungsbereitschaft, der Anschluß an die ungelösten Probleme d e s Vorgängers mit einem immer höheren Umschlagstempo, d a s jetzt auch den Lebensrhythmus des einzelnen M e n s c h e n , des einzelnen Künstlers überholt. In einer solchen Situation kann es sinnlos erscheinen, sich kunstintern noch an Schönheit zu orientieren, w e i l dies die F o l g e p r o b l e m e der Problematisierung des C o d e nicht löst. U n d w e r dies trotzdem tut, bezieht eben dadurch Position . 25
IV Es mag Kommunikationsmedien geben, d i e solche Totalisierungen aushalten, ohne daß ihr Potential für selektive Operationen u n d für Motivation z u r A n n a h m e , ohne daß ihre gesellschaftliche F u n k t i o n darunter litte. Die Frage ist, ob Kunst zu den unter solchen B e d i n g u n g e n noch erfolgreichen Medien gehört. Diese Frage läßt sich w o h l k a u m d i r e k t und jedenfalls nicht im Sinne einer Prognose beantworten. Es m u ß uns genügen, die Frage, ob u n d w i e Kunst heute codierbar ist, in einigen Hinsichten weiterzuverfolgen. Unseren Leitfaden finden w i r in der Ü b e r l e g u n g , w i e d i e Grundstruktur des ausdifferenzierten K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m s Kunst durch globale Strukturveränderungen des Gesellschaftssystems betreffbar ist bzw. betroffen w o r d e n ist. 1) Die vielleicht wichtigsten Veränderungen betreffen das Sonderproblem, an das die Unwahrscheinlichkeit eines kommunikativen Erfolgs u n d damit die Katalyse besonderer künstlerischer Mittel gebunden w a r : das kontingent entstehende, durch zurechenbares Handeln erzeugte Werk, das ebensogut auch nicht entstehen oder anders entstehen könnte. Was ist daran noch Besonderes, w e n n genau dies zum Normalfall w i r d , der uns u m g i b t ? Wenn kontingente Ent-
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stehungsweise nicht mehr A u s n a h m e in der Natur ist, nicht mehr auffällt, sondern als Kulisse des Alltags unbefragt vorausgesetzt w e r d e n kann? M u ß t e Kunst sich dann mit einem neuen Sinn von » Ä s t h e t i k « gegen ihren Ausgangspunkt, gegen die Technik w e n d e n ? Oder mußte sie als funktionale Kunst zurückgeschnitten w e r d e n auf eine Variante der Technik, auf die Glättung der Flächen u n d Verläufe? Oder muß sie nun eigens versichern, daß sie »Rezeptionsformen anzubieten hat, die andere Produkte nicht anbieten« . Eine erste, soziologisch bemerkenswerte Reaktion auf diese Lage erscheint als Verwischung des Unterschiedes von Naturgegenständen u n d Kulturgegenständen. Dies erfordert eine größere Tiefenschärfe des Auflösevermögens, eine Verschiebung von Identitäten und Invarianzen in die Konstruktion des Kunstwerkes selbst. In dem Maße, als so auf Halt am Gegenständlichen verzichtet wird, wird die Gesellschaft selbst, die solches ermöglicht oder gar fordert, z u m m i t b e w u ß t e n Korrelat, z u m Horizont aller künstlerischen Thematisierungen. Andere M ö g l i c h k e i t e n der Berücksichtigung hochgetriebener Kontingenz könnten in einem neuartigen Autonomieanspruch liegen: in einer A u t o n o m i e nicht nur der Mittel, sondern der Problemerzeugung selber. Die Kunst steigert selbst ihr Auflösevermögen, ihre Unwahrscheinlichkeit w i e unter einer A r t Profilierungs- und Uberbietungszwang. Das K u n s t w e r k selbst muß dafür sorgen, daß es auffällt, daß es Erwartungen durchbricht und jene Kontingenz produziert, vor der seine Rekombinationen spielen. Dieses Erfordernis w e n d e t sich nicht nur gegen den Alltag, sondern auch gegen frühere Kunst. Ein Kunstwerk muß dann, um ein solches zu sein, etwas Neues bringen, und es ist nicht mehr n u r die Schönheit des Arrangements, die das garantiert. Künstlerische Arbeit erfordert so historisches Bewußtsein. D a n n aber w e r d e n die Segmente der Innovation schmaler u n d schmaler, u n d die Erschöpfung der M ö g lichkeiten ist n u r eine Frage der Zeit. 26
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U n t e r diesem Gesichtswinkel w i r d es z u m Problem, ob u n d w i e w e i t Code-Präferenzen u n d Kunstdogmatiken unter so hochgetriebenen Ansprüchen Problemerzeugung u n d Problemlösung zugleich inspirieren können. Wahrscheinlich gibt es hier Grenzen der M ö g l i c h k e i t e n , die für einzelne Kunstarten verschieden gezogen s e i n können. Und wahrscheinlich gibt es auch Grenzen der Spezifikation derart, daß künstlerische Mittel, die sich aufs Auffallen spezialisieren, nicht mehr zugleich zu a n n e h m b a r e n Lösungen führen, w ä h r e n d annehmbare, k o m m u n i k a t i v überzeugende Kunst unter die Schwelle öffentlicher Aufmerksamkeit sinkt. Wer Schönheit sucht, braucht dann d e n M u t zur Unauffälligkeit. Im A n s c h l u ß an eine psychologische u n d organisationstheoretische Unterscheidung kann man dieses Problem auch mit der Unterscheidung von Evokationsregeln und Herstellungs- bzw. Kontrollregeln zu fassen suchen. Gegenüber einer sehr komplexen, u n ü b e r s e h b a r fluktuierenden U m w e l t w i r d es notwendig, diese R e g e l n zu differenzieren. Evokationsregeln können dann n i c h t mehr zugleich als Herstellungsregeln dienen u n d u m g e k e h r t . Unter solchen Bedingungen ist nicht mehr zu e r w a r t e n , daß Schönheit beide Regelfunktionen zugleich erfüllt. Ein Werk gew i n n t nicht allein dadurch schon A u f m e r k s a m k e i t , daß es schön ist, u n d umgekehrt drängen Evokationsspezialisten ihre Werke in den Vordergrund öffentlicher Aufmerksamkeit, ohne Herstellung von Schönem zu versprechen, geschweige denn einzulösen. Beide Gesichtspunkte werden durch Differenzierung nicht z w a n g s l ä u f i g inkompatibel aber ihre Kompatibilität unterliegt b e s o n d e r e n Bedingungen. Die E n t w i c k l u n g des Kunstgeschehens könnte mithin beobachtet w e r d e n unter dem G e s i c h t s p u n k t von Schwerp u n k t w a h l e n im Bereich von Evokation oder im Bereich von Elaboration sowie im H i n b l i c k auf d i e Veränderungen der D o g m a t i k e n u n d Design-Theorien, d i e das Bestreben mit sich bringt, beides zu verbinden. 28
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2) Dies alles sind Folgeprobleme e i n e r Entwicklung der gesellschaftlichen U m w e l t von Kunst, die deren Orientierung an kontingent Hergestelltem generalisiert und damit als Besonderheit aufgehoben hat. Diese für Kunst charakteristische Evaneszenz des Bezugsproblems findet sich nicht in gleicher Dringlichkeit bei anderen M e d i e n . Vorerst zumindest sind Probleme w i e Knappheit, Durchsetzungsvermögen, Wissensunsicherheit oder Bestätigungsbedürftigkeit von Privatwelten, an die andere M e d i e n anknüpfen, noch aktuell. A u c h in einer zweiten H i n s i c h t kontrastiert Kunst gegen andere Medien: in den C h a n c e n z u r Systembildung. Sicher sind nicht alle symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien in gleichem M a ß e u n d in gleicher Weise geeignet, als Katalysator für die Ausdifferenzierung besonderer Sozialsysteme zu dienen. A b e r es gibt prominente Beispiele. So können mit Hilfe von M a c h t über bürokratische Organisation lange Befehlsketten gebildet und zusammengehalten werden, deren Dispositionsstellen auf G r u n d bürokratieexterner, spezifisch politisch organisierter M a c h t q u e l l e n kontrolliert w e r d e n k ö n n e n . Ä h n l i c h bildet sich mit Hilfe der Disjunktion von H a b e n u n d Nichthaben ü b e r Eigentum u n d Geld ein höchst k o m p l e x e s , interdependentes Tauschsystem der Wirtschaft, dessen Selektionskriterien P r o d u k t i o n u n d Konsum steuern. A u c h die W i s senschaft beginnt, mit Hilfe sehr restriktiver Anforderungen an das K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m Wahrheit auf der Grundlage der C o d i e r u n g durch den binären Schematismus der L o g i k ein funktionsspezifisches S o z i a l s y s t e m auszudifferenzieren. Im Vergleich dazu bleibt die Kunst zurück, o b w o h l es natürlich soziale Kreise, Veranstaltungen, Einrichtungen gibt, die sich darauf spezialisiert haben, Kunst zu kultivieren . Hierfür w i r d es eine Vielzahl sehr verschiedener Gründe geben. Einer der wichtigsten dürfte sein, daß Kunst nicht in gleicher Weise w i e einige andere M e d i e n eine Chance für 30
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Anschlußselektionen bietet. Andere evolutionär höchst erfolgreiche Medien w i e Wahrheit, M a c h t , Geld, aber auch Liebe bieten Chancen für die Bildung l a n g e r Selektionsketten über ziemlich heterogene Situationen h i n w e g . Mit Geld z u m Beispiel kann man unabhängig v o m Erwerbskontext Bedürfnisse befriedigen, Macht kann b e n u t z t werden, um Entscheidungsprämissen für noch u n b e k a n n t e Situationen zu fixieren. Kunst scheint aus Gründen, d i e mit der Bedingung ihres eigenen Erfolgs z u s a m m e n h ä n g e n , in den Chancen zu kontextabstrakter Verwendung u n d Kettenbildung zurückzustehen. Es k o m m t hinzu, daß die bereits s k i z z i e r t e Tieferlegung der Invarianzstrukturen erhöhte A n f o r d e r u n g e n an Perzeptionsschärfe und an wechselseitiges A n t i z i p a t i o n s - und Verständnisvermögen stellt. Die am P h ä n o m e n für jederm a n n herstellbare Gemeinsamkeit des S e h e n s und Hörens genügt nicht mehr. Die Intensität a d ä q u a t e r Erfassung selektiver Leistungen, das Bewußtsein d e r Problemlösung m u ß auf beiden Seiten zunehmen u n d e r w a r t b a r bleiben, obwohl die Chance für Anschlußselektionen in andersartigen gesellschaftlichen Kontexten abnimmt. Das sind recht unwahrscheinliche Vorbedingungen für gesamtgesellschaftlich relevante Systembildungen. Das Kunstwerk selbst ist und bleibt in seiner Identität B e z u g s p u n k t für die Bildung von Interaktionsketten, es »fließt« nicht w i e Information, Drohpotential oder Geld von Situation zu Situation. Entsprechend fällt an der Kunst ihr museales Schicksal, ihre geringe »Futurisierbarkeit« auf. Die Gegenwart des Kunstwerks demonstriert als dessen Zukunft nur es selbst. Was sie für w e i t e r e Verwendung vermittelt, w i r d zur bloßen Manier - zur M a n i e r zu sehen, zu empfinden, zu formulieren. Welche Effekte immer davon ausgehen mögen, jedenfalls ist dies keine tragfähige Grundlage für die Identifikation und funktionale Ausdifferenzierung besonderer gesellschaftlicher Teilsysteme analog zu Politik, Wirtschaft, Wissenschaft. 31
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3) Daß K u n s t w e r k e so w e n i g Z u k u n f t haben, muß als A l a r m z e i c h e n gelten. A u c h hierfür ist e i n theoretisch hochgeneralisierter Vergleich mit anderen M e d i e n interessant. Binäre Schematismen und ihre Selektionskriterien .haben ein typisches, nicht beliebig a b w a n d e l b a r e s Verhältnis zur Zeit. Sie beziehen sich immer auf O p e r a t i o n e n , deren A n fang prinzipiell beliebig und deren F o r t g a n g prinzipiell möglich sein m u ß . Sie fungieren, um m i t Kant zu sprechen, als Vernunftsbegriffe und nicht a l s Verstandsbegriffe u n d haben n u r noch so einen Bezug a u f Welt. Anders formuliert: sie k ö n n e n sich nicht aus dem W e r k rechtfertigen, dessen Zusammensetzung abschließbar sein m u ß . Sie k ö n nen daher nicht Werke anstreben, deren Ziel es ist, Totalitäten zu repräsentieren. Sie selbst sind ( i n einer nicht mehr als Repräsentation begreifbaren Weise) Welt nach den Bedingungen der Zeit . Ob man n u n Schönheit als r e g u l a t i v e Idee oder schön/ häßlich als binären C o d e begreift: i m m e r ist impliziert, daß die Kunst ihr Weltverhältnis nach d e n Bedingungen der Zeit ausdrückt - u n d nicht etwa in archaischer Manier als Einheit des Entgegengesetzten, indem s i e etwa eine Schwebelage produziert, in der im K u n s t w e r k unentschieden bleiben soll, ob es Kunstwerk ist oder n i c h t . Genau dies ist aber der Punkt, an d e m aktuelle Kunst sich den hier skizzierten Erfordernissen nicht fügt, ja sich ihnen b e w u ß t entzieht. Weil sie K u n s t w e r k e produziert, die keine Zukunft prätendieren k ö n n e n , wirft sie auch die Begriffe von Schönheit ab, die dies voraussetzen. Es fehlen ihr gleichsam, anders als der L o g i k o d e r dem Geld, bereits auf der Operationsbasis diejenigen Temporalstrukturen, die es sinnvoll machen, Codierung zu akzeptieren. Das schließt es nicht aus, in der Produktion u n d d e r Beurteilung von W e r k e n Kriterien zu verwenden, deren Aufsummierung in den Worten schön und häßlich zusammengefaßt werden k a n n je nachdem, ob man akzeptiert o d e r verwirft. A b e r die Kriterien tragen die Kunst nicht m e h r in d e m Sinne, 32
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daß sie Sicherheit des "Weltbezugs u n d d e s »und-so-weiter« anschließbarer Operationen vermittelten. Die Haltbarkeit solcher Intentionen s c h e i n t in erster L i nie ein Problem temporaler O r i e n t i e r u n g zu sein. Die Kunst lebt innovativ, lebt in hohem M a ß e von der Negation ihrer eigenen Vergangenheit. M a n k a n n die eigene Vergangenheit aber nicht laufend negieren, o h n e eine Zukunft zu haben. U n d das setzt Orientierung an R e g e l n voraus. 4) Eine weitere Überlegung erfordert, daß w i r auf den binären Schematismus des Kunst-Code z u r ü c k g r e i f e n und erkennen, daß die durch ihn k o n t r o l l i e r t e Negationsrichtung nicht die einzig mögliche ist. M i t anderen "Worten: Schönheit kann nicht nur mit Richtung a u f Häßlichkeit negiert w e r d e n u n d umgekehrt. Andere M ö g l i c h k e i t e n kommen in den Blick, w e n n man den Orientierungsgegensatz von Qualität u n d Leistung in Betracht z i e h t . M i t zunehmender Kontingenz entsteht in der Gesellschaft im allgemeinen und mit B e z u g a u f Kunstwerke im besonderen eine A r t Leistungsbewußtsein. Die Entstehung u n d W i r k u n g von Kunstwerken w e r d e n gesehen als »unabhängig von . . . « ; sie werden z u g e r e c h n e t . Dabei fallen u n g e w o l l t e Nebeneffekte an durch laufendes Diskriminieren von Ursachen u n d Wirkungen, von Erfolgen u n d M i ß erfolgen. D i e Kunstwerke werden ü b e r Negationen erzeugt, über Negationen verstanden, über Negationen zum Erfolg getragen, u n d die Negationen b l e i b e n das, was sie überdauert, denn w i e sollten sie w i d e r r u f e n werden. Qualität w i r d in ihrer Unmittelbarkeit durch leistungsbezogene Relationierung zerstört, u n d z w a r nicht n u r in einem äußerlichen Sinne, sondern in der Tiefenstruktur des Kunstw e r k e s selbst: M a n kann es niveaugerecht nur noch in seiner Relationalität, n u r noch als g e k o n n t e Problemlösung begreifen. Das Streben nach künstlerischer L e i s t u n g hinterläßt damit sedimentierte Negativität, u n d d i e s e Negationsrückstände könnten für die gesellschaftliche Bedeutung von 55
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Kunst wichtiger sein oder w i c h t i g e r w e r d e n als die Zahl u n d die Qualität der schönen im Vergleich zu den häßlichen Werken. Die Erfahrung der Zeit w i r d zur Erfahrung akkumulierter Negativität, gegen die m a n sich mit neuen Einfällen dann nicht mehr differenzieren kann. Man kann dem gewollt entgegentreten, H a u s m u s i k pflegen, HobbyM a l e r ausstellen, Laienspiel fördern. A l s Gegenfigur entsteht so: der Amateur. A b e r er bleibt e i n e forciert wirkende Negation jener Negativität, die die d o m i n a n t e Entwicklung der Kunst selbst produziert. Es kann unter diesen U m s t ä n d e n k e i n e Evolution z u m Schönen geben. A u c h das gilt jedoch für Medien generell. A u c h Wahrheiten w e r d e n nicht v e r m e h r t - es sei denn um den Preis eines überproportionalen A n s t i e g s der Unwahrheiten, der widerlegten M e i n u n g e n u n d vor allem derjenigen Themen, die überhaupt wahrheitsunfähig werden. A u c h wirtschaftliche H a b e kann nicht vermehrt werden es sei denn dadurch, daß sie für jeweils sehr viel mehr Leute zur Nichthabe w i r d . Diese Einsicht spricht nicht gegen die strukturelle u n d operative R e l e v a n z der Code-Werte selbst; aber sie z w i n g t zu einer begrifflich präzisierten Fassung ihrer Funktion u n d ihrer Kompatibilitätsbedingungen im Systemkontext der modernen Gesellschaft.
V N a c h diesen fast prognostisch k l i n g e n d e n Ausführungen w i r d es Zeit, die Begrenztheit der analytischen Perspektive ins Bewußtsein zu rufen, die w i r z u g r u n d e legen. Kommunikationsmedien sind besondere Errungenschaften der gesellschaftlichen Evolution für h o c h g r a d i g spezifizierte Problemsituationen. Sie sind als solche n i c h t ohne weiteres bestimmend für aktuelles Verhalten. Z w e i »diskontierende« Gesichtspunkte seien deshalb nachgeliefert. Der eine betrifft die Motivationen des Künstlers, der andere gesell-
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schaftsstrukturelle Probleme der Ausdifferenzierung von Kunst mit Hilfe eines kunstspezifischen Kommunikationsmediums. 1) Es liegt verführerisch nahe, u n d in den Diskussionen des Karlsruher C o l l o q u i u m s w a r mehrfach davon die Rede, den Künstler als Wahrheitssucher oder Wahrheitsrealisierer zu kennzeichnen, der jedoch einem an Schönheit interessierten u n d n u r so rezipierenden P u b l i k u m Rechnung tragen müsse. Schönheit w ä r e danach eine A r t nachträgliche Ölung der Sehweisen, Ideen u n d Einfälle, die in einem davon unabhängigen M e d i u m g e k o m m e n sind. A b e r so einfach liegen die D i n g e vermutlich nicht. Kommunikationsmedien setzen Kommunikationspartner voraus, die unter d e m gleichen C o d e seligieren. N u r unter dieser Voraussetzung k a n n die Selektionsweise des einen zur Annahmemotivation des anderen w e r d e n u n d kann diese M ö g l i c h k e i t zugleich antizipatorisch die Selektionsweise vorsteuern. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß die künstlerische K o m m u n i k a t i o n systemextern angeregt wird; daß einer der Partner, nämlich der Künstler, Informationen (oder, diffuser: Einsichten) an der gesellschaftlichen U m welt erlebt u n d ins M e d i e n s y s t e m transponiert. Aber das setzt dann die A n w e n d u n g von »generativen R e g e l n « , nämlich von R e g e l n nicht-identischer Reproduktion voraus. Wahrheiten w i r k e n in der Kunst nicht als Wahrheiten. Gerade die Veränderung des Selektivitätskontextes ist das M o tiv der Transposition. Das mag intendiert sein, w i r d aber durch die Ausdifferenzierung eines relativ autonomen Kunst-Systems auch erzwungen. F ü r Dauerbeziehungen innerhalb eines Sozialsystems w ä r e die Vorstellung, daß Partner unter prinzipiell anderen Gesichtspunkten präferieren, schwer erträglich . Es muß mindestens eine, w e n n auch noch so abstrakte Ebene identisch gehaltener C o d e w e r t e u n d Kriterien geben. Wenn diese nicht in der Kunst selbst liegen, verschieben sie 36
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sich in den Bereich eines anderen M e d i u m s . Sie können dann unter heutigen Bedingungen nur ökonomischer A r t sein; Künstler u n d P u b l i k u m kommunizieren dann nur noch über Geld. Die Häufigkeit des Vorkommens dieser Kommerzialisierung der für Kunst zentralen Kommunikationsbeziehung ist eine empirische Frage. A b e r selbst w e n n sie als Normalfall der K o m m u n i k a t i o n gelten könnte, die z u m Absatz der Kunstwerke führt, produziert der Künstler immer auch für ein anderes P u b l i k u m , das ihn versteht (was einschließt: kritisieren könnte); u n d dies setzt Identität des Mediums voraus. Viel brisanter stellt sich das Problem innerhalb medienspezifischer Kommunikation. A u c h dann, w e n n beide Partner einer Kommunikationsbeziehung ihre Selektion am gleichen C o d e orientieren, ist damit die Motivlage, vor allem des Senders der Kommunikation, nicht voll erfaßt. Kommunikationsmedien setzen normalerweise medienunabhängige Motivationsressourcen voraus. Kein Machthaber w i r d allein deshalb Befehle erteilen, w e i l er sie durchsetzen kann. Ebensowenig w i r d Wahrheit nur deshalb mitgeteilt, weil sie w a h r ist. In gewissem Umfange hat Geld, zumindest in der bürgerlichen Gesellschaft, Tendenzen, ein m o tivational selbstgenügsames M e d i u m zu sein . »Liebe um L i e b e « u n d » l ' a r t pour l ' a r t « sind z w a r Perfektionsmodelle motivationaler Selbstgenügsamkeit, aber mit sehr unterschiedlicher Berechtigung u n d Lebensdauer. Lediglich im Falle der Liebe scheint die kulturelle Vorschrift, nur um der Liebe w i l l e n zu lieben, erfolgreich durchführbar zu sein . Es könnte sein, daß diese Sonderstellung der Liebe damit zusammenhängt, daß dieses Kommunikationsmedium keiner Vermittlung durch Dogmatiken, Theorien, Investitionszusammenhänge usw. bedarf , sondern daß ihm für deren Funktion die Geschichte des unter dem Gesichtspunkt von Liebe geregelten K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m genügt. Dieser Kontrastfall suggeriert die folgende Hypothese: Ein Kom38
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m u n i k a t i o n s m e d i u m kann i m m e r dann auf motivationaler Ebene nicht selbstgenügsam sein, w e n n es Dogmatiken und dergleichen als Vermittlungsmechanismen braucht und deshalb dazu tendiert, C o d e - W e r t u n g e n mit Dogmatiken zu verquicken. D a n n nämlich k o m m t es zu der Tendenz, Konformität mit bestimmten Theorien für Wahrheit, stilgerechte Ausführung für Schönheit, A u s n u t z u n g der Investitionen für wirtschaftlich zu halten u n d die Möglichkeit struktureller Variation zu unterschlagen. Ein Gesellschaftssystem von hoher E i g e n d y n a m i k w i r d A u t o n o m i e dieses Typs nicht ohne Einschränkung zulassen können; zumindest dort nicht, wo es Folgen nicht voll u n d ganz »privatisieren« kann. Anders formuliert: medienunabhängige
Motivationsressourcen sind erforderlich als Variationsmechanismus mediengesteuerter Kommunikation. Es darf, evolutionstheoretisch gesehen, nicht allein von den Bedingungen k o m m u n i k a t i v e n Erfolgs abhängen, ob etwas unternommen w i r d . Eine A r t Zufallsfaktor muß eingebaut, darf zumindest strukturell nicht ausgeschlossen sein. In diesem Sinne w i r d es Künstler geben, die ihre Intention nicht an stilistisch ausdefinierten, verbrauchten Schönheitsvorstellungen orientieren können, sondern mit Hilfe des Wahrheits-Code u n d seines Wortfeldes Distanz zu gewinnen suchen. D a z u verhelfen vor allem Wahrheiten, die die Realisation neuer Einsichten durch die Kunstpraxis tragen, z u m Beispiel akustische u n d optische Möglichkeiten betreffend. So gewinnt man die Freiheit, neue Probleme zu stellen. Gleichwohl geht die Innovation, die den Wahrheitswert über den Schönheitswert zu stellen meint, nicht so weit, auch die Disjunktion von schön/häßlich durch die Disjunktion w a h r / u n w a h r zu ersetzen. Die Umorientie-
rung betrifft die motivationale Relevanz der Werte, nicht die operative Relevanz der Codes. So darf denn auch nicht überraschen, daß die so produzierten Werke schließlich, w e n n gelungen, als schön registriert und als Kunst vereinnahmt werden.
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2) H a t ein K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m R a u m für, wenn man so sagen darf, falsch codierte Motivationen, läßt sich die E n t w i c k l u n g seines Sachbereichs schwer voraussagen. Dies liegt daran, daß die Evolutionstheorie, w i e sie diesen Ü b e r l e g u n g e n zugrunde liegt, generell keine Voraussagen erlaubt. Das w i e d e r u m hat auch systemtheoretische Gründ e , u n d damit sind w i r bei der Frage, w i e weit wir den C o d e der Kunst trotz seiner gesamtgesellschaftlichen R e l e v a n z als eine teilsystemspezifische Orientierung begreifen können. In w e i t e n Horizonten gesehen, ist das produktive Operieren unter einem eigenen binären Schematismus B e dingung gesellschaftsstruktureller Ausdifferenzierung u n d A u t o n o m i e eines T e i l s y s t e m s . A u t o n o m i e ist nicht etwa nur eine Frage der D u l d u n g exzentrischen Verhaltens; sie ist bedingt durch die Regeln, nach denen man verfährt. Insofern ist Codierbarkeit der Kunst durch einen unverwechselbaren Schematismus B e d i n g u n g ihrer A u t o n o m i e als gesellschaftliches H a n d l u n g s s y s t e m . W i e bei allen Kommunikationsmedien gibt es auch für den C o d e schön/häßlich zahllose gesellschaftliche Normalv e r w e n d u n g e n ohne Ausdifferenzierungseffekt. »Authentic artistic endeavor«, meint L o u i s Schneider in einem Ausdifferenzierung allgemein problematisierenden Zusammenh a n g , » g o e s into a Performance by a College Student w h o tries to w r i t e an eloquent term paper or presents a w e l l stated a p o l o g y for not having written one.« Wenn auch das Kunst ist: wo liegen die Schwellen der ernsthaften, der » g r o ß e n « Kunst gegenüber solchen Kunstleistungen des täglichen Lebens, w i e sie im Begriff der techne noch eingeschlossen w a r e n ? W i e Parallelerörterungen im Bereich der Religion u n d des Rechts zeigen, k o m m t der Soziologe hier k a u m ohne H i n w e i s auf die Tradition oder die Orthodoxie oder das S c h w e r g e w i c h t dessen, w a s sich durchgesetzt hat, zu empirisch brauchbaren Begriffen. In diesem Sinne steht Kunst, sofern sie gesellschaftliche Relevanz zu erreichen 42
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sucht, unter Anschlußzwang. Das s c h l i e ß t Möglichkeiten der U m k e h r u n g , der Negation, des A b w e i c h e n s ein. Ohne jede Kohärenz mit Vorgaben läßt sich v i e l l e i c h t Schönes u n d Häßliches produzieren, aber nicht K u n s t . Diese Bedingung ist natürlich längst e r k a n n t und wird in der Kunst selbst reflektiert. D i e A u t o n o m i e des Systems erstreckt sich dann auch noch auf die Definition des Anschlusses: Die Zugehörigkeit z u r Kunst w i r d Sache bloßer Absichtserklärung. M a n stellt etwas ins M u s e u m , vollzieht etwas im M u s e u m nicht in direkter, s o n d e r n in reflexiver Intention: um zu zeigen, daß dies g e n ü g e n w ü r d e , um es z u r Kunst zu machen. Das ist möglich. A l l e r d i n g s kann auf diese Weise nur das Problem des Anschlusses an das Gebiet Kunst negiert, nicht auch das Problem d e r Schönheit gelöst w e r d e n . Die Negation k a n n nicht g e l i n g e n , weil sie als K o m m u n i k a t i o n eine Ebene nichtnegierten Verständigtseins voraussetzt, u n d dies ist w i e d e r u m : Kunst. Dies nun w i e d e r u m zu reflektieren, w ä r e bloße D u p l i k a t i o n und bringt keinen Ertrag mehr. A u ß e r d e m w ä r e die Frage zu stellen, ob u n d w i e weit formalere, reflektierte Anschlußtechniken kompatibel bleiben mit O p e r a t i o n e n , die sich an einem w i e immer ausformulierten S c h e m a t i s m u s von schön u n d häßlich orientieren, u n d w e l c h e Kombinationen von Reflexion u n d Machbarkeit noch m ö g l i c h sind. Das muß man ausprobieren. Letztlich ist A u t o n o m i e nicht haltbar in trotziger Isolierung u n d Unbeeinflußbarkeit, sondern n u r als Beeinflußbarkeit nach systemeigenen R e g e l n . G e r a d e zur Transposition gesellschaftlich allgemeinen Schönheitsempfindens in Kunst ist ein besonderes K o m m ü n i k a t i o n s m e d i u m erforderlich; u n d erst recht zur künstlerischen Legitimation dessen, w a s ohne Kunst als häßlich oder als banal (im Sinne von kunstneutral) empfunden w ü r d e . E b e n s o w e n i g w i e eine A b k a p s e l u n g möglich ist, k a n n m a n aber im Schönheitserleben außerhalb der Kunst eine A r t permanenter A n r e g u n g s q u e l l e oder eine Unvergänglichkeitsgarantie se-
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hen. Die Wiedergeburt der Kunst a u s dem Leben - das w ä r e ein fragwürdiger, neo-nostalgischer Trost . Gewiß: Der Soziologe urteilt nicht über Einzelleistungen. Aufs Ganze gesehen aber setzen kulturelle r i o c h l e i s t u n g e n ausdifferenzierte Sozialsysteme voraus, die nach eigenen Selektionskriterien verfahren u n d die ihre gesellschaftliche Identität so bestimmen und abstrahieren k ö n n e n , daß sie von ihrer gesellschaftlichen U m w e l t z u g l e i c h unabhängiger und abhängiger w e r d e n . Solche Systeme orientieren sich immer zugleich an ihrer eigenen Geschichte u n d an für sie spezifischen Regeln. Ihr Verhältnis zur U m w e l t hängt nicht zuletzt davon ab, w i e diese beiden Gesichtspunkte balanciert werden. Ein Verzicht auf Schönheit (und d a m i t ein Verzicht auf den kunstspezifischen Code von schön u n d häßlich) müßte die Kunst u m s o fester an die eigene Geschichte binden: an eine Geschichte, die negiert, dialektisiert, auf ihre Problemstellungen hin befragt u n d in i h r e n Problemstellungen umkonstruiert werden kann, die sich aber gleichwohl irg e n d w a n n einmal erschöpfen kann. W e n n aber die eigene Geschichte verbraucht ist, könnte es s e i n , daß die Orientierung an Schönheit oder an sei es politischer, sei es ökonomischer U m w e l t die Form einer A l t e r n a t i v e annimmt, die sich zu drastisch zuspitzt, um noch entscheidbar zu sein. 46
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Eine Reihe von Gesichtspunkten, die in den letzten A b schnitten nacheinander aufgetaucht s i n d , läßt sich mit Hilfe theoretischer Überlegungen z u m P r o b l e m der Systemdifferenzierung in ihrem Zusammenhang u n d in ihrer Vergleichharkeit mit anderen M e d i e n b e r e i c h e n verdeutlichen. Damit soll unter einem anderen B l i c k w i n k e l nochmals gezeigt w e r d e n , daß u n d w i e erfolgreiche Codierung auf S y stembildung angewiesen ist.
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In jedem Falle funktionaler Systemdifferenzierung entstehen innerhalb des differenzierten S y s t e m s für jede Selektion drei verschiedenartige Systemreferetizen. Das heißt: J e d e Selektion kann - und diese Möglichkeit folgt zwangsläufig aus der Systemdifferenzierung - in Beziehung auf drei verschiedenartige Systeme bzw. Systerngruppen gewertet werden, nämlich: (1) In B e z u g auf das Gesamtsystem, d e m das seligierende Teilsystem angehört, im Falle der Kunst a l s o in Beziehung auf die Gesellschaft. Das ist diejenige Systemreferenz, die für das Teilsystem als Funktion artikuliert u n d institutionalisiert w i r d . So ermöglicht die moderne Gesellschaft durch Delegation auf Teilsysteme funktionale P r i m a t e für Politik, für Forschung, für Wirtschaft, für E r z i e h u n g usw., die sie sich auf der Ebene des Gesamtsystems als Vorrangentscheidung unter den Funktionen nicht l e i s t e n könnte. Die Systemdifferenzierung w i r d also a u s g e n u t z t , um widersprüchliche Rangordnungen der F u n k t i o n e n nebeneinander zu praktizieren, wobei jede F u n k t i o n f ü r ein Teilsystem den B e z u g auf das Gesamtsystem a r t i k u l i e r t . (2) In Beziehung auf die anderen Teilsysteme des Gesamtsystems. In dieser Systemreferenz, d i e als Leistung thematisiert w i r d , können sehr verschiedene Einzelreferenzen relevant w e r d e n u n d miteinander k o n k u r r i e r e n - im Falle der Kunst z u m Beispiel A n r e g u n g s l e i s t u n g e n , die über M o d e wirtschaftlich ausgewertet w e r d e n k ö n n e n ; oder Leistungen, die zur Unterstützung religiöser bzw. politischer U b e r z e u g u n g e n beitragen, oder Erziehungsleistungen. Das Kriterium der Leistung ist die B r a u c h b a r k e i t : das Faktum der Aufnahme u n d Verwertung in anderen. Teilsystemen. (3) In Beziehung auf das seligierende Teilsystem selbst. In dieser Referenz identifiziert u n d thematisiert sich das j e w e i l s seligierende System u n d w i r d sich in seiner historischen Kontinuität bewußt. H i e r w i r d d i e Systemreferenz also ü b e r Prozesse der Reflexion a r t i k u l i e r t .
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Diesem allgemeinen systemtheoretischen Raster fügen sich alle funktional ausdifferenzierten T e i l s y s t e m e der Gesellschaft, allerdings mit sehr unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Systemreferenzen. Die M u l t i p l i k a t i o n dieser Systemreferenzen ist in zeitlicher H i n s i c h t gesehen Bedingung dafür, daß die Zeitmodi G e g e n w a r t , Zukunft u n d Vergangenheit auseinandertreten u n d differente Möglichkeiten präsentieren. Die Gegenwart s t ü t z t sich auf die Funktion, die Zukunft auf L e i s t u n g e n , die Vergangenheit auf den Reflexionsprozeß. In sozialer H i n s i c h t ist die M u l tiplikation der Systemreferenzen B e d i n g u n g für Autonomie. Keine Selektion ist durch eine Systemreferenz allein determinierbar: w e d e r allein durch die Funktion, noch allein durch Leistungsanforderungen, n o c h durch ein bloßes l'art pour l'art; die jeweils anderen Systemreferenzen geben R ü c k e n d e c k u n g und querliegende K o n t r o l l e n . Schließlich e r z w i n g t die Multiplikation der Systemreferenzen in sachlicher Hinsicht eine Differenzierung v o n binärem Code u n d Selektionskriterien; denn die b l o ß e Disjunktion des C o d e schematisiert z w a r die F u n k t i o n des Systems, sie ist aber damit allein nicht imstande, die S e l e k t i o n e n des Teilsystems in seinen anderen Systemreferenzen zu erfassen u n d zu instruieren. Die Eigenständigkeit eines T e i l s y s t e m s der Gesellschaft w i r d nach all' dem wesentlich davon abhängen, daß diese verschiedenartigen Systemreferenzen operativ verknüpft u n d so in ein Gleichgewicht gebracht w e r d e n können. Das System für Kunst artikuliert seine gesellschaftliche Funktion als K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m mit H i l f e der Codierung schön/häßlich. Dieser Code garantiert d i e Gegenwärtigkeit der Kunst, die Möglichkeit aktuell v o l l z i e h b a r e r Operationen. Er k a n n nicht aufgegeben w e r d e n , o h n e daß die Kunst ihre Eigenständigkeit, ihre besondere » A d r e s s e « im System gesellschaftlicher Kommunikationen v e r l ö r e . N u r wegen dieser Besonderheit sind auch die L e i s t u n g e n der Kunst für andere Gesellschaftsbereiche interessant, w e i l unverwech-
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seibar u n d nicht ersetzbar unter M e d i e n w i e Wahrheit oder Liebe, M a c h t oder Geld. Die besondere Reflexionsleistung der Kunst schließlich betrifft ihre Identität als Kunst, die Kriterien der Zugehörigkeit zur Kunst, den Bereich der Kunstdogmatiken, Stilprinzipien u n d Problemtraditionen, an die m a n positiv oder negativ anschließt, w e n n man Werke als Kunstwerke produziert. Zahlreiche Motive der aktuellen » k r i t i s c h e n « Diskussion über Kunst lassen sich besser verstehen, wenn man sieht, daß sie sich gegen eine Verquickung d i e s e r Systemreferenzen wehren, sie aber andererseits i s o l i e r t auch nicht behaupten können. Daß das bloße Erfüllen v o n Leistungsanforderungen - seien sie religiöser, politischer, schichtenspezifischer, ökonomisch-verwertender A r t - den Künstler nicht befriedigt, liegt auf der H a n d ; K u n s t soll nicht darin aufgehen. Ebenso wehrt sich der i n n o v a t i v e Kunstbetrieb gegen die Verquickung von Funktion u n d Reflexion, das heißt gegen das in der jeweils v o r l i e g e n d e n Tradition reflektierbare Schönheitsurteil. M a n revoltiert, w i e es scheint, gegen Schönheit als Prinzip - aber nur deshalb, weil man sie jeweils kunsthistorisch ausdefiniert vorfindet. Will man Schönheit gegen die Tradition w i e d e r g e w i n n e n , ist man gez w u n g e n , die in der Überlieferung gelösten Probleme zu abstrahieren oder aktuelle A n r e g u n g e n gesamtgesellschaftlicher (und nicht nur: teilsystemspezifischer) Art aufzunehmen u n d zu verarbeiten, etwa den B e d a r f nach größerem Auflöse- und Rekombinationsvermögen zu befriedigen. Dafür bietet der C o d e das M e d i u m , nicht j e d o c h die Quelle der Inspiration. Keine jener drei Systemreferenzen und keine ihrer Artikulatipnsformen Funktion, Leistung, Reflexion läßt sich isoliert bejahen oder verneinen, und keine läßt sich auf eine andere reduzieren - s o l a n g e der Grundt y p u s funktional-struktureller Gesellschaftsdifferenzierung gehalten w i r d . Die damit angezeigten Probleme s i n d an sich nicht . kunstspezifischer Art. Im Wissenschaftssystem zum Bei-
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spiel treten sie auf im Verhältnis von W a h r h e i t und Methodologie (= F u n k t i o n ) , Grundlagenforschung über fortzuentwickelnde P r o b l e m - u n d Theorietraditionen (= Reflexion) u n d anwendungsbezogener F o r s c h u n g (= Leistung). Gerade ein solcher Vergleich macht a b e r auch deutlich, daß im Falle der Kunst Spannungen sich in einer Weise verschärfen, die in der Arbeit am einzelnen Werk kaum noch gelöst werden k ö n n e n u n d in der A k k u m u l a t i o n das S y stem auf eine Zerreißprobe stellen. D i e s liegt vor allem daran, daß im Leistungsbereich k a u m n o c h Anschlußselektivität möglich ist u n d im Reflexionsbereich ein negatives Verhältnis zur Tradition, w e n n nicht gar z u r eigenen Identität des Kunstsystems vorherrscht. Wenn diese Tendenzen zunehmen, w i r d sich auch ein eigenständiger Code der Kunst nicht halten lassen, w e i l er nur über eine Mehrheit von S y stemreferenzen respezifizierbar ist. Es mag andere, kunstfreie V e r w e n d u n g e n von »Fiktionalität« geben, auf die w i r noch nicht g e k o m m e n sind. C o dierbar w i r d Kunst nur bleiben u n t e r soziologisch angebbaren Bedingungen. Zu ihnen gehört in erster Linie die Erhaltung des Funktionsniveaus gesellschaftlicher Differenzierung bei evolutionär z u n e h m e n d e r Komplexität des Gesellschaftssystems u n d trotz hoher Unwahrscheinlichkeit seiner Institutionen. N u r unter dieser Voraussetzung kann es funktionale Primate geben, nämlich in einem der gesellschaftlichen Teilsysteme eine Primärorientierung an der Disjunktion v o n schön/häßlich. Diese Primärorientierung aber w i r d i m m e r vermittelt u n d respezifiziert durch andere Systemreferenzen. U n d somit w i r d es auch darauf ankommen, daß die M u l t i p l i k a t i o n d e r Systemreferenzen die operative Phantasie nicht unter Anforderungen stellt, für die sich keine L ö s u n g e n mehr finden lassen, so daß die Kunst am Ende g e z w u n g e n w ä r e , n u r noch genau dies darzustellen, daß dies so ist.
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Anmerkungen 1 H i e r z u als k n a p p e n Ü b e r b l i c k t Niklas Luhmann, E i n f ü h r e n d e B e m e r k u n g e n zu einer Theorie symbolisch generalisierter K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n , i n d e r s . , S o z i o l o g i s c h e A u f k l ä r u n g Bd. 2 , Opladen 1975, S. 1 7 0 - 1 9 2 . 2 E i n N e b e n e f f e k t ist, d a ß auf diese W e i s e in
d i e j e n i g e n wissen-
s c h a f t l i c h e n D i s z i p l i n e n , d i e sich auf b e s t i m m t e C o d e s spezialisiert haben, Soziologismen importiert w e r d e n , etwa in der Form e i n e r K r i t i k des p o l i t o l o g i s c h e n M a c h t b e g r i f f s d u r c h d i e A u f f a s s u n g d e r M a c h t als K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m o d e r e i n e r K r i t i k des w i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n G e l d b e g r i f f s d u r c h d i e A u f f a s s u n g des G e l d e s als K o m m u n i k a t i o n s m e d i u m . Z u d i e s e n beiden F ä l l e n v g l . Talcott Parsons, P o l i t y a n d S o c i e t y : S o m e G e n e r a l C o n s i d é r a t i o n s , in: Talcott Parsons, P o l i t i c s a n d S o c i a l S t r u t t u r e , N e w Y o r k 1 9 6 9 , S . 4 7 3 - 5 2 2 . D a s gleiche gilt f ü r d e n W a h r h e i t s begriff d e r W i s s e n s c h a f t s t h e o r i e u n d v e r m u t l i c h a u c h f ü r d e n Kunstbegriff der
Ästhetik.
In
all
diesen
Fällen
operiert die
S o z i o l o g i e m i t b e w u ß t i n k o n g r u e n t e n P e r s p e k t i v e n , sei e s i n » k r i t i s c h e r « , sei e s i n v e r g l e i c h e n d - s y s t e m a t i s i e r e n d e r A b s i c h t 3 H i e r z u auch: Niklas Luhmann, D e r p o l i t i s c h e C o d e : » K o n s e r v a t i v « u n d » p r o g r e s s i v « i n s y s t e m t h e o r e t i s c h e r S i c h t . In: [Soziologi-
sche Aufklärung 3 ] , S. 2 6 7 - 2 8 6 . 4 W a s seit d e n A n f ä n g e n i m m e r a u c h e i n s c h l o ß : S c h r a n k e n b e w u ß t sein u n d P r o b l e m a t i s i e r u n g des V e r h ä l t n i s s e s z u r N a t u r , m o r a l i s c h e R i s k i e r t h e i t u n d b e w u n d e r n s w e r t e I n g e n i o s i t ä t u n d nicht z u letzt Bedarf f ü r kontingenzabsorbierende G e s i c h t s p u n k t e wie Exa k t h e i t u n d G e r e c h t i g k e i t , Tugend (agerrj) u n d ü b e r g r e i f e n d e F o r m e n h ö h e r e n W i s s e n s . S i e h e d a z u René Schwerer, E F I I S T H M H e t T E X N H : E t u d e s u r les n o t i o n s d e c o n n a i s s a n c e e t d ' a r t d ' H o m è r e à P l a t o n , M a c o n 1 9 3 0 ; / ó V g Kube, T E X N H u n d A P E T H : S o phistisches u n d Platonisches Tugendwissen, B e r l i n 1 9 6 9 . 5 D i e F o r m u l i e r u n g v e r e i n f a c h t s t a r k . Sie soll a u c h d e n genetisch w i c h t i g e n F a l l e i n s c h l i e ß e n , d a ß e s E i n z e l a s p e k t e , z u m Beispiel Verzierungen oder Formulierungen an im ü b r i g e n zweckgetragen e n , b r a u c h b a r e n W e r k e n , sind, die i n d i e s e r W e i s e als k o n t i n g e n t a u f f a l l e n u n d d e m M i t e r l e b e n d e n als n i c h t n o t w e n d i g mitsuggeriert werden. 6 F ü r d i e D i s t a n z i e r u n g p e r Fremdiateaûoa w i r d f r e i l i c h eine F o r m g e w ä h l t , d i e zugleich als L e i t f a d e n d e r I n t e r p r e t a t i o n d i e -
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nen und so der Problemfindung und Überzeugungsbildung auf den Weg helfen kann. Siehe dazu den Beitrag von H. Hörmann, Gibt es heute noch eine sinnvolle Verwendung des Begriffs »schön«?, in: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), »schön«, zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs. München, S. 4 7 59. Daß »optimale Funktionsfähigkeit« eine eigene A r t von Schönheit hat, widerspricht dem nicht, sondern ist nur ein Sonderfall dieser allgemeinen Regel. Denn Optimalität ist mehr als bloße Eignung, ist sozusagen ein Überschuß an Eignung, ist also mehr, als die Praxis braucht. Die Bemühung um dieses Mehr unter zusätzlichen Kriterien erscheint als kontingent und bedarf ihrerseits einer Rechtfertigung, die nicht allein aus der Eignung abgeleitet werden kann, sondern entweder ökonomisch oder ästhetisch sein kann, wobei die ästhetisch optimale Eignung keineswegs die zu sein braucht, die eine optimale Relation von Aufwand und Ertrag darstellt. Thomas von Aquino, Summa Theologiae I q, 16.a.I. Für den griechischen Zusammenhang von Kunst und Wahrheit, der für die Differenzierung gegen die Religion notwendig gewesen sein muß, siehe außer Schaerer, a. a. O., auch John Wild, Plato's Theory of xkyyr\: A Phenomenological Interpretation, Philosophy and Phenomenological Research 1 (1941), S. 255-293. Karl Ulmer, Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles: Ein Beitrag zur Aufklärung der metaphysischen Herkunft der modernen Technik, Tübingen 1953. Daß und wie das Prinzip der adaequatio auch im Bereich der symbolischen Struktur des Kommunikationsmediums Wahrheit in eine Krise gerät, kann hier nicht näher erörtert werden. Ein Hinweis auf die Bemühungen Hegels um ein rein reflexionslogisches Prozessieren der Begriffe mag genügen. Anders als im Bereich der Kunst wird im Bereich der Wahrheit die Struktur der adaequatio jedoch trotz aller Anfechtungen laufend reproduziert - vermutlich deshalb, weil das Prinzip der Widerspruchsfreiheit einen externen Gegenstand voraussetzt, an dem entscheidbar wird, ob ein Widerspruch vorliegt oder nicht. Siehe dazu Dieter Henrich, Sehen und Wissen: Überlegungen zur Definition des Realismus, in: Prinzip Realismus, Berlin, Ga-
lerie Doli 1973. 11 Ich nenne als Beispiel nur die Frage des möglichen Zentralisierungsgrades von Kunstwerken. Wie weit können Interdepen-
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denzen in dem Sinne zentralisiert werden, daß sie von einem Punkte aus übersehbar sind; daß man mit einem Teil das Ganze in der Hand hat; daß Teile des Kunstwerks das Ganze repräsentieren können? Vermutlich ist diese bei anderen Systemtypen sehr typische arbeitssparende Form der Interdependenzkontrolle für Kunstwerke eher inadäquat. Verwendbar sind Zentralisierungen möglicherweise in Verflechtung mit temporalen Strukturen in dem Sinne, daß der Zentralgedanke des Werkes erst nach Durchlaufen aller seiner Elemente und ihrer Interdependenzen erfahrbar wird, den Durchlauf gleichsam erzwingend und belohnend. Im engen Zusammenhang damit steht die Frage, ob und wieweit dem Künstler bzw. Kunstbetrachter lokal verdichtete Interdependenzen in Teilbereichen des Kunstwerks genügen, die nur lockere, unterbestimmte Beziehungen zum Ganzen unterhalten und Restprobleme aufwerfen, die nur halb überzeugend gelöst werden können. Psychologisch ist es zumindest wahrscheinlich, daß beim Aufbau eines hochkomplexen Werkes so verfahren wird. Im Ergebnis kann es dann leicht zu dem Urteil kommen, daß Einzelpartien zu schön oder zu schwer sind für das Kunstwerk als Ganzes, und sich nicht oder nur gerade noch halten lassen. Im Gedicht mag der Rhythmus, im Gemälde der Bezug auf den Rahmen diese Schwierigkeit überspielen. Der Philosoph löst dieses Problem mit einer nur durch Metaphern vermittelten Zentralisation (vgl. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960), die im Grunde v o n Partialeinsichten lebt. 12 Ähnlich wie Falschheit als Privation der Wahrheit: »Falsitas autem principii nön cognoscitur nisi per privationem veritati sicut cecitas per privationem visus« (Thomas von Aquino, Quaestiones disputatae de veritate qu. 3 a. 4 ad 4, zitiert nach der Ausgabe Köln (Koelhoeff) 1 4 7 1 . 13 Dazu Talcott Parsons, On the Concept of Influence, Public Opinion Quarterly 27 (1963), S. 37-62; neu gedruckt in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New Y o r k - London 1967, S. 355-382, sowie in: ders., Politics and Social Structure, New York 1969, S. 405^t29. 14 Die bewußte Vernachlässigung der Kostbarkeit des Materials ist eines der Symptome dafür - übrigens mit genauen Parallelen in der neuzeitlichen Chemie, die ebenfalls lernen mußte, zwischen Kostbarkeit und chemischer Valenz zu differenzieren.
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15 Vgl. dazu besonders die vergleichenden Untersuchungen von Jerome S. Bruner I Rose R. Olver / Patricia M. Greenfield et al. Studien zur kognitiven Entwicklung, dt. Übers., Stuttgart 1971. 16 Dies besonders deshalb, weil künstlerische Arbeit als ein Entscheidungsprozeß mit ungenau definierten Problemen zu gelten hat, bei denen die Abnahmebedingungen im Laufe des Entscheidungsprozesses noch modifiziert werden können. Dazu vgl. Walter R. Reitman, Heuristic Decision Procedures, Open Constraints, and the Structure of Ill-defined Problems, in: Maynard W. Shelly / Glenn L. Bryan (Hrsg.), Human Judgements and Optimality, New York - London - Sydney 1964, S. 282-315. 17 Daß solche Aussagen eine Funktion im sozialen System der Kunst haben können (bzw. konnten), etwa als Autonomiebehauptung oder zur Abwehr der Unterstellung von ökonomischen Interessen, Reputationsinteressen usw., soll damit nicht bestritten sein. 18 Dies gebührend herausgestellt, ist es gleichwohl wenig nützlich zu behaupten, das Kunstwerk selbst sei die Regel seiner Herstellung oder gar die Regel seiner Beurteilung. 19 Vgl. etwa Jerome S. Bruner / Rose R. Olver I Patricia M. Greenfield, a. a. O., S. 75. 20 Siehe Herbert A. Simon, The Architecture of Complexity, Proceedings of the American Philosophical Society 106 (1962), S. 467-483; neu gedruckt in: General Systems 10 (1965), S. 6 3 76, und in: ders., The Sciences of the Artificial Cambridge Mass. 1969, S. 8 4 - 1 1 8 . Siehe auch den Begriff der Strategie bei Jerome S. Bruner / Jacqueline J. Goodnow / George A. Austin, A Study of Thinking, New York 1956. 21 Parallelfeststellungen für das Medium Wahrheit zum Beispiel bei Karl R. Popper, Objective Knowledge: An Evolutionary A p , proach, Oxford 1972, S. 317ff. 22 Vgl. zum folgenden auch Erich Rothacker, Die dogmatische Denkform in den Geisteswissenschaften, Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, Abhandlungen der geistesund sozialwissenschaftlichen Klasse Nr. 6, 1954. 23 Diese allgemeine Form der Reflexivität ist zu unterscheiden von produktions- und rezeptionsspezifischen. reflexiven Mechanismen. Die Produktion wird ihrerseits reflexiv, wenn der Künstler sie selbst mitdarstellt, zum Beispiel das Malen mitmalt, das Maltempo zum Ausdruck bringt, die Regie im Theaterstück selbst erscheinen läßt usw. Die Rezeption wird reflexiv, wenn der Erle-
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bende im sicheren Wissen, daß es sich um Kunst handelt, die Möglichkeit gewinnt, sein Genießen zu genießen. Das sind jedoch wegen dieser Differenz von Produktion und Rezeption nichttotalisierbare Formen von Reflexivität. 24 Dieses Beispiel verdanke ich einer Diskussionsbemerkung von
Arnold Gehlen. 25 Das gilt entsprechend übrigens auch für Theoretiker und Kommentatoren: für Adorno, für Marcuse. 26 So Bazon Brock, Weshalb der Laienstandpunkt im Bereich der ästhetischen Praxis immer mehr abgebaut wird, in: Gisela Bracken (Hrsg.), Kunst im Käfig, Frankfurt 1970, S. 75-85 (80). 27 Diesen Gesichtspunkt hat Raimer Jochims in einem Diskussionsbeitrag zum Karlsruher Colloquium am Beispiel Cezanne aufgezeigt. 28 Vgl. dazu James G. March I Herbert A. Simon, Organizations, New York - London 1958, S. 1 0 , 53 ff. Die Autoren sprechen nicht von Regeln, sondern von »sets«. Die Unterscheidung hängt eng zusammen mit der Unterscheidung von Kurzzeitgedächtnis und Langzeitgedächtnis und mit Problemen der Steuerung kurzzeitiger Aufmerksamkeit durch das Langzeitgedächtnis. 29 Ein gutes Beispiel dafür bieten auch Karriere-Strategien in komplexen Organisationssystemen: Man fällt durch Leistung allein nicht mehr auf, so daß Karriere zusätzliche Anstrengungen der Selbstdarstellung erfordert, um die Aufmerksamkeit der Promotoren zu gewinnen. 30 Zu vermuten ist übrigens, daß innerhalb kunstspezifisch interessierter Kreise und vor allem unter Künstlern selbst die Qualitätsurteile und damit die Anwendungen der Kriterien des Code stärker differieren als gesamtgesellschaftlich. Vgl. dazu /. W. Getzels IM. Csikszentmihalyi, Aesthetic Opinion: An Empirical Study, Public Opinion Quarterly 33 (1969), S. 34-45. Vielleicht wird auch deshalb systemintern »Schönheit« als Integrationsformel abgelehnt, gesamtgesellschaftlich dagegen nach wie vor erwartet. Dies ist jedoch nichts anderes als das soziologisch allgemein zu erwartende Phänomen größerer Tiefenschärfe und Differenziertheit des Insiderview. 31 Siegfried J. Schmidt, Asthetizität, München 1971, setzt in dieser Frage seine Hoffnungen auf »Polyfunktionalität«. 32 Über die Form und die Prinzipien der sinnlichen und der Verstandeswelt (1770) § 1, zit. nach Kleinere Schriften zur Lo-
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gik und Metaphysik (hg. v. Kirchmann) 3. Abt. Leipzig o . J . S. 133 ff. 33 Zur Ersetzung der Ebene der Repräsentation durch die Ebene der Zeit Michel Foucault, Die Ordnung d e r Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt 1971 (zu Kant speziell S. 296 ff.). 34 Dies gewollte Paradoxieren muß als ein expressives Äquivalent zur Ordnung in der Zeit gesehen werden. Es unterscheidet sich von dogmatischen Paradoxien, in denen es primär um Argumentationsreserven und situativ verwendbare Flexibilität geht. 35 Vgl. dessen systematische Verortung im Konzept der »pattem variables« von Talcott Parsons. Siehe insb. Talcott Parsons, Pattern Variables Revisited, American Sociological Review 25 (1960), S. 467—483, neu gedruckt in: ders., Sociological Theory and Modem Society, New York 1967, S. 1 9 2 - 2 1 9 . Die wohl wichtigste theoretische Weiterentwicklung, die auch auf das im folgenden behandelte Problem der Negativität stößt, ist Jan J. Loubser, The Contribution of Schools to Moral Development: A Working Paper in the Theory of Action, Interchange 1 (1970), S. 9 9 - 1 1 7 (112). 36 Im Sinne von Paul Ridder, Bewegung sozialer Systeme: Über die endogene Erzeugung von Veränderung, K ö l n e r Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 26 (1974), S. 1-28 (4,7). 37 Die Probleme, die für Künstler entstehen, wenn sie ihr Publikum so erleben, sind bekannt und können als Beleg für die Instabilität eines Sozialsystems unter solchen Bedingungen gelten. Vgl. dazu Howard S. Becker, The Professional Dance Musician and His Audience, The American Journal of Sociology57 (1961), S. 1 3 6 - 1 4 4 ; neu gedruckt in: ders., Outsiders: Studies in the Sociology of Deviance, New Y o r k - London 1963, S. 7 9 - 1 0 0 . 38 Einschränkend wäre natürlich zu vermerken, daß es für die wohl überwiegende Zahl der Geldtransaktioneri entweder politische oder familiale Motive gibt, die sich aus dem Bezug auf die Medien Macht bzw. Liebe verstehen. 39 Diese Formel aus Jean Paul, Levana § 1 2 1 , Sämtliche Werke Abt. I, Bd. 12, Weimar 1937, S. 341. Für das Mittelalter dagegen war der immoderatus amor amicitiae uxoris noch die Erklärung des Sündenfalles. 40 Freilich auch hier nur mit erheblichen Folgeproblemen in der kommunikativen Beziehung, die unter anderem damit zusam-
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menhängen, daß der Code es zugleich verbieten muß, diese Interdependenz als Kondition zu thematisieren. Das können wir hier nicht ausreichend erörtern. Vgl. das oben dazu Ausgeführte. Die wissenschaftstheoretische Diskussion dieser Frage ist für unsere Zwecke nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie auch den Vergleich mit kreativem Denken einbezogen hat. Siehe z. B. Michael Scriven, Explanation and Prediction in Evolutionary Theory, Science 130 (1959), S. 477-482; Donald T. Campbell, Blind Variation and Selective Retention in Creative Thoughts as in Other Knowledge Processes, Psychological Review 67 (1960), S. 380^100. Der Zusammenhang wird deutlich bei Adolf Grünbaum, Temporally-Asymmetric Principles, Parity Between Explanation and Prediction, and Mechanism Versus Teleology, Philosophy of Science 29 (1962), S. 1 4 6 - 1 7 0 . Es gibt Ausnahmen dieser Regel für Systeme, die sich auf Anpassung an oder Produktion von Umwelt d e r Gesellschaft spezialisieren, so vor allem für das Erziehungssystem, vielleicht auch für das Religionssystem. Darauf kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. The Scope of »The Religious Factor« and the Sociology of Religion: Notes on Definition, Idolatry and Magic, Social Research 41 (1974), S. 340-361 (342 f.). Auch hier gibt es genaue Parallelerörterungen in der Religionssoziologie. Die Diskussion ist v o r allem durch Thomas Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963, ausgelöst worden. Vgl. auch Joachim Matthes, Kirche und Gesellschaft: Einführung in die Religionssoziologie, 2 Bde., Reinbek 1967, 1969, insb. Bd. II, S. 13 ff.
Das Medium der Kunst Für Ines
I
Kunstwerke sind nicht einfach Spuren, d i e menschliche Tätigkeit in der wahrnehmbaren Welt hinterläßt. Sie entstehen auch nicht als bloße Relikte z w e c k g e r i c h t e t e n Verhaltens w i e W e r k z e u g e , Häuser, Straßenlärm oder radioaktive Strahlung. Sie dienen, um auf ein minimales Abgrenzungskriterium abzustellen, der Ü b e r m i t t l u n g von Sinn. Das erfordert ein M e d i u m , in dem (oder durch das) die Übermittlung stattfindet. Die folgenden Ü b e r l e g u n g e n versuchen, etwas über dieses M e d i u m der Kunst herauszufinden. » D a s « Medium » d e r « Kunst - w i r sehen b e w u ß t von e i n e r Unterscheidung verschiedener Kunstarten ab in der A n n a h m e , daß man gerade mit Hilfe dieser Frage nach dem M e d i u m etwas Gemeinsames beobachten u n d beschreiben kann. Dabei m ü s sen w i r uns allerdings auf einen A b s t r a k t i o n s g r a d einlassen, der A n w e n d u n g e n v o m Bereich menschlicher Wahrnehm u n g im allgemeinen bis zu Fragen spezieller symbolisch generalisierter K o m m u n i k a t i o n s m e d i e n , ja bis zum Problem der Organisation ermöglicht. M e d i e n unterscheiden sich von anderen Materialitäten d a d u r c h , daß sie ein sehr hohes M a ß an Auflösung gewährleisten. Der ursprüngliche Begriff für Materie - im U n t e r s c h i e d zu F o r m - hatte genau diesen Sinn: das von sich aus U n b e s t i m m t e und daher für F o r m Empfängliche, auf F o r m A n g e w i e s e n e zu bezeichnen. Für eine ontologische M e t a p h y s i k , die mit diesen Begriffen arbeitet, w a r demnach M a t e r i e das Medium der Realität, dann auch das M e d i u m eines Realitätskontinuums von Sein und Bewußtsein u n d schließlich, soweit die Welt als congregatio corporum in Betracht k a m , das Medium ei1
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nes Rationalitätskontinuums, das z u m B e i s p i e l Wahrnehm u n g überhaupt erst ermöglicht. In dieses Schema von M a t e r i e u n d F o r m hatte man j e doch schon früh ein zweites M o m e n t hineinkomponiert: das M o m e n t der Selbstreferentialität, d u r c h das Form zu Geist aufgewertet w u r d e , w ä h r e n d die M a t e r i e als irreflexives Sein auf die andere Seite der U n t e r s c h e i d u n g verwiesen w u r d e . Dann stand freilich das Problem ins H a u s , ob nun alle F o r m dem Geist zuzurechnen sei, a l s o als Konstrukt selbstreferentiellen Prozessierens des Geistes zu denken sei, oder ob die Materie es von sich aus zu F o r m , also zu Dinghaftigkeit bringen könne u n d w o r a n d i e s , wenn überhaupt, zu erkennen sei. Schon Kant w a r durch dieses P r o b l e m in unlösbare Schwierigkeiten u n d Widersprüche g e r a t e n . W i r unterlassen daher jede Begriffsanleihe bei dieser Tradition, sprechen w e d e r von Materie noch von Geist, s o n d e r n beschränken uns auf die Begriffe M e d i u m u n d Form. Wenn man einen gemeinsamen Oberbegriff haben w i l l , k a n n man von Substrat sprechen. Auf jeden Fall ist es w i c h t i g , daß beide Substrate sich nur relativ unterscheiden, daß keines von ihnen Selbstreferenz ausschließt u n d daß ihr U n t e r s c h i e d historisch, das heißt durch Evolution, variiert. Um Relativität u n d Evolutionsfähigkeit zu betonen, wollen w i r M e d i e n durch ein höheres M a ß a n Auflösevermögen mit Aufnahmefähigkeit für Gestaltfixierungen kennzeichnen . Das heißt: auch M e d i e n bestehen aus Elementen bzw., in der Zeitdimension, aus Ereignissen, aber diese Elemente sind nur sehr lose verknüpft. R e l a t i v zu den Ansprüchen an Dinghaftigkeit oder F o r m k ö n n e n sie geradezu als unabhängig voneinander gelten. So ist G e l d ein Medium, w e i l Zahlungen in beliebiger S t ü c k e l u n g geleistet werden können, w e i l eine Zahlung nicht v o n Sinn und Z w e c k einer anderen Zahlung abhängt, w e i l das M e d i u m extrem vergeßlich ist (da es nicht zu erinnern braucht, um den Geldwert zu halten, w o z u gezahlt w o r d e n ist) u n d allein die Zah3
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lungsfähigkeit darüber entscheidet, ob eine Zahlung möglich ist. Aber auch Luft ist, um ein anderes Beispiel zu w ä h len, ein M e d i u m nur deshalb, w e i l sie in dieser Weise lose gekoppelt ist. Sie kann Geräusche vermitteln, weil sie selbst nicht zu Geräuschen kondensiert. M a n hört die U h r ticken nur deshalb, weil die Luft selbst nicht tickt. Formen entstehen dagegen durch Verdichtung von A b hängigkeitsverhältnissen zwischen Elementen, also durch Selektion aus Möglichkeiten, die ein M e d i u m bietet. Die lose Kopplung u n d leichte Trennbarkeit der Elemente des M e d i u m s erklärt, daß m a n nicht das M e d i u m selbst wahrnimmt, sondern die F o r m , die die Elemente des Mediums koordiniert. M a n sieht nicht die U r s a c h e des Lichts, die Sonne, sondern man sieht im Licht d i e Dinge. Man liest nicht die Buchstaben, sondern mit H i l f e des Alphabets die Worte; und w e n n man das Alphabet selbst lesen will, muß man es alphabetisch ordnen. Die Zurechnung w i r d durch die Koordination der Elemente gerichtet, während das M e d i u m selbst zu diffus ist, um Aufmerksamkeit zu finden. Es gibt seine Elemente für Koordination durch Form frei. Heider spricht deshalb von Außenbedingtheit . Im Bereich der Formen, und insofern bleibt die Unterscheidung relativ, kann es w i e d e r u m mehr oder w e n i g e r strikte Kopplungen geben, also eine Dimension, die von h o h e r Elastizität bis zu Rigidität reicht. Mithin kann durchaus Spielraum offen und Anpassungselastizität gewährleistet bleiben. Eine Uhr tickt u n d bewegt ihre Zeiger, ein Ball hüpft oder rollt in Reaktion auf Anstöße u n d Bedingungen seiner Umwelt. Ein Haushalt kann sein Geld für verschiedene (aber immer nur für bestimmte) Bedürfnisse ausgeben u n d eine Theorie hält sich im logisch codierten M e d i u m d e r Wahrheit hinreichend unbestimmt u n d anpassungsfähig, so daß nicht jeder Zusammenstoß mit Realitäten sie zerstört oder ins U n w i e dererkennbare deformiert. A u c h Kunstwerke, vor allem solche, die der »Aufführung« bedürfen, oder solche, bei denen der Eindruck von Beleuchtung u n d Distanz abhängt, 5
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müssen ihr M e d i u m nicht invariant fixieren. Trotz all dieser Relativierungen bleibt jedoch die Differenz von Medium u n d F o r m als Differenz ausschlaggebend. "Weder gibt es ein M e d i u m ohne Form, noch eine F o r m o h n e M e d i u m . Imm e r geht es um eine Differenz von w e c h s e l s e i t i g e r Unabh ä n g i g k e i t u n d wechselseitiger A b h ä n g i g k e i t der Elemente; u n d daß es um eine Differenz geht, heißt, daß ein Abhängigkeitsverhältnis höherer A r t ins Spiel k o m m t . N e b e n diesen Unterschieden der Abhängigkeitsstrukturen, der Interdependenzen, der losen u n d der strikten Kopplung spielen Unterschiede der G r ö ß e n o r d n u n g eine R o l l e . M e d i e n bestehen immer aus sehr v i e l e n Elementen, u n d z w a r aus so vielen, daß jede W a h r n e h m u n g u n d jede operative Kombination selektiv vorgehen m u ß . Formen dagegen reduzieren Größe auf das, w a s sie ordnen können. Kein M e d i u m bildet nur eine einzige F o r m , denn dadurch w ü r d e es als M e d i u m aufgesogen w e r d e n und verschwinden. Die kombinatorischen M ö g l i c h k e i t e n eines Mediums lassen sich nie ausschöpfen; u n d w e n n es zu Restriktionen k o m m t , dann deshalb, weil F o r m b i l d u n g e n sich wechselseitig stören, z u m Beispiel das eine G e r ä u s c h das andere verdrängt oder ein Unternehmen d e m a n d e r e n den Markt w e g n i m m t ; nicht aber deshalb, w e i l die L u f t oder das Geld ausgeht. Im Verhältnis von M e d i u m u n d F o r m s e t z t die rigidere F o r m sich durch, w e i l sie u n b e w e g l i c h e r ist. Die nichtgekoppelten (bzw. schwach gekoppelten) E l e m e n t e des Mediums k ö n n e n dem keinen W i d e r s t a n d entgegensetzen. Sie sind auf externe Determination geradezu angewiesen. Andererseits kann F o r m sich n u r bilden, w e n n ein Medium sich z u r Verfügung stellt u n d nur, soweit dessen Elemente sich eignen. A u c h setzt die F o r m sich, w e n n man so sagen darf, auf ihr eigenes R i s i k o durch. Es m a g ihr bekommen oder nicht, w e n n sie erscheint; u n d sie b l e i b t dem Zerfall oder, w e n n sie sich reproduzieren kann, d e r Evolution ausgesetzt.
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Innerhalb von Formen wiederholt sich diese Durchsetzungsfähigkeit der rigideren gegenüber den weicheren. Der Sand paßt sich dem Stein an u n d nicht umgekehrt. A u c h dies ist ein H i n w e i s auf die Relativität der Beziehung von M e d i u m u n d Form. Eine Ämterorganisation kann als Form gesehen w e r d e n , aber auch als M e d i u m , dem sich Interessen überlagern und einprägen. Indem w i r diese Relativität akzeptieren, gewinnen w i r einen A u s g a n g s p u n k t für evolutionstheoretische Fragestellungen; denn dann erst kann man fragen, w i e es in der physischen Evolution zu Formbildungen (Licht, Luft, etc.) kommt, die sich als Medium für distanzüberwindende Wahrnehmungen eignen, so daß entsprechende Organismen evoluieren können; oder für den Bereich der soziokulturellen Evolution: w i e Sprache, w i e Schrift, w i e alphabetisierte Schrift u n d w i e symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstehen, die ein ohne sie gar nicht mögliches Potential für Formbildung bereithalten, das ausgenutzt w e r d e n kann, sobald gesellschaftliche Bedingungen dies ermöglichen.
II Um F o r m bilden zu können, ist Kunst offensichtlich auf Primärmedien angewiesen, vor allem auf die der Optik und der A k u s t i k . Sie muß Licht u n d Luft voraussetzen können. A b e r w i e k a n n man, darüber hinausgehend, sagen, Kunst selbst sei ein M e d i u m , ein M e d i u m der Kommunikation? U n d w e n n Kunst selbst ein M e d i u m ist, w a s ist dann F o r m ? O d e r anders gefragt: Was kann man über das Verhältnis von M e d i u m u n d F o r m im Falle der Kunst ausmachen? D a m i t sind w i r bei u n s e r e m Thema. N a t ü r l i c h e r w e i s e muß man davon ausgehen, daß es ein M e d i u m schon gibt, auf das die F o r m zugreift. F ü r den Fall der Kunst w o l l e n w i r die u m g e k e h r t e These ausprobieren: daß die F o r m sich das M e d i u m erst schafft, in d e m sie sich
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ausdrückt. Sie ist dann ein »höheres M e d i u m « , ein Medium z w e i t e r Ordnung, indem sie es e r m ö g l i c h t , die Differenz v o n M e d i u m u n d Form ihrerseits m e d i a l zu verwenden, nämlich als M e d i u m der Kommunikation. Exemplifizieren w i r diese These z u n ä c h s t einmal am Falle der M u s i k . Es gibt vielerlei G e r ä u s c h e , die man automatisch auf eine Quelle zurechnet. D i e U h r tickt, das Telephon klingelt. Die Zurechnung auf O b j e k t e , die das Geräusch verursachen, dient der D i r i g i e r u n g von Anschlußerleben u n d Anschlußhandeln. Das funktioniert auch im Falle der M u s i k . M a n ärgert sich über d i e Radiomusik in N a c h b a r s Garten u n d greift z u m Telephon, um Geräusch durch Geräusch zu unterbinden. Z u s ä t z l i c h aber schafft sich die F o r m des M u s i k k u n s t w e r k s ein e i g e n e s »Woraus« der Selektion, einen R a u m sinnvoller kompositorischer Möglichkeiten, auf den die fixierte M u s i k in einer Weise zugreift, die als A u s w a h l kenntlich ist u n d andere Kompositionen nicht bindet. (Oder doch? Ist das M e d i u m knapp? Das w e r d e n w i r zu prüfen haben). A u c h w e n n die M u s i k sich mit Hilfe v o n Instrumenten gut klingende Töne schafft, kann in d i e s e m M e d i u m zunächst w i e d e r jeder Ton auf jeden folgen oder mit jedem kombiniert w e r d e n ; es sei denn, daß die F o r m des Musikstücks anders entscheidet. A u c h hier w i r d also zunächst w i e d e r durch besondere Vorkehrungen e i n M e d i u m geschaffen, in das Form sich einprägen k a n n ; auch hier lose Kopplung u n d strenge Kopplung. Infolge der Differenzierung von Komposition und Aufführung e n t w i c k e l t sich außerdem ein besonderes M e d i u m der N o t a t i o n , das zunächst nur als technisches Hilfsmittel benutzt w i r d , dann aber auch als M e d i u m für die Aufnahme graphischer Formen entdeckt w i r d , die optisch einschränken, w a s die Musik sich erlaubt. A l s Kommunikation funktioniert M u s i k nur für diejenigen, die diese Differenz von M e d i u m u n d Form nachvollziehen u n d sich über sie verständigen k ö n n e n ; nur für die,
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die den entkoppelten R a u m mithören können, in dem die M u s i k spielt; n u r für die, die mithören können, daß die M u s i k durch ihre Tonalität sehr viel m e h r Geräusche m ö g lich macht, als normalerweise zu erwarten w a r e n , und dies im H i n b l i c k auf Disziplinierung d u r c h Form. Die Kunst etabliert, mit anderen Worten, eigene Inklusionsregeln, d e nen die Differenz von M e d i u m u n d Form als Medium dient. U n d w ä h r e n d man n o r m a l e r w e i s e Geräusche als Differenz zu R u h e hört u n d dadurch auf sie aufmerksam w i r d , setzt die M u s i k diese A u f m e r k s a m k e i t schon voraus u n d z w i n g t sie z u r Beobachtung einer z w e i t e n Differenz: der v o n M e d i u m u n d Form. Es liegt auf der H a n d , daß diese A n a l y s e sich auch für sichtbare Kunst durchführen läßt. A u c h sie organisiert sich ein M e d i u m hinein in die natürliche Welt, um sich von deren Auffälligkeiten zu lösen u n d mit anderen Auffälligkeiten zu spielen. D u r c h Kunst w e r d e n neue Möglichkeiten der akustischen w i e der optischen Welt entdeckt und verfügbar gemacht, u n d das Ergebnis ist: U b e r Auflösungsstrategien lassen sich mehr M ö g l i c h k e i t e n der Ordnung von Welt gewinnen als diese ohne weiteres erscheinen läßt. A u c h für literarische Kunstwerke läßt sich schließlich das gleiche behaupten. Das P r i m ä r m e d i u m ist hier: das A l phabet. Das Alphabet läßt Kombinationen zu, die sprachlich möglich sind. Im M e d i u m der alphabetischen Schrift k a n n die Sprache ihre eigene Funktion als M e d i u m ausweiten, sie k a n n optisch zu neuen Kombinationen angeregt w e r d e n , auf die man bei der mündlichen R e d e , also a k u stisch, nicht verfallen w ü r d e . Dies gilt für jede Art von Schriftsprache, läßt sich aber nochmals steigern, w e n n Schriftsprache eingesetzt w i r d , um Kunstformen zu gewinnen. A u c h hier wiederholt sich dieselbe Regel, die kunstvolle A u s d r u c k s w e i s e prägt sich dank ihrer gebundenen Form in das M e d i u m ein. Sie macht erst eigentlich sichtbar, w i e w e i c h u n d beliebig im Vergleich dazu das normale Reden 6
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u n d Schreiben verfährt. A u c h hier also e i n Verhältnis von lockerer u n d strengerer Kopplung, das z u g l e i c h dazu ben u t z t w e r d e n kann, in der Sprache M ö g l i c h k e i t s r ä u m e zu öffnen, die sie von sich aus nicht anbietet. Diese M ö g l i c h k e i t e n sind zunächst auf G r u n d der rhythmischen B i n d u n g entdeckt w o r d e n , also in direkter Fortsetzung v o n N o t w e n d i g k e i t e n oraler K u l t u r e n . Das Alphabet ermöglicht dann aber die reflektierte Differenz von Prosa u n d Poesie. M e h r und mehr k o m m e n daraufhin neue Freiheiten der Wortwahl und der W o r t k o m b i n a t i o n hinzu, die diese Differenz wieder zurücktreten l a s s e n - bis hin zu jener Eleganz, die dadurch gewonnen w e r d e n kann, daß man das normale Wort von allen v e r w a s c h e n e n Ausweitungen der Alltagssprache befreit u n d es w i e d e r in seinem genauen U r s p r u n g s s i n n verwendet. Das literarische Kunstw e r k führt z u r Entdeckung der Sprache u n d nicht zufällig dann zu einer Verwissenschaftlichung d i e s e r Entdeckung: zu einer Sprachwissenschaft, die sich a n d e r e Ziele setzt als nur: die G r a m m a t i k zu kontrollieren.
III D i e Unterscheidung von M e d i u m u n d F o r m konkurriert mit der Unterscheidung von Entropie u n d Negentropie u n d ersetzt sie. Die Unterscheidung v o n Entropie und N e g e n t r o p i e ist der Kunsttheorie geläufig, sie steht aber v o r dem Problem (auf das in anderer W e i s e auch Prigogines Theorie dissipativer Strukturen reagiert), n u r Endzustände bzw. R i c h t u n g e n erfassen zu können, a b e r nicht Prozesse der Transformation . Fügt man die U n t e r s c h e i d u n g von M e d i u m u n d F o r m hinzu, dann k a n n m a n die Dimension, die von Entropie (Chaos) zu N e g e n t r o p i e ( O r d n u n g ) führt, als ein Steigerungsverhältnis betrachten, d a ß unter noch zu klärenden U m s t ä n d e n mehr von beiden zugleich ermöglicht. 7
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Ein B l i c k in die Geschichte der K u n s t zeigt, daß naturale M e d i e n (Wahrnehmungsmedien) z w a r i m m e r vorausgesetzt sind, aber daß die Kunst sich im L a u f e ihrer Entwicklung zusätzlich eigene Medien schafft, u n d z w a r deshalb, weil sie Unterscheidungen anbringen w i l l . D i e Kunstwerke früher H o c h k u l t u r e n zeichnen sich d u r c h ein hohes Maß an Konventionalität aus. Das heißt: das M e d i u m registriert nur rigide, an Stereotypen orientierte F o r m e n ; u n d entsprechend bleibt das M e d i u m ein normales Wahrnehmungsmedium. N u r das Sichtbare bzw. H ö r b a r e w i r d anders gestaltet, als im A l l t a g zu erwarten, z u r A u s z e i c h n u n g einer bestimmten religiösen oder politischen F u n k t i o n (oder, w i e Kulturarchäologen auch sagen, z u r H e r s t e l l u n g der »Insulation« einer bestimmten Z i v i l i s a t i o n ) . ' N u r so kann die Erkennbarkeit der Kunst als Kunst erreicht werden. Erst nach u n d nach können die A n f o r d e r u n g e n der Inklusion der Bevölkerung in einen b e s o n d e r e n Kommunikationsz u s a m m e n h a n g Kunst gesteigert w e r d e n . Die Kunst geht dazu über, gestiegenen F o r m a n s p r ü c h e n zu genügen, dafür eigene M e d i e n zu entwickeln u n d eine eigene Funktion zu übernehmen; u n d daraufhin w i r d es d a n n unvermeidlich, die Teilnahme an Kunst von nicht m e h r allgemein geteilten Voraussetzungen abhängig zu machen. Am besten verdeutlicht man dies z u n ä c h s t an einem Beispiel. Das Thema Madonna mit K i n d verändert sich in einem Prozeß, den man später als Ü b e r g a n g von romanischem zu gotischem » S t i l « b e s c h r e i b e n w i r d . Das Kind rückt aus der Mitte, wo man es z u n ä c h s t sinngemäß placiert hatte, an die Seite, wo es d e u t l i c h e r im Unterschied z u r M a d o n n a sichtbar w i r d ; es w i r d z u m Moment einer Unterscheidung. Die M a d o n n a w i r d , um das Kind so halten zu können, zu einer körperlichen A u s g l e i c h s b e w e g u n g benötigt, die die Unterscheidung verstärkt. Ihr Körper, ihr Gewand, ihr A u s d r u c k k a n n als Eigenn o t w e n d i g k e i t u n d zugleich als H i n w e i s auf andere, auf das
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Kind dargestellt werden. M i t der Wahl dieser Form wird der menschliche Körper z u m M e d i u m , n ä m l i c h zu jenem relativ elastischen Bereich v o n M ö g l i c h k e i t e n , aus dem die F o r m eine bestimmte (und keine andere) - auswählt. Die F o r m schafft sich ein kunsteigenes M e d i u m , indem sie es für die Ausdrucksabsichten benutzt. A u c h hier gilt wieder: daß sich die größere R i g i d i t ä t gegenüber d e r größeren Flexibilität durchsetzt - mit d e m R i s i k o , daß dieses Sichdurchsetzen mißlingt, kritisiert w i r d , besser gekonnt werden k a n n oder schließlich als Eigentümlichkeit eines bestimmten Stils in die Geschichte verwiesen u n d musealisiert wird. Ein anderes, moderneres Beispiel entnehmen w i r den Darstellungen der modernen Technik oder ihrer Objekte in der Kunst. Hier kann, i n d e m die H ä r t e des Natureingriffs (Eisenbahndurchstich C e z a n n e ' s ) oder die Befremdlichkeit technischer Objekte v o r A u g e n geführt u n d in der Natur kontextiert w i r d , die N a t u r selbst z u m M e d i u m werden, indem herausgestellt w i r d , daß die Technik eine ihrer (aber n u r eine ihrer) M ö g l i c h k e i t e n ist. Gegenüber der alltäglichen Primärerfahrung w i r d die N a t u r aufgelöst in Momente, die anders kombiniert sein könnten u n d eben deshalb d e m Zugriff der Technik als auch der Kunst fast (aber nicht völlig) widerstandslos ausgesetzt sind. A u f ihre Weise hat auch die neuzeitliche Wissenschaft die N a t u r als Medium des Zugriffs von Theorien entdeckt: als ein M e d i u m , das sich verschiedenen (aber nicht beliebigen) Möglichkeiten der Synthetisierung öffnet. Die Kunst ist, gerade im Blick auf ihre erfolgreiche Schwester, erpicht, es anders zu sehen u n d anders zu machen. Das legt es ihr nahe (muß aber nicht besagen), daß sie die Technik nun negativ beurteilt im Unterschied zu einer vermeintlich positiven Beurteilung durch die Wissenschaft. Schließlich kann man seit dem 19. Jahrhundert Tendenz e n beobachten, mit Hilfe von Kunst ein weiteres Medium zu konstituieren: die Gesellschaft. Da jetzt die Gesellschaft nicht mehr als Schöpfung u n d auch nicht mehr als Natur,
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sondern, wenn man so sagen darf, als ihr eigenes Machwerk aufgefaßt wird oder, wenn man an Phnungsmöglichkeiten zweifelt, als Resultat ihrer eigenen Evolution, ist es möglich, auch hier ein Medium zu entdecken. Damit kann sich die Soziologie beschäftigen, wenn sie ein Medium sucht, daß sich für methodisch kontrollierten Theorieaufbau eignet und sie als wissenschaftliches Fach konstituiert. Aber auch hier zeigt die Kunst Neigungen, sich das hohe Auflöse- und Rekombinationsvermögen gesellschaftlicher Tatsa- • chen zu eigen zu machen und ihre Darstellungen mit der Kraft ihrer eigenen Rigidität hier einzuprägen. Uber Gelingen und Mißlingen gibt es natürlich kein einheitliches Urteil; aber man könnte sich mehr als bisher mit den spezifischen Schwierigkeiten befassen, die sich aus einem solchen Kunstprogramm ergeben. Denn daß die Gesellschaft als System ihrer eigenen Operationen kein Medium ist (da sie ja nur in strukturell komplexer, selektiv kombinierter Form überhaupt aktualisiert werden kann), versteht sich von selbst. Die Frage ist dann, wie eigentlich Gesellschaft hinter die Gesellschaft projiziert werden kann, so daß die Formwahl der Gesellschaft grimassenhaft sichtbar wird; und wie das in der spezifischen Weise der Kunst geschehen kann, so daß die Auswahl als Form überzeugt, und nicht nur als Gesellschaftskritik von einem momentanen boom in »Alternativen« lebt. Die behandelten Beispiele legen es nahe, die Evolution von Kunst zu beschreiben als Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens, als Entwicklung immer neuer Medien-für-Formen. Das bedürfte natürlich sorgfältiger Untersuchungen und kann hier nur als Hypothese vorgestellt werden. Wenn es zuträfe, dann wäre die Verwendung der Gesellschaft als Medium der logische Abschluß einer solchen Entwicklung, ihr non plus ultra. Denn da die Kunst als Kommunikation selbst Vollzug von Gesellschaft ist, könnte sie sich dann auch selbst als Medium verwenden und in
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einer A r t von logischem Kurzschluß k o l l a b i e r e n . Anstrengungen in dieser Richtung, in der die K u n s t sich schließlich alles erlaubt, sind auf programmatischer Ebene unschwer auszumachen. A u c h dann bleiben freilich noch S c h r a n k e n wirksam, die in der Unvermeidlichkeit der B e n u t z u n g von Wahrnehm u n g s m e d i e n liegen: Worte, die über P a p i e r gestreut werden, müssen noch lesbar oder jedenfalls sichtbar unlesbar sein, u n d moderne M u s i k darf die G r e n z e n der Hörfähigkeit nur in dem Sinne überschreiten, d a ß eben dies Uberschreiten noch hörbar ist.
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Damit ist zugleich gesagt, daß die Kunst s o z i a l konstituierte Erwartungen muß voraussetzen k ö n n e n - etwa die, daß Schrift lesbar, M u s i k als solche hörbar, d a ß heißt von Geräuschen unterscheidbar sein müsse, oder auch einfach die: daß das, w a s man in Konzertsälen, Literaturvorlagen, Museen usw. antreffe, Kunst sei. O h n e Voraussetzung solcher Erwartungen, w i e immer sie dann b e h a n d e l t oder mißhandelt w e r d e n , könnte Kunst sich selbst n i c h t reproduzieren; sie w ü r d e in den Alltag auslaufen u n d versickern. Aber genügt die Garantie von Wahrnehmbarkeit als Kunst für die Fortsetzbarkeit von Kunst als eines s o z i a l e n Systems, für die Selbstreproduktion von Kunst, für d i e »Autopoiesis« von Kunst? U m dieser Frage nachgehen z u k ö n n e n (wir werden nicht den Anspruch haben, sie b e a n t w o r t e n zu können), m u ß man den Begriff des M e d i u m s in e i n e m zusätzlich eingeschränkten Sinne verwenden, nämlich a l s symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation. Zu diesem B e griff gelangt man, w e n n man sich vorstellt, daß die Differenz von Medium und F o r m ihrerseits als M e d i u m fungiert u n d z w a r als ein M e d i u m , das M ö g l i c h k e i t e n der Kombina-
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tion von M e d i e n u n d Formen für F o r m u n g durch Kommunikation freisetzt. Ein S o z i a l m e d i u m k o m m t nur zustande, w e n n Beteiligte beobachten k ö n n e n (oder zumindest unterstellen können, daß sie beobachten können), w a s andere Beteiligte beobachten können. Es geht also immer um ein Beobachten zweiter Ordnung, um ein Beobachten v o n Beobachtungen, u n d eben darin liegt eine C h a n c e der Ablösung von der konkreten B i n d u n g an das, w a s sich j e d e m Beteiligten unmittelbar als Beobachtung aufdrängt. M a n kann, wenn man ein Kunstwerk beobachtet, meinen, der Künstler habe etw a s gemeint, als er das K u n s t w e r k anfertigte; und man kann sehen, daß andere sehen, w a s sie meinen, daß er es gemeint haben könnte; u n d das w i e d e r u m kann den Künstler veranlassen, ü b e r seine Kunst zu reden. Kommunikation aus A n l a ß von Kunstwerken ist natürlich nur möglich, w e n n es K u n s t w e r k e gibt. Es w ä r e jedoch falsch, daraus auf eine erst dies / dann das-Beziehung zu schließen, denn auch das U m g e k e h r t e trifft zu: Es gibt Kunstwerke nur, w e n n u n d soweit mit Möglichkeiten der Kommunikation über sie gerechnet w e r d e n kann. Einmal in Gang gebracht, handelt es sich mithin um ein autopoietisches System, das sich selbst durch Herstellung von Kunstw e r k e n speist. A l s K o m m u n i k a t i o n k o m m t nicht nur R e den u n d Schreiben in Betracht, sondern auch gemeinsames Wahrnehmen, w e n n es objektzentriert aktualisiert wird. Es geht dann nicht einfach um die normale Voraussetzung des täglichen Lebens, daß andere auch sehen, w a s man selbst sieht, sondern um ein Bedeutung verleihendes Hinblicken (Hinhören), das anderen mindestens dies mitteilt: daß der Gegenstand A u f m e r k s a m k e i t verdient. Die konstruktiven Freiheiten eines solchen Sozialsystems gründen sich darauf, daß nur noch Kommunikation funktionieren m u ß u n d alles weitere in den zweiten Rang einer dafür notwendigen B e d i n g u n g versetzen wird. In der R e flexion kann dies mit T h e m e n w i e »schöner Schein« oder
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» S t a u n e n « ausgedrückt werden. Entscheidend ist eine B e dingung, die seit Parsons in einem weit ü b e r Kunst hinausreichenden Sinne als »symbolische Generalisierung« bezeichnet w i r d . Der Begriff, Generalisierung bezeichnet die Eignung des M e d i u m s , die Verschiedenartigkeit der Dinge zu überschreiten, also für Verschiedenes Aufnahmefähigkeit bereitzuhalten; u n d der Begriff des S y m b o l i s c h e n bezeichnet die Bedingung der Vereinheitlichung, die erfüllt sein m u ß , damit (für Parsons) H a n d l u n g ü b e r h a u p t und (in u n s e r e m Zusammenhang) K o m m u n i k a t i o n überhaupt Zus t a n d e k o m m e n kann. A u c h hier geht es also, wenngleich in einer etwas anderen Theoriesprache , um ein Verhältnis v o n Auflösung u n d Rekombination, um E i g n u n g für Vieles u n d Selektion von Bestimmtem, um E r m ö g l i c h u n g von u n d Angewiesenheit auf Einprägung von F o r m . Um über Kunst kommunizieren zu k ö n n e n , m u ß man mithin die Differenz von P r i m ä r m e d i u m u n d F o r m voraussetzen u n d diese Differenz selbst z u m M e d i u m machen können. M a n muß die Freiheiten erkennen u n d als Medium benutzen können, die der Künstler sich für die Formwahl schafft. K o m m u n i k a t i o n über Kunst ist n u r auf dieser Basis möglich, denn sie m u ß voraussetzen können, daß Information zu gewinnen ist, u n d das heißt: d a ß es auch anders möglich wäre. Die dadurch bedingte u n d beschränkte Kommunikation ü b e r Kunst k a n n sich zunächst an das M e d i u m halten, das die F o r m benutzt, um Unterscheidungen anbringen zu können. U n s e r Beispiel: die B e w e g u n g s m ö g l i c h k e i t e n des menschlichen Körpers, die durch Form in Stellung oder im B e w e g u n g s v o l l z u g selbst (Tanz) fixiert w e r d e n . Eine radik a l veränderte Problemlage entsteht, w e n n die Kunst die Gesellschaft, die sie mitvollzieht, als M e d i u m verwenden w i l l . D a n n ist auch die Kommunikation ü b e r Kunst in die Position eines M e d i u m s gebracht, mit der die Kunst selbst spielt. Es müßte dann der Gesellschaft schlechthin, aber auch der K o m m u n i k a t i o n über Kunst, jene S t r u k t u r unter10
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stellt w e r d e n , in der Ereignisse nicht oder k a u m zusammenhängen, massenhaft u n d nahezu beliebig auftreten u n d d e m Zugriff rigiderer Komplexe ausgesetzt sind. Das gelingt leicht (und zu leicht), indem man eine negative P r o j e k t i o n der Gesellschaft entwirft; denn Negativität hat eben diese Eigenschaft des Nichtgekoppeltseins. D i e Gesellschaft mag dann als Kontaktlosigkeit d e r Figuren, als bizarres Ensemble, als W i l l k ü r u n d Flüchtigkeit ihrer Konstellationen vorgeführt werden, u n d die F o r m dient nur dazu, diese Vorstellung ihres M e d i u m s zu präsentieren (was natürlich voraussetzt, daß sie dies kann u n d insofern als Form gelingt). Die Konsequenz w i r d dann aber sein, daß auch die Kunst selbst, sofern sie als K o m m u n i k a t i o n realisiert w e r den soll, diesem Entwurf sich fügen m u ß ; u n d sie wird sich dann über ihre Betrachter, über ihre Aussteller u n d Käufer u n d schließlich über sich selbst mokieren können. Die Auflösung kann Selbstzweck werden, das M e d i u m dient nicht mehr der Form, sondern die Form dem M e d i u m bis hin zu d e m Paradox, daß die F o r m nur noch behaupten will, sie sei ihr M e d i u m ; sie sei an sich selbst nicht interessiert. Was aber, w e n n die Gesellschaft nun das nicht mehr akzeptiert u n d jenen entropischen Zustand, in d e m sie nichts weiter als M e d i u m ist, w e d e r erzeugt noch zur Selbstbeschreibung v e r w e n d e t ? M a n kann dann z w a r zur Kenntnis nehmen, daß die Kunst eine solche Projektion anbietet; aber man m u ß zugleich erkennen, daß dies A n g e b o t der eigenen Proj e k t i o n widerspricht, da es ja voraussetzt, daß zumindest darüber in bestimmbarer Weise k o m m u n i z i e r t werden kann. Eine so ins Extrem getriebene Kunst verhält sich für den, der sie beobachtet, paradox, und sie begibt sich damit auf den schmalen Pfad, auf dem die Beschäftigung mit der Auflösung von Paradoxien fruchtbar w e r d e n kann. Eine Variante dieser Kunst, welche Gesellschaft als ihr M e d i u m betrachtet, hat in den N a c h k r i e g s d e k a d e n besondere A u f m e r k s a m k e i t gefunden: Kunstwerke werden produziert, um mit den Erwartungen zu experimentieren, die
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an Kunstwerke gerichtet w e r d e n k ö n n e n . Die Information, die das K u n s t w e r k vermitteln w i l l , liegt in der Differenz zu den Erwartungen, die an es gerichtet werden, und in dem, was es statt dessen bietet: die w e i ß e Fläche als Bild, der bewegungslose Tanz, die tonlose M u s i k - einerseits Hinweise darauf, daß die voraussetzenden Erwartungen reflektiert w e r d e n müssen u n d andererseits Neugier auf das, was sich einstellt, w e n n dieses Eliminieren von erwarteter Form als Kunst gelingt, ja ob es überhaupt gelingt. Nicht mehr die in die F o r m gebannten, möglichst reichhaltigen Unterscheidungen zählen, sondern das, w a s sich von den an dies K u n s t w e r k gerichteten Erwartungen als dessen »statt dessen« unterscheidet. Die Aufhebung der Form setzt das M e d i u m in Geltung als Frage nach dem, was an ihrer Stelle das M e d i u m bindet. U n d soweit dies ein Spiel mit kunstgerichteten Erwartungen ist, ist es auch ein Spiel mit der Gesellschaft, die diese Erwartungen hat zur Gewohnheit w e r d e n lassen.
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Da K u n s t k o m m u n i k a t i o n (= Kunst als soziales System) auf Vorlagen angewiesen ist, produziert sie selbst keine abstrakten Vorstellungen ü b e r das Ensemble ihrer Möglichkeiten. O b w o h l eingelassen in den durch die Kunst geschaffenen Kontingenzraum, benötigt die Kommunikation keinen Begriff der M e n g e der Möglichkeiten, also auch keinen Begriff für unüberschreitbare Grenzen. Sie muß Kunst u n d N i c h t k u n s t unterscheiden können, u n d sie kann dies so, w i e man H ä u s e r u n d Gärten unterscheiden kann, ohne eine Vorstellung der Gesamtheit der Möglichkeiten, Haus bzw. Garten zu sein, als Kriterium einsetzen zu müssen. M a n muß feststellen können (und sei es nur: in der Kommunikation zu Konsens bzw. Dissens führen können), ob ein Objekt eine K o m m u n i k a t i o n über Kunst ermöglicht
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oder nicht. Dazu muß man das » W o r a u s « der Selektion mitsehen u n d mitkommunizieren k ö n n e n . Aber es ist w e der nötig noch möglich, daß dieses W o r a u s als Menge bestimmt w i r d . Es genügt, daß es als M e d i u m fungiert. Die Abstraktheit dieser Ü b e r l e g u n g e n zeigt an, daß w i r uns bereits auf der Ebene des Beobachtens bzw. Beschreibens dritter Ordnung befinden, n ä m l i c h mit der Formulierung einer Theorie befaßt sind, deren Gegenstand das Beobachten von Beobachtungen ist. Da d i e s e Theorie nicht selbst als Kunstwerk in die Kunst eintritt, muß sie die A u topoiesis der Kunst voraussetzen k ö n n e n . Sie gibt auch keine »Denkanstöße«, geschweige denn R e z e p t e für die Produktion von Kunstwerken . Sie bleibt, was Kunst angeht, steril. Sie kann allenfalls im Kontext d e r Autopoiesis theoretischer Bemühungen fruchtbar w e r d e n . Erst auf dieser Ebene der kunsttheoretischen Analysen k a n n man sinnvoll die Frage stellen, ob die Kunst ihre M e dien beliebig postulieren kann oder ob die Möglichkeiten der Medienbildung begrenzt sind. D a ß Wahrnehmungsmedien nicht beliebig geschaffen w e r d e n können, daß Sichtbarkeit u n d Hörbarkeit Schranken b i l d e n , liegt auf der H a n d . Interessant w i r d die Frage im H i n b l i c k auf Gesellschaft. Die Kunst erlaubt sich, soweit sie sich auf Gesellschaft bezieht, gern einen nicht w e i t e r ausgewiesenen, teils negativen, teils utopischen U m g a n g m i t diesem Material; u n d gerade wenn sie gesellschaftliche Tatbestände »realistisch« zeichnet, versetzt die pure Verdoppelung der Realität das Objekt in den M o d u s des Gemachten, des also anders Machbaren. Anders - aber w i e ? Theoretisch kann man natürlich antworten, daß die Gesellschaft als ein Riesenbereich überschüssiger Kommunikations- u n d H a n d l u n g s m ö g l i c h k e i t e n begriffen werden kann, aus dem irgend jemand - u n d w e n n jemand, warum nicht auch die Kunst - auswählt, w a s geht . Wenn diese A u s w a h l Agenten zugerechnet w e r d e n kann w i e zum Beispiel der Bourgeoisie, den herrschenden Schichten oder der 13
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Verflechtung von Parteiideologie u n d B ü r o k r a t i e , fällt die Geste der Ablehnung relativ leicht. Sie h ä n g t dann aber an dem, w a s sie ablehnt, u n d macht sich selbst von Toleranz abhängig. Sie w i r d auf eine demonstrative Weise trotzdem gekauft u n d spekuliert darauf oder sie schlüpft auf irgendeine A r t durch die Lücken der Zensur d e s R e g i m e s . Doch w i e u n d wo findet sie ihre Gesellschaft u n d kann es ihr g e nügen, die Gesellschaft als ein konnexionsloses Medium zu sehen, als ein M e d i u m für ihre eigene F o r m ? Wenn aber die Gesellschaft w e d e r N a t u r ist noch das W e r k von Agenten; w e n n das, w a s geht, das ist was sie selbst ermöglicht; w e n n die Gesellschaft e i n autopoietisches S y s t e m der Selbstselektion ist, das a u c h die in Position bringt, die glauben, beeinflussen zu k ö n n e n , w a s geschieht; w e n n es also gar nicht sinnvoll ist, A b l e h n u n g zu fokussieren, w e i l dies nur den Durchgriff aufs M e d i u m versperren w ü r d e ; u n d w e n n die Kunst sich n u r in d e r Gesellschaft bew e g e n kann und sich nur in der Gesellschaft eine fiktionale Realität bilden läßt, die sich gegen die Gesellschaft wenden läßt: w a s w ä r e dann M e d i u m u n d w a s w ä r e Form? Es gibt weder eine prognostische noch eine rezeptmäßige A n t w o r t auf diese Frage. Im D u k t u s d e r vorstehenden Ü b e r l e g u n g e n liegt es jedoch nahe, zu antworten, daß nur die F o r m bestimmen kann, w a s für sie e i n M e d i u m ist, und daß die Auflösung nicht w e i t ü b e r das hinausgehen kann, w a s w i e d e r Gestalt gewinnen kann. Die Kunst muß sich, mit anderen Worten, der F o r m bedienen, wenn sie zeigen w i l l , w i e weit sich etwas auflösen u n d rekombinieren läßt, so w i e sie Form nur gewinnen kann, w e n n sie ein entkoppeltes M e d i u m voraussetzt. Die Differenz von Medium u n d F o r m kann ins U n w a h r s c h e i n l i c h e getrieben werden aber nur in den Grenzen, in denen die Kommunikation der F o r m noch gelingt. 15
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Anmerkungen 1 Vgl. Fritz Heider, Ding und Medium, Symposion 1 (1926), S. 1 0 9 - 1 5 7 ; engl. Übersetzung Thing and Medium, Psychological Issues 1, 3 (1959), S. 1-34. 2 Vgl. Karl Weick, Der Prozeß des Organisierens, dt. Übersetzung Frankfurt 1985, insb. S. 269ff. 3 Man vergleiche in der Kritik der reinen Vernunft die später eingefügte »Widerlegung des Idealismus« (B 274 ff.) mit der »transzendentalen Ästhetik« (B 33 ff.). 4 Im Unterschied zur Evolutionstheorie v o n Spencer (vgl. ins. Herbert Spencer, First Principles, zit. nach der 5. Aufl. London 1887, S. 278 ff.) geht es hier also nicht um eine Abfolge, um eine Bewegung von diffusion (Auflösung in unzusammenhängende Teile) zu concentration und integration, sondern um eine evolutionäre Steigerung der Interdependenz v o n beiden Möglichkeiten: Auflösung und Rekombination. 5 A . a . O., S. 116. 6 Daß das Alphabet in erheblichem Umfange auch die Sprache selbst beeinflußt, zum Beispiel eigens für Schrift erfundene neue Worte ermöglicht, aber auch klarere syntaktische Strukturen erfordert, kann heute als gesicherte Erkenntnis gelten. Vgl. nur Eric A. Havelock, The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences, Princeton 1982. 7 Dies bemerkt auch Rudolf Amheim, Entropy and Art: An Essay on Order and Disorder, Berkeley 1 9 7 1 , S. 26 ff. 8 Entsprechend hat auch die Kybernetik sich entwickelt von einem order from noise principle zu einem order from order and disorder principle. Vgl. Heinz von Foerster, Über selbst-organisierende Systeme und ihre Umwelten, in: ders., Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig 1985, S. 1 1 5 - 1 3 0 . 9 Siehe etwa Colin Renfrew. The Emergence of Civilisation: The Cyclades and the Aegean in the Third Milenium B. C, London 1972, S. 3 ff. 10 Für die von Parsons zuletzt vorgelegten Formulierungen siehe Social Structure and the Symbolic Media of Interchange, in: Talcott Parsons, Social Systems and the Evolution of Action Theory, New York 1977, S. 2 0 4 - 2 2 8 , und: A Paradigm of the Human Condition, in: ders., Actions Theory arid the Human Condition, New York 1978, S. 352-433 (392 ff.).
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11 Mir ist nicht bekannt, ob Parsons den Begriff des Mediums, wie Heider ihn verwendet, gekannt hat. Jedenfalls lassen sich in den Schriften von Parsons keine Bemühungen um eine begriffliche Angleichung erkennen. Wir müssen also einen eigenen Versuch unternehmen. 12 Richard Kostelanetz nennt das, wenig glücklich, Inferential Art, weil das Kunstwerk nicht mehr im Bereich der wahrnehmbaren Form seine Aussage, seine Beteiligung an Kommunikation sucht, sondern in der Mitteilung seiner Absicht auf Schlußfolgerungen (statt auf Sehgewohnheiten, Hörgewohnheiten wie immer anspruchsvoller Art) angewiesen ist. Vgl. Inferential Art, Columbia Forum 12 (1969), S. 1 9 - 2 6 . Im Text geben wir eine etwas andere Interpretation. 13 Anders noch die Hoffnungen der älteren kybernetischen Ästhetik. Siehe nur Herbert W. Franke, Phänomen Kunst: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Ästhetik, München 1967, S. 110. 14 Für einfache Gesellschaften ist ein solcher Ansatz besonders leicht einsichtig zu machen. Siehe nur Elisabeth Colson, The Redundancy of Actors, in: Fredrick Barth (Hrsg.), Scale and Social Organization, Oslo 1978, S. 1 5 0 - 1 6 2 . 15 Im Nachwort eines Vertreters der Gesellschaft zu Holger Teschke, Bäume am Hochufer: Gedichte 1 9 7 5 - 1 9 8 4 , Berlin-Weimar 1 9 8 5 , heißt es: »Da haben wir uns alle Mühe gegeben: Total andere Besitzverhältnisse, brandneue Gesellschaftsordnung, ganz neuer Staat. Der (das heißt: der Verfasser, NT. L.) ist bei uns geboren, in unsere Schule gegangen, war in unserer Armee und studiert jetzt . . . Der hat Frau und Kind und Wohnung in der Deutschen Demokratischen Republik und w i l l das alles behalten! Er macht, was wir ihm sagen, genießt unser Wohlwollen und unsere Förderung ... Will die Welt nicht, wie sie ist, will sie nicht wie wir, sondern besser, fuhrwerkt in der Vergangenheit herum, um nach einer Zukunft zu suchen, w i l l nichts mehr glauben, sondern alles wissen. Da haben wir uns etwas herangezogen«. Und trotzdem wird es gebilligt und gedruckt!
Erkenntnis als Konstruktion
Es ist eine alte Kommunikationstechnik für unbeweisbare oder schwer beweisbare Behauptungen: die Behauptung k o m m u n i k a t i v zu verstärken. So findet man in der Endphase der lateinischen Rhetorik von der Tugend zu wahrer Tugend, so verlangt man von der Politik heute echte Reformen. So findet man in Läden heute naturreine Früchte angeboten. U n d die letzte M o d e in d e r Erkenntnistheorie heißt » r a d i k a l e r Konstruktivismus«. Je mehr solche Verstärker hinzugesetzt werden, um so mehr sind Zweifel angebracht. Je mehr der Konstruktivismus sich im Unterschied zu anderen Erkenntnistheorien als »radikal« behauptet, desto mehr kann man deshalb zweifeln, ob nun diese Theorie (erstmals) das Problem der Erkenntnis gelöst hat, u n d sogar: ob sie wenigstens ihre Hausaufgaben ordentlich gemacht hat. Wer sich an das erinnert, was Kant (mit Bezug auf Descartes) »problematischen Idealism u s « genannt hat , w i r d nicht so leicht erkennen, was denn der radikale Konstruktivismus an prinzipiell N e u e m zu sagen hat. M a n versteht, w i e es zu der Selbstbezeichnung als radikal k o m m t ; denn in der Tat gibt es schwächliche, unentschlossene J a / A b er-Aus gaben von Konstruktivismus. M a n nimmt alle A r g u m e n t e , die in diese Richtung zu führen scheinen, z u r Kenntnis, sagt dann aber, ganz so hart sollte man sich nicht ausdrücken, ausschließlich konstruktiv k ö n n e die Erkenntnis nicht verstanden werden, denn schließlich müsse doch irgendeine Beziehung z u r Realität vorausgesetzt w e r den können . Bekanntlich hatte schon Kant in die zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft einen entsprechenden R ü c k z i e her eingefügt, der die in der transzendentalen Ästhetik erreichte Position w e n n nicht aufgibt, so doch auf unklare 1
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Weise w i e d e r abschwächt. Rückzieher dieser Art sind j e doch w e n i g überzeugend, sind nur S y m p t o m e für eine unzureichend erfaßte Problematik. M a n könnte daraufhin die A k t e n schließen. Wenn die Erkenntnistheorie keine Problemlösungen anbieten kann, hat sie auch keine Probleme mehr. Sie k a n n sich dann für glücklich erklären oder sich mit empirischen Forschungen beschäftigen. Die Frage ist, ob der Sachstand diesen R ü c k z u g erzwingt. Wenn m a n darauf achtet, w i e das Problem der Erkenntnistheorie formuliert ist, kann man in der Tat eine Radikalisierung erkennen. In der Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus ging es um die Frage der Einheit in der Differenz von Erkenntnis u n d Realgegenstand. Die Frage lautete: w i e kann die Erkenntnis einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst feststellen? Oder: w i e kann sie feststellen, daß etwas unabhängig von ihr existiert, wo doch alles, was immer sie feststellt, schon Erkenntnisleistungen voraussetzt und gar nicht unabhängig von Erkenntnis (das w ä r e ein Selbstwiderspruch) durch Erkenntnis feststellbar ist? Ob man nun transzendentaltheoretische oder dialektische Problemlösungen bevorzugte, das Problem lautete: w i e ist Erkenntnis möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang z u r Realität außer ihr hat. Der radikale Konstruktivismus beginnt dagegen mit der empirischen Feststellung: Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat. Ein Gehirn beispielsweise kann nur Information erzeugen, weil es umweltindifferent codiert ist, d. h. im rekursiven N e t z w e r k der eigenen Operationen eingeschlossen operiert. Ebenso müßte man sagen: Kommunikationssysteme (soziale Systeme) können nur deshalb Informationen erzeugen, weil die U m w e l t nicht dazwischenredet. U n d nach all dem dürfte sich dasselbe auch für den klassischen » S i t z « (Subjekt) der Erkenntnistheorie von selbst verstehen: für das Bewußtsein. Offenbar sehen die radikalen Konstraktivisten diesen Schritt von » o b w o h l unmöglich« zu » w e i l unmöglich« als 4
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Erkenntnis als Konstruktion
eine befreiende Radikalisierung, mit d e r man zweitausend J a h r e u n n ü t z e Reflexion abhängen k a n n . An der Bedeutung dieses Schrittes von obwohl zu weil will ich nicht zweifeln, ebensowenig w i e an der N o t w e n d i g k e i t der N e u fundierung der Erkenntnistheorie. M a n möchte aber genauer wissen, w a s w i r mit diesem S c h r i t t v o m obwohl z u m weil gewinnen; und hier stehen w i r e r s t am Anfang einer n u r in vagen Umrissen absehbaren E n t w i c k l u n g . Einen Neuheitseffekt könnte der Konstruktivismus erzielen, w e n n er der Frage nachginge, w i e Abkopplung (mit anderen Worten: Indifferenz, S c h l i e ß u n g usw.) möglich ist. Die Subjekttheorie der Erkenntnis h a t t e es nie zu dieser Frage gebracht, w e i l sie immer mit d e r paradoxen Forderung zu ringen hatte, durch Introspektion herauszubekommen, w i e andere sich zur Welt v e r h a l t e n . Sie konnte k o n zedieren, daß es keinen direkten Z u g a n g z u m Erleben anderer Subjekte gibt; aber zumindest s o l l t e durch Rückgang auf das F a k t u m des eigenen B e w u ß t s e i n s herauszubekommen sein, nach welchen Prinzipien s i c h im anderen die Gegenstände der Welt ordnen. Die Subjekttheorie mußte dabei eine gemeinsame, zumindest e i n e gemeinsam beobachtbare Welt voraussetzen u n d w a r d a d u r c h gehindert, die Abkopplung je eines erkennenden S y s t e m s als Bedingung der Erkenntnis zu denken. A b e r auch d e r Übergang zu einer Objekttheorie der Erkenntnis hilft n i c h t (mag er das erkennende Objekt nun physikalisch, b i o l o g i s c h , psychologisch oder soziologisch beschreiben). Er gelingt nicht, weil die R e d u k t i o n der Beschreibung auf V o r g ä n g e des beschriebenen Objekts w i e d e r u m das P r o b l e m der Abkopplung überspringt. W i r schlagen daher vor, d i e Unterscheidung von » S u b j e k t « und » O b j e k t « zu e r s e t z e n durch die Unterscheidung v o n » S y s t e m « u n d » U m w e l t « . Diese Unterscheidung bleibt bei klassischen P r o b l e m s t e l l u n g e n insofern, als sie v o n einer Differenz ausgeht u n d d e r e n eine Seite in die andere wiedereintreten läßt. Sie ü b e r h o l t klassische P r o blemstellungen, w e i l sie sowohl die Subjekttheorie als auch 5
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die Objekttheorie revidiert. Sie kann d i e Frage nach der Abkopplung durch Schließung als Frage n a c h der Ausdifferenzierung von Systemen stellen, u n d sie k a n n die Prämisse einer gemeinsamen Welt ersetzen durch eine Theorie der Beobachtung beobachtender S y s t e m e (second Order cybernetics). W i r gehen davon aus, daß alle e r k e n n e n d e n Systeme reale Systeme in einer realen U m w e l t sind, m i t anderen Worten: daß es sie gibt. Das ist naiv, so w i r d oft eingewandt. A b e r w i e anders als naiv soll, m a n a n f a n g e n ? Eine Reflexion des Anfangs kann nicht vor dem A n f a n g durchgeführt w e r d e n , sondern erst mit Hilfe einer T h e o r i e , die bereits hinreichende Komplexität aufgebaut hat. Die Frage, w i e Systeme in einer U m w e l t Erkenntnis zustande bringen, k a n n dann reformuliert w e r d e n in die Frage, w i e Systeme sich von ihrer U m w e l t a b k o p p e l n können, oder mit H e i n z von Foerster: w i e Schließung durch Einschließung möglich ist. Diese Frage a u c h nur zu stellen, heißt: sehr scharfe Beschränkungen, also hochselektive Bedingungen eines solchen Vorgangs zu v e r m u t e n . Die Selbstisolierung eines erkennenden Systems - einer Zelle, eines I m m u n s y s t e m s , eines Gehirns, eines B e w u ß t s e i n s , eines Kommunikationssystems - führt gerade n i c h t in die Beliebigkeit der dadurch ermöglichten Operationen. Das Gegenteil trifft zu. J e d e r Beobachter eines sich zur Erkenntnis abschließenden Systems k a n n scharfe Beschränkungen des daraufhin M ö g l i c h e n erkennen. Ü b e r h a u p t gibt es in der R e a l w e l t keine Beliebigkeit. Die U n t e r s t e l l u n g von Willkür heißt vielmehr immer: beobachte das S y s t e m , d e m Du Willk ü r ansinnst; u n d dann w i r s t Du sehen, d a ß Deine Vermut u n g nicht zutrifft. Belieben ist, so gesehen, also nichts anderes als ein Begriff für die Weisung: beobachte den Beobachter. Denn: w i e ist Schließung m ö g l i c h ? D o c h nur dadurch, d a ß ein System eigene Operationen produziert und im N e t z w e r k ihrer rekursiven Vor- u n d Rückgriffe reprodu8
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ziert. Der Vorgang selbst erzeugt die Differenz von System und U m w e l t . M a t u r a n a hat das » A u t o p o i e s i s « genannt; aber auch Lyotard k o m m t von der L i n g u i s t i k her mit Begriffen w i e » p h r a s e « , » e n c h a m e m e n t « , »differend« zum gleichen Ergebnis." Die Systemtheorie ermöglicht es allerdings, das Ergebnis besonders einleuchtend zu formulieren: Kein System kann außerhalb seiner eigenen Grenzen operieren, auch ein erkennendes System nicht. Diese Überlegungen lassen noch offen, ob man a l l e Operationen autopoietischer Systeme » E r k e n n e n « (Cognition) nennen will oder nur solche besonderer Art, die d a n n genauer zu bestimmen wäre. M a t u r a n a optiert für Kongruenz mit der Maßgabe, daß über den Begriff der Kognition mitberücksichtigt wird, daß die Autopoiesis, w e n n g l e i c h blind, in einem Interaktionsbereich vollzogen w i r d . Davon wird ein Begriff des Beobachters unterschieden, der durch die Verfügung über Sprache definiert w i r d . Ich möchte dagegen den Begriff des Erkennens enger fassen und dabei von einem Begriff des Beobachtens ausgehen, für den die Begriffe des Unterscheidens u n d Bezeichnens d i e Definitionsgrundlage bieten. Es w i r d im folgenden erkennbar werden, was auf diesem Wege erreicht w e r d e n soll. Erkenntnis w i r d demnach durch Operationen des Beobachtens und des Aufzeichnens von Beobachtungen (Beschreiben) angefertigt. Das schließt Beobachten von Beobachtungen und Beschreiben von Beschreibungen ein. Beobachten findet immer dann statt, w e n n etwas unterschieden und, in Abhängigkeit von der Unterscheidung, bezeichnet w i r d . Der Begriff ist indifferent gegen die Form der A u t o poiesis des Systems, also indifferent dagegen, ob als Operatiohsform Leben oder Bewußtsein o d e r Kommunikation benutzt wird. Er ist auch indifferent gegen die Form der Aufzeichnung (Gedächtnis). Es kann sich um biochemische Fixierungen, es kann sich auch um schriftlich fixierte Texte handeln. Immer m u ß aber das Beobachten und Beschreiben selbst eine autopoietisch mögliche Operation sein, also Le12
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bensvollzug oder aktuelles Bewußtsein o d e r Kommunikation, denn sonst w ü r d e sie nicht die Geschlossenheit und Differenz des erkennenden Systems r e p r o d u z i e r e n , also nicht » i n « d e m System stattfinden. Der Begriff fordert aber nicht, daß alle Operationen des entsprechenden Systems beobachtende/beschreibende O p e r a t i o n e n sind; und erfordert auch nicht, daß die Operationen, d i e es sind, nur als solche beobachtet w e r d e n können. M i t dieser Begriffsfassung, die das Spezifische des Erkennens im Unterscheiden u n d im dadurch ermöglichten/erz w u n g e n e n Bezeichnen sieht, ist zugleich festgelegt, wie die A b k o p p l u n g von der U m w e l t u n d damit die Geschlossenheit erkennender Systeme verstanden w e r d e n muß. Erkenntnis ist anders als die U m w e l t , w e i l d i e U m w e l t keine Unterscheidungen enthält, sondern einfach ist, w i e sie ist. D i e U m w e l t enthält, mit anderen W o r t e n , kein Anderssein u n d keine Möglichkeiten. Sie geschieht, w i e sie geschieht. Ein Beobachter mag feststellen, daß es in d e r U m w e l t andere Beobachter gibt. A b e r er kann dies n u r feststellen, wenn er diese Beobachter unterscheidet von d e m , w a s sie beobachten; oder unterscheidet von U m w e l t g e s c h e h n i s s e n , die er nicht als Beobachten bezeichnet. M i t anderen Worten: A l l e s Beobachtbare ist Eigenleistung des Beobachters, eingeschlossen das Beobachten von B e o b a c h t e r n . A l s o gibt es in der U m w e l t nichts, w a s der Erkenntnis entspricht; denn alles, w a s der Erkenntnis entspricht, ist abhängig von Unterscheidungen, innerhalb d e r e r sie etwas als dies u n d nicht das bezeichnet. In der U m w e l t gibt es daher auch w e d e r Dinge noch Ereignisse, w e n n mit diesem Begriff bezeichnet sein soll, daß das, w a s so bezeichnet ist, anders ist als anderes. Nicht einmal U m w e l t gibt es in der U m w e l t , da dieser Begriff ja nur in der U n t e r s c h e i d u n g von einem S y s t e m etwas bezeichnet, also v e r l a n g t , daß man angibt, für welches S y s t e m die U m w e l t eine U m w e l t ist. Und ebensowenig gibt es, w e n n man von Erkenntnis absieht, Systeme. (Deshalb haben w i r oben gesagt, es gibt Systeme.)
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Die Unterscheidung von System und U m w e l t ist selbst eine erkenntnisleitende Operation. Dieser Überlegungsgang erlaubt keinen Schluß auf die Nichtrealität der U m w e l t . Er erlaubt auch nicht den Schluß, daß es außerhalb des erkennenden Systems nichts gibt. Ein solcher Schluß w ä r e z w a r Erkenntnis, da er auf der Unterscheidung von »nichts« und » e t w a s « beruht, also, traditionell gesprochen, »nichts« als » n o m e n « verwendet. A b e r auch er beruhte, eben als Erkenntnis, auf einem Verzicht auf Entsprechung zur Realität. Bezeichnungen w i e » R e a l i t ä t « (Materie, ultimate reality) oder Welt beruhen für die Erkenntnis ihrerseits auf Unterscheidungen. Sie formulieren die Einheit des durch eine Unterscheidung Unterschiedenen - w e n n man so will: ihren Geist. Selbst sie entsprechen also der Geschlossenheit des erkennenden S y s t e m s , w e i l auch sie nur mit Hilfe einer Unterscheidung zu gewinnen sind - in unserem Falle der Unterscheidung v o n S y s t e m und U m w e l t . Es ist nur eine andere Bezeichnung für denselben Sachverhalt, w e n n w i r sagen, die Unterscheidung, mit der ein erkennendes S y s t e m jeweils beobachtet, sei ihr »blinder Fleck« oder ihre latente Struktur. Denn diese Unterscheidung kann nicht ihrerseits unterschieden werden; sonst w ü r d e eine andere, eben diese, als Leitunterscheidung verwendet werden u n d dies seinerseits blind. U n d wieder dasselbe ist gemeint, w e n n man sagt, daß alles Beobachten eine Grenzziehung, einen Schnitt durch die Welt, eine Verletz u n g des » u n m a r k e d space« voraussetzt und erzeugt. Eine operative Erkenntnistheorie betrachtet Erkennen als eine A r t von Operation, die sie von anderen Operationen unterscheiden kann. A l s Operation gesehen geschieht Erkennen oder es geschieht nicht, je nachdem, ob die A u topoiesis des S y s t e m s mit einer solchen Operation fortgesetzt werden k a n n oder nicht. Die wichtigste Konsequenz dieses Ansatzes ist: daß es hierfür keinen Unterschied ausmacht, ob das Erkennen Wahrheit produziert oder Irrtü14
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mer. Offensichtlich ist in beiden Fällen die P h y s i k , die Biochemie u n d die N e u r o p h y s i o l o g i e des Erkennens dieselbe. W i r haben für Irrtümer nicht andere Gehirne oder Gehirnteile als für Wahrheiten. A b e r auch für b e w u ß t e und für k o m m u n i k a t i v e Erkenntnisoperationen gilt dasselbe. Weder Bewußtseinssysteme noch Kommunikationssysteme sind entlang der Trennlinie w a h r / u n w a h r empirisch gespalten. Dieselbe A r t von Aufmerksamkeit und dieselbe A r t von Sprache w i r d für beide Wahrheitswerte in Anspruch genommen. N u r so ist erklärbar, daß Irrtümer überhaupt irrig als Wahrheiten erscheinen u n d daß das Problem in der Eliminierung von Irrtümern liegt. Das autopoietische S y stem operiert in bezug auf w a h r / u n w a h r zunächst indifferent, u n d eben das macht es möglich und nötig, einen entsprechenden binären C o d e zu oktroyieren. A b e r w e r oder was oktroyiert? A l l e s Unterscheiden, also auch das von w a h r u n d unwahr, ist Leistung eines Beobachters (denn w i r definieren Beobachten als unterscheidendes Bezeichnen). A u c h Beobachten ist Operieren u n d als solches unfähig, sich selbst zu unterscheiden. (Wenn ein Beobachter mit der Unterscheidung w a h r / u n w a h r hantiert, kann er nicht zugleich unterscheiden, ob dieses Operieren selbst w a h r oder u n w a h r ist.) Der viel diskutierte Unterschied der Sätze »A ist« u n d »Es ist wahr, daß A ist« k o m m t also durch eine Beobachtung der Erkenntnisoperation, also eine Beobachtung des Beobachtens zustande, w o b e i die primäre Beobachtung n u r » A « von anderem unterscheidet. L o g i k e r mögen sich hier genötigt sehen, Ebenen zu unterscheiden. Das führt aber nur zurück in die Paradoxie eben dieser Unterscheidung. Empirische Erkenntnistheorien m ü ß t e n statt dessen fragen, w i e erkennende Systeme eine entsprechende Selbstbeobachtung organisieren, also die laufend produzierten Irrtümer unterscheiden u n d neutralisieren können. Auf diese Frage antwortet der Begriff 15
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Es gibt natürlich viele M ö g l i c h k e i t e n , S y s t e m e mit der Fähigkeit z u r Selbstbeobachtung auszustatten. Das Sozials y s t e m Wissenschaft z u m Beispiel beobachtet sich nicht n u r unter d e m C o d e wahr/unwahr, sondern auch, ja vielleicht vorherrschend, unter d e m Zweitcode der Reputation. A u f der Ebene der Erkenntnistheorie, d a s heißt beim Beobachten u n d Beschreiben von Systemen, die ihr Beobachten beobachten, muß man nach all dem verschiedene Unterscheidungen unterscheiden können, n ä m l i c h (1) die Unterscheidung von Operationen u n d Beobachtung, w o b e i die Beobachtung eine O p e r a t i o n besonderer A r t ist, u n d z w a r die Operation des Unterscheidens, w a s die Unterscheidung von Operation u n d Beobachtung zirk u l ä r w e r d e n läßt (aber w i r halten sie ja auch nur auf der Ebene (!) der Kybernetik zweiter O r d n u n g für nötig); (2) die Unterscheidung der Systemreferenz (System und U m w e l t ) des Beobachters erster O r d n u n g von der Systemreferenz ( S y s t e m und U m w e l t ) des Beobachters zweiter O r d n u n g , die durch einen Beobachter dritter Ordnung getroffen w e r d e n m ü ß t e ; (3) die Unterscheidung von Fremdbeobachtung u n d Selbstbeobachtung, w a s die Unterscheidung von System u n d U m w e l t voraussetzt; (4) die Unterscheidung, ob die Beobachtung des Beobachtens auf das zielt, w a s der beobachtete Beobachter beobachtet (womit er sich beschäftigt) oder auf das, was er nicht beobachten kann (seine U n t e r s c h e i d u n g ) ; u n d schließlich (5) die Unterscheidung des binären C o d e s w a h r / u n w a h r von anderen F o r m e n der Selbst- bzw. Fremdbeobachtung. 17
N u r eine Erkenntnistheorie, die alle diese Unterscheid u n g e n berücksichtigt, sie aufeinander bezieht u n d die dabei anfallenden Paradoxien auflöst, sollte das Recht haben, sich als »konstruktivistisch« zu bezeichnen; denn nur sie
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stellt sich konsequent d e m Gebot, alles, w a s als Erkenntnis produziert u n d reproduziert w i r d , auf d i e Unterscheidung von Unterscheidungen (im U n t e r s c h i e d zu: auf einen » G r u n d « ) zurückzuführen. Solange die Erkenntnistheorie einen biologischen oder einen psychologischen Erkenntnisbegriff verwendet, solange sie sich also auf die Autopoiesis des Lebens oder auf die Autopoiesis des Bewußtseins bezieht, um zu begründen, daß Erkenntnis möglich ist, solange kann sie für sich selbst den Status eines externen Beobachters reklamieren. Sie muß nur zugestehen, daß sie ihrerseits denselben physisch/chemisch/biologisch/psychologischen Bedingungen unterliegt w i e das Erkennen, das sie beobachtet. Dies ändert sich mit einem soziologischen Begriff der Erkenntnis; denn es gibt nur eine Gesellschaft, nur ein umfassendes S y s t e m der Autopoiesis v o n Kommunikation. So w i r d der Erkenntnistheoretiker selbst Ratte im L a byrinth und muß reflektieren, von w e l c h e m Platz aus er die anderen Ratten beobachtet. Dann führt die Reflexion nicht mehr nur auf die Gemeinsamkeit der Bedingungen, sondern darüber hinaus auch auf die Einheit des Systems der Erkenntnis; und alle »Externalisierung« m u ß als Systemdifferenzierung begründet werden. Erst die Soziologie der Erkenntnis ermöglicht einen radikalen, sich selbst einschließenden Konstruktivismus. A u c h wenn der Konstruktivismus so weit getrieben w i r d , bleibt er eine empirische Theorie. M a n kann daher die Frage stellen, w e s h a l b er uns als » r a d i k a l « erscheint. Dies läßt sich nur historisch erklären. Keine Erkenntnistheorie der Tradition (Hegels Logik bedürfte einer besonderen Betrachtung) hat sich so weit vorw a g e n können, u n d offenbar deshalb nicht, weil der Platz, an dem von Unterschiedenheit zu handeln wäre, durch die Theologie besetzt war. Um das zu sehen, genügt es, N i k o l a u s von Kues zu lesen. Gott steht jenseits aller Unterscheidungen, selbst jenseits der Unterscheidung von Unterscheidungen u n d der von
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Unterschiedenheit und Nichtunterschiedenheit. Er ist das non-aliud, das, w a s nicht anders ist als etwas anderes. In i h m fällt alles, w a s das Unterscheiden transzendiert, insofern, als es das tut, zusammen - also d a s , w a s nicht größer, u n d das, w a s nicht kleiner, das, w a s n i c h t schneller und das, w a s nicht langsamer gedacht werden k a n n (coincidentia opp o s i t o r u m ) . A b e r das, w a s damit bezeichnet sein soll, ohne unterschieden w e r d e n zu können, muß m i t der Gotteslehre der christlichen D o g m a t i k ü b e r e i n k o m m e n . Es muß als Person u n d als Dreieinigkeit ausweisbar sein, u n d es ist z u gleich (unterschiedslos) das eben d e s h a l b » g e h e i m e « Wesen der Dinge. Die Erkenntnistheorie hat d a n n vorauszusetzen, daß die Dinge, o b z w a r im Wesen unerkennbar, als »contractio« Gottes u n d damit als unterscheidbar geschaffen sind, daß Gott sich auf diese Weise in s e i n e r Unerkennbarkeit erkennbar macht u n d daß die Wahrheit, obwohl letztlich unerkennbar, für Menschen in d e r Ubereinstimmung ihrer Unterscheidungen mit denen der D i n g e besteht. Wollte man gleichwohl die mit Schriftzeugnissen belegbare Aussicht auf die Seligkeit (beatitudo) der visio Dei bew a h r e n u n d zugleich auf der Unterschiedenheit Gottes u n d folglich auf dem divinam essentiam p e r se incomprehensibilem e s s e bestehen, mußte man die Beobachtungsmöglichkeiten in Gott retten, und z w a r einerseits sich davor hüten, Gott Selbstbeobachtungsunfähigkeit zuzuschreiben, u n d andererseits es vermeiden, in die N ä h e des Teufels als d e m kühnsten Beobachter Gottes zu geraten. Dies erforderte hohes Geschick der Theologie auf der Ebene der second order cybernetics, also im Beobachten v o n Beobachtern - seien es die electi, sei es der Teufel, sei es schließlich Gott selber. Der A u s w e g geriet dann in eine fatale Nähe zu der A n n a h m e , Gott benötige die Schöpfung u n d die Verd a m m u n g des Teufels, um sich selber beobachten zu können, u n d führte zu Schriften, von d e n e n N i k o l a u s meinte, daß unvorbereitete Geister mit ihren s c h w a c h e n Augen sie lieber nicht lesen sollten. 19
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Der Partner für den radikalen Konstruktivismus ist demnach nicht die Erkenntnistheorie der Tradition, sondern ihre Theologie (und zwar eine Theologie, d i e wegen ihrer A n sprüche an Genauigkeit über das h i n a u s g i n g , w a s die Theologie verkraften konnte). M a n sieht dann leicht, daß man das Unterscheiden der Unterscheidungen, m i t denen die Beobachter arbeiten und die im Beobachten d e r Beobachter zu beobachten sind, noch zu unterscheiden h a t von dem Nichtunterschiedenen, das damals Gott hieß u n d heute, wenn man System u n d U m w e l t unterscheidet, We/j, oder wenn m a n Gegenstand und Erkenntnis unterscheidet, Realität. M a n w i r d nunmehr wissen w o l l e n , w i e Unterscheiden u n d Bezeichnen als eine einheitliche, aber zweikomponentige Operation möglich ist. Damit k o m m t m a n auf die bereits v o r w e g g e n o m m e n e Einsicht, daß stark einschränkende Bedingungen m i t w i r k e n müssen. V e r m u t l i c h spielt, jedenfalls im Bereich sinnhafter Operationen des Bewußtseins und der Kommunikation, eine R o l l e , daß es g e r a d e noch möglich ist, eine Zweiheit als Einheit im B l i c k zu halten; oder anders gesagt: Kontraste zu sehen. A u ß e r d e m w i r d man Zeit in Betracht ziehen müssen u n d d a n n feststellen können, daß hinreichend komplexe S y s t e m e ( u n d nur solche) in der L a g e sind, kleine Unterschiede (z. B. Ü b e r g ä n g e , die bei oszillierenden Eigenbewegungen auffallen) zu großen Wirk u n g e n zu steigern mit Hilfe von P r o z e s s e n , die man als Abweichungsverstärkung oder mit e i n e m Sprachgebrauch der Sprachforschung als H y p e r k o r r e k t i o n bezeichnen kann. A u c h dies setzt selbstverständlich A b k o p p l u n g des Systems voraus, nämlich eine Eigenzeit für eigene Operationen bei unbezweifelbar gleichzeitig gegebener U m w e l t . Das w i e d e r u m verweist auf das Erfordernis von Gedächtnis, nämlich einerseits auf eine laufende Konsistenzprüfung unter A k t i v i e r u n g von jeweils einschlägigen Strukturen; und andererseits auf ein Beobachtungsschema, d a s anfallende Inkonsistenzen als räumliche bzw. zeitliche Unterschiede interpretiert u n d dadurch auseinanderzieht.
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Auf diesem Wege k o m m e n w i r j e d o c h ersichtlich nur zu einer immer weiteren Spezifikation der evolutionären U n wahrscheinlichkeit, aber M ö g l i c h k e i t erkennender Systeme. W i r w ü r d e n auch sagen können, daß es einen, und vielleicht welchen Unterschied es macht, ob die Diskriminierfähigkeit des Erkennens in ihrer A u t o p o i e s i s biochemisch, psychisch oder kommunikativ fundiert ist. Wir wollen solche Forschungsprogramme hier jedoch n i c h t weiter verfolgen; denn sie w ü r d e n nichts mehr b e i t r a g e n zu einer Klär u n g der Differenz von Erkenntnis u n d Gegenstand. W r erfahren auf diesem Wege etwas ü b e r die Realität der erkennenden Operationen, aber nichts über die Realität dessen, w a s sie außer sich als U n b e k a n n t e s und Unerkennbares voraussetzen müssen. In der bereits zitierten » W i d e r l e g u n g d e s Idealismus« benutzt Kant ein Zeitargument. Offenbar präsentiert die U m w e l t etwas, w a s im Kontrast zu den b e w e g l i c h e n Operationen als beharrlich erscheint, also ein Zurückkehren, ein Wiederholen etc. erlaubt (wenngleich die dafür nötigen Identifikationen schon w i e d e r Sache d e s erkennenden S y stems sind). Kant argumentiert unscharf, hält dieses Beharrliche für eine Bedingung seines Daseins in der Zeit, w ä h r e n d es allenfalls als B e d i n g u n g d e r Identifikation seines Daseins in der Zeit behandelt w e r d e n dürfte. Auch ist die umgekehrte Zeitrelation zu b e d e n k e n : Das erkennende S y s t e m kann sich mit demselben Gegenstand befassen, w ä h r e n d das, w a s sich so bezeichnet zu w e r d e n gefallen lassen muß, sich schon w i e d e r geändert hat. U n d noch erstaunlicher: das erkennende S y s t e m k a n n , soweit es über Sprache verfügt, konstante A u s d r ü c k e v e r w e n d e n zur Bezeichnung von etwas, w a s als inkonstant gemeint ist - etwa das W o r t Bewegung z u r Bezeichnung v o n Bewegungen. Es braucht, mit anderen Worten, Veränderliches nicht durch Eigenveränderung zu simulieren. Das alles sind noch recht unschlüssige Anhaltspunkte dafür, daß d i e Ausdifferenzierung eines erkennenden S y s t e m s jedenfalls zu Zuständen
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führt, die zwar gleichzeitig, aber nicht mehr rhythmischsynchron zur Umwelt geordnet sind; was nur erreicht werden kann, wenn auch in der Umwelt zeitliche Diskontinuitäten vorkommen, gegen die das System seine eigenen Operationen unterscheiden kann. Wir können diese Überlegungen ergänzen durch Rückgriff auf einen in der akademischen Erkenntnistheorie bisher übersehenen Beitrag von Fritz Heider . Es geht hier um die Realbedingungen der Möglichkeit von distanzierender Wahrnehmung. Heider postuliert als Eigenschaft der Außenwelt, die dies ermöglicht, eine Differenz von relativ loser und relativ fester Kopplung, also Luft auf der einen und Geräusche auf der anderen Seite, oder Licht auf der einen und sichtbare Objekte auf der anderen Seite. Wesentlich ist die Differenz; denn in dem Maße, als die Luft selbst Geräusche macht und das Licht selbst sichtbar wird, würden distinkte Wahrnehmungen unmöglich werden. Es muß mit anderen Worten physikalische Substrate in loser und in fester Kopplung geben, damit sich Systeme bilden können, die von dieser Differenz profitieren und mit ihrer Hilfe die eine Seite der Differenz, nämlich die Form, beobachten können. Das lose gekoppelte Substrat dient als Medium, das fest gekoppelte dient als Form. Die Differenz dient als Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung unter der Bedingung, daß sie ihrerseits nicht wahrnehmbar ist. Sie ist die notwendig latente Struktur der Wahrnehmung, und nur eine Theorie des Wahrnehmens kann auf der Ebene der K y bernetik zweiter Ordnung, also im Beobachten des wahrnehmenden Beobachters erkennen, daß dies so ist. Es fällt nicht schwer, diese Medium/Form-Differenz zu generalisieren. Man kann zum Beispiel die akustisch bzw. optisch »körnige«, also lose gekoppelte Struktur der Sprache als Medium ansehen, mit dessen Hilfe Sätze geformt werden können; oder Geld als Medium der Preisbildung. Unter Sonderbedingungen können mithin Formen (wie Worte) wiederum Medium sein für ein erkennendes Sy22
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stem, das sich nun diese Differenz invisibilisiert. Das zeigt die Reichweite des Gedankens, führt a b e r erneut von der Erkenntnistheorie w e g . Entscheidend i s t die Ausgangsannahme, daß es eine p h y s i k a l i s c h (oder w i e immer) angelegte Differenz von loser und fester K o p p l u n g gibt, ohne die sich kein erkennendes System entwickeln k ö n n t e bzw. auf Koinzidenzen an den eigenen Grenzen o h n e Raum/Zeit-Distanz zur U m w e l t angewiesen bliebe. Eine verfeinerte Begriffsarbeit k ö n n t e hinzufügen, daß das M e d i u m durch die F o r m u n g nicht verbraucht werden darf, sondern sich regenerieren muß; d a ß die Form jeweils stärker (durchsetzungsfähiger) ist als d a s Medium, ohne daß dem eine heimliche Rationalität z u g r u n d e läge; und daß auch das jeweilige M e d i u m als l o s e gekoppeltes Substrat (also immerhin als Kopplung, also a l s Struktur) wieder als Form w a h r n e h m b a r ist, w e n n dafür ein geeignetes M e d i u m (etwa ein M e ß a p p a r a t mit h o h e m Auflösevermögen) z u r Verfügung gestellt w e r d e n k a n n . M a n gelangt auf diese Weise schließlich zur Q u a n t e n p h y s i k als einer Theorie, die nur noch das Beobachten von P h y s i k e r n durch Physik e r beschreibt, also n u r auf der E b e n e der Kybernetik zweiter Ordnung etabliert ist u n d die Realität, korrelativ dazu, als unbestimmbar beschreibt. D a s hieße dann aber nur, daß das Beobachten des Beobachtens, das Messen und das Prognostizieren der Resultate von M e s s u n g e n Formen produziert, die sich selbst z u m M e d i u m machen. Wir w i s sen heute, daß dies m ö g l i c h ist. W i r experimentieren damit auch auf anderen Gebieten, z u m B e i s p i e l in der modernen L y r i k . Aber das besagt nicht, daß die Selbstbeobachtung der Welt ohne die latente Differenz von M e d i u m und Form möglich wäre. Erkenntnis ist also nicht in einer » b e l i e b i g e n « , sondern n u r in einer dafür geeigneten U m w e l t möglich. Das berechtigt uns jedoch nicht, daraus auf » A n p a s s u n g « der Erkenntnis an die Realität zu schließen. Erst recht kann der evolutionäre O p t i m i s m u s einer Selbstregulationskybernetik 23
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nicht mitvollzogen w e r d e n , die sowohl Leistungsverbesserungen als auch A n p a s s u n g mit ein u n d demselben Modell zu erklären sucht. Jedenfalls machen wissenschaftliche Forschungen, gesehen im Kontext der Ö k o l o g i e , eher den gegenteiligen Eindruck. D i e A b w e i c h u n g v o n dem, w a s vorgegeben zu sein scheint, n i m m t ständig z u , da die Erkenntnis in immer kühneren Schwüngen sich selber korrigiert. Das ist - im M o m e n t noch, w ü r d e n heute manche sagen real möglich; aber man könnte imstandesein, deutlicher und risikobewußter zu beschreiben, w a s da geschieht. Die Erkenntnis projiziert Unterscheidungen in eine Realität, die keine Unterscheidungen kennt. Sie gibt sich damit eine Freiheit, die ebenfalls nicht vorgesehen ist. M a n würde heute nicht mehr annehmen, daß sie als Freiheit ursachelos operiert , denn auch das w ä r e ja ein U r t e i l über Attribution, also Erkenntnis. A b e r man kann sich fragen, und eine Erkenntnistheorie sollte heute d a z u in der Lage sein, welche A r t Ordnung in einem solchen Prozeß fortgesetzter Abweichungsverstärkung erreichbar sein w i r d . Immerhin gibt es also einige Anhaltspunkte dafür, daß die unbekannt bleibende Realität, w ä r e sie total entropisch, keine Erkenntnis ermöglichen w ü r d e . N u r kann das Erkennen das, w a s von dieser Seite her Bedingung der eigenen Möglichkeit ist, nicht in die F o r m einer Unterscheidung bringen; denn das w ä r e , im Widerspruch z u r Intention des Durchgriffs nach draußen, schon w i e d e r eine Eigenleistung. D i e Erkenntnis bleibt einzigartig als unterscheidungsbasierte Konstruktion. A l s solche kennt sie nichts, w a s außerhalb ihrer ihr selbst entsprechen w ü r d e . Es mag im Bereich dieses » A u ß e r h a l b « , den die Erkenntnis mit der Unterscheidung von Selbstreferenz u n d Fremdreferenz als »Gegenstand« bezeichnet, B e d i n g u n g e n der Möglichkeit von Erkenntnis geben; u n d w i r können vermuten, daß diese in zeitlichen u n d sachlichen Diskontinuitäten stecken, in Differenzen von Variationsgeschwindigkeiten oder in Differenzen der strukturellen Kopplung von Elementen. Aber 25
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w e n n dies so ist, ist die Erkenntnis darauf angewiesen, diese Unterscheidungen nicht zu benutzen, w e i l sie nur mit diesem Verzicht eine operative Schließung erreichen kann. Damit k e h r e n w i r noch einmal zu der Frage zurück, ob es nicht gerade deshalb differenzlose (und damit: paradoxiehaltige) Begriffe geben müsse. Der Gottesbegriff der Tradition hatte.diese Frage auf sich gezogen u n d damit a b sorbiert. M a n c h e n mag dies genügen. Wir wollen, ohne uns hier festzulegen, drei weitere Begriffe vorstellen, die ganz entfernt an die Trinitätslehre erinnern könnten. Von Welt soll die Rede sein, um die Einheit der Differenz von System und Umwelt zu bezeichnen. Von Realität soll die R e d e sein, um die Einheit der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand zu bezeichnen. Von Sinn soll die R e d e sein, um die Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität zu bezeichnen. A l l e diese Begriffe sind differenzlos in d e m Sinne, daß sie ihre eigene Negation einschließen. Die N e g a t i o n der Welt kann nur in der Welt vollzogen werden. Die Negation von Realität kann nur als reale O p e ration v o l l z o g e n w e r d e n . Die Negation von Sinn schließlich macht keinen Sinn, w e n n sie keinen Sinn macht. Differenzlosigkeit heißt also in all diesen Fällen, daß man das damit Bezeichnete nicht von einem Gegenbegriff her definieren kann, sondern n u r von einer sehr spezifischen U n terscheidung her, die i h m zugrunde liegt. Daß es sehr spezifische (und keineswegs beliebige) A u s gangsunterscheidungen sein müssen, sei nochmals unterstrichen. Das bestätigt die These, daß Erkenntnis, trotz u n d gerade w e g e n des Erfordernisses der Einschließung, eine extrem unwahrscheinliche Operationsweise ist. Die genannten Grenzbegriffe sind n u r von der Erkenntnis aus zu gewinnen, u n d es gibt hier, verglichen mit der Unzahl möglicher Unterscheidungen, n u r wenige Möglichkeiten. Ferner ist zu beachten, daß die genannten Unterscheidungen S y s t e m / U m w e l t , Erkenntnis/Gegenstand, Aktualität/ Possibilität eine auffällige A s y m m e t r i e aufweisen. Sie sind 26
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n u r auf einer Seite anschlußfähig; u n d sie ermöglichen nur auf einer Seite ein re-entry im Sinne der L o g i k von Spencer B r o w n , das heißt: einen Wiedereintritt d e r Unterscheidung in das Unterschiedene. So kann die Welt m a r im System ein Orientierungsbegriff sein, der die Differenz von System u n d U m w e l t in das System w i e d e r e i n f ü h r t . So ist die Differenz von Erkenntnis u n d Gegenstand e i n e erkenntnisimmanente Unterscheidung und entsprechend die Annahme, daß Realität etwas beide Seiten U b e r g r e i f e n d e s sein müsse, im Vollzug der Erkenntnis selbst basiert. U n d so gibt schließlich die Differenz von Aktualität und Possibilität nur dann Sinn, w e n n sie in actu v o l l z o g e n w i r d , das heißt die momentan vollzogene Operation auf einen Horizont anderer Möglichkeiten verweist (aber d i e s gleichgültig, ob es sich dabei um Realmöglichkeiten h a n d e l t oder um solche, die nur gedacht sind oder nur fiktional vorgestellt werden). M a n kann in diesen Analogien eine S t r u k t u r erkennen, die der Auflösung der Paradoxie der Einheit des Differenten dient. Eine solche Paradoxie sieht freilich immer nur ein Beobachter. Das heißt dann auch, d a ß die Form einer Theorie, die von ihrer Funktion der A u f l ö s u n g von Paradoxien her beschrieben wird, die Frage n a c h funktionalen Äquivalenten zuläßt. Oder, w e n n sie das P a r a d o x des Beobachtens als den Beobachter ansetzt, die F r a g e nach Gott. In jedem Falle liegt das Problem nicht auf der Ebene des einfachen Vollzugs der autopoietischen Operationen derjenigen Systeme, die sich auf ein U n t e r s c h e i d e n u n d Bezeichnen u n d Beobachten und Beschreiben einlassen. A u c h hierzu kann man nur sagen: es geschieht, w e n n es geschieht; u n d es geschieht nicht, wenn es nicht geschieht. Will man dagegen unterscheiden, w a s geschieht, m u ß man das Geschehen als Beobachten beobachten. U n d eben das ist die Aufgabe der Erkenntnistheorie. Welche Bedingungen auch i m m e r g e g e b e n sein müssen, damit Erkenntnis real möglich w i r d , sie k a n n ihre Bedin-
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gungen an ihrer eigenen Möglichkeit erkennen. Sie kann dies im Betätigen ihrer Möglichkeit unterstellen. Sie tut, w a s sie tut, u n d erweist sich damit a l s möglich. Das Problem liegt nicht hier. Es liegt in den B e d i n g u n g e n der Steigerung u n d heute zunehmend: in d e n Bedingungen der U m w e l t k o m p a t i b i l i t ä t der Steigerung von Erkenntnisleistungen. Klassische Theorien hatten d i e s e Kompatibilität im Begriff der Erkenntnis selbst v o r a u s g e s e t z t und mit Formeln w i e assimilatio, R e p r ä s e n t a t i o n oder Anpassung artikuliert. Selbst kybernetische Erkenntnistheorien gehen z u w e i l e n noch davon aus, daß durch Avusbau u n d selbstreferentielle Vernetzung der Regelkreise sich die Anpassung der Erkenntnis an die U m w e l t im L a u f e der Evolution verbessere. W i r ersetzen diese Perspektive durch die Frage, w i e unter der Bedingung kognitiver S c h l i e ß u n g ein System Eigenkomplexität aufbaut und in d i e s e m Sinne kognitive Leistungen steigert. Es liegt nahe, hier an Sprache zu d e n k e n , u n d in der Tat gibt es enge Zusammenhänge z w i s c h e n Sprachforschung u n d erkenntnistheoretischem Konstruktivismus. Maturana z u m Beispiel macht, w i e bereits e r w ä h n t , den Begriff des Beobachtens abhängig von der Verfügung über Sprache. A u c h Ernst von Glasersfeld sieht in d e r Sprachforschung das Schlüsselproblem u n d die e m p i r i s c h e Beweisgrundlage des radikalen Konstruktivismus. D e m k o m m t entgegen, daß die L i n g u i s t i k seit Saussure o h n e h i n die Zeichentheorie im Sinne einer Außenreferenz der S p r a c h e aufgegeben hat u n d das W o r t Zeichen (und seine D e r i v a t e w i e Semiologie, semiotics) n u r noch festhält als Begriff für operativ benutzte Elemente des Systems. Genau damit verdeckt man sich j e d o c h ein Problem. Denn die Erkenntnisoperationen sind je nach der Art des Systems, das sie durchführt, völlig verschieden. Man muß zwischen psychischen u n d sozialen S y s t e m e n , zwischen aktuell operierendem Bewußtsein u n d K o m m u n i k a t i o n unterscheiden. Beide Systeme können S p r a c h e benutzen, zur 27
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A r t i k u l a t i o n des Denkens ebenso w i e zur Artikulation von Kommunikation. Für beide Systeme w i r d e i n eigener Komplexitätsaufbau in dem uns geläufigen A u s m a ß e erst durch Sprache ermöglicht. Beide Systeme operieren gleichwohl als geschlossene Systeme unter völlig getrennten operativen (autopoietischen) und strukturellen Bedingungen. Es gibt nicht die geringste operative Überschneidung, weil die rekursive Vernetzung mit anderen Operationen des jeweiligen Systems alles, w a s in einem System als elementare Operation fungiert, unter völlig verschiedene Anschlußbedingungen setzt. M a n kann also Sprache einerseits nicht ignorieren, und darf ihre Tragweite auf keinen Fall unterschätzen. Sie ist aber andererseits auch nicht das System, das die Konstruktion der Erkenntnis als Realoperation ermöglicht. Sie ist überhaupt kein System. Sie leistet vielmehr die strukturelle Kopplung von Bewußtsein und K o m m u n i k a t i o n . Das heißt: Sprache bildet ein eigenes M e d i u m (seien es Laute, seien es optische Zeichen, seien es auf d i e s e r Grundlage W o r t e ) , das sie zu eigenen Formen koppelt. Sie stellt damit den sich beteiligenden Systemen eine hochspezifische Medium/Form-Differenz als Medium zu Verfügung, so daß sich im Bewußtsein w i e auch in der Kommunikation sprachspezifische Formen bilden können, sei es, daß man sprachlich denkt, sei es, daß die K o m m u n i k a t i o n von M o ment zu M o m e n t andere Sätze bildet, also sprachliche Möglichkeiten durch Kopplung und E n t k o p p l u n g nutzt. An diesen Komplikationen, die w i r nicht vermeiden können, w e n n w i r an der Absicht festhalten, Systeme von ihren basalen, grenzziehenden Operationen her zu begreifen, zerbricht die A l l i a n z von Sprachtheorie u n d Konstruktivismus. Die Sprache behält eine zentrale F u n k t i o n für die laufende strukturelle Kopplung von psychischen u n d kommunikativen Operationen. Sie fasziniert das Bewußtsein. Sie zentriert Aufmerksamkeit auf ihr Sonderrepertoire von auffälligen, phonetischen oder optischen F o r m e n . Sie stellt
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sicher, daß, wenn Kommunikation läuft, auch das dafür nötige Bewußtsein in ausreichendem Umfange mitaktiviert wird. Sie schränkt die Freiheitsgrade des Bewußtseins während der laufenden Kommunikation ein, obwohl es immer noch möglich bleibt, gleichzeitig nichtkommunikatives Geschehen wahrzunehmen, nichtkommunizierte Sinngehalte mitzuüberlegen und vor allem: mit Sprache bewußt zu täuschen. Auch kann man sich während der Kommunikation auf die Aufzeichnungsfähigkeit psychischer Systeme, auf ihr Gedächtnis stützen, und, solange es keine Schrift gibt, hängt die Fortsetzung der Kommunikation von dieser Voraussetzung ab, wie immer sie die faktischen Gedächtnisleistungen überschätzen mag. Auf der anderen Seite bliebe auch das Bewußtsein ohne die Möglichkeit, Gedanken phonetisch oder optisch in Wortform zu imaginieren, extrem abhängig von dem, was es im Moment wahrnimmt (wenn man in diesem Fall überhaupt von Bewußtsein sprechen will). All diese Überlegungen lassen die Bedeutung einer mit Komplexitätsgewinnen kompatiblen strukturellen Kopplung psychischer und sozialer Systeme erkennen. Sie ist nur durch Sprache zu erklären. Dennoch spricht die Sprache nicht selber. Sie mag für die Konstruktion von Erkenntnis Formen bereithalten oder genauer: eine spezifische Differenz von Medium und Form bereithalten. Aber für die psychische ebenso wie für die soziale Realisation kognitiver Operationen gelten zahlreiche weitere Beschränkungen, die man nicht über linguistische, sondern nur über psychologische bzw. soziologische Analysen einsichtig machen kann. Das gilt nicht zuletzt für die Bedingungen der selbstreferentiellen, autopoietischen Schließung der Systeme und für ihre internen Konsequenzen. Solange man Systeme mit dem vagen Begriff des »Zusammenhangs« definiert hatte , konnte die vorstehende Analyse nicht vorgeschlagen werden. Denn natürlich hängen Bewußtsein und Kommunikation und Sprache zusam28
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men, und dies so sehr, daß man in der Tradition auch der Systemtheorie gar nicht auf den Gedanken kommen konnte, hier verschiedene Systeme zu sehen. M a n unterschied dann in einer nicht zureichend explizierbaren Begrifflichkeit Mensch u n d N a t u r oder »Geisteswissenschaften« und »Naturwissenschaften«. Wenn man dagegen Systeme nicht mehr als besondere Objekte ansieht, die intern besonders dicht zusammenhängen, sondern statt dessen von der Differenz von S y s t e m u n d U m w e l t ausgeht, gelangt man zu einem ganz anderen Theoriedesign. Die Leitfrage lautet dann: welche (autopoietischen) Operationen schließen ein System? U n d weiter: w e l c h e F o r m struktureller Kopplung nimmt, w e n n solche Schließung entsteht, der Zusammenhang von S y s t e m u n d U m w e l t an. Eine solche U m s t e l l u n g hat weittragende, gegenwärtig noch k a u m übersehbare Konsequenzen. F ü r die Erkenntnistheorie führt sie zu der radikal konstruktivistischen These, daß Erkenntnis nur möglich ist, w e n n u n d w e i l sich S y steme auf der Ebene ihres Unterscheidens und Bezeichnens operativ schließen u n d auf diese Weise indifferent werden gegen das, w a s als U m w e l t damit ausgeschlossen ist. Die Einsicht, daß Erkenntnis n u r durch A b b r u c h von operativen Beziehungen z u r A u ß e n w e l t erreichbar sei, besagt deshalb nicht, daß Erkenntnis nichts Reales sei oder nichts Reales bezeichne; sie besagt nur, daß es für die Operationen, mit denen ein erkennendes System sich ausdifferenziert, keine Entsprechungen in der U m w e l t geben kann, weil, wenn es so w ä r e , das System sich laufend in seine U m w e l t auflösen u n d das Erkennen damit unmöglich machen w ü r d e .
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Erkenntnis als Konstruktion Anmerkungen
1 Kritik der reinen Vernunft, S. 274 f. 2 Siehe etwa Michael A. Arbib / Mary B. Hesse, The Construction of Reality, Cambridge, Engl. 1986. 3 Ich meine den Abschnitt »Widerlegung des Idealismus« und ins- • besondere den Lehrsatz »Das bloße, aber empirisch (!) bestimmte Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstände (!) (also nicht nur von irgendetwas, N. L.) im Raum (!) außer mir.« (S. 274ff.) 4 Vgl. dazu Heinz von Foerster, »Entdecken oder Erfinden: Wie läßt sich Verstehen verstehen?«, in: Heinz Gumin / Armin Möhler (Hrsg.): Einführung in den Konstruktivismus, München 1985, S. 27-68. 5 So mit bewundernswertem Mut Ernst v o n Glasersfeld, Wissen, Sprache und Wirklichkeit: Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus, dt. Übersetzung, Braunschweig 1 9 8 7 . 6 Daß »Intersubjektivität« nur ein Wort für dieses Problem ist, aber keine Lösung, sollte klar sein. Wo es aber keine Lösung gibt, gibt es auch kein Problem; und die neueren Sozialphänomenologen gehen deshalb von Intersubjektivität wie von einer Tatsache aus. Siehe nur Richard Grathoff / Bernhard Waidenfels, Sozialität und Intersubjektivität, München 1983. 7 Vgl. Arne Ness (Naess), Erkenntnis und wissenschaftliches Verhalten, Oslo 1936, S. "193 ff. mit der Forderung, alle Sätze über die äußere Situation aus Beschreibungen der Vorgänge im »inneren Funktionskreis« des beobachteten Organismus abzuleiten was zunächst einmal sehr konstruktivistisch klingt. 8 Zum Beispiel von Danilo Zolo, Autopoiesis: Critica di un paradigma conservatore, MicroMega 1 (1986), S. 1 2 9 - 1 7 3 . 9 Es ist, um nur das anzumerken, ebenso naiv (wenngleich eine üblichere Naivität), von der Subjektivität des Bewußtseins auszugehen und es zu unterlassen, die Frage zu stellen: wessen Bewußtsein? 10 Siehe das Verhältnis von distinction/indication als »form« und »re-entry« der Form in die Form bei George Spencer Brown, Laws of Form, 2. Aufl., London 1 9 7 1 . 11 Siehe insb. Jean-François Lyotard, Le différend, Paris 1983. A l lerdings lehnt Lyotard (mündlich) die Interpretation von le différend als System/Umwelt-Differenz ab.
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12 Vgl. Humberto R. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig 1982, S. 39ff. i. V. m. 34 f. und öfter. 13 Dies in Anlehnung an die Grundoperation distinction/indication bei George Spencer Brown, a. a. O., aber ohne die Intention auf Entwicklung eines formallogischen Kalküls. 14 Vgl. mit Folgerungen für das parallelgelagerte Problem des Bösen Anselm von Canterbury, De casu diaboli XI, zit. nach Opera Omnia, Seckau-Rom-Edinburgh 1938ff., Nachdruck StuttgartBad Cannstatt 1968, Bd. 1, S. 248ff. Eben das hat bekanntlich die Theologie in die Paradoxie gezwungen, die Unterscheidung creatum/increatum der Unterscheidung Sein/Nichtsein vorzuordnen, obwohl jene diese voraussetzt, denn erst durch die Schöpfung entsteht die Möglichkeit, etwas negativ zu bezeichnen. Vgl. z. B. Johannes Scottus Erlugena, Periphyseon (De divisione naturae) I, I und II, zit. nach der Ausgabe von I. P. Sheldon-Williams, Bd. 1, Dublin 1978, S. 37 ff. W i r kommen darauf zurück. 15 Die behavioristische Erkenntnistheorie hatte sogar behauptet, der Erkenntnisprozeß sei psychologisch indifferent auch gegen die Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand; auch sie werde durch einen Beobachter des Beobachters hineingesehen. Siehe Ness, a. a. O., insb. S. 131 ff., 163 ff. zur unterschiedlichen Psychologie wahrer und falscher Urteile, unterschieden anhand des Kriteriums des Fortführens bzw. Abbrechens von Verhaltenssequenzen (was aber nur Rückschlüsse auf erkannte Irrtümer zuläßt). 16 Vgl. auch Niklas Luhmann, Distinctions directrices: Über Codierung von Semantiken und Systemen, in ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 4, Opladen 1987, S. 1 3 - 3 1 ; ders., Ökologische
Kommunikation, Opladen 1986, S. 75 ff. 17 Vgl. hierzu die Analysen zu der Frage: Welche Beobachtungen liegen einer Beschreibung zugrunde, wenn sie Sätze über die »Begrenztheit« der Reaktionsfähigkeit eines Organismus enthält?, bei Ness, a. a. O., S. 56 ff. 18 In einer relativ ausführlichen Passage heißt es z. B.: »Est (Deus, N. L.) enim ante differentiam omnem, ante differentiam actus et potentiae, ante differentiam posse fieri et posse facere, ante differentiam lucis et tenebrae, immo ante differentiam esse et non esse, aliquid et nihil atque ante differentiam indifferentiae et dif-
Erkenntnis als Konstruktion
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ferentiae, aequalitatis et inaequalitatis et ita de cunctis.« (De venatione sapientiae, zit. nach Nikolaus v o n Kues, Philosophisch-
Theologische Schriften, hrsg. von Leo Gabriel, Wien 1964, Bd. 1, S. 58). 19 Siehe De non-aliud, zit. nach Nikolaus v o n Kues, Philosophisch-
Theologische Schriften, Bd. 2, Wien 1 9 6 6 , Nachdruck 1982, 20 21 22
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S. 443-565. Johannes S. E., a. a. O., S. 54. Apologia doctae ignorantiae, in: Philosophisch-Theologische Schriften (hrsg. von Leo Gabriel), Bd. 1, Wien 1964, S. 578. Siehe Ding und Medium, Symposium 1 (1926), S. 109-157; englische Übersetzung (gekürzt) in: Psychological Issues 1/3 (1959), S. 1-34. Dies unterscheidet die Unterscheidung Medium/Form von der traditionellen Unterscheidung Materie/Form, die schließlich bei einem Begriff der unkörperlichen Materie anlangte, weil Materie ohne Form angesichts der quantitativ/qualitativen Bestimmtheit aller Körper anders nicht zu denken war. Dieser Fehlschluß bei von Glasersfeld, a . a . O . , S. 80f., 1 1 2 , 200 ff. (was seinen radikalen Konstruktivismus radikal deradikalisiert). So der Teufel bei Anselm von Canterbury. Siehe de casu diaboli, a. a. O. Insofern ist auch »ultimate reality« niemals das Absolute - wie
z. B. bei F. H. Bradley, Essays on Truth and Reality, Oxford 1914.
27 Siehe seine Aufsatzsammlung Wissen, Sprache und Wirklichkeit: Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus, Braunschweig 1987. 28 Oft in der Form, daß Systeme intern fester oder dichter zusammenhängen als mit ihrer Umwelt.
Die Paradoxic der Form
I George Spencer B r o w n schlägt einen Begriff der Form vor, dessen Tragweite in den » L a w s of F o r m « bei weitem nicht ausgeschöpft ist. A u c h läßt der N a c h v o l l z u g des Formenk a l k ü l s nicht ohne weiteres erkennen, w i e scharf dieser Formbegriff den Gewohnheiten der Tradition widerspricht. Das mag daran liegen, daß diese Tradition uns lehrt, Form als eine Seite einer Unterscheidung zu d e n k e n , deren andere Seite dann wechselnd bezeichnet w e r d e n mag - etwa F o r m / M a t e r i e , Form/Substanz, F o r m / I n h a l t . Diese Tradition kann, wenn man bei ihr bleibt, bis zu d e r Frage führen, w a s mit dem Formenbegriff geschieht, w e n n man seinen Gegenbegriff austauscht, also e t w a von F o r m / M a t e r i e in ein e m kosmologischen Verständnis zu F o r m / I n h a l t in einem mehr »artifiziellen«, auf W e r k e b e z o g e n e n Sinne übergeht. A b e r w i e ist in diesem D e n k e n die Einheit der Unterscheidung reflektiert - oder reflektierbar -, auf die man sich einläßt, w e n n man F o r m von etwas a n d e r e m unterscheidet? O d e r anders gefragt: Was geschieht, w e n n man die andere Seite der Unterscheidung, also Materie, Substanz, Inhalt, einfach wegläßt u n d die F o r m als solche zu denken und zu manipulieren versucht? Was geschieht, w e n n man »formale L o g i k « in einem Sinne zu treiben versucht, der alle Unterscheidung in sich selbst zu begründen s u c h t - bis dann Gödel dies stoppte? Was geschieht, w e n n m a n , mit Derrida, nach dem fragt, w a s die Form, um F o r m sein zu können, als » a n w e s e n d « erscheinen läßt, u n d w e i t e r nach dem fragt, w a s dadurch ausgeschlossen ist? U n d w a s geschieht, wenn m a n den Zeichen die Referenz auf Dinge bestreitet und sie n u r noch mit Differenzen u n t e r sich spielen läßt? wird dann Differenz z u r Letztform, deren Einheit immer nur 1
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Die Paradoxic der Form
durch immer w i e d e r neue Differenzen bezeichnet werden kann. Das Setzen einer Unterscheidung ist eine Operation, die auch dann möglich ist u n d möglich bleibt, w e n n die Unterscheidung in ihrer F o r m als Paradoxie beobachtet wird. M a n k a n n es tun, w e n n u n d solange d i e »Autopoiesis« des Beobachtens funktioniert. So auch die A u t o p o i e s i s des L e bens. Ein Lebewesen besteht aus dem, w a s es vorher gegessen hat; aber diese Einsicht braucht n i c h t zu verhindern, daß man weiterhin für N a h r u n g sorgt. Ein Bewußtsein operiert mit dem, was es vorher gedacht hat; aber diese Einsicht führt nicht z u r Einstellung d e s Denkens. Deshalb m u ß man Operieren u n d Beobachten unterscheiden, auch, w e n n auch dieses Unterscheiden w i e d e r u m eine beobachtende Operation ist. Die Theorie ist an dieser Stelle z u m autologischen Schluß, z u m R ü c k s c h l u ß auf sich selber gez w u n g e n . Damit ist zugleich alles, w a s ü b e r h a u p t beobachtet oder nicht beobachtet w i r d , auf eine Paradoxie gegründet u n d zugleich angegeben, welche Unterscheidung aus dieser Paradoxie herausführt, nämlich die Unterscheidung von Operation u n d Beobachtung. 2
II F ü r Spencer B r o w n ist die Form der F o r m eine Unterscheidung u n d damit eine Bedingung der M ö g l i c h k e i t von Beobachtung (die, w e n n sie als Operation möglich sein soll, natürlich weitere Bedingungen voraussetzt). Eine Form ist also etwas, w a s z w e i Seiten hat, die unterschieden werden. Der Text, der dies klarstellt, geht allen Definitionen und allen A x i o m - S e t z u n g e n voraus. Er lautet: » W e take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot m a k e an indication w i t h o u t d r a w i n g a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.« 3
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Die Paradoxie der Form
W i e s o »therefore«? Um diese Frage geht es in den folgenden Überlegungen. Eine Form hat z w e i Seiten, soviel scheint festzustehen. Sie w i r d eingesetzt durch die Fixierung einer Grenze, die bewirkt, daß z w e i Seiten getrennt w e r d e n mit der Folge, daß man die eine Seite nur durch eine w e i t e r e Operation erreichen kann, die die Grenze kreuzt. Formsetzung ist also Unterscheiden, u n d Unterscheiden ist eine Operation. U n d das setzt, w i e alles Operieren, Zeit v o r a u s . Die Frage, w a s eine Form » i s t « , w i r d sorgfältig vermieden. Jedenfalls k a n n es sich nicht um e t w a s handeln, das etw a s als » a n w e s e n d « erscheinen läßt ( u m e r n e u t auf Heidegger und Derrida anzuspielen). Die O p e r a t i o n kann nur stattfinden oder nicht stattfinden. G e g e n w a r t ist also keine Zeitstrecke, die durch Einteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart u n d Zukunft für ein b e w e g l i c h e s Etwas gegeben ist; sondern Gegenwart ist die Grenze, die gesetzt w i r d , w e n n es darauf ankommt, Vergangenheit und Zukunft als different zu unterscheiden. Also kann es sich auch nicht um eine Gelegenheit für A n w e s e n d e s handeln zu erscheinen, sondern nur um eine Gelegenheit, den Unterschied- von Vergangenem und Z u k ü n f t i g e m zu beobachten. Die Form hat also keinen ontologischen Status. G g t w i r d nur, w a s es besagt, wenn sie eingesetzt w i r d . Sie »ist« jedenfalls nicht nur die Grenze, sie enthält auch die beiden Seiten, die sie separiert. Sie hat, könnte m a n sagen, einen offenen Weltbezug, und vielleicht steckt d i e s hinter der rätselhaften Formulierung »distinction is perfect continence« (S. 1). Soll »perfect continence« heißen, d a ß die Unterscheid u n g auch sich selber enthält? Wie a n d e r s könnte sie perfekt sein? W i e anders könnte sie die W e l t in z w e i Seiten zerlegen, w a s doch nur in der Welt geschehen kann? M i t dieser Frage vor Augen, wenden w i r uns erneut dem oben zitierten Eingangssatz zu. Jede F o r m hat z w e i Seiten, die sie unterscheidet. Diese beiden Seiten sind jedoch nicht in gleicher Weise an der Formbildung beteiligt. Die operati4
e s a
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Die Paradoxie der Form
ve Verwendung der Form k a n n n u r v o n einer ihrer Seiten ausgehen. Sie muß irgendwo a n k n ü p f e n , denn anderenfalls w ä r e es unnötig, die beiden Seiten ü b e r h a u p t zu unterscheiden. Die Unterscheidung w i r d mit p r a g m a t i s c h e r Intention getroffen, um die eine, aber nicht die a n d e r e Seite zu bezeichnen. Das, w a s man unterscheidet, muß deshalb von der Unterscheidung unterschieden w e r d e n . Eine solche F o r m u l i e r u n g mag man als rhetorische S p i e l e r e i abtun, und Spencer B r o w n vermeidet sie denn auch durch terminologische Differenzierung. Er unterscheidet Bezeichnung (indication) u n d Unterscheidung ( d i s t i n c t i o n ) . A b e r Terminologie oder nicht: das Problem bleibt. W i r kommen nicht zur Operation, w e n n nicht die U n t e r s c h e i d u n g von Unterscheidung u n d Bezeichnung in die U n t e r s c h e i d u n g hineincopiert w i r d . Ist dann die Unterscheidung, die in sich wiedervork o m m t u n d anders gar nicht v o r k o m m e n kann, dieselbe oder nicht dieselbe Unterscheidung? A m Ende der Ausarbeitung seines Kalküls formuliert S p e n c e r B r o w n dieses Problem als » r e - e n t r y « der F o r m in i h r e n eigenen Raum, also der Form in die Form, der U n t e r s c h e i d u n g in das U n terschiedene. Das Problem ist schon am Anfang präsent u n d b e k o m m t am Ende seine eigene F o r m . So w i e der A n fang steht auch dieses Ende a u ß e r h a l b des Kalküls. Das Problem hat nun einen N a m e n , eine Bezeichnung. Aber dies ist nur eine Form von Selbstreferenz, also eine Art der Rückführung auf das Problem. »A m a r k or sign intended as an indicator is self-referential«, l i e s t man bei Louis H. Kauffman. Ein mark ist jedenfalls n i c h t s weiter als eine von der Erstunterscheidung unterschiedene Form. Das Problem liegt also in der Einheit der F o r m - der Form, die nur v o r k o m m t , w e n n sie als B e d i n g u n g der Möglichkeit von Operationen genutzt w i r d . 5
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III Operativ, hatten w i r gesagt, kann nur die eine, die bezeichnete Seite der F o r m verwendet werden. Wer beide Seiten zugleich v e r w e n d e n w i l l , verstößt gegen d e n Sinn der U n terscheidung. Es geht nicht, es liefe auf e i n e Paradoxie hinaus. Denn man müßte dann in einem Z u g e das Verschiedene als dasselbe bezeichnen. W i r kommen also nicht umhin: die F o r m der F o r m ist ein Paradox. Es g e h t um die Identität einer Differenz, um eine Unterscheidung, die sich selber in sich selber unterscheidet. U n d w e n n m a n formuliert: die sich selber in sich selber unterscheidet, k ö n n t e man auch vermuten, daß es sich um ein S y m b o l für die Welt handelt. A l s Paradox beobachtet, symbolisiert jede F o r m die Welt. W i e die Welt ist das Paradox ein Fall r e i n e r Selbstreferenz nicht nur ein Hin-und-Her-Oszillieren d e r M e i n u n g , sondern die dadurch bewirkte Faszination. E i n Paradox ist die in sich selbst enthaltene Form ohne H i n w e i s auf einen externen Standpunkt, von dem aus es betrachtet werden könnte. Es ist daher Anfang und Ende in einem. Aber der Beobachter ist ein System. Er setzt seine Operationen fort. Er löst sich dabei v o m Paradox, indem er zu einer anderen Unterscheidung übergeht. Nur, w e n n es denn ein Paradox ist: w i e läßt es sich auflösen? W i e läßt es sich entfalten, das heißt: in stabile, unterscheidbare Identitäten zurücktransformieren? Einen ersten Anhaltspunkt gibt der Einsatzbefehl: »draw a distinction« (S. 3 ) . Ein Befehl kann ausgeführt oder nicht ausgeführt w e r d e n , dies ist seine Form, w e n n man ihn ausführt, kann man den Formenkalkül operativ vollziehen. Wenn nicht, dann nicht. U n d w i r übertreiben nicht, wenn w i r hinzufügen: Wenn man den Befehl ausführt, kann man beobachten. U n d w e n n nicht, dann n i c h t . N a c h dieser Auflösung des Paradoxes in die F o r m einer Weisung k o m m t Zeit ins Spiel. Die O p e r a t i o n e n des Kalk ü l s (so w i e dann auch: Beobachtungen schlechthin) müs9
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sen nacheinander vollzogen werden. Spencer Brown läßt den mark marschieren, Schritt auf Schritt. Er w i r d gleichsam vom Paradox des re-entry abgestoßen und angezogen, u n d zwischen Repulsion u n d A t t r a k t i o n ordnet sich die Welt. Anfang u n d Ende sind dasselbe - u n d nicht dasselbe, u n d dazwischen (oder: inzwischen) ordnet sich die Welt zu aufgebauter Komplexität. R ü c k b l i c k e n d sieht man dann, daß schon das A u s g a n g s p a r a d o x der F o r m ein Zeitparadox enthielt. Die Unterscheidung ist n u r Unterscheidung, wenn sie beide Seiten gleichzeitig vorsieht, aber die Operationen u n d insbesondere das »crossing« der Grenze hin und zur ü c k können nur nacheinander v o l l z o g e n werden. Strukturell gesehen existiert die Zwei-Seiten-Form im Zeitmodus der Gleichzeitigkeit. Operativ gesehen ist sie nur im Nacheinander der Operationen aktualisierbar, w e i l die Operation von der einen Seite aus die Operation von der anderen Seite aus ausschließt. D i e F o r m ist d i e Gleichzeitigkeit des Nacheinander. Aber es gibt noch eine dritte M ö g l i c h k e i t , die Auflösung des Formparadoxes zu beobachten. Sie läuft über die Frage: w e r ist Spencer B r o w n ? Wer ist es, der all dies so Boole-gerecht arrangiert? Wer erzählt die Erzählung, und kommt der Erzähler in der Erzählung v o r ? " D e r Beobachter ist Spencer B r o w n selbst, der uns durch die strenge Form des Kalküls z w i n g e n w i l l , denselben K a l k ü l mitzuvollziehen, also zwischen verschiedenen Beobachtern nicht zu unterscheiden. Im traditionalen, ontologischen Weltverständnis waren Beobachter in der Tat g e z w u n g e n , dasselbe zu sehen, also dieselben zu sein. Die andere Seite der Form Beobachten w a r der Irrtum. D u r c h crossing/recrossing dieser Grenze konnte man sich dessen vergewissern u n d die entsprechende Auffassung löschen. W i e d e r h o l u n g des Verfahrens hätte, so nahm man an, dasselbe Resultat. N o c h die transzendentaltheoretische Kritik der M e t a p h y s i k macht dieselbe Voraussetzung; sie verlagert sie nur in. die Bedingungen a priori 10
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d e r (übereinstimmenden) Funktionsfähigkeit von Bewußtseinssystemen, die in diesem Konvergenzpunkt dann den N a m e n Subjekt annehmen. Der F o r m e n k a l k ü l scheint schließlich bei allen Zweifeln an der Ontologie der Welt das W o r t Ontologie selbst stammt aus d e m 17, Jahrhundert u n d ist schon ein S y m p t o m für den beginnenden Zweifel die letzte F o r m zu sein, in der Beobachter sich noch ihrer U b e r e i n s t i m m u n g vergewissern können. A b e r w i e das, w e n n der Kalkül nur von Paradox zu Paradox führt? Vielleicht hilft es weiter, w e n n man Beobachten definiert als Gebrauch einer Unterscheidung z u r B e z e i c h n u n g der einen (und nicht der anderen) Seite - gleichviel, w i e das gemacht w i r d : ob durch Einsatz von B e w u ß t s e i n oder durch K o m m u n i k a t i o n oder durch einen programmierten Computer. » A n observer«, liest man auch bei Spencer Brown (S. 76), »since he distinguishes the space he occupies, is also a m a r k « . Operativ gesehen entsteht ein Beobachter als S y stem durch eine zusammenhängende Sequenz seiner Beobachtungsoperationen. Da man den Gebrauch v o n Unterscheidungen z u r Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite einer F o r m w i e d e r u m beobachten k a n n , wenn m a n darauf (und nicht auf anderes) achtet, k a n n m a n auch Beobachter beobachten. Wenn das geschehen soll, muß m a n Beobachter (Unterscheidungen) unterscheiden können, eingeschlossen die Möglichkeit, sich selbst als Beobachter in verschiedenen Zeitpunkten zu unterscheiden. So w i r d das Paradox der F o r m dann durch Identifizierung verschiedener Beobachter entfaltet, ohne daß dies z u r A n n a h m e »intersubjektiver« U b e r e i n s t i m m u n g führen müßte, ja auch n u r führen könnte. Verschiedene B e o b a c h t e r legen verschiedene Schnitte in die Welt, unterscheiden verschieden, benutzen verschiedene Formen, konstruieren also die Welt nicht als U n i v e r s u m , sondern als M u l t i v e r s u m . Das läßt für den traditionellen Subjektivismus der Erkenntnistheorie z w a r die Frage offen, w i e dann K o m m u n i k a t i o n möglich sei. A b e r die A n t w o r t kann jetzt lauten: durch 13
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K o m m u n i k a t i o n , das heißt: durch Bildung eines Beobacht u n g s s y s t e m s sui generis, durch Bildung sozialer Systeme. Es gibt mithin verschiedene Möglichkeiten, die Formparadoxie aufzulösen: sachlich durch eine Weisung, die befolgt oder nichtbefolgt w e r d e n kann; zeitlich durch S e q u e n z i e r u n g von Operationen, die daran gebunden sind, daß i m m e r eine andere Seite, also eine gleichzeitig wirksame Unterscheidung mitgeführt wird; u n d sozial dadurch, daß man verschiedene Beobachter unterscheidet, die jeweils andere Unterscheidungen zugrundelegen. Auf einer Ebene der Beobachtung zweiter O r d n u n g kann man dann sehen u n d sagen, daß es verschiedene Behelfe gibt; u n d mehr noch: daß die Paradoxie der F o r m überhaupt nur dadurch entsteht, daß ein Beobachter versucht, Einheit u n d Unterschiedenheit zugleich zu beobachten. Ein Beobachter z w e i ter O r d n u n g kann also sehen, daß ein anderer Beobachter auf dieses Problem aufläuft, w e n n er versucht, zu beobachten, w i e (mit w e l c h e r Unterscheidung) er beobachtet. N u r ist auch der Beobachter zweiter Ordnung ein Beobachter erster Ordnung, denn er m u ß ja einen Beobachter unterscheiden u n d bezeichnen, den er zu beobachten gedenkt. D u r c h Beobachten zweiter Ordnung w i r d man also das Problem nicht los. M a n kann auf diese Weise n u r bestätigen, daß es sich um ein universelles Problem handelt, das sich jeder Beobachtung stellt.
IV
Das deutet auch eine der vielen Selbstkommentierungen Spencer B r o w n s an. Die Welt scheint, so Spencer B r o w n u n d viele andere, auf Selbstbeobachtung eingerichtet zu sein. Zu diesem Z w e c k hat sie sich P h y s i k e r geschaffen. Diese müssen aber sich selbst als Beobachter unterscheiden von dem, w a s sie beobachten. Das können Physiker nur, w e n n sie selbstreferentiell operieren. Daß gerade Physiker 15
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(der Begriff schließt Personen und Instrumente ein) hierzu berufen sind, kann erst unserem Jahrhundert einleuchten. Schon A u g u s t W i l h e l m Schlegel hatte diesen Gedanken z w a r gestreift, ihn aber als unmöglich und widersinnig zur ü c k g e w i e s e n . Jedenfalls bringt der Beobachter (in einer Welt, die ihn benutzt, um sich zu beobachten) sich selbst auf die eine Seite der F o r m Beobachten. A b e r wo bleibt dann die Einheit dieser Unterscheidung: die sich selbst beobachtende Welt? Die Tradition w a r immer von einer vorhandenen, anwesenden Welt ausgegangen, die den Menschen dann allerdings mit Problemen des Verstehens, des Wissens, des Könnens konfrontierte. In Miltons »Paradise Lost« erklärt der Erzengel Raphael A d a m (das heißt: dem Leser) die Weltgeschichte mitten in der schon laufenden Weltgeschichte. Es geht um die Paradoxie von Ewigkeit und Vergänglichkeit und, vor diesem Hintergrund, um den Sinn des Spiels Gottes mit den Teufeln. Daß die Weltgeschichte nur in der Weltgeschichte erklärt w e r d e n kann, entspricht dem Beobachterparadox der Form, also der N o t w e n d i g k e i t des Unterscheidens und, zeitlich gesehen, der Beschränkung des Operierens auf eine Gegenwart, die sich v o n ihrer Vergangenheit u n d ihrer Zukunft unterscheidet. Spencer Brown löst dieses Paradox auf mit Hilfe der Unterscheidung beobachtbar/unbeobachtbar, die natürlich w i e d e r u m einen Beobachter voraussetzt, der sie handhabt u n d durch sie zu einem Schluß auf sich selbst gezwungen ist. »We m a y take it that the w o r l d u n d o u b t l y is itself (i. e. is indistinct from itself), but, in a n y attempt to see itself as an object, it must, e q u a l l y undoubtedly, act as to make itself distinct from, and therefore false to, itself. In this condition it w i l l partially elude itself« (S. 105). Für die christliche Tradition mag die Gleichsetzung von Erkenntnisstreben u n d Sündenfall als eine ausreichende Darstellung des Problems gelten; für die S u f i - M y s t i k auch die Lehre v o m Fall des Engels Iblis, der die Weisung Got16
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tes, verbeuge Dich vor A d a m , als p a r a d o x durchschaut u n d das Paradox auf seine Weise, nämlich d u r c h Ungehorsam, auflöst. A b e r da Gott dies alles i m m e r schon gewußt u n d gewollt hat, kann Spencer B r o w n d a r i n nur mehr einen practical j o k e sehen, der dazu g e d i e n t haben mag, die Menschen mit dem Formparadox d e s Unternehmens Schöpfung vertraut zu machen. In älteren Gesellschaften hatte man i m m e r einen vertrauten u n d einen unvertrauten Bereich d e r Welt (als die eine u n d die andere Seite ihrer F o r m ) unterschieden und dann allenfalls noch ein re-entry, nämlich die Symbolisierung des Unvertrauten im Vertrauten v e r s u c h e n können. In den Hochreligionen ist aber offenbar s c h o n mehr angezeigt als nur dies. Vielleicht ist daher die V e r m u t u n g nicht ganz abw e g i g , daß die Paradoxie der F o r m e i n e heute überzeugende Möglichkeit ist, die Welt in der Welt (und nicht nur: das Unvertraute im Vertrauten) zu s y m b o l i s i e r e n . Angesichts dieser Fassung des P r o b l e m s der » M e t a - P h y s i k « kann ein Beobachter, der sein Beobachten zu deblockieren versucht, nicht mehr mit onto-logischen Hilfsmitteln rechnen. Er findet sich auch n i c h t als Subjekt vor, das in sich selbst oder in der Reflexion auf Sprachgebrauch noch Grundlagen der Ü b e r e i n s t i m m u n g mit anderen zu finden hofft. Die Selbstparadoxierung allen Beobachtens ohne A u s n a h m e (und Gott ist nicht die A u s n a h m e , sondern das P r i n z i p ) führt dazu, daß der B e o b a c h t e r nicht mehr wissen kann, wo er steht, w o h l aber w i s s e n kann, wie er sich bewegt. Es bleibt ihm n u r die F a k t i z i t ä t seiner Individualität, die Art, w i e er der W e i s u n g gehorcht: draw a distinction. 17
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V Geschichte macht es möglich: eine n e u e r e Theorie kann sich mit einer älteren vergleichen, w ä h r e n d das U m g e k e h r te nicht möglich ist. W i r nutzen diesen Vorteil der Heuti-
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gen. W i r hatten die theologische Tradition und die Subjektologie schon erwähnt. Das betraf d i e Genealogie des Beobachters. M i t ihr hat sich aber auch d a s Beobachtete gewandelt. Dies kann an einem w i c h t i g e n , vielleicht dem wichtigsten Beobachtungsinstrument d e r alteuropäischen Tradition gezeigt werden. W i r w o l l e n es d i e genos-Technik nennen, die es ermöglicht, die Welt in der Form von Einteilungen zu begreifen. Soweit die Tradition überliefert ist, beginnt sie in Piatons Sophistes, und dort, am Anfang, ist die Paradoxieabwehr noch explizit formuliert. Die Dihairetik genannte Unterscheidungskunst (oder sollte man sagen: Zugriffskunst?) w i r d in die Form einer » D i a l e k t i k « gebracht. Diese ist auf Grund einer Unterscheidung von Arten ( » g e n e « ) möglich. Voraussetzung dafür ist die Vermeidung der Denkmöglichkeit, daß dasselbe etwas Anderes oder e t w a s Anderes dasselbe sei. Und dies, obwohl mit genos eine allgemeine Idee 19
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bezeichnet ist, die auf der Ebene der Individuen offenbar verschiedene Ausführungen erlaubt. Offenbar geht es also um eine strikt spekulative, seherische Zusammenfassung von Verschiedenen in Einem, das sich unterscheiden läßt. U n d das w i r d als Wissenschaft (episteme) für freie Menschen angeboten, fast könnte man sagen: als Stadt- oder staatsbürgerliche Wissenschaft. Diese genos-Technik hat die Tradition durchgehend bestimmt. Wohl überall, wo es um Rationalisierung ging, ist sie angewandt worden. Zum Beispiel bei der begrifflichen Erfassung des Entscheidungsmaterials der römischen Zivilrechtsjurisprudenz. Sowohl der Realismus als auch der Nominalismus haben sich ihrer bedient u n d gerade auf diesem Boden ihre Kontroverse inszeniert. Dann emigrierte die Paradoxie in die R h e t o r i k oder in die Poesie. A b e r auch hier blieb die genos-Abstraktion das Spielmaterial, mit dem die Paradoxie aus ihrem Versteck gelockt w u r d e . Erst Kant sah darin nur noch eine hi21
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storische Figur, die keine » m e r k l i c h e L u s t « mehr bereite, sondern nur noch als Erkenntnistechnik gehandhabt w e r den könne. Damit w u r d e bei i h m der Begriff der Dialektik für einen anderen, Zeit als Asymmetrisierungsschema verwendenden Gebrauch frei. So ist dann auch die Unterscheidungskunst, die Dihairetik der freien Menschen, freigegeben. Sie ist nicht mehr .darauf festgelegt, die als Ideen erinnerbaren Einteilungen der Welt nachzuzeichnen. Sie ist d a h e r auch nicht mehr an die Vorgabe von »Kategorien« im aristotelischen Sinne gebunden. Sie ist überhaupt nicht m e h r im Sinne des alten Konzepts der episteme zu handhaben. Aber w a s könnte m a n statt dessen sagen? W o m i t könnte m a n statt dessen anfangen, w e n n die Dekomposition des Seins in Kategorien keine merkliche Lust mehr bereitet? Vielleicht mit einer selbstreferentiellen Auflösung des Paradoxes, daß dasselbe etwas Anderes und etwas Anderes dasselbe ist? W i e das zu geschehen habe, dafür gibt es keine einheitlichen Vorschriften mehr, nicht einmal in der Wissenschaft. Jeder muß mit seinen eigenen Lebensumständen selbst fertig werden. Nicht einmal überzeugen m u ß man sich oder andere. Es k a n n gelingen - oder auch nicht. Immerhin gibt es Zusammenhänge. Die Börse, an der die Optionen auf Entfaltung der Paradoxie gehandelt w e r d e n , heißt heutzutage » K u l t u r « . 24
VI
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Die rhetorisch-poetische P a r a d o x i e r u n g s t e c h n i k der Spätrenaissance hatte ihren Sinn darin gesehen, das Denken über u n g e w ö h n l i c h e Vorschläge a n z u r e g e n - w a s nicht unbedingt heißen m u ß t e , in der Sackgasse des Paradoxes stecken zu bleiben. Es liegt zunächst nichts Befremdliches in der A n r e g u n g , nach A l t e r n a t i v e n z u m » c o m u n parere«, z u m allgemein akzeptierten Verständnis zu suchen. Unge-
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w o h n l i c h e Erklärungen vorzuschlagen, k a n n geradezu als N e u e r u n g s p r o g r a m m der Wissenschaft g e l t e n . A l s Gipfelp u n k t einer ausführlichen Kritik des l o g i s c h e n Empirismus in der Sozialpsychologie fordert z u m Beispiel Gergen »generative T h e o r i e n « und empfiehlt d a z u ein Verfahren, das man v o r vierhundert Jahren unter d e n Begriff des Paradoxes gebracht hätte: » O n e m a y also foster generative t h e o r y by searching for an intelligent antithesis to comm o n l y accepted u n d e r s t a n d i n g s « . S o l c h e Formulierungen w e r d e n heute jedoch in einer Wissenschaft angeboten, die die intellektuelle Geschichte Europas v e r g e s s e n hat und deshalb g e z w u n g e n ist, sie in der F o r m v o n Neuentdeckungen zu w i e d e r h o l e n . Das könnte man einfacher haben. Aber: »Dasselbe« ist doch etwas a n d e r e s als es selbst, u n d die Orientierung an Geschichte k a n n nur heißen, es nicht so zu machen w i e einst. In die geschichtliche Selbstreferenz einer Semantik muß ein M o m e n t d e r Negation eingebaut w e r d e n . N u r so, nur durch Selbstparadoxierung, k a n n man auch dies auf das Ü b e r r a s c h u n g s p r o g r a m m wissenschaftlicher Entdeckungen und generativer Theorien zurückbeziehen. Der Sinn für die Kommunikation v o n Paradoxien ist spätestens im 18. Jahrhundert verlorengegangen bzw. durch ein Parodieren des Paradoxierens ersetzt w o r d e n . Die neue Selbstgewißheit des Erkennens, gedeckt d u r c h die neue Sicherheit staatlich-politischer Ordnung s e t z t sich durch und ermöglichte als Hintergrundgewißheit e i n e ins Naive gehende Tendenz z u m Aufklären u n d z u m Moralisieren. Selbst heute w i r d die Paradoxie ü b e r w i e g e n d nur noch als ein logisches u n d durch L o g i k vermeidbares (oder ausgrenzbares) Problem angesehen. Die rhetorische Tradition w i r d nicht mehr erinnert. Damit soll n i c h t gesagt sein, daß w i r die U h r zurückdrehen könnten. Von den skeptischen Orientierungen der Spätrenaissance des 16. Jahrhunderts, die auch heute w i e d e r als Vorbild empfohlen w e r d e n , unterscheiden (unterscheiden!) w i r uns in mindestens zwei 25
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Hinsichten, die sich auf das genaueste bestimmen lassen: (1) das Ziel einer paradoxiefreien Wissenschaft, die nur k l a re und distinkte Elemente u n d Begriffe zuläßt, muß aufgegeben w e r d e n , denn es erfordert zur Herauspr'dparierung
des Zuzulassenden einen nichtreflektierten Einsatz von Unterscheidungen. U n d (2) die A r t der Spätrenaissance, Paradoxien über Wortspiele zu erzeugen, m u ß ebenfalls aufgegeben w e r d e n , denn uns fehlt das Vertrauen in Worte, ja so-
gar in die rhetorisch-semantische Unterscheidung verha/res. Im heute klassischen Wissenschaftsverständnis dient die Unterscheidung Ebene/Metaebene als F o r m der Paradoxieentfaltung, die, w e n n man nicht nach der Einheit der Differenz fragt, die Paradoxiefreiheit der Wissenschaft zu garantieren scheint. Im damit kollidierenden Funktionalismus w a r es die Unterscheidung von Problem (Bezugsproblem) u n d Problemlösung (funktionale Äquivalente) gewesen, die im Verhältnis eins/mehr-als-eins postuliert war, obwohl Problem u n d Problemlösung gar nicht unabhängig voneinander identifizierbar sind. Wenn man daraufhin die Frage nach der Einheit (oder der gemeinsamen Prämisse) dieser Kontroverse stellt oder in typischer Soziologenmanier fragt: w a s steckt dahinter?, stößt man auf den Beobachter, oder genauer: auf die notwendig paradoxieträchtige Form des Beobachtens an H a n d von Unterscheidungen und Bezeichnungen. D a n n kann man sehen, daß es um unterschiedliche Weisen der Paradoxieentfaltung geht, oder auch: um Unterscheidung von Unterscheidungen, bei denen die Frage nach der Einheit in die Paradoxie der Selbigkeit des Differenten führen w ü r d e und deshalb vermieden 28
werden
muß.
Es versteht sich von selbst, daß die Unterscheidung von Paradox u n d Entfaltung ihrerseits paradox ist. A b e r gerade das begründet einmal mehr die Einsicht, daß es sich um ein selbstreferentielles Konzept für Letztbegründungen handelt - vielleicht um das Nachfolgekonzept für die sich für vernünftig haltende Vernunft.
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Spencer B r o w n hat also gute Gründe, die Einordnung seines F o r m e n k a l k ü l s in den Bereich der L o g i k abzulehnen. D e n n L o g i k steht unter d e m R e g i m e der Wahrheit. Die Paradoxie ist jedoch keine F o r m d e r Wahrheit, also auch k e i n e F o r m der U n w a h r h e i t . M a n hat Paradoxien als M o n s t r e n der Wahrheit bezeichnet. ' O d e r besser noch: behauptet, sie säßen an den Quellen der W a h r h e i t . Hierfür gibt der Begriff der Formparadoxie jetzt eine bessere Begründung. W i r wiederholen: Jede B e obachtung setzt eine Unterscheidung voraus, deren Einheit n u r p a r a d o x bezeichnet w e r d e n kann. Das Beobachten k a n n sich selbst daher nicht (bzw. nur p a r a d o x ) bezeichnen. O d e r es m u ß eine andere Beobachtung verwenden, für die dann dasselbe gilt. Der C o d e w a h r / u n w a h r ist nur eine von zahllosen möglichen Unterscheidungen, nur eine von vielen Formen, die ihre Einheit ihrer Zweiseitigkeit verdanken. Ob ein Beobachter auf Wahrheit Wert legt, ist daher eine offene, n u r durch Beobachtung des Beobachters zu entscheidende Frage. Die Theorie der Kunst zumindest hat seit d e m 16. Jahrhundert gegen dieses Gebot rebelliert. Das besagt v o r allem, daß man den Begriff der Paradoxie nicht ü b e r den Begriff des logischen Widerspruchs definieren kann. Das m u ß nicht heißen, daß man auf den schwachen rhetorischen Begriff der Paradoxie zurückgreifen muß. Dies mochte in der Welt des 16. Jahrhunderts noch als Prov o k a t i o n (und insofern als sinnvoll) erscheinen. Heute reicht e t w a s , w a s so leicht zu haben ist w i e eine A b w e i chung v o m Ü b l i c h e n , für einen Fundierungsbegriff nicht aus. Deshalb empfiehlt es sich, den Begriff der Paradoxie an den n o t w e n d i g e n Formgebrauch jeder Beobachtung zu binden. Das führt dann zu der These, daß es k e i n e Beobachtung geben kann, deren Selbstbezeichnung nicht durch eine Paradoxie blockiert w ü r d e . Beobachten ist eine paradoxe Operation. U n d n u r deshalb k a n n sie gegebenenfalls Wahrheiten bezeichnen; aber eben nur: im Unterschied zu 2
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U n w a h r h e i t e n u n d ohne Reflexion der Einheit d e r Differenz von w a h r und unwahr. M i t all d e m bleibt eine wesentliche F r a g e offen: Wenn nicht die L o g i k eine L e t z t z u s t ä n d i g k e i t für die Paradoxie der F o r m in A n s p r u c h nehmen kann, d a n n vielleicht die R e l i g i o n ? Läuft das Interesse an P a r a d o x i e n , d a s in intellektuellen u n d v o r a l l e m philosophischen B e w e g u n g e n dieses J a h r h u n d e r t s so auffallend z u n i m m t , p a r a l l e l zu einer überr a s c h e n d e n Lebensfähigkeit von R e l i g i o n e n in einer Gesellschaft, die sich als » s ä k u l a r i s i e r t « begriffen hatte? Es mag so sein, aber d a n n bringt dies Fragen an das traditionelle c o r p u s religiöser D o g m a t i k e n mit sich. Oder, um mit einer S t i m m e aus d e m 17. J a h r h u n d e r t zu s c h l i e ß e n : » M e t h i n k s there be not impossibilities enough for an active faith«.
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Anmerkungen 1 Siehe speziell im Hinblick auf eîdos/morphé und die Phänomenologie der intendierbaren Bedeutung: La forme et le vouloirdire. Note sur la phénoménologie du langage, und für ousîa: Ousia et gramme. Note sur une note de Sein und Zeit, beides in: Jacques Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972. 2 Jeder Ausweg, meint daraufhin Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin 1989, der in der Unmittelbarkeit des Verstehens oder in Handlungszwängen gesucht werde, sei immer nur vorläufig tragfähig und könne jederzeit in die Notwendigkeit weiterer Zeichen aufgelöst werden. 3 Laws of Form, Neudruck New York 1979, S. 1. Im folgenden beziehen sich Seitenzahlen im Text auf diese Ausgabe. 4 W i r paraphrasieren. Der Text lautet: »a distinction is drawn by arranging a boundary with separate sides so that a point on one side cannot reach the order side without crossing the boundary« 5 Spencer Brown spricht sogar in einem nicht weiter geklärten Sinne von »Motiven«. Offensichtlich finden w i r uns mitten in einer bereits geschaffenen Welt.
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6 Louis H. Kauffman, Self-Reference and Recursive Forms, Journal of Social and Biological Structures 10, 1 9 8 7 , S. 53-72 (58), zitiert den Einleitungssatz Spencer Browns explizit als Beispiel für die Form des re-entry. 7 A . a . O . , S. 53. Vgl. zu einer über self-indication laufenden Lösung auch Francisco Várela G., A Calculus for Self-Reference, International Journal of General Systems 2, 1 9 7 5 , S. 5-24. 8 Spencer Brown, S. 4: »Call the form of the first distinction the form. Let there be a form distinct from the form. Let the mark of distinction be copied out of the form into such another form.« 9 Anhaltspunkte für diese Ausdehnung gibt v o r allem das Kapitel 12 Re-entry into the Form. 10 Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in ders., Soziologische Aufklärung Bd. 5, Opladen 1990, S. 9 5 - 1 3 0 . 11 In dieser Fassung - Erzähler in und nicht in der Erzählung - ein bekanntes Thema der Literatur und der Literaturgeschichtsschreibung. Siehe nur Dietrich Schwanitz, Zeit und Geschichte im Roman - Interaktion und Gesellschaft im Drama: Zur 'wechselseitigen Erhellung von Systemtheorie u n d Literatur, in: Dirk Baecker et al. (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt am Main 1987, S. 1 8 1 - 2 1 3 ; ders., Systemtheorie und Literatur: Ein neues Paradigma, Opladen 1990; David Roberts, Die Paradoxie der Form in der Literatur, in: Dirk Baecker, Hrsg., Probleme der Form, Frankfurt am Main 1993. 12 Ein Beobachter übrigens, der sich zu seinem Glück oder Unglück verliebt, wie James Keys (alias George Spencer Brown) berichtet, und damit in ein anderes Unterscheidungsspiel und in andere Formen der Auflösung des Formenparadoxes übergeht. Siehe James Keys, Only Two can play This Games, Cambridge Engl. 1971. 13 Siehe hierzu v o r allem: Heinz von Foerster, Observing Systems, Seaside Cal. 1981; ferner die Festschrift für Heinz von Foerster: Paul Watzlawick und Peter Krieg, Hrsg., D a s Auge des Betrachters: Beiträge zum Konstruktivismus, München 1 9 9 1 , und Humberto Maturana, The Biological Foundations of Self Consciousness and the Physical Domain of Existence, in: Niklas Luhmann et al., Beobachter: Konvergenz der Erkenntnistheorien? München 1990, S. 4 7 - 1 1 7 . 14 So Maturana a.a.O. (1990).
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15 Davon geht auch Kauffman a.a.O. S. 53 aus und kommt zu dem Schluß: »Therefore, self-reference and the idea of distinction are inseparable (hence conceptually identical).« 16 Im ersten Band der Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (Die Kunstlehre, Stuttgart 1963, S . 4 9 ) heißt es: »Wenn man sich aber die gesamte Natur als ein selbstbewußtes Wesen denkt, wie würde man die Zumutung an sie finden: sich selbst vermittelst der Experimentalphysik zu studieren?« 17 Vgl. Peter J. Awn, Satan's Tragedy and Redemption: Iblis in Sufi Psychology, Leiden 1983. Die Auflösung des Paradoxes liegt hier in einem neuen Paradox: daß der am meisten geliebte Engel seine Verdammung als A k t der ihn auszeichnenden Liebe erfährt - und deshalb nicht bereuen kann. 18 James Keys a.a.O., S. 24. 19 Das griechische »dihafresis« (von haireo = greifen, fassen) erlaubt es nicht, zwischen unterscheiden u n d einteilen zu unterscheiden. 20 Sophistes 253 D. 21 Vgl. Aldo Schiavone, Nascita della giurisprudenza: Cultura aristoratica e pensiero giuridico nella R o m a tardo-repubblicana, Bari 1976, zur Umformung einer gentilizischen ragione signorile in eine spezifisch juristische Begriffstechnik mit entsprechenden Systematisierungen. 22 Vgl. Rosalie L. Colie, Paradoxia Epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox, Princeton N . J . 1966; Ulrich SchulzBuschhaus, Vom Lob der Pest und vom L o b der Perfidie: Burleske und politische Paradoxographie in der italienischen Renaissance-Literatur, in: Hans-Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Hrsg., Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche: Situationen offener Epistemologie, Frankfurt 1991, S. 259-273. 23 Vgl. A. E. Malloch, The Techniques and Function of the Renaissance Paradox, Studies in Philology 53, 1 9 5 6 , S. 1 9 1 - 2 0 3 ; Michael McCanles, Paradox in Donne, Studies in the Renaissance 13, 1966, S. 2 6 6 - 2 8 7 , und als zeitgenössischer Beleg etwa die Jugendarbeit von John Donne, Paradoxes and Problems, hrsg. von Helen Peters, Oxford 1980, aber auch sehr viele seiner späteren Gedichte. 24 In der Kritik der Urteilskraft, Einleitung VI, heißt es: »Zwar spüren wir an der Fasslichkeit der Natur und ihrer Einheit der Abteilung in Gattungen und Arten, w o d u r c h allein empirische Begriffe möglich sind, durch welche wir sie nach ihren besonde-
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ren Gesetzen erkennen, keine merkliche Lust mehr, aber sie ist gewiss zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht möglich sein würde, ist sie allmählich mit der bloßen Erkenntnis vermischt und nicht mehr besonders vermerkt worden.« Das heißt: die genos-Spekulation wird in eine genos-Technik zurücktransformiert. 25 So Kenneth J. Gergen, Toward Transformation in Social Knowledge, New York 1982, S. 142. 26 Experimentell getestet! Aus Anlaß eines Vortrags über den Code der Moral, den ich mit der paradoxen These eingeleitet hatte, Moral sei nichts Gutes (weil der Unterschied von gut und schlecht nicht selber gut sein könne) äußerte ein anwesender Philosoph sich »indigniert« mit Hinweis auf Probleme des Rassismus. Das verstandene Paradox hätte A n l a ß geben können zu der Frage (Unterscheidung), ob eine moralische Beurteilung dieses Problems ausreiche. 27 So z. B. von Stephen Toulmin, Kosmopolis: Die unerkannten Aufgaben der Moderne, dt. Übers. Frankfurt 1 9 9 1 . Im übrigen stammt auch das wohl eindrucksvollste Werk der Postmoderne aus dieser Zeit: Rabelais' Gargantua und Pantagruel. 28 Zur entsprechenden Kontroverse siehe nur Ernest Nagel, Logic Without Metaphysics, Glencoe III. 1956, S. 247 ff.; ders., The Structure of Science, New York 1961, S. 520ff.; Carl Hempel, The Logic of Functional Analysis, in: Llewellyn G r o ß , Hrsg., Symposion on Sociological Theory, Evanston III. 1959, S. 271 ff.; Gustav Bergmann, Purpose, Function, Scientific Explanation, Acta Sociologica 5, 1962, S. 225-238. 29 So Baltasar Graciän im Discurso XXIII des Traktates Agudeza y arte de ingenio, Huesca 1649, zit. nach der Ausgabe Madrid 1969, S. 224: »Son las paradojas monstruos de la verdad«. 30 So Gilbert Chesterton, Heretics, London 1 9 0 5 , S. 82, zit. nach Hugh Kenner, Paradox in Chesterton, London 1948, S. 14 und 25 für das Paradox, daß Differenz notwendig Gleichheit des Differenten voraussetze. 31 Thomas Browne, Religio Medici (1643), zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1965, S. 10.
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W ä h r e n d der Arbeit an diesem Beitrag hatte ich Gelegenheit, eine Fernsehsendung z u m Thema der Aufnahme von Homosexuellen in die amerikanische A r m e e zu sehen. Was ich da sah (und es mag ja durchaus sein, daß ich Dinge sah, die nicht gezeigt w u r d e n ) , soll hier als Einführung in die recht schwierigen u n d sozusagen postkonzeptuellen Themen Dekonstruktion u n d Beobachtung zweiter Ordnung dienen. Die b e w u ß t e Fernsehsendung zeigte Diskussionen im amerikanischen Senat u n d Interviews mit Soldaten und Offizieren. Dabei offenbarte sich eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Sehweisen. Die Hauptprobleme w a r e n so simpel w i e schwierig: ob nämlich, erstens, die Aufnahme von Homosexuellen die Wehrkraft der A r m e e zersetzen würde und w i e nachdrücklich, zweitens, die Einwände u n d Vorbehalte dagegen w o h l auf Seiten der A r m e e selber wären. Das Thema w u r d e zunächst aus rein politischen Gründen im Rahmen von Clintons W a h l k a m p a g n e eingeführt, schien hernach jedoch deren Kontrolle zu entgleiten. So gelangten in der Diskussion rechtliche Unterscheidungen zum Tragen, z u m Beispiel in der Streitfrage, ob die gegenwärtige Praxis in U b e r e i n s t i m m u n g mit der Verfassung sei (verfassungskonform/nicht-verfassungskonform) und ob das Recht überhaupt imstande sei, unrechtmäßiges Verhalten w i e etwa sexuelle Belästigung oder Gewalt gegen Homosexuelle innerhalb der A r m e e zu kontrollieren (Effizienz/Ineffizienz des Gesetzes). Hinter all d e m jedoch stand immer die nicht diskutierte Unterscheidung zwischen Heterosexuellen u n d Homosexuellen. Dieser Sachverhalt gibt uns Gelegenheit, den Dekonstruktionismus genauer in Augenschein zu nehmen und
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uns klarzumachen, w a s geschähe, w e n n man sein Instrumentarium auf den soeben skizzierten Fall anwendete. Wir hätten dann die Unterscheidung heterosexuell/homosexuell zu dekonstruieren. Das w ü r d e zweifellos zur Eliminierung der A n n a h m e einer >hierarchischen O p p o s i t i o n im Sinne eines inhärenten oder >natürlichen< Primats der Heterosexualität führen. Zumindest w ü r d e n w i r dann das sehen, wenn auch nicht gleich w i r k l i c h zerstören, w a s Louis Dumont l'engiobement du contraire nennen w ü r d e , nämlich die Einbeziehung von Oppositionen in eine hierarchische Struktur bevorzugter Lebensweisen. Das allerdings läßt sich auch in der Terminologie der >Vorurteile< u n d ganz ohne den Einsatz der ambitiösen und transkonzeptuellen Operationen des Dekonstruktionismus sagen. U n d Derrida selber w a r n t ausdrücklich vor solchem strategischen u n d politischen Gebrauch der Dekonstruktion. Derridas Ziele sind ambitiöser - u n d weniger spezifisch. Die Dekonstruktion macht darauf aufmerksam, daß Differenzen lediglich Unterscheidungen darstellen, die ihren Gebrauchswert ändern, w e n n w i r sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten u n d in unterschiedlichen Kontexten verwenden. D i e Differenz zwischen Heterosexuellen und Homosexuellen ist nicht immer dieselbe. Sie unterliegt der 1
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differance. Dagegen überhaupt kein Einwand. A b e r w a s , wenn w i r fragen: Wer (d. h. welches S y s t e m ) verwendet den Unterschied als R a h m e n (oder Schema) für Beobachtungen? Wer also ist der Beobachter? Was investiert dieser Beobachter in die Unterscheidung, u n d w a s setzt er aufs Spiel, w e n n er an ihr festhält? Fragt man so, dann rückt sogleich eine ganze Reihe von beobachtenden Systemen ins Blickfeld: das politische S y stem, die Interaktion w ä h r e n d einer Sitzung des amerikanischen Senats, die A r m e e , einzelne Soldaten und Offiziere, abgelehnte H o m o s e x u e l l e , Frauen u n d Männer, schließlich w i r vor unseren Fernsehapparaten. Die Illusion, die es zu
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dekonstruieren gilt, liegt in der A n n a h m e , es bezeichneten all diese Systeme das gleiche Objekt, w e n n sie die Unterscheidung Heterosexuelle/Homosexuelle zur Anwendung bringen. Das Stereotyp der Unterscheidung führt zu der A n n a h m e , daß all jene Systeme dieselbe Sache beobachten, w ä h r e n d die Beobachtung dieser Beobachter zeigt, daß das k e i n e s w e g s der Fall ist. Jedes System operiert vielmehr innerhalb seines eigenen N e t z w e r k e s u n d hat seine eigene Vergangenheit w i e seine eigene Zukunft. Während die U n t e r s c h e i d u n g Heterosexuelle/Homosexuelle eine feste Kopplung von Beobachtungen u n d Realität nahelegt u n d n u r einen einzigen Beobachter zu implizieren scheint, der >dieselbe Sache< beobachtet u n d zu richtigen oder falschen A u s s a g e n über sie gelangt, w ü r d e ein Beobachter zweiter O r d n u n g , der diesen Beobachter beobachtet, n u r eine lose Kopplung von Beobachtung und Realität, also einen M a n gel an vollständiger Integration erkennen. Doch damit nicht genug. Wir dürfen den zumindest in diesem Zusammenhang wichtigsten Beobachter nicht vergessen: den Körper. A u c h er macht seine eigenen Unterscheidungen u n d entscheidet darüber, ob er sich sexuell angezogen fühlt oder nicht. Die Beobachtung dieses Beob. achters führt uns zu der Frage, ob der Körper kulturellen Geboten verpflichtet ist oder ob in Menschen u n d sozialen S y s t e m e n w o m ö g l i c h , w i e die Griechen sagten, eine unvermeidliche akrasia (Mangel an Selbstkontrolle) waltet, ein M a n g e l an potestas in se ipsum. Setzen w i r einmal eine solche akrasia voraus. Kann ein Soldat dann wissen, w i e sein Körper eine Situation beobachten w ü r d e , in der er Homosexuellen außerhalb der abgeschirmten Privatsphäre, etwa unter der Gemeinschaftsdusche, im Schlafsaal oder in zahlreichen ähnlichen Situationen, begegn e t ? Selbst w e n n Gesellschaft u n d Militär Heterosexualität bevorzugen u n d selbst w e n n ein Individuum diese Entscheidung für sich selber u n d seinen Körper akzeptiert: darf man sicher sein, daß der Körper immer mitspielt? 3
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Die Fernsehinterviews bezeugen, daß d i e Soldaten, diese starken und gesunden, wohlgenährten j u n g e n Männer mit überdimensionierten Armen, Beinen und Körpern bekennen, daß sie Angst vor Homosexuellen in i h r e r unmittelbaren U m g e b u n g haben. A n g e n o m m e n , es stellte das Gesetz eine w i r k s a m e Prävention gegen sexuelle Belästigung bereit, so w ä r e dies freilich völlig harmlos. I s t es aber so ganz undenkbar, daß die eigentliche Sorge der Soldaten die ist, daß ihr Körper als eigenständiger Beobachter reagiert und andere dies sehen könnten? Es m a g die Aussicht, daß dieser Fall tatsächlich eintritt, z w a r außerordentlich gering sein. Doch geht von der U n g e w i ß h e i t ein Verstärkereffekt aus. Ist dies w a h r - und indirekt w i r d es ja d u r c h die Tatsache bestätigt, daß weibliche Soldaten sich viel weniger Sorgen über mögliche lesbische Kameradinnen machen, da ihre Körperreaktionen weniger spezifisch und leichter zu verbergen sind - so verändert sich die gesamte Problemstellung. Wenn die Griechen von der akrasia sprachen und das Mittelalter von der potestas in se ipsum, d a n n w a r der Rahm e n für die Beobachtung durch die U n t e r s c h e i d u n g von Vernunft und Leidenschaften abgesteckt, wobei die Vernunft als die Position eines v o n Gott geschaffenen Beobachters galt, der Gottes Schöpfung nur auf eine einzige Weise zu beobachten hatte. Die D e k o n s t r u k t i o n zerstört eben diese Annahme >ein Beobachter - e i n e N a t u r - eine Welt<. Identitäten müssen also k o n s t r u i e r t werden. Aber von w e m ? Das Problem der Zulassung von H o m o s e x u e l l e n zum M i l i t ä r ist das Problem des Schutzes d e r zerbrechlichen u n d letztlich selbsttrügerischen K o n s t r u k t i o n des Individuu m s ; es ist das (für Soldaten ohnehin nicht untypische) Risiko des Tragens schlecht passender K l e i d u n g . Es ist hingegen nicht, w i e viele w o h l glauben m ö c h t e n , ein Problem der Protektion von Heuchelei. U n d es ist auch kein Problem der individuellen Freiheit. Der amerikanische Senat w i r d w o h l k a u m je auf den Gedanken k o m m e n , Experten 5
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auf d e m Gebiet der Dekonstruktion o d e r der Beobachtung z w e i t e r O r d n u n g zu Rate zu ziehen, u n d es würden solche Experten, w e n n man sie dennoch befragen würde, k a u m mit politischen Lösungen aufwarten. D o c h wäre es nicht denkbar, daß das politische S y s t e m , von seiner eigenen R h e t o r i k geblendet, übersieht, daß e i n e komplexere Fassung des Problems durchaus d e n k b a r i s t ?
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Die amerikanische Dekonstruktionismusdebatte ist heute ganz offensichtlich erschöpft. Fast w i l l einem der Dekonstruktionismus w i e eine altmodische M o d e erscheinen. Es gab eine Zeit, in der man meinte, die Dekonstruktion als M e t h o d e z u r A n a l y s e literarischer T e x t e w i e Gesetzestexte einsetzen zu können, um ältere, eher formalistische Methoden z u r Entschlüsselung immanenter Textbedeutungen zu ersetzen. Zur gleichen Zeit verlor die Hermeneutik ihren Stützpunkt im Subjekt u n d e n t w i c k e l t e sich zu einer Zirkularität schaffenden Methode, die B e d e u t u n g zunächst in den Text einführte, um sie hernach in i h m w i e d e r aufspüren zu können. Sie lehrte, w i e man durch die i m m e r neue Lektüre von Texten zu immer neuen Bedeutungskonstruktionen gelangt. Dennoch hielt die H e r m e n e u t i k an der Idee fest, sie habe die Oberfläche eines Objekts ( e i n e s Textes) oder eines Subjekts (eines Bewußtseins) zu d u r c h d r i n g e n , um in einer Tiefenschicht wahrheitsfündig zu w e r d e n . Sie beharrte daher auch auf dem traditionellen G e d a n k e n einer Grenze zwischen einem Innen u n d einem A u ß e n , den nur Derrida z u dekonstruieren w a g t e / Ferner w a r e n die Hegeische Version der dialektischen M e t h o d e u n d P e i r c e s Semiotik verfügbar, die beide auf das Transzendieren von Unterscheidungen in Richtung auf eine dritte P o s i t i o n hin abzielten. Die Dekonstruktion w u r d e d e m g e g e n ü b e r entworfen w e n n sie überhaupt entworfen w u r d e —, um diese Positio6
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nen zu vermeiden. Sie scheint das Lesen von Formen als Differenzen zu empfehlen, die F o k u s s i e r u n g auf Unterscheidungen ohne jede Hoffnung, die verlorengegangene Einheit auf höherer Ebene oder zu späterem Zeitpunkt je wiedererlangen zu können, und sogar o h n e einen Interpretanten im Sinne von Peirce anzubieten. D i e Dekonstruktion scheint einem intellektuellen Klima zu entsprechen, das sich auf dem Weg z u r kulturellen Diversität befindet. Aber liegen d e m dekonstruktionistischen Geschäft irgendwelche Regeln zugrunde, u n d berechtigt es z u r Hoffnung auf irgendwelche Resultate, das heißt, geht es davon aus, daß es irgendwelche Raster gibt, die n i c h t dekonstruierbar sind? O d e r führt die A n w e n d u n g dekonstruktionistischer Grundsätze lediglich zu Reflexivität, Rekursivität u n d Selbstreferenz, w a s dann in festen B e d e u t u n g e n , Obj e k t e n oder, w i e die Mathematiker es nennen, Eigenwerten resultiert? Es hat allen Anschein, als gäbe es ausschließlich
différence. Derrida selber hat auf diese Diskussion mit gut gespieltem Erstaunen reagiert. In seinem Brief an einen japanischen Freund erklärt er: >Was die D e k o n s t r u k t i o n nicht ist? A l l e s selbstverständlich! U n d w a s sie w o h l ist? Nichts selbstverständliche u n d liefert damit einen kritischen Kommentar zur Grundprämisse der traditionellen ontologischen M e t a p h y s i k u n d ihrer Logik, derzufolge jede Sache entweder ist oder nicht ist. Die D e k o n s t r u k t i o n ist danach D e k o n s t r u k t i o n des >Seins< w i e auch des >Nicht-Seins<. Sie dekonstruiert die A n n a h m e . d e r Präsenz, j e d w e d e r stabilen Beziehung z w i s c h e n Präsenz und A b s e n z , ja sogar die der U n t e r s c h e i d u n g von Präsenz u n d A b s e n z überhaupt. Sie stellt ein instabiles Konzept dar, das der fortlaufenden différance einer jeden von ihr gemachten U n t e r s c h e i d u n g unterliegt. Sie changiert u n d bewegt sich mit anderen, gleichfalls instabilen Indikatoren w i e etwa différance, trace, écriture, Supplement, blanc, marge um einen M i t t e l p u n k t , der nicht länger als entweder anwesend oder a b w e s e n d charak8
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terisiert werden kann. Es will einem dies vorkommen wie der Tanz ums goldene Kalb angesichts eines bereits erfundenen, wenn auch nicht näher bestimmbaren Gottes. Oder systemtheoretisch gefragt: Ist der Dekonstruktionismus nicht die Selbstorganisation dieses Tanzes, wobei man der verlorengegangenen Tradition nachtrauert und sich durch eben solche Trauer in Abhängigkeit von der Tradition begibt, so daß sich nicht entscheiden läßt und auch nicht entschieden werden muß, ob es einen Mittelpunkt gibt oder nicht? Um den Tanz fortzusetzen, mag es ausreichen, sich der >trace de l'effacement de la trace< (Spur der Verwischung der Spur) bewußt zu sein. Betrachtet man diese Diskussion zwischen den Dekonstruktionisten und ihren Kritikern, so ist das wohl Auffälligste an ihr der enge Blickwinkel, unter dem sie geführt wird. Fast handelt es sich da um eine Diskussion nur um ein einziges Wort oder eine Text/Kontext-Diskussion, bei der das Wort Dekonstruktion den Text abgibt und Geschichte und Gebrauch eben dieses Wortes als Kontext fungieren. Es scheint geradezu, als räche sich die Hermeneutik, indem sie den Dekonstruktionismus interpretiert. Doch wenn das dekonstruktionistische Konzept wirklich wesentliche Elemente des >Zeitgeistes<, des intellektuellen Klimas also am Ende dieses Jahrhunderts abdeckt, dann müssen sich ähnliche Versuche auch andernorts finden lassen. Und tatsächlich existieren solche anderen >nachmetaphysischen< Theorien, die mit Differenzen beginnen und enden und auf Paradoxien und deren Entfaltungen fokussieren. Diese Theorien benutzen die Kategorie der Zeit als wichtigstes formales Medium, um wechselnde Beziehungen herzustellen. Sie setzen auf Selbstreferenz und Rekursivität, um Entitäten (als Fiktionen) in Systemen von mathematischen oder empirischen Operationen zu fixieren, die sich selber in dynamischer Stabilität erhalten. Bei der Begrenztheit der akademischen Zitationszirkel kann es nicht ausbleiben, daß zahlreiche Möglichkeiten 9
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wechselseitiger Befruchtung ungenutzt bleiben. Wir könnten sie künftigen >Historikern der Gleichzeitigkeit^ überlassen. Bis zu einem gewissen Grade freilich können w i r solche Möglichkeiten auch selber nutzen. 0
Ein alternatives differenzorientiertes Konzept von Erkennen konstituierte sich in den späten sechziger Jahren aus ganz unterschiedlichen Quellen. G r e g o r y Bateson, um bei ihm anzusetzen, definiert Information als »a difference that makes a difference«. Der Informationsprozeß wäre demnach als Transformation von Differenzen in Differenzen aufzufassen. Das heißt, das System m u ß sich durch eine Differenz irritieren lassen, w e n n es sich in einen anderen, also differenten Zustand verändern w i l l . Doch können beide Differenzen nur dann aneinander anschließen, wenn sie vom gleichen S y s t e m konstruiert werden. Es gilt also: verschiedene Systeme, verschiedene Informationen. G. Spencer B r o w n s Grundannahme lautet, daß jeder mathematische Kalkül darauf basiert, daß eine Unterscheidung gemacht w i r d , die eine Differenz zwischen der einen und der anderen Seite markiert. Solches Unterscheiden zieht (und k r e u z t ) die Grenze zwischen einer unmarkierten Seite (unmarked State) und einer markierten Seite (marked State). Die Unterscheidung (distinction) läßt sich dann als F o r m beobachten. Sie kann ihrerseits markiert werden, und das Prozessieren dieser M a r k i e r u n g kann schließlich zu Formen höherer Komplexität - nicht nur arithmetischer, sondern z u m Beispiel auch algebraischer Formen - führen. Die M a r k i e r u n g , durch welche die eine und nicht die andere Seite der F o r m bezeichnet w i r d , k a n n beobachtet werden als der Beobachter, der die Unterscheidung (distinction) macht. M i t anderen Worten, jegliche Art von beobachtendem System (ganz gleich, ob seine materielle Realität biologischer, neurophysiologischer, psychologischer oder soziologischer A r t ist) läßt sich nach Maßgabe der Unterscheidung beschreiben, die es verwendet. Im Falle von au11
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topoietischen (d. h. sich selbst reproduzierenden) Systemen w ü r d e dies bedeuten, daß ein Beobachter auf die selbstbestimmten u n d selbstbestimmenden Unterscheidungen zu achten hätte, die ein S y s t e m verwendet, um seine eigenen Beobachtungen zu steuern. Dies hat H e i n z von Foerster dazu gebracht, die Möglichkeiten einer Kybernetik zweiter Ordnung bzw. von Beobachtung z w e i t e r Ordnung zu erkunden. Auf dieser Ebene geht es nicht einfach um die Beobachtung von Objekten, sondern um die Beobachtung von beobachtenden Systemen, das heißt darum, diese beiden überhaupt erst voneinander zu unterscheiden. M a n hat herauszufinden, von welchen Unterscheidungen die Beobachtungen des beobachteten Beobachters geleitet w e r d e n u n d ob irgendwelche stabilen Objekte emergieren, w e n n diese Beobachtungen rekursiv auf ihre eigenen Resultate angewendet werden. Objekte sind so gesehen nichts anderes als das Eigenverhalten beobachtender Systeme, das aus der immer neuen A n w e n d u n g ihrer Unterscheidungen resultiert. H i n z u w e i s e n w ä r e ferner auf Gotthard Günthers Konzept der transjunktionalen Operationen}'' Diese meinen w e d e r Konjunktionen noch Disjunktionen, sondern positiv/negativ-Unterscheidungen auf einer höheren Ebene. Wenn man solche Unterscheidungen von einem System angewendet findet (etwa den in einem Set von Einzelkriterien oder P r o g r a m m e n spezifizierten Moralcode gut/böse), so kann m a n diesen R a h m e n auf der Ebene der transjunktionalen Operationen entweder akzeptieren oder ablehnen. Im letzteren Fall w ü r d e das bedeuten, daß man die gesamte Alternativentscheidung gut/böse ablehnt u n d statt dessen nach.einer anderen, beispielsweise der von recht/unrecht, Ausschau hält. Transjunktionale Operationen werden unvermeidbar, sobald ein S y s t e m von der Beobachtung erster auf Beobachtung zweiter O r d n u n g oder, w i e es in der Terminologie Günthers heißt, auf polykontexturale Beobachtung umschaltet. Damit gerät man in entschiedene Nähe zu 15
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Derridas Versuch, die Grenzen der M e t a p h y s i k zu überschreiten, die nur zwei Zustände zuläßt: Sein und NichtSein. M a n gerät in die N ä h e der A b w e i s u n g des Logozentrismus. Es ist dies jedoch nicht gleichbedeutend mit der A b w e i s u n g von Logiken oder F o r m a l i s m e n . Günther gibt sich mit verschwommener Verbalakustik und paradoxen Formulierungen nicht zufrieden u n d versucht, ob nun erfolgreich oder nicht, zu logischen S t r u k t u r e n höherer Komplexität zu gelangen, über die sich n e u e Ebenen für die Integration von Ontologie (für mehr als ein Subjekt) und L o g i k (mit mehr als z w e i Werten) g e w i n n e n lassen.
II F ü r eine Neuformulierung der dekonstruktionistischen Absicht enthalten diese Untersuchungen ü b e r Systembeobachtungen zweiter Ordnung einige w i c h t i g e Fingerzeige. Freilich kann es nicht unsere Aufgabe sein, klarzustellen, w a s Derrida möglicherweise gemeint h a b e n könnte. Derrida selber unterscheidet le sens de sens ( d i e Bedeutung von B e d e u t u n g ) u n d signalisation, w a s einerseits >das Treffen u n d Verschieben von U n t e r s c h e i d u n g e n , andererseits von >Bezeichnungen< bedeuten k ö n n t e . S e i n e Schriften sind écriture in seinem eigenen Verständnis (also inscriptio n s ^ . Was sie bezeichnen, bleibt offen. S i e müssen selbstdekonstruktiv sein, um zeigen zu k ö n n e n , w i e die Dekonstruktion funktioniert. U n d diese F o r m d e r Selbstdekonstruktion paßt genau zu den angestrebten philosophischen Zielen. Doch heißt das nicht, daß n i c h t noch weitere Schritte möglich wären. Derrida tut alles, d i e Voraussetzungen für den Gebrauch von U n t e r s c h e i d u n g e n zu verdunkeln. Tatsächlich aber k a n n m a n auch d e n umgekehrten W e g gehen und die Theoriearchitektur so deutlich wie irgend möglich herausarbeiten, so daß der Beobachter in die L a g e versetzt w i r d , zu entscheiden, ob er den Anregungen 18
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der Theorie folgen oder an gewissen Stellen lieber alternative Wege gehen möchte. Eine erste interessante Konvergenz ist bereits sichtbar. Ein berühmtes D i k t u m Humberto M a turanas (innerhalb des Kontextes von dessen biologischer Erkenntnistheorie) besagt, daß alles, w a s gesagt wird (einschließlich dieser Behauptung), immer v o n einem Beobachter gesagt w i r d . Die Derrida-Interpretation von Joseph M a r g o l i s führt zu einem ganz ähnlichen Resultat: »everything we say [ . . . ] is and cannot but be deconstructive and deconstructible« . Denn der Sprachgebrauch selber ist die W a h l eines Systems, das etwas ungesagt läßt. Oder w i e Spencer B r o w n sagen w ü r d e : Das Treffen einer Unterscheidung hat zur Folge, daß ein bis dahin u n m a r k i e r t e r R a u m in eine F o r m mit einer markierten und einer unmarkierten Seite überführt w i r d . M a g sein, daß die B e h a u p t u n g zu w e i t gehen w ü r d e , es sei Sprachgebrauch schon als solcher dekonstruktiv. Doch die Beobachtung eines Sprache benutzenden Beobachters ist mit Sicherheit dekonstruktiv. Denn auf dieser Ebene kann man transjunktionale Operationen einsetzen u n d Unterscheidungen, mittels deren die Beobachtungen des beobachteten Beobachters gesteuert werden, abweisen oder akzeptieren. Auf der Ebene der Beobachtung z w e i t e r O r d n u n g w i r d alles, einschließlich der Beobachtung zweiter O r d n u n g selber, kontingent. Doch w a s gewinnen w i r durch diesen U b e r g a n g von der D e k o n s t r u k t i o n zur Beobachtung z w e i t e r Ordnung? Was g e w i n n e n wir, w e n n w i r die Dekonstruktion der Dekonstruktion vermeiden und statt dessen Resultate der neueren Forschung über beobachtende Systeme berücksichtigen? Ich möchte folgende Punkte nennen: 20
1. Beobachtungen sind asymmetrische (oder symmetriebrechende) Operationen. Sie verwenden Unterscheidungen als Formen u n d nehmen Formen als Grenzen, die eine Innenseite (die Gestalt) und eine Außenseite voneinander separieren. Die Innenseite ist die bezeichnete, die markierte
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Seite. Von dort aus hat man die folgende O p e r a t i o n zu starten. Die Innenseite hat also A n s c h l u ß w e r t . Es geht zum Beispiel um das Immanente (nicht das Transzendente), das Sein (und nicht das Nicht-Sein), das H a b e n (und nicht das N i c h t - H a b e n ) . Es ist die Innenseite, auf der das Problem einer angemessenen Anschlußoperation anfällt. In der Terminologie Günthers: Die Innenseite besitzt positiven (designativen), nicht negativen (reflektiven) W e r t . Trotzdem gilt, daß alle Beobachtungen beide Seiten der Form voraussetzen müssen, die sie als Unterscheidung o d e r >Rahmen< verw e n d e n . Sie können n i r g e n d w o a n d e r s als in der Welt operieren (leben, wahrnehmen, denken, h a n d e l n , kommunizieren). Das bedeutet, daß i m m e r e t w a s ungesagt bleiben m u ß , w o d u r c h eine Position produziert -wird, von der aus das je Gesagte dekonstruiert w e r d e n k a n n . 21
2. Wenn man versucht, beide Seiten d e r Unterscheidung, die man verwendet, zu gleicher Zeit zu sehen, so sieht man eine Paradoxie, das heißt eine Einheit o h n e Anschlußwert. Das Differente ist identisch, das Identische ist different. Dies bedeutet zunächst, daß alle Erkenntnis und alle H a n d l u n g auf Paradoxien, nicht h i n g e g e n auf Prinzipien zu gründen ist: auf die selbstreferentielle Einheit des Positiven u n d des Negativen, das heißt auf e i n e im ontologischen Sinne nicht bestimmbare Welt. U n d w e n n man die Welt in einen markierten u n d einen u n m a r k i e r t e n Teil aufspaltet, um etwas zu beobachten, so w i r d ihre Einheit unsichtbar. Die Paradoxie ist der sichtbare Indikator der Unsichtbarkeit. U n d da sie die Einheit d e r Unterscheidung darstellt, die für die Operation der B e o b a c h t u n g erforderlich ist, bleibt die Operation selber für s i c h und vorläufig unsichtbar. Dies führt zu der Schlußfolgerung, d a ß Teile der Welt (oder jedweder Einheit) ein höheres Reflektionspotential besitzen als die Welt (oder Einheit) selber, die auch ohne Reflektionspotential a u s k o m m e n kann. Es ist dies jedoch 22
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k e i n >holistischer< Ansatz. Es ist keine H e g e i s c h e Dialektik, die mit dem absoluten Geist endet, d e r insofern nichts als eine Paradoxie ist, als er eine Einheit darstellt, die nur A u s schluß ausschließt. Doch könnte m a n d e n Ansatz in gewisser Hinsicht als eine Rekonstruktion d e r Dekonstruktion betrachten. Die Weisheit der im sechzehnten J a h r h u n d e r t erneut aufblühenden griechischen und r ö m i s c h e n Rhetorik gestand Paradoxien die Funktion zu, das D e n k e n zu stimulieren. D i e normale >doxa< w u r d e durch eine >para-doxa< in Frage gestellt u n d damit eine Entscheidung e r z w u n g e n . Während die mittelalterliche Technik der quaestiones disputatae bei der Entscheidung zwischen g e g e n s ä t z l i c h e n Meinungen auf Autorität setzte, w u r d e mit O c k h a m u n d der Einführung des Buchdrucks die Autorität selber fragwürdig. Die gegensätzlichen Meinungen w u r d e n als P a r a d o x i e n reformul i e r t , und die Streitfragen blieben offen. Schließlich wurde die R e l i g i o n auf institutioneller Ebene gespalten, und es begann der Krieg um die Wahrheit. H e u t e sagen die Logiker, daß T a u t o l o g i e n und Paradoxien >entfaltet<, das heißt durch s t a b i l e Entitäten ersetzt w e r d e n müßten. So oder so habe m a n m i t Unterscheidungen zu arbeiten, die einen vor dem I r r t u m behüteten, zu identifizieren, w a s nicht zu identifizieren sei... Doch Unterscheidungen werden ihrerseits als P a r a d o x i e n sichtbar, sobald man versucht, ihre Einheit zu beobachten. Entfaltungen von Paradoxien sind also nur m ö g l i c h , wenn man die Suche nach stabilen Entitäten aufgibt. Das bedeutet, daß man den Beobachter zu beobachten h a t , um zu erkennen, w a n n u n d w a r u m dieser das R i s i k o e i n e r Entfaltung eingeht - einer Entfaltung, die i m m e r ihrerseits dekonstruiert w e r d e n kann. 23
3. Dies legt es, berechtigterweise, n a h e , daß die Unterscheidung zwischen einer Paradoxie u n d ihrer Entfaltung selber eine Paradoxie ist. (Wir e r i n n e r n uns, daß Dekon-
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struktion selber dekonstruiert w e r d e n k a n n . ) Angesichts dieser Sackgasse vermag w o h l n u r die Zeit Abhilfe zu schaffen. Die Zeit lehrt uns, daß es kein E n d e gibt, alles immer weitergeht u n d Systeme so lange operieren, wie sie nicht zerstört werden. Spencer B r o w n s Formenkalkül ist rein temporal, das heißt, er stellt ein Z e i t verbrauchendes P r o g r a m m z u m Aufbau von K o m p l e x i t ä t dar. Nach Spencer B r o w n kann man die Grenze j e g l i c h e r Form (= Unterscheidung) kreuzen und so auf die a n d e r e Seite gelangen. Doch dazu bedarf es einer weiteren O p e r a t i o n . Wenn die andere Seite der unmarkierte R a u m ist, so bleibt einem nichts übrig, als wieder zurückzukehren. D a m i t freilich gehorcht m a n dem law of cancellation. K e h r t man zurück, so ist es, als sei nichts geschehen. Versucht m a n aber durch das Überschreiten der Grenzlinie etwas Spezifisches zu finden, so ist es notwendig, auch auf der anderen Seite w i e d e r eine Unterscheidung zu treffen, die den bis d a h i n noch unmarkierten R a u m aufteilt und die Welt d a b e i als unbeobachtbare Einheit reproduziert. So verschiebt m a n das Problem, u n d genau das scheint es zu sein, w a s D e r r i d a unter differance versteht. Was finden wir, w e n n w i r bei der Form der Natur beginnen und deren Grenze mit e i n e r ganz bestimmten Absicht überschreiten? Vielleicht Gna.de, die neue Unterscheidungen w i e z u m Beispiel G n a d e / A r b e i t , Gnade/ Gerechtigkeit oder Gnade/Schöpfung voraussetzt. Die andere Seite der Natur könnte aber auch Zivilisation oder Technologie heißen, u n d auch dann w e r d e n w i r weitere Unterscheidungen w i e etwa die von Zivilisation/Kultur oder feste Kopplung (Technologie) / lose K o p p l u n g einführen w o l l e n . Die, andere Seite k a n n auf unterschiedlichen Wegen spezifiziert werden. So gibt es e t w a zu gewissen Zeiten die Entscheidungsmöglichkeit z w i s c h e n einem religiösen u n d einem profanen Kontext. S o l c h e Möglichkeiten der Substitution anderer Gegenbegriffe können benutzt w e r d e n , um die Semantik der Gesellschaft den Veränderungen der sozialen Strukturen anzupassen. 24
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4. Im Rahmen der Theorie empirischer Systeme läßt sich ein ähnlicher Trend zur Temporalisierung des Problems der Identität und Stabilität u n d zur Ersetzung der Theorie struktureller Stabilität durch eine solche der dynamischen Stabilität beobachten. Der Strukturalismus setzte voraus, daß Systeme zur Limitierung des Bereichs möglicher Veränderungen Strukturen benötigen. Strukturen scheinen sodann zwischen schneller Veränderung (kurzen Wellen), langsamer Veränderung (langen Wellen) und destruktiver Veränderung (Katastrophen) zu differenzieren. Doch im Gegensatz zu einer versteckten A n n a h m e des Strukturalismus ist die einzige Systemkomponente, die sich verändern kann, gerade die Struktur des S y s t e m s . Was also findet man, w e n n man auf diese F o r m (= Unterscheidung) achtet, auf der anderen Seite dieser F o r m S t r u k t u r ? W i r finden dort Ereignisse beziehungsweise die Operationen des Systems. Ereignisse (und diese schließen Operationen ein) vermögen sich nicht zu verändern, da es ihnen an Zeit zur Veränderung gebricht: Sie verschwinden so schnell, w i e sie in Erscheinung getreten sind, verschwinden bereits w ä h r e n d ihres Hervortretens w i e d e r . Auch hier w i e d e r u m eine Paradoxie: Die einzigen unveränderlichen Komponenten des S y s t e m s sind basal instabil. Systeme müssen demnach ihre Operationen einsetzen, um ihre Operationen einsetzen zu können usw. Dies ist grob gesagt das, w a s m a n mit H u m b e r t o Maturana Autopoiesis genannt hat. Autopoietische Systeme sind das Produkt ihrer eigenen Operationen. Sie besitzen Eigenschaften w i e die der d y n a m i s c h e n Stabilität u n d der operationalen Geschlossenheit. Sie sind keine zielorientierten Systeme. Sie halten ihre autopoietische Organisation der Selbstreproduktion so lange w i e möglich aufrecht. Ihr Problem besteht in der Suche nach Operationen, die an den je aktuellen Zustand des Systems anschließbar sind. In diesem Sinne sind autopoietische S y s t e m e das, w a s H e i n z von Foerster nichttriviale oder historische Maschinen nennen w ü r d e . Sie ver25
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w e n d e n selbstreferentielle Operationen in dem Sinne, daß sie zur Entscheidung über den jeweils nächsten Schritt auf ihren je aktuellen Zustand zurückgreifen. Sie sind unzuverlässige Maschinen, die man von trivialen Maschinen zu unterscheiden hat, die aufgrund fester P r o g r a m m e Inputs in Outputs u m w a n d e l n . Autopoietische S y s t e m e sind beim Ü b e r g a n g v o m einen in den anderen Zustand nicht auf feste, sondern auf lose Kopplung angewiesen, u n d eben dies ermöglicht ihre Entwicklung zu unterschiedlichen Strukt u r t y p e n aufgrund willkürlicher Verkettungen von System u n d U m w e l t . Sie verwenden Kognition nicht als Anpass u n g s - oder Überlebensstrategie, da ihre U m w e l t dazu viel zu k o m p l e x u n d zu w e n i g transparent ist. Sie entwickeln aber durch Evolution und Lernprozesse kognitive Fähigkeiten für vorübergehende Anpassung an vorübergehende U m w e l t z u s t ä n d e . U n d dies ermöglicht Erinnerung, was nichts anderes meint als die Fähigkeit, d e n wiederholten Gebrauch von Formen hinauszuzögern. 27
5. Manches System, das zu beobachten vermag, vermag sich auch selbst zu beobachten. Um sich selbst zu beobachten, ist es unerläßlich, daß es sich von a l l e m anderen, das heißt von seiner U m w e l t , unterscheidet. D i e rekursiv miteinander verbundenen Operationen des Systems ziehen eine Grenzlinie, die S y s t e m und U m w e l t voneinander unterscheidet. Die Operation der Selbstbeobachtung erfordert ein re-entry (im Sinne Spencer B r o w n s ) dieser Differenz in sich selber, nämlich der Unterscheidung v o n S y s t e m und U m w e l t in das System. ( A u c h hier sieht m a n also, daß ein Teil einer Entität ein höheres Reflexions v e r m ö g e n besitzen k a n n als diese Entität selbst.) In diesem Sinne verwenden alle Bewußtseinssysteme w i e auch alle S o z i a l s y s t e m e die Unterscheidung v o n Selbstreferenz und Fremdreferenz als eine invariable Struktur ihrer eigenen Beobachtungen. Das ist zunächst nichts als die allbekannte A n n a h m e der klassischen Theorie des (bewußten) Subjekts, d a s erkennt, daß es
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alle Operationen des Erkennens selber ausführt. Doch gilt dasselbe nun auch für alle kommunizierenden Systeme, insbesondere für das Gesellschaftssystem. Kommunikation erfordert die mitlaufende Unterscheidung von Information und Mitteilung, von konstativen und performativen Aspekten ihrer Operation. Und Verstehen ist nichts anderes als die Beobachtung der Einheit dieser Differenz. Re-entry jedoch ist eine paradoxe Operation. Die Differenz zwischen >vor< und >nach< dem re-entry ist gleichermaßen identisch wie different. Das verdeutlicht, daß es zur Lösung der Paradoxie Zeit (nämlich die temporale Unterscheidung eines Beobachters) braucht. Und es verdeutlicht ebenso, daß eine Theorie des Bewußtseins (des bewußten Subjekts) und eine Theorie der Gesellschaft letztlich auf eine entfaltete Paradoxie gegründet werden müssen.
III
Wer also ist der konstruierende und damit dekonstruierbare Beobachter? Niemand selbstverständlich, so würde die Antwort sicherlich bei Derrida lauten. Oder jeder. Das Problem liegt in der Kopula >ist< der Frage. Doch läßt sich deren ontologische Implikation, daß ein Beobachter ist, recht leicht dadurch vermeiden, daß man die Frage im Sinne der Beobachtung zweiter Ordnung reformuliert. Sie lautet dann: Wer wird von wem aus welchen Gründen beobachtet? Will sagen: Ein Beobachter hat zu erklären (oder sogar zu rechtfertigen), warum er sich entscheidet, einen ganz bestimmten Beobachter zur Beobachtung auszuwählen und zu bezeichnen - diesen nämlich und keinen anderen. Auf der Ebene transjunktionaler Operationen kann jeder Beobachter diese Wahl entweder akzeptieren oder ablehnen. Er kann die Vorliebe des Beobachters, auf diesen Beobachter (statt auf jenen) zu fokussieren, teilen. Er kann aber auch die Gefolgschaft verweigern und unter Einsatz
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einer Beobachtung dritter O r d n u n g den Beobachter zweiter O r d n u n g als ein spezifisches S y s t e m mit spezifischen Präferenzen hinsichtlich der Selektion v o n spezifischen zu beobachtenden Beobachtern beschreiben - ähnlich etwa einem Familientherapeuten mit Interesse für die Komplexität wechselseitiger Beobachtungen von Beobachtungen, die so leicht in eine pathologische Richtung gehen können; oder ähnlich einem Philosophen mit Interesse an der Dekonstruktion der unterschiedlichen Formen von Unterscheidungen, mit denen die ontologische M e t a p h y s i k arbeitet. Es gibt mit anderen Worten keinen logischen, ontologischen oder gar natürlichen Primat der Verwendung der Differenz Sein/Nicht-Sein. Ein Beobachter mag diese Differenz auch weiterhin verwenden u n d sich so als jemand zu erkennen geben, der die besondere Beobachtungsweise u n serer metaphysischen Tradition fortsetzt. Oder er mag diese Perspektive ablehnen u n d sich so als jemand zu erkennen geben, der in alle Schwierigkeiten des Beobachtens jenseits der Differenz Sein/Nicht-Sein verstrickt ist, als einer z u m Beispiel, der die Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein verwischt ohne den Versuch, sie durch andere Beobachtungsinstrumente zu ersetzen. In diesem Spiel beobachtender u n d beobachteter Systeme kann der Soziologe sich relativ komfortabel einrichten. A u s gutem Grund k a n n er auf das Gesellschaftssystem als den wichtigsten zu beobachtenden Beobachter fokussieren. Bewußtseinssysteme (Bewußtseine, Individuen, Subjekte) sind ihm einfach deswegen nicht interessant, w e i l es deren zu viele gibt u n d es gar zu schwierig w ä r e , unter fünf M i l liarden oder mehr von ihnen eine begründete Auswahl zu treffen. U n d andere soziale Systeme - so etwa das Wissenschaftssystem -. sind lediglich Subsysteme des Gesellschaftssystems mit einem sehr spezifischen, wenn auch universellen B e o b a c h t u n g s m o d u s . Die W a h l der Beobachtung des Beobachters >Gesellschaft< bleibt eine Selektionsentscheidung, die aus spezifischen Beobachtungsinteressen 28
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resultiert. Doch läßt sich schwerlich l e u g n e n , daß es uns unter den gegenwärtigen historischen 'Verhältnissen nicht einfach d a r u m gehen kann, w a s m o d e r n e Gesellschaft ist, sondern d a r u m , w i e sie sich selber u n d i h r e U m w e l t beobachtet u n d beschreibt. Um die Gesellschaft als Beobachter, j a gar als den wichtigsten Beobachter überhaupt zu erfassen, bedarf es selbstverständlich theoretischer Vorbereitungen. Einige von ihnen w u r d e n in Abschnitt II bereits behandelt. Wir müssen das Konzept von Beobachtung so a b s t r a k t definieren, daß es gleichermaßen auf psychische w i e a u f soziale Systeme, auf W a h r n e h m u n g u n d Denken w i e a u f Kommunikation anwendbar ist. Beobachtung heißt n i c h t s anderes als eine Unterscheidung machen und so die eine Seite und nicht die andere bezeichnen, ungeachtet der materiellen Basis der Operation, die solche M a r k i e r u n g leistet, u n d ebenso ohne Rücksicht auf die spezifischen G r e n z e n , durch die sich das S y s t e m (Gehirn, Bewußtsein, soziales S y s t e m ) von einer U m w e l t abkoppelt u n d sich so als autopoietisches System etabliert, das durch das N e t z w e r k s e i n e r eigenen Operationen reproduziert u n d möglicherweise d u r c h seine Umwelt irritiert, jedoch niemals determiniert w i r d . Dementsprechend muß das K o n z e p t v o n Gesellschaft neu definiert werden. Faßt man Gesellschaft als beobachtendes S y s t e m auf, so kann man sie n i c h t als Anhäufung von unterschiedenen, doch i r g e n d w i e miteinander verbundenen Dingen, nicht also als b e s t e h e n d aus Menschen, H a n d l u n g e n , Strukturen, Prozessen, Elementen, Beziehungen oder sonstweichen im traditionellen Denken verankerten Kategorien beschreiben. Es läßt sich die Einheit solcher >Anhäufungen< auf diese Weise nicht begreifen, u n d diese A m b i g u i t ä t verdunkelt, w i e w i r bereits gesehen haben, die zugrundeliegende Paradoxie. N e u e r e E n t w i c k l u n g e n in der Systemtheorie legen demgegenüber a n d e r e Rahmen u n d vielversprechende Entfaltungen der zugrundeliegenden Paradoxie nahe. So läßt sich Gesellschaft als allumfassendes
Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung 281 Kommunikationssystem denken, das klare, selbstgezogene Grenzen hat, die alle anschließbare Kommunikation einund alles andere ausschließen. Gesellschaft ist danach ein selbstreproduzierendes System, das sich auf nur einen einzigen, höchst spezifischen Operationstyp, den nämlich der Kommunikation gründet. Er schließt andere Typen von operational geschlossenen Systemen, w i e z u m Beispiel Zellen, Neuronen, Gehirne oder Psychen aus. A l l dies und noch vieles mehr ist zweifellos im Prozeß der Kommunikation vorausgesetzt - vorausgesetzt im Sinne einer unerläßlichen U m w e l t (und es sei daran erinnert: die Form eines Systems ist die Differenz zwischen S y s t e m u n d U m w e l t ) . Lebende Systeme u n d Bewußtseinssysteme sind ausschließlich in der Lage, ihre eigene R e p r o d u k t i o n zu produzieren, indem sie nämlich Bewußtseinszustände durch andere Bewußtseinszustände ersetzen. Sie vermögen jedoch aufgrund eben dieses ihnen eignenden Operationsmodus niemals zu kommunizieren. Denn K o m m u n i k a t i o n erfordert die Produktion einer emergenten Einheit, die die Fähigkeit besitzt, die inneren Zustände mehr als n u r eines operational geschlossenen Systems zu integrieren u n d zu desintegrieren. Operationale Geschlossenheit scheint die notwendige empirische Voraussetzung von Beobachtung zu sein. Ohne Geschlossenheit w ü r d e das System seine eigenen Operationen fortwährend mit denen seiner U m w e l t , Bewußtseinszustände mit äußeren Zuständen oder W ö r t e r mit Sachen verwechseln. Es w ä r e nicht in der Lage, die Unterscheidung von Selbstreferenz u n d Fremdreferenz vorzunehmen. Es könnte nicht einmal äußere u n d innere Zustände miteinander vergleichen. Es k ö n n t e den Beobachter nicht vom B e obachteten trennen. Es könnte keine Erkenntnis produzieren. Was w i r aus der Hirnforschung wissen, gilt mithin ebenso für K o m m u n i k a t i o n : Das Fehlen eines operationalen 30
Zugangs zur Umwelt bildet eine notwendige Voraussetzung für Erkenntnis. So bleiben denn alle Konstruktionen immer w i e d e r für andere Beobachter dekonstruierbar.
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W i e , so fragen w i r also, beobachtet u n d beschreibt die Gesellschaft die Welt mittels der V e r w e n d u n g ihrer selbst als Systemreferenz, mittels der E n t w i c k l u n g der höheren Reflexionskapazität eines Systems u n d mittels der Verwendung der Unterscheidung zwischen S y s t e m und Umwelt, um auf diesem Wege die Paradoxie v o n der Welt als einer rahmenlosen, ununterscheidbären Totalität, die nicht beobachtet w e r d e n kann, aufzulösen?
IV
A l s operational geschlossenes S y s t e m genommen, ist die moderne Gesellschaft Weltgesellschaft. Ihre Funktionssysteme decken sich grundsätzlich nie m i t Grenzen regionaler, nationaler oder kultureller Art. wlssenschaftssystem, Wirtschaftssystem u n d S y s t e m der M a s s e n m e d i e n operieren u n d beobachten ganz offensichtlich auf mondialer Ebene. Doch auch das heutige politische S y s t e m ist ein mondiales System, dessen Segmentierung in Staaten dazu dient, ein besseres Verhältnis z w i s c h e n politischer Macht und den sich wandelnden Voraussetzungen d e r öffentlichen M e i nung zu garantieren. N a t i o n a l w i e vor allem international gesehen bleiben die Staaten z w a r auch in der Phase ihrer Auflösung in ethnische G r u p p i e r u n g e n oder ökonomische Verbundsysteme die wichtigste A d r e s s e politischer Kommunikation. Das aber besagt nicht, d a ß eine Gesellschaft mit politischen Grenzen - etwa denen z w i s c h e n den Vereinigten Staaten u n d M e x i k o oder z w i s c h e n Deutschland und Österreich - beginnt u n d endet. Touristen genießen (in gew i s s e m Umfang jedenfalls) in der g a n z e n Welt gesetzlichen Schutz u n d die inszenierte A u t h e n t i z i t ä t der Sitten und Traditionen unterschiedlichster Länder. Wir können unabhängig von unserer nationalen H e r k u n f t heiraten. Ebenso können wir, w e n n überhaupt R e l i g i o n e n exklusive Identität u n d Mitgliedschaft erfordern, von einer Religion zur ande31
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ren konvertieren. A b e r trotz alledem scheint dieses mondiale System nicht in der L a g e zu sein, eine, das heißt nur eine einzige Selbstbeschreibung zu p r o d u z i e r e n . Dies führt uns zu der Frage, w i e die Weltgesellschaft sich selbst u n d ihre umwelthaften Voraussetzungen beobachten und beschreiben k a n n angesichts der unerhörten Verschiedenartigkeit von Lebensbedingungen, kulturellen Traditionen, politischen R e g i m e s , religiösen Orientierungen angesichts der W i r k u n g (oder W i r k u n g s l o s i g k e i t ) der Rechtsgesetze, angesichts v o n Klassenstrukturen, Karrierestrukturen, Korruption u n d angesichts d e s Umstandes, daß große Teile der Weltbevölkerung, u n d d a s in ganz und gar ungleicher Verteilung über die Regionen d e r Welt, von jeglicher Teilhabe an Funktionssystemen ausgeschlossen sind. Die A n t w o r t ist erstaunlich einfach: J e n e Beobachtung u n d Beschreibung w i r d von den M a s s e n m e d i e n vorgenommen. Was w i r von der Welt wissen, w i s s e n w i r - gleich, ob es sich um die deutsche W i e d e r v e r e i n i g u n g , die Lebensbedingungen der Pandas, die A u s m a ß e des U n i v e r s u m s oder das Anwachsen der Gewalt in R i o de J a n e i r o oder Los Angeles handelt - aus Büchern, Zeitungen, Filmen oder dem Fernsehen. In hohem M a ß e geben u n s die Massenmedien die Illusion, als seien w i r Beobachter erster Ordnung, während es sich hier tatsächlich immer bereits um Beobachtung zweiter Ordnung handelt. Die drei Hauptsparten der Operation von Massenmedien - Nachrichten/Reportagen, Reklame und Unterhaltung - arbeiten gemeinsam an der Produktion eines ziemlich kohärenten B i l d e s von jener Welt, in der w i r leben. W i r wissen, daß es sich hierbei um vorselektierte Information handelt, doch w i r reflektieren und kontrollieren die Selektivität jener Selektion im täglichen Leben nicht und w ä r e n d a z u auch gar nicht imstande. Um die Kontingenz der getroffenen Selektionsentscheidungen zu erkennen, bedarf es einer reflektierteren Beobachtung zweiter Ordnung, die uns in die Lage versetzt, nicht nur zu sehen was, sondern auch wie die Massenmedien seligieren. s
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Solche selektive Präsentation stellt nicht etwa, wie die meisten Menschen zu glauben geneigt sind, eine Verzerrung der Realität dar. Sie ist vielmehr eine Konstruktion von Realität. Denn aus der Perspektive einer postontologischen Theorie beobachtender/beobachteter Systeme gibt es keine distinkte Realität außerhalb des Systems (wer auch schon sollte da Unterschiede machen?), sondern immer nur Unterscheidungen (Bezeichnungen, Identifizierungen, Klassifizierungen etc.), die von einem Beobachter vorgenommen werden. Und ebensowenig gibt es, zumindest in der heutigen Gesellschaft, privilegierte Beobachter - sei es nun die höchste Gesellschaftsschicht, den Städter (im Unterschied zur Landbevölkerung), den Geistlichen oder den Gelehrten. Die letzte semantische Konstruktion, die eine solche privilegierte Rolle für sich in Anspruch nahm, war das transzendentale Subjekte Doch es gibt kein transzendentales Subjekt. Wir haben keine andere Wahl, als uns auf die Realitätskonstrukte der Massenmedien zu verlassen und das Künstliche ins Natürliche, die Kontingenz ihrer Konstruktionen in eine Mischung aus Notwendigkeiten, Unmöglichkeiten und Freiheit (oder besser Freiheiten) zu transformieren. Wenn wir auch, einfach durch das Fehlen einer gleichwertigen Alternative, dazu gezwungen sind, die Beobachtungen der Massenmedien anzunehmen, so haben wir doch zumindest die Möglichkeit, die Präsentationen der Massenmedien, ihre Vergegenwärtigungen der Gegenwart zu dekonstruieren. An dieser Stelle nun erscheint es wichtig, Dekonstruktion wieder durch Beobachtung zweiter Ordnung zu ersetzen. Denn es läßt sich auch die Beobachtung der Massenmedien ihrerseits sehr wohl wieder beobachten. Dazu existiert bereits eine Fülle von empirischen Untersuchungen. Massenmedien geben, so heißt es da, weil ihre Aufgabe im Verschaffen von Information besteht, der Diskontinuität den Vorzug vor der Kontinuität, dem Konflikt den Vorzug vor dem Frieden, dem Dissens den Vorzug vor dem Konsens,
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dem Drama den Vorzug vor dem n o r m a l e n und faden Leben. Sie bevorzugen Berichte von eher l o k a l e m Interesse. Sie bevorzugen Information über Quantitäten, die keiner weiteren Erklärung bedürfen, da sie in s i c h selber bereits Unterscheidungen darstellen. Sie geben schlechten Nachrichten den Vorzug vor guten, doch guter W e r b u n g den Vorz u g vor schlechter. Sie arbeiten in der Unterhaltungssparte mit deutlichen moralischen A b g r e n z u n g e n , auch wenn der Gute ab und zu k r u m m e Wege gehen m u ß , um die Geschichte z u m guten Ende zu führen. Sie b e v o r z u g e n Moral u n d action. Das alles bedeutet, daß w i r möglicherweise die Wichtigkeit von Entscheidungen w i e den Einfluß von Entscheidungen (und Individuen) auf Entscheidungen überschätzen und daß w i r unsere U n s i c h e r h e i t hinsichtlich der Zukunft in ein Entscheidungsrisiko zu übersetzen suchen. W i r beharren auf Verantwortlichkeit u n d beurteilen Entscheidungsträger dementsprechend, o b w o h l w i r sehr gut wissen, daß die Zukunft immer offen u n d u n b e k a n n t ist und Werte und Beurteilungskriterien Gegenstand von Kontroversen sind und immer bleiben w e r d e n . Entscheidungen w e r d e n nicht ohne situationsbedingte Einflüsse getroffen, Quantitäten nicht mühelos in E n t w i c k l u n g e n übersetzt, und Diskontinuitäten trennen, w a s w i r von d e r Vergangenheit wissen, von dem, w a s w i r w o m ö g l i c h v o n der Zukunft zu erwarten haben. Diese, allgemeine Tendenz, Diskontinuität, Überraschung, Konflikt, Handlung, Entscheidung und moralische B e w e r t u n g zu betonen, scheint nicht zu einer einheitlichen Weltsicht zu führen, die die alte K o s m o l o g i e der Substanzen und Essenzen ( h y p o k e i m e n o n , subiectum, ousia, essentia) durch eine neue ersetzt. W a s nach etlichen Jahrhunderten des Buchdrucks und mehr als e i n e m Jahrhundert der Massenmedien sichtbar g e w o r d e n ist, i s t eine um vieles komplizierter gewordene, eine, w i e es gelegentlich heißt, hyperkomplexe Beschreibung von Komplexität - wobei h y p e r k o m p l e x so zu verstehen ist, daß es innerhalb des kom-
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plexen Systems der Gesellschaft eine "Vielzahl konkurrierender Beschreibungen dieser Komplexität gibt. Die Einheit der Komplexität wird so unbeobachtbar. Intellektuelle beschäftigen sich und andere damit, diese unterschiedlichen Beschreibungen zu beschreiben, Philosophen werden zu Experten philosophischer Texte - und die Literaturwissenschaft vereinigt als >theory<, was bisher von unterschiedlichen Disziplinen geleistet wurde. Im Vergleich zu dem, was sich heute als unsere alteuropäische Tradition beschreiben läßt, erscheint diese Sachlage als höchst unbefriedigend. Doch müssen wir überhaupt vergleichen? Es könnte durchaus sein, daß unsere Gesellschaft das Ergebnis einer strukturellen und semantischen Katastrophe im Sinne von René Thom ist, nämlich das Resultat einer fundamentalen Veränderung der Stabilitätsform, durch die Zustände und Ereignisse Sinn erlangen. Wenn dem so ist, dann ist die Dekonstruktion unserer metaphysischen Tradition in der Tat etwas, was wir jetzt tun können. Freilich wäre es dann der Mühe wert, die Dekonstruktionsinstrumente mit hinreichender Sorgfalt zu wählen, auf daß wir bei ihrer Anwendung womöglich einiges an Wissenswertem über unsere postmetaphysische, postontologische, postkonventionelle, postmoderne, das heißt also über unsere postkatastrophale Situation erlangen. 32
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Seitdem Geschichte erzählte Geschichte ist und verstärkt noch seit dem Aufkommen des Romans und einer sich selbst reflektierenden Geschichtlichkeit, das heißt also seit dem 1 8 . Jahrhundert, ist Beschreibung von Geschichte ein semantisches Instrument, mittels dessen man die Einheit der Vergangenheit als Garanten der Einheit der Gegenwart präsentierte. Beinahe könnte man sagen, die Einheit der Vergangenheit hatte die verlorengegangene Einheit der Ge-
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g e n w a r t zu kompensieren. Die Einheit d e r Vergangenheit w u r d e als kohärente Ereigniskette, als Einheit der Vielheit dargestellt, als Einheit irgendeiner h a n d e l n d e n Instanz wie z u m Beispiel des Romanhelden oder des Weltgeistes, dem die Geschichte als eine Bewegung in R i c h t u n g auf das vorgegebene Ziel der Selbstverwirklichung dient. Die Historische Schule kompensierte das verlorene Reich u n d die noch nicht erreichte nationale Einheit. U n d i m m e r wieder haben sich seither nationale w i e regionale Bildungsprogramme darauf orientiert, in der Gegenwart ein einheitliches Bild von der Vergangenheit zu präsentieren, d a s ü b e r alle historisch unterschiedlichen Ursprünge u n d a l l e kulturelle Diversität hinwegtäuscht. Doch w i e n u n haben historische Gesellschaften ihre Welt u n d sich selbst innerhalb dieser Welt beobachtet? Diese Frage stellt den unhinterfragten Wert d e r Geschichte für die Bildung von Identität zur Diskussion. Denn die Rückk e h r z u r Geschichte bedeutet eine R ü c k k e h r z u r Diversität. Das gemeinsame Erbe, die k a n o n i s c h e n Texte, die >Klassiker<, alle erfordern erneute L e k t ü r e . Die Dekonstruktion unserer metaphysischen Tradition, w i e sie von Nietzsche, H e i d e g g e r u n d Derrida v o r g e n o m m e n wurde, k a n n man als Teil einer viel umfassenderen B e w e g u n g sehen, in deren R a h m e n die Verbindlichkeit d e r Tradition gelockert u n d Einheit durch Diversität ersetzt woirde. Die Dekonstruktion der ontologischen Voraussetzungen der M e t a p h y s i k entwurzelt unsere historische Semantik auf radikalste Weise. Es scheint dies mit d e m zu korrespondieren, w a s ich die Katastrophe der Modernität genannt habe, den U b e r g a n g nämlich von einer Stabilitätsform in eine andere. Soziologen haben sich nach all d e m Um die strukturellen Bedingungen u n d Limitierungen zu k ü m m e r n , die den R a h m e n abgeben für den Rahmen, innerhalb dessen Beobachtungen u n d Beschreibungen operieren können. M i t anderen Worten, eine soziologische Theorie hätte die Korrelation zwischen Gesellschaftsstrukturen u n d Semantiken zu
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formulieren. Bekanntlich verwendete Marx zu diesem Z w e c k das Konzept der Klassenstrukturen und konstruierte eine Typologie sich wandelnder Produktionsweisen, die historische Ideologien generieren. M a n k ö n n t e dieses Konzept erweitern, indem man Klasse d u r c h Differenzierungsformen ersetzte. Dies öffnete die klassische Erkenntnissoziologie für eine größere s t r u k t u r i e r t e Komplexität u n d gäbe uns die Möglichkeit, den ausgearbeiteten Begriffsrahmen der Systemtheorie z u r A n w e n d u n g zu bringen, um Differenzierungsformen genauer zu spezifizieren. Differenzierung w i r d dann zur Systemdifferenzierung, Systemdifferenzierung z u m re-entry von S y s t e m b i l d u n g innerhalb von Systemen, von neuen Grenzen i n n e r h a l b bereits abgegrenzter Systeme, von Formen in Formen, v o n Beobachtern in Beobachtern. Entwickelte Gesellschaften der Vergangenheit waren in soziale Schichten ( A d e l / G e m e i n e ) o d e r entsprechend der Zentrum/Peripherie-Differenz ( S t a d t / L a n d ) gegliedert. Familien (und also auch Individuen) l e b t e n entweder auf der einen oder der anderen Seite dieser i n t e r n e n Grenze. Die soziale Struktur w i e s ihnen ihre Plätze zu. Dies hatte den Vorteil, daß die Gesellschaft privilegierte Positionen besaß, von denen aus sie sich selbst u n d ihre U m w e l t beobachten u n d beschreiben konnte. Die Oberschichten oder das Zentrum, die polis, besaßen die unbestrittene A u t o r i t ä t bei der Beobachtung und Beschreibung, d. h. bei d e r Produktion von Ontologie. Kritik konnte sich etwa g e g e n verwerfliches m o ralisches Verhalten richten. Ethik u n d Tugend stellten in China, der griechischen polis, R o m u n d im Mittelalter bedeutsame Instrumente dar, mit d e m N e g a t i v e n in der Gesellschaft fertig zu werden. Die M o r a l funktionierte gewisserm a ß e n als ein Protest absorbierender Mechanismus. Kein M a n g e l an Autorität konnte die P r o k l a m i e r u n g der Wahrheit beeinträchtigen. Die Welt, sei es n u n die universitas rerum oder hic mundus im religiösen, eher also negativen Sinn, umfaßte die Gesellschaft v o n H e r o e n w i e Sündern, von ex-
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emplarischen Lebensstilen. Sie begrenzte u n d stützte die Strukturen. Begriffe w i e environment, environnement und Umwelt sind Neologismen des neunzehnten Jahrhunderts. Dies ist die Welt, die uns heute verlorengegangen ist: die Welt der ontologischen Metaphysik, die W e l t von Sein oder Nicht-Sein, die Welt jener zweiwertigen L o g i k , die einen (und nur einen) Beobachter voraussetzte, der zur Erkenntnis einfach durch die Betrachtung der Sache selbst gelangte. Erkenntnis, doch genauso eine Leidenschaft w i e etwa die Liebe, w a r bloße passive Reaktion auf eine, bloßes beeind r u c k t sein von einer objektiven Realität, und Fehlleistungen der Erkenntnis w i e der Leidenschaft w a r e n grundsätzlich rational korrigierbar. Der Zusammenbruch dessen, was m a n (Otto Brunner folgend) alteuropäische Semantik n e n n e n könnte, wurde unvermeidlich, als die Gesellschaft ihren d o m i n a n t e n Differenzierungsmodus änderte, als sie n ä m l i c h von der als >die Ordnung< verstandenen hochentwickelten hierarchischen Stratifizierung auf den Primat funktionaler Differenzierung umstellte. D u r c h diese Veränderung w u r d e n die Funktionsbereiche unabhängig von sozialer Stratifikation und organisierten n u n ihre eigenen Begrenzungen, i h r e eigenen Techniken von Inklusion und Exklusion v o n Personen, ihre eigenen M e t h o d e n der U m s e t z u n g von Gleichheit in U n gleichheit und von Freiheit in Beschränkung. Die Gesellschaft konnte - dies eine ganz neue F o r m der Entfaltung der Paradoxie - Gleichheit und Freiheit für alle proklamieren, da ihre Funktionssysteme den u m g e k e h r t e n Zustand generierten. M o r a l vermochte nun nicht l ä n g e r Proteste zu absorbieren, sondern w u r d e ein Instrument der unausgesetzten Selbstirritation der Gesellschaft. Sie w u r d e individualistisch u n d bedurfte ab jetzt der rationalen Ausarbeitung: das neue Verständnis von Ethik, w i e es uns bei B e n t h a m u n d Kant entgegentritt. Erst in den letzten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts w u r d e der europäischen Gesellschaft bewußt, daß die
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alte Ordnung der Vergangenheit angehörte. Dies hat nichts mit der sogenannten Industriellen Revolution zu tun oder mit der Französischen Revolution, welche nur deswegen Bedeutung erlangen konnten, w e i l die Gesellschaft bereits darauf vorbereitet war, eine neue O r d n u n g wahrzunehmen und zu interpretieren. Um 1800 versuchte eine neue S e mantik der M o d e r n e (die moderne Welt, die modernen Staaten usw.) die Veränderungen einzuholen. Die Zukunft w u r d e als eine Zukunft gedacht, die offen für Verbesserungen w a r (mehr Freiheit, mehr Gleichheit, die Verfassungsfrage, mehr Bildung' und vor allem mehr Emanzipation). A u s der Gottesfrage w u r d e eine Religionsfrage. Während des neunzehnten Jahrhunderts tauchte dann eine Reihe neuer Unterscheidungen w i e etwa Staat und Gesellschaft, Individuum u n d Kollektiv, Gemeinschaft und Gesellschaft auf. Doch das >und< dieser dualistischen Begriffspaare blieb uninterpretiert. Das heißt, die Einheit der Differenz (= die Paradoxie) blieb unsichtbar. Offensichtlich w a r die moderne Gesellschaft noch unfähig, sich selbst zu beobachten, nämlich den Beobachter zu identifizieren. Besondere Probleme w i e >die soziale Frage< oder der Imperialismus avancierten z w a r zu kontroversen Themen, doch ihre Fassung als Problematisierungen u n d Problemlösungsversuche konnte nur w e n i g zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft beitragen. Erst den Massenmedien gelang es, diese Funktion w a h r z u n e h m e n . Befinden w i r uns nun am Ende dieses Jahrhunderts in einer anderen L a g e ? Bieten sich heute andere Möglichkeiten an? Es läßt sich behaupten - und es w i r d auch behauptet daß die Semantik der M o d e r n e eine Übergangssemantik war. Doch das Konzept der Postmoderne bietet uns keine neuen Informationen, sondern wiederholt diese Einsicht nur einfach. Reflexivität scheint der N a m e für die mißliche Situation zu sein, in der sich die Philosophie dieses Jahrhunderts befindet. Doch w a s bedeutet das, wenn man es 33
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auf den gesellschaftlichen Kontext überträgt? Entzweiung, Differenz, M a n g e l an Einheit, Zerstörung aller kanonischen Sicherheiten: das w a r bereits das Lamento des neunzehnten Jahrhunderts, und heute sind w i r lediglich intellektuell besser gerüstet, das alles als unvermeidlich zu akzeptieren. Dekonstruktion scheint schließlich das Schlüsselwort zu sein, mit dem uns suggeriert w i r d , dies sei etwas, w a s w i r tun könnten. Der Sinn der A m e r i k a n e r fürs Pragmatische mag sich dadurch angesprochen fühlen. Doch die Frage bleibt: Sollten w i r es auch tun? U n d w a r u m ? O d e r w a r u m nicht? U n t e r historischem Gesichtspunkt betrachtet scheint der Dekonstruktionismus das Ende der Geschichte zu bezeichnen: Geschichte, die sich selbst verbraucht. Nichtsdestoweniger läuft er weiter und gelangt an kein Ende: Er vermag die Fülle des Nicht-Seins nie zu erreichen. Er ist u n d bleibt Schrift, Konstruktion, Verschiebung von Differenzen. A n gesichts dieser unbegrenzten Aussichten kann ein Verständnis von Dekonstruktion als Beobachtung von Beobachtern deren Komplexität reduzieren. Das einzig mögliche Objekt der Dekonstruktion bilden beobachtende/beobachtete Systeme. Doch beobachten heißt: eine Unterscheidung verwenden, um so eine Seite und nicht die andere zu markieren. W i r können danach unterschiedliche Beobachter unterscheiden, w o b e i auch w i r dann w i e d e r u m beobachtet w e r d e n können. So gewinnen w i r durch die Reduzierung v o n Komplexität Komplexität, und z w a r die strukturierte Komplexität selbstbeobachtender Systeme. W i r verlieren Individuum, Bewußtsein und Körper nicht als beobachtbare Beobachter. Doch w i r können auch auf Gesellschaft als selbstbeobachtendes, selbstbeschreibendes System fokussieren. So aufgefaßt w i r d die Dekonstruktion ihre eigene Dekonstruktion überleben als die relevanteste Beschreib u n g der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft.
2 9 2 Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung Anmerkungen * Dieser Beitrag stellt die überarbeitete Fassung eines von acht Vorträgen dar, die vom A u t o r am Commenwealth Center in Charlottesville, Virginia, gehalten w u r d e n . Er erschien zuerst unter dem Titel >Deconstruction äs Second-Order Observing< in New Literary History 24, 1993, S. 7 6 3 - 7 8 2 . Autorisierte deutsche Übersetzung von Matthias Prangel. 1 Siehe Dumont 1966: 107f., 1983: 214f., 2 4 3 f . und passim. 2 Siehe Derrida 1972 a: 56 f. 3 Der soziokulturelle Einfluß auf sexuelle Neigungen des Körpers ist gewiß eine alibekannte Tatsache. Siehe Schelsky 1955. 4 Zur aktuellen Diskussion siehe Rorty 198Q. 5 Neuere feministische Lesarten von Freud legen tatsächlich nahe, daß Frauen eine weniger aufdringliche, doch umfassendere Sexualität haben, daß sie ein geringeres Bedürfnis nach Behauptung von sichtbarer Superiorität haben u n d daher in geringerem Maß der Gefahr der Dekonstruktion ausgesetzt sind. Siehe Mitchel 1975, Kofman 1 9 8 0 , ferner Cixous 1975 mit einem Derridaschen Ansatz, der als Lösung die nicht dekonstruierbare Bisexualität der Frau anbietet. Feministische Beobachter könnten via differance - sogar noch weiter gehen und behaupten, es bedürfe die hierarchische Opposition männlich/weiblich zu ihrer Aufrechterhaltung des Schutzes gegen homosexuelle Reize. 6 Siehe aber auch den rein technischen Ratschlag, das »inner eye« eines Objekts über Oberflächenlinien (vorzugsweise Schlangenlinien) zu rekonstruieren und innere und äußere Oberfläche miteinander zur Kongruenz zu bringen, w i e er sich bei Hogarth 1753 findet. Siehe Glanville 1988. 7 Siehe Wellbery 1992. 8 Siehe Derrida 1 9 8 5 : 7. 9 Derrida 1972: 77; diese wie alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, v o n mir selber. 10 w i e etwa Hans Ulrich Gumbrecht in seinem demnächst erscheinenden Buch 1926. An Essay on Historical Simultaneity (Cambridge, Mass.). 11 Siehe Bateson 1 9 7 1 : 271 f., 3 1 5 , 489. 12 Siehe Spencer Brown 1979. 13 Auch die Dekonstruktion muß, in den Worten Derridas, »de-
Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung 293 puis un certain dehors, par elle inqualifiable, innommable« (von einem gewissen Außerhalb her, das von der Philosophie nicht bestimmt oder genannt werden kann) operieren — wobei Derrida an die Philosophie referiert, indem er sie von dem unterscheidet, was von ihr unsichtbar gemacht wird. Siehe Derrida 1972a: 15. Siehe außerdem Derridas Bemerkungen S. 47 über die mögliche Zukunft einer nicht-phonetischen mathematischen Notierung (zuerst veröffentlicht 1968), die sich beinahe wie eine Vorwegnähme von Spencer Browns Laws of Form (1969) lesen: »Le progrès effectif de la notation mathématique va donc de pair avec la déconstruction de la metaphysique« (der effektive Fortschritt der mathematischen Notierung geht Hand in Hand mit der Dekonstruktion der Metaphysik). 14 Siehe zur Möglichkeit, Derrida durch den Einsatz der Gedanken von Spencer Brown zu überbieten, Roberts 1992. 15 Etliche von von Foersters (zumal jüngeren) Schriften sind auch in deutscher Übersetzung zugänglich. Siehe etwa von Foerster 1993. 16 Siehe Günther 1976. 17 In dekonstruktionistischer Formulierung: » A n opposition that is deconstructed is not destroyed or abandoned but reinscribed« (Culler 1982: 133). 18 Siehe Derrida 1967: 4 1 . 19 Siehe Derrida 1972a: 1 1 . 20 Siehe Margolis 1985: 146. 21 Ich verwende hier >Rahmen< (frame) im Sinne Erving Goffmans. Siehe Goffman 1974. 22 Siehe Spencer Brown 1979: 105. 23 Siehe Erasmus' Laus Stultitiae oder Thomas Mores Utopia; ferner Ortensio Lando, John Donne und viele andere. Einen monographischen Überblick bietet Colie 1966. 24 Siehe zu antonym substitution im politischen Liberalismus des achtzehnten Jahrhunderts Holmes 1987. 25 Die Bestimmung der zeitlichen Erstreckung eines Ereignisses im Sinne seiner specious présent bleibt natürlich möglich. Auf alle Fälle muß sie von einem Beobachter beziehungsweise durch die Beobachtung des Beobachters entschieden werden. Wenn der Beobachter sich und seinem Beobachten aber (etwa bei der Beobachtung der deutschen Wiedervereinigung) genug Zeit gönnt, so wird er faktisch kein Ereignis, sondern immer eine Struktur, einen strukturierten Prozeß beobachten.
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26 Siehe Maturana 1982 und Maturana/Varela 1987. 27 Dies kommt einem unorthodoxen Konzept der Entscheidung, wie es von George L. S. Shackle vorgeschlagen wurde, recht nahe. Siehe Shackle 1979. 28 Wir gehen hier ohne viel Getöse davon aus, daß >der Mensch< (im Singular) ohnehin dekonstruiert ist. 29 Die Kombination spezifisch/universell verweist auf die pattern variables der Handlungstheorie von Talcott Parsons und erweist sich im Rahmen dieser Theorie als entschieden avancierter Typ der Steuerung von Beobachtungen. Siehe Parsons 1960. 30 Ich hebe empirisch hervor, um so anzudeuten, daß es sich hier nicht um ein transzendentales Apriori im Sinne Kants handelt, das sich auf die Unterscheidung (immer wieder Unterscheidungen!) von empirisch.und transzendental, Kausalität und Freiheit gründete. Empirisch meint hier jedoch eine Bedingung der Möglichkeit im Kantschen Sinne, und zwar eine Bedingung der Möglichkeit von Beobachtung. 31 Siehe Luhmann 1990. 32 Siehe Culler 1982: 8, 1988: 15. 33 Siehe Lawson 1985.
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Textnachweise
Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme In: N. L.: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1 9 8 1 . S. 1 1 24. - © 1981 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen. Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien In: N. L.: Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1982. S. 1 7 0 192. - © 1975 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen. Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation In: N. L.: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1 9 8 1 . S. 2 5 34. - © 1981 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen. Was ist Kommunikation? In: N. L.: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995. S. 1 1 3 - 1 2 4 . © 1995 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen. Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: N. L.: Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995. S. 3 7 - 5 4 . - © 1995 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen. Autopoiesis als soziologischer Begriff In: Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Hrsg. von Hans Haferkamp und Michael Schmid. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987. (suhrkamp taschenbuch W i s s e n s c h a f t . 667.) S. 307-324. - © 1987 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Ist Kunst codierbar? In: N. L.: Soziologische Aufklärung 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1 9 8 1 . S. 2 4 5 266. - © 1981 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen.
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Textnachweise
Das Medium der Kunst In: Delfin. Eine deutsche Zeitschrift für Konstruktion, Analyse und Kritik 4 (1986). H. 1. S. 6 - 1 5 . - Mit Genehmigung von Veronika Luhmann-Schröder, Lemgo-Lieme. Erkenntnis als Konstruktion N. L.: Erkenntnis als Konstruktion. Bern: Benteli. 1988. - Mit Genehmigung von Veronika Luhmann-Schröder, Lemgo-Lieme. Die Paradoxie der Form In: Kalkül der Form. Hrsg. von Dirk Baecker. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993. (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft. 1068.) S. 1 9 7 212. - © 1993 Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung In: Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Hrsg. von Henk de Berg und Matthias Prangel. Tübingen/Basel: Francke, 1995. S. 9 - 3 5 . - © 1995 A. Francke Verlag, Tübingen und Basel. Die Zitierweise in den Anmerkungen folgt jeweils der angegebenen Druckvorlage.
Nachwort Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns
Systemtheorie, so w i e N i k l a s L u h m a n n sie begründet und entworfen hat, ist vielfach metaphorisiert worden. Man kann sie z. B. als Baukastenspiel auffassen. In diesem Spiel gibt es verschiedene Bausteine, deren F o r m und Funktion Luhmann vorgegeben hat. Er hat damit ein Grundgerüst gebaut, das uns zeigt, w a s man alles aus diesen Steinen bauen kann, und er erlaubt uns, ein Stück weit mit seinen Steinen zu spielen. - Die in diesem Band versammelten Aufsätze beinhalten zentrale Bausteine der Luhmannschen Systemtheorie. Ihre A n o r d n u n g soll annäherungsweise den systematischen Aufbau der Steine widerspiegeln. Dieses N a c h w o r t w i r d entlang dieser Linie, die durch die Reihenfolge der Aufsätze vorgegeben ist, die zentralen Bausteine in Form und Funktion rekonstruieren, aber darüber hinaus auch weitergehende Spielmöglichkeiten auf der Basis der großen Monographien ansprechen.
Soziologie und Systemtheorie Als Niklas L u h m a n n (1927-1998) im Jahre 1968 an die neugegründete Universität Bielefeld berufen wurde, soll er sein Forschungsprojekt mit jenen inzwischen berühmten Worten umrissen haben: »Theorie der Gesellschaft. Laufzeit: 30 Jahre. Kosten: keine.« Wenn man diese in jeder Hinsicht außergewöhnliche Intellektuellenkarriere Revue passieren läßt, dann v e r w u n d e r t es k a u m , daß fast exakt 30 Jahre nach diesem A u s s p r u c h 1997 der vielleicht nicht letzte, aber doch der abschließende Baustein dieser Gesellschaftstheorie - nämlich das Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft - vorgelegt w u r d e . Die Laufzeit wurde eingehal-
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ten, ebenso die Kostenprognose. B e r ü h r e n mag es aber dann schon, w e n n man weiß, daß N i k l a s Luhmann nach Ablauf dieser 30 Jahre auch verstorben i s t . L u h m a n n selbst w a r zunächst Verwaltungsjurist, ein B e amter par excellence, dabei durchaus a u c h soziologisch interessiert. Er eignete sich die s o z i o l o g i s c h e n Klassiker an, lernte in den U S A Talcott Parsons k e n n e n , der eine eigene systemtheoretische Konzeption v o r g e s t e l l t hatte, und w u r de schließlich seinerseits von d e m d e u t s c h e n Soziologen H e l m u t S c h e l s k y entdeckt. U n t e r s e i n e r Betreuung erhielt L u h m a n n die akademischen w e i h e n - P r o m o t i o n und H a bilitation - innerhalb eines Jahres (1966). U n d so stand L u h m a n n bereit, als sich 1968 mit e i n e r Professur auch die institutionell-universitären Voraussetzungen boten, eine Theorie der Gesellschaft zu entwerfen. Die Soziologie ist die Wissenschaft v o n der Gesellschaft. D a ß in diesem R a h m e n eine Theorie d e r Gesellschaft beheimatet ist, versteht sich von selbst. D e n n o c h war diese Z u o r d n u n g am Anfang zufällig u n d b e r u h t e letztlich auf einer Entscheidung, die getroffen w e r d e n mußte, um überhaupt anfangen zu können. L u h m a n n s o l l gesagt haben, er habe sich für die Soziologie entschieden, w e i l sie ihm die größten intellektuellen Freiheiten l i e ß . So gilt konsequent für die Theorie selbst das, w a s sie für s o z i a l e Prozesse behauptet, nämlich daß sie nicht auf Letztbegründungsebenen zurückgeführt werden kann, sondern d a ß ihr Vorhandensein auf Entscheidungsmomente, auf dezisionistische u n d damit auf kontingente A k t e (da ja j e d e Entscheidung auch anders ausfallen k a n n ) zurückgeführt w e r d e n muß. Gerade in ihrem theoretischen A u f b a u und ihren Zielvorstellungen einer umfassenden T h e o r i e besitzt die S y stemtheorie auch vielschichtige Affinitäten zu philosophischen Entwürfen, z. B. zu H e g e l s Systemphilosophie oder 1
1 N. L., Archimedes und wir. Interviews, hrsg. v o n D i r k Baecker und G e o r g Stanitzek, Berlin 1 9 8 7 , S . 1 4 1 .
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zu Derridas Dekonstruktion. Das relativiert das soziologische M o m e n t von Luhmanns Theorie u n d bestimmt von Anfang an die symptomatische Distanz v o n Soziologie und Systemtheorie: (1) Die innere Abgrenzung: Gegenstand der Soziologie ist die Gesellschaft mit ihren F o r m a t i o n e n , w i e sie insbesondere empirisch greifbar, beobachtbar und schließlich auch statistisch quantifizierbar ist. Die Systemtheorie kappt diesen direkten e m p i r i s c h e n Zugriff. Sie entwickelt statt dessen ein M o d e l l von Gesellschaft, das Gesellschaft weder a b b i l d e n noch verstehen, sondern lediglich erklären soll, w i e Gesellschaft funktioniert. Plakativ gesagt: An die S t e l l e der Empirie soziologischer Untersuchungen rückt d i e Systemtheorie den Modellcharakter der Theorie. D a s Modell, das die Systemtheorie für die Gesellschaft entwirft, heißt: »Soziales System«. (2) Die äußere Abgrenzung: Was L u h m a n n mit (sozialem) » S y s t e m « bezeichnet, ist der Gesellschaft nicht abgeschaut, sondern stellt eine theoretische Hervorbringung dar. Dieser Systembegriff ist so hochabstrakt und gleichzeitig so flexibel, daß er z w a r im Begriff des sozialen Systems herausragend exemplifiziert w i r d , aber sich nicht darauf eingrenzen läßt. D i e s e r Systembegriff liefert das Modell für Phänomene, die n i c h t in den Gegenstandsbereich der Soziologie im e n g e r e n Sinn eingeordnet w e r d e n können, sondern a u c h Philosophie, K o m m u n i k a t i o n s - und Medienwissenschaft u n d selbst Psychologie u n d Literaturwissenschaft berühren. Beide A s p e k t e hängen untrennbar z u s a m m e n u n d prägen das Selbstyerständnis der Systemtheorie als Theorie. Die Systemtheorie beginnt >eigentlich< mit d e m Buch Soziale Systeme 1984 und endet >eigentlich< - w i e gesagt - mit der Gesellschaft der Gesellschaft von 1997. E i g e n t l i c h - denn v o r den Sozialen Systemen gab es z a h l r e i c h e Arbeiten, die
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die Systemtheorie in Einzelaspekten, w e n n auch nicht in einem Gesamtentwurf, auf den Weg g e b r a c h t haben, die L u h m a n n selbst als » N u l l s e r i e « , als Vorlaufproduktion bezeichnet hat. U n d mittlerweile sind a u c h z w e i postume Buchveröffentlichungen zu v e r z e i c h n e n , die systematisch in den Zwischenbereich gehören, in d e m die einzelnen Funktionssysteme der Gesellschaft in eigenständigen M o nographien behandelt w u r d e n : Es h a n d e l t sich dabei um 2
die Politik der Gesellschaft u n d um d i e Religion der Gesellschaft, beide erschienen 2000, die auf der Basis von L u h m a n n s Manuskripten h e r a u s g e g e b e n wurden. Sie vervollständigen damit die Reihe der Monographien: Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993) und Die Kunst der Gesellschaft (1995). Die Sozialen Systeme k ö n n e n als L u h m a n n s >discours de la méthode< im Descartesschen Sinne bezeichnet werden, w e i l darin die systemtheoretischen Grundsatzkonzepte für den Aufbau der Theorie systematisch entworfen werden: allen voran der Systembegriff, der Sinnbegriff, der Kommunikationsbegriff, das Verhältnis v o n psychischen und sozialen Systemen, von Gesellschaft u n d Interaktion, u n d auch das Problem der doppelten K o n t i n g e n z und der Selbstreferentialität. Die Gesellschaft der Gesellschaft w i e derholt noch einmal alle diese A s p e k t e und ordnet sie in den Gesamtzusammenhang ein. Dabei w e r d e n die konzeptionellen Veränderungen deutlich spürbar, die die Systemtheorie in diesen 13 Jahren durchlaufen hat. Wenn man beispielsweise den Sinnbegriff betrachtet, m e r k t man schnell, daß er selbst in die Position einer umfassenden Begründungskategorie gerückt ist, die nicht m e h r negierbar und letztlich auch k a u m mehr bestimmbar g e w o r d e n ist. 3
2 Ebd., S. 1 4 2 . 3 N i n a O r t , »Sinn als Medium u n d F o r m . Ein Beitrag z u r Begriffsklä-
rung in Luhmanns Theoriedesign«, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie (1989), H. 1, S. 2 0 7 - 2 1 8 .
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Die Titel der Zwischenphase folgen d e r syntaktischen Struktur: F u n k t i o n s s y s t e m der Gesellschaft. D a ß der systematisch letzte Band einen tautologischen Titel (Gesellschaft der Gesellschaft) bezeichnet, ist selbst mehrfach symptomatisch. Gesellschaft selbst w i r d dabei so w i e eines ihrer F u n k t i o n s s y s t e m e behandelt; sie rückt als Funktionssystem ihrer selbst in den Blickpunkt. Somit geht es um die Gesellschaft, w i e sie (in) der Gesellschaft, d e m unüberschreitbaren Gesamtrahmen für alles Gesellschaftliche, erscheint. D a m i t w i r d der Bogen zurückgeschlagen u n d Gesellschaft selbst als ein u n d zugleich als das soziale S y s t e m beschrieben. Gleichzeitig w i r d innerhalb der M o d e l l i e r u n g der Gesellschaft ein M o d e l l entworfen, so daß bereits der Titel die theoretische Z u w e n d u n g der Theorie zu i h r e m eigenen Entwurf sichtbar macht. In dieser B e w e g u n g w i r d eine prinzipielle Tendenz der Systemtheorie z u r Autoreflexivier u n g deutlich. Im Zuge der E n t w i c k l u n g u n d Entfaltung des systemtheoretischen Forschungsprogramms n i m m t entsprechend der Anteil der Selbsterklärung z u . Systemtheorie besitzt die Tendenz, sich als Theorie der T h e o r i e darzustellen, u n d ihre Entwürfe, selbst die der Gesellschaft, erscheinen als Theorieentwürfe von u n d für Theorie.
System und Umwelt Am Anfang der Systemtheorie steht eine radikal abstrakte Neudefinition des Systembegriffs. Im Gegensatz zum S t r u k t u r a l i s m u s , der ein S y s t e m als geordneten Zusammenhang von S y s t e m k o m p o n e n t e n sieht, ist für die Systemtheorie das S y s t e m einzig durch das definiert, w a s es nicht ist, n ä m l i c h seine U m w e l t . A b e r auch der Begriff der U m w e l t erfährt keine inhaltliche Definition: U m w e l t ist, was das S y s t e m nicht ist. D a m i t ist das einzige, w a s ein System konstituiert u n d definiert (definiert im eigentlichen Sinn des Wortes von A b g r e n z u n g ) , seine U m w e l t . Insofern kann
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die Systemtheorie sagen: Das S y s t e m i s t die Differenz von S y s t e m u n d U m w e l t . Diese Differenz ist der »Ausgangsp u n k t jeder systemtheoretischen A n a l y s e « (Soziale Systeme, S. 35). Wo immer sich solche Differenzen finden lassen, lassen sich also per se auch Systeme ausmachen. Gleichzeitig w i r d deutlich, daß in dieser Definition von System der Begriff des Systems, der ja das zu Definierende bzw. das Definiendum ist, auch auf der Seite des Definierenden bzw. des Definiens wiederkehrt. Der Systembegriff bezieht sich auf sich selbst und w i r d autoreflexiv. Auf die Gesellschaft bezogen heißt d i e s , daß überall dort, wo eine solche Differenz auszumachen i s t , von sozialen S y stemen gesprochen werden kann. L u h m a n n präzisiert den Systembegriff im Hinblick auf s o z i a l e Systeme mit den konstitutiven Charakteristika der Selbstreferentialität, der operativen Geschlossenheit u n d der Prozessualität. (1) Wenn nur eine S y s t e m / U m w e l t - D i f f e r e n z vorliegen w ü r d e , w ä r e damit nicht viel g e w o n n e n . Der Blick auf die Gesellschaft zeigt aber, daß s o z i a l e n Systemen die Fähigkeit unterstellt w e r d e n m u ß , daß sie sich selbst als System erhalten u n d daß s i e sich selbst von ihrer U m w e l t unterscheiden können müssen. Das bedeutet, soziale Systeme müssen sich auf sich selbst beziehen können, sie sind selbstreferentielle Systeme, und die eigene Systemkonstitution ist kein abgeschlossener A k t , sondern ein permanenter Prozeß. Systeme existieren nur durch Selbstreferentialität und durch Prozessualität. (2) Selbstreferentialität bedeutet, d a ß das System die Differenz von System u n d U m w e l t innerhalb des S y stems noch einmal reproduziert u n d somit im Prozeß handhabbar macht. Das S y s t e m ist e b e n gerade definiert durch seine Abgeschlossenheit v o n der Umwelt. Es k a n n also prinzipiell nicht a u ß e r h a l b seiner selbst, also in der U m w e l t , sondern i m m e r n u r in sich selbst
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operieren. Seine Beziehung zur U m w e l t gestaltet es demnach dadurch, daß es diese Differenz in sich selbst hineinkopiert u n d somit z u m A u s g a n g s p u n k t weiterer Operationen macht, die aber auch w i e d e r n u r systemintern prozessiert werden. Das heißt: D e r Unterschied w i r d im Unterschiedenen noch einmal wiederholt; L u h m a n n nennt dies: » r e - e n t r y « . (3) D e r Prozeß, in d e m sich ein S y s t e m konstitutiv fortzeugt, besteht aus den Operationen des Systems. Das S y s t e m m u ß also immer w i e d e r neue Systemzustände einnehmen. Dabei w i r d die Geschlossenheit des S y s t e m s immer an seinen Operationen manifest. Selbstreferentialität ist deswegen ein Korrelat der Abschließung des Systems gegenüber seiner U m w e l t . Da die Differenz konstitutiv ist, w ü r d e eine Auflösung oder Aufweichung der Differenz z w i s c h e n System u n d U m w e l t zwangsläufig z u r Auflösung des Systems selbst führen. Daß für das System ü b e r h a u p t U m w e l t handhabbar w e r d e n kann, liegt an dieser strikten Differenz, die ihrerseits w i e d e r u m zur Voraussetzung für das r e - e n t r y w i r d . L u h m a n n geht s o w e i t zu sagen, daß Geschlossenheit Voraussetzung für Offenheit ist. (4) A u f dieser Grundlage läßt sich d o c h noch eine positive B e s t i m m u n g der Differenz v o n S y s t e m und U m w e l t geben. Gegenüber der U m w e l t ist das System aufgrund seiner Eigenschaften in der L a g e , U m w e l t komplexität systemintern zu reduzieren. Komplexität bedeutet, d a ß mehr Selektionsmöglichkeiten vorliegen, als aktualisiert w o r d e n sind oder w e r d e n können. Da allerdings für die R e d u k t i o n von Komplexität wiederum Komplexität vonnöten ist, ist die Differenz durch eine doppelte Komplexitätsschwelle unterschiedlicher A r t ( S y s t e m - u n d U m w e l t k o m p l e x i t ä t ) nach beiden Seiten hin, also durch ein gegenläufiges Komplexitätsgefälle, definiert.
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K u r z gesagt: Soziale Systeme sind operativ geschlossene,
selbstreferentielle Prozesse. Wissenschafts- und erkenntnistheoretisch gesehen ist das S y s t e m also nicht etwas, w a s man in der Empirie vorfinden könnte, sondern das System, diesem Verständnis entsprechend, ist in erster Linie ein I n s t r u m e n t zur Beobachtung. D i e Systemtheorie beobachtet die Gesellschaft und alles, w a s sich in und an der Gesellschaft als Strukturen herausbildet, als System. Darin liegt ein konstruktivistisches M o ment, das L u h m a n n in späteren A r b e i t e n immer deutlicher in den Vordergrund rückt. Gesellschaft a l s System zu beobachten heißt also nicht, den S y s t e m c h a r a k t e r der Gesellschaft als ihren Wesenskern herauszudestillieren, sondern Gesellschaft überhaupt erst als S y s t e m zu entwerfen. Beobachtungsinstrument u n d Beobachtetes w e r d e n eins. A u c h hier ist w i e d e r u m ein P u n k t erreicht, an dem S y stemtheorie einen Beginn w i l l k ü r l i c h setzt, um einen A n fangsgrund für weitere K o n z e p t u a l i s i e r u n g e n zu schaffen. Sie setzt beim System an u n d b e h a n d e l t Systeme, obschon sie Beobachtungsresultate sind, als ontologisch vorgegeben; so beginnt das Kapitel aus den Sozialen Systemen mit dem provokanten Satz: » D i e folgenden Ü b e r l e g u n g e n gehen dav o n aus, daß es Systeme gibt.« (S. 3 0 ) 4
Kommunikation, Kommunikationsmedien, doppelte Kontingenz, Sinn W o r i n bestehen nun die Operationen sozialer Systeme? L u h m a n n antwortet: A u s s c h l i e ß l i c h a u s Kommunikationen. Damit w i r d die K o m m u n i k a t i o n s t h e o r i e , w i e sie Luh4 A r m i n Nassehi, » W i e w i r k l i c h sind Systeme? Z u m ontologischen und epistemologischen Status v o n L u h m a n n s T h e o r i e selbstreferentieller
Systeme«, in: Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, hrsg. v o n W e r n e r K r a w i e t z und M i chael Welker, Frankfurt a. M. 1 9 9 2 , S. 4 3 - 7 0 .
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mann entwirft, z u r Grundlagentheorie sozialer Systeme. Luhmann bricht allerdings radikal mit der Vorstellung der Kommunikation als einer Ü b e r m i t t l u n g einer Botschaft von einem Sender zu einem Empfänger. Statt dessen wird Kommunikation selbst als der Prozeß begriffen, der die sozialen Systeme überhaupt erst ausmacht. (1) K o m m u n i k a t i o n ist für L u h m a n n das prozessuale Ineinandergreifen einer dreifachen Selektion. Zunächst w i r d aus einer Reihe von möglichen Informationen eine ausgewählt, anschließend w i r d ein bestimmtes Verhalten seligiert, um diese Information mitzuteilen, u n d schließlich w i r d aus den Möglichkeiten ausgewählt, zwischen Information und Mitteilung zu unterscheiden. K o m m u n i k a t i o n w i r d somit als dreistellige Relation von Information, Mitteilung u n d Verstehen beschrieben. (2) Das Verstehen darf nicht » m i ß v e r s t a n d e n werden, etwa im Sinne der H e r m e n e u t i k , als Zugriff auf das, w a s ein anderes B e w u ß t s e i n w i r k l i c h meint. Verstehen ist lediglich eine Differenzierung zwischen Information und Mitteilung. Damit k a n n Verstehen im Prozeß der K o m m u n i k a t i o n w i e d e r u m als Information oder als Mitteilung gehandhabt w e r d e n , so daß sich die K o m m u n i k a t i o n ü b e r das Verstehen selbst reproduziert. Verstehen ist also Selektion aus Selektionen. Was . kommuniziert w i r d u n d w i e k o m m u n i z i e r t wird, wird über das Verstehen der K o m m u n i k a t i o n nicht von außen vorgegeben, sondern ausschließlich kommunikationsintern p r o d u z i e r t u n d prozessiert. Was Information u n d w a s M i t t e i l u n g ist, bestimmt das Verstehen u n d mithin die K o m m u n i k a t i o n selbst. (3) K o m m u n i k a t i o n ist nicht an natursprachliche Formen gebunden. Sprache ist z w a r in der Lage, Kommunikation hochflexibel zu machen, aber sie ist für Kommunikation nicht ausschließlich notwendig. Das
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bedeutet, daß der, der nichts sagt, nicht auch nicht k o m m u n i z i e r t . A u c h L u h m a n n s Kommunikationskonzeption ist dem konstruktivistischen Topos verbunden, daß man nicht nicht k o m m u n i z i e r e n kann. (4) Da K o m m u n i k a t i o n solange, w i e sie läuft, sich immer ü b e r das Verstehen reproduziert, w i r d immer auch verstanden. Das bedeutet w i e d e r u m , daß der Unterschied zwischen Verstehen u n d Mißverstehen eingeebnet w i r d . D e n n Verstehen, so verstanden, meint eben gerade nicht eine intentionale Aneignung, sondern l e diglich k o m m u n i k a t i v e Reproduktion. (5) Wenn aber K o m m u n i k a t i o n sich derart einfach selbst reproduziert, stellt sich die Frage, w a r u m Komm u n i k a t i o n überhaupt stattfindet. Diese Frage bringt L u h m a n n zu der These von der Unwahrscheinlichkeit der K o m m u n i k a t i o n . Kommunikation ist selbst ein Prozeß. N u r solange k o m m u n i z i e r t w i r d , ist Kommunikation überhaupt. Für Kommunikation kommt es also konstitutiv darauf an, daß sie sich selbst fortsetzt, das heißt, daß sie i m m e r w i e d e r aufs neue k o m m u n i kative Anschlüsse produziert. Diese Selbstreproduktion versteht L u h m a n n als prinzipiell unwahrscheinlich. Es ist unwahrscheinlich, daß verstanden wird, u n d es ist unwahrscheinlich, daß das Verstandene akzeptiert w i r d . Vor diesem H i n t e r g r u n d hebt Luhmann das Potential der Sprache hervor, Formen z u r Verfügung zu stellen, deren k o m m u n i k a t i v e Funktion nicht zu übersehen ist, w o d u r c h die Wahrscheinlichkeit, daß zwischen Information u n d Mitteilung differenziert, daß also verstanden w i r d , deutlich erhöht w i r d . (6) In diesem Kommunikationsmodell k o m m e n keine Sprecherpositionen mehr vor. Das hat zunächst zur Folge, daß der Kommunikationsprozeß, damit er überhaupt handhabbar u n d beobachtbar w i r d , auf Personen zugerechnet w e r d e n m u ß , die in der Kommunikation als Verantwortliche für Kommunikation >angespro-
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chen< werden können. Die Z u r e c h n u n g hat die Funktion, die K o m m u n i k a t i o n zu zerlegen (Wer sagt was?), so daß Kommunikation sich selbst besser kommunikativ regulieren kann. Da aber K o m m u n i k a t i o n an sich lediglich einen P r o z e ß darstellt, w i r d Kommunikation zu diesem Z w e c k als H a n d l u n g simplifiziert. Wenn man Kommunikation so vereinfacht, k a n n man kommunikative Ereignisse als Mitteilungshandlungen beobachten. Erst d a d u r c h w e r d e n Personen (ego und alter ego) als Instanzen der K o m m u n i k a t i o n adressierbar. (7) Personen sind Adressen, auf die Kommunikation zugerechnet w i r d , nicht aber die U r h e b e r von Kommunikation. K o m m u n i k a t i o n ist in dieser Konzeption ein sich selbst reproduzierender P r o z e ß . U n d so kann L u h m a n n zu seiner provokanten These kommen: » A b e r Menschen k ö n n e n nicht k o m m u n i z i e r e n , nicht einmal ihre Gehirne können k o m m u n i z i e r e n , nicht einmal das B e w u ß t s e i n k a n n k o m m u n i z i e r e n . N u r die Kommunikation k a n n k o m m u n i z i e r e n . « Der Vorwurf des Inhumanismus ist hier aus verschiedenen Gründen verfehlt; denn z u m einen w i r d über Menschen gar nicht gesprochen, w e i l K o m m u n i k a t i o n auf einer gänzlich anderen Ebene modelliert w i r d , u n d z u m anderen läßt sich aus diesem Ausschluß auch eine Rücksichtnahme gegenüber d e m Menschen ableiten, die seine Komplexität eben nicht theoretisch reduziert, sondern anerkennt u n d eben deswegen in d i e U m w e l t von Kommunikation auslagert. 5
An diese K o m m u n i k a t i o n s k o n z e p t i o n schließen sich verschiedene medientheoretische A n g a b e n an, die aller5 N. L., Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, S. 1 1 1 (im vorliegenden Band). Siehe daneben ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M . 1 9 9 7 , S. 1 0 5 : » N i c h t der Mensch kann kommunizieren, n u r die K o m m u n i k a t i o n kann kommunizieren.«
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dings von L u h m a n n niemals zu einer systematischen M e dientheorie ausgearbeitet w u r d e n . Vielmehr finden sich bei ihm verschiedenste Medienbegriffe unverbunden nebeneinander. In jedem Fall aber haben M e d i e n , in welchem Aggregatzustand sie auch auftreten, die Aufgabe, die U n wahrscheinlichkeit der Kommunikation zu verringern. Die F u n k t i o n der Sprache w u r d e bereits genannt. Verbreitungsmedien (darunter sind auch Massenmedien im landläufigen Sinn zu verstehen) erhöhen die Wahrscheinlichkeit, daß Adressaten überhaupt erreicht werden. Besonderes A u genmerk w i d m e t L u h m a n n jenen kommunikativen Mechanismen, die die Wahrscheinlichkeit des Anschlusses erhöhen. Diese Mechanismen nennt L u h m a n n symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien bzw. auch Mediencodes. Sie geben eine Orientierung sowohl für ego als auch alter ego in bezug darauf vor, w i e die Kommunikation ihre Anschlüsse organisiert und so von vornherein die kommunikativ gebotenen Selektionsmöglichkeiten reduziert. Beispiele sind: Wahrheit, Macht, Recht, Liebe, Kunst, Glaube, Wertbindung. Diese Kommunikationsmedien sind zumeist gesellschaftlichen Funktionssystemen zugeordnet, z. B. Wahrheit der Wissenschaft, Macht der Politik, Recht der Rechtsprechung usw. »Generalisierung« bedeutet, daß diese Medien bzw. C o d e s die je einzelnen Kommunikationen transzendieren u n d potentiell unendlich zur Verfügung stehen. » C o d i e r u n g « bedeutet, daß das Kommunikationsmedium eine binäre Differenzierung bzw. Disjunktion vorgibt, die z w i schen einem positiven und einem negativen Wert ausschließlich unterscheidet, z. B. » w a h r / u n w a h r « , »mit M a c h t / ohne M a c h t « , » R e c h t / U n r e c h t « . Der positive Wert gibt dabei die Orientierung für die k o m m u n i k a t i v e n Anschlüsse vor. S y m bolisch sind diese Anschlüsse, weil das einzelne Medium bzw. der C o d e selbst als Wert für die Organisation kommunikativer Anschlüsse in ihrem kommunikativen Einzugsgebiet stehen. Der C o d e bzw. das M e d i u m sind, so gesehen, ein S y m b o l z. B. für die Wahrheit, die sie kommunikativ orga-
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nisieren. Wer also in der Wissenschaft - -wissenschaftlich k o m m u n i z i e r t , w i r d Wahrheit als jenen p o s i t i v e n Wert ansehen, den auch sein Gegenüber als solchen ansieht, so daß ego u n d alter ego darauf in ihren S e l e k t i o n e n kommunikativ festgelegt sind. Dies reduziert die k o m m u n i k a t i v e n Anschlußmöglichkeiten erheblich u n d steigert die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation enorm. Der Systemtheorie läßt sich eine z e n t r a l e Frage unterstellen: W i e ist soziale Ordnung überhaupt m ö g l i c h ? Da soziale Systeme existieren, die k o m m u n i k a t i v gebildet u n d prozessiert werden, k o m m t man nicht d a r u m herum, die Frage mit: » K o m m u n i k a t i o n ! « zu beantworten. J e d e soziale Ordnung - u n d die gesellschaftliche O r d n u n g ist eine kommunikative O r d n u n g - ist eine O r d n u n g in d e m M a ß e und in der Form, in d e m u n d in der K o m m u n i k a t i o n Ordnung überhaupt ermöglicht. Ordnung ist s o z u s a g e n der Gegenbegriff zu Kontingenz und zu Komplexität. Den Zusammenhang von Komplexität und K o n t i n g e n z bezeichnet der Begriff der Selektion. »Selektion« b e d e u t e t den Zwang z u r Differenzierung und z u r Entscheidung für das eine und nicht für das andere. »Selektion« ist a l s o eine prozessuale Entscheidung auf der Basis einer Differenzierung. Sie kann immer auch anders ausfallen (daher ist s i e kontingent) und impliziert notwendigerweise einen Ü b e r s c h u ß an Möglichkeiten, der nicht aktualisiert w i r d (daher ist sie komplex). Soziale O r d n u n g ist n u r möglich, w e n n es gelingt, diese Kontingenz u n d diese Komplexität zu bannen. Gebannt w e r d e n sie in der F o r m des Systems, d a s System existiert aber w i e d e r u m nur, indem es sich k o m m u n i k a t i v vollzieht. Ein Beispiel dafür ist das g r u n d l e g e n d e Bezugsproblem sozialer Ordnung, nämlich doppelte Kontingenz. Damit w i r d der Sachverhalt bezeichnet, daß s o w o h l ego als auch alter ego ihre Selektionsentscheidungen v o n denen des j e w e i l s anderen abhängig machen. Eine solche Situation blockiert soziale Ordnung. Sie ist g e k e n n z e i c h n e t von einer
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wechselseitigen Unbestimmtheit, die n u r aufgelöst werden kann, w e n n beide Seiten, ego und alter e g o , diese wechselseitige Unbestimmtheit in ihren S e l e k t i o n e n selbst noch einmal berücksichtigen. Diese U n b e s t i m m t h e i t ist die Keimzelle von sozialen Systemen. S o z i a l e Systeme regeln Erwartungen, aber auch E r w a r t u n g s e n v a r t u n g e n , also d a s jenige, von d e m erwartet wird, daß es e r w a r t e t wird. Doppelte Kontingenz w i r d so z u m K a t a l y s a t o r von sozialen Systemen, w e i l damit der Zwang entsteht, Kontingenz abzubauen u n d Komplexität zu r e d u z i e r e n . Doch doppelte Kontingenz ist kein nur einmalig auftretendes Problem, das dann ein für allemal gelöst werden k ö n n t e . Jede Problemlösung führt im prozessualen Lauf zu n e u e n Situationen der doppelten Kontingenz. Genau dies aber machen sich soziale Systeme zunutze, um sich in der L ö s u n g des Problems der doppelten Kontingenz selbst zu reproduzieren: »Die A u t o k a t a l y s e sozialer Systeme schafft sich ihren Katalysator, nämlich das Problem der d o p p e l t e n Kontingenz selbst.« (Soziale Systeme, S. 171) S o z i a l e Ordnung ist also nicht etwas, das allmählich entsteht u n d v o n einem Zustand geringer zu einem Zustand hoher O r d n u n g hinführt. Jede soziale O r d n u n g ist eine emergente O r d n u n g , die schlagartig entsteht, w e n n sich aus einem konstitutiven Anfangsproblem w i e dem der doppelten K o n t i n g e n z ein Mechanismus z u r Problemhandhabung herauskristallisiert. Soziale O r d n u n g ist darüber hinaus i m m e r eine Ordnung des Sinns, besser gesagt: eine O r d n u n g d u r c h das Medium u n d im M e d i u m des Sinns. Am Ü b e r s c h u ß von Selektionsmöglichkeiten w i r d Sinn beobachtbar. W e n n eine Selektion immer den Zusammenhang von aktualisierten und nicht aktualisierten Möglichkeiten darstellt, d a n n ist damit schon die Definition von Sinn gegeben. Sinn ist, so Luhmann, »die Einheit v o n Aktualisierung u n d Virtualisierung« (Soziale Systeme, S. 100). Sinn ist die Voraussetzung dafür, daß überhaupt differenziert werden kann, d a ß diese Differenzierungen in Selektionen einfließen k ö n n e n und daß die
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Einheit der Differenz zwischen aktualisierten u n d nicht-aktualisierten u n d damit virtualisierten M ö g l i c h k e i t e n ihrerseits für weitere Differenzierungsleistungen z u r Verfügung steht. Wenn soziale Systeme ihren U m w e l t k o n t a k t dadurch regeln, daß sie die Systemgrenze intern w i e d e r h o l e n , sind sie somit auch in der Lage, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu unterscheiden. Fremdreferenz ist der Bez u g des Systems z u r intern w i e d e r h o l t e n U m w e l t . Damit aber überhaupt zwischen Selbst- u n d Fremdreferenz unterschieden w e r d e n kann, ist Sinn u n a b d i n g b a r vonnöten. Sinn unterscheidet z w e i Seiten, setzt die e i n e als aktual und die andere als potentiell und schafft so d i e Voraussetzung, daß diese Differenz weiter prozessiert w e r d e n kann. Denn Sinn ist nichts anderes als Einheit der Differenz. Sinn ist selbst ein Prozeß u n d g l e i c h z e i t i g Grundlage eben dieses Prozesses. Deswegen ist S i n n nicht hintergehbar, w e i l auch der Versuch, Sinn zu hintergehen, oder sogar der Versuch, Sinn zu negieren, i m m e r noch Sinn voraussetzt. Sinn ist die Voraussetzung für Affirmation und N e g a t i o n u n d damit selbst »eine u n n e g i e r b a r e , eine differenzlose Kategorie« (Soziale Systeme, S. 9 6 ) . Sinn ist zud e m ein Prozeß, der sich in drei D i m e n s i o n e n entsprechend den Dimensionen der an dem P r o z e ß beteiligten Instanzen aufspalten läßt; Luhmann spricht in diesem Zusammenhang v o n Sinndimensionen. Sie haben die Funktion, die Differenzierungsleistung, die m i t Sinn verbunden ist, in die drei Verweisungshorizonte einzubetten, die das Koordinatennetz sozialer Systeme aufspannen. Die Sozialdimension unterscheidet dabei zwischen e g o u n d alter ego, die Sachdimension zwischen diesem u n d anderem und schließlich die Zeitdimension zwischen Vergangenheit und Zukunft.
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Gesellschaft und gesellschaftliche Ausdifferenzierung Vom Problem der doppelten K o n t i n g e n z sind aber soziale S y s t e m e nicht allein betroffen, s o n d e r n auch Systeme, die sich notwendigerweise in der U m g e b u n g von sozialen Systemen befinden: gemeint sind p s y c h i s c h e Systeme (Bew u ß t s e i n ) . So setzt das Problem der d o p p e l t e n Kontingenz gerade psychische Systeme voraus, die n i c h t in sozialen S y stemen aufgehen, die also für K o m m u n i k a t i o n unzugänglich sind (denn ohne diese w ü r d e das Problem gar nicht entstehen). U n d ebenso gilt die Differenzierungsleistung des Sinns nicht nur für soziale, s o n d e r n eben auch für p s y chische Systeme. Ja, mehr noch: Sinn i s t überhaupt die Voraussetzung, daß soziale und psychische Systeme sich gerade auch kategorial voneinander unterscheiden können. Zunächst soll hier nun die Gesellschaft als soziales S y stem behandelt werden, bevor das Verhältnis von sozialen u n d psychischen Systemen betrachtet w i r d . Gesellschaft als S y s t e m zu definieren, beinhaltet in der Luhmannschen S y stemtheorie eine doppelte, aber u n m i t t e l b a r zusammenhängende Implikation: Gesellschaft selbst i s t »ein sinnkonstituierendes S y s t e m « (Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 50); alle gesellschaftlichen Operationen s i n d Operationen im M e d i u m Sinn. Sinn w i e d e r u m ist die Voraussetzung für K o m m u n i k a t i o n - dies jedoch nicht in dem normativen Sinn, daß Kommunikation immer a u c h sinnvolle Kommunikation meint. Sinn ist die P r o z e ß Voraussetzung, daß überhaupt kommuniziert, daß s e l i g i e r t (Information und M i t t e i l u n g ) u n d daß zwischen solchen Selektionen differenziert w e r d e n kann (Verstehen). Die Sinnkonstitution der Gesellschaft ist ein ausschließlich kommunikativer Prozeß. Damit vollzieht Luhmann einen radikalen Wechsel w e g von einer Vorstellung der Gesellschaft, die sich aus Individuen zusammensetzt, hin zu einer Gesellschaft, die System ist, dies a b e r nur insoweit, als sie sich als System selbst prozessiert: U n d dieses Sich-
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selbst-Prozessieren der Gesellschaft ist Kommunikation. So heißt es bei L u h m a n n apodiktisch: »Gesellschaft betreibt Kommunikation, u n d w a s immer K o m m u n i k a t i o n betreibt, ist Gesellschaft. D i e Gesellschaft konstituiert die elementaren Einheiten (Kommunikationen), aus d e n e n sie besteht, u n d w a s immer so konstituiert w i r d , w i r d Gesellschaft, w i r d M o m e n t des Konstitutionsprozesses selbst.« (Soziale Systeme, S. 555) M a n kann folgern: So, w i e Menschen nicht k o m m u n i z i e r e n , besteht auch die Gesellschaft nicht aus Menschen, sondern aus dem, w a s k o m m u n i z i e r t , also aus Kommunikation. Beide Implikationen, die im Begriff d e r Gesellschaft als sinnkonstituierendes K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m zusammenfallen, bilden die Voraussetzungen für d i e gesellschaftsstrukturellen Entwicklungen, die L u h m a n n unter dem Begriff der »Ausdifferenzierung« nachzeichnet. Dieser Prozeß vollzieht sich im 18. Jahrhundert und ä n d e r t die Typik der Gesellschaft grundlegend. Gesellschaft beginnt, die stratifikatorische Ausdifferenzierung - das hierarchisierte Schichtenmodell der Gesellschaft - abzustreifen u n d sich statt dessen funktional auszudifferenzieren. Es entstehen - sozusagen querliegend zu den früheren Gesellschaftsschichten parallele Subsysteme der Gesellschaft, die sich ü b e r eine je eigene Funktion ausdifferenzieren: z. B. d i e Wirtschaft, die Wissenschaft, das Recht, die Religion, die Politik u n d nicht zuletzt die Kunst. N i c h t daß es entsprechende Organisationsformen nicht schon vorher gegeben hätte, nun aber gewinnen sie einen eigenen Systemcharakter. Jedes System w i r d sowohl gegen die Gesamtgesellschaft als auch gegen die anderen Systeme abgegrenzt; jedes S y s t e m w i r d spezifiziert, gewinnt in seinen Operationen Exklusivcharakter u n d kann sich so auf sich selbst beziehen. D a m i t liegen drei Systemreferenzen vor, die, w i e es der Begriff nahelegt, eben den Systemcharakter der Gesamtgesellschaft als auch der Funktionssysteme voraussetzen. Der B e z u g des einzelnen S y s t e m s auf die Gesamtgesellschaft w i r d » F u n k t i o n « ge-
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nannt; der Bezug auf andere S u b s y s t e m e »Leistung« und schließlich der Bezug auf sich selbst »Selbstreferenz«, w o bei die Funktion d e m Subsystem seine spezifische Prägung verleiht. So hat Kunst L u h m a n n zufolge die Funktion, andere WirklichkeitsVersionen als die für die Gesellschaft gängige herzustellen u n d diese mit diesen Versionen zu konfrontieren. Sie ü b t damit eine F u n k t i o n aus, die eben kein anderes System übernehmen k a n n u n d die somit auch die Leistung der Kunst gegenüber den anderen Systemen ausmacht. Der Systemcharakter der Gesamtgesellschaft und der Systemcharakter der F u n k t i o n s s y s t e m e bedingen sich wechselseitig. Ausdifferenzierung selbst ist eine Errungenschaft der Gesellschaftsevolution, die darauf beruht, daß sich ein System von seiner U m w e l t differenziert, indem es intern die S y s t e m / U m w e l t - G r e n z e wiederholt. »Ausdifferenzierung« heißt erstens, daß sich die Systemdifferenzierung im System wiederholt, u n d z w e i t e n s , daß die dadurch entstehende Differenz der B i n n e n s y s t e m e z u m Gesamtsystem (Gesellschaft) funktionalisiert u n d über die Funktion spezialisiert w i r d . A l s Funktionssysteme treten hier w i e d e r u m mehrfach jene Bereiche auf, die schon die entsprechenden Codierungen für symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien abgegeben haben. In der Tat hängen diese Medien mit Funktionssystemen z u m Teil u n m i t t e l b a r zusammen, wo nämlich ein solches M e d i u m den C o d e für das entsprechende System abgibt. Die Systemdifferenzierung und damit die Funktionssysteme bestehen n u r so lange, wie sie diese Funktion erfüllen, also funktionsspezifisch operieren. U n d dazu trägt der C o d e bei. Der C o d e w i e jeder andere Mediencode stellt eine binäre Differenzierung zwischen z w e i oppositionellen Werten dar (eine »Ja/Nein-Codier u n g « ; Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 316), von denen der eine Wert im H i n b l i c k auf die Systemfunktion positiv, der andere negativ besetzt ist. M i t dem C o d e ist damit dem S y s t e m das Instrument gegeben, mit d e m es immer eindeu-
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tig differenzieren kann, welche Operationen z u m System gehören u n d w e l c h e systemfremd sind. So hat das Wirtschaftssystem den C o d e » H a b e n / N i c h t H a b e n « . Operationen, die nach diesem Schema codiert w e r d e n können, gehören z u m Wirtschaftssystem u n d bilden seine Elemente, also Zahlungen. Es m a g auch Ereignisse geben, die in mehreren Funktionssystemen, aber jeweils spezifisch registriert werden. Zum Beispiel w i r d eine Performance ein Ereignis im Kunstsystem darstellen, sie kann aber auch ein Ereignis im Wirtschaftssystem, w e n n es darum geht, Künstler zu bezahlen, oder ein Ereignis im R e c h t s s y s t e m darstellen, w e n n bei der Performance Gesetze verletzt w o r d e n sind. Damit solche C o d i e r u n g e n einigermaßen stabil gehalten w e r d e n können, tritt zu ihnen ein z w e i t e s M o m e n t , das Programm. Es enthält die Ausführ u n g s b e s t i m m u n g e n für die A n w e n d u n g d e s C o d e s . A l s C o d e des Kunstsystems gibt L u h m a n n die Opposition » s c h ö n / h ä ß l i c h « vor. Dieser Vorschlag ist auf zahlreiche Kritik u n d Gegenvorschläge gestoßen. So hat Georg Jäger den C o d e >mit< vs. >ohne Geschmack< vorgeschlagen; Geschmack dient dabei als Interaktionsmedium der Kommun i k a t i o n in u n d über Kunst, die nur n o c h die Funktionslosigkeit der Kunst als ihre Funktion gelten läßt. Gerhard P l u m p e u n d Niels Werber schlagen den C o d e interessant< v s . >langweilig< unter der Funktion >Unterhaltung< vor. Diese Diskussion hat schließlich dazu geführt, das Konzept der C o d i e r u n g prinzipiell in Frage zu stellen. Dabei merkt 6
6 G e o r g Jäger, »Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems. Eine systemtheoretische Gegenüberstellung des bürgerlichen und avantgardistischen Literatursystems mit einer Wand-
lungshypothese«, in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hrsg. v o n Michael Titzmann, Tübingen 1 9 9 1 , S. 225f.; Niels Werber, Literatur als System, O p l a d e n 1 9 9 2 , K a p . 3, S. 6 1 - 1 0 1 ; G e r h a r d Plumpe / Niels W e r b e r , »Literatur ist codierbar. A s p e k t e einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft«, in: Literaturwissenschaft und Sy-
stemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, hrsg. v o n S. J . Schmidt, O p l a d e n 1 9 9 3 , S. 9 - 4 3 , bes. S. 2 2 - 4 1 .
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man schnell, daß das Konzept der Systemdifferenzierung selbst und damit die gesamte Gesellschaftstheorie der S y stemtheorie hinfällig zu w e r d e n d r o h t . Deshalb beharrt L u h m a n n auch auf der Codierung: » a b e r w e n n man diese ehrwürdigen und ein bißchen angestaubten Bezeichnungen [>schön< vs. >häßlich<; O . J . ] nicht m e h r w i l l , w ä r e gegen eine Absage nichts e i n z u w e n d e n - sofern ein Ersatz angeboten w i r d . « 7
Neuere, konstruktivistische Entwicklungen in) der Systemtheorie: Autopoiesis, Beobachter, Medium und Form, Differenzkalkül Die Funktionssysteme der Gesellschaft können sich wechselseitig U m w e l t sein. A b e r w a s ist d i e U m w e l t der Gesellschaft? Dieser B l i c k auf die Gesellschaft eröffnet zunächst den Blick auf jene Paradoxien, d i e damit verbunden sind, w e n n aus der Gesellschaft heraus Gesellschaft selbst beobachtet w i r d . Gesellschaft ist das umfassendste Kommunikationssystem selbst; das bedeutet, Gesellschaft hat keine kommunikative oder soziale U m w e l t mehr; Gesellschaft selbst ist in der Weise ein sozialer sowie kommunikativer Letzthorizont, w i e Welt ein Letzthorizont allen Sinnes ist (Soziale Systeme, S. 105). D i e Gesellschaft ist damit für gesellschaftliche, also k o m m u n i k a t i v e Operationen unerreichbar g e w o r d e n , w e i l k e i n e Operation den archimedischen P u n k t außerhalb der Gesellschaft einnehmen kann. Jeder Versuch, Gesellschaft zu erreichen, sei es z. B. wissenschaftlich oder soziologisch, vollzieht Gesell8
7 N. L., »Weltkunst«, in: N. L. / Frederick Bunsen / D i r k Baecker,
Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7 - 4 5 , hier S. 30.
8 Peter Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion
und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt a. M. 1992.
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schaft z w a n g s w e i s e mit u n d führt so zu Paradoxien der Beobachtung. Die Systemtheorie zeichnet sich gerade durch das explizite Bewußtsein dieser Tatsache aus. U b e r b l i c k t man ihre Entwicklung, so k a n n man erkennen, daß in der Entfaltung von Paradoxien v o n Anfang an ein Potential der Theorie-^ entfaltung lag, das sich in den späteren Arbeiten immer deutlicher aktualisiert hat. Z u m einen geraten damit die später immer klarer in den Vordergrund tretenden konstruktivistischen Ü b e r n a h m e n in die Systemtheorie und z u m anderen die verstärkte Autoreflexivierung der Theorie in den Blickpunkt. Beide Sphären hängen insofern zusammen, als die konstruktivistischen Ü b e r n a h m e n zu Theorieelementen zusammengefaßt werden, mit deren Hilfe es möglich ist, die Paradoxien, w i e sie mit der Autoreflexivierung immer deutlicher zutage treten, selbst noch theoretisch handhaben zu können. Die Ü b e r n a h m e n betreffen (1) das Konzept der Autopoiesis u n d (2) das Konzept des Beobachters aus der konstruktivistisch orientierten Biologie von Francisco Varela u n d H u m b e r t o Maturana, ebenso w i e (3) die Ü b e r n a h m e der Medium/Ding-Differenz als Medium/Form-Differenz von Fritz Heider u n d (4) die Ü b e r n a h m e des Differenzkalküls von George Spencer Brown. Bereits im Konzept der Autopoiesis ist diese paradoxale Selbstreferenz angelegt. » A u t o p o i e s i s « bezeichnet zunächst Selbstreproduktionsmechanismen von Lebewesen, der Be9
9 N. L. / Humberto R. Maturana [u. a.], Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien?, M ü n c h e n 1 9 9 0 ; H u m b e r t o R. Maturana / Fran-
cisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, München 1 9 8 7 ; Humberto R. Maturana,
Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1 9 8 2 , 2., durchges. A u f l . 1 9 8 5 ; F r i t z Heider, »Ding und Medium«, in: Symposion 1 ( 1 9 2 6 ) , S. 1 0 9 - 1 5 7 , wiederabgedr. in: Kurs-
buch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hrsg. v o n C l a u s Pias [u. a.], Stuttgart 1 9 9 9 , S. 3 1 9 - 3 3 3 ; George Spencer B r o w n , Laws of Form, Neudr. N e w Y o r k 1 9 7 9 .
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griff w i r d aber von L u h m a n n modifiziert u n d als konstitutives Kennzeichen sozialer Systeme verstanden. Soziale S y steme sind autopoietische Systeme, u n d ein autopoietisches S y s t e m - so eine griffige Definition - ist ein »System, das sich mittels der R e p r o d u k t i o n seiner Elemente, aus denen es besteht, durch die Elemente, aus denen es besteht, reprod u z i e r t « . Gesellschaft als das umfassendste Sinn- u n d K o m m u n i k a t i o n s s y s t e m ist daher auch »das autopoietische S y s t e m par excellence« (Soziale Systeme, S. 555). Mit dem Autopoiesis-Konzept w i r d noch einmal der enge Zusammenhang zwischen K o m m u n i k a t i o n u n d Sinn unterstrichen. Autopoiesis kann sich nur vollziehen, w e n n zugleich Sinn vorliegt. U n d insofern kann man systemtheoretisch sagen, daß Sinn das M e d i u m der Autopoiesis ist. Autopoiesis ist somit die Form, in der Sinnsysteme prozessieren. Dasselbe gilt umgekehrt: Sinnsysteme prozessieren autopoietisch! Jede K o m m u n i k a t i o n ist Vollzug von Autopoiesis u n d mithin Vollzug von Gesellschaft. An der Autopoiesis w i r d die Autoreflexivität der Gesellschaft in ihren Operationen offenbar. Das daraus entspringende epistemologische P r o blem, w i e denn überhaupt Autopoiesis erkannt werden kann, w e n n das Erkennen der Autopoiesis selbst schon autopoietisch ist, w i r d mittels des Beobachtertheorems (s. u.) abgearbeitet. Zugleich führt die Idee der Autopoiesis nicht nur der Gesellschaft u n d der Sinnsysteme, sondern auch die Spezifikation ihres Vollzugs, die man funktional als W i s senschaft, philosophisch als Erkennen oder schlichtweg als Theorie bezeichnen kann, in das Zentrum konstruktivistischen Denkens: Erkenntnis, die sich selbst aus sich selbst heraus hervorbringt. Die Leitidee des Beobachtertheorems besagt, daß alles, w a s gesagt w i r d , von einem Beobachter gesagt w i r d . Wenn 10
10 Diese Definition eines autopoieuschen Systems stammt von D i r k
Baecker, Womit handeln Banken? Frankfurt a. M. 1992, S. 33.
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das, w a s gesagt w i r d , als k o m m u n i k a t i v e Beschreibung der Gesellschaft bzw. als sinnhafte Beschreibung der Welt identifiziert w i r d , so k a n n man diese L e i t i d e e zu einem puren Konstruktivismus verkürzen: A l l e s , w a s ist, ist nur, weil es beobachtet w i r d . Damit verschwinden ontologische Prämissen von der Vorrangigkeit des Beobachteten vor der B e obachtung; u n d gleichzeitig leitet L u h m a n n daraus einen methodologischen G r u n d s a t z der Systemtheorie ab: Sie wechselt von der Beobachtung des Was zur Beobachtung
des Wie (vgl. z. B. Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 95). M i t dem Beobachter w i r d es möglich, ein Paradox, w i e es sich im Spannungsverhältnis von Gegenstand u n d Theorie ausdrückt, nicht nur zu beschreiben, sondern zugleich produktiv für eben die Beobachtung fruchtbar zu machen. Ein Beobachter k a n n alles sehen (so w i e eine Theorie jeden möglichen oder sogar alle möglichen Gegenstände h a u s sieren k a n n ) , er k a n n nur sich selbst nicht sehen. Der Beobachter bzw. die Operation des Beobachtens ist für sich selbst blind. Diese Unbeobachtbarkeit nennt man den »blinden F l e c k « , den jede Beobachtung auszeichnet. Der blinde Fleck ist gerade die konstitutive Voraussetzung, die conditio sine q u a non der Beobachtung. D a r i n liegt die Paradoxie des Beobachtens begründet, die, w e n n man sie p o sitiv wendet, zu einer Tautologie gerinnt: Der Beobachter sieht nur, w a s er sieht, u n d sieht nicht, w a s er nicht sieht. Beobachten ist eine Operation, die eine Unterscheidung trifft und nur die eine, nicht die andere Seite der Unterscheidung bezeichnet. D a m i t befindet sich der Beobachter selbst auf der bezeichneten Seite; er k a n n nicht mehr die Einheit der Differenz sehen, die ein höhenstufiger Beobachter sehen könnte; ein solcher sieht, w a s ein niederstufiger Beobachter sieht, und zugleich, w a s dieser nicht sieht. Wenn man bedenkt, daß die Einheit der Differenz zugleich die Sinnformel darstellt, so ist die Beobachtung an dem U b e r g a n g s m o m e n t situiert, an d e m Sinn aus Sinn autopoietisch entsteht.
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Beobachtung ist selbst ein paradoxaler Prozeß. Beobachtung ist i m m e r die Einheit der Differenz und die Differenz zugleich; Beobachtung ist Unterscheiden und Bezeichnen bzw. Beobachtung u n d Operation. Genau diese letzte Differenz ist aber in der Lage, die Paradoxie aufzulösen, so daß Beobachtung trotz ihres paradoxalen Charakters produktiv werden kann. M a n kann Beobachtung nämlich selbst beobachten und erzeugt damit zunächst das Paradox der Identität von Identität und Differenz. Die A p o r i e w i r d aber produktiv umgangen, w e i l diese Beobachtung ihrerseits einen Unterschied macht, nämlich den zwischen B e obachtung u n d Operation. Die Beobachtung ist eine Operation, die als Operation für sich selbst unbeobachtbar bleibt. A b e r ein anderer Beobachter kann diese Operation beobachten. Entweder schließt sich an die Beobachtung eine weitere Beobachtung an, oder aber ein anderer Beobachter beobachtet den Beobachter beim Beobachten. Aber auch solche Beobachtungen unterstehen derselben Paradoxie, die nur durch weitere Beobachtungen umgangen w e r den kann, u n d so ad infinitum. Beobachter dürfen dabei nicht personal interpretiert werden. Beobachter ist jede Instanz, die zu unterscheiden u n d zu bezeichnen in der Lage ist. Jedes soziale S y s t e m kann Beobachter sein, aber auch jede Theorie ist z w a n g s w e i s e ein Beobachter. U n d die S y stemtheorie ist eine Theorie, die nicht etwas beobachtet, sondern beobachtet, w i e beobachtet w i r d und insbesondere auch, w i e sie selbst beobachtet. Die Autoreflexivierung der Systemtheorie w i r d durch die Ausarbeitung des Beobachtertheorems nicht nur begleitet, sondern vorangetrieben. Die beiden anderen Ü b e r n a h m e n von Theorieelementen aus d e m Konstruktivismus hängen unmittelbar damit zusammen und verdichten sich im Begriff der Form. Von dem amerikanischen L o g i k e r Spencer B r o w n ü b e r n i m m t L u h mann die Idee, daß eine Unterscheidung nicht nur eine Differenz erzeugt, sondern daß diese Differenz i m m e r auch als F o r m interpretiert w e r d e n kann. F o r m ist Unterscheidung.
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Sie wiederholt damit die Paradoxie, die s c h o n in der Beobachtung mit der Differenz von B e o b a c h t u n g u n d Operation gegeben war. Sichtbar w i r d diese P a r a d o x i e , w e n n man danach fragt, welche Form denn die F o r m hat. Entsprechend der Beobachtung, die die eine S e i t e , die andere aber nicht bezeichnet, hat die Form z w e i Seiten, eine Innenseite u n d eine Außenseite. Form entsteht d u r c h Beobachtung: die Innenseite ist die bezeichnete Seite. Dieser Formbegriff erfährt eine w e i t e r e theoretische Untermauerung durch die Differenz von M e d i u m und Form, mit der L u h m a n n gerade in späteren A r b e i t e n insbesondere auch Phänomene der Autopoiesis von S i n n s y s t e m e n behandelt. M e d i u m und Form sind differente, a b e r zugleich relationale Begriffe: Wenn x eine Form von y ist, ist y ein Med i u m für x. M i t Hilfe dieser Differenz w i r d es möglich, die bereits mehrfach benannte Paradoxie a u f dem höchsten Abstraktionsniveau prozessual u m z u l e g e n . M e d i u m und F o r m unterscheiden sich nicht substantiell; das Medium setzt eine M e n g e von Elementen voraus, d i e lose gekoppelt sind; die F o r m w i e d e r u m stellt l e d i g l i c h eine rigidere Kopplung von Elementen vor. M a n k a n n sich dies als eine Spur im Sand denken: U n t e r g r u n d ( M e d i u m ) u n d Spur (Form) selbst bestehen aus Sand ( M e d i u m ) , und dieser ist w i e d e r u m nur eine M e n g e von kleineren Elementen. Deshalb k a n n man mit dieser Differenz z u g l e i c h eine Differenz u n d insbesondere die Einheit eben d i e s e r Differenz bezeichnen, also w i e d e r u m in eine Differenz einordnen. Damit bietet die Medium/Form-Differenz die Möglichkeit, Sinn selbst greifbar zu machen. Wo S i n n als M e d i u m bezeichnet w i r d , kann dieser Medienbegriff mit der M e d i u m / Form-Differenz überlagert werden. Sinn ist M e d i u m und F o r m u n d auch in dieser Hinsicht E i n h e i t der Differenz. N o c h präziser gesagt: Wenn Sinn die E i n h e i t der Differenz ist, dann k a n n man diese Einheit der Differenz durch eben jene Einheit bezeichnen, die die Einheit v o n M e d i u m und F o r m ist.
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Nachwort
Strukturelle
Kopplung
W e n n Gesellschaft keine k o m m u n i k a t i v e U m w e l t mehr besitzt, dann m u ß sie eine kategorial andere U m w e l t besitzen. A u f der Basis des Autopoiesiskonzepts u n d des Sinnbegriffs läßt sich eine Differenz beobachten, die nicht allein als S y s t e m / U m w e l t , sondern als wechselseitige Systemdifferenz zu verstehen ist. L u h m a n n selbst hat diese Differenz als Differenz von sozialem u n d p s y c h i s c h e m System begrifflich gefaßt u n d dafür auch die Begriffe »Bewußtsein« u n d » K o m m u n i k a t i o n « verwendet. Ausgangsfrage ist: Warum w i r d aber Sinn überhaupt prozessiert? O d e r anders: W a r u m gibt es überhaupt soziale S y s t e m e ? Das ist eine der letzten Grundsatzfragen der Systemtheorie. Die Antwort lautet: Weil das soziale S y s t e m an sich m i t einem kategorial anderen S y s t e m in seiner U m w e l t strukturell gekoppelt ist, das die Voraussetzung für die strukturelle Kopplung bietet. » S t r u k t u r e l l e Kopplung« ist der N a m e dafür, daß Bewußtsein u n d K o m m u n i k a t i o n wechselseitig füreinander konstitutive U m w e l t sind. Die strukturelle Kopplung ist ausschließlich möglich z w i s c h e n S y s t e m e n (nicht zwischen Entitäten, Gegenständen, Zuständen oder Phänomenen als solchen). Strukturell gekoppelt sind Systeme, die sich selbst prozessieren, also S y s t e m e , die sich in der Zeit vollziehen u n d daher ereignisbasiert sind. Es handelt sich z u d e m um S y s t e m e , die sich auch selbst reproduzieren u n d somit in diesem Selbstvollz u g operativ geschlossen sind, somit überschneidungsfrei operieren, also autopoietische Systeme respektive Sinnsysteme sind. Strukturell gekoppelt sind Systeme, die - im Grunde genommen eine tautologische F o r m u l i e r u n g - die Prozessualisierung des anderen S y s t e m s unabdingbar für ihre eigene Prozessualisierung voraussetzen. In diesem Sinne präzisiert u n d radikalisiert das Konzept der strukturellen Kopplung den Begriff der Interpénétration. Wo diese definiert w i r d als Inanspruchnahme fremder Komplexität z u m
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Aufbau eigener Komplexität in einem S y s t e m , zeigt dieses Konzept der strukturellen Kopplung, d a ß die Inanspruchnahme selbst w i e d e r u m prozessual-vonstatten gehen muß. Strukturell gekoppelt sind Systeme, die sich durch eine wechselseitige Ko-Produktion von Ereignissen auszeichnen. So w e r d e n in einem System Ereignisse so produziert, daß diese im anderen System w i e d e r u m j e w e i l s systemspezifisch ko-produziert werden. S t r u k t u r e l l e Kopplung ist, wo sie auftritt, notwendig und konstitutiv. Strukturell gekoppelt zu sein ist keine akzidentielle, s o n d e r n eine substantielle Systemeigenschaft, eine conditio sine qua non. Für die strukturelle Kopplung k o m m e n nur z w e i Systeme in Frage: psychische und soziale S y s t e m e , da sie allein paradigmatisch Autopoiesis k o n s t i t u i e r e n und realisieren können. Strukturell gekoppelte S y s t e m e s i n d wechselseitig aufeinander angewiesen: » O h n e B e w u ß t s e i n keine Komm u n i k a t i o n u n d ohne Kommunikation k e i n Bewußtsein.« (Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 3 8) Das läßt den Schluß zu: Bewußtsein und K o m m u n i k a t i o n stellen eine ausgezeichnete strukturelle Kopplung d a r ; sie sind notwendig, unabdingbar und konstitutiv m i t e i n a n d e r strukturell gekoppelt. Im Aufbau der Systemtheorie ist B e w u ß t s e i n immer der Basiskategorie der Kommunikation s y s t e m a t i s c h nachgeordnet, w a s auch ihrer soziologischen A u s r i c h t u n g auf soziale Systeme entspricht. So gesehen, t r i t t Bewußtsein erst ins Blickfeld, w e n n man sich fragt: » W i e i s t Bewußtsein an K o m m u n i k a t i o n beteiligt?« Diese Frage l ä ß t sich auch gen a u andersherum stellen, und jedesmal m u ß die Antwort lauten, daß das andere System in der strukturellen Kopplung Impulse liefert, ohne die die Selbstreproduktion des einen S y s t e m s z u m Erliegen k ä m e . A l s M e t a p h e r könnte man sich das Ticken zweier nebeneinanderstehender Uhren vorstellen, von denen jede so ausgestattet ist, daß sie nur selber tickt, w e n n sie über einen Sensor d a s Ticken der j e w e i l s anderen U h r wahrnimmt.
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Bewußtsein hat die Funktion, K o m m u n i k a t i o n irritieren, anregen oder auch bestätigen zu k ö n n e n - und zu müssen! Peter Fuchs hat die entgegengesetzte Blickrichtung gewählt; er führt Kommunikation über d a s Bewußtsein ein. Er startet dabei mit dem Basistheorem von der Intransparenz des Bewußtseins. An die Seite der These von der Unerreichbarkeit der Gesellschaft stellt er die der Unerreichbarkeit des Bewußtseins und v e r w e i s t damit auf die S y m m e t r i e in der Differenz von K o m m u n i k a t i o n und B e w u ß t s e i n . Bewußtsein kann weder e i n anderes Bewußtsein erreichen, noch kann es, aufgrund seiner Systemeigenschaften im R a h m e n dieser Konzeptualisierung, irgendein anderes S y s t e m erreichen, natürlich a u c h Kommunikation nicht. Das gilt auch vice versa. Beide Systeme operieren völlig überschneidungsfrei. Diese fehlende Überschneidung ist das katalysatorische Initialmoment für die Emergenz u n d Konstitution von Kommunikation: 11
» D i e Intransparenz eines Bevmßtseins für ein anderes (die Undurchsichtigkeit der Schädelkalotten, die vollk o m m e n e Geschlossenheit psychischer S y s t e m e ) ist das katalytische Problem, an dem Kommunikation ihre F o r m gewinnt: als Rekonstitution der Unterscheidung von Kommunikation und B e w u ß t s e i n in Kommunikation mit Hilfe der Selektionstriade Information, Mitteilung, Verstehen.« 12
(Die Emergenz v o n ) Kommunikation i s t also nichts anderes als eine aus der Intransparenz des B e w u ß t s e i n s resultierende Lückenkonfiguration. B e w u ß t s e i n gewinnt seine 1 1 Bezeichnend sind die beiden Buchtitel v o n P e t e r Fuchs: Die Erreich-
barkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt a. M. 1992, u n d Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, Frankfurt a. M. 1998. 1 2 Peter Fuchs, Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements, Frankfurt a. M . 1993, S. 135.
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post-hoc-Identität durch Differenz zur kommunikativen U m w e l t gleichzeitig mit der Kommunikation, die ihre post-hoc-Identität durch Differenz zur b e w u ß t e n Umwelt gleichzeitig mit dem Bewußtsein gewinnt. Die Differenz von Bewußtsein und Kommunikation ist nicht n u r eine Konkretisierung der System/Umwelt-Differenz, die w i e d e r u m die Differenz von Identität u n d Differenz exemplifiziert; es verhält sich vielmehr - u n d das ist die Pointe - genau umgekehrt. Welche Systeme sind denn überhaupt in der Lage, zwischen System und U m w e l t u n d mithin zwischen Identität und Differenz zu differenzieren? Diese Fähigkeit setzt konstitutive Charakteristika voraus, die konstitutiv nur Bewußtsein einerseits u n d Kommunikation andererseits zukommen. Sie erzeugen Identität und Differenz von S y s t e m und U m w e l t , indem sie sich in struktureller Kopplung wechselseitig differenzieren. Ihren S y stemstatus gewinnen sie erst auf der Basis dieser Differenzierungsleistung. An diesem Punkt w i r d die Differenz von B e w u ß t s e i n und Kommunikation schlagartig z u m Fundament der Systemtheorie; man könnte sie fast als >Ur-Differenz< der Systemtheorie ansehen. Mit der Differenz von B e w u ß t s e i n und Kommunikation kommt die Systemtheorie überhaupt erst eigentlich zu sich; sie ist die Startdifferenz von Systemtheorie insofern, als die Systemtheorie diese Differenz als Startdifferenz jeglicher Theoriebildung, jeglicher B e w u ß t s e i n s - u n d Kommunikationsprozesse ansetzen muß. Wenn man diese U m s t e l l u n g der Begründungsstruktur mitmacht und die strukturelle Kopplung als Basisdifferenz begreift, w i r d es möglich, den Medien- u n d Sinnbegriff neu zu konzeptualisieren. Beide Begriffe haben in der konstruktivistischen Wende der Systemtheorie den problematischen C h a r a k t e r von Letztbegriffen angenommen, die nicht mehr hintergehbar u n d nicht mehr negierbar sind. »Sinn« ist die A n t w o r t auf die Frage, w i e es überhaupt z u r strukturellen Kopplung kommt, obschon beide S y s t e m e überschneidungsfrei operieren, denn er ermöglicht systemtran-
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szendent die Ko-Produktion von systemspezifischen Ereignissen. B e i Luhmann heißt es: » D a s allgemeinste Medium, das psychische und soziale Systeme e r m ö g l i c h t und für sie unhintergehbar ist, kann mit dem Begriff >Sinn< bezeichnet w e r d e n . « (Die Kunst der Gesellschaft, S. 173). M a n kann deswegen eine zumindest i m a g i n ä r e oder virtuelle dritte Position annehmen, die die Ereignisse hier w i e dort vermittelt und aufeinander b e z i e h b a r macht. Diese Position nenne ich » M e d i u m « , das d a m i t die strukturelle Kopplung von Bewußtsein u n d K o m m u n i k a t i o n leistet. A u f dieser Basis läßt sich das M e d i u m w i e d e r u m mit Sinn identifizieren, da Sinn das notwendige Korrelat der operativen Schließung darstellt. Sinn ist die Einheit der Differenz u n d die »Differenz der Einheit v o n B e w n ß t s e i n und Komm u n i k a t i o n « ; Sinn ist somit das S u p e r m e d i u m für beide S y s t e m t y p e n . N u r mit Hilfe von Sinn k ö n n e n die sinnkonstituierenden Systeme B e w u ß t s e i n und Kommunikation ein re-entry vollziehen u n d in sich selbst z w i s c h e n sich und d e m anderen System, also z w i s c h e n S e l b s t - und Fremdreferenz unterscheiden und somit ü b e r h a u p t erst die strukturelle Kopplung vollziehen. Dieser Medienbegriff ist an die Medium/Form-Differenz direkt anschließbar. Strukturelle K o p p l u n g ist systemspezifische Formbildung im M e d i u m S i n n . Wenn man also strukturelle Kopplung beobachtet, so beobachtet man die Konstitution von Sinn als F o r m im M e d i u m Sinn. Sinn ist somit sowohl M e d i u m als auch Form, Ausgangspunkt und P r o d u k t struktureller Kopplung. Sinn i s t M e d i u m insofern, als es Formbildungen in einem S y s t e m erlaubt und erzwingt, die durch das Prozessieren d e s anderen Systems ausgelöst wurden. M e d i e n leisten d i e strukturelle Kopplung so, daß Sinn aus struktureller K o p p l u n g und aus die13
13
D i r k Baecker, »Die Unterscheidung z w i s c h e n Kommunikation und
Bewußtsein«, in: Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, hrsg. v o n Wolfgang K r o h n und Günter K ü p pers, F r a n k f u r t a. M. 1 9 9 2 , S. 2 1 7 - 2 6 8 , hier S. 2 4 8 .
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ser w i e d e r u m Sinn hervorgeht. Im M e d i u m Sinn erscheint ein direkter Zugriff von Kommunikation auf Bewußtsein u n d u m g e k e h r t möglich. Jedes der beiden Systeme aber greift rekursiv, angestoßen durch das andere, nur auf sich selbst zu, prozessiert und reproduziert n u r sich selbst. Da aber beide S y s t e m e die Differenz zwischen Kommunikation und B e w u ß t s e i n , in der sie stehen, ü b e r eine re-entryF i g u r intern noch einmal reproduzieren u n d an diesem reentry die eigene Selbstreproduktion katalysatorisch initiieren, erscheint das eine S y s t e m dem anderen j e w e i l s als M e d i u m . K o m m u n i k a t i o n ist so M e d i u m für Bewußtsein, Bewußtsein M e d i u m für Kommunikation.
Autoreflexivierung der Theorie, Systemtheorie und Dekonstruktion als Supertheorien Die Autoreflexivierung geht darauf zurück, daß die S y stemtheorie zugleich ihr eigener Gegenstand sein m u ß , weil die Systemtheorie das vollzieht, w o v o n sie spricht, sei es Gesellschaft, sei es Bewußtsein oder überhaupt strukturelle Kopplung. D i e spätere Systemtheorie begnügt sich nicht damit, dieses F a k t u m als paradoxales Problem ihrer eigenen Erkenntnis b e w u ß t zu halten, i m m e r mehr w i r d dieses Problem selbst z u m Problem der Theorie. Damit ist eine Tendenz vorgezeichnet, die die Systemtheorie selbst z u m vorherrschenden Gegenstand der Systemtheorie w e r d e n ließ. Diese Tendenz w a r nicht nur implizit angelegt, sondern w u r d e auch im Universalitätsanspruch explizit ausgesprochen. Die Systemtheorie hat sich seit ihrer methodologischen G r u n d l e g u n g als Supertheorie verstanden (vgl. Soziale Systeme, S. 19 f f . ) Der Universalitätsanspruch einer Theorie w i e der Systemtheorie besteht darin, daß sie die 14
14 Siehe hierzu: Oliver Jahraus / Benjamin Marius, Systemtheorie und
Dekonstruktion. Die Supertheorien Niklas Luhmanns und Jacques Derridas im Vergleich, Siegen 1997.
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Welt, also all das, w a s potentiell i h r e n gesamten Gegenstandsbereich ausmachen könnte, mit i h r e n Beobachtungsinstrumenten abdecken kann. Der Universalitätsanspruch von Supertheorien w i r d erst dort theoretisch relevant, wo im universalen Ausgriff der Theorie sie selbst in ihren eigenen F o k u s gerät, wo die Theorie a l s o autoreflexiv wird. Das trifft auf die Systemtheorie in mehrfacher Hinsicht zu: A l s Theorie ist sie erstens ein S y s t e m , z w e i t e n s vollzieht sie Kommunikation, u n d drittens ist sie schließlich auch ein Beobachter. Damit b e k o m m e n Supertheorien w i e die S y stemtheorie eine paradoxale Struktur, d i e sich als Selbstbegründungsproblem a u s w i r k t . Wenn Supertheorien zugleich Theorie u n d Gegenstand sind, stellt sich die Frage, wo dann das Fundament ihrer (Selbst-)Begründung liegt? Begründung u n d Begründendes fallen w i e Theorie und Gegenstand zusammen. Die Systemtheorie befindet sich in d e r klassisch paradoxalen Situation der Selbstbeobachtung. W i e für jede Beobachtung müßte daher für die Systemtheorie ein blinder F l e c k konstitutiv sein; w i e es für die systemtheoretische Auffassung dieses Theorems charakteristisch ist, müßte sich aber dieses Paradox ebenso prozessual umlegen lassen. Das heißt: Systemtheorie begründet sich nicht im R e kurs auf irgendwelche metaphysischen Wahrheiten, sie begründet sich durch ihren eigenen Vollzug; sie schöpft ihre Legitimation aus ihrer Praxis u n d erweist sich eben gerade dadurch als das, w a s sie ist: ein prozessierendes, kommunikatives, beobachtendes Sinnsystem. D i e konstruktivistische Wende hat in der Systemtheorie gerade das Beobachtertheorem in den Vordergrund gerückt: Sie hat sich selbst als Beobachter entworfen u n d damit i h r eigenes Beobachterparadox eingeholt, das heißt: sie h a t sich selbst eingeholt. 15
1 5 Siehe hierzu: Günter Schulte, Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, Frankfurt a. M . / N e w Y o r k 1 9 9 3 .
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Damit w i r d die Systemtheorie mit der Dekonstruktion von Jacques Derrida vergleichbar. A u c h d i e Dekonstruktion kann als Supertheorie beobachtet w e r d e n , obschon oder besser: gerade w e i l sie sich selbst w e i g e r t , sich als Theorie anzuerkennen. Wo die Dekonstruktion ü b e r Zeichenordnungen u n d ihre différentielle A u f l ö s u n g spricht, kommt sie zwangsweise als eigene Zeichenordnung in den Blick. Die Folge davon ist, daß die D e k o n s t r u k t i o n in allererster Linie von dem betroffen ist, w a s sie aussagt. Da nach dekonstruktivistischer Auffassung Zeichenordnungen nicht stabilisierbar sind, ist sie selbst als T h e o r i e hinfällig. Desw e g e n versteht sie sich auch als Praxis, d i e immer wieder neu ansetzt, indem sie Zeichenordnungen rekonstruiert (konstruktiver A s p e k t ) u n d zugleich diese in ihrer Auflösung zeigt (destruktiver A s p e k t ) . Systemtheorie und Dekonstruktion sind, strukturell gesehen, mit demselben Phänomen konfrontiert, nämlich mit d e m der Differentialität. Beide Theorien verabschieden die metaphysische Vorstellung, daß Theorien, ja daß das Denk e n überhaupt auf ein unerschütterliches Fundament, wie es noch Descartes vorschwebte, gestellt werden könnte. Beide Theorien sind Differenztheorien; a u c h für die Dekonstruktion gilt, w a s L u h m a n n für die Systemtheorie u n d somit für das Denken selbst - konstatiert: » A m Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz.« (Soziale Systeme, S. 112) Diese ursprüngliche Differenz ist als Identität nicht mehr einzuholen u n d zeugt sich in den Zeichenp r d n u n g e n , Kommunikationen u n d Bewußtseinsvorgängen prozessual als Differentialität fort. »Differentialität« meint, daß erstens nichts durch die Identität m i t sich selbst ist, sondern Identität immer n u r aus der Differenz z u m anderen entsteht, daß aber zweitens die Differenz nicht irgendw a n n an ein Ende k o m m t , sondern potentiell unendlich ist. Das Phänomen der Differentialität stellt somit eine doppelte Provokation für Supertheorien dar: z u m einen deshalb, w e i l sie sich dem identifikatorischen Zugriff der Theorie
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verweigert, z u m anderen, w e i l an der Differentialität offenbar w i r d , daß die Theorie eben genau demselben Prinzip unterliegt. Systemtheorie und Dekonstruktion haben nun symptomatisch unterschiedliche Verfahren entwickelt, mit dem Phänomen zurechtzukommen. Deswegen ist der Vergleich zwischen beiden Supertheorien für beide Theorien äußerst aufschlußreich. Da die Dekonstruktion kein Instrumentar i u m entwickelt hat, um aufgrund der Differentialität die Hinfälligkeit der Zeichenordnungen selbst noch einmal in eine Zeichenordnung zu bannen, ergibt sich aus ihr eine final-aporetische Tendenz ihrer Theorieentwicklung. Dekonstruktion tendiert zur Selbstaufhebung, ihr Weg führt in eine theoretische Sackgasse, der sich die Dekonstruktion sehr w o h l b e w u ß t ist. Wo sie sich überhaupt noch vollzieht, vollzieht sie sich nicht als das, als was sie angetreten ist, nämlich als Theorie, sondern eben nur als deren Negation bzw. als deren Dekonstruktion, also als Praxis oder als Spiel. Dekonstruktion ist immer auch Auto-Dekonstruktion. Genau diese Selbstaufhebungstendenz besitzt die S y stemtheorie nicht. Da die Beobachtung der Beobachtung (die Beobachtung zweiter O r d n u n g ) , aus der Differentialität heraus erwachsen, i m m e r noch Beobachtung ist, kann sich auch die Selbstbeobachtung der Theorie immer noch als Theorie vollziehen. Im Gegensatz zur Dekonstruktion kann die Systemtheorie ihren Theorieanspruch und W i s senschaftscharakter beibehalten, auch nachdem sie den Durchgang durch die Autoreflexivierung gegangen ist. Ja, mehr noch: Systemtheorie kann dort zur >Supersupertheorie< werden, wo sie sich als Supertheorie ins Verhältnis gerade mit der Dekonstruktion einläßt. Die Differenz z w i schen Systemtheorie u n d Dekonstruktion w i r d aber s y stemtheoretisch konzeptualisiert. Wenn man so will: Bei diesem Vergleich fungiert die Systemtheorie als Einheit der Differenz v o n Systemtheorie und Dekonstruktion. Es
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n i m m t daher nicht wunder, daß jenes Instrument, mit der die Systemtheorie diese Entparadoxierung bewerkstelligt, dasselbe ist, mit dem sie die D e k o n s t r u k t i o n rekonstruiert: das Beobachtertheorem. F ü r die Systemtheorie selbst hat die Autoreflexivierung einen unbestreitbaren Wert: Sie sichert i h r Weiterprozessieren als Theorie. Zugegebenermaßen sind d i e soziologischen Rekonzeptualisierungen in den H i n t e r g r u n d getreten (und dies selbst im letzten großen, von L u h m a n n publizierten W e r k Die Gesellschaft der Gesellschaft). Denn auch hier geht es nicht um die empirische Gesellschaft, sondern daru m , w i e Gesellschaft als sozialer L e t z t h o r i z o n t noch einmal in der Gesellschaft erscheinen kann. Systemtheorie k o piert damit die Gesellschaft in die Gesellschaft hinein. Daher vollzieht die Systemtheorie an der Gesellschaft das, was ihrem eigenen Vollzug zugrunde liegt: Autoreflexivierung, die aber nicht in die A p o r i e der P a r a d o x i e , sondern in den sich selbst vollziehenden Prozeß d u r c h Entparadoxierung mündet. Deswegen ist die Systemtheorie h e u t e z u m Paradigma v o n Theorie selbst geworden: Theorie a l s exemplarische u n d paradigmatische Kommunikation, als Prozessieren von Sinn, als Beobachtung. U n d somit w i r d Systemtheorie zum Paradigma für das Denken schlechthin, also für die Fähigkeit des Menschen (nicht der K o m m u n i k a t i o n ! ) , sich überhaupt denkend auf die Welt einzulassen, besser gesagt: Welt zu entwerfen, zu organisieren und zu gestalten.
Oliver Jahraus
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Weiterführende Literatur zu Luhmanns Systemtheorie Baraldi, Claudio / Corsi, Giancarlo / Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt a. M. 1997. Fuchs, Peter: Niklas Luhmann - beobachtet. Eine Einführung in die Systemtheorie. 2., durchges. Aufl. Opladen 1993. Horster, Detlef: Niklas Luhmann. München 1997. Kneer, Georg / Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung. München 1993. Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart 1996. Reese-Schäfer, Walter: Luhmann zur Einführung. Hamburg 1992. Schulte, Günter: Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie. Frankfurt a. M. / New York 1993. Ternes, Bernd: Invasive Introspektion. Fragen an Niklas Luhmanns Systemtheorie. München 1999.
Universal-Bibliothek N i k l a s L u h m a n n gilt als einer der bedeutendsten Soziologen des 2 0 . Jahrhunderts. D e r vorliegende B a n d zeichnet die E n t w i c k l u n g seiner Theorie anhand ausgewählter, in sich abgeschlossener Texte w i e z . B . » D i e Unwahrscheinlichkeit der K o m m u n i kation« nach. D i e R e d e »Erkenntnis als K o n s t r u k t i o n « w i r d hier erstmals in größerem R a h m e n veröffentlicht. E r g ä n z e n d bildet das umfangreiche N a c h w o r t v o n O l i v e r Jahraus eine vorzügliche E i n f ü h r u n g in das L u h m a n n s c h e Werk.
ISBN
978-3-15-018149-2
€ [D] 8,60