HANS HELLMUT KIRST
AUFSTAND DER SOLDATEN Roman des 20. Juli 1944
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN 11. Auflage Genehmigte, ...
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HANS HELLMUT KIRST
AUFSTAND DER SOLDATEN Roman des 20. Juli 1944
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN 11. Auflage Genehmigte, ungekürzte Taschenbuchausgabe Copyright © 1965 by Hans Hellmut Kirst Alle Rechte bei C. Bertelsmann Verlag GmbH, München 1977 Printed in Germany 1982 Umschlagfoto: Süddeutscher Verlag, München Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-00471-X
Scan: Kaahaari K&L: Yfffi Oktober 2002
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Vom gleichen Autor erschienen außerdem als Heyne-Taschenbücher Letzte Station Camp 7 • Band 839 Kein Vaterland • Band 901 Faustrecht • Band 937 Gott schläft in Masuren • Band 981 Held im Turm • Band 998 Mit diesen meinen Händen • Band 5028 Kameraden • Band 5056 Die Wölfe • Band 5111 Fabrik der Offiziere • Band 5163 Wir nannten ihn Galgenstrick • Band 5287 Aufruhr in einer kleinen Stadt • Band 5335 Kultura 5 und der Rote Morgen • Band 5403 Die Nächte der langen Messer • Band 5479 Der unheimliche Freund • Band 5525 Eine Falle aus Papier • Band 5808 Bedenkliche Begegnung • Band 5971
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Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis. JULIUS LEBER Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind. ALFRED DELP Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Unglück zu bewahren. Ich bin mir klar, daß ich daraufhin gehenkt werde. Aber ich bereue meine Tat nicht, und hoffe, daß sie ein anderer, in einem glücklicheren Augenblick, durchführen wird. FRITZ-DlETLOF GRAF VON DER SCHULENBURG
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Dieses Buch basiert auf Tatsachen. Namen, Daten und Ereignisse entsprechen wirklichen Geschehnissen. Selbst zahlreiche Dialogstellen sind wortwörtlich Dokumenten entnommen worden. Wenn dieses Buch dennoch ein Roman genannt wird, so in Besonderheit wegen der hier aufgezeichneten Gestalt des Hauptmanns Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede. Sie gleicht in Details, keinesfalls als Ganzes, der einzigartigen Persönlichkeit des Oberleutnants FritzDietlof Graf von der Schulenburg. Doch war er lediglich Vorbild - nicht Modell.
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DER 20.JULI - DIE MÄNNER DES AUFSTANDS Generaloberst Ludwig Beck General Friedrich Olbricht Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim Oberleutnant Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg Oberleutnant Werner von Haeften Marineoberstabsrichter Berthold Graf Schenk von Stauffenberg Dr. Julius Leber Oberbürgermeister Dr. Carl Goerdeler Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben Generalfeldmarschall Erwin Rommel Generalmajor Henning von Tresckow General Karl Heinrich von Stülpnagel General Erich Hoepner Generalmajor Hellmuth Stieff General Erich Fellgiebel Generalleutnant Paul von Hase Oberst Eberhard Finckh Oberstleutnant Cäsar von Hofacker Oberleutnant Dr. Fabian von Schlabrendorff Leutnant Ludwig Freiherr von Hammerstein-Equord Helmuth James Graf von Moltke Polizeipräsident Wolf Heinrich Graf von Helldorf Regierungsrat Hans Bernd Gisevius Pater Alfred Delp S. J. DDr. Eugen Gerstenmaier Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge Oberst Wolfgang Müller Hauptmann Friedrich-Karl Klausing Generalleutnant Hans von Boineburg-Lengsfeld
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DIE GEGNER Adolf Hitler Benito Mussolini Reichsleiter Martin Bormann Reichsführer 55 Heinrich Himmler Reichsmarschall Hermann Göring Reichspropagandaminister Joseph Goebbels Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel Großadmiral Karl Dönitz General Alfred Jodl General Hermann Reinicke Generaloberst Friedrich Fromm General von Kortzfleisch Major Otto Ernst Remer Leutnant Dr. Hans Hagen Leutnant Röhrig Oberstleutnant Bolko von der Heyde SS-Gruppenführer Karl Friedrich Oberg SS-Obersturmführer Rattenhuber SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner SS-Gruppenführer Heinrich Müller SS-Hauptsturmführer Otto Skorzeny SS-Oberführer Piffrader Kriminalkommissar Habecker Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler Oberreichsanwalt Lautz Beisitzer des Volksgerichtshofes Mitglieder des Ehrenhofes Rechtsanwälte und der Scharfrichter von Berlin
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Erster Teil DIE TAGE VORHER »Ich tue nichts, aber ich werde mich auch nicht dagegen wehren, wenn es ein anderer tut.« Walter von Brauchitsch, Generalfeldmarschall
1 Ein Oberst, der töten muß »Ich selbst werde es tun«, sagte der Oberst. Und er meinte damit: Ich werde den Oberbefehlshaber töten. Dieser Oberst hieß Claus Graf von Stauffenberg. Er war Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres. Seine Dienststelle befand sich in Berlin, in der Bendlerstraße. Und hier stand er – hochgereckt, angespannt wirkend – einem Hauptmann gegenüber. Der sagte: »Das habe ich kommen sehen.« Mehr zu sagen, schien er nicht für notwendig zu halten. Er setzte sich erwartungsvoll. Der Oberst blickte sichtlich verwundert auf seinen Besucher. »Ich erwarte deine Gegenargumente, Fritz.« »Würden sie dich von deinem Vorhaben abbringen können, Claus?« »Nein, natürlich nicht«, erklärte Stauffenberg sofort. Seine Stimme klang beherrscht und fordernd – doch auch herzliche Zuneigung schwang darin mit. »Aber ich will wissen, wie du darüber denkst – du kennst bestimmt alle Einwände, die von unseren Freunden gegen meinen Entschluß vorgebracht werden könnten.« Der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede hob sein kühn wirkendes Vogelgesicht und blinzelte dem Oberst zu. »Meine Ansicht hierzu ist dir bekannt – es ist mehr als höchste Zeit, daß er endlich umgelegt wird.« Er sprach von Adolf Hitler,
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dem Führer und Reichskanzler und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht. »Aber wenn du Einwände hören willst: Der krepiert von selbst – man muß nur noch ein wenig warten können.« Claus Graf von Stauffenberg schüttelte energisch den schmalen Schädel. »Täglich sterben mehr und mehr Menschen. Kein Tag vergeht, ohne daß sich die Verlustziffern vergrößern. Der Kreis der Freunde wird immer kleiner.« »Wir haben fünf Jahre Krieg überlebt – in kaum mehr als neun Monaten ist dieser Schlächter am Ende seiner Kräfte. Der krepiert so oder so.« »Und was wird bis dahin?« Stauffenberg beugte sich vor. »Bis dahin können sich die Verluste an Menschenleben verdoppeln. Deutschland kann bis zur Unkenntlichkeit zerstört werden. Und die Verbrennungsöfen rauchen weiter – Tag und Nacht.« »Du bist überzeugt davon, daß der Beweis erbracht werden muß: es existiert noch ein anderes Deutschland – als das dieser Mordvereine.« »Die Welt muß wissen: wir haben es gewagt.« Der Oberst traf diese Feststellung mit großer Einfachheit – er sprach leise, doch zwingend deutlich. Dann war es, als lache er auf. »Entschuldige bitte – ich weiß, mit Selbstverständlichkeiten vergeuden wir nur unsere Zeit. Versuche weiter, gegen mein Vorhaben zu argumentieren – so rücksichtslos wie nur irgend möglich.« »Nun gut, Claus«, sagte der Hauptmann und schob seine Geiernase vor. »Strecke deinen rechten Arm aus.« »Ich habe keinen rechten Arm mehr«, sagte der Oberst gelassen. »Ich besitze nur noch ein Auge und lediglich drei Finger meiner linken Hand. Ich bin also das, was man einen Krüppel nennt. Und nun glaubst du wohl, das macht mich unfähig zu töten?« »Wenn das einer schafft, dann bist du es«, erklärte der Graf von Brackwede ohne Zögern. »Ich will versuchen, dir den
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Rücken freizuhalten. Das wird nicht ganz einfach sein – denn schließlich haben wir es nicht nur mit dieser Hyäne von Staatsoberhaupt zu tun, sondern auch noch mit unseren zahlreichen Freunden.« Der Leutnant von Brackwede, Konstantin mit Vornamen, lag in voller Uniform unter dem Tisch. Sein Gesicht wirkte leichenblaß und kindhaft glatt. Er schien wie eine Puppe zu lächeln. Der Mann, der vor ihm stand, war rabenschwarz gekleidet. Er blieb längere Zeit unbeweglich. Allein in seinen Augen lag lauernde Lebendigkeit. Dieser Mensch hieß Maier, war SS-Sturmbannführer und Leiter der inoffiziellen Abteilung »Wehrmacht« im Reichssicherheitshauptamt. Er besaß ein rundes, rosiges Gastwirtsgesicht – es veränderte sich nie; was immer auch geschehen mochte. Es war wie mit Schaumgummi ausgepolstert: schwammiger Gleichmut. Das auch jetzt, da er sich plötzlich und völlig lautlos zu bewegen begann – eine gutgeölte Präzisionsmaschine schien eingeschaltet worden zu sein. Die Arme des Schwarzen bewegten sich wie im Rhythmus einer sportlichen Übung – ein Griff ergänzte den anderen; die rechte Hand wühlte, die linke glättete, beseitigte Spuren, stellte die äußere Ordnung wieder her. Papiere wurden durchgeblättert – mit der Schnelligkeit eines Kassiers, der Banknoten kontrolliert. Mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der sie eingesetzt hatten, hörten alle diese Bewegungen auf. Der Mann erstarrte für Sekunden. Er hatte etwas gefunden, das ihn zu interessieren schien: ein graugrüner Zettel – eine Materialanweisung. Sie lautete auf drei Kilo Dichtungsmaterial. Nichts konnte harmloser erscheinen. Als Ausgabestelle war das Lager S M 3 in BerlinLankwitz bezeichnet. S M 3 aber bedeutete – wie Maier wußte – »Sondermaterial der Abwehr«. Und dort lagen Maschinenwaffen, Spezialpistolen und transportable Funksprechgeräte. Und
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Sprengstoff. Langsam begann sich dann sein Kopf zu bewegen – er blickte wie prüfend auf den Leutnant. Er stieß ihn an – mit der Fußspitze gegen das Gesäß. Das mußte er mehrmals tun, bis er Erfolg hatte. Doch er schien sehr viel Geduld zu besitzen. Der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede begann sich zu bewegen – raupenartig, mühsam. Er versuchte, sich aufzurichten. Dabei starrte er auf den Teppich, auf dem er gelegen hatte – das war ein leuchtend brauner Buchara; mit jetzt speinassem Mittelornament. Konstantin schüttelte sich – seine strohblonden Haare bewegten sich wie ein dichtgewobenes Seidentuch. »Ich bin ein alter Kampfgefährte Ihres verehrten Bruders«, erklärte der Mann in Schwarz. »Ich hätte mich gerne wieder einmal mit ihm unterhalten – wissen Sie, wo ich ihn treffen kann?« Der Leutnant blickte seinen Besucher sekundenlang an. »Ich weiß überhaupt nichts«, gestand er mühsam. »Ich bin erst gestern abend von der Front angekommen.« »Das«, versicherte Maier betont herzlich, »erklärt natürlich vieles und entschuldigt alles. Also dann herzlich willkommen in der Reichshauptstadt! Wünsche einen angenehmen Aufenthalt. Und langweilig wird es für Sie bestimmt nicht werden – nicht bei dem Bruder, den Sie haben. Auch ich werde gerne das Meine dazu tun.« »Hitlers Stunden sind jetzt gezählt«, berichtete der Hauptmann Graf von Brackwede. »Stauffenberg ist entschlossen, ihn zu töten – Stauffenberg persönlich will es tun.« Julius Leber neigte nachdenklich seinen harten, kantigen Schädel. »Als dieser Oberst im vorigen Jahr hier in Berlin auftauchte«, sagte er schließlich, »da habe ich es gewußt, gleich nach der ersten Unterredung: Jetzt wird endlich geschehen, was wir seit langen Jahren geplant und versucht haben.« »Dennoch«, stellte der Hauptmann von Brackwede
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drängend fest, »haben Sie Bedenken – ich spüre das. Warum?« »Ich könnte jetzt sagen: weil ich diesen Stauffenberg liebe. Ich will ihn, gerade ihn, erhalten wissen – ich bin sicher, Sie verstehen das. Es ist ein dunkler Gedanke, sich ihn selbst bei der Ausübung dieses Attentates vorzustellen.« »Einer muß das schließlich tun«, erklärte der von Brackwede. »Und er gehört zu den Wenigen, denen es noch gelingt, in Hitlers Nähe zu kommen. Außerdem hat er die notwendige Kaltblütigkeit dazu – wie kein anderer.« Julius Leber nickte zustimmend. Er war zur Zeit Kohlenhändler in Berlin-Schöneberg – er betrieb sein kleines Unternehmen gemeinsam mit seiner Frau Annedore. In seiner »Bretterbude«, wie sein Büro genannt wurde, trafen sich seine zahlreichen Freunde – nicht nur die von damals, als er noch Reichstagsabgeordneter gewesen war. Die Männer der Widerstandsbewegung sahen in ihm den Innenminister eines befreiten Deutschland. Und der Graf von Brackwede war als sein Staatssekretär vorgesehen. »Ich glaube die Argumente von Beck und Goerdeler gegen Stauffenbergs Plan zu kennen«, erklärte Leber behutsam. »Sie werden sagen: Der maßgebliche Generalstabschef der Revolte kann nicht zugleich auch der entscheidende Stoßtruppführer sein. Und sie haben nicht unrecht, wenn sie das behaupten.« »Nennen Sie mir eine andere Möglichkeit, Hitler jetzt noch zu beseitigen – und ich werde sie akzeptieren.« Julius Leber erhob sich schwer und schritt zum Fenster – hier sah er, hinter der Gardine verborgen, hinaus in den flirrenden Sommertag. »Was ist nicht schon alles versucht worden!« sagte er. »Seit Jahren – wieder und immer wieder.« »Aber jetzt ist es soweit!« sagte der Hauptmann überzeugt. »Vielleicht mußte erst der denkbar beste Mann kommen, damit ein derartiges Wagnis gelingen kann. Stellen wir uns jetzt darauf ein – mit allen Konsequenzen.« »Mann!« rief das gartenzwergartige Geschöpf in
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Gefreitenuniform dem Hauptmann von Brackwede unbekümmert entgegen. »Wo treiben Sie sich eigentlich herum? Ich suche Sie seit vierundzwanzig Stunden!« »Ich schlage meine Tage tot«, sagte der Hauptmann lächelnd ohne die geringste Verwunderung über so viel joviale Direktheit. »Ich faulenze so vor mich hin – das sollten Sie doch langsam wissen, Volksgenosse Lehmann.« Sie grinsten sich freudig an. Der Gefreite hockte im Dienstzimmer des Hauptmanns und dort in dessen Schreibtischsessel – er machte keinerlei Anstalten, ihn zu räumen. Sie waren hier schließlich ganz unter sich; eingeschworene Widerstandsfachleute sozusagen. »Also«, berichtete der Gefreite »Gartenzwerg« Lehmann geschäftig, »das mit dem Sprengstoff geht wieder einmal in Ordnung. Und hoffentlich ist das die letzte Ladung, die ich den Kameraden von der Abwehr entreißen muß. Langsam bekommen die nämlich kalte Füße – was kein Wunder ist. Wir strapazieren sie schließlich schon seit Jahren.« »Wieder britisches Material?« wollte Brackwede wissen. »Plastik! Von prima Qualität. Dazu wie üblich ein Säurezünder – diesmal jedoch einer, der sich ziemlich genau berechnen läßt. Die bisher aufgetretenen Pannen werden sich jetzt kaum einstellen – sofern endlich der richtige Mann am Hebel sitzt.« Der Hauptmann von Brackwede kannte diese »Pannen« – sie hatten viel Nerven gekostet und zu mancher Unsicherheit geführt. Zwar arbeiteten diese Säurezünder absolut geräuschlos, sie waren jedoch abhängig von der Witterung – die jeweils herrschenden Temperaturen beeinflußten ihre Zersetzungsdauer. »Bisher waren Stümper am Werk«, behauptete der muntere Gartenzwerg ungeniert. »Jetzt aber sind die Tage der Fachleute angebrochen. Ich habe schließlich nicht umsonst wochenlang mit General von Tresckow trainiert.« »Und wo ist die Materialanweisung?« fragte der Hauptmann.
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Gartenzwerg Lehmann blickte verwundert und vorwurfsvoll zugleich. »Was – Sie haben diesen Wisch noch nicht? Er ist bereits gestern von mir in Ihrer Wohnung abgegeben worden. Ihr Bruder hat ihn in Empfang genommen. Schlafen Sie denn überhaupt nicht mehr zu Hause?« »Menschenskind«, rief Brackwede alarmiert. »Sind Sie denn ganz von allen guten Geistern verlassen? Wie konnten Sie meinem Bruder etwas Derartiges aushändigen!« »Nun – er ist schließlich Ihr Bruder«, meinte Lehmann erstaunt. »Oder sollte der etwa keine Ahnung haben, was für eine Sorte Bruder er hat – gibt es so was?« Der Hauptmann schüttelte lediglich den Kopf, setzte sich – herausfordernd schräg – die Mütze auf und ging zur Tür. Hier blieb er stehen und sagte: »Konstantin gehört zu denen, die immer noch Hitler mit Deutschland verwechseln – und damit hätten Sie rechnen müssen.« »Verdammter Mist!« rief der Gefreite besorgt aus. »Wer kommt denn auf so was! Kann man sich denn in dieser versauten Welt nicht einmal mehr auf den eigenen Bruder verlassen?« Der Hauptmann von Brackwede hatte die Angewohnheit, sich niemals unmittelbar vor seiner Wohnung absetzen zu lassen. Der Fahrer des Wagens erhielt regelmäßig Anweisung, in einer Nebenstraße zu parken – und jedesmal an einer anderen Stelle. Der Hauptmann stieg dann aus und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. An diesem Tag fiel ihm, schon in erheblicher Entfernung, ein Fahrzeug auf – ein graudunkler Wagen: durch Witterungseinflüsse gebleicht, der Lack wie von einem Spinnennetz überzogen – dennoch in mattem Glanz schimmernd. Ein Staatsautomobil mithin; in toten Dienststunden lässig mit verschmierten Öllappen poliert. Der von Brackwede bog seitwärts in den nächsten Hauseingang – ohne auch nur mit einem Schritt zu zögern. Von hier aus betrachtete er den Wagen genauer. Sein Raubvogelgesicht begann zu lächeln. Dann setzte er sich in
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Bewegung – direkt auf das kastenartig dastehende Auto zu. . Hier beugte er sich durch das offene, vordere Wagenfenster. »Ihr habt noch immer nichts gelernt!« rief er hinein. Ein blasses, schmales Brillengesicht blickte ihm entgegen. »Euer Hang zur Bequemlichkeit stinkt geradezu zum Himmel. Bei einem Fouche wären solche Stümper wie ihr zu Straßenkehrern degradiert worden.« Der bleiche Brillenmensch schien ehrlich betrübt. Sein lackglattes Primanergesicht versuchte freundlich-erstaunt zu blicken. »Ich bitte Sie, Herr Regierungsrat – warum sollten wir Ihnen, ausgerechnet Ihnen, etwas vormachen wollen?« Der Graf von Brackwede schien diese Anrede zu überhören – die Zeiten, da er noch Regierungsrat im Preußischen Innenministerium gewesen war, lagen lange zurück. Vergessen waren sie nicht ganz – nicht von ihm, nicht von einigen Kriminalbeamten. Dieses bebrillte Bleichgesicht, Voglbronner mit Namen, gehörte dazu. »Wie lange schon schnüffelt Maier bei mir herum?« wollte Brackwede wissen. »Seit zwei Stunden«, sagte der Mann im Staatswagen, ohne zu zögern. »Und weshalb?« »Reine Routine«, behauptete Voglbronner mit kreidiger Fistelstimme. »Wir haben sonst nichts anderes zu tun. Wir beschäftigen uns daher mit allem, was uns gerade über den Weg läuft – und das war gestern abend der Gefreite, der Gartenzwerg genannt wird. Dieser Bursche ist uns schon seit längerer Zeit aufgefallen. Und ich meine nun: Sie sollten sich darüber Gedanken machen, warum er ausgerechnet Ihre Wohnung aufgesucht hat.« »Ihr beschäftigt euch mit allem, was euch gerade über den Weg läuft? Ihr seid also wieder einmal auf einem toten Punkt angelangt?« Der Mann mit dem Knabengesicht begann lächelnd zu nicken. »Ich habe Ihnen natürlich nichts gesagt, nicht wahr?«
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Der Hauptmann Brackwede hob fast beschwörend die Hände. »Ich bitte Sie! Sie können mir gar nichts gesagt haben – denn ich habe ja nicht mit Ihnen gesprochen. Ich habe Sie nicht einmal gesehen! Nur würde ich noch gern wissen, woher Sie diesen Gartenzwerg kennen?« »Von einem Foto her – es wurde vor einigen Monaten in der Goethestraße aufgenommen. Wir haben eine ganze Anzahl von dieser Sorte; und alle zeigen Besucher des Generalobersten Beck. Auch Ihr Foto, Herr Regierungsrat, ist natürlich darunter.« »Natürlich«, sagte der Graf Brackwede, ohne die geringste Überraschung zu zeigen. »Falls Sie Bilder von mir sammeln sollten, so könnte ich Ihnen auch einige Dutzend besorgen, die mich mit Graf Helldorf, dem Polizeipräsidenten von GroßBerlin, zeigen.« »Das wissen wir«, beeilte sich Voglbronner zu versichern. »Und das wird auch respektiert – von mir bestimmt.« »Von Maier etwa nicht?« wollte der von Brackwede freundlich lächelnd wissen. »Von dem auch!« Das Musterschülergesicht blickte nahezu ergeben. »Aber der ist schließlich Abteilungsleiter Wehrmacht – und als solcher muß er Resultate aufweisen. Und im Vertrauen – das ist nicht ganz einfach.« »Nun – vielleicht helfe ich ihm ein wenig dabei«, meinte der Hauptmann gut gelaunt. »Für Zusammenarbeit, die sich lohnt, bin ich immer.« »Ich hatte die Ehre, den Herrn Vater Ihres Freundes von Hammerstein näher zu kennen«, sagte der General Olbricht sehr förmlich, wobei er eine Verbeugung andeutete. »Der Herr Generaloberst war ein überaus bemerkenswerter Mensch – und ein ungewöhnlicher Soldat.« Der Oberleutnant mit den klugen Augen sagte fast herausfordernd offen: »Der Vater meines Freundes galt als roter General, er verstand sich mit den Gewerkschaften und wurde für einen erklärten Gegner deutschnationaler Restauration gehalten.«
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Die Rede war hier von Generaloberst Kurt Freiherr von Hammerstein – Chef der Heeresleitung von 1930 bis 1934. Der Sohn dieses Mannes war Offizier des Heeres – er wurde, nach mehreren Fronteinsätzen, in die Bendlerstraße kommandiert. Und hier saß nun dessen Freund, höflich empfangen, im Dienstzimmer des Generals Olbricht. Im Raum befanden sich außerdem zwei Oberste: energievoll und mit scharf prüfendem Blick der eine, der Einäugige: Stauffenberg; abwägend, zurückhaltend der andere: Mertz von Quirnheim. Olbricht hingegen wirkte elegant und verbindlich – er konnte, wenn er wollte, von großer Höflichkeit sein. »Freiherr von Hammerstein besaß den Ruf, äußerst kaltblütig gewesen zu sein«, sagte der General, wobei er jede Regung des jungen Offiziers genau zur Kenntnis nahm. »Reichskanzler Brüning meinte, dieser Generaloberst wäre der einzige Mann gewesen, dem die Beseitigung Hitlers hätte gelingen können.« »Das mag stimmen«, sagte der junge Offizier freimütig. Er begann zu ahnen, was hier von ihm erwartet zu werden schien. »Ich habe ihn noch kennenlernen dürfen – er ist wie ein Vater zu mir gewesen. Er hatte bereits neunzehnhundertdreiunddreißig dem Reichspräsidenten von Hindenburg den Vorschlag gemacht, Hitler und seine Leute durch die Reichswehr auszuheben.« »Das ist mir bekannt.« Olbricht lächelte dem Offizier, der diesen ungewöhnlichen General gekannt hatte, ermunternd zu. »Damals jedoch verbot Hindenburg ein derartiges Unternehmen. Der alte Herr war entschlossen verfassungstreu – vermutlich nahm er an, Hitler wäre das auch.« Nunmehr beugte der Oberst Mertz von Quirnheim seinen sanft glänzenden Gelehrtenschädel vor. »Als der Generaloberst Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord nach Kriegsbeginn Oberbefehlshaber einer Armee im Westen war, beschloß er, Hitler bei einer Inspektion einfach festzunehmen.«
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»Aber der kam nicht«, fiel der Oberst von Stauffenberg ein, »der hat einen Ratteninstinkt – es ist verdammt schwer, ihn aus seinen Schlupflöchern herauszulocken. Aber einmal wird auch das gelingen – und das wird bald sein.« Und nun wollte der Oberst mit rückhaltloser Offenheit wissen: »Machen Sie mit?« »Ja«, sagte der einfach. »Alles?« »Was auch immer kommen sollte.« »Und wenn ich etwa zu Ihnen sage: Sperren Sie Ihren Befehlshaber, den Generaloberst Fromm, ein – was dann?« »Dann sperre ich ihn ein.« Der Anblick, der sich dem Hauptmann Graf von Brackwede in seiner Wohnung bot, war von nicht unerwarteter Harmonie – er kannte Maier ziemlich gut: der war ein Experte für Gemütlichkeit. Selbst Todeskandidaten hielten ihn längere Zeit für ein vergleichsweise angenehmes menschliches Wesen. »Da bist du ja endlich!« rief der Leutnant. »Wir haben auf dich gewartet.« Maier streckte weit seine Hand aus – sie wurde, wie erwartet, ergriffen. »Ich habe mich inzwischen mit Ihrem Bruder höchst angeregt unterhalten.« »Sie haben also versucht, meinen kleinen Bruder auszuquetschen.« Der Hauptmann schien das erheiternd zu finden. »Und natürlich haben Sie sich völlig vergeblich bemüht – dieser Jüngling ist ein ausgesprochener Held und Idealist. Aber im Augenblick hat er eine kalte Dusche dringend nötig. Verschwinde also, Kleiner!« Konstantin nickte dem älteren Bruder willig zu – ihm gehorchte er gern. Maier blickte dem Leutnant wohlwollend nach. »Ein netter Junge«, versicherte er. »Und so wohltuend aufrichtig! Ich habe ihn geradezu in mein Herz geschlossen.« »Lassen Sie die Finger von diesem Knaben«, empfahl der Hauptmann von Brackwede warnend. »Der steht bei mir unter Naturschutz. Wenn Sie aber wieder einmal im Bereich der
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Wehrmacht wildern wollen, dann sollten Sie sich lieber an mich halten.« »Nun gut, Verehrtester.« Maier schien Wert auf gemütliche Atmosphäre zu legen. »Unterhalten wir uns also über die Ausgabestelle der Abwehr – über S M drei.« Der von Brackwede zeigte nicht die geringste Überraschung. »Sie haben doch nicht etwa in meinen Papieren herumgeschnüffelt, mein Bester? Sie sollten sich schämen! So etwas tut man doch unter alten Roßtäuschern nicht!« »Bei S M drei wird in erster Linie Sprengstoff gelagert.« Maier hatte auf seiner Sprachorgel ein hohes Register gedrückt; er säuselte wie mit Engelszungen. »In Besonderheit Sprengstoff aus England – prächtiges plastisches Material. Nichts, was man damit nicht in die Luft sprengen könnte.« »Das ist gar kein schlechter Gedanke, den Sie da entwickeln, Freund Maier – vielleicht werde ich Sie einmal als Urheber einer derartigen Anregung zu rühmen wissen.« Hauptmann von Brackwede sah das kaum wahrnehmbare Erschrecken, das den Sturmbannführer überfiel, nicht ohne Freude: Dessen rechtes Augenlid begann zu zucken. Wenn dem der Schweiß auf der Oberlippe ausbrach, war er hochgradig erregt – doch soweit war es leider noch lange nicht. »Sie sind ein ziemlich gefährlicher Witzbold«, gestand Maier mit stark gedrosselten Herztönen. »Und ich kenne natürlich Ihre Schliche – falls ich etwa bei S M drei mit Ihrer Materialanweisung aufkreuzen sollte, wird mir dort prompt ein Kistchen Cognac ausgehändigt. Was?« »Champagner«, korrigierte der Graf freundlich. Sturmbannführer Maier lehnte sich leicht erschöpft in seinen Sessel zurück. »Ich fürchte«, sagte er, und das sollte wie ein intimes Geständnis klingen, »Sie verkennen meine Beweggründe. Ich habe gar nicht die Absicht, Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten – im Gegenteil: Ich habe lediglich den Wunsch, mit Ihnen wie in besten Zeiten
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zusammenzuarbeiten.« »Nicht doch, mein Lieber!« Der Hauptmann fächelte sich nun mit der graugrünen Materialanweisung Luft zu. Es war drückend schwül im Zimmer geworden. »Sie wollen doch nicht etwa versuchen, meine Mitarbeit zu erpressen?« »Ich bitte Sie! Auf einen derartigen Gedanke käme ich niemals!« Das waren plötzlich hervorbrechende Trompetenstöße werbender Kameradschaft. »Ich weiß doch schließlich, mit wem ich es hier zu tun habe! Vielmehr wollte ich mit meinen Andeutungen gesagt haben: Ich könnte Ihre Hilfe ganz gut gebrauchen – zumindest Ihren fachmännischen Ratschlag.« Der Graf Brackwede faltete nunmehr den Lieferschein sorgfältig und legte ihn in seine Brieftasche. Dabei sagte er: »Das läßt sich schon eher hören – und so etwas Ähnliches habe ich auch erwartet. Sie wollen also Ihre Nase noch tiefer als bisher in die Wehrmacht stecken – und am liebsten mitten in die Bendlerstraße hinein. Und dabei erhoffen Sie meine Handlangerdienste.« »Nicht doch, nicht doch!« wehrte Maier geradezu entsetzt ab. »So was kommt doch zwischen uns gar nicht in Frage. Ich denke da vielmehr an eine Art Geschäft – das auf Gegenseitigkeit beruht.« Sie lächelten sich ausgedehnt an – Maier tat das, indem er seine Zähne entblößte; sie waren lückenhaft und mit braunschwarzen Flecken behaftet. Jeder dachte das gleiche: Ich muß ihn übers Ohr hauen, damit er mich nicht übers Ohr haut! Sie zögerten jedoch keine Sekunde, sich herzhaft die Hände zu drücken. »Eine grundsätzliche Forderung voraus«, sagte dann FritzWilhelm Graf von Brackwede, »und ich bestehe darauf, daß sie respektiert wird: Mein Bruder, der Leutnant, bleibt aus dem Spiel! In unserem Metier ist er wie ein Milchkind. Unsere Angelegenheiten gehen ihn nichts an.« Gestapo-Maier richtete sich kaum wahrnehmbar auf – er schloß die Augen, um nicht zu zeigen, daß sie wie
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Signallichter auffunkelten. Er verlieh seiner Stimme einen rauh-gemütlichen Klang: »Sie lieben den Kleinen wohl sehr – was?« »Geben Sie sich keine Mühe, bei mir irgendeine sentimentale Schwäche entdecken zu wollen, Maier!« Der Hauptmann hob schroff abwehrend die Hand. »Sie dürfen versichert sein: ich liebe nichts und niemand mehr als mein Leben! Kommen Sie also niemals auf die Idee, das etwa ausprobieren zu wollen.« In der Goethestraße in Berlin stand ein kleines unscheinbares Haus. Es schien einem sparsamen Altrentner zu gehören, der seinen bescheidenen Garten hingebungsvoll pflegt. Doch der Mann, der hier wohnte, galt als das nächste Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches. Sein Name: Ludwig Beck. »Ein Herr Leber will Sie sprechen«, kündigte die Haushälterin Elsa Bergenthal gleichmütig an. Ludwig Beck hob seinen Kopf – es war selten, daß er irgendeine Regung zeigte. Nun jedoch schien er heftig überrascht zu sein. Er klappte seinen Aktendeckel zu, verließ sein Arbeitszimmer und begab sich in den Korridor – mit weit ausgestreckten Händen. »Wenn Sie kommen«, sagte er, »dann muß es wichtig sein.« Der Generaloberst war bemüht, zu verbergen, daß er steigende Besorgnis empfand – dieser Besuch war zu ungewöhnlich. Denn Ludwig Beck wußte um Wert und Rang des Julius Leber genau; er achtete und schätzte auch dessen starke Persönlichkeit. Für ihn war dieser Mann eine der wichtigsten Kräfte der deutschen Widerstandsbewegung. »Ich habe natürlich alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen beachtet«, erklärte Leber und betrachtete dabei interessiert die prallgefüllten Bücherwände, die sie wie Mauern umstanden. Der Generaloberst legte Wert auf Formen. Er bestellte Tee und wechselte mit Leber einige allgemeine, unverbindliche Sätze. Zur Zeit, erzählte er, beschäftigte er sich wieder einmal
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mit Kant – mit dessen Metaphysik der Sitten. »Es ist nichts in der Welt«, zitierte Leber, »was ohne Einschränkung für gut gehalten werden könnte, als allein ein guter Wille.« »Genau das«, sagte Beck anerkennend. »Offenbar stimmt das, was man von Ihnen sagt: Sie sind ein sozialistischer Preuße.« »Das stimmt möglicherweise im gleichen Ausmaß, wie etwa die Behauptung, daß Stauffenberg und Brackwede rote Grafen sind – so stark verwischen sich da manchmal die Grenzen.« »Weshalb sind Sie gekommen?« wollte nunmehr Beck wissen. »Was ist geschehen?« Leber beugte seinen Cäsarenkopf vor und fragte: »Wissen Sie, daß der Oberst von Stauffenberg entschlossen ist, das Attentat auf Hitler selbst auszuführen?« Der Generaloberst zögerte sekundenlang mit einer Antwort. Sein Mund wurde schmal und hart. Dann sagte er knapp: »Die Gruppe der Offiziere um. Olbricht und Stauffenberg hat die Verantwortung für diese Aktion übernommen – irgendeiner von ihnen wird und muß das tun.« »Aber doch nicht Stauffenberg!« »Und warum nicht er, bitte?« »Weil er zu jenen wenigen Menschen gehört, denen es gegeben ist, eine Welt zu verändern!« Lebers buschige Augenbrauen hoben sich – die Querfalten seiner Stirn waren wie Ackerfurchen. »Er darf sich nicht in unmittelbare Gefahr begeben. Wir brauchen ihn hier – für die entscheidenden Stunden, für später. Ich habe ihn lange und gründlich durchforscht – ich will mir die Zukunft Deutschlands ohne ihn nicht vorstellen.« Der Generaloberst Ludwig Beck erhob sich unruhig. Es war, als suche er Schutz bei seinen Büchern. Und gegen sie gelehnt, sagte er: »Ich unterstreiche jede Ihrer Bemerkungen über Stauffenberg, Herr Leber. Aber dieser Mann hat nicht nur einen eisernen Willen, auch ein starkes Gewissen – wenn er
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sich zur Tat entschlossen hat, wird ihn nichts mehr davon abbringen können.« »Ich nicht, gewiß. Und auch sonst keiner von uns – mit einer Ausnahme: Sie, Herr Generaloberst.« Der Generaloberst Beck war ein ungewöhnlicher Mann. Als Hitler von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, sah auch er »keine andere Lösung«. Fünf Jahre lang blieb er einer der höchsten Offiziere der Wehrmacht. Dann aber verfaßte er, 1938, bei drohender Kriegsgefahr, drei Denkschriften – er sagte die kommende Katastrophe voraus. In Vorträgen vor Generals-Stabsoffizieren forderte er offen und unmißverständlich zum Staatsstreich gegen Hitler auf. Dann nahm er – als einziger der unzufriedenen Generale – mit unbeirrbarer Konsequenz seinen Abschied. »Nur auf Sie wird Stauffenberg hören!« rief ihm Leber zu. »Sie waren der erste, der sich nicht scheute, offen von einer Politik der Gewalt und des Treuebruchs zu sprechen. Sie haben immer wieder die fanatische Roheit dieses Systems angegriffen. Jeder von uns weiß das – und für Stauffenberg sind Sie jetzt schon das wahre Staatsoberhaupt Deutschlands, dessen Entscheidung er sich beugen wird.« »Einer muß es dennoch tun«, sagte Beck schwer. »Ich bin für niemand zu sprechen – außer für meine Freunde von der Gestapo!« verkündete der Hauptmann FritzWilhelm Graf von Brackwede. »Und wenn etwa der Generaloberst oder sonst irgendeine unwichtige Person nach mir fragen sollte, so kann die übliche Ausrede gebraucht werden: Ich bin wegen Volltrunkenheit dienstunfähig!« Das verkündete der Hauptmann beim Betreten seiner Dienststelle in der Bendlerstraße ungeniert der Gräfin Oldenburg-Quentin – sie stand, den Oberkörper leicht zurückgelehnt, vor ihm. Ihre klaren Augen sahen über ihn hinweg – voller Nachsicht. »Sie machen es mir wirklich sehr schwer, Herr Hauptmann.« »Die einzige Möglichkeit, ohne sonderliche Komplikationen mit Ihnen auszukommen.« Der von Brackwede blätterte mit
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gähnender Gleichgültigkeit in den Papieren, die auf seinem Schreibtisch lagen – nichts davon schien wichtig zu sein. »Denn Sie lieben mich. Nicht wahr?« »Wie kommen Sie denn darauf!« Die Gräfin versteifte sich; kaum, daß sich ihre Lippen regten. »Ich habe niemals etwas Derartiges angedeutet!« »Na schön – dann nehme ich eben zur Kenntnis: Sie lieben mich nicht!« »Natürlich nicht!« Elisabeth Gräfin Oldenburg-Quentin atmete heftig – ihr raffiniert schlichtes graues Kleid schien sich in Brusthöhe zu weiten. »Was bezwecken Sie mit derartigen Anspielungen?« Der Hauptmann antwortete hierauf nicht – er hatte in seinen Papieren einen Zettel gefunden, der ihn sichtlich interessierte. Darauf stand: Königshof erbittet Anruf. »Königshof« war der derzeitige Deckname für einen General, der an der Ostfront Stabschef einer Heeresgruppe war – ein Mann wie aus Dynamit. »Lassen Sie eine Verbindung mit General von Tresckow herstellen, bitte.« »Ich habe diese Verbindung bereits angefordert – in dem Augenblick, als Sie hier eintrafen.« »Sie sind unvergleichlich, Verehrteste – was wären wir Männer ohne Frauen wie Sie!« Der Hauptmann betrachtete die Gräfin mit lächelnder Anerkennung. »Haben Sie Zeit und Lust, heute abend bei Horcher zu speisen?« »Mit Ihnen etwa?« Elisabeth bemühte sich, belustigt zu erscheinen. »Wenn Sie schon Wert darauf legen – aus welchen Gründen auch immer – , eine Art unbekümmerten Genußmenschen und Saufkumpanen darzustellen, so muß ich Ihnen doch nicht unbedingt auch bei der Inszenierung dieses berechneten Zerrbildes behilflich sein. Das schaffen Sie allein ganz gut.« »Na – hoffentlich!« Brackwede amüsierte sich sichtlich. »Aber ich habe nicht nur seltsamen Ehrgeiz – ich leide auch manchmal unter menschenfreundlichen Anwandlungen. Diesmal dauert mich jemand zutiefst. Es ist ein ehrlicher
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Idealist und daher eine beklagenswert armselige Kreatur – in diesen Zeiten. Es handelt sich dabei um meinen kleinen Bruder.« »Soll ich bei ihm Kindermädchen spielen?« »Genau das, Gräfin! Sie haben, wie immer, meine geheimsten Gedanken erraten. Tun Sie also ein gutes Werk – lassen Sie sich von einem erklärten Helden ein erlesenes Souper bezahlen. Und zwischen den einzelnen Gängen versuchen Sie dann, ihm die Milchzähne zu ziehen. Das hat er dringend nötig.« Nach der täglichen Lagebesprechung empfing der Führer und Reichskanzler und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht einen seiner Trabanten: Heinrich Himmler. Scheinbar gehörte der Reichsführer SS noch zu seinen Getreuesten – in Wirklichkeit begann der bereits, heimliche Friedensfühler auszustrecken. »Machen Sie es kurz, Himmler!« sagte der Führer Adolf Hitler. Er ersehnte seinen regelmäßigen Nachmittagsschlaf. Seine Hände griffen nacheinander, um das Zittern, das ihn immer wieder überfiel, zu verbergen. »Es sieht nicht gut aus, mein Führer«, meinte Himmler betont behutsam – er erstrebte die Vertraulichkeit alter Kampfgefährten. »Schwierigkeiten – wohin man auch blickt. Höchst unnötige darunter.« Hitler nickte – marionettenhaft, mit mechanisch wirkender Gleichmäßigkeit. Das hörte er alle Tage, neuerdings. Die Invasion der Briten und Amerikaner machte unverständliche Fortschritte; die Balkanfront drohte zusammenzubrechen; und die Armeen der Sowjets schoben sich immer weiter auf die deutschen Ostgrenzen zu. »Jetzt«, verkündete der Führer, plötzlich aufbegehrend, »wird sich zeigen, ob mich das deutsche Volk verdient – oder ob es nur noch wert ist, unterzugehen.« Derartige Sätze waren jedermann bekannt, der sich im innersten Kreis des Führerhauptquartiers bewegen durfte. Das waren nur noch einige Dutzend Menschen. Himmler gehörte selbstverständlich dazu.
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»Wir sollten alle verfügbaren Kräfte konzentrieren – mit letzter Konsequenz.« Diesen Vorschlag machte Himmler mit betonter Ergebenheit. »Die Schlagkraft des Heeres hat in höchst bedenklicher Weise nachgelassen.« Hitler lehnte sich in seinen großflächigen Sessel zurück. Wo er auch immer sich aufhielt, in Berchtesgaden, München, Berlin oder im derzeitigen Hauptquartier – überall umstanden ihn diese gutgepolsterten Kolossalmöbel. Er schloß müde die Augen – seine Stimme klang dennoch kraftvoll, wie durch einen metallischen Hohlraum dröhnend. »Ich weiß, Sie wollen Befehlshaber des Ersatzheeres werden, Himmler.« »Ich dränge mich nicht danach, mein Führer, aber ich halte es für dringend notwendig – jener Konzentration aller Kräfte wegen. Und ganz abgesehen davon, daß immer noch so manche Offiziere reaktionäre Gedankengänge bezeugen. Jetzt, da es um den Endsieg geht, ist absolute Verläßlichkeit die allererste Forderung.« Hitlers Gesicht blieb ausdruckslos. Seine Haut war aschgrau. Der bürstenartige Schnurrbart darin zuckte kurz. Nachdenklich meinte er: »Diesen Generaloberst Fromm dort in der Bendlerstraße habe ich noch niemals sonderlich geschätzt – aber er macht seine Arbeit.« »Sie haben ihn seit vielen Monaten nicht mehr zu den täglichen Lagebesprechungen hinzugezogen, mein Führer.« »Neuerdings jedoch wieder – seitdem dort ein neuer Stabschef aufgetaucht ist. Dieser Stauffenberg. Der Mann hat Ideen!« Gleich Stauffenbergs erste Denkschrift hatte sein Interesse erregt. Da schien ein Mensch am Werk, der revolutionär zu denken verstand – einige der Mitarbeiter des Führers hatten ihn darauf aufmerksam gemacht. »Ich bin durchaus für eine sinnvolle Machtkonstellation«, sagte der Führer. Er gähnte ungeniert. Seine Schäferhündin leckte die schlaff herabhängende Hand. »Ich halte auch nicht sonderlich viel von Generaloberst Fromm. Ich weiß, Himmler –
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er ist nicht Ihr Freund, und Sie sind nicht der seine. Doch ehe Sie mir nicht konkrete Beweise gegen die Bendlerstraße bringen können, bleibt alles so, wie es ist.« »Jawohl, mein Führer«, sagte Himmler mühsam. Hitler erhob sich schwer. Seine Schäferhündin sprang ihn an – er schwankte leicht. Dann kraulte er das Fell des Tieres und sagte: »Ich will Sie keinesfalls entmutigen, Himmler – gegen eine gewisse Sorte von Offizieren habe ich ein heftiges Mißtrauen. Seit jeher! Sie wissen das. Doch ich benötige Tatsachen – keine bloßen Vermutungen. Vor allem anderen muß dieser Krieg gewonnen werden – um jeden Preis!« »Klar zum Gefecht, Eugen!« verkündete der Graf von Brackwede unternehmungsfreudig. »Laß deine Freunde wissen, daß sie sich bereithalten sollen.« »Einige tun das bereits seit elf Jahren – so mancher ist müde und mißtrauisch geworden. Und wann wurde die erste große Aktion angekündigt – die der Halder, Witzleben und Oster? Neunzehnhundertachtunddreißig!« »Und so weiter und so fort – hier ein organisierter Revolvermann, dort ein Zielfernrohrschütze, dazu mindestens ein halbes Dutzend Versuche mit Sprengbomben. Hervorragende Leute hatten sich zur Verfügung gestellt. Dennoch: ein Fehlschlag nach dem anderen. Vielleicht war das, was bisher gefehlt hat, ein Mann von höchster Intelligenz und größter Kaltblütigkeit.« »Stauffenberg also«, sagte Eugen G., der Professor, leise. Sie hatten sich, wie schon oft, in der Wohnung des Grafen von Moltke getroffen – für derartige Unterredungen gehörte sie allein ihnen. Das Dienstmädchen hatte sich zurückgezogen – es kannte die Spielregeln dieses Hauses: keine Fragen stellen, nichts hören, sich an niemanden erinnern. Ihr bemüht schlechtes Gedächtnis war von unschätzbarem Wert. Eugen G. war Professor für Philosophie, derzeit ohne Lehrstuhl – ein noch jugendlicher streitbarer Schwabe, der allgemein »der Doktor« genannt wurde. Er pendelte von einer Widerstandsgruppe zur anderen – er wurde in christlichen
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Kreisen hoch geschätzt und besaß das Vertrauen der sozialistischen Gruppen. Die Soldaten, die ihn kannten, bezeichneten ihn als Preußen – der von Brackwede war sein Freund. »Wann?« wollte Eugen G. wissen. »Sobald wie nur irgend möglich – in fünf Tagen, in zwei oder drei Wochen; je nachdem. Laß das unsere Freunde wissen – sie sollen sich darauf einstellen.« »Existieren irgendwelche Listen, Fritz? Werden mir bestimmte Namen genannt?« »Soweit Listen existieren, Doktor, gibt es nur eine Ausfertigung davon – und die befindet sich im Panzerschrank des Generals Olbricht, den Mertz von Quirnheim wie ein Zerberus bewacht. Nur ganz wenige Eingeweihte kennen alle Details – das gehört, wie du weißt, zu den Methoden Stauffenbergs.« Eugen G. betrachtete den Freund mit hellwachen Augen. »Heißt das, Fritz, daß es Männer gibt, die auf diesen Listen stehen, ohne es zu wissen?« »Du hast den springenden Punkt schnell herausgefunden, Doktor«, sagte Brackwede anerkennend. »Wenn es soweit ist, werden wir ganz einfach Befehle ausgeben – Soldaten werden sie unverzüglich befolgen, und keiner unserer Freunde wird sich ihnen entziehen. Davon ist Stauffenberg überzeugt. Allein diejenigen, die an den Brennpunkten der Aktion stehen, die direkt gegen prominente Nazis vorgehen müssen, werden vorher mit allen Einzelheiten vertraut gemacht.« »Und – wenn Gegenbefehle auftauchen?« »Die müssen zu spät kommen – dafür wird gesorgt.« Der Doktor bohrte weiter – zur Freude seines Freundes, der Gefallen daran fand, sich scharfsinniger Befragung ausgesetzt zu sehen. »Und der Eid auf Hitler – wird er für viele nicht ein fast unüberwindliches Hindernis sein?« Dieser Eid lautete: »Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem
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Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Ober-Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.« Dieser Eid wurde erstmals am 2. August 1934 geleistet – kurz nachdem Hindenburg gestorben war. Beck hatte diesen Tag »den schwärzesten meines Lebens« genannt. In Widerstandskreisen wurde dieses Thema seit langen Jahren diskutiert. »Hitler selbst hat diesen Eid gebrochen. Verbrechen haben ihn ungültig gemacht. Ist das nicht deine eigene Theorie, Eugen?« Doktor G. stimmte lebhaft zu. »Das ist nicht nur meine Ansicht. Ich habe auch bei den Kirchenvätern mehrere Stellen gefunden, die eindeutig besagen: Ein Eid, mit welchem Inhalt auch immer, auf einen Tyrannen geleistet, hat keine Gültigkeit.« »Diese ganze Angelegenheit ist sogar noch wesentlich unkomplizierter«, behauptete der von Brackwede. »Wenn nämlich dieser Hitler nicht mehr existiert – dann erlischt doch auch automatisch der Eid auf ihn!« »Allerdings«, sagte der Doktor zögernd. »Für uns ist das wahrlich kein Problem. Aber mache das mal einer weitverbreiteten Sorte von deutschen Untertanen klar!« »Nun, verehrte Gräfin«, wollte der Hauptmann von Brackwede fast neugierig wissen, »wie gefällt Ihnen mein kleiner Bruder? Hat er mütterliche Beschützerinstinkte in Ihnen wachgerufen – oder hat er Ihren Verstand alarmiert?« »Ihr Herr Bruder«, sagte Elisabeth Gräfin OldenburgQuentin, »ist ein Mensch, der dieses Leben sehr ernst nimmt – er besitzt alle Ideale, die einen deutschen Jüngling auszuzeichnen pflegen, glaube ich.« »Mithin hat Sie dieser Lesebuchheld maßlos gelangweilt – was?« »Nein«, gestand Elisabeth und blickte den Hauptmann
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nachdenklich an. »Irgendwie tut mir Konstantin leid – weil er Ihr Bruder ist. Bitte, verstehen Sie das richtig. Denn ich nehme an, Sie werden ihn beeinflussen wollen. Aber er ist für Ihr Leben nicht geeignet.« »Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein, Gräfin – er ist mein Bruder. Aber Ihr Interesse für den Kleinen gefällt mir – ganz ehrlich. Jedoch aus anderen Gründen, als Sie vielleicht vermuten. Zu gegebener Zeit komme ich noch darauf zurück.« An diesem Tag war der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede erst gegen Mittag in seiner Dienststelle eingetroffen. Niemand verwunderte das: der von Brackwede kam und ging, wann immer er wollte. Und die Gräfin Oldenburg, die ihm als Schreibkraft zugeteilt worden war, hatte sich seinetwegen bereits einen ganzen Katalog an Ausreden ausdenken müssen. Die Personallisten in der Bendlerstraße bezeichneten diesen Hauptmann als »Verbindungsoffizier«; einige allerdings auch »Offizier z.b.V.« – mithin: zur besonderen Verwendung. Was jedoch wirklich darunter zu verstehen war, wußten nur ganz wenige. Das Haus in der Bendlerstraße lag südlich des Tiergartens. Es war von Ruinen umgeben – somit erschien es fast mächtig. Doch es war ein plumpes kastenartiges Verwaltungsgebäude; selbst bereits von zahlreichen Bomben angeschlagen und mit Trümmerstaub überdeckt. Der Hauptteil jedoch war unbeschädigt geblieben. Hier residierte der sogenannte BdE – der Befehlshaber des Ersatzheeres; zur Zeit Generaloberst Fritz Fromm. Etliche Dutzend Generale, Stabsoffiziere und Offiziere umgaben ihn. Mehr als hundert Soldaten, weibliche Angestellte und Hilfskräfte bevölkerten den Bau. Für Torkontrolle und Sicherheit hatte das Wachbataillon Berlin zu sorgen. »Sie werden noch oftmals das fragwürdige Vergnügen haben, Gräfin, sich an meinen internen Familienangelegenheiten zu beteiligen.« Das verkündete der Hauptmann vergnügt. »Mein Bruder bleibt vorläufig in meinem
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Bereich – er wird in Bernau bei der dortigen Luftkriegsschule Dienst tun.« »Sein Glück, daß er nicht zum Heer gehört – Sie hätten ihn sonst mit Sicherheit hier in der Bendlerstraße untergebracht.« »Befürchten Sie nichts – der gute Junge wird ausreichend Gelegenheit erhalten, seinen Dornröschenschlaf zu beenden. Er wird in etwa einer halben Stunde hier eintreffen. Geben Sie ihm die bei uns lagernden Gestapoakten. Sie wissen schon, welche Ich meine – diejenigen, die sich mit Hoch- und Landesverrat beschäftigen.« »Was gedenken Sie damit zu erreichen?« »Daß er nachzudenken beginnt, verdammt noch mal!« »Das war ein schöner Abend – für mich«, gestand Konstantin dankbar, nachdem er die Gräfin begrüßt hatte. Seinen Bruder vermißte er nicht. »Ob es wohl möglich wäre, daß wir bei Gelegenheit wieder einmal zusammen irgendwo hingehen? Wohin Sie wollen.« »Warum nicht«, sagte Elisabeth ausweichend. »Sobald sich eine günstige Gelegenheit ergeben sollte ...« »Habe ich irgend etwas falsch gemacht?« fragte der Leutnant besorgt. »Aber nein – wie kommen Sie darauf!« rief die Gräfin Oldenburg fast hastig. Konstantins unbeholfene Bemühungen begannen sie zu verwirren. Sie beeilte sich, ihm die Akten vorzulegen, von denen der Hauptmann gesprochen hatte. Der Leutnant begann zögernd, doch schließlich gehorsam die ihm übergebenen Unterlagen durchzublättern. Was er da las, vermochte er kaum zu glauben. Da hatte ein Soldat in einem Luftschutzkeller »defätistische Redensarten« geführt – »dieser Scheiß-Göring mit seinen dicken Versprechungen!« hatte er gesagt. Todesstrafe dafür. Ein anderer hatte, angeblich ahnungslos, gegen einen Hoheitsadler gepinkelt. Todesstrafe. Ein dritter Soldat war dabei erwischt worden, wie er in einem bombardierten Haus »geplündert« hatte – seine Beute: drei Flaschen Schnaps, fünf Büchsen Rindfleisch, eine
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Schlafdecke. Abermals: Todesstrafe. »Scheußlich, das alles!« »Allerdings – überaus scheußlich«, sagte die Gräfin. Sie stand abwartend am Fenster und blickte auf die Bendlerstraße hinaus. Die Reaktion des Leutnants auf seine Lektüre schien sie zu beunruhigen. »Und das ist schon alles, was Sie dazu zu bemerken haben?« Konstantin blickte auf – in seinen Augen schimmerte ehrliche Empörung. »Als Soldat widert mich so was an! Ich habe nicht das geringste Verständnis für derartige Subjekte. Das kann ich nur Verrat am Führer und an unseren gefallenen Kameraden nennen – dafür halten wir doch nicht an der Front unseren Kopf hin!« In diesem Fall handelte es sich um einen überaus dekorativen Kopf – die Gräfin mußte das zugeben. Und sie staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der hier solche Worte durchaus über* zeugt ausgesprochen wurden. Kaum vorstellbar, daß diese beiden Brackwede Brüder waren. Was jedoch war in diesem Deutschland unmöglich? »Versuchen Sie, bitte, sich vorzustellen, daß nicht jeder Ihre Oberzeugung oder Ihre Charaktereigenschaften besitzen kann, Herr Leutnant. Vielleicht gelangen Sie dann zu einem anderen Urteil.« Die Gräfin Oldenburg-Quentin blickte durch das offene Fenster auf die Straße – und sie sah: staubiges Pflaster, klotzige Ruinenhügel, einen blaßblauen Horizont, in den Häuserreste hineinragten. Und dann sah sie einen Motorradfahrer – er brauste im Renntempo heran. Ein Auto, ein schwarzgrauer Wagen, folgte ihm, schien ihn zu verfolgen – mit schrill jaulendem Motor. Der Mann auf dem Motorrad riß den Lenker herum und kurvte kühn in die Einfahrt herein. Das Auto hinter ihm bremste kreischend. Die Oldenburg griff zum Telefon und ließ sich, spürbar erregt, mit Oberst Mertz von Quirnheim verbinden. Der meldete sich sofort – mit der gewohnt ruhigen Stimme.
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Die Gräfin berichtete: »Der Gefreite Lehmann ist soeben eingetroffen. Die Gestapo scheint ihn zu verfolgen. Er muß dringend abgeschirmt werden.« »Beauftragen Sie den nächsten erreichbaren Offizier«, ordnete der Oberst an, nachdem er kaum den Bruchteil einer Sekunde lang gezögert hatte. »Der Hauptmann von Brackwede ist zur Zeit nicht erreichbar – er befindet sich bei Stauffenberg. Aber ich selbst werde mich um diese Angelegenheit kümmern.« Der Gefreite Lehmann, der »Gartenzwerg«, blieb schwer atmend bei der Eingangstür zum Wachlokal stehen. Dabei bemühte er sich, freudig zu grinsen – Sturmbannführer Maier entgegen. Er sagte: »Na – war das ein Tempo? Vermutlich wird Ihr Kühler kochen.« Maiers Gastwirtsgesicht leuchtete wie von Morgenrot bestrahlt. Seine Stimme klang werbend-sonor, während er sich auf den Gefreiten Lehmann zubewegte. »Ich habe mit Ihnen zu sprechen!« »Das heißt – Sie wollen mich vereinnahmen.« Der Gartenzwerg winkte großzügig ab. »Aber das doch wohl nicht hier? Oder sollten Sie die Absicht haben, in den Bereich der Wehrmacht einzudringen? Soweit sind wir doch noch gar nicht!« »Ich muß Sie bitten, mit mir zu kommen«, verlangte Maier, nun betont energisch. Sein Begleiter Voglbronner versuchte, warnend auf ihn einzuflüstern, doch der Sturmbannführer scheuchte ihn mit zwei Worten zum Wagen zurück. Dennoch wurden Maiers Schritte, mit denen er sich auf den Eingang zubewegte, kürzer, zögernder – schließlich stand er still. Denn ein Feldwebel, der hier so etwas wie Pförtnerdienst leistete, schaukelte heran und nahm neben dem Gartenzwerg Aufstellung. Und der grinste weiterhin. Nunmehr erschien, nahezu im Laufschritt, der Oberleutnant Herbert – der »nächste erreichbare Offizier«, laut Befehl des Oberst Mertz von Quirnheim. Dieser Herbert war rundgesichtig
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- bieder. Er setzte ein bemüht verbindliches Lächeln auf und begrüßte Maier korrekt militärisch. Der Sturmbannführer erwiderte diesen Gruß auf großdeutsche Art: Er schwenkte die ausgestreckte rechte Hand bis auf Augenhöhe. Unmittelbar danach brachte er seine Forderung hervor: Er wünsche dringend, sich mit dem Gefreiten zu unterhalten – der habe auf dem Gelände des Bahnhofs Friedrichstraße von einem Unbekannten ein Schriftstück übernommen; und das kennenzulernen könne staatsnotwendig sein. Der Gefreite lachte herausfordernd auf. »Schriftstücke«, sagte er, »die sich in diesem Hause befinden, gehen die Gestapo nichts an. Im übrigen handelt es sich hier um eine reine Privatsache – um eine Art Liebesbrief. Und ob Sie es nun glauben oder nicht – Sie sehen vor sich einen Kavalier!« Der Oberleutnant Herbert versuchte, überaus verbindlich zu vermitteln. Er meinte: Die Dienststelle des Befehlshabers des Ersatzheeres habe natürlich nichts zu verbergen. Außerdem wisse er die Arbeit des Reichssicherheitshauptamtes sehr wohl zu würdigen – und er wäre selbstverständlich bereit, sie auch zu unterstützen. Dennoch dürften bestimmte Grundsätze nicht außer acht gelassen werden – so die gewiß sinnvolle Abgrenzung der Wirkungsbereiche. Schließlich jedoch: Da der Gefreite selbst zugebe, ein privates Schreiben mit sich herumzutragen, wäre es wohl ratsam, in dasselbe Einblick zu gewähren – schon um jeden möglichen Verdacht zu entkräften. »Was denn, was denn!« rief der Gefreite empört dem Oberleutnant Herbert zu. »Sie wollen mich doch nicht etwa verschaukeln!« Herberts Biedermannsgesicht verfärbte sich. Mit leise klingender Stimme fragte er: »Mann – was erlauben Sie sich? Sie sind wohl nicht ganz bei Trost?« »Da können Sie sehen, was das für ein Früchtchen ist!« warf Maier feuerschürend ein. »Der hat es faustdick hinter den Ohren!«
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»Gefreiter Lehmann«, befahl der Oberleutnant Herbert nunmehr entschlossen, »Sie werden sofort ...!« »Einen Dreck werde ich!« rief der Gartenzwerg unbeirrt. Das konnte er sich leisten – denn er erblickte den Oberst Mertz von Quirnheim, der sich scheinbar gelassen dieser Gruppe näherte. Funkelnde Brillengläser verdeckten seine spöttisch blickenden Augen. Der Oberst ließ sich informieren. Er hörte jeden der Beteiligten an – fast völlig wortlos. Dann verkündete er: »Dieser Fall wird untersucht werden – und zwar mit der gebotenen Gründlichkeit. Darf ich Sie bitten, Herr Sturmbannführer, mich auf meine Dienststelle zu begleiten? Sie werden uneingeschränkt mit dem für derartige Vorkommnisse zuständigen Offizier verhandeln können.« »Ist das etwa der Hauptmann von Brackwede?« »Sie haben es erraten, Herr Sturmbannführer.« Der Oberst Mertz von Quirnheim schien entgegenkommend zu lächeln. »Und einen besseren Gesprächspartner kann ich Ihnen doch wohl kaum bieten – nicht wahr?« »Sie sind sehr nachdenklich geworden, Stauffenberg«, sagte der General Olbricht besorgt: »Offenbar mißfällt Ihnen etwas. Worum handelt es sich?« Der Oberst legte die linke Hand mit den drei Fingern auf eine Liste, die vor ihm lag. Nach kurzem Zögern sagte er dann: »Wir sollten alle Unterlagen für den Tag X noch einmal genau überprüfen – manches davon kommt mir überholt vor.« »Auch die Liste, die vor Ihnen liegt?« fragte Olbricht fast bestürzt. Denn auf diesen Unterlagen standen die Namen der zukünftigen Regierungsmitglieder. »Wollen Sie das etwa ändern?« Friedrich Olbricht war ein mittelgroßer, stattlich wirkender Mann – er galt als »schöner General«. Wenn er ironisch wurde, bekam seine Stimme einen leicht sächselnden Tonfall – doch das ereignete sich in letzter Zeit nur noch selten. Auch seine einst vielgerühmte schlagfertige Frische hatte sich
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erheblich vermindert. Seit Mai 1940 war er Chef des Allgemeinen Heeresamtes – eine der drei Hauptabteilungen der Bendlerstraße –, und seit dieser Zeit stand er im Mittelpunkt des militärischen Widerstandes. Bis der Oberst Stauffenberg erschien. »Ich vermag mir durchaus vorzustellen, daß unsere Listen – auch die Regierungsliste – nicht gerade Ideallösungen sind. Aber einmal haben gewisse verbindliche Absprachen zwischen den einzelnen Gruppen stattgefunden ...« »Das ist lange her!« warf Stauffenberg ein. »Mag sein – aber jetzt ist es wohl zu spät, wichtige Änderungen vorzunehmen.« »Zu spät ist es erst, wenn die Detonation stattgefunden hat.« Der General der Infanterie Friedrich Olbricht war bereit, diesen weitaus jüngeren Offizier zu respektieren – er war sogar bereit, sich ihm in den entscheidenden Stunden unterzuordnen. Dennoch war er jetzt besorgt, als er erkannte, auf welchen Namen in der Regierungsliste die drei restlichen Finger Stauffenbergs hinwiesen – auf Carl Friedrich Goerdeler, der beim geglückten Attentat auf Hitler Reichskanzler werden sollte. »Ich weiß«, sagte der Oberst von Stauffenberg fast ungeduldig, »Sie kennen Herrn Goerdeler recht gut – bereits seit neunzehnhundertdreiunddreißig, wenn ich richtig unterrichtet bin.« »Brackwede hat Sie richtig unterrichtet«, sagte Olbricht nachsichtig lächelnd. »Damals war ich Stabschef des Vierten Armeekorps – im Raum Dresden und Leipzig, mithin dort, wo Herr Goerdeler Oberbürgermeister gewesen war.« »Ich denke, Herr General, wir alle vergessen gewisse Begegnungen aus der Vergangenheit nicht so leicht – und das ist auch gut. Ein großer Teil der Widerstandsbewegung ist anders gar nicht denkbar. Man muß schon ein von Brackwede sein und dessen Realismus besitzen, um sich völlig frei von vielleicht sentimentalen Erinnerungen zu fühlen.«
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Olbricht lachte auf. »Glaubt dieser raffinierte Skeptiker etwa auch bei Ihnen eine weiche Stelle entdeckt zu haben?« »Das glaubt er tatsächlich – und ich fürchte sogar: er könnte recht haben.« Stauffenberg blickte nachdenklich auf seine Listen. »Brackwede hält die Ablösung des Befehlshabers des Ersatzheeres durch Generaloberst Erich Hoepner für eine sentimentale Schwäche von mir. Denn er hat herausgefunden, daß Hoepner einstmals mein Kommandeur war – dem ich viel zu verdanken habe.« »Brackwede ist also gegen beide?« »Er hat mir klarzumachen versucht, daß Goerdeler bereits zu verbraucht ist – ein Ehrenmann, doch fast völlig aufgerieben durch fünf Jahre intensivster Konspiration. Hoepner aber wird von Brackwede ganz einfach für nicht belastungsfähig genug gehalten – es fehlte nicht viel, und er hätte ihn einen Schwätzer genannt.« Friedrich Olbricht schüttelte den Kopf. »Er will Julius Leber einsetzen – anstelle von Goerdeler, nicht wahr? Er wird nicht umsonst ein roter Graf genannt – er will das Gewicht der nächsten Regierung zum Sozialismus hin verschieben. Ein derartiger Versuch aber dürfte erhebliche Unruhe unter unseren Freunden verursachen.« »Wir können es uns nicht mehr leisten, zu debattieren – aus Zeitmangel. Wir konzentrieren uns darauf, vollendete Tatsachen zu schaffen. Jede sich anbietende Möglichkeit werden wir ergreifen. Der jeweils beste Mann muß in die wichtigste Stellung – wenn Julius Leber der bessere Reichskanzler zu sein scheint, wird er auch Reichskanzler werden.« »Sturmbannführer Maier kann warten«, meinte der Hauptmann von Brackwede und streckte seine Beine weit aus. »Er soll ruhig eine Zeitlang im eigenen Saft schmoren.« »Ich verstehe das nicht!« Konstantin, der Leutnant, war ehrlich verwundert. Aufmerksam saß er im Dienstzimmer seines Bruders und hörte sich mit steigendem Erstaunen dessen Bemerkungen an. »Ich denke, du bist mit
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Sturmbannführer Maier befreundet?« »Befreundet ist gar kein Ausdruck für unsere Beziehungen.« Die Gräfin Oldenburg hatte, so jung sie auch war – knappe zweiundzwanzig Jahre alt – , bei Hauptmann von Brackwede gelernt, sich zu beherrschen. Nur noch gelegentlich fiel ihr das schwer – wie jetzt. Der Leutnant sah sie mit besorgter Zärtlichkeit an. Der Hauptmann von Brackwede hatte sich in seinen Schreibtischstuhl zurückgelehnt und betrachtete fast andächtig seine Fingerspitzen – er empfand eine gewisse Betrübnis dabei, seine Nägel so wenig gepflegt zu sehen. »Meine lieben ahnungslosen Freunde«, sagte er dann bedächtig, »Naivität ist eine liebenswerte Eigenschaft – man kann sich darüber bei Schiller vergewissern. Der kannte jedoch nicht unseren einzigartigen Führer. Denn diese unsere Welt besteht nicht nur aus Freunden und Feinden – auch unter vorgeblichen Freunden können tödliche Feinde sein.« »Möglich«, sagte der Leutnant. »Etwa so, wie es angeblich Kameraden gibt, die sich dann als Hoch- und Landesverräter entpuppen.« Der Hauptmann nickte. »Wobei allerdings der Fall eintreten könnte, daß diese Hoch- und Landesverräter in Wirklichkeit die wahren Kameraden sind.« Die Gräfin senkte den Kopf – ihre seidigen Haare glänzten sanft; ihre wie schwebend zarte Nackenlinie verführte zu milden Gedanken. Konstantin betrachtete sie entzückt – des Bruders letzte Bemerkung schien er gar nicht gehört zu haben. »Ich würde dir ja gern den Anblick meiner Mitarbeiterin noch länger ungestört gönnen – aber gelegentlich arbeiten wir hier tatsächlich.« Der Hauptmann lächelte – nicht eben mild. »Eine andere Primitiverkenntnis könnte diese sein: Nur ganz wenige sehen wirklich so aus, wie sie sind.« Zu dieser Demonstration wurde der Gefreite Lehmann, der Gartenzwerg, aufgeboten – Sprengstoffspezialist, Rennfahrer und verläßlicher Briefkasten für Verschwörer. Er erschien
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freundschaftlich grinsend, nickte den Anwesenden zu und bewegte sich im Raum, als gehöre der ihm. Er ließ sich nieder und schlug betont gemütlich die Beine übereinander. »Nun – wo ist der Liebesbrief, auf den die Gestapo so wild war?« wollte der Hauptmann wissen. Der Gefreite zog ein doppelt gefaltetes Schreiben hervor und übergab es dem Hauptmann. Der legte es vor sich auf die Tisch platte, entfaltete es sorgfältig und las dann darin. Sein Vogelgesicht leuchtete anerkennend auf. »Warum müssen diese Leute eigentlich gleich immer so viel schreiben?« fragte der Gartenzwerg interessiert. »Es würde doch völlig genügen, wenn sie sagen: Ich mache mit! Oder: Das gefällt mir – das gefällt mir nicht! Aber sie schreiben, daß es nur so raucht! Der Generaloberst etwa notiert sich jede noch so blöde Bemerkung fein säuberlich. Na – und dann erst unser Oberbürgermeister! Dem quillt das Papier aus allen Taschen heraus. Ist so was nicht glatter Luxus?« »Kann sein«, gab der Hauptmann zu. »Aber schließlich kann man derartige Beschäftigungen nicht verbieten – ich zumindest kann das nicht. Ich arbeite für den Tag – für einen bestimmten Tag. Der Generaloberst aber gehört, wie unser Oberbürgermeister, zu jenen, die sozusagen für die Nachwelt denken.« »Na schön! Was aber dann, wenn diese ihre Nachwelt die Gestapo ist?« Der Hauptmann lachte kurz auf – doch seine Augen blickten dabei todernst. Und der Leutnant hatte ein blaßleeres Gesicht – er vermochte nicht zu begreifen, wovon hier gesprochen wurde. Wie hilfesuchend sah er die Gräfin an. Die hatte den Mund leicht geöffnet – sie wirkte bestürzt. »Nach der Sondertour, mein Lieber, die Sie sich heute mit der Gestapo geleistet haben, müssen Sie schleunigst untertauchen.« Der von Brackwede traf diese Feststellung ohne jeden Vorwurf. »Das heißt dann wohl«, meinte der Gefreite sachlich, »daß ich vorerst kaltgestellt bin.«
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»Ganz im Gegenteil – Sie werden noch dringend gebraucht. Sie werden nur vorübergehend abgeschoben, geraten aber an die denkbar beste Adresse.« »Nicht doch, nicht doch!« wehrte der Gefreite Lehmann bestürzt ab. »Sie wollen mich doch nicht etwa dem Scharfschützenklub des Generals Tresckow zuteilen? Ich bin da mehr, wie Sie wissen, für die gemütliche Tour.« »Das weiß ich, mein Lieber – und deshalb schicke ich Sie nach Paris.« »Ist geritzt!« rief der Gefreite zufrieden. Er rieb sich die Hände. »Das ist ein Spielplatz nach meinem Herzen – da werde ich mich tummeln, daß die Denkschriften nur so knistern! Und auf irgend jemanden, der nur ein Bruder ist, falle ich bestimmt nicht mehr herein.« »Ich komme von der Ostfront«, sagte der Offizier. »Ich hatte von General von Tresckow Auftrag, dem Generalobersten Beck Bericht zu erstatten. Der schickte mich zu Ihnen.« Der Offizier, ein Oberleutnant, war noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt – doch er hatte tiefe Falten nahe den Mundwinkeln; seine Stirn war glatt geblieben; seine Augen blickten wie die eines alten Mannes. »Ich habe es gesehen«, sagte er. Er zündete sich eine Zigarette an, die ihm gereicht wurde – seine Hände zitterten dabei; er preßte sie zusammen. Dennoch klang seine Stimme voll und gewichtig – und was er sagte, hörte sich an, als habe er es schon oftmals erzählt. »Hat der Generaloberst Beck näher begründet, warum Sie uns aufsuchen sollten?« fragte Leber. »Um zu erzählen, was ich gesehen habe!« Der Offizier des Heeres – sein Name war Bahr – saß im Barackenbüro von Lebers Kohlenhandlung. Um ihn herum hockten auf Kisten, Säcken und Stühlen ein Dutzend Menschen – Lebers verläßliche Freunde: der würdige Wilhelm Leuschner unter ihnen; einst Innenminister von Hessen, nunmehr Besitzer einer kleinen Fabrik für Bierzwischenhähne.
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Andere daneben: ehemalige Gewerkschaftsführer, Reichstagsabgeordnete der SPD und zwei mitverschworene Geistliche. Annedore, Lebers Frau, betreute sie aufmerksam. »Sie werden«, berichtete der Offizier, »in Gaskammern getötet und in Verbrennungsöfen vernichtet. Alles läuft fabrikmäßig ab. Die Zahl der Opfer wird bisher auf etwa vier Millionen geschätzt.« Die plumpen Holzwände der Bürobaracke umstanden diese Menschen wie Nachtschatten. Das Licht einer abgedunkelten Lampe erreichte nur mühsam bleich schimmernde Gesichter. Sie atmeten schwer – wie unter einer erdrückenden Last. »Täglich«, sagte der Offizier, »sterben mehrere Tausende – allein an einem Ort, der Auschwitz heißt. Im übrigen nehmen auch die Verluste an der Front mehr und mehr zu. Der General von Tresckow vertritt die Ansicht, daß die Russen in wenigen Wochen die deutsche Reichsgrenze erreicht haben können – nur noch Monate, und sie dürften vor Berlin stehen. Das sollte ich Ihnen mitteilen.« Der Oberleutnant Bahr setzte sich – er hatte nichts mehr zu sagen. Er hatte versucht, die einfachsten Worte zu finden für das Unerhörte, was sich ereignet hatte. Bannendes Schweigen umgab ihn. Niemand schien den Mut zu haben, diesen Bericht zu kommentieren. »Tausende von Menschen – jeden Tag«, sagte Annedore erschultert zu ihrem Mann. »Und jeder weitere Tag kostet weitere Tausende von Menschenleben«, sagte Julius Leber und blickte auf seine Hände, die er wie im Gebet gefaltet hatte. »Das ist es, was der Generaloberst Beck uns durch diesen Offizier deutlich machen wollte.« »Und was bezweckt er damit?« »Meine Zustimmung zu Stauffenbergs Tat! Und die werde ich ihm geben. Es muß ein Ende gemacht werden – mit allen diesen entsetzlichen Morden!« »Nun«, fragte der Hauptmann von Brackwede seinen
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Bruder, nachdem der Gefreite Lehmann freudestrahlend abgezogen war. »Erwartest du irgendeine Erklärung von mir?« »Nein«, sagte Konstantin. »Und warum nicht?« »Weil ich das nicht im geringsten für notwendig erachte, Fritz.« Die Brüder sahen sich an – das jetzt ein wenig blasse Gesicht des jüngeren strahlte vorbehaltloses Vertrauen aus; der ältere registrierte das nicht ohne Rührung. Die Gräfin Oldenburg-Quentin lächelte erleichtert. Sie sagte: »Wir sind hier, auf dieser Dienststelle, oft mit den sonderbarsten und eigenartigsten Dingen beschäftigt. Unser Büro wird manchmal der Schuttabladeplatz der Bendlerstraße genannt. Lassen Sie sich nicht von Dingen irritieren, die nur schwer überschaubar sind.« »Sturmbannführer Maier soll kommen!« rief der Hauptmann fast unwillig. Und als er bemerkte, daß sich der Leutnant erheben wollte, sagte er: »Du bleibst hier und hörst dir das an! Immerhin möglich, daß dir dabei irgend etwas auffällt.« Maier stürmte kurz danach stiergleich in den Raum. Die notwendig erscheinenden Förmlichkeiten nahm er im Galopp: Händedruck mit Hauptmann von Brackwede; angedeutete Verbeugung vor der Gräfin; freundlich gedachtes Nicken dem Leutnant gegenüber. Kurz danach saß er im gleichen Stuhl, den vorher der Gefreite Lehman eingenommen hatte. Unverzüglich fragte er: »Nun, wie steht die Schlacht? Bekomme ich dieses Früchtchen endlich ausgehändigt?« »Wie stellen Sie sich das praktisch vor?« fragte der von Brackwede betont entgegenkommend. »Selbst wenn sich der, den Sie meinen, strafbar gemacht haben sollte – so ist für ihn allein die Wehrmachtsjustiz zuständig, nicht die Gestapo.« »Mein Verehrtester«, meinte Maier, »wir brauchen uns doch nichts vorzumachen! Es gibt da, wie Sie genau wissen, bestimmte Manipulationen ...« »Leider, mein Bester, nicht bei mir! Ich bin hier eingesetzt,
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um unsere speziellen Interessen zu wahren – dabei muß ich sogar manchmal gegen meine Überzeugung handeln.« »Also los – rücken Sie schon mit Ihrer Wahrheit heraus!« Maiers Worte klangen anklagend-bitter – sein Gesicht blieb jedoch, wie üblich, unbewegt. »Wo steckt denn diesmal der Pferdefuß?« Der Hauptmann zuckte, wie bedauernd, mit den Schultern. Er konzentrierte sich jetzt ausschließlich auf den Sturmbannführer – er schien weder die atemlose Gespanntheit der Oldenburg noch die staunende Starre des Bruders zu bemerken. Das ihm vom Gefreiten Lehmann überbrachte Schreiben lag noch auf seinem Tisch. Er verdeckte es nicht – es wäre eine Torheit gewesen; Maier hätte sie prompt bemerkt. Des Hauptmanns Blick glitt schnell darüber hinweg. Er sagte: »Der von Ihnen verfolgte Gefreite ist untersucht worden. Doch bei ihm befand sich nichts anderes als ein privates Schreiben; eine Art Liebesbrief.« Maier schnaufte unwillig auf. »Dann hat dieser raffinierte Bursche inzwischen manipuliert. Das ist dem ohne weiteres zuzutrauen! Das ist ein ganz gerissener Schweinehund. Doch alles das ist mir scheißegal – ich will ihn haben!« »Leider«, versicherte der Hauptmann von Brackwede durchaus glaubhaft klingend, »kann ich ihn nicht liefern. Denn dieser Gefreite gehört nicht mehr unserer Dienststelle an. Er ist versetzt worden – mir im Augenblick noch unbekannt, wohin.« »Mann – das ist vielleicht eine Sauerei! Sie können also über dieses Schwein, wenn ich Sie richtig verstehe, gar nicht verfügen?« »Sie haben mich, wie zumeist, richtig verstanden.« Maier stieß sich hoch. Der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, polterte hinter ihm zu Boden – er beachtete das nicht; auch niemand sonst tat es. Die Gräfin war erregt, was zu einer rosigen Färbung ihrer leicht braunen Haut führte – Konstantin bemerkte es mit Entzücken. Der Hauptmann saß da wie
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erstarrt. »Das«, stieß Maier hervor, »kann unmöglich Ihr letztes Wort zu den Beziehungen zwischen uns sein!« »Die fangen doch jetzt erst richtig an«, behauptete der Hauptmann Graf von Brackwede. »Und sie werden zu unserem beiderseitigen Vorteil führen – falls wir nicht kleinlich sind. Aber eben das, nicht wahr, traut keiner von uns dem anderen zu.«
2 Männer, die zu rechnen beginnen »Die Befehlshaber werden mitmachen«, behauptete der General Henning von Tresckow zuversichtlich, »unter einer Voraussetzung allerdings: Das Attentat muß gelungen sein.« »Das heißt also«, stellte der Oberst Stauffenberg mit milder Ironie fest, »sie überlassen uns nicht nur die Dreckarbeit, sondern auch die gesamte Verantwortung. Sie schwören lediglich einen neuen Eid auf eine neue Staatsform – und damit ist alles für sie erledigt.« »Wir sollten, meine ich, nicht zuviel von bestimmten Herren erwarten.« Der General Olbricht war, wie immer, für geschickten Ausgleich. »Es ist doch immerhin vielversprechend, daß es Befehlshaber gibt, die unseren Bemühungen zumindest mit Wohlwollen gegenüberstehen.« »Nicht nur das«, erklärte der von Tresckow überzeugt. »Generalfeldmarschall von Kluge etwa wird bestimmt mitmachen – das hat er mir selbst gesagt.« Der General Henning von Tresckow, Chef des Stabes der Heeresgruppe Mitte, war von der Ostfront herbeigeflogen. Die Entscheidung Stauffenbergs hatte ihn alarmiert. Nun gedachte er, wenn auch nur für Stunden, den Freunden behilflich zu sein, ihren Entschluß zu bestärken, seine Zuversicht mitzuteilen. An diesem klaren Sommertag saßen in der Bendlerstraße
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die drei maßgeblichen Gestalten des deutschen soldatischen Widerstandes beieinander: Olbricht, der Planer; von Tresckow, der Feuerkopf; und von Stauffenberg, geballte Energie. Die drei waren es auch, die da – unterstützt von Mertz von Quirnheim – gemeinsam in erschöpfender Tag- und Nachtarbeit den Plan »Walküre« entworfen hatten; er sollte am Tag X die Aktion in Generalstabsmanier ermöglichen und vollenden. »Ich habe oft und lange mit Generalfeldmarschall von Kluge sprechen können«, berichtete von Tresckow; und was er erzählte, war für Stauffenberg bestimmt. »Wir sind uns mit letzter Offenheit begegnet. Ich habe ihm gesagt: Hitler muß getötet werden. Und ich habe ihm weiter gesagt: Ich selbst werde versuchen, das zu tun – ich mit meinen Freunden. Und er rief aus, ganz spontan, absolut überzeugend: ›Ihr habt mich!‹« »Und wie lange«, fragte Stauffenberg skeptisch, »hatten Sie ihn?« »Gewiß«, gab der von Tresckow zu, »von Kluge ist nicht der Mann, der sich unbedenklich engagiert. Aber er verachtet Hitler, er verabscheut dessen Methoden, er wird daher nicht zögern – wenn es erst einmal soweit ist.« »Das glaube ich auch«, versicherte Olbricht suggestiv. »Kluge weiß genau, daß dieser Krieg verloren ist. Das wird gewiß seine Entschlußfreudigkeit bestärken. So wie er denken viele – und entsprechend werden sie handeln. Im übrigen dürfen wir nicht vergessen, daß auch Generale wie von Brauchitsch bereits neunzehnhundertneununddreißig entschlossen waren, den vom Zaun gebrochenen Krieg unter allen Umständen, also gegen Hitler, zu beenden.« Der Oberst Claus Graf von Stauffenberg lehnte sich lächelnd zurück – mit fast mechanischer Bewegung tastete er nach der schwarzen Klappe, die sein totes Auge bedeckte. »Ich weiß – Brauchitsch ging damals, angeblich fest entschlossen, zu seinem Führer. Er wurde jedoch abgekanzelt, bedroht und zeigte sich danach, wie er sagte,
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stark beeindruckt.« »Aber seine Einstellung veränderte sich nicht«, behauptete von Tresckow. »Er resignierte lediglich – aber das taten auch andere. Erst vor Monaten habe ich wieder mit ihm gesprochen – mit ihm und auch mit Manstein. Beide hörten sich meine Argumente an – beide zeigten sich durchaus interessiert.« »Aber sie sind nicht bereit, irgend etwas zu tun.« Stauffenberg erstrebte Klarheit – er war nicht gewillt, sich von rosigem Optimismus tragen zu lassen. Er wollte wissen, was wirklich war – nicht, was möglicherweise sein könnte. »Keiner von ihnen wird sich aber dagegen wehren, wenn wir es tun«, sagte Olbricht. »Die Hauptsache ist, die Sache klappt.« Der von Tresckow nickte dem Oberst zu. »Dann wird eine Lawine ausgelöst – und die begräbt dieses ganze braune Gesindel. Garantiert! Entscheidend ist: man muß an Hitler herankommen – und das wird Stauffenberg gelingen. Weiter von größter Wichtigkeit ist der Mann, der die Bombe baut – aber der Gefreite Lehmann, der aus meiner Schule kommt, ist der denkbar beste Spezialist dafür.« »Es wird auch ohne Lehmann gehen müssen«, meinte Olbricht; er war bemüht, keine überflüssigen Verzögerungen aufkommen zu lassen. »Eine ganze Anzahl Sprengstoffexperten steht zur Verfügung. Lehmann jedenfalls mußte nach Paris abgeschoben werden – die Gestapo begann sich für ihn zu interessieren.« »Wer hat diesen schwerwiegenden Entschluß veranlaßt?« wollte von Tresckow wissen. »Das gefällt mir nicht.« »Verantwortlich dafür«, erklärte der Oberst, »ist Hauptmann von Brackwede, mein Freund. Und ich gestehe, daß auch ich mir bereits Gedanken darüber gemacht habe, ob nicht eine derartige Maßnahme möglicherweise durch unsere Freundschaft ausgelöst worden sein könnte. Um ganz deutlich zu werden: Ich halte es für nicht völlig ausgeschlossen, daß vielleicht Fritz versucht, mich an der Ausübung dieses Attentates zu verhindern.«
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»Er ist überaus eigenwillig«, bemerkte der General Olbricht zögernd. Der von Tresckow blickte nachdenklich. »Dennoch bin ich davon überzeugt: der nimmt es noch mit dem Teufel auf! Aber ich gebe zu: Freundschaft geht ihre eigenen Wege – und die sind für Außenstehende nicht immer erkennbar.« »Ich habe noch niemals versucht, mich in Ihre Angelegenheiten einzumischen«, sagte Elisabeth Gräfin Oldenburg-Quentin. »Ich war stets bemüht, Ihr Privatleben zu respektieren – das werden Sie mir zugestehen.« »Gern – falls Sie Wert darauf legen.« Der Hauptmann von Brackwede betrachtete seine sonst so betont distanzierte Mitarbeiterin mit fast lauerndem Interesse. »Was beunruhigt Sie neuerdings?« »Die Rücksichtslosigkeit, mit der Sie den Leutnant in Ihre Welt hineinzuziehen versuchen!« Sie saßen nebeneinander an einem der kleinen Tische, die im Kasino der Bendlerstraße standen – auch hier hing der unvermeidliche Hitler an der Wand. Der große repräsentative Speiseraum, der einst das ganze Korps in fast festlichem Rahmen zu vereinigen pflegte, existierte schon lange nicht mehr. Doch nur wenige Bendlerstraße-Offiziere waren darüber betrübt. Die so zusammengebombte Gemeinschaft entbehrte nicht einer gewissen wenn auch primitiven Gemütlichkeit. »Zwischen uns beiden, Gräfin, existiert eine Art grundsätzliche Vereinbarung. Sie heften bei mir Akten ab – doch was darin steht, wissen Sie nicht. Sie verfassen für mich Schriftstücke – was sie bedeuten, ist Ihnen unbekannt. Sie nehmen Telefongespräche entgegen – doch an Namen, Daten und Fakten erinnern Sie sich nicht.« »Ich weiß – Sie wollen mich absichern. Das ist hier nicht nur allgemein üblich, Sie persönlich legen darauf besonderen Wert. Doch Sie wissen, daß ich meinen Verstand dennoch nicht ganz ausschalten kann. Nun gut – das meiste von dem, was Sie mir anvertrauen, habe ich bereits vergessen. Aber was Sie mit Ihrem Bruder anstellen, läßt mich nicht
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gleichgültig.« »Wie schön – für ihn!« Der Hauptmann von Brackwede blickte um sich. Doch niemand hörte ihnen zu. Nur wenige Tische waren besetzt. Die dort sitzenden Offiziere schoben das Einheitsessen gleichmütig in sich hinein – schweigend kauten sie an zähem Fleisch. »Sie wissen, Gräfin, daß ich persönlich mich wenig befähigt fühle, Wohltätigkeit zu üben – aber ich weiß Menschen zu schätzen, die das können. Meinem Bruder gönne ich es – wenn Sie entschlossen sein sollten, das zu versuchen. Sind Sie das?« Der Gräfin Oldenburg blieb die Antwort hierauf erspart; denn der Oberst Mertz von Quirnheim setzte sich an ihren Tisch – nicht, ohne vorher vollendet höflich um Erlaubnis gefragt zu haben. Sie konnte ihm nicht verweigert werden. Fast verlegen lächelnd, rückte er seine Gelehrtenbrille zurecht. Sein kahler Schädel glänzte mild. Seine erste Bemerkung war ein Kompliment der Gräfin gegenüber. Seine unmittelbar darauffolgende zweite Bemerkung war an Graf von Brackwede gerichtet: Ihn, Mertz, beherrsche eine gewisse Besorgnis – dieser Gestapo-Maier wäre doch wohl alles andere als ein harmloser Zeitgenosse. Die Richtigkeit dieser Vermutung bestätigte der Hauptmann. Und er fügte hinzu: »Aber gerade das erleichtert diese Angelegenheit außerordentlich. Maier ist ein reichlich ausgekochter Bursche. Man kann ihm daher erstaunlich viel zumuten.« Der Oberst zeigte keinerlei Regung – er löffelte seine Suppe, eine Ordonnanz hatte sie vor ihn hingestellt. Schleimiges Wasser mit einigen Reiskörnern darin. Mertz von Quirnheim speiste nahezu andächtig. Dabei jedoch sprach er – wie nebensächlich – weiter. »Die Gestapo ist Himmler – und Himmler spekuliert, wie man weiß, auf den Posten des Befehlshabers des Ersatzheeres. Er wird jede Gelegenheit ergreifen, um unserem Generalobersten, also uns, Schwierigkeiten zu machen. Und
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dieser Maier scheint mir durchaus der Mann zu sein, der dem Reichsführer SS einen brauchbaren Vorwand liefern könnte, sich in der Bendlerstraße einzunisten.« »Das könnte Maier – er wird es aber nicht ohne weiteres tun.« Brackwede hob fast lauernd den Kopf. »Gestapomann zu sein ist schließlich kein normaler Zustand – außer für Dummköpfe, für Sadisten, für gewisse Radikalpolitiker und für Intriganten. Maier ist vieles zuzutrauen – aber dumm ist der gewiß nicht. Und nicht zuletzt deshalb bin ich in einer gewissen Weise mit ihm in Kontakt. Wir sind gerade dabei, eine Interessengemeinschaft für Kuhhandel – mit beschränkter Haftung – auszubauen.« Mertz von Quirnheim schob den jetzt leeren Teller von sich – er hatte seine Suppe ausgelöffelt. Er sagte lediglich: »Kein ungefährliches Spiel.« Bedächtig blinzelte er vor sich hin. »Es wird immer schwieriger, die richtige Auswahl zu treffen. So sind wir in der Bendlerstraße seit Jahren bemüht, unseren Stall sauberzuhalten. Doch plötzlich tauchen dann Leute auf wie dieser Oberleutnant Herbert – der war kurz davor, Lehmann der Gestapo auszuliefern.« »Er ist eben ein zeitgemäßer Vollidealist«, meinte der Hauptmann gleichmütig. »Und ich finde: mit solchen Typen sollte man nicht nur rechnen – man sollte sie nutzen. Sie können, richtig eingesetzt, die denkbar besten Aushängeschilder abgeben. Und was kann in unserer Situation brauchbarer sein, als ein paar kräftige sichtbehindernde Fahnenschwenker im Vordergrund?« Mertz von Quirnheim kniff die Augen ein wenig zusammen – ein feines Faltennetz umgab sie: Der Oberst schien belustigt. Dann erhob er sich entschlossen; er gedenke ein kurzes Telefongespräch zu führen. Er werde in ein paar Minuten wieder zurück sein. Die Gräfin Oldenburg-Quentin sah ihm besorgt nach. Der Hauptmann schien die fleckige Tischdecke zu betrachten, als habe er eine Generalstabskarte vor sich. Sein Gesicht war von dunkler Angespanntheit.
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»Sie scheinen ihn auf eine nicht unbedenkliche Idee gebracht zu haben«, sagte Elisabeth. »Ist denn nicht schon alles kompliziert genug?« »Es genügt, wenn es einige wenige gibt, die sich in diesem Dschungel zurechtfinden. Für die Masse der Idioten reichen kraß angepinselte Fassaden zwecks Orientierung völlig aus – und zur Zeit ist nun mal die beherrschende Farbe Braun. Derartige Verschleierungstaktiken hätten wir übrigens schon längst anwenden sollen – « Der Oberst erschien wieder; er setzte sich und sagte: »Ich habe soeben mit General Olbricht gesprochen. Er stimmt Ihrem Plan zu. Wir werden ab sofort eine neue Dienststelle einrichten. Deren ausschließliche Aufgabe wird es sein, eine möglichst angenehme Zusammenarbeit mit Parteidienststellen aller Art und Abart herbeizuführen. Leiter derselben: Oberleutnant Herbert. Dieses ganz spezielle Unternehmen wird General Olbricht direkt unterstellt. Und er bestimmt Sie, Herr von Brackwede, zu seinem ständigen Vertreter in dieser Angelegenheit.« »Gut!« sagte der sichtlich erfreut. »Dann werde ich also den Sand liefern, den man erwiesenermaßen erfolgreich in bestimmte Augen streuen kann, das gern und reichlich. Und einer der ersten Lieferanten dafür wird mein lieber Bruder sein – in gewisser Hinsicht ist der glänzend zu gebrauchen.« »Wir sollten nichts übersehen – und uns nichts schenken«, empfahl ein Regierungsrat des Auswärtigen Amtes. »Es ist aber doch wohl nicht abzuleugnen, daß der Oberst von Stauffenberg einstmals ein glühender Nationalsozialist gewesen ist.« »Das war er nicht!« rief Eugen G., der Doktor, streitbar. »Eine derartige Behauptung grenzt beinahe schon an Verleumdung! Was bezwecken Sie damit?« Der Regierungsrat blickte verweisend auf den temperamentvollen Philosophieprofessor – seine Stimme klang sanft tadelnd: »Ich war lediglich bemüht, eventuelle Mißverständnisse aufzuklären. Und wenn neuerdings in
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unseren Kreisen von bestimmter Seite mehr oder weniger offene Bedenken gegen Herrn Goerdeler vorgebracht werden – so ist es doch nicht unwesentlich, genau zu wissen, welche möglichen Hintergründe dabei eine Rolle spielen könnten.« »Also gut!« polterte der Doktor angriffslustig. »Ich sage es wohl lieber gleich: Ich war mal Jungvolkführer!« Der Graf von Moltke, der Hausherr, hochgewachsen, mit elegant wirkenden Bewegungen, lachte herzhaft auf – seine versöhnliche Fröhlichkeit wischte die aufkommenden dunklen Gedanken zur Seite. Derartigen Erwägungen wollte er in seiner Umgebung keinen Raum gewähren. Er lenkte die Aufmerksamkeit seiner Gäste auf einen Wein, den zu besorgen es ihm gelungen war – Kitzinger Mainleite, 1933. Das halbe Dutzend Männer in Zivil schien sich vorübergehend ablenken zu lassen – auch Eugen G. Der Gastgeber war erst fünfunddreißig Jahre alt, doch er gehörte zu den ausgleichenden Kräften der Widerstandsbewegung – Leber schätzte ihn ebenso wie Beck, Goerdeler konnte ihm vertrauen, und selbst kommunistische Gruppen sprachen von ihm mit Achtung. Zu seinen Freunden gehörten Stauffenberg, Brackwede und der Doktor G. »Kennen Sie eigentlich die Vorgänge in Bamberg – am dreißigsten Januar neunzehnhundertunddreiunddreißig?« wollte der Regierungsrat wissen. Er schien bemüht, wie der von Moltke sofort erkannte, die Position Goerdelers indirekt zu stärken. Der Doktor parierte sofort. »Bekannt! Damals zog ein Leutnant der Reichswehr gemeinsam mit dem begeisterten Volk durch die Straßen. Das war Stauffenberg. Und Brackwede war Vizepolizei-Präsident von Berlin. Während sich Doktor Goerdeler als Reichssparkommissar betätigte und Geheimberichte von seinen Auslandsreisen für Hitler und Göring verfaßte.« »Und so weiter!« fiel der Graf von Moltke ein und versuchte, sich belustigt zu geben. »Auch Beck war zunächst nicht dagegen. Professor Popitz bejahte mehr oder weniger den
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neuen Staat, und Professor Haushofer lieferte ihm sogar einige Theorien – sie alle gehören jedoch jetzt zu uns. Vorbehaltlos! Und ich meine sogar: ihre Ablehnung ist möglicherweise fast fundierter als die unsere. Wir und viele andere waren Gegner der Nazis von vornherein – auf Grund unserer Geburt, Erziehung oder politischen Einstellung. Des Glaubens wegen nicht zuletzt. Sie aber mußten sich erst zu einer Entscheidung durchringen, manche mußten sich überwinden – ihrer Überzeugung ging ein heftiger Gewissenskonflikt voraus.« »Von Claus von Stauffenberg«, sagte Doktor G. gewichtig, »existieren drei Aussprüche, wie sie deutlicher kaum denkbar sind – sie charakterisieren ihn ganz. Neunzehnhundertneununddreißig sagte er: Der Narr macht Krieg! Neunzehnhunderteinundvierzig: Noch siegt er zu sehr! Und neunzehnhundertzweiundvierzig bestand sein Kommentar nur noch aus einem einzigen Wort: Töten!« Der Oberleutnant Herbert – gleichfalls Herbert mit Vornamen – war überzeugt davon, nun zur Elite der Nation zu gehören. Die Sonne des Wohlwollens schien über ihm zu leuchten: Er wurde zum Abteilungsleiter ernannt, erhielt ein eigenes Dienstzimmer und erfreute sich des spürbaren Interesses von Hauptmann von Brackwede. »Wir setzen große Hoffnungen auf Sie«, behauptete der. »Und wir sind überzeugt davon, daß Sie uns nicht enttäuschen werden.« »Ich werde mich mit ganzer Kraft einsetzen«, versicherte der Oberleutnant. »Das hier ist endlich eine Aufgabe nach meinem Herzen!« »Wir wollen so was nicht überschätzen«, meinte der von Brackwede sichtlich gut gelaunt. »Aber ich kann mir durchaus vorstellen, daß Sie ganze Arbeit leisten werden. Mit Ihrer Gesinnung wird sich vermutlich viel anfangen lassen – ich kenne mich da aus. Denn ich habe einen Bruder – der denkt ähnlich wie Sie. Nicht zuletzt auch seinetwegen habe ich Sie für diesen schönen und entwicklungsfähigen Posten
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vorgeschlagen – ich würde es gern sehen, wenn Sie dem Leutnant einigen Anschauungsunterricht darüber erteilen würden, was es eigentlich heißt, Offizier des Führers zu sein.« »Ihr Vertrauen ehrt mich«, versicherte Herbert feierlich. Derartige Töne beherrschten noch einige Zeit diesen Raum – sie erfüllten ihn wie Wolken aus Parfüm. Ganz gemächlich und nahezu elegant legte nun der Hauptmann, wie er glaubte, dem glühend großdeutschen Oberleutnant ein dickes Kuckucksei ins Nest: Neben den ersten, mehr routinemäßigen Sondierungen, bei der Partei und deren maßgeblichen Gliederungen, gebühre dem Sturmbannführer Maier ganz besondere Aufmerksamkeit. »Ihr Wunsch ist mir Befehl«, äußerte Herbert bereitwillig. »Ich bin mit Sturmbannführer Maier sozusagen befreundet. Ich lege Wert darauf, Ihre Zustimmung vorausgesetzt, daß gerade hier eine besonders vertrauensvolle Zusammenarbeit geschaffen wird.« »Das mache ich!« Herbert Herbert schien gewillt, einen Schwur zu leisten. Doch darauf legte der Hauptmann nicht den geringsten Wert. »Sie werden mich natürlich regelmäßig unterrichten – so umfassend wie nur irgend möglich. Alles weitere findet sich dann schon. Also – an die Arbeit! Lassen Sie sich was einfallen!« »Mit General Oster können wir leider nicht rechnen«, berichtete Olbricht. »Er wird bereits seit längerer Zeit überwacht. Die Gestapo versucht, die gesamte Abwehr zu blockieren.« »Ein einziger Zettel hat diese Maßnahmen ausgelöst«, erklärte der Oberst von Stauffenberg. »Dieser Zettel, mit wenigen Namen, lag auf dem Schreibtisch einer seiner Mitarbeiter – Oster versuchte, ihn an sich zu nehmen, während Gestapobeamte gerade den Raum durchsuchten. So fiel er auf.« »Man muß eben mit allen Möglichkeiten rechnen«, meinte
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Henning von Tresckow unbeeindruckt, »selbst damit, daß britische Säurezünder nicht funktionieren. So hatte ich eine ausgelöste Bombe in Hitlers Flugzeug packen lassen – sie detonierte nicht!« Ihre Besprechung dauerte bereits mehrere Stunden. Der von Tresckow war unermüdlich – und seine Freunde waren das auch. Sie reihten ein Argument an das andere, suchten nach Gegenargumenten, gaben sich Anregungen, bauten neue Vorschläge aus. Außerdem war mit von Tresckow ein Mann der Praxis erschienen – nahezu ein halbes dutzendmal hatte er bereits versucht, Deutschland von Hitler zu befreien. Der berüchtigte »Kommissarbefehl« – das Erschießen »auf Verdacht«, wider alles Völkerrecht – war eindeutig Mord. Seither wurde dadurch jede erdenkliche Greueltat sanktioniert. Damals hatte der von Tresckow ausgerufen – seinen erstarrten Kameraden zu: »Denken Sie an diese Stunde! Wenn es uns nicht gelingt, daß diese Befehle zurückgenommen werden, dann hat Deutschland endgültig seine Ehre verloren. Und das wird sich in Hunderten von Jahren noch auswirken!« An diesem Tag in der Bendlerstraße schien er völlig illusionslos zu sein, von beherrschtem Temperament, fast kalt und betont sachlich. Er sagte: »Man muß an Hitler herankommen, direkt auf den Leib muß man ihm rücken, ohne den geringsten Verdacht zu erregen – das ist die entscheidende Voraussetzung.« »Kein Problem«, sagte Stauffenberg. »Ich werde neuerdings fast regelmäßig zu Besprechungen ins Führerhauptquartier befohlen – zumeist gemeinsam mit Generaloberst Fromm.« »Und es kommt natürlich nur eine Bombe in Frage«, sagte von Tresckow weiter. »Bei mir allerdings.« Stauffenberg hob die drei Finger seiner linken Hand. »Das meine ich gar nicht«, erklärte der General ruhig. »Pistolenattentate sind unzuverlässig. Sogenannte geglückte Beispiele, wie etwa Sarajewo, muten wie eine Kette von
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Zufällen an. Diesbezügliche Spekulationen sollten wir uns ersparen.« Olbricht nickte zustimmend. »Außerdem ist Hitler niemals völlig allein – er wird mehrfach abgeschirmt, und er scheint, bekanntlich, die Gefahr wittern zu können. Das nicht erst seit neunzehnhundertachtunddreißig im Bürgerbräukeller in München. Damals hatte er sich vorzeitig entfernt; als die Bombe detonierte, war er bereits in Sicherheit.« »Eine Zeitlang«, sagte von Tresckow, »waren auch meine Kameraden und ich der Ansicht, daß man diesem Menschen mit der Pistole gegenübertreten müsse – wie es sich für Offiziere zu gehören scheint. Fünf Mann waren dazu bereit, um jeden Zufall auszuschalten. Aber wie sollte man sie in Hitlers Nähe bringen?« »In diesem Punkt sind wir uns einig«, versicherte Stauffenberg. »Auch nach meiner Ansicht kommt nur eine Bombe von großer Sprengkraft in Frage. Unklar ist mir noch, wie das unauffällig und wirkungssicher geschehen kann.« »Das wird sich lösen lassen«, meinte von Tresckow zuversichtlich. »Und ich kann mir vorstellen, daß dabei der Oberst genauso wie ich an unser deutsches Lieblingsgepäck denkt – an eine Aktentasche.« Er lächelte ironisch, sagte dann jedoch, sofort wieder ernsthaft: »Ein anderer Punkt will mir wesentlich wichtiger erscheinen. Wie reagieren Sie auf Hitler, Stauffenberg?« »Was meinen Sie damit?« Olbricht schaltete sich ein. »Allgemein wird von einer merkwürdigen Suggestivkraft Hitlers gesprochen. Selbst ein von Brauchitsch zeigte sich davon beeindruckt – und er war nur einer von vielen. Und hat nicht unsere Gruppe im Hauptquartier, etwa Stieff, zu erkennen gegeben, daß sie physisch nicht in der Lage waren, in Gegenwart dieses ...« Stauffenberg lachte hell auf. Der von Tresckow hob wie aufhorchend seinen Rundschädel. General Olbricht blickte leicht verwundert – obgleich er verlernt zu haben glaubte, sich noch durch diesen Oberst überraschen zu lassen.
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»Keine Sorge«, sagte Claus von Stauffenberg. »Als ich ihm das erstemal gegenüberstand, habe ich mich spontan gefragt: Ist er das wirklich? Er ließ mich völlig unbeeindruckt – ich fühle nur eins: Er ist überflüssig!« Der Oberleutnant Herbert war entschlossen, das Wohlwollen seiner Vorgesetzten nicht zu enttäuschen – der Hauptmann von Brackwede sollte mit ihm zufrieden sein. Herbert glaubte zu wissen, was totaler Kriegseinsatz war. Gleich am ersten Abend nach seiner Ernennung zum »NSVerbindungsoffizier« mobilisierte er seine derzeitige Braut Molly Ziesemann, die vorläufig noch in der Vermittlungszentrale der Bendlerstraße Dienst tat. »Ich rechne mit dir – du mußt dich ganz stramm ins Zeug legen, wenn du mich liebst.« So kam es zu der sogenannten »kleinen gemütlichen Festivität«, die erstaunliche Folgen zeitigen sollte. Sie fand in der Ulmenstraße statt, nur um drei Ecken herum von der Bendlerstraße entfernt. Molly Ziesemann stellte ihre Wohnung zur Verfügung und zeigte sich auch zu jedem sonstigen Opfer bereit. Willig erschienene Gäste waren: Sturmbannführer Maier und Leutnant von Brackwede. Der eine kam direkt aus dem Keller der Prinz-Albert-Straße, also von einer Gestapovernehmung, der andere von seiner neuen Dienststelle, der Luftkriegsschule in Bernau bei Berlin. Beide aßen mit gutem Appetit, tranken reichlich und scherzten mit Molly. Herbert ermunterte sie kameradschaftlich. Nach der dritten Flasche Wein blühte der Leutnant von Brackwede auf – wie in Zeitlupenaufnahme. Er begann, das Loblied seines Bruders zu singen; und Herbert sang prompt mit. Maier hörte aufmerksam zu. Danach war der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede ein guter Mensch und ein ganzer Kerl. »Wenn es noch deutsche Männer gibt, dann ist er einer!« »Ich habe meinen Freund Fritz schon immer geschätzt«, versicherte Maier schwer. »Erzählt ruhig noch mehr von ihm,
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Freunde – das höre ich gern.« Maier blickte zur hohen Stuckdecke hinauf – sie war graubraun verräuchert. Die Tapeten hatten streichholzbreite Risse und Flecken gleich wochenalten Kneipentischtüchern. Die Fußbodenbretter wölbten sich wie feuchtes Löschpapier. Schleimige Bürgerlichkeit, so dachte er, löste sich auf, zerplatzte, zerfiel. Dieser Krieg war ein radikaler Neulandgewinn – wenn es gelang, ihn zu überstehen. Molly entleerte Aschenbecher und füllte Gläser. Dabei wedelte ihr praller Hintern vor Maier ebenso wie vor Leutnant von Brackwede. Herbert bemerkte das mit Selbstbewußtsein – er bot seinen Gästen einiges! Und die schienen das auch zu würdigen. Vergnügt entkorkte er die sechste Flasche. »Und wie ist das mit den Weibern – pardon: den sogenannten Damen?« Maier begann mit freudigem Stammtischlachen zu provozieren. »Irgendwelche Schwächen hat doch schließlich jeder – auch mein Freund Fritz.« »Nicht diese!« sagte der Leutnant abwehrend – gleichzeitig war er bemüht, Molly in gebührendem Abstand von sich zu halten. »Mein Bruder ist ein Ehrenmann in jeder Hinsicht.« Herberts Ballgesicht glänzte. »Da muß ich aber unseren Hauptmann schwer in Schutz nehmen! Der läßt bestimmt nichts anbrennen! Bei dem ist sogar unsere gräfliche Mona Lisa garantiert umgefallen – und das will was heißen!« »Das ist eine elende Lüge!« rief der Leutnant empört. Er sprang auf und riß ein Glas zu Boden. »So was darf niemand behaupten.« »Was denn, was denn!« rief Herbert bestürzt. »Ich habe es doch nur gut gemeint! Meine hohe Anerkennung wollte ich ausdrücken! Wie kann man so was nur mißverstehen – unter uns Kameraden.« Maier ließ seine Hände von Molly. Er beugte sich vor und füllte die Gläser nach. Dabei sagte er: »Ein Mann ist schließlich ein Mann ...« »Mein Bruder ist aber verheiratet!« rief der Leutnant mit
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hoher, sich überschlagender Stimme. In seinen blaßblauen Augen schimmerte trunkene Heftigkeit auf. »Er liebt seine Frau und seine Kinder – über alles!« »Über alles?« fragte Maier sanft, mit fast geschlossenen Augen. »Eher läßt der sich umbringen, als daß er einen Menschen betrügt, der zu ihm gehört.« »Erfreulich!« sagte der Sturmbannführer genießerisch lächelnd. »Höchst erfreulich, daß es so was noch gibt.« »Wir haben noch einige Zusatzpläne für das Unternehmen ›Walküre‹ ausgearbeitet, Herr Generaloberst«, sagte Olbricht. »Na schön – wenn Sie nichts anderes zu tun haben!« Fromm deutete an, daß er sich in seiner Lektüre gestört fühlte – er las in einer Monatszeitschrift über Jagd, Wild und Wald. »Diese Zusatzpläne intensivieren den Einsatz in Berlin noch mehr – in Besonderheit die Absperrmaßnahmen im Bereich des Regierungsviertels.« Das fleischige Gutsherrngesicht des Generalobersts Fromm blickte ungehalten. Er liebte diesen »Plan Walküre« nicht – denn der war nicht, wie er zu sagen pflegte, auf seinem Mist gewachsen. Seine Stabschefs hatten ihn ausgebrütet. »Ersparen Sie mir Einzelheiten!« wehrte Fromm ab. »Oder wollen Sie mich unbedingt mit diesen Rollkommandomethoden belasten? Ich halte nicht viel davon – ich habe sogar meine Bedenken gegen ein derartiges Unternehmen schriftlich festgelegt. Was sagen Sie nun?« Der General Olbricht sagte sekundenlang nichts – der Fuchs Fromm hatte sich also, schon wieder einmal, abgesichert. Seine Offenheit allerdings ließ gewisse Hoffnungen zu. Behutsam meinte daher Olbricht: »Auch der Führer hat schließlich seine Zustimmung ...« »Das hat er!« warf der Generaloberst ein. Der Gedanke daran schien ihn zu amüsieren – seine kleinen gescheiten Augen funkelten. »Schließlich ist dieser Mann ein Dilettant – das zeigt sich hier besonders deutlich. Der ahnt nicht, was ihr
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flotten Jungs ihm da angedreht habt.« Derartige Bemerkungen verwunderten Olbricht nicht – sie fielen gar nicht einmal so selten in diesem Raum; vorausgesetzt: kein Dritter war anwesend. Offiziell war Fromm ein Paladin Hitlers – intern hielt er ihn für einen Trottel. Und Himmler für eine »Wildsau«. Der Weidmann in ihm brach sich immer wieder Bahn. Dennoch hatte selbst er nicht gleich den »Plan Walküre« durchschaut, obgleich er alle dazugehörigen Details genau kannte. Er gab zu: die Grundidee war geradezu genial. Folgende durchaus denkbare Situation wurde vorgeschoben: Im Reich befanden sich bereits einige Millionen Fremdarbeiter – was dann, wenn die sich organisierten und revoltierten? Dann trat »Walküre« in Aktion! Alle Einheiten im Bereich des Ersatzheeres marschierten auf – angeblich zum Schutz von Regierung, Verwaltungsdienststellen, Parteiorganisationen; einschließlich SS und Gestapo. »Kocht eure Suppe allein!« meinte Fromm robust. »Und rechnet nicht damit, daß ich mich von euch verheizen lasse!« »Ihr Verständnis für unsere Situation wird uns genügen, Herr Generaloberst.« Olbricht verbeugte sich knapp – was er soeben erreicht hatte, war nicht wenig. Der schlaue Fromm wußte, was gespielt werden sollte – doch er lehnte es ab, sich unmittelbar zu beteiligen. Das aber hieß: Er war zumindest bereit, stillzuhalten. Der Generaloberst beugte sich wieder über seine Zeitschrift. Olbrichts Zusatzpläne schien er nicht zu beachten. Doch ehe sich der wichtigste Mann seines Amtes zurückzog, blickte Fromm kurz auf und sagte augenzwinkernd: »Wenn ihr euren Putsch macht – dann vergeßt mir den Wilhelm Keitel nicht!« Olbricht war überrascht. Generalfeldmarschall Keitel war Hitlers rechte Hand – und Fromms beharrlicher Widersacher. Sie mochten sich nicht, behutsam ausgedrückt. Sie belauerten sich wie Kampfhähne – ohne deren vernichtungsbereites Temperament zu besitzen. »Habe ich irgend etwas gesagt, das Sie irritieren könnte,
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Olbricht?« Der Generaloberst Fromm schien verwundert zu sein. »Ich habe nichts gesagt – möglicherweise habe ich lediglich laut gedacht. Richten Sie sich danach.« »Wo ist mein Bruder?« fragte der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede. »Ich muß ihn sprechen – es ist dringend.« »Guten Tag«, sagte Elisabeth Gräfin Oldenburg-Quentin mit leichtem Tadel. Sie legte Wert auf Formen – immer noch. »Entschuldigen Sie, bitte!« Der Leutnant errötete. »Aber ich bin wirklich in großer Eile – es ist sehr wichtig.« Jetzt erst betrachtete Elisabeth ihren Besucher näher – und sie erkannte, daß ihn heftige Erregung beherrschte. »Was ist geschehen?« Der Leutnant schüttelte abwehrend den Kopf. »Das möchte ich, bitte, nur meinem Bruder sagen.« Die Gräfin fühlte sich zurückgewiesen – mit nervösen Fingern durchblätterte sie einige Papiere. Dabei sagte sie: »Bedaure – aber Ihr Herr Bruder ist nicht im Amt.« Doch dann, sofort wieder hilfsbereit, sagte sie leise: »Haben Sie denn kein Vertrauen zu mir?« Konstantin hob das jetzt bleich wirkende Gesicht. »Wie können Sie das fragen? Natürlich habe ich zu Ihnen Vertrauen! Aber – ich will Sie nicht belasten!« Er war rührend und ritterlich bemüht – so empfand es Elisabeth – , Rücksicht auf sie zu nehmen. »Wenn ich Ihnen irgendwie helfen könnte – ich würde es sehr gern tun.« »Danke«, sagte Konstantin. Und er berichtete: »Unser Vater, der General, ist schwer verwundet worden. Das muß Mutter unverzüglich mitgeteilt werden. Aber das kann nur mein Bruder.« »Das verstehe ich«, sagte Elisabeth. Sie erhob sich und ging an .das Fenster. Auf ihrer Stirn hatte sich eine Querfalte gebildet – die vermochte jedoch nichts von der klaren, ernsten Schönheit dieses Gesichtes zu zerstören. Schließlich sagte sie: »Ich glaube kaum, daß Ihr Bruder
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heute noch hier erscheinen wird – er ist in einer wichtigen Angelegenheit unterwegs. Doch ich sehe ein, daß Sie ihn sprechen müssen.« Sie ging entschlossen zu ihrem Schreibtisch zurück und vermied es dabei, Konstantin anzusehen. Sie ergriff ein Stück Papier und schrieb ein paar Worte darauf. Diesen Zettel legte sie vor Konstantin hin. Dabei erklärte sie: »Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit werden Sie Ihren Bruder unter dieser Adresse antreffen. Aber das ist eine Adresse, die ich Ihnen gar nicht geben darf; Ihnen nicht und auch niemandem sonst – ohne ausdrückliche Genehmigung des Hauptmanns. Doch in diesem Ausnahmefall kann ich es wohl verantworten.« »Habe ich Sie irgendwie in Schwierigkeiten gebracht?« fragte Konstantin. »Das wollte ich nicht – unter keinen Umständen!« »Machen Sie sich darüber keine Gedanken, bitte! Es ist nur so: Geschriebene Adressen prägen sich leichter ein – das ist eine alte Erfahrung. Geben Sie mir jetzt diesen Zettel wieder zurück – ich werde ihn vernichten.« »Manchmal«, gestand Konstantin fast hilflos, »frage ich mich: Was geschieht eigentlich im Bereich meines Bruders? Aber dann sage ich mir: Er ist mein Bruder! Und das genügt.« »Fahren Sie mit der U-Bahn zum Innsbrucker Platz – von dort aus werden Sie kaum mehr als zehn Minuten zu Fuß zu gehen haben. Fragen Sie aber dabei niemanden nach dem Weg oder nach der angegebenen Adresse. Das sicherste ist, wenn Sie sich vorher genau an Hand des Stadtplanes orientieren.« Konstantin ergriff Elisabeths Hand und neigte sich darüber. Das war eine Geste, die Seltenheitswert besaß, selbst in der Bendlerstraße. Sie spürte sein herabfallendes seidig-blondes Haar auf ihrer Haut – seine Lippen spürte sie nicht. »Gehen Sie!« sagte die Gräfin hastig. »Und vergessen Sie bitte nicht, daß Sie vorsichtig sein müssen. Des Mannes wegen, dessen Adresse ich Ihnen gegeben habe – und Ihres
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Bruders wegen!« An sich dachte sie in diesem Augenblick nicht. »Was spricht dagegen, Berthold? Sage mir alles, was dagegen spricht!« Claus stellte diese Forderung mit stillem Ernst. Er wußte: sein Bruder war bedingungslos aufrichtig. Er kannte keine Lüge; auch nicht das, was man eine »fromme Lüge« zu nennen pflegte. »Dagegen«, sagte Berthold bedächtig, »spricht vieles – die derzeitige Stimmung großer Teile des Volkes etwa, der Ehrenkodex diverser Offiziere und sogar der gesunde Menschenverstand. Was du zu tun entschlossen bist, liegt außerhalb der sogenannten normalen Maßstäbe.« Die Brüder Stauffenberg hatten endlich wieder einen Abend allein für sich. Claus, der Oberst des Heeres, und Berthold, der Oberstabsrichter der Marine, saßen in der kleinen Wohnung am Wannsee beieinander – ein Verwandter hatte hier zwei Zimmer freigemacht. »Eitert dein Auge, Claus?« wollte der Bruder nach längerem Schweigen wissen. »Hast du Schmerzen?« »Nein«, sagte der Oberst und betupfte sein totes Auge mit einem Wattebausch. Berthold beugte sich prüfend vor. »Wenn dieses Auge eitert – und das geschieht immer wieder – , dann ist es nicht tot.« »Willst du damit sagen, Berthold: auch mein noch gesundes Auge könnte gefährdet werden? Fürchtest du, ich könnte völlig erblinden? Nun – vorläufig zumindest noch nicht!« Diese Zertrümmerung eines »Lieblings der Götter«, wie seine Freunde ihn genannt hatten, einer strahlenden Gestalt – sie fand am 7. April 1943 in Afrika statt. Stauffenberg geriet in einen Tieffliegerangriff – Gesicht, Hände, ein Knie wurden zerschossen. Tagelang umgab ihn völlige Dunkelheit. Wochenlang lag er mit schwerem Fieber danieder. Doch kaum, daß er wieder zur Besinnung gekommen war,
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diktierte er einen Brief an General Olbricht: Man könne damit rechnen, daß er in einem Vierteljahr wieder zur Verfügung stehen werde. Und in Berlin traf dann ein Mann ein, der ein Auge und einen Arm verloren hatte und der nur noch drei Finger seiner linken Hand gebrauchen konnte. »Brackwede, unser Freund, scheint sich nicht damit abfinden zu wollen, daß du es bist, der dieses Wagnis unternimmt. Jeder andere, sagt er – du nicht. Dich braucht Deutschland – frei von jeder Blutschuld.« »So pathetisch kann er sein?« sagte der Oberst. »Nun, auch er wird einsehen müssen, daß ich nach Lage der Dinge der einzige und – der letzte bin, der das jetzt noch tun kann. Und wenn er das begriffen hat, wird er ganz nüchtern und realistisch seine Maßnahmen treffen.« Berthold sah auf seine Uhr – er schaltete den Rundfunkapparat ein. Im Deutschlandsender war Musik von Haydn angekündigt – das Cellokonzert in D-Dur. Um das zu hören, hatten sie sich zurückgezogen. Die dunkelwebenden Klänge hüllten sie ein. Nebelhafte Erinnerungsfetzen wallten auf – Musik und Poesie hatten ihre gemeinsame Jugend überglänzt: Claus spielte Cello und wollte Architekt werden; sie lasen Stefan George, spielten mit Hunden und lagen in Wäldern. Was war aus ihnen geworden? »Vergessen wir das«, sagte Claus heftig, nachdem das Allegro verklungen war. »Haydn und Hitler sind nicht in der gleichen Welt denkbar.« Er richtete sich auf und zog mit den drei Fingern seiner linken Hand ein Glas zu sich. »Am kommenden Dienstag, am elften Juli, werde ich in Berchtesgaden sein – mit einer Sprengstoffladung in der Aktentasche.« Fast alle Menschen, die Leutnant Konstantin von Brackwede begegneten, wirkten grau – erdgrau, staubgrau, feldgrau. In den Gesichtern dieser Menschen zeichnete sich Hunger ab, Hast und Erschöpfung, Verstörtheit und müde
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Gleichgültigkeit. Die Augen schienen sich verbergen zu wollen. Ihre Stimmen klangen rauh, heiser, gereizt, verzweifelt, manchmal bösartig scharf – kaum jemals laut. Wohlgenährte Prallheit war inmitten dieser schäbig uniformiert wirkenden Kreaturen selten und auffallend – wie Fliegenpilze im Wald. Kaum jemand, den die verlorenen fünf Kriegsjahre nicht gezeichnet hatten. In der U-Bahn machten diese Menschen dem schlanken, mit dem mattfunkelnden Ritterkreuz ausgezeichneten Offizier Platz – nicht ohne Respekt die meisten, andere unwillig, viele mit Bewunderung. Ein kleines Mädchen starrte ihn entzückt an. Ein begeisterter Greis zischte Anerkennung durch seine Zahnlücken. Der Leutnant half einer Frau, ihre verschmutzten Koffer zu bergen – vermutlich kam sie aus einem der Stadtteile, in denen Bomben gefallen waren. Sie ließ sich diese Hilfe nur zögernd gefallen. Schließlich murmelte sie einige Worte. Sie hießen: »Wenigstens doch zu was nützlich!« Der Leutnant verstand diese Worte nicht und legte grüßend seine Hand an die Mütze. Eine halbe Stunde später stand Konstantin einem Mann gegenüber, der ihm sofort imponierte: ein wuchtig wirkender Kopf mit harten, kantigen, einprägsamen Konturen ragte vor ihm auf. Und dieser Schädel wie aus schwerem Gestein erzeugte bei Konstantin die Vision: ein römischer Philosoph. Dann: ein märkischer Bauer. Hierauf: ein preußischer Beamter. Doch nichts davon stimmte. Der Mann war Julius Leber. »Ist, bitte, mein Bruder bei Ihnen?« fragte Konstantin. Leber stand in einem einfach möblierten Zimmer – es wirkte zerwohnt, wie von zahlreichen Menschen benutzt, von unruhigen Füßen begangen. Dennoch vermittelte dieser Raum das Gefühl: Hier könne man sich ungeniert benehmen. »Sie sind ein Brackwede, nicht wahr?« Der mittelgroße stämmige Mann sagte das nach kurzem prüfendem Blick. »Das sieht man Ihnen an.«
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»Wirklich? Ich dachte immer – mein Bruder Fritz und ich, wir sind, zumindest äußerlich, zwei grundverschiedene Menschen.« »Da irren Sie sich«, sagte Leber. Er nahm auf dem hartgepolsterten Sofa Platz, das zwischen beiden Fenstern stand. Er ersuchte den Leutnant mit einer knappen einladenden Geste, sich neben ihn zu setzen. »Sie haben die gleichen Augen wie er. Schickt Sie der Hauptmann zu mir?« »Nein. Ich hoffte, ihn hier vorzufinden. Ich muß ihn dringend sprechen.« »Er ist angemeldet«, sagte Leber nach kaum wahrnehmbarem Zögern. »Und deshalb ist anzunehmen, daß er kommen wird. Wenn Sie mir bis dahin Gesellschaft leisten wollen, werde ich mich darüber freuen.« Und fast im gleichen Atemzug fragte er: »Arbeiten Sie mit Ihrem Bruder zusammen?« Die Frage verneinte der Leutnant – er wäre erst wenige Tage zuvor von der Front gekommen; nunmehr wäre er zur Luftkriegsschule in Bernau kommandiert. Von der eigentlichen Tätigkeit seines Bruders wisse er so gut wie nichts. Leider. Der Mann mit den klugen, aufmerksamen Augen stellte einige gezielte Fragen – die Antworten, die er erhielt, wollten ihm wenig aufschlußreich erscheinen. Schließlich fragte er, tastend: »Sie tun also an einer Kriegsschule Dienst. Womit beschäftigt man sich eigentlich heute bei einer derartigen Institution? Auch mit Stein, Gneisenau und Scharnhorst?« »Selbstverständlich, damit auch – doch mehr am Rande.« »Das ist bedauerlich«, sagte Leber, »denn wohl niemals in der preußischen Geschichte zuvor und nachher hat es derartig erregende Impulse einer Erneuerung, einer Umbildung, einer wahren Revolution gegeben. Sternstunden für Preußens Offiziere.« Der Leutnant lauschte mit großer Anteilnahme. Dieser Mann namens Leber besaß seine lebhafte Sympathie – ein väterlicher Mensch von wohltuender Ausstrahlung. Konstantin hielt ihn jetzt für einen General in Zivil.
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»Haben Sie schon den Oberst von Stauffenberg kennengelernt?« wollte Leber wissen. »Wer ist das?« fragte der Leutnant. »Sie werden ihn kennenlernen«, sagte Julius Leber. »Dafür wird Ihr Bruder gewiß sorgen. Und vielleicht sollten Sie wissen, daß dieser Stauffenberg, neunzehnhundertundsieben geboren, einem alten süddeutschen Adelsgeschlecht entstammt – es waren treue, bewährte Diener von Staat und Kirche. Und in der Ahnenreihe der Mutter dieses Obersten, einer Gräfin Uxküll, taucht der Name des Generals Gneisenau auf.« Konstantin vergaß völlig, warum er hier war. Der Mann neben ihm hatte sich kaum bewegt, nicht die Stimme gehoben – auch die Augen blickten unverändert, aufmerksam, fast kühl. Den Leutnant erfüllte wachsende Zuneigung. »Und diese Männer, Gneisenau, Stein und Scharnhorst, sind von ihren Zeitgenossen als eine Clique ›schäbiger Rebellen‹ bezeichnet worden; als ›elende Demagogen‹ hat man sie beschimpft. Sogar die Ehre ist ihnen abgesprochen worden!« »Das empfinde ich, heute noch, als beschämend!« Der Leutnant blickte vertrauensvoll zu Leber auf. »Aber die Geschichte hat ihnen recht gegeben – nicht wahr?« »Es ist jedoch niemals leicht, auf die Bewunderung seiner Mitwelt bewußt zu verzichten«, sagte Leber. »Doch es muß sein, wenn man sich einer guten und gerechten Sache verschrieben hat – da ist selbst der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis. Noch den Haß und den Spott muß man auf sich nehmen – wie etwa Scharnhorst, den man einen ›erbärmlichen Bauernlümmel‹ genannt hat.« »Bei Hitler war es ähnlich – nicht wahr?« »Bei wem?« fragte Leber überrascht. Der Leutnant nannte diesen Namen abermals – Leute sollte es gegeben haben, die den Führer einen »Anstreicher« zu nennen sich nicht scheuten. Aber so wäre nun mal diese Welt
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– gleichgültig, rechthaberisch, rückständig! »Aber immer wieder gibt es dann Kräfte, die sich durchsetzen – allen Widerständen zum Trotz. Wie der Führer.« Julius Leber schien derartige Gedankengänge unberührt hinzunehmen. Wie groß seine Selbstbeherrschung war, vermochte Konstantin nicht zu ahnen. Leber sagte lediglich: »Jede Zeit muß ihre eigenen Erfahrungen machen, ihre Schweinehunde erkennen und ihre Helden – ich gebe zu: das ist nicht immer leicht. Nicht für jedermann. Doch wohl unvermeidlich.« Der General der Infanterie Friedrich Olbricht war, bei aller Entschlossenheit, ein behutsamer Mann. Ein konspirativer Geist, wie etwa der General Oster von der Abwehr, war er nicht – er erstrebte Verträglichkeit, Verständnis, wenn irgend möglich Harmonie. »Im Grunde«, sagte er, »ziehen wir doch alle an einem Strang. Irgendwelche Mißverständnisse sollte es unter uns wirklich nicht geben.« Er hatte sich, auf dringenden Wunsch mehrerer Kameraden, mit einem Mann namens Erich Hoepner in einem Landgasthaus im Norden von Berlin getroffen – in der Nähe von Henningsdorf, am Rande der Stolper Heide. Auf einem verdreckten Holztisch zwischen ihnen standen unberührte Gläser mit dem kriegsüblichen sogenannten »Leichtbier« – Jauche, meinten Kenner, schmecke nicht viel schlechter. »Meine Kameraden und ich«, sagte Hoepner, »sind besorgt. Es geht und geht nicht vorwärts. Wie lange sollen wir denn noch warten?!« »Nur noch Tage – vermute ich.« Olbricht bot eine Zigarre an – sie stammte aus Kasinobeständen der Bendlerstraße; er selbst rauchte nicht. »Stauffenberg ist nunmehr entschlossen, die Entscheidung herbeizuführen.« »Kein schlechter Mann«, gab Erich Hoepner zu. »Schließlich kommt er aus meiner Schule!« Olbricht hielt es nicht für angebracht, diese Behauptung einzuschränken. Hoepner galt für die Widerstandsbewegung
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als willkommene Verstärkung. Zwar hatte er noch im Frankreichfeldzug seine Panzertruppen zu gloriosen Siegen geführt – doch im Winter 1941 schien er in Hitlers Augen versagt zu haben: Er entließ ihn und beschuldigte ihn der »Feigheit vor dem Feind«. Er wurde offiziell aus der Wehrmacht ausgestoßen; doch sein Gehalt wurde stillschweigend weitergezahlt. Hitler jedoch hatte sich, wie allgemein geglaubt wurde, einen seiner hartnäckigsten Feinde geschaffen. Erich Hoepner saugte an seinem Leichtbier und fuhr fort: »So sehr ich allerdings unseren Stauffenberg schätze – so sollte doch nicht übersehen werden, daß von ihm Äußerungen existieren, die meinen Kameraden bedenklich erscheinen.« Diese Äußerungen kannte Olbricht – sie waren ihm immer wieder zugeleitet worden. Der Oberst Stauffenberg hatte die Generale unter Hitler, »diese Leute«, mit rücksichtsloser Offenheit »Bürger, Pfründner und Teppichleger« genannt. Er hatte sie als »fragwürdige Existenzen« bezeichnet, die sich »schon zweimal das Rückgrat gebrochen« hätten. Im Oktober 1942 hatte Stauffenberg die von den Generalen geduldeten Zustände als »Skandal« bezeichnet; er hatte »mehr Mut und Entschlossenheit« gefordert, »auch wenn man dabei mit seinem Leben bezahlen muß.« »Sie dürfen nicht vergessen«, meinte Olbricht um Diplomatie bemüht, »daß der Oberst Stauffenberg damit eine ganz bestimmte Sorte der Generalität gemeint hat – keinesfalls Sie und Ihre Kameraden. Auch gewiß nicht mich. Aber Sie werden doch wohl zugeben, daß da gewisse Unterschiede existieren.« Sie existierten. Wer in diesem Reich als Hindernis erschien, wurde beiseite geschafft. Wer »spurte«, erhielt Orden und Auszeichnungen. Besonders Bewährten waren Dotationen zugedacht, auch »Ehrenhonorare« genannt: Verläßliche Feldmarschälle etwa erhielten fünfzigtausend Mark im Jahr »zusätzlich« – gelegentlich auch eine Viertelmillion oder ein Landgut als Sonderprämie.
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»Ich persönlich«, meinte Hoepner einlenkend, »habe ja nichts gegen Stauffenberg. Doch einige meiner Kameraden haben durchaus verständliche Einwände. Da jetzt nur noch er allein dafür in Frage kommt, diesen Hitler in die Luft zu sprengen, besteht natürlich die Besorgnis, daß er seine Bedingungen stellen wird.« »Herr Generaloberst«, erklärte Olbricht fast feierlich, »wir haben im Verlauf der letzten Wochen und Monate an die hundert Ämter ausgehandelt – vom Staatsoberhaupt bis zum Regierungs-Präsidenten. Nicht eins davon hat Stauffenberg für sich selber vorgesehen.« »Und ich?« erkundigte sich Hoepner ungeniert. »Sie sollen, nach wie vor, den Befehlshaber des Ersatzheeres ablösen – also Generaloberst Fromm. Und weitere, größere Möglichkeiten sind offen. Dürfen wir also mit Ihnen rechnen?« »Dann durchaus!« versicherte der von Hitler davongejagte General. Und warnend und fordernd zugleich fügte er hinzu: »Aber nur dann!« »Das darf doch wohl nicht wahr sein!« rief der Hauptmann von Brackwede aus. »Mensch – was hast du hier zu suchen!« Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede trug zeitgemäßes Zivil: klotzige Halbschuhe, zerbeulte Hosen, eine sackartige Leinenjacke, aus der ein kariertes Hemd hervorschimmerte – wie ein feiner Mann sah er nicht aus. Und entsprechend schien er sich benehmen zu wollen, als er Konstantin erblickte. Der Leutnant erklärte seinem Bruder, weshalb er hierhergekommen wäre. Der stand Iässig-abwartend da. Als ihm die schwere Verwundung des Vaters gemeldet wurde, beugte er den Kopf – wie um besser hören zu können. Dann entschied er: »Das wirst du Mutter mitteilen! Du allein! Ich habe jetzt keine Zeit dazu.« »Was?« fragte Konstantin fassungslos. »Dazu hast du keine Zeit?«
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»Nein«, sagte der Hauptmann knapp. »Und ich meine, es wird langsam dringend notwendig, daß du dich mit gewissen Realitäten bei uns vertraut machst – der Tod gehört dazu. In jeder erdenklichen Spielart! Also los – laß dich nicht aufhalten! Ich werde mich später um dich kümmern – zunächst jedoch habe ich hier zu tun.« Konstantin verabschiedete sich von Leber – mit ergebener Ehrfurcht. Dem Bruder reichte er nicht die Hand; der schien das auch als überflüssige Geste zu betrachten. Leber geleitete den Leutnant hinaus – zum hinteren Ausgang hin. Erregt schritt Konstantin davon. »Was liegt diesmal vor?« Julius Leber betrat wieder sein Wohnzimmer, wo der Graf von Brackwede bereits einige Papiere ausgebreitet hatte. Ein Buchhalter schien seine Tagesbilanz vorlegen zu wollen. »Das übliche«, sagte der Hauptmann sachlich. Jetzt über den Bruder zu sprechen, war nicht notwendig – was geschehen war, das war geschehen. Julius Leber setzte sich mit schweren Bewegungen auf sein Sofa; von hier aus lächelte er gelassen. »Also schon wieder eine Denkschrift unseres Freundes Goerdeler – nicht wahr? Doch warum nicht? Es gibt Schlimmeres. Fangen wir also an.« Der Doktor Carl Friedrich Goerdeler war als Sohn eines Richters in westpreußischen Kleinstädten aufgewachsen. Er sollte, nach Hitler, Reichskanzler werden. Von ihm wurde behauptet: er spiele mit dem Gedanken, über Deutschland einen Monarchen – einen Erbkaiser oder Wahlkaiser – einzusetzen. Bereits seit Jahren »streunte« er, wie später die Gestapo verzeichnete, in Deutschland herum: Er besaß keinen festen Wohnsitz; er schlief bei Freunden, in Hotels und vielfach im Christlichen Hospiz in Berlin. Er reiste unter Strapazen an die Ostfront, er suchte Menschen gleicher Gesinnung im Westen auf, er soll in Skandinavien gesichtet worden sein und auch auf dem Balkan. An diesem Tag war er beim Grafen von Moltke aufgetaucht.
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Lauschend stand er zunächst im Treppenflur – sein schmales, blasses, zerknittert wirkendes Beamtengesicht war angespannt. Wie ein gehetztes Tier hob er den Kopf: Er witterte keinen Jagdhund. Also klopfte er gegen die Tür. Helmuth von Moltke öffnete und streckte wortlos die Hand aus. Sie lächelten sich zu – der Graf ein wenig zaghaft, betont optimistisch Goerdeler. Er war stets bemüht, Zuversicht auszustrahlen; doch in letzter Zeit gelang ihm das nicht mehr sonderlich überzeugend. »Was gibt es?« fragte er fast hastig, nachdem er auch Dr. Eugen G. herzlich wenn auch nur kurz begrüßt hatte. »Warum bin ich hergebeten worden? Ist irgend etwas passiert?« »Ich weiß es nicht«, sagte Helmuth von Moltke bedauernd. »Ich kenne den Grund nicht, warum der Graf von Brackwede darauf gedrungen hat, Sie zu sprechen. Er muß jeden Augenblick hier eintreffen.« Goerdeler setzte sich erschöpft auf den Stuhl, der ihm am nächsten stand. »Brackwede – das ist gleichbedeutend mit Stauffenberg, nicht wahr?« »Nicht unbedingt«, meinte der Graf von Moltke. »Brackwede kann unter Umständen auch Nachrichten von der Gestapo haben. Er hat gewisse Kontakte. Bei ihm erscheint ja so gut wie nichts unmöglich.« Goerdeler betastete leicht nervös den Sitz seiner abgewetzten Krawatte. »Stauffenberg«, sagte er dann, »soll, wie man hört, völlig neue Ideen entwickeln – auch überraschende Personal Vorschläge gemacht haben.« Nun schaltete sich Eugen G., der Doktor, ein. »Das sind gewiß falsche, zumindest irreführende Informationen – es wäre gut, sie nicht zu beachten; und sie sollten unter keinen Umständen in unseren Kreisen verbreitet werden.« »Dennoch«, meinte Goerdeler beharrlich, »soll Stauffenberg in letzter Zeit mit Julius Leber konferiert haben. Mehrfach. Ich selbst habe ihn wochenlang nicht mehr gesehen.« »Was kann selbstverständlicher sein!« meinte der von
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Moltke überzeugt. »Es ist doch alles klar – was Ihre Position anbelangt. Zusätzliche Unterredungen sind dabei überflüssig – und niemals ungefährlich.« »Eine gravierende Umstellung in letzter Sekunde – völlig ausgeschlossen!« Doktor G. sagte das überzeugt. »Ich kenne Brackwede ebenso wie Stauffenberg – beide denken durchaus methodisch. Sie verabscheuen überstürzte Abenteuer. Ihre Einstellung Ihnen gegenüber, Herr Goerdeler, hat sich bestimmt nicht geändert.« »Auch Sie sind noch sehr jung«, sagte Goerdeler ohne jeden Vorwurf. »Und jung war auch ich noch vor wenigen Jahren. Und ich besaß auch viel Ehrgeiz. Nur war ich nie ein Feuerkopf.« »Nun«, sagte der Graf von Moltke, »Sie gaben Ihre Stellung als Oberbürgermeister von Leipzig auf, weil Sie nicht dulden wollten, daß das Mendelssohn-Denkmal vor dem Gewandhaus verschwinden sollte.« »Vielleicht«, meinte Goerdeler in einem Anfall von Müdigkeit, »hatte ich mich in dieser Angelegenheit zu unbesonnen festgelegt – vielleicht mußte ich gehen, um nicht mein Gesicht zu verlieren?« »Sie gingen«, rief der Doktor, »um sich selbst treu bleiben zu können! Was kann klarer sein?« Als der Reichskanzler Brüning, 1932, am Ende war, schlug er Hindenburg, dem damaligen Reichspräsidenten, zwei mögliche Nachfolger vor. Beide waren Oberbürgermeister, der eine in Köln, der andere in Leipzig. Sie hießen Adenauer und Goerdeler. Hindenburg aber wählte Papen – und damit, indirekt: Hitler. Adenauer zog sich in seinen Rosengarten in Rhöndorf zurück. Goerdeler blieb zunächst Bürgermeister, betätigte sich als »Reichssparkommissar« und ging schließlich in die Industrie – die Firma Bosch nahm ihn bereitwillig auf. Er begann zunächst Reiseberichte, dann Denkschriften zu verfassen. 1940 lobte er zwar die Leistungen der Wehrmacht beim Sieg über Frankreich, warf jedoch gleichzeitig Hitler die
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»Maßlosigkeit eines Napoleon« vor. »Man muß einen Menschen verabscheuen«, sagte der ehemalige Sparkommissar, »der sich als schlichter Mensch ausgibt und dabei in Millionen wühlt – zu seinem persönlichen Bedarf.« Das Gespräch wurde jäh unterbrochen, als der Hauptmann Graf von Brackwede erschien. Er nahm sich kaum Zeit, die Anwesenden zu begrüßen. Er verkündete: »Die Gestapo hat gegen Sie, Herr Goerdeler, gestern einen Haftbefehl erlassen – das ist die Situation, mit der wir fertig werden müssen.« Die Anwesenden schwiegen. Der Doktor blickte empört; der Graf von Moltke schien bestürzt. Goerdeler hatte die Augen sekundenlang geschlossen. Dann sagte er, als sei er völlig unberührt: »Früher oder später war das zu erwarten.« Brackwede nickte. »Später wäre besser gewesen«, sagte er. »Fest steht jedenfalls, daß die Gestapo Sie sucht – und in ein oder zwei Tagen wird wohl auch die Kripo eingeschaltet werden. Damit aber würde eine Armee von Greifern mobilisiert.« »Was ändert sich dadurch an meinem Leben?« sagte Goerdeler mit schlichter Ergebenheit. Die Freunde nannten ihn nicht zufällig den »Wanderprediger« oder »Landpfarrer«. »Ich habe mit der Abwehr bereits Verbindung aufgenommen«, sagte Brackwede. »Man ist dort bereit, Sie aus Deutschland hinauszufliegen – innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden.« »Wie?« Goerdeler richtete sich auf. »Will man mich abschieben? Haben Sie diesen Plan mit Stauffenberg abgesprochen?« »Wir wollen Sie in Sicherheit bringen«, erklärte der Hauptmann fest. »Und das ist alles, was wir wollen.« »Es ist das Beste«, versicherte Moltke. Auch Dr. Eugen G. stimmte zu. »Die einzige Möglichkeit – unter diesen Umständen.« »Ich bleibe«, entschied Goerdeler unbeirrbar. »Ich will da
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sein, wenn es geschieht. – Und es wird doch jetzt endlich geschehen, nicht wahr?« In diesen unruhigen ersten Tagen des Juli 1944 tauchte auch plötzlich der Gefreite Lehmann, genannt »Gartenzwerg«, wieder in Berlin auf. Sein Erscheinen löste in der Bendlerstraße Erstaunen und Unruhe aus – das jedoch nur bei den Eingeweihten; und das war nicht viel mehr als ein Dutzend von hundert Offizieren. »Guten Tag, schöne Dame«, rief er Elisabeth zu – er steckte zunächst lediglich seine Nase zur Tür herein. Beim Anblick der Gräfin grinste er freudig – er hatte schon immer eine Schwäche für diesen Schwan im Hühnerstall gehabt, wie er es nannte. »Sollten Sie etwa in der Zwischenzeit die Sprache verloren haben?« »Mein Gott!« rief die Gräfin Oldenburg-Quentin entsetzt. »Wie kommen Sie hierher?« »Mit der Eisenbahn, Gnädigste – direkt aus Paris! Dennoch führt mich mein erster Weg in Berlin direkt zu Ihnen.« Der Gefreite ergriff die ihm entgegengestreckte Hand und schüttelte sie herzlich. »Ich sage nicht, daß Sie schöner geworden sind, denn das ist gar nicht möglich. Ich behaupte lediglich: Sie haben sich glänzend gehalten.« »Ich bin sicher«, versuchte Elisabeth Gräfin Oldenburg zu scherzen, »daß ich zumindest sehr schnell graue Haare bekommen werde – bei all dem, was ich hier erlebe.« »Verzagen Sie nicht – auch grau wird Ihnen vorzüglich stehen; Sie sind der Typ dafür.« Er benahm sich, als wäre er erst gestern hiergewesen – er ging zum Regal, schob die Akten Hoch- und Landesverrat zur Seite und angelte den dort lagernden Cognac hervor. »Auch ein Gläschen, Gnädigste?« Die Oldenburg nickte, nahm ihr Glas in Empfang und sagte dann, ehe sie trank: »Ich verstehe das nicht – Sie dürfen doch gar nicht hier sein. Wo liegt da der Fehler?« »Ganz einfach – wohl bin ich nach Paris abgeschoben worden, doch man hat vermutlich vergessen, mich dort festzueisen. Und so bin ich wieder einmal hier – als
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Briefträger.« »Sie bringen Nachrichten aus Paris?« »Nachrichten ist gar kein Ausdruck dafür!« Der Gefreite Lehmann schlug sich mit beiden Händen gegen die Brust. »Ich bin geradezu ausgestopft mit prima Material. Keine Kleinigkeit bei dieser Sauhitze – Pardon, bei diesen hochsommerlichen Temperaturen.« Elisabeth Oldenburg lächelte. Seine Unbekümmertheit war auf erheiternde Weise ansteckend. Selbst Brackwede pflegte seine Gelassenheit zu bestaunen. »Was meinen Sie wohl, wie der Hauptmann Sie begrüßen wird?« »Nun, nicht gerade mit offenen Armen – was?« »Ich fürchte, er wird Sie kaum gleich wieder nach Paris zurückschicken. Und das tut mir fast leid – Ihretwegen.« »Donnerwetter!« rief Lehmann. »Machen Sie mich nicht eitel! Am Ende haben Sie mich womöglich noch in Ihr Herz geschlossen!« Elisabeth nickte. »Es gibt nur wenige Menschen, Herr Lehmann, um die ich mir Gedanken und Sorgen mache – ich möchte Sie nicht gern in Gefahr sehen.« »Danke«, sagte der Gartenzwerg und füllte sein Glas abermals, bedächtig, mit todernsten Augen. »Da scheine ich ja gerade zur rechten Zeit gekommen zu sein.« Während der Gefreite Lehmann, auf Hauptmann von Brackwede wartend, mit der Gräfin plauderte, über Paris zumeist, erschien der Oberleutnant Herbert. Nach einer Verbeugung mittleren Grades vor der Gräfin rief er kameradschaftlich-ermunternd Lehmann zu: »Habe ich mich also doch nicht getäuscht! Sie sind es tatsächlich! Das nenne ich eine Überraschung.« Lehmann grinste zäh; er schaltete prompt auf harmlosbieder. »Bin gleichermaßen überrascht, Sie immer noch hier zu erblicken, Herr Oberleutnant.« Er bemerkte, ohne erst näher hinsehen zu müssen, daß die Gräfin die von ihm überbrachten Schriftstücke in eine Mappe packte – so, als
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verrichte sie irgendeine Routinearbeit. Der Oberleutnant Herbert besaß Witterung für gewisse Verhältnisse jenseits jeglicher Rangordnung – in der Bendlerstraße hatte er das gelernt: Da konferierte ein Oberst Stauffenberg souverän mit Generalen, ließ sich aber, schon im nächsten Augenblick, von einem Hauptmann von Brackwede willig beraten. Er selbst, Oberleutnant Herbert, hatte neuerdings sogar mit Reichsleitern zu tun – und bei allem gebotenen Respekt: er verkehrte mit ihnen wie mit seinesgleichen. »Ich bin hier Verbindungsoffizier – zwischen dem Oberkommando und den Partei- und Staatsdienststellen.« Der Gartenzwerg staunte willig. »Nein – was es nicht alles gibt!« »Eine sehr interessante und verantwortliche Stellung.« Herbert klärte bereitwillig den Gefreiten auf, der da sichtlich die Gunst der Gräfin besaß. »Eine Stellung übrigens, die ich Hauptmann von Brackwede verdanke.« »Kaum zu glauben«, versicherte Lehmann gekonnt naiv. »General Olbricht erwartet Sie«, sagte die Gräfin sachlich zum Gefreiten. Sie ergriff die Mappe mit den nunmehr sorgfältig verpackten Unterlagen. »Bitte nehmen Sie das für ihn mit – er braucht es dringend.« »Zu Befehl, Frau Gräfin!« rief der Gartenzwerg, nahm die Mappe und entschwand. Der Oberleutnant Herbert sah dem Gefreiten Lehmann verwundert nach. »Wie kommt der denn hierher? Ich dachte immer, der ist irgendwo an der Front.« Die Gräfin Oldenburg hielt es für ratsam, auf vorsichtige Weise freundlich zu sein. In diesem gewiß heiklen Fall waren keine Komplikationen zu gebrauchen. »Ach, wissen Sie – Befehle von gestern können schließlich heute schon wieder überholt sein.« »Und was will er bei Olbricht?« »Woher soll ich das wissen?« meinte die Gräfin betont
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gleichmutig. Und leicht lächelnd fügte sie hinzu: »Vielleicht sollten Sie General Olbricht danach fragen.« »Ich werde mich hüten!« rief Herbert spontan. »Das geht mich doch nichts an – oder?« »Das könnte ein durchaus richtiger Standpunkt sein«, meinte die Gräfin empfehlend. Der Weg zu General Olbricht führte in der Bendlerstraße zumeist durch das Arbeitszimmer seines Chef des Stabes – Oberst Mertz von Quirnheim. Auch der schien beim Anblick des Gefreiten Lehmann überrascht – doch zugleich auch erfreut. »Mann!« sagte er herzlich. »Sie kommen wie gerufen.« Er meldete die Ankunft des Gefreiten dem General. Olbricht erhob sich sofort, sagte: »Ausgezeichnet« und fügte dann hinzu: »Verständigen Sie Stauffenberg!« Hierauf ging er dem Gefreiten bis an die Tür seines Zimmers entgegen. »Schön, Sie zu sehen!« versicherte er nach kraftvollem Händedruck. »Wie hat es Ihnen in Paris gefallen?« »Formidable!« rief der Gartenzwerg und nahm im Generalssessel Platz – der Befehlshaber benutzte ihn immer, wenn er bei Olbricht Besprechungen abhielt. »Phantastisch wohl habe ich mich gefühlt – auch in jenen Bereichen, die Sie vermutlich allein interessieren. Dort klappt der Laden garantiert! General von Stülpnagel und Oberstleutnant von Hofacker legen sich mächtig ins Zeug – und nicht nur sie allein.« Der Gefreite legte die Mappe mit den mitgebrachten Dokumenten auf den Tisch. Olbricht und Mertz beugten sich darüber und begannen, die einzelnen Blätter zu ordnen. Als der Oberst von Stauffenberg hereinkam, rief der General ihm zu: »Paris scheint ganze Arbeit geleistet zu haben.« Stauffenberg warf nur einen kurzen Blick auf das vorliegende Material. Dann widmete er sich interessiert dem Gefreiten Lehmann. »Wollen Sie gleich wieder nach Paris zurück – oder haben Sie Lust, noch ein paar Tage
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hierzubleiben?« »Warum fragen Sie?« wollte der Gartenzwerg, ehrlich erstaunt, wissen. »Sie können befehlen.« »Aber eben das will ich nicht – nicht in diesem Fall.« Stauffenberg beugte sich vertraulich vor. »Doch ich könnte Sie hier gut gebrauchen.« »Dann ist es unnötig, noch darüber zu reden, Herr Oberst. Dann bleibe ich selbstverständlich – gern.« »Ohne zu fragen, was wir von Ihnen erwarten?« Lehmann lachte auf. »Ich erhoffe das Schlimmste – für gewisse Leute. Und ich bin sicher, daß wir uns nicht enttäuschen werden.« Nun lachte Claus von Stauffenberg. Olbricht und Mertz blickten überrascht von ihrer Lektüre auf. Doch diese Heiterkeit wurde plötzlich unterbrochen – der Hauptmann von Brackwede betrat den Raum. Mit hocherhobener Adlernase – was ein den Freunden bekanntes Zeichen von streitbarem Unwillen war – stellte er sich vor dem Gefreiten Lehmann auf. »Ich traue meinen Augen nicht, Menschenskind!« rief er aus. »Sie sind tatsächlich hier – und ich dachte, die Gräfin leistet sich einen schlechten Scherz mit mir.« »Wie geht es Ihnen, Herr Hauptmann?« sagte der Gartenzwerg. »Sie sehen nicht gerade sehr fröhlich aus – haben Sie Sorgen mit Ihrem Bruder?« »Der Gefreite«, schaltete sich Olbricht ein, »hat ganz ausgezeichnetes Material mitgebracht – nicht nur die Bestätigung, daß alle Pläne exakt durchgeführt werden, auch einige bemerkenswerte neue Vorschläge. In den nächsten Tagen kommt Hofacker selbst.« »Er soll herzlich willkommen sein«, sagte der von Brackwede mit Ironie, »denn er wird schließlich noch nicht von der Gestapo gesucht – wie unser vergnügungssüchtiger Freund.« Und fordernd fügte er hinzu: »Sie müssen hier sofort wieder verschwinden, Lehmann – innerhalb der nächsten
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Stunden, bevor die Bluthunde Witterung bekommen.« »Entschuldige, Fritz«, sagte jetzt der Oberst von Stauffenberg leise, fast bittend, »aber ich brauche ihn.« »Gut!« sagte der Hauptmann von Brackwede entschieden. »Wenn das so ist, dann will ich zustimmen. Unter einer Bedingung allerdings: solange Lehmann in Berlin gebraucht wird, darf er die Bendlerstraße nicht verlassen. Denn nur hier ist er vor der Gestapo sicher.« Über Berlin röhrten die Bomberverbände. Sie kamen jetzt bei Tag und Nacht – mit der Regelmäßigkeit, mit der einstmals die Bäckerjungen und Zeitungsfrauen gekommen waren. Bombenangriffe gehörten seit einiger Zeit mit zum Berliner Tagesablauf. Der Hauptmann von Brackwede betrat sein Vorzimmer, sah sich suchend um und schien überrascht, allein die Gräfin Oldenbürg zu erblicken. »Nanu!« rief er aus. »Wo sind denn Ihre Trabanten? Ich wollte Sie gerade mit meinem Bruder in den Keller schicken.« »Ihr Bruder und der Gefreite Lehmann haben sich, auf meinen Ratschlag hin, zu Oberleutnant Herbert begeben – mit ihm werden sie vermutlich die Luftschutzräume aufsuchen.« »Sie mischen hier neuerdings ganz schön mit, Gräfin«, sagte der Hauptmann mit leicht warnenden Untertönen. »Das ist gegen unsere Vereinbarung.« »Haben wir etwa auch vereinbart, daß ich hier – bei Bedarf – als eine Art Lockvogel in Erscheinung treten muß?« Der von Brackwede lachte amüsiert auf. »Das«, versicherte er heiter, »war weder geplant noch wurde es von mir – in diesem Ausmaß – für möglich gehalten. Dennoch gefällt es mir, das gestehe ich offen. Sie wirken auf meinen Bruder wie ein Magnet – er kreuzt hier auf, sobald er auch nur eine halbe Stunde Freizeit hat.« »Und Sie nutzen das aus – es ist für Sie eine willkommene Gelegenheit, ihn zu bearbeiten. Das will ich aber nicht!« »Der Kleine scheint Ihnen bereits ein wenig ans Herz
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gewachsen zu sein – wie? Verzeihen Sie – ich wollte Sie keinesfalls in Verlegenheit bringen. Und warum schicken Sie ihn jetzt zu Herbert?« »Das einmal als Ausgleich! Denn Ihre Aufklärungsmethoden reichen völlig aus – wenn aber die von Lehmann noch hinzukommen, ist das reichlich viel für Konstantin. Außerdem schnüffelt dieser Herbert hier bei jeder Gelegenheit herum.« »Keine Sorge«, meinte der Hauptmann zuversichtlich. »Der hält mich für einen ausgewachsenen Nazi – ich bin sogar sein Vorbild.« »Wie lange wohl noch?« Die Gräfin schien sich mit einem Aktenstück zu beschäftigen. »Außerdem ist vermutlich Ihr Bruder so ziemlich der einzige, der dieses schöne Trugbild aufrechterhalten kann – seine Gesinnung ist absolut zweifelsfrei.« »Das ist es doch, woran schon einige Millionen gestorben sind! Wie viele denn noch?« Die Gräfin Oldenburg sah mit Erschrecken, wie erregt der Hauptmann war – so hatte sie ihn noch niemals gesehen. Doch mit der gleichen Plötzlichkeit, mit der sein Ausbruch erfolgt war, erlosch er auch wieder. Brackwede schüttelte seinen Kopf – dann bemühte er sich zu lächeln. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Das kommt bei mir in letzter Zeit gelegentlich vor – doch nur, wenn ich allein oder unter vertrauten Freunden bin.« Elisabeth schien leicht zu erröten – der Hauptmann hatte ihr ein ungewöhnliches Kompliment gemacht. Rasch sagte sie: »Soll ich jetzt die Nachrichtenzentrale anrufen? Ich nehme an, Sie wollen wie üblich wissen, wo diesmal der Bombenteppich liegt.« »Bitte tun Sie das, Elisabeth.« Sie mußte etliche Sekunden warten, bis sie die notwendige Verbindung bekam. »Wenn Sie es wünschen«, sagte sie dabei, »gehe ich nachher in den Luftschutzkeller.« »Das würde ich gern sehen – nicht zuletzt unseres lieben
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Gartenzwergs wegen. Der bekommt es nämlich fertig, mit Herbert gewisse Idiotenspiele zu betreiben – und was dann, wenn der das womöglich merkt? Außerdem, wie gesagt, weiß ich meinen Bruder gern in Ihrer Gesellschaft.« Elisabeth Gräfin Oldenburg neigte den Kopf – dann sagte sie: »Der Bombenteppich liegt diesmal südlich des Tiergartens – etwa beim Wittenberger Platz.« Der Hauptmann warf einen Blick auf den Stadtplan, der neben seinem Schreibtisch an der Wand hing. »Fragen Sie, bitte, nach der Goethestraße.« »Die Goethestraße«, berichtete die Gräfin nach mehreren Rückfragen, »liegt mitten im betroffenen Gebiet.« Brackwede erhob sich unverzüglich. Er schnallte sein Koppel um und griff zur Mütze. Dabei sagte er: »Ein Dienstwagen soll vorfahren – jeder Dienstwagen, der gerade greifbar ist; und wenn es der des Generalobersten sein sollte. Ich verantworte das.« Die Goethestraße, die der Hauptmann von Brackwede nach schneller Fahrt erreichte, schien ein einziges Trümmerfeld zu sein. Schwarzblauer Qualm lag über dem Gelände; dicke Staubwölken waren wie ein zäher Nebel. Menschen hasteten über die zerwühlten Straßen, zerrten Einrichtungsgegenstände hinter sich her, schleppten Verwundete, schoben Balken und Mauerreste zur Seite. Luftschutzkommandos waren brüllend in Aktion getreten. Krankenwagen krochen mit jaulenden Motoren näher, wurden vollgefüllt, fuhren davon. Ein Mensch schrie. Eine zusammenkrachende Fassade erstickte diesen Schrei wie mit dicken Decken. In diesem dampfenden, glühenden, stinkenden Trümmerfeld, das Brackwede mit keuchendem Atem suchend durchschritt, prallte er auf eine massige, spuckende und fluchende Gestalt: Gestapo-Maier stand vor ihm! Sie begrüßten sich inmitten dieser süßdampfenden Gestank- und Qualmwolken mit fast brüllender Heiterkeit. Das war die beste Methode, ihre Überraschung zu überspielen.
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»Sie haben mir hier gerade noch gefehlt!« rief der Hauptmann. »So trifft man sich!« schrie Maier. »Zwei Seelen und ein Gedanke – was? Oder sollten Sie hier rein zufällig spazieren gehen wollen?« »Nicht doch – ich gedenke auf der gleichen Hochzeit zu tanzen wie Sie!« Der von Brackwede schien diese Bemerkung ungemein komisch zu finden – auch Maier lachte, wenn auch mit verkniffenen Augen. Der Staub hatte ihnen Tränen entlockt – und das war vermutlich eine der ganz wenigen Möglichkeiten, sie zum Weinen zu bringen. Sie schienen das gleiche Ziel zu haben. Sie stampften entschlossen durch die noch heißen Trümmer, auf die Mitte der Goethestraße zu. Hier stand nur noch ein einziges Haus. Und das gehörte einem Mann namens Beck. »Kaum zu glauben«, gestand der Sturmbannführer kopfschüttelnd. »Sollte etwa ausgerechnet der davongekommen sein?« »Vielleicht ist das auch eine Art Vorsehung – wenn ich die Lieblingsvokabel unseres verehrten Führers gebrauchen darf.« Der Hauptmann zwinkerte vertraulich; und er sah Maier, gleichfalls vertraulich, grinsen. »Ich schlage vor, jeder kümmert sich zunächst mal um seine Leute. Dann gehen wir einen saufen und machen gemeinsamen Kassensturz – die Beute teilen wir. Einverstanden?« Sie trennten sich vorübergehend – doch ohne sich völlig aus den Augen zu lassen. Der von Brackwede ging auf das Haus zu, das Generaloberst Ludwig Beck gehörte, einst Chef des Generalstabes, Deutschlands anerkannt bestem Strategen; mit Moltke und Schlieffen oft in einem Atemzug genannt. Jetzt jedenfalls bewegte sich der Mann, der als Staatsoberhaupt des Reiches nach Hitler vorgesehen war, in zerbeulten, verdreckten Korkenzieherhosen. Ein grobes Leinenhemd bedeckte seine Brust; er schwitzte heftig und blickte, einen Wassereimer schwenkend, konzentriert in die dunkel qualmende Glut.
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»Sie leben also noch!« stellte der Graf von Brackwede erleichtert fest. »Und ob ich lebe!« sagte der Generaloberst grimmig. Sein hageres Gesicht blickte fast feierlich wie immer. »Ich helfe gerade meinem Nachbarn beim Löschen – und damit auch den Gestapoleuten, die sich bei ihm eingenistet haben. Ich habe sogar mitgeholfen, deren Unterlagen in Sicherheit zu bringen. Darunter eine Menge Fotos, die von meinen Besuchern aufgenommen worden sind.« »Ganz ausgezeichnet!« sagte der Hauptmann. »Das nenne ich wahre Volksgemeinschaft.« »Wie – Sie finden das ausgezeichnet?« Nicht zum erstenmal hatte der Generaloberst Anlaß, sich über diesen Offizier zu wundern. »Sie sind nicht besorgt darüber, daß man einen Trupp Gestapoleute unmittelbar neben mir einquartiert hatte – zu meiner Beobachtung?« »Nichts anderes war zu erwarten gewesen. Und falls Sie das beruhigt: Das ist keine Neuigkeit für uns.« Brackwede blickte prüfend um sich. »Die Hauptsache ist – Ihr Haus steht! Und was noch wichtiger ist: nichts ist Ihnen abhanden gekommen! Oder?« »Nicht der kleinste Zettel – wenn Sie etwa das meinen.« »Dann ist es gut«, sagte der Hauptmann erleichtert. »Dann will ich Sie nicht weiter von Ihrer Beschäftigung abhalten – meine Freunde von der Gestapo warten schon darauf, von mir unterhalten zu werden. Und das soll gern geschehen.« »Wie groß wird vermutlich der Raum sein, in dem das Ding hochgehen soll?« wollte der Gefreite Lehmann wissen. »Danach muß ich die Menge des Sprengstoffes berechnen.« »Das ist nicht verbindlich zu sagen«, meinte Stauffenberg bedächtig. »Es existieren da zwei Möglichkeiten – einmal das Gebäude auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, dann der Befehlsbunker im Hauptquartier Wolfsschanze bei Rastenburg.« »Bunker! Das klingt gut. Das sind dicke Mauern und
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schmale Fenster – eine sichere Sache.« Sie saßen im Arbeitszimmer des Obersten von Stauffenberg dicht nebeneinander – es war, als betrachteten Kunstfreunde einen Kupferstich. Doch auf dem Tisch vor ihnen lagen lediglich einige leere Blätter – Lehmann gedachte, auf sie Ziffern und Formeln zu schreiben. »Wir müssen jede dieser beiden Möglichkeiten berechnen«, sagte der Oberst. »Der einzige Anhaltspunkt, den ich Ihnen geben kann, ist dieser: Der Raum, in dem diese Lagebesprechungen stattfinden, ist niemals ein Saal – stellen Sie sich vor: kaum mehr als fünfundzwanzig Personen haben darin Platz.« »Das muß sich machen lassen«, sagte der Gefreite. »Das von Generalmajor von Gersdorff gelieferte Material ist absolut erstklassig – allerbeste britische Qualität. Die benötigte Menge wird sich, sogar bequem, in einer Aktentasche unterbringen lassen. Müssen Sie mit Kontrollen rechnen?« »In jedem Fall«, erklärte Stauffenberg. »Gewöhnlich geschieht folgendes: Die Teilnehmer an der Lagebesprechung legen vorher ihre Koppel ab – sie erscheinen also ohne Waffen.« »Wird das kontrolliert?« »Ziemlich regelmäßig. Verantwortlich dafür ist der SSFührer Rattenhuber mit seinen Leuten – Hitlers internste Leibgarde. Es kann vorkommen, daß sie Generale abtasten wie Ganoven.« Gartenzwerg Lehmann blieb unbeeindruckt. Claus von Stauffenberg wußte des Gefreiten bedächtige Gründlichkeit zu würdigen. Er war sicher, den entscheidenden Mann für diesen Teil seines Vorhabens gefunden zu haben. »Die Teilnehmer an diesen Veranstaltungen«, sagte Lehmann, »bringen aber Unterlagen mit – Akten etwa; beziehungsweise Akten in Taschen. Wird das auch von diesen Rattenhubern untersucht?« »Ich habe es noch nicht erlebt – doch es ist nicht
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ausgeschlossen, daß sie darauf bestehen, Einblick in meine Aktentasche zu nehmen.« »Das ließe sich manipulieren«, meinte der Gartenzwerg zuversichtlich. »Ich kann, in Schichten, eine Sprengstoffladung herstellen, die wie ein Bündel Akten aussieht. Ich werde also entsprechend montieren.« »Der heikle Punkt soll jedoch der Zünder sein«, gab Stauffenberg zu bedenken. »So manch ein Fehlschlag hat sich allein deswegen ereignet.« »Dieser Säurezünder«, erklärte der Gefreite sachverständig, »muß eingedrückt werden – und zwar mit einer Zange. Die Säure zersetzt eine Sperrvorrichtung – diese löst sodann den Schlagbolzen aus. Völlig lautlos – bis zu dem Augenblick, wo es knallt!« »Die entsprechende Zeitberechnung soll ungemein schwierig sein!« »In Jahreszeiten, in denen die Temperaturen sprunghaft wechseln, durchaus. Nicht jedoch im Hochsommer, wie jetzt. An heißen Tagen, etwa zwischen fünfundzwanzig und dreißig Grad, kann eine ziemlich genaue Berechnung garantiert werden. Welche Zeitspanne werden Sie benötigen?« »Fünfzehn Minuten – ungefähr.« »Dann brauchen Sie, wenn es am Tage geschieht, mit nur minimalen Schwankungen zu rechnen – mit einer Minute etwa, minus oder plus.« »Ich bin jetzt sehr zuversichtlich«, sagte der Oberst von Stauffenberg erleichtert. »Seitdem ich Sie am Werk weiß, sehe ich weit weniger Komplikationen.« »Diese Besprechung zwischen uns kann kaum mehr als ein bescheidener Anfang sein«, meinte der Gefreite Lehmann vorsichtig. »Zahllose Details müssen erst noch genau festgelegt werden.« »Versuchen wir, nichts – nicht die geringste Einzelheit – zu übersehen.« Nachdem sie ihre Kreise auf dem Trümmerfeld
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Goethestraße gezogen hatten, trafen sie sich verabredungsgemäß wieder: bei einem übriggebliebenen Halteschild der Straßenbahn. Sie grinsten sich an – staubig, schweißig, leicht erschöpft. »Nun«, wollte der von Brackwede wissen, »waren Ihre Schafe erfolgreich – oder nicht?« »Kommt darauf an, was Sie darunter verstehen«, sagte Maier ausweichend. »Vielleicht sollten wir uns wieder einmal aussprechen – die Gelegenheit scheint günstig. Was halten Sie vom Weinhaus Handler? Sie sind dort mein Gast.« »Abgemacht!« Der Hauptmann von Brackwede lächelte. Daß Maier bereit war, sich bei Handler in erhebliche Unkosten zu stürzen, war kein ungünstiges Zeichen. Denn das Weinhaus Handler – im Zentrum gelegen – forderte ganz normale Monatsgehälter für eins seiner Festessen. Dafür bot es dann auch Erstaunliches, selbst noch im fünften Kriegsjahr: geräucherte Gänsebrust aus der Mark; Aale aus Pommern; Rotwild aus Ostpreußen. Jedoch: der Eingang war separat – und Einlaß bei Handler fand nur, wer sich vorher angemeldet hatte; von den Stammgästen aus derzeit hohen und höchsten Kreisen abgesehen. Maier gehörte dazu. »Heute soll es Ente in Orangen geben«, sagte der Sturmbannführer ermunternd. »Auch frische Langusten sind angekündigt worden.« »Hoffentlich ist Ihnen inzwischen nicht der Appetit vergangen«, scherzte der von Brackwede. Die Trümmer, die sie umgaben, qualmten weiter. Menschen schleppten Koffer; Tote wurden am Straßenrand aufgestapelt. Maier und von Brackwede schienen zu plaudern. Ihre Begleiter bemühten sich um sie – sie bearbeiteten sie mit Bürsten, die in jedem Fahrzeug zu liegen pflegten. »Was halten Sie davon?« fragte der Sturmbannführer. »Eine Omelette mit Champignons – anstelle von Ochsenschwanzsuppe.«
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Erneut flammten hinter ihnen zersprühende Feuerfächer auf. Die Luftschutz-Kommandostimmen wurden wieder lauter. Von Brackwede und Maier staubten leicht. Der SS-Putzer schwitzte: Das Schwarz des Sturmbannführers machte wesentlich mehr Mühe als das Feldgrau des Offiziers. Außerdem nahm es der Hauptmann nicht so genau damit. Seine Bemerkung hierzu: »Dreckig wird in dieser Zeit jeder – irgendwie.« Als sie dann bei Handler eintrafen, wurden sie respektvoll willkommen geheißen. Es war sogar noch Maiers Lieblingstisch frei: Der stand in der hintersten Ecke des zweiten Raumes. Von ihm aus ließ sich das ganze Lokal überblicken. »Das Beste vom Besten!« rief der Sturmbannführer dem herbeieilenden Oberkellner zu. Das Lokal war – wie immer – nicht sonderlich gefüllt: einige Herren des Auswärtigen Amtes mit Damen machten es sich darin bequem; ein Minister mit Freundin; ein Staatssekretär mit einem japanischen Ehepaar; eine kleine Gruppe feiernder Offiziere um einen Oberst – der trug ein fabrikneues Ritterkreuz; ein Staats -Schauspieler mit willigem Nachwuchs. Gestapo-Maier kannte die meisten der Anwesenden; von einigen existierten auf seiner Dienststelle Akten – für alle Fälle. Bereits beim Portwein – er schmeckte ihm nicht, doch er wollte als ein Mann von Welt gelten – kam der Sturmbannführer auf sein Thema. »Kennen Sie den Generaloberst Beck näher?« Der Hauptmann von Brackwede war auf diese Frage vorbereitet. Bedächtig sagte er: »Ich halte von Beck ungefähr das gleiche wie Sie. Ich weiß, er steht auf Ihrer Liste. Und wie ich Sie kenne, würden Sie ihn gern vereinnahmen – was?« »Klar«, sagte Maier. »Das wäre immerhin ein Brocken!« »Aber einer, der nicht so leicht zu schlucken ist – man könnte daran ersticken, nicht wahr?« Der Gestapomann, an seiner Ente kauend, nickte heftig.
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»Das ist der springende Punkt! Wenn ich den Generaloberst hochgehen lasse und es kommt nichts praktisch Greifbares dabei heraus – dann könnte das verdammt peinlich werden.« »Verstehe, Maier. Ein eklatanter Mißgriff Ihrerseits – und Sie landen womöglich bei einer Bewährungseinheit. Sie wollen und müssen überzeugende Erfolge aufweisen. Und ich soll Ihnen dabei helfen.« »Das dürfte doch gar nicht so schwer sein! Dieser Mann schreibt und schreibt und schreibt – der muß dicke Aktenbände im Hause haben. Darin muß es doch Sätze geben, die ihm das Genick brechen.« »Und am liebsten hätten Sie heute, mitten in den Trümmern, eine Art Rettungsaktion gestartet – Hilfe für den ausgebombten Generaloberst! Und dabei nichts wie ‘ran an seine Unterlagen.« »Dazu ist es noch nicht zu spät!« meinte Maier lauernd. »Ein Anruf genügt – meine Leute warten nur darauf. Und eben deshalb, Mensch, sitze ich doch hier mit Ihnen. Ich brauche Ihren Ratschlag! Soll ich zupacken oder nicht? Nun?« »Ich glaube, wir sind jetzt an einem hochinteressanten Punkt angelangt – und den sollten wir genießen. Lassen Sie Champagner auffahren, Verehrtester. Wir werden auf unsere vielversprechende Zukunft trinken.« »Der Graf von Brackwede läßt sich entschuldigen«, sagte General Olbricht, während er die Anwesenden begrüßte. »Unser Freund läßt ausrichten: er übe sich in Selbstbeherrschung – er speise mit Gestapo-Maier.« Das halbe Dutzend Männer, das sich bei Graf von Moltke eingefunden hatte, zeigte sich wenig amüsiert – die Späße ihres Kameraden von Brackwede waren ihnen hinreichend bekannt. »Sie in Besonderheit Herr Doktor«, sagte Olbricht, »soll ich um Entschuldigung bitten – der Hauptmann hätte Sie gern persönlich gesprochen.« »Die Gestapo geht natürlich vor«, sagte Eugen G.
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augenzwinkernd. »Wir sind außerordentlich besorgt!« rief einer der Herren aus – er gehörte zum derzeitigen Innenministerium und galt als besorgter Kritiker des vorgesehenen Innenministers, also von Julius Leber. »Der Verhaftungsbefehl gegen Goerdeler ist alarmierend – besonders zu diesem Zeitpunkt.« »Nach Ansicht des Hauptmanns von Brackwede«, erklärte Olbricht dämpfend, »ist seit Monaten damit zu rechnen gewesen – eigentlich schon seit mehr als einem Jahr. Aber noch ist gegen Goerdeler keine Großfahndung angelaufen – und ich bin sicher: sie werden unseren alten Fuchs so rasch nicht fangen können. Denn es handelt sich ja nur noch um Tage.« »Jeden Tag kann eine Menge geschehen!« rief der Herr vom Innenministerium. »Wer wird der nächste sein, der mit einem Haftbefehl der Gestapo rechnen muß? Wir haben wirklich allen Grund, beunruhigt zu sein. Ausgerechnet Goerdeler! Das kann doch kein Zufall sein!« »Das ist wohl auch kein Zufall – es ist aber auch sicherlich kein Alarmsignal.« Wie immer in derartigen Situationen der aufkommenden Unruhe und Unsicherheit, griff der sehr jugendlich wirkende Helmuth von Moltke mit zwingender Liebenswürdigkeit in das Gespräch ein. Seine Stimme klang höflich, dennoch sehr bestimmt. »Goerdeler ist als Widersacher Hitlers seit Jahren bekannt. Über Leber besitzt die Gestapo dicke Akten, die keinesfalls abgeschlossen sind. Und etwa Beck ist von Hitler selbst, bereits schon vor dem Krieg, ein überaus gefährlicher Mensch genannt worden. Es ließen sich zahlreiche ähnliche Beispiele aufführen.« »Die Zahl der Hinrichtungen wegen Hoch- und Landesverrat, Zersetzung der Wehrkraft, Verunglimpfung des Führers und ähnlicher Delikte steigt von Jahr zu Jahr.« Olbricht referierte betont sachlich. »Mehr als dreitausend Todesurteile sind allein neunzehnhundertdreiundvierzig in Deutschland, im zivilen Bereich, offiziell ausgesprochen und vollstreckt worden. Fast ein Wunder daher, daß unser Kreis
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bisher nur vergleichsweise wenige Opfer bringen mußte.« »Aber eben das droht jetzt anzufangen!« »Das«, erklärte Olbricht, »ist allerdings nicht völlig auszuschließen – Oberst von Stauffenberg ist der gleichen Ansicht. Er meint: Da es sich nur noch um eine kurze Zeitspanne handeln kann und da alle wesentlichen Dinge bereits besprochen sind, sollten in den nächsten Tagen und Wochen keine Zusammenkünfte mehr stattfinden. Also, äußerste Zurückhaltung ...« »Moment mal, bitte!« warf der Herr aus dem Innenministerium beunruhigt ein. .»Soll das etwa eine Art Befehl sein? Ich muß gestehen, daß einige meiner Freunde sich Gedanken machen über die reichlich souveräne Art, mit der Herr Oberst von Stauffenberg neuerdings in die Entscheidungen der einzelnen Widerstandsgruppen einzugreifen versucht.« Olbricht blickte unangenehm berührt zum Grafen von Moltke hinüber, der wiederum gedachte Eugen G. zu ermuntern, der nicht nur scharfzüngig und mutig war, sondern sich auch stets entschieden vor die Soldaten der Bendlerstraße zu stellen pflegte. Doch der sonst so debattierfreudige Doktor blickte nachdenklich vor sich hin. Und jetzt erst fiel auf, daß er sich, völlig gegen seine Gewohnheit, überhaupt nicht an diesem Gespräch beteiligt hatte. Bedächtig sagte er: »Warum, Herr Olbricht, haben Sie mir eingangs gesagt, daß mich der Hauptmann von Brackwede gern persönlich gesprochen hätte? Ist es das, was ich vermute?« »Ich fürchte, ja«, gestand der General. Und nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich soll Ihnen sagen, Herr Doktor, daß auch gegen Sie die Gestapo einen Haftbefehl erlassen hat.« »Na also – da haben wir es!« Olbricht überhörte den Zwischenrufer – er blickte den verstummten Eugen G. an. Dabei erklärte er: »Diese Angelegenheit hat nichts mit uns zu tun. Die Gestapo hat bei Pfarrer Bonhoeffer eine Hausdurchsuchung vorgenommen
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und dabei Manuskripte gefunden, an denen unser Doktor beteiligt gewesen ist. Deshalb wird er gesucht.« »Gut«, sagte Eugen G. »Ich werde mich also in einen Unterstand zurückziehen – in der Umgebung von Stuttgart vermutlich. Doch sobald es losgeht, bin ich da.« »Also los, mein Bester«, sagte der Sturmbannführer Maier, nachdem im Weinhaus Handler der Champagner serviert worden war – Mumm Gordon Rouge. »Lassen wir jetzt endlich unsere Katzen aus dem Sack. Können Sie mir diesen Beck liefern?« Der Hauptmann von Brackwede schien zu zögern. Der Oberst mit dem fabrikneuen Ritterkreuz am Nebentisch kommandierte: »Noch eine Runde! Aber die Gläser randgefüllt – das bitte ich mir aus!« Seine befehlsgewohnte Stimme hallte trompetenhaft durch das kleine Lokal. Einige Gäste blickten verwundert. Der Oberkellner eilte aufgescheucht herbei. Währenddessen sagte Brackwede: »Ihr Instinkt hat Sie nicht getäuscht – der Generaloberst Beck ist alles andere als ein unbequemer Außenseiter.« »Nicht wahr – der Mann konspiriert gegen den Führer!« »Weit mehr als das. Beck gilt, in bestimmten Kreisen, als das zukünftige deutsche Staatsoberhaupt.« Maier schlang, schwer atmend, die Nachspeise in sich hinein – es war ein Kuchen aus Honig, Biskuit und Schlagsahne, mit feingehackten süßen Mandeln bestreut. »Mann«, stöhnte er dabei, »wenn das so ist – dann nichts wie in den Kasten mit diesem Kerl.« »Aber, daß es so ist, müßte erst noch bewiesen werden. Und dafür, fürchte ich, werden die Schreibereien des Generalobersten allein nicht ausreichen. Schließlich ist der ein Philosoph – und die können jederzeit nachweisen, daß sie falsch verstanden worden sind.« »Heißt das – Sie raten mir von einer Aktion ab?« »Ich gebe lediglich deren Zweckmäßigkeit zu bedenken – im derzeitigen Augenblick, unter den gegebenen Umständen!
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Denn ich frage mich: was wohl könnte wertvoller sein – ein Name mehr auf einer Abschußliste oder das Wohlwollen des möglichem weise nächsten Staatsoberhauptes?« Maiers Gesicht zeigte selbst jetzt noch keinerlei Regung – doch seine Augen blickten leicht verstört. Er trank sein Glas leer und begann, vor sich hinzubrüten. Der von Brackwede schien unterdessen seine Hände zu betrachten – fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Doch beide wurden auf heftige Weise abgelenkt: Der Oberst mit dem funkelnden Ritterkreuz brüllte auf – ihm war die Rechnung vorgelegt worden. »Das ist doch wohl die Höhe!« rief er mit bebender Empörung. »Wie kann man mir etwas Derartiges zumuten!« Der Oberkellner hastete aufs neue herbei – flankiert von zwei Kellnern. Sie versuchten, eine Art spanische Wand um den brüllenden Oberst zu errichten – völlig vergeblich. Dessen Kommandostimme hätte sich in jedem Schlachtenlärm durchgesetzt; das Weinhaus Handler drohte zu erzittern. »Was wagt man mir hier zu bieten?« Und weiter schrie dieser entfesselte Gast, den eine der hier üblichen Rechnungen zur Weißglut gebracht hatte: »Ich bin der Oberst Bruchsal! Meine Kameraden und ich halten jeden Tag an der Front die Knochen hin. Und das nur, damit diese Scheißkerle in der Heimat fressen und saufen können! Zu solchen Wucherpreisen!« Der Oberkellner flehte: »Ich bitte Sie! Herr Oberst! Bitte, betrachten Sie sich als Gast dieses Hauses.« »Darauf scheiße ich«, schrie der jetzt zitternde Kriegsheld. Seine Nerven gingen mit ihm durch. »Damit kann man mir nicht kommen! Dieses Reich ist zu einem Sauhaufen geworden!« Maier hob, nahezu genießerisch schnuppernd, den Kopf. Brackwede, scheinbar unberührt, trank seinen Kaffee. Seine Augen blickten betrübt. Der Oberst tobte seine Empörung hemmungslos aus. »Ein elender Saustall – dieses Reich! Doch kein Wunder bei dieser
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Flasche von Führer! Verkriecht sich wie ein Regenwurm, während sich die Schmarotzer den Arsch dickfressen!« Der Oberst Bruchsal wurde von seinen Offizierskameraden zum Ausgang gedrängt. Die Gäste taten, als hätten sie nichts gehört. »Man muß die Feste feiern wie sie fallen!« Sturmbannführer Maier entzündete eine Zigarre – eine echte Havanna aus französischen Beutebeständen. »Und Kleinvieh macht schließlich auch Mist – irgendwie muß ich schließlich meinen Kohl düngen.« Damit war der brüllende Oberst Bruchsal bereits so gut wie tot. Hauptmann von Brackwede beugte sich vor. »Die Aktion gegen Beck wird also abgeblasen?« »Vorläufig.« Maier nickte. »Sagen wir: bis auf weiteres – vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen uns vorausgesetzt.« »Das wäre also unsere Geschenkpackung«, sagte der Gefreite Lehmann. Er schien ein dickes Familienalbum in der Hand zu halten. »Das hat bequem in jeder großdeutschen Aktentasche Platz.« Der Oberst von Stauffenberg nahm das Paket entgegen und betrachtete es genau – es sah aus wie gebündelte Aktenstücke und schien kaum mehr als acht bis zehn Kilo zu wiegen. »Und das reicht aus?« »Für alle Fälle!« Lehmann zeichnete die grobe Skizze eines Raumes – darin einen kleinen Kreis als Mittelpunkt, hierin ein Kreuz; ein Hakenkreuz. »Also – findet die Vorstellung im Bunker statt, ist es gleichgültig, wo die Ladung steht. Handelt es sich jedoch um einen normalen Raum, darf die Entfernung zwischen Paket und Empfänger nicht mehr als acht bis zehn Meter betragen.« »Das wird sich machen lassen«, meinte der Oberst. »Achten Sie aber auf einen Umstand, der sich in dieser Jahreszeit leicht ergeben kann – auf geöffnete Fenster. Sie verringern die Sprengwirkung erheblich. Unter derartigen
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Umständen müßten Sie auf etwa drei bis höchstens fünf Meter an ihn herankommen.« Sie saßen erneut beieinander in Stauffenbergs Arbeitszimmer – niemand sonst schien sich im Bendlerblock zu befinden: lauernde Stille umgab sie. Mitternacht war nahe. Das Licht der abgeschirmten Lampe fiel auf ihre Gesichter – auf den schmalen, langen Schädel des Obersten, auf die faltenreichen Hautwülste des Gefreiten. »Ich werde zur Tarnung noch einige Akten hinzupacken.« »Tun Sie das nicht, Herr Oberst. Nehmen Sie lieber leeres Papier – oder Zeitungen, etwa den Völkischen Beobachter. Rechnen Sie damit, daß nach einer Explosion Spezialkommandos angesetzt werden könnten, die nach jedem Fetzen suchen – vermeiden Sie daher alles, was auf Sie persönlich hinweisen könnte. Man kann nie wissen, wie alles kommt. Lassen Sie also daher keine persönlichen Spuren zurück – von der benutzten Aktentasche angefangen.« »Sie sind sehr gründlich, Lehmann.« »Noch heute ärgert mich der Gedanke an die Bombe, die Tresckows Leute, getarnt als Kognakflaschen, Hitler ins Flugzeug geschoben haben – angeblich hat der Zünder versagt. Das jedoch kann ich kaum glauben – vielleicht ist er in der Aufregung nicht richtig in Gang gesetzt worden. So etwas darf uns nicht passieren.« »Erlauben Sie mir eine persönliche Frage, Lehmann?« Der Gefreite nickte leicht verwundert. Und nun wollte der Oberst wissen: »Warum tun Sie das?« Lehmann lachte fast lautlos auf. »Ich könnte genauso wie Sie sagen: Einer muß das schließlich tun. Doch das stimmt bei mir wohl nicht ganz. Ich leide unter einem ausgewachsenen VaterSohn-Komplex. Mein Alter ist nämlich Ortsgruppenleiter – und was für einer! Er bemüht sich sehr, seinen Führer zu kopieren. Ich kann Ihnen versichern: so was spornt an.« Der Oberst schlug mit seiner linken Hand freundschaftlich gegen den Oberarm des Gefreiten. Der konnte nicht ahnen, daß eine derartige Geste bei Stauffenberg ungewöhnlich war.
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Er hatte eine Scheu davor, den Körper anderer Menschen zu berühren. »Geben Sie mir Ihre linke Hand«, forderte der Gefreite. »Und nun drücken Sie zu – mit Ihren drei Fingern. Drücken Sie bitte zu, so fest Sie können.« Das geschah – nach kurzem Zögern. »Gut«, sagte Lehmann dann. »Sie besitzen noch allerhand Kraft in Ihren Fingern – Sie müssen ein ziemlich robuster Bursche gewesen sein.« »Nicht unbedingt«, sagte Stauffenberg lächelnd. »Zumindest nicht in meiner frühen Jugend. Ich war ein ziemlich kränkliches Kind. Das hat sich dann allerdings gelegt – ich habe mich systematisch abgehärtet und meinen Körper trainiert. Aber warum diese Kraftprobe?« »Weil wir jetzt zu einem weiteren wichtigen Punkt kommen.« Der Gefreite Lehmann wickelte aus einem Tuch drei Zangen – er betrachtete sie sorgfältig und wählte dann eine davon aus. Die übergab er Stauffenberg. Sodann hielt er ihm einen dicken Bleistift entgegen. »Beißen Sie mit der Zange zu.« Der Oberst umspannte das ihm überreichte Instrument, setzte es an, drückte die Griffe zusammen – der Bleistift spaltete sich in zwei Teile. »Das, bitte, noch dreimal – kurz hintereinander.« Das tat Stauffenberg – die Bleistiftstücke splitterten ab. Sie fielen in schneller Folge auf die Tischplatte. Lehmann nickte anerkennend. »Das, Herr Oberst, ist in der Praxis der letzte Vorgang – das Zerdrücken des Säurezünders. Danach gibt es kein Zurück mehr. Die dazugehörige Zange läßt sich vermutlich in Ihrer linken Hosentasche unterbringen – doch nichts sonst darf sich dort befinden. Jeder Griff muß genau sitzen! Wir werden das üben.« »Und dann?« »Dann können Sie endgültig in Aktion treten – und das kann von mir aus schon morgen sein.«
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»Übermorgen«, sagte der Oberst von Stauffenberg.
3 Ein Geschöpf, das sich jeder Berechnung entzieht Am 11. Juli – einem Dienstag – hielten sich der General Olbricht und Oberst Mertz von Quirnheim beharrlich in Reichweite ihrer Telefone auf. Sie gingen unruhig im Raum umher und vermieden es, sich anzusehen – heftige Unruhe hatte sie gepackt. Denn: Claus Graf von Stauffenberg war nach Berchtesgaden geflogen. Mit den Worten: »Ich nehme das ganze Zeug in der Aktentasche mit.« Das kaum mehr Erhoffte schien endlich Wirklichkeit zu werden. »Aber Hitler ist unberechenbar«, sagte Olbricht plötzlich. »Allein, wenn er sein Hauptquartier verläßt, müssen stets drei Reisepläne zugleich ausgearbeitet werden – einer für das Flugzeug, ein anderer für die Bahn, ein dritter für das Auto. Erst in den letzten Minuten pflegt er sich dann zu entscheiden.« »Der Mann ist schließlich kein Phantom«, sagte der Oberst. »Und bisher ist er noch keinem Stauffenberg begegnet.« »Mehrmals haben unsere Freunde schließlich Bomben in seine Nähe gebracht – sie sind sogar bereit gewesen, sich mit ihm in die Luft zu sprengen: Axel von dem Bussche, Ewald Heinrich von Kleist, der Generalmajor Helmuth Stieff. Es war immer vergeblich. Hitler erschien nicht, oder er entfernte sich vorzeitig, oder er verschob die Termine. Er war einfach nicht zu fassen!« Der Oberst Mertz von Quirnheim umkreiste weiter das zwischen ihnen stehende Telefon. »Durch die Geschichte aller Zeiten und aller Völker geistert ein bemerkenswerter Satz. Er heißt: Die Stunde war noch nicht gekommen. Nun jedoch ist bei uns der Zusammenbruch unvermeidlich geworden: Die
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Sowjets rücken auf Deutschlands Grenzen vor, die Invasion der Alliierten ist geglückt, der Balkan ist verloren. Hitler muß unter allen Umständen beseitigt werden, bevor noch das deutsche Volk völlig ausblutet oder völlig kriminell wird.« Das Telefon schrillte. Beide stürzten zum Tisch hin, auf dem der Apparat stand. Oberst Mertz von Quirnheim nahm den Hörer ab und überreichte ihn dem General. Der lauschte wortlos, bewegungslos – die Haut seines Gesichtes schien grau zu werden. Danach sagte Olbricht tonlos: »Es ist nicht geschehen. Weder Himmler noch Göring waren anwesend. Und Stauffenberg hat gefragt: ›Herrgott, soll man nicht doch handeln?‹« »Hitler allein muß genügen!« rief der Oberst. »Vielleicht beim nächsten Mal«, sagte Olbricht erschöpft. »Und das muß in wenigen Tagen sein.« »Wo ist mein Bruder?« fragte der Hauptmann von Brackwede. »Sollte der sich neuerdings etwa in Ihrer Gegenwart nicht mehr wohl fühlen? Haben Sie ihm klargemacht, daß auch Helden arme, dumme Hunde sein können – etwa dann, wenn eine Hyäne Staatsoberhaupt ist?« »Ich hatte lediglich zu arbeiten«, erklärte die Gräfin Oldenburg. »General Olbricht hat eine abermalige Prüfung der Alarmpläne ›Walküre‹ angeordnet. Ich konnte mich also dem Leutnant gar nicht widmen – selbst wenn ich es gewollt hätte.« »Und – hatten Sie es gewollt?« Der Graf von Brackwede war dennoch taktvoll genug, eine Antwort auf seine Frage nicht zu erwarten. »Jedenfalls – wenn Sie meinen Bruder ein wenig betreuen, kann das selbst auf Kosten Ihrer Arbeit gehen; denn was Sie jetzt auch immer tun mögen, es ändert nichts mehr.« »Wird es geschehen?« »Ich habe diese Frage nicht gehört, und Sie haben sie nicht ausgesprochen – Sie wissen von nichts, was diese Angelegenheit betrifft. Sie kennen weder einen Gefreiten
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Lehmann näher, noch wissen Sie Einzelheiten über Stauffenberg oder andere. Auch hatten Sie niemals Einblick in alle Akten und Unterlagen dieser Dienststelle. Das ist so vereinbart, und daran wollen wir uns halten. Und nun sagen Sie mir, wo sich mein kleiner Bruder aufhält.« »Im Kasino – dort findet ein Vortrag statt. Speziell für Offiziere.« »Nicht doch!« rief der von Brackwede, belustigt und empört zugleich. »Schwingt dort etwa der Oberleutnant Herbert eine seiner großdeutschen Schulungsreden?« »Er spricht über das Abendland und die Wahrung der wahren Werte.« »Großer Gott – so was redet über das Abendland! Und was noch kurioser ist: es finden sich sogar vernunftbegabte Wesen, die sich das freiwillig anhören! Darunter ausgerechnet mein Bruder Konstantin. Aber den werde ich jetzt mal auf Schwung bringen.« Der von Brackwede telefonierte nunmehr mit Maier und bat ihn um einen kleinen privaten Gefallen. »Sie kennen doch meinen Bruder – dem würde ich gern ein paar tiefere Einblicke gönnen. Sie haben doch sicherlich irgend jemanden in der Zange – können Sie so was dem Leutnant nicht mal vorführen? Wir sprachen neulich schon einmal darüber – , unsere Helden sollten endlich kennenlernen, wie der kämpfenden Front der Rücken freigehalten wird. Abgemacht? Gut – ich lasse ihn anrollen.« »Bitte, tun Sie das nicht«, sagte Elisabeth leise. »Sehen Sie mich nicht so anklagend an! Dieser Junge ist mein Bruder – und ich will, daß er in jeder Hinsicht mein Bruder ist!« »Sie sind mir immer herzlich willkommen, mein lieber junger Freund!« behauptete der Sturmbannführer Maier. »Und das nicht nur, weil Sie der Bruder meines altbewährten Kampfgefährten sind – auch Sie persönlich haben meine vollste Sympathie, sozusagen als Vertreter unserer Frontsoldaten.«
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»Danke verbindlichst, Herr Sturmbannführer.« Der Leutnant befand sich in der Prinz-Albrecht-Straße – in der sogenannten »Reparaturwerkstatt der Gestapo«. Konstantin war höchst korrekt empfangen worden. Die Leute, die hier Dienst taten, machten auf ihn einen außerordentlich guten Eindruck: Sie waren auf schlichte Weise höflich, benahmen sich betont soldatisch und redeten nur das Allernotwendigste. Auch das Haus selbst wirkte äußerst solide – keinesfalls prunkvoll, dafür jedoch kernseifensauber. Es roch überall nach frischer Farbe und auch nach scharfen Desinfektionsmitteln. Mehr noch als einer Kaserne schien dieses Haus einer Klinik zu gleichen. Maiers betonte Herzlichkeit – sanft hervorgeorgelt – verfehlte ihre Wirkung auf den Leutnant nicht. Der fühlte sich geschmeichelt, einem der Gewaltigen des Reichssicherheitshauptamtes derartig vertraulich begegnen zu dürfen. Maier stellte den vieldekorierten Offizier seinen nächsten Mitarbeitern vor: einem Sturmführer von dunkler, SSdeutscher Prächtigkeit – einem bebrillten, sanft dreinblickenden ausgewachsenen Schuljungen: Voglbronner. Maier setzte sogar, bei einer Tasse Kaffee, zu einem Vortrag über sein Amt an, seine Pflichten, seine Schwierigkeiten – sowie Oberwindung derselben. »Man muß die Kunst beherrschen, das Wesentliche herauszufinden. Zur Zeit existiert bei uns ein Musterexemplar: ein Oberst, der endlich eingestanden hat, ein elendes Schwein zu sein.« »Ein Oberst?« fragte Konstantin ungläubig. Maier deutete diese Frage auf seine Weise – er sprach ausführlich über die sogenannte Zuständigkeit. Über die Mißstände getrennter Justizapparate; so über den »Extrabraten«, den sich die Wehrmacht, falsch ausgedeuteten Traditionen zufolge, leider noch leiste. »Aber neuerdings bahnen sich bereits gewisse fortschrittliche Methoden an – die Gestapo kann Schweine und Lumpen aller Spielart aufgreifen, wo immer sie sie findet, außerhalb der abgegrenzten Wehrmachtbereiche. Der Rest
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wird durch einige Formulare erledigt. Denn schließlich geht es hier um das Reich, um unseren Führer. Und dafür kann doch wohl kein Opfer groß genug sein ... Oder?« »Kein Opfer«, sagte der Leutnant von Brackwede. »Dann kommen Sie mal mit!« Sie schritten die Stufen hinunter, zur Halle hin, durchquerten sie und bewegten sich auf den Kellereingang zu. Maiers Leute öffneten beflissen jede Tür vor ihm, auf die er mit dem Leutnant zuschritt. Im Keller schien die weißgetünchte Klinikatmosphäre dieses Hauses noch deutlicher zu werden. Der Raum, den sie dann betraten, war von strahlender Helligkeit: Lampen an der Decke, kreisförmig zusammengefaßt wie in einem Operationsraum. Ein länglicher Tisch in der Mitte – dahinter ein Stuhl; ein einziger nur. Maier ließ einen zweiten Stuhl hereinbringen und bat den Leutnant, sich neben ihn zu setzen. Dann ordnete Sturmbannführer Maier an: »Bruchsal vorführen!« Kurz danach wurde von einem der Wachleute ein Mann hereingestoßen. Der taumelte auf den Tisch zu, versuchte dann, sein Gleichgewicht wiederzufinden, stand leicht verkrümmt da. Schließlich schwankte er nur noch wie ein Schiffsmast bei leichtem Seegang. »Nun?« fragte Maier sanft. »Untersuchungshäftling Bruchsal!« rief der Mann laut. Er trug schäbige Zivilkleidung – ausgebleichtes, strapaziert wirkendes Braungrau. Der Kragen des Hemdes schob sich über den zu engen Rock. Die schlotternden Hosen hielt er mit den Händen hoch. Er trug weder Strümpfe noch Schuhe. »Untersuchungshäftling Bruchsal – Nummer siebenunddreißigtausendachthundertundvier – zur Stelle!« Das war der Oberst mit dem Ritterkreuz aus dem Weinhaus Handler. Sein Gesicht wirkte jetzt bleich, erschlafft und war seit Tagen nicht mehr rasiert worden. Seine Hände zitterten wie die eines Alkoholikers – er roch nach Schweiß, Urin und
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Blut. »Und so was«, rief Maier mit flirrendem Trompetenton, »will unseren Führer ausrotten!« Der Sturmbannführer wendete sich Konstantin zu, der verwirrt auf dieses Menschenwrack starrte. »Diese Sittensau hat unseren Führer einen Wahnsinnigen genannt, der umgebracht werden muß wie ein tollwütiger Hund.« Und schneidend stieß Maier hervor: »Wollen Sie das leugnen, Bruchsal?« »Ich bekenne mich schuldig«, sagte der und starrte, über Maier hinweg, auf die kalkweiße Wand. »So sind diese Scheißkerle!« Der Sturmbannführer lehnte sich befriedigt zurück. »Erst reißen sie ihre Schnauzen auf, und dann machen sie sich in die Hosen! Bereuen Sie, was Sie getan haben, Bruchsal?« »Ich bereue es.« »Und – weiter, Mensch!« »Ich bereue es«, sagte der schwankende Mann tonlos, »und bitte um eine gerechte Strafe.« Sturmbannführer Maier schnaufte verächtlich – nach kurzem Seitenblick auf Konstantin. Die staunende Erregung des Leutnants tat ihm wohl – dem konnte er ein Schauspiel bieten, das der nie vergessen würde. Er kam sich vor wie ein Chirurg, der unter den entsetzten Augen eines Laien sein Skalpell handhabt. »Dieser Scheißkerl hat seine Soldaten schändlich betrogen – sie durften für Führer und Reich sterben, während er im Kasino Hitler für einen Idioten erklärte. Und er hat sogar noch weitere Schweinehunde gefunden, die wie er schäbige und ehrlose Verräter sind.« Der Sturmbannführer stellte das befriedigt fest. Endlich hatte er jemanden aufgespürt, der seinem Spezialauftrag – Überwachung der Wehrmacht – Sinn und Ziel gab. Endlich! »Namen nennen – Bruchsal!« Der begann wie mechanisch aufzuzählen: »Oberleutnant
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Hasenclever, Major Samson, Major Edler von Hirth, Oberst Graf Nassenreuth, Oberst Nätzel, General Fellmann, General Blumentritt, Generalfeldmarschall Rommel ...« »Aber das ist doch absurd!« rief der Leutnant heftig. »Das kann doch wohl nicht wahr sein! Der Feldmarschall Rommel? Niemals!« Jetzt schien selbst der Sturmbannführer unruhig geworden zu sein. Er gab seine gemütliche Haltung auf, stemmte sich vor, legte sich über den Tisch und brüllte: »Halten Sie Ihre Schnauze, Bruchsal!« Und zu Konstantin sagte Maier: »So was geht entschieden zu weit – da muß ich Ihnen recht geben.« Er lachte rauh auf. »Bei dem Kerl ist offenbar eine Schraube locker – aber so was läßt sich reparieren.« Das ging, dachte er, wirklich zu weit – damit durfte man dem Führer keinesfalls kommen: Rommel war dessen erklärter Liebling. »Ich brauche dringend frische Luft«, sagte schweratmend der Leutnant. »Ist Ihnen etwa schlecht geworden?« »Ja«, sagte Konstantin. »Mir ist zum Kotzen übel.« Der Generalfeldmarschall Erwin Rommel verließ die Offiziere seines Stabes wortlos – das war Kommentar genug. Sie kannten ihn: Wenn er schwieg, war das ein Zeichen tiefer Verbitterung oder Verachtung. Und zu allen Tischgesprächen über den Verlauf der Invasion hatte er geschwiegen. Er begab sich in den Raum, in dem sein Stabschef allein arbeitete: Der General studierte die Karte und machte sich Notizen. Rommel stellte sich neben ihn. »Was ich befürchtet habe«, sagte er dann bitter. »Die Katastrophe ist einfach nicht aufzuhalten. Nur ein Idiot konnte das nicht kommen sehen!« Der Chef des Stabes blickte nicht von seiner Arbeit hoch. Er sagte, wie nebensächlich: »In Ihrem Zimmer, Herr Feldmarschall, wartet der Oberstleutnant von Hofacker – er kommt im Auftrag von General von Stülpnagel aus Paris.« Rommel beugte sich tief über die Karte – der Gegner
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gewann pausenlos an Boden. Wochen nur – und die Alliierten standen vor Frankreichs Hauptstadt. Wenige Monate – und sie erreiche ten Deutschlands Grenzen. Das war die Lage. Und ein Soldat mußte Konsequenzen daraus ziehen. Aber Hitler schien blind geworden zu sein. Längst schon hörte er nicht mehr auf Fachleute wie Rommel. »Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen«, sagte der Chef des Stabes bedächtig. »Das ist ein Ausspruch des Generalobersten Beck.« Der Feldmarschall hob sein nachdenklich wirkendes Gesicht – es war das eines Reiters und Jägers, der kein erkennbares Ziel mehr zu erblicken vermag. Lähmende Müdigkeit, wie nach langen Strapazen, schien ihn zu beherrschen. Doch dann war es, als befehle er sich soldatische Straffheit – er richtete sich auf und schritt hinaus. Den Oberstleutnant von Hofacker begrüßte er mit einem herzlichen Händedruck. »Machen wir es uns bequem«, forderte er auf. »Überbringen Sie mir eine Nachricht – oder eine Forderung?« Cäsar von Hofacker war hochgewachsen, schlank und wirkte energievoll – nicht zufällig erinnerte er an Stauffenberg. Der Oberst war sein Vetter. »Haben Sie sich nunmehr entschlossen, Herr Feldmarschall – können wir mit Ihnen rechnen?« Der Held von Afrika wußte um seinen Wert. Sein Name hatte legendäre Kraft. Seine Tapferkeit war sprichwörtlich. Sein Ruhm war von allen reichsdeutschen Publikationsorganen in verschwenderischer Weise ausgestrahlt worden. Selbst seine Kriegsgegner hatten Worte hoher Anerkennung für ihn gefunden. »Ich habe«, begann er, »immer offen und aufrichtig meine Ansichten dargelegt – soweit das möglich war. Es ist kein Geheimnis, daß ich diesen Krieg für verloren halte. Und ich zögere auch nicht, die Forderung zu erheben, daß der Schuldige zur Rechenschaft gezogen werden muß.« »Damit«, stellte der Oberstleutnant fest, »haben auch Sie
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Ihr Urteil über Hitler gesprochen!« Feldmarschall Rommel erhob sich – er versuchte vergeblich, seine Unruhe zu verbergen. Die würgende Tatsache, daß er hier gezwungen werden sollte, Entscheidungen zu treffen, die jeden normalen Soldaten, wie er einer war, überforderten, machte ihn nervös. »Ich habe«, sagte er, »Mitte Mai mit Ihrem General gesprochen. Grundsätzlich sind wir uns einig. Wenige Tage später traf ich mit Generalfeldmarschall von Rundstedt zusammen, der damals noch Oberbefehlshaber der Westfront war – auch bei ihm fand ich Sympathie, wenn auch nicht vorbehaltlose Zustimmung.« »Bei dem neuen Oberbefehlshaber, Generalfeldmarschall von Kluge, ist mit wesentlich positiveren Reaktionen zu rechnen.« »Sehr gut, sehr vielversprechend und auch durchaus logisch! Selbst so hartgesottene SS-Generale wie Hauser haben sichtlich die Lust an diesem Krieg verloren. Dennoch – Hitler einfach umlegen? Ehrlich, Hofacker – das ist ein Gedanke, mit dem ich mich schwer befreunden kann.« »Was also dann, Herr Feldmarschall?« »Nun – ich könnte mir vorstellen, daß wir ihn durch zuverlässige Panzerkräfte festsetzen lassen. Danach müßte er einem Gericht überantwortet werden. Oder so etwas Ähnliches.« Der Oberstleutnant schloß kurz die Augen – er dachte an das, was Claus von Stauffenberg über gewisse Generale gesagt hatte. Doch derartig bittere Gedanken scheuchte Hofacker schnell wieder fort – für einen Mann wie Rommel hatten sie nicht unbedingt Geltung. »Nehmen wir an, daß es gelingt, vollendete Tatsachen zu schaffen – was dann?« »Dann mache ich mit – selbstverständlich!« »Dürfen wir in einem derartigen Fall auch mit Ihrem Namen operieren, Herr Feldmarschall? Sie wissen – Ihr Name hat in
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Deutschland bewegende Kraft!« »Und eben deshalb«, meinte Rommel, »sollten wir unser Pulver nicht frühzeitig verschießen. Erst wenn die Fronten wirklich klar sind, denke ich, sollte meine Wenigkeit offiziell in Aktion treten. Davon verspreche ich mir dann eine besondere Wirkung.« »Die wird auch zweifellos eintreten«, sagte der Oberstleutnant leise und ohne jede Ironie. »Man kann nur hoffen: es wird dann nicht zu spät sein. Für Sie.« »Kommen Sie getrost herein«, sagte Julius Leber. »Sie stören mich nicht, und Sie nehmen mir auch keine Zeit weg.« Er schien über diesen späten Besuch nicht die geringste Verwunderung zu empfinden. »Ich nehme allerdings nicht an, daß Sie Ihr Bruder zu mir geschickt hat.« »Nein – das nicht.« Konstantin setzte sich, wie bei seinem ersten Besuch, auf das harte Sofa – neben Leber. »Er hat mir sogar ausdrücklich verboten, Sie aufzusuchen. Aber ich mußte ganz einfach kommen. Ich wüßte nicht, mit wem ich sonst über alles sprechen könnte. Ist das schlimm?« Leber lächelte – sein scharfgemeißeltes Gesicht beugte sich vor; dunkle Heiterkeit schien aufzustrahlen. »Sie sind da.« »Ich komme direkt von der Prinz-Albrecht-Straße«, berichtete Konstantin heftig. »Allein?« fragte Leber. Der Leutnant blickte verwundert – natürlich wäre er allein gekommen. »Ist Ihnen niemand gefolgt?« »Warum sollte mir denn jemand gefolgt sein?« »Machen Sie sich darüber keine unnötigen Gedanken – sagen Sie mir lieber, warum Sie gekommen sind. Sie sehen ziemlich beeindruckt aus. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wo Sie sich aufgehalten haben. Wollen Sie davon erzählen? Tun Sie das, wenn es Sie erleichtert.« »Danke«, sagte Konstantin. Er bereute es nicht, diesen väterlichen Menschen aufgesucht zu haben; nicht den
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Hauptmann, nicht Herbert, nicht die Gräfin. Er erzählte alles – jede Einzelheit. Und dann wollte er wissen: »Wie kann ein Mensch so etwas tun?« Lebers Augen blickten verwundert zunächst – dann schimmerte verhaltene Trauer in ihnen auf. »Es war Ihr Bruder, der Sie dorthin geschickt hat?« »Ja!« Konstantin blickte empört. »Und ich meine, er hätte mir einen derartigen Anblick ersparen können!« »Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte nun Leber behutsam, »dann richtet sich Ihre Empörung in erster Linie gegen diesen Oberst?« »Es war einfach scheußlich!« »Das war es sicherlich. Nur besteht doch vielleicht die Möglichkeit, daß Sie nicht so sehr das erregte, was dieser Oberst getan hat – als vielmehr der Anblick, den dieser Mensch bot?« »Genau das!« rief Konstantin heftig. »Gut – so ein Mensch ist gegen den Führer; das kann wohl vorkommen.« »Sehr gut!« sagte Leber anerkennend. »Ich sehe, Sie sammeln Erkenntnisse – und langsam beginne ich, Ihren Bruder zu verstehen. Doch weiter, Herr von Brackwede.« Der Leutnant war verbissen dabei, seine noch wilden Gedanken zu ordnen. »Soll so ein Mensch also gegen den Führer sein – doch dann hat er auch zu seiner Überzeugung zu stehen. Wie ein Mann!« »Nur so weiter!« »Aber was tat dieser Kerl? Er benahm sich wie ein elender Feigling! Er versuchte sogar, seine Schuld auf andere abzuwälzen. Er scheute nicht einmal davor zurück, den Generalfeldmarschall Rommel zu belasten. Ausgerechnet Rommel!« Leber hob aufhorchend den schweren Kopf. »Erzählen Sie das alles, möglichst bald, Ihrem Bruder – mit allen Einzelheiten. Sie werden in ihm einen ähnlich aufmerksamen Zuhörer finden wie in mir.«
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Das zu tun, versprach Konstantin. Dann beschäftigte er sich weiter mit seinen Erlebnissen – Lebers Aufmerksamkeit beflügelte ihn. »Der war nur noch ein winselndes Wrack – ein deutscher Oberst!« »Sie unterschätzen vermutlich die Möglichkeiten der brutalen Gewalt. Denn Sie haben lediglich ein bestimmtes Ergebnis gesehen – Sie haben sich aber kaum Gedanken darüber gemacht, wie es zustande gekommen sein könnte.« »Doch – das habe ich! Und eben deshalb finde ich das alles so widerlich!« Leber stand auf und begab sich an das rechte Fenster – es war am weitesten von der halbdunklen Tischlampe entfernt. Vorsichtig schob er den schwarzen Verdunklungsvorhang wenige Zentimeter zur Seite und spähte in die Nacht hinaus. Er sah glitzernden Mondschein und Hunderte von tiefschwarzen Schatten – in jedem von ihnen konnte ein Beobachter lauern. Es war sinnlos, danach Ausschau zu halten. »Fast jedes Menschen Widerstand ist zu brechen«, sagte Julius Leber dann. Er blieb mit dem Rücken zum Verdunklungsvorhang stehen. Konstantin wußte nicht, daß dieser Mann vor ihm Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte – davon dreihundertfünfundsechzig Tage in Dunkelhaft. Selbst bei achtzehn Grad Kälte lag er ohne Decke, ohne Stroh, ohne Mantel, auf nacktem Fußboden. Und dennoch konnte Leber ungebrochen von sich sagen: Ich habe meine Selbstachtung nicht verloren. Konstantin sagte plötzlich: »Ich weiß – es ist unwürdig, so zu handeln, wie der Oberst gehandelt hat. Ich weiß jetzt aber auch: es ist unwürdig, einen Menschen zu einem derartigen Verhalten zu zwingen.« »Sehen Sie, lieber Freund – da haben Sie schon Ihre erste Erkenntnis, Ihre besondere Erfahrung.« Leber lächelte mit väterlicher Güte. »Glauben Sie mir, was Sie heute gelernt haben, das ist nicht wenig.«
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»Aber wie«, forderte der Leutnant drängend, »habe ich mich zu verhalten? Was soll ich tun?« »Bitte, erwarten Sie darauf von mir keine Antwort – ich kann sie Ihnen nicht geben, so groß die Versuchung auch sein mag.« Leber blickte wieder zum dichtverhängten Fenster hin. »Ich kann Ihnen lediglich nur etwas sagen, das vielleicht reichlich banal klingen wird: Befragen Sie Ihr Gewissen!« »Ich bin ratlos, Herr Leber.« »Sie werden das nicht immer bleiben – Ihr Bruder scheint dafür sorgen zu wollen. Und jetzt sollten wir, junger Freund – falls Sie einverstanden sind –, die Unterhaltung, die wir bei Ihrem letzten Besuch geführt haben, wieder aufnehmen. Wir sprachen über die Befreiungskriege.« Der Leutnant von Brackwede verließ Leber erst in den frühen Morgenstunden. Die Vögel in den durch Bombenexplosionen entlaubten Bäumen sangen bereits. Die Sonne schien mit der taumelnden Qual eines Schwerverwundeten den Horizont zu erklettern – sie färbte den Himmel über Berlin blutrot. »Welch ein Tag!« sagte Konstantin. Es war der Tag, an dem Julius Leber von der Gestapo verhaftet wurde. Die versammelten Herren lächelten mühsam, plauderten nichtssagend, neigten sich gegeneinander, ohne ihre steifstolze Haltung dabei aufzugeben – Störchen ähnlich, die in Tümpeln stehen. Dr. Josef Goebbels, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, gab einen Empfang. Er gab zahlreiche Empfange in seinem offiziellen Amtssitz und angrenzenden Neubauten – dieser jedoch war in erster Linie für Militärs bestimmt, und für diejenigen Führerpersönlichkeiten aus Staat und Partei, die im Räume Groß-Berlin auf Zusammenarbeit mit der Wehrmacht angewiesen waren. »Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl«, sagte Goebbels strahlend suggestiv zu einem General.
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»Sehr wohl!« versicherte der. Goebbels erwartete keinerlei geschliffene Konversation – er hatte sich auf »die simple Machart« eingestellt. Er verbreitete systematisch Wohlwollen und ließ scharfe Getränke servieren. Seine Gäste umschwärmten ihn mückenhaft. Er hatte ihnen, mehr als eine Stunde lang, Kriegswochenschauen vorführen lassen – Material zumeist, das gewöhnlich in keinem Filmtheater zu sehen war. Er war begierig auf die Reaktion dieser Fachleute, obgleich er mit einiger Sicherheit wußte, daß kaum eine verwertbare Erkenntnis die Folge sein würde. Und gerade das stimmte ihn überlegen-heiter. »Sollte man diese Wochenschauen wesentlich härter oder bewußt gefälliger gestalten – was meinen Sie?« Diese Frage stellte er an General von Hase, den Stadtkommandanten von Berlin. »Ich lege auf Ihr Urteil besonderen Wert.« »Härte«, sagte der General, »kann natürlich niemals schaden – aber eine wohltuende Ablenkung könnte von Vorteil sein.« »Ablenkung wovon – bitte?« fragte Goebbels lächelnd. Der General straffte sich, hob seine Stimme und erklärte mit bemühter Festigkeit: »Ich meine: ein geschickt gesteuerter Ausgleich, ein ausgewogenes Sowohl-als-Auch, Gegensätze, die sich ergänzen ...« Goebbels nickte – er hatte nichts anderes erwartet. Seine fuchsschlauen Augen blickten suchend durch den Raum – wohin er auch blickte, er sah nichts als betonte Harmonie: graue Uniformen neben schwarzen; braune mischten sich dazwischen. Allgemeines, gummizähes Lächeln beherrschte den hochgebauten Prunkraum. Der Minister langweilte sich maßlos – doch er versprühte unentwegt Optimismus. Niedere Dienstgrade überging er; eine Beschäftigung mit ihnen hielt er für Zeitverschwendung. Doch nun stand Parteielitegeneral von Kortzfleisch vor ihm. »Äußerste Härte!« sagte der unaufgefordert. »Auf die Pauke
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hauen – keiner darf mehr pennen! Doch muß auch den Leuten klargemacht werden, daß es nicht nur Leichen, sondern auch Lustbarkeiten gibt. Irgendwie müssen die Verluste ja wieder ausgeglichen werden – meiner bescheidenen Meinung nach.« Der Minister lächelte breit und verbindlich – dabei blickte er zum kleinen Nebenraum hin, wo die Getränke ausgegeben wurden. Dort wurden offenbar Gespräche geführt, die munterer waren, und da hätte er gern mitgehört. Er war sehr neugierig. Im Nebenraum trafen auch Hauptmann von Brackwede und Sturmbannführer Maier aufeinander. Sie begrüßten sich lautstark. Ein paar jüngere Offiziere wichen erschreckt aus. »Nun«, wollte Maier wissen, »ist Ihrem kleinen Bruder der Anstandsbesuch bei mir gut bekommen?« »Ich bin leider noch nicht dazugekommen, ihn zu befragen.« »Da steht Ihnen ja noch eine kleine Freude bevor, schätze ich. Jedenfalls war der Junge nahe daran, zu kotzen! Haben Sie übrigens schon den Bordeaux von unserem Klumpfuß gekostet?« Damit meinte er den hinkenden Minister. »Ganz große Klasse! Jupp Goebbels hat eben einen Riecher für alles, was gut und teuer ist.« Brackwede war Maiers aufgeräumte Heiterkeit verdächtig. Der stand da wie ein Pfau – die Arme über der samtglänzenden Galauniform verschränkt. »Sie scheinen einen dicken Fisch an Land gezogen zu haben.« »Zwei! Dieser Oberst Bruchsal ist eine wahre Fundgrube der liefert mir sogar mehr Namen, als mir im Augenblick lieb sind. Dann aber« – und nun blickte Maier den Hauptmann scharf an – »ist mir ein Mann namens Julius Leber in die Hände gespielt worden.« Brackwede benötigte Sekunden, um sein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Gedehnt sagte er dann: »Wenn das auf Ihrem Mist gewachsen sein sollte ...« »Wo denken Sie hin!« wehrte der Sturmbannführer
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bereitwillig ab. »Ich kann mir durchaus vorstellen, daß ich Ihnen dann glatt in die Quere gekommen wäre ... Und das wollen wir doch vermeiden, nicht wahr? Leber ist vielmehr von einer anderen Abteilung verhaftet worden – aber ich habe ihn mir sofort gesichert. Denn nach den Überwachungsberichten stehen auf Lebers Besucherlisten auch die Namen einiger Offiziere – und damit fällt er in meinen Bereich.« »Sie haben sich ein Faustpfand besorgt – was? Gegen mich!« »Jedenfalls nicht direkt – wenn wir schon deutlich werden wollen. Doch jetzt frage ich mich: Was ist dieser Fang wirklich wert? Soll ich nun diesen Fisch schlachten? Oder weiterliefern? Oder auf Eis legen? Oder ihn wieder ins Wasser zurückwerfen? Oder haben Sie Lust zu tauschen? Etwa: einen Leber gegen zwei Generale?« Der Graf von Brackwede schloß wie geblendet die Augen – dann öffnete er sie wieder: Glitzernde Kälte war jetzt in ihnen. »Rechnen Sie«, sagte er mit entschlossener Offenheit, »mit dem baldigen Tode Hitlers! Und nun versuchen Sie mal, entsprechend folgerichtig zu handeln.« Der Oberst, der jetzt vor Dr. Goebbels stand, wurde dem Minister – durch einen seiner Adjutanten – als Ritter Mertz von Quirnheim vorgestellt. »In Vertretung von Herrn Generaloberst Fromm, dem Befehlshaber des Ersatzheeres.« Und das Gespräch mit ihm begann Goebbels zu fesseln. Denn dieser Oberst gab nicht die üblichen Gemeinplätze von sich, er versuchte vielmehr, seinerseits den Propagandaminister zu befragen. So wollte er wissen: »Welche Erfahrungen haben Sie bei dem Versuch gemacht, bittere Wahrheiten deutlich werden zu lassen – wie reagieren die deutschen Menschen darauf?« »Eine überaus interessante Frage«, sagte Goebbels freimütig. »Ich werde sie mit einer Gegenfrage beantworten: Pflegen die führenden Offiziere ihren Soldaten alles zu sagen, was sie wissen?« »Nein – das nicht.«
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»Und warum nicht – bitte?« Es schien kaum noch notwendig, weitere Worte zu diesem Thema zu verlieren – beide spürten das. Sie kannten die Spielregeln, die Geltung hatten, solange es Macht gab und Kriege geführt wurden: Der einfache Soldat, oder eben der Mann aus dem Volke, war nicht zu jeder Zeit jeder Wahrheit gewachsen – wahre Führerpersönlichkeiten wußten das und handelten danach. »Dennoch glaube ich«, sagte der Oberst, »daß die angewendeten Methoden nicht nur entscheidend, sondern auch bezeichnend sind – für den, der sie handhabt.« »Die Masse des Volkes«, sagte Goebbels mit sanftem Zynismus, »ist immer träge, dumm und vertrauensgierig – damit muß rechnen, wer herrschen will.« Und nach genußvoller Pause fügte er hinzu: »Das allerdings ist nicht meine Weisheit, sondern die der alten Römer! Wir rechnen vielmehr mit dem Idealismus, der Hingabebereitschaft und dem Pflichtgefühl des deutschen Volkes. Oder können Sie sich, um auf Ihr Metier zurückzukommen, Herr Oberst, einen Heerführer vorstellen, der Pessimismus verbreitet?« »Nach bewährter Überlieferung hat der Sieg der Glaube des Soldaten zu sein.« Der Minister lächelte ihm zu. Er sagte: »Im Grunde arbeiten wir nach dem gleichen Prinzip: Man muß in großen Zahlen denken können, wenn man weiträumige Wirkungen erzielen will! Gefühle überlassen wir gern den Poeten und Jungfrauen; die Kirche darf das Jenseits für sich reservieren; schwach entwickelte Hirne sollen getrost Heldenträume produzieren und Vaterlandsliebe ausschwitzen. Die Hauptsache, nicht wahr: sie alle gehorchen unseren Befehlen! Wie war doch gleich Ihr Name?« Mertz von Quirnheim, registrierte Goebbels in seinem belastungsfähigen Hirn – unter dem Kennwort: bemerkenswerte Leute der zweiten Garnitur mit eventueller Aufstiegsmöglichkeit. »Sie haben mich verstanden, Herr Oberst. Wir werden sicher bald wieder voneinander hören.«
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Der Oberst verbeugte sich knapp. Die Brillengläser verdeckten seine Augen. Er war tatsächlich mit Goebbels einer Meinung - was dessen letzte Bemerkung anbelangte. Sie würden sicher bald wieder voneinander hören. Über das Jünglingsgesicht des schlafenden Leutnants von Brackwede legte sich ein Schatten – der Bruder beugte sich über ihn. Er betrachtete Konstantin längere Zeit – regungslos, prüfend. Schließlich weckte er ihn mit behutsamen Bewegungen. Konstantin brauchte nur wenige Sekunden, um völlig wach zu werden. Dann sagte er: »Du hier – ausgerechnet du?« »Ausgerechnet ich«, sagte der Hauptmann mit milder Ironie. »Was willst du diesmal von mir?« »Diesmal will ich lediglich mit dir baden gehen. Ich habe dich für heute vom Dienst beurlauben lassen – der Kommandeur der Kriegsschule ist mit Oberst Mertz von Quirnheim befreundet und damit auch automatisch mit mir. Also – zieh dich an!« Eine Stunde später erreichten sie den Kleinen Wannsee. Hier kannte der Hauptmann eine Stelle, wo man verhältnismäßig ungestört und in vergleichsweise angenehmer Gesellschaft baden konnte – das »Cafe Krause, mit eigenem Strand« erfreute sich eines gewissen Rufes. »Ich bin nur mitgekommen«, erklärte der Leutnant, »weil ich mit dir reden muß.« Fast unwillig blickte er auf die Menschen, die sich hier auf handtuchschmalem Gelände dürftigen Badefreuden hingaben. Diese ersten Julitage taumelten dahin zwischen heftigen Platzregen und prallem Sonnenschein, drückender Schwüle und naßkalten Wolkenstunden. Mädchen fanden sich dennoch an den Berliner Seen ein. Auch diese Mädchen paßten nicht in das Bild, das er sich von seiner Welt gemalt hatte. Diese weiblichen Wesen hatten vermutlich Urlaub oder kamen vom Nachtdienst – waren Kriegerwitwen oder früh entwickelte Kinder, erlebnislüsterne
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Hausfrauen oder Fremdarbeiterinnen in Vorzugsstellungen. Nicht sonderlich viele von all diesen Sorten; doch mehr als genug, um einen Jüngling abzulenken. »Was hast du mit der Verhaftung dieses Oberst Bruchsal zu tun?« fragte er. Der Hauptmann von Brackwede betrachtete seinen Bruder aufmerksam. »Nun – die Erklärung dafür ist einfach. Ich wurde zufällig Zeuge, wie der Oberst Bruchsal seine munteren Reden führte. Den Tatsachen entsprechend, habe ich dann ausgesagt – Maier ersuchte mich darum.« »Und dazu hast du dich hergegeben?« »Welch eine erfreuliche Frage! Du scheinst tatsächlich dazugelernt zu haben – ich weiß das zu schätzen.« »Du hast also mitgeholfen, diesen Oberst an das Messer zu liefern.« »Deine Formulierungen sind wirklich erstaunlich, mein Junge. Dennoch wirst du mir eine kleine Korrektur erlauben dürfen: Erstens: es gab eine Menge Zeugen. Der Oberst war also nicht zu retten. Zweitens: daß er Hitler beschimpfte, beweist zwar seinen vorzüglichen Charakter – daß er es ausgerechnet in einem Schlemmerlokal für Nazibonzen tat, läßt an seinem Verstand zweifeln.« Ein Kind jauchzte auf – mit glücksschriller Stimme; eine Frau lachte herzlich. Zwei Mädchen begannen heftig zu kichern, sprangen dann auf und warfen sich ins Wasser. Eine monotone Stimme rief: »Erfrischungen gefällig?« »Mir ist, als müsse ich mich jetzt schämen«, sagte der Leutnant. »Schämen – für dich.« »Wie schön!« rief der Hauptmann. »Du bist also der Ansicht, daß es nicht richtig war, einen Menschen der Gestapo auszuliefern, der Hitler einen schäbigen Lumpen genannt hat.« »Was sind das für Methoden!« rief Konstantin hilflos aus. »Ihr alle kotzt mich an!« »Eine Fülle von neuartigen Erkenntnissen!« Der Hauptmann
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von Brackwede schien diesen Augenblick zu genießen. »Nur weiter so – und ich werde noch meine Freude an dir haben.« Konstantin jedoch hörte das nicht mehr – er war aufgesprungen, hatte seine Kleider zusammengerafft und eilte davon. Er stieg über sonnenwarme Frauenkörper, übersah verlangend fragende Augen, vernahm den scherzhaften Zuruf einer graziösen Blondine nicht. Er lief suchend dem Ausgang zu. »Dies ist der Tag!« erklärte Olbricht zuversichtlich. Er sah auf seine Armbanduhr. »In wenigen Minuten öffnen wir die ersten Schleusen – um elf Uhr gebe ich das Stichwort ›Walküre‹ aus.« Es war Samstag, der 15. Juli 1944. Am frühen Morgen war Oberst Graf von Stauffenberg, in Begleitung des Generaloberst Fromm, ins Führerhauptquartier geflogen – diesmal nach Rastenburg in Ostpreußen. Die benötigten Aktentaschen wurden von Hauptmann Friedrich-Karl Klausing transportiert. In der Bendlerstraße hatte der Oberst Mertz von Quirnheim bereits seinen Panzerschrank geöffnet – er begann, wohlgeordnete Papiere auf seinem Schreibtisch zu stapeln. »Zunächst einmal«, sagte er erklärend zu Hauptmann von Brackwede, der interessiert dabeistand, »werden wir alle jene Einheiten alarmieren, die außerhalb von Berlin liegen – alles weitere folgt später.« »Ich merke schon«, meinte der von Brackwede, sanft provozierend, »Sie haben wieder einmal gründlich nachgedacht! Aber glauben Sie nicht, daß sich auch andere Gedanken machen könnten – etwa Truppenführer, die mit ihren Leuten auf Berlin zurollen?« »Mein lieber Freund«, sagte der General Olbricht lächelnd. »Gedanken müssen wir uns alle einmal machen – auch Sie, etwa an Ihre Sipo, Kripo und Gestapo. Und vergessen Sie auch nicht Ihren sonstigen politischen Kindergarten. Im Ernst: Wir können jeden Mann gebrauchen.« »Wenn es soweit ist!« meinte der von Brackwede. »Soweit
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mir bekannt ist, beginnt die Lagebesprechung im Führerhauptquartier erst um dreizehn Uhr dreißig – aber bereits zweieinhalb Stunden vorher wollen Sie hier den Vorhang lüften? Alle Achtung – Sie haben Mut!« »Wir vertrauen auf Stauffenberg ...« »Aber ich rechne außerdem, wenn Sie erlauben, mit Hitler!« »Mein Gott, Brackwede«, rief der General Olbricht leicht ungehalten aus, »ich weiß ja, Sie spielen hier gern den Advokaten des Teufels, um uns auf Hochtouren zu bringen – aber das muß doch einmal aufhören.« »Frühestens dreizehn Uhr dreißig – falls es geklappt hat.« »Stauffenberg wird von niemand mehr aufzuhalten sein – alles spricht dafür.« Olbricht bemühte sich, den Pessimismus des Hauptmanns zu überspielen. »Denken Sie an die katastrophale Lage an den Fronten! Rommel hat eine Art Ultimatum an Hitler geschickt. Der Militärbefehlshaber Belgien, General von Falkenhausen, ist gestern seines Amtes enthoben und durch einen Gauleiter ersetzt worden. Und dann die Verhaftung von Julius Leber! Sie hat Stauffenberg zutiefst erregt – er rief: ›Wir brauchen Leber! Ich hole ihn raus!‹« »Es ist soweit«, sagte Mertz von Quirnheim. »Elf Uhr.« Olbricht griff zum Telefon. »Das Stichwort für die Bekämpfung innerer Unruhen – ›Walküre‹ – wird nunmehr ausgegeben.« »Dann«, meinte der Hauptmann von Brackwede, »werde auch ich mit meinen vorbereitenden Maßnahmen beginnen. Falls ich vorzeitig gebraucht werden sollte – ich bin im Kasino. Um mich zu stärken!« »Alarm!« riefen kräftige Stimmen durch die Korridore der Kaserne. Trillerpfeifen ertönten. Eine Sirene röhrte eine knappe Minute lang auf. Und immer wieder wurde »Alarm!« gerufen. Das geschah bei den Panzertruppen in Krampnitz und Groß-Glienicke, bei der Infanterieschule in Döberitz, bei der Unter-Offiziersschule in Potsdam und bei einem Dutzend
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anderer, kleinerer Einheiten, die um Berlin stationiert waren. Es geschah ohne jede Dramatik. Alarme gab es routinemäßig von Zeit zu Zeit. Sie gehörten zum Ausbildungsplan. »Also – los!« sagten die Offiziere. »Dann wollen wir mal wieder.« »Nehmt die Beine in die Hand!« riefen die Unteroffiziere. »Reißt euch am Riemen, Leute!« Und die Soldaten meinten: »Ausgerechnet um diese Zeit! Wenn die das hinausziehen, wird am Ende noch das Essen kalt. Aber was soll man machen?« Sie strömten aus den Unterrichtsräumen, Lagerschuppen und den Kantinen herbei – auf die Appellplätze zu. Sie kamen aus Kellern, Werkstätten und von den Kasernenhöfen. Sie stürzten in ihre Unterkünfte, stiegen in ihre Kampfanzüge, griffen nach den Handwaffen und Stahlhelmen. Offiziere hatten Uhren in den Händen – allein die Zeitspanne interessierte sie, die zwischen dem Alarmruf und dem Antreten ihrer Einheiten lag. Die Norm war unbedingt zu erreichen, etwa bestehende Rekorde sollten möglichst unterboten werden. Ein militärisches Sportfest schien stattzufinden. Die Kompanieführer standen zunächst noch abwartend, doch mit kritischen Blicken, im Hintergrund. Die Bataillonskommandeure begaben sich zum Kommandostab. Der Kommandeur der Schule hatte die Offiziere um sich versammelt und ließ sich von seinem Adjutanten aus dem Panzerschrank die Mappe mit dem Stichwort »Walküre« reichen. »Erstens«, sagte in Krampnitz Oberst Gorn. »Innere Unruhen sind anzunehmen. Das bedingt die Fiktion eines Ausnahmezustandes. Dementsprechend liegt die Vollziehungsgewalt beim Heer.« Die Anwesenden standen gelassen da – im Verlauf ihrer Dienstzeit als Offiziere hatten sie zahlreiche und ausgedehnte
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Planspiele über sich ergehen lassen: Brand in der Kaserne – Bekämpfung von Fallschirmspringern – Suche nach ausgebrochenen Kriegsgefangenen – Maßnahmen bei Sabotageakten – und nun eben: innere Unruhen. »Zweitens«, sagte der Kommandeur. »In Marsch gesetzt nach Berlin, Raum Tiergarten-Bendlerstraße, werden drei Panzerbataillone. Ihnen werden unterstellt – siehe Anlage C – eine Einheit der Fahnenjunkerlehrgänge der Infanterie Potsdam, bestehend aus fünf Kompanien, gleich ein Bataillon. Ferner die Unteroffiziersschule Potsdam, gleichfalls ein Bataillon, jedoch bestehend aus lediglich drei Kompanien.« Keine erkennbare Regung unter den Anwesenden. Befehl war Befehl. Eine Frage nach dem möglichen Verbrauch sogenannter Eiserner Rationen, nach Sonderzuteilungen an Konserven und Rauchwaren, eventuell auch Alkohol, wurde als »im Augenblick unwichtig« bezeichnet. »Drittens«, sagte nunmehr der Kommandeur, in seinen Alarmplänen blätternd. »Eine Sondereinheit, bestehend aus einer Panzerspähwagenkompanie und einer Grenadierkompanie besetzt die Sender Königswusterhausen und Zeesen.« Und dann beugte sich der Oberst noch einmal tief über seine Unterlagen, wie um genauer lesen zu können. Hierauf verkündete er, offenbar selbst leicht überrascht: »Widerstand ist mit Waffengewalt zu brechen.« Selbst das regte niemand auf. Derartige Formulierungen waren zur Zeit Alltagssprache. Und im Krieg war schließlich nichts unmöglich. Die Soldaten jedenfalls warteten – geduldig, gleichmütig, marschbereit. »Scharfe Munition ausgeben!« ordnete der Kommandeur an. »Alle weiteren Einzelheiten erfahren Sie aus den Unterlagen, die Ihnen mein Adjutant übergeben wird. Ich selbst begebe mich befehlsgemäß zum Befehlshaber des Ersatzheeres.« Abschließend fügte er hinzu: »Ich bitte mir aus, daß alles klappt!« Bald danach – um 12.15 Uhr - dröhnten Motoren auf. Die Soldaten verrichteten mechanisch ihre Handgriffe. Ruckartig
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setzten sich die ersten Panzer in Bewegung – in Richtung auf Berlin. Der General der Nachrichtentruppen, Erich Fellgiebel – der Beherrscher aller Telefone, Funkgeräte und Fernschreiber im Bereich des Führerhauptquartiers – stand lässig gegen die Betonwand gelehnt vor seinem Bunker. Er sah aus wie der Direktor eines renommierten GrandHotels in der Schweiz, der auf erlesene Gäste wartet. Wie gelangweilt blinzelte er in den graugelben Sommertag. Dann hob er den linken Arm, um auf seine Uhr zu sehen – es war kurz nach halb zwei. Er verbarg seine angespannte Erwartung. Doch immer wieder sah er in Richtung des Führerbunkers. Dichte Bäume und dicker Stacheldraht beschränkten sein Blickfeld. Er rauchte seine Zigarre möglichst langsam – und wartete. Dann erkannte er den Offizier, der den inneren Sperrkreis verließ – es war Hauptmann Klausing, Stauffenbergs Begleiter. Mit steifen Schritten, gewaltsam beherrscht, kam er auf Fellgiebel zu. »Was funktioniert nicht?« fragte der General. Der Hauptmann Klausing wirkte erregt und erschöpft zugleich. Mühsam sagte er: »Alles verlief zunächst nach Plan ...« »Pläne, Klausing, hat es Dutzende gegeben – mindestens. Die besten Köpfe Deutschlands haben sich daran beteiligt – theoretisch müßte der Mann dort drüben spätestens seit neunzehnhundertachtunddreißig tot sein.« Der General Fellgiebel stieß sich mit den Schultern von der Bunkerwand ab – leicht vorgebeugt stand er da. »Aber da haben Sie es – auch ich quatsche herum! Also – wo kann ich helfen?« »Heute«, sagte Klausing in einem Ton, als schäme er sich, »ist wohl nichts mehr zu machen. Hitler verließ die Lagebesprechung, kaum daß sie begonnen hatte – er hielt sich nur wenige Minuten im Raum auf. Und niemand kann sagen, warum er hinausging.«
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»Es ist immer dasselbe!« Erich Fellgiebel beschäftigte sich mit seinen Lederhandschuhen – er zog sie mit nervösen Fingern straff. »Manchmal habe ich den Eindruck: seine Hauptbeschäftigung besteht darin, Zeitpläne umzuwerfen, sprunghaft die Reviere zu wechseln, sich nicht festlegen zu lassen – seit Monaten scheut er die Öffentlichkeit und verkriecht sich in seine Prunkhöhlen.« »Bitte, benachrichtigen Sie die Bendlerstraße, Herr General«, bat der Hauptmann Klausing. »Das ist der dringliche Wunsch von Oberst Stauffenberg. Er selbst ist noch zu Himmler befohlen worden.« »Warum? Wegen der neu aufzustellenden Volksgrenadierdivisionen, die sich der Reichsführer SS unter den Nagel reißen will?« »Bitte, Herr General, die Benachrichtigung der Bendlerstraße ... Berlin hat bereits seit elf Uhr teilweise den Plan ›Walküre‹ ausgelöst.« »Verdammt!« rief Fellgiebel. »Auch das noch!« Dann setzte er sich eilig in Bewegung. »Da bin ich«, sagte der Doktor Eugen G. strahlend und betrat das Arbeitszimmer des Hauptmanns von Brackwede. »Na – wie steht es?« »Mann Gottes!« rief ihm der von Brackwede staunend zu. »Ich denke, du bist in volle Deckung gegangen. Was hast du hier zu suchen?« »Ich wollte dabeisein«, sagte der Doktor schlicht. Fritz-Wilhelm von Brackwede empfand Rührung und zwang sich daher seine bewährte Ironie auf. »Falls du gekommen bist, um dich an der Verlegenheit von Olbricht und Mertz zu weiden, dann hast du die Stunde glücklich gewählt. Denn der große Tag ist abgeblasen worden.« »Es ist nicht geglückt?« »Es ist verschoben worden«, meinte der von Brackwede ungetrübt. »Und das ist ja nicht das Schlimmste! Gewiß, das kostet Nerven, wenn man zweimal vergeblich Anlauf nimmt –
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doch Nerven hat Stauffenberg. Er wird es eben ein drittes Mal versuchen – auch ein viertes und fünftes Mal, wenn es sein muß.« »Dich scheint das nicht zu beunruhigen, Fritz?« »Ich habe einfach abgewartet – und darin habe ich im Laufe der Jahre einige Übung bekommen. Unsere Strategen aber haben diesmal das Feuer vorzeitig eröffnet – und jetzt möchten sie ihre abgefeuerte Munition am liebsten wieder in ihre Kanonenrohre zurückzaubern. Komm mit!« Als sie das Zimmer des Mertz von Quirnheim betraten, sahen und hörten sie den Oberst telefonieren. Immer wieder rief er: »Übung beendet. Stichwort ›Walküre‹ wird aufgehoben. Die Truppen kehren in ihre Unterkünfte zurück. Erfahrungsbericht bis morgen mittag bei mir.« »Nicht schlecht«, sagte der von Brackwede. »Ihr streut ganz schön Sand auf euer Glatteis – fragt sich nur, ob sich inzwischen nicht doch schon jemand das Bein gebrochen hat?« Olbricht sah ein wenig bleich aus, wirkte aber ruhig und gefaßt – das Ärgste war offenbar überstanden; den Rest erledigte der Oberst mit kaltblütiger Routine. So konnte denn der General den Doktor G. mit gewohnter Herzlichkeit begrüßen. »Ihr seid nicht nur tüchtig, Freunde«, meinte der Hauptmann mit sanftem Spott, »Ihr habt auch eine ganze Portion Glück. Denn nicht auszudenken etwa, wenn Fritzchen Fromm, der Generaloberst, im Laden wäre! Selbst der hätte garantiert einiges gemerkt. Im übrigen ist es gar nicht ausgeschlossen, daß seine Zuträger versuchen werden, ihm die Rotweinaugen zu öffnen – und ich kenne im Hause mindestens drei Generale, die dafür in Frage kommen.« »Damit rechne ich«, sagte Olbricht ernst. »Ich werde behaupten, lediglich Stichproben vorgenommen zu haben.« »Und das wird Fromm glauben?« Brackwede blickte zweifelnd. »Sind wirklich alle Details beachtet worden, die zu einer teilweisen Alarmübung gehören?«
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Der Oberst unterbrach seine Telefongespräche – offenbar wollte er sich diese Unterhaltung nicht entgehen lassen. Eugen G. aber lächelte seinem Freund Fritz zu – »Fritze« nannte er ihn manchmal in berlinerischer Herzlichkeit. Der General Olbricht schien nachzudenken. Und dann sagte er bedächtig: »Wozu doch so ein Gewissenswurm wie unser Brackwede gut ist! Er hat mich, glaube ich, auf einen ganz brauchbaren Gedanken gebracht: Ich werde einige der alarmierten Truppeneinheiten inspizieren – zu ihnen sprechen und dabei immer wieder Begriffe wie Übung, Probealarm, Testversuch gebrauchen. Das wird gewiß weiter absichern.« An diesem Tag pendelte der Gefreite Lehmann, der Gartenzwerg, untätig durch den Bendlerblock. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand benötigte seine Hilfe oder doch wenigstens seinen Ratschlag, keiner, der ihm die mühsam dahinschleichenden Stunden verkürzte. Denn: Stauffenberg war unterwegs, Brackwede eilte betriebsam wie immer durch die Korridore; die Gräfin Oldenburg-Quentin war an diesem Tage auf Befehl des Hauptmanns auswärts beschäftigt – und somit war auch nicht mit dem Auftauchen von Konstantin zu rechnen. Lehmann gähnte. Schließlich stieß er auf Oberleutnant Herbert. Der gab vor, über den Anblick des Gefreiten erfreut zu sein. »Kommen Sie zu mir«, sagte er. »Ich bin gerade mit dem dienstlichen Kram fertig geworden. Haben Sie nicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten?« Der Gefreite folgte Herbert bereitwillig. »Vorausgesetzt, Sie haben einen guten Tropfen auf Lager. Doch eben das sollte Ihnen wohl nicht schwerfallen – bei den Beziehungen, die Sie haben.« Der Oberleutnant Herbert bewirtete den Gefreiten Lehmann geradezu verschwenderisch – er räumte fast die Hälfte seiner unteren Schreibtischschublade für ihn leer; und dort lagerten seine besten Reserven. Er öffnete eigenhändig eine große
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Büchse mit Langustenschwänzen – auch stellte er seine Spezialflasche hin: Whisky aus Schottland; garantiert sieben Jahre alt. Das war ihm dieser Mann wert. »Essen Sie, trinken Sie!« forderte Herbert herzlich. »Mich machen Sie nicht arm.« Und dann verkündete er, mal kurz austreten zu wollen – er telefonierte jedoch in einem Nebenraum. Nachdem er wieder erschienen war, sprach er von den Brüdern Brackwede – besonders von Konstantin. Das interessierte den Gefreiten. »Nun – wie macht er sich denn?« »Bestens!« erklärte Oberleutnant Herbert. »Wir sind sehr oft zusammen – oft ganze Nächte lang. Der Leutnant ist ein prächtiger Mensch. Leider meint meine Braut das auch.« Darüber mehr zu erfahren, empfand Lehmann als verlockend. Ein ausführliches Gespräch war die Folge. Herbert sang Loblieder auf alles, was von Brackwede hieß. Dabei sah er durch das Fenster auf die Straße. Dort rollte jetzt ein schwerer grauschwarzer Mercedes an und blieb in respektvoll wirkender Entfernung stehen. »Ich bin beunruhigt«, sagte der Oberleutnant Herbert nun glaubhaft. Er wäre mit dem Leutnant verabredet – doch der komme nicht. Das gäbe zu denken. Möglich, daß sich Konstantin in der Wohnung seiner Braut aufhalte – gleich hier in der Nähe, um drei Ecken herum. Doch eine telefonische Verbindung nach dorthin bestehe nicht – und sich hier entfernen könne er auch nicht; er erwarte einen wichtigen Anruf aus dem Propagandaministerium. »Was soll ich da nur machen?« Lehmann fühlte sich belustigt. In seinen Augen war Herbert ein Nebelwerfer, ein Konjunkturritter, ein Hitlerhintenhineinkriecher. Im Grunde: ein bemühtes armes Schwein! Es gab zur Zeit Millionen davon in Deutschland. Herbert war ihm im Grunde völlig gleichgültig. Nicht jedoch Konstantin! Und auch nicht jene Herbert-Braut, die es angeblich fertigbrachte, den Leutnant abzulenken – von einer
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so einzigartigen Frau wie Elisabeth Gräfin Oldenburg. So was erregte seine Neugier. Und so sagte er denn bereitwillig: »Wenn, Sie durchaus wollen – und wenn das gleich hier in der Nähe ist –, dann kann ich ja schnell hinüberhüpfen.« »Bitte, tun Sie das! Sie würden mich dadurch sehr verpflichten.« Ein kurzer Blick durch das Fenster bestätigte ihm: die sargartig wirkende Limousine stand lauernd da. Der Generaloberst Fritz Fromm, Befehlshaber des Ersatzheeres, hatte auch seine Gefolgsleute, Paladine und Zuträger. Als ihm unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Führerhauptquartier berichtet wurde, während seiner Abwesenheit wäre das Stichwort »Walküre« ausgegeben worden, reagierte er zunächst völlig wortlos darauf – er nahm es lediglich zur Kenntnis. Minutenlang blieb er starr an seinem Schreibtisch sitzen. Dann begann er, behutsam, zu sondieren. Und es erfüllte ihn mit einer gewissen Erleichterung, als er erfuhr: der General Olbricht wäre unterwegs, um Truppen zu inspizieren. Somit konnte er den schlangenklugen, eiskalten Oberst Mertz von Quirnheim zu sich befehlen. »Was ist das für eine ausgemachte Sauerei!« brüllte er auf. »Eine Routineangelegenheit«, behauptete der Oberst. Fromm vermied es, die Kardinalfrage zu stellen – nämlich: wie ein derartiger Befehl überhaupt ohne seine Zustimmung möglich gewesen sei. Er tat vielmehr, als wäre das alles durchaus in seinem Sinne geschehen – nur eben: unvollkommen, fragwürdig, nicht mit der notwendigen Exaktheit. »Dieses Unternehmen hätte sorgfältiger vorbereitet werden müssen.« Mertz von Quirnheim erkannte prompt, worauf Fromm hinauswollte: sich nicht festlegen, jeden Mißgriff vermeiden, kein Risiko eingehen! Erleichtert sagte er: »Über mögliche Fehlerquellen wird berichtet werden – das ist veranlaßt.« »Ich kann nur hoffen«, meinte der Generaloberst widerwillig,
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»daß hier kein unnötiger Staub aufgewirbelt worden ist.« Und in väterlich besorgtem Ton fügte er hinzu: »Kinder – macht mir nur keine Dummheiten!« »Die Aktion war genau durchdacht«, versicherte der Oberst. »Hoffentlich«, sagte Fromm, sich abwendend. »Jedenfalls werde ich – und darauf sollten Sie achten – eine Aktennotiz anfertigen. Zunächst gewissermaßen für den Hausgebrauch. Zunächst – wie gesagt. Und darin wird stehen: Ich mißbillige, und zwar schärfstens; ich habe vermahnt, und zwar eindringlich. Kurz und gut: ich gedenke keine fragwürdigen Experimente in meinem Bereich zu dulden! Ist das klar genug?« »Das ist klar genug«, bestätigte Mertz von Quirnheim und rückte seine Brille zurecht. Auf der Bendlerstraße – in Richtung auf das Spreeufer zu – ereignete sich an diesem Tag ein Vorfall, der zu erheblichen Unruhen führen sollte, Tatsache war offenbar folgendes: Ein Gefreiter, mit Namen Lehmann, verließ den Bendlerblock. Er führte ein Fahrrad mit sich; auf diesem radelte er gemächlich dahin. Ein schwarzgrauer Staatswagen folgte ihm. Doch plötzlich sprang der Gefreite von seinem Rad, zog eine Pistole hervor und durchschoß die beiden Vorderreifen der Limousine – mit zwei gutgezielten Schüssen. Die Insassen des Autos gingen in volle Deckung – alles das laut Protokoll – , und als sie es wieder wagten, sich zu zeigen, war der Mann mit dem Fahrrad verschwunden. Im Auto saß Voglbronner, der Greifer – ein Telefonanruf hatte ihn alarmiert. Er handelte sozusagen aus Eigeninitiative, denn sein direkter Vorgesetzter, Maier, war nicht erreichbar gewesen. Daß er derartig scheiterte, hielt er nicht für seine Schuld. Er erreichte die Prinz-Albrecht-Straße nur mit Mühe und Not. Und erst nach längerem Warten konnte er dem Sturmbannführer Bericht erstatten.
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»Menschenskind«, sagte der, »das ist ja geradezu kläglich!« Und dann brüllte er löwenhaft auf. »Sie sind ein elender Versager! Solche Leute muß man lebend in die Finger bekommen oder sie tot auf der Strecke lassen. Aber was Sie sich da geleistet haben, das grenzt beinahe schon an Sabotage!« Voglbronner knirschte mit den Zähnen. Damit, versuchte er zu erklären, hätte doch wohl niemand rechnen können; das wäre bisher noch nie in seiner Praxis passiert. »Was muß man sich nicht alles bieten lassen!« grollte Maier. Und mit einem vernichtenden Blick auf Voglbronner fügte er hinzu: »Wenn man von derartig unfähigen Beamten umgeben ist! Noch eine Schlappe dieser Art – und Sie sind erledigt, Voglbronner!« Maier versuchte nun höchstpersönlich, diese Angelegenheit in seinem Sinne zu bereinigen. Er fuhr, offiziell, zur Bendlerstraße hinaus. Nach einigen Kreuzund Quermanövern wurde er, wie erwartet, an Hauptmann von Brackwede verwiesen. Was dann folgte, hätte er voraussehen müssen. Brackwede gab sich bestürzt. »Ist denn das die Möglichkeit!« rief er aus. Da inzwischen Lehmann mit ihm telefoniert hatte, wußte er ihn in Sicherheit. Es gab noch eine ganze Anzahl Schlupflöcher in Groß-Berlin. »Natürlich ist es meine Pflicht, ihn auszuliefern – aber ich habe ihn nicht!« Maier erkannte schnell, daß seine Position aussichtslos war. Und er hütete sich daher, voreilige Forderungen zu stellen. Vielmehr behauptete er: »Ich denke auch dabei nur an unsere wohlgeplante Zusammenarbeit.« »Darauf«, versicherte der Hauptmann, »lege auch ich – nach wie vor – besonderen Wert. Aber mit diesem Lehmann ist da leider nichts zu machen – der ist ganz einfach nicht greifbar.« »Und warum nicht? Sie werden verstehen: ich benötige eine offizielle, verbindliche Erklärung.« »Die sollen Sie gern haben! Dieser Lehmann hat sich
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gewissermaßen selbständig gemacht – er hat sich also von der Truppe entfernt. Er ist somit, was Sie verbindlich registrieren können, fahnenflüchtig geworden.« »Schon gut, schon gut!« rief Maier unwillig. »Ich bin ja nicht gerade auf den Kopf gefallen. Und ich werde Ihnen natürlich gern bei der Suche nach diesem Kerl behilflich sein. Irgendwann einmal werden wir ihn schon aufgreifen.« Der von Brackwede lehnte sich zurück. »Sie scheinen immer noch nicht zu ahnen, Verehrtester, wie wenig Zeit Ihnen bleibt, die richtige Einstellung zu gewissen Dingen zu finden. Vielleicht schon morgen oder übermorgen könnte es zu spät für Sie sein!« »So ist das nun mal – wir leben in einer großen, aber auch gefährlichen Zeit!« erklärte Oberleutnant Herbert. »Kreaturen, die fahnenflüchtig werden, gibt es überall. Und mit Lumpen, die den Führer beschimpfen, muß man leider auch rechnen – und sie entsprechend behandeln!« Was mit dem Gefreiten Lehmann geschehen war, ging Konstantin von Brackwede sehr nahe. Auch den Oberst Bruchsal konnte er nicht vergessen. Und daß Julius Leber verhaftet sein sollte, hielt er für einen tragischen Irrtum. Er hatte den Bruder aufgesucht, um mit ihm zu sprechen – der behauptete, intensiv beschäftigt zu sein. Er hatte versucht, die Gräfin Oldenburg zu finden – sie schien für einen Tag verreist zu sein. So war er denn auf Herbert gestoßen und von dem mit offenen Armen empfangen worden. »Du mußt das so sehen, Konstantin – Opfer müssen immer gebracht werden, und zwar solche und solche!« Er duzte den jungen Brackwede bereits – nicht zuletzt, weil er der Bruder des einflußreichen Hauptmanns war. »Außerdem: Wo gehobelt wird, fallen Späne!« Er hatte Konstantin zu Molly verschleppt, um eine möglichst gemütliche Atmosphäre zu schaffen. Und die saß im Bademantel dabei – sie hatte gerade geduscht; zufällig floß wieder einmal das Wasser in diesem Stadtteil, und das mußte man ausnutzen.
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»Reiben Sie doch mal meinen Rücken«, forderte Molly unbekümmert kokett von Konstantin. »Mit dem Rücken fängt es immer bei ihr an!« scherzte Herbert. Konstantins Zögern schien ihn zu erheitern. Er sagte mit augenzwinkernder Vertraulichkeit: »Du brauchst dich da gar nicht zu genieren. Denn einmal sind wir hier ganz unter uns – und zweitens bin ich für totale Kameradschaft!« Dabei wies der Oberleutnant, über seine sogenannte Braut hinweg, mit Besitzerstolz auf eine Batterie Flaschen, die auf einem Servierwagen standen. Auch dieses Ergebnis seiner neuen Dienststellung verdankte er letztlich dem Hauptmann von Brackwede. »Dein Bruder, Konstantin – das ist ein Kerl; alles, was recht ist. Allein, wie der mit dem Oberst Mertz spricht oder gar mit General Olbricht – das ist ganz große Klasse! Neulich soll er sogar dem Generaloberst Fromm Bescheid gestoßen haben, bei einer Besprechung – dem blieb glatt die Spucke weg! Aber so muß es sein! Kein General kann uns davon abhalten, aufrecht unsere Meinung zu sagen.« Konstantin rieb leicht Mollys Rücken – sie schnurrte wie eine zufriedene Katze. Doch des Leutnants Bewegungen waren mechanisch; er fand Molly mehr störend als anregend. Immerhin waren seine wüst verwirrten Gedanken angenehm besänftigt worden; denn Herbert hatte darauf bestanden: der Leutnant müsse alle vorhandenen Sorten an echtem französischem Cognac durchprobieren, vom Hennessy bis Dubouchet, vom Monnet bis Courvoisier – was ihm dann am besten mundete, das würde fortan für ihn reserviert werden. »Realist muß man sein, Konstantin!« fuhr er fort. »Hier geht es um den Endsieg! Wer da nicht hundertprozentig spurt, für den gibt es nur noch eine Lösung: Rübe ab!« »Sie können ruhig noch kräftiger reiben«, gurrte Molly. Doch Konstantin ging nicht darauf ein. Bereits leicht lallend, sagte er: »Was mich dabei bedenklich stimmt, sind gewisse Methoden ...« »Wir wehren uns doch nur unserer Haut, Mensch! Die
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Feinde wollen uns ausrotten – das hat unser Führer gesagt!« Konstantin fand nicht mehr die Kraft, hierauf zu antworten. Und er sah, wie sich Herbert leicht taumelnd erhob. Der winkelte die Arme an den massigen Oberkörper: Er schien eine Maschinenpistole in den Händen zu halten. »Abknallen!« rief er dumpf. »Alles abknallen, was sich unserem Führer in den Weg stellt!« »Ich will wieder duschen!« verkündete Molly und stand schwankend auf. »Und wer seift mir den Rücken ein?« Herbert entkorkte seine nächste Whiskyflasche und ersuchte Konstantin, Molly in das Badezimmer zu begleiten. Der Leutnant nahm gerade die zwölfte Cognacprobe zu sich – diesmal handelte es sich um einen seltenen Jouvet-Reserve; ein Wasserglas war damit gefüllt worden. Konstantin schüttete die Flüssigkeit in sich hinein und schritt dann mit steifen Beinen und vernebeltem Hirn dem Badezimmer entgegen. Hier nannte er Molly Elisabeth. Doch um sie, wie gewünscht, einzuseifen, fand er keine Kraft. Er setzte sich auf den Rand der Wanne, glitt schließlich langsam zu Boden und blieb dort liegen. Herbert wankte herbei, von Molly gerufen. Er betrachtete den zusammengesunkenen Leutnant und sagte schwer: »Der braucht eine Frau!« »Aber eine«, meinte Molly, »die Elisabeth heißt.« »Die soll er haben«, erklärte Herbert mit Großmut. »So wahr ich sein Freund bin. Ich werde der mal kurz ins Gewissen reden. Was denkt sich diese Silbergans eigentlich? Worauf wartet die denn noch?« »Sie haben getan, was Sie konnten«, versicherte der Generaloberst Ludwig Beck. »Das möchte ich zunächst einmal feststellen.« »Es ist nicht alles, was ich tun kann«, sagte der Oberst von Stauffenberg. »Ich gebe nicht auf.« Am Tag nach dem versuchten Attentat – am Sonntag, dem 16. Juli 1944 – war Stauffenberg zu Beck gebeten worden;
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eine Bitte, die ein Befehl war. Im Arbeitszimmer des Generalobersten saßen sie einander gegenüber. Die Bücher an den Wänden umstanden sie wie ein Schutzwall. »Die Auslösung des ›Walküre‹-Alarms«, sagte Beck, »soll hier und dort zu recht zweifelhaften Erfolgen geführt haben – die vorgesehenen Zeiträume etwa konnten nicht überall eingehalten werden.« »Auch ich bin noch nicht mit den Plänen zufrieden«, gestand Stauffenberg. »Verbesserungen scheinen dringend notwendig – Olbricht und Mertz arbeiten bereits daran. Und Brackwede hat ebenfalls Bedenken angemeldet – ihm gefallen die Aufrufe nicht. Auch sie sollten umgearbeitet werden. Das wird in den nächsten Tagen geschehen.« »Vielleicht«, sagte Beck plötzlich, »sollten wir doch von einer Radikallösung Abstand nehmen. Gewiß, es wäre die sicherste gewesen. Jedoch: es existieren auch noch andere.« »Jede andere Lösung«, sagte der Oberst, »braucht ihre Zeit, benötigt neue und umständliche Vorbereitungen, schiebt die Entscheidung mehr und mehr hinaus. Inzwischen jedoch kann Goerdeler ergriffen werden, Leber wird gefoltert, wichtige Leute verlieren ihren Mut und springen ab.« »Ja«, sagte Beck, spürbar widerstrebend, »der Krieg ist nicht gerade ein Jungbrunnen – schon gar nicht für Menschen, die sich für den Widerstand entschieden haben.« »Es gibt nur noch eine einzige Möglichkeit!« Claus von Stauffenberg hatte sich aufgerichtet – die drei Finger seiner linken Hand lagen auf seinem Uniformrock; dort, wo das Herz war: Er schien heftige, plötzlich hervorbrechende Schmerzen zu empfinden. »Man wirft mir vor, ich hätte erst große Versprechungen gemacht und dann nichts gehalten. Himmler hat gedroht: er werde Leuten wie Beck und Goerdeler das Handwerk legen. Und Brackwede hat uns eine Meldung der britischen Nachrichtenagentur Reutter gezeigt, in der angekündigt wird: in Deutschland wäre bereits ein Offizier des Generalstabes dazu bestimmt worden, Hitler zu töten. Das alles zwingt uns doch zu einer schnellen Entscheidung!«
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»Und wenn ich Ihnen befehle, Stauffenberg, die Tat zu unterlassen – was dann?« »Bitte, befehlen Sie das nicht.« Ludwig Beck schwieg längere Zeit. Schließlich sagte er: »Ich befehle Ihnen folgendes: Sie werden sich noch einmal mit Ihren engsten Freunden beraten und ihnen meine Bedenken mitteilen. Wenn Sie dann immer noch auf Ihrem Entschluß bestehen – nun denn: in Gottes Namen!« »Rein zufällig komme ich hier vorbei«, behauptete der Sturmbannführer Maier jovial. »Ich hatte dienstlich in dieser Gegend zu tun – und da dachte ich: Ich besuche Sie mal!« Maier schien das schmale Zimmer des Leutnants von Brackwede in der Luftkriegsschule Bernau völlig auszufüllen. Interessiert musterte er die primitive Einrichtung – eine Art Gefängniszelle mit einigem Komfort. Der Sturmbannführer ließ sich auf dem Feldbett nieder. »Wann«, wollte er freundlich wissen, »haben Sie Ihren Bruder zum letztenmal gesehen?« »Gestern – doch er war beschäftigt. Wir haben kaum zwei Worte miteinander gewechselt.« Und fast bitter fügte der Leutnant hinzu: »Vielleicht war das gut so!« »Das kann ich verstehen«, behauptete Maier vertraulich freundschaftlich. »Ihr Bruder ist gewiß kein Alltagsmensch – Sie werden es nicht gerade leicht mit ihm haben. Aber gerade deshalb sollten Sie sich einige Gedanken über ihn machen.« »Was hätte das für einen Zweck?« fragte Konstantin abweisend. »Der macht ja doch, was er will.« Die Stimme des Sturmbannführers war auf sanfteste Tonfolgen geschaltet, während sein Gesicht wie einzementiert wirkte. »Ich habe Fritz, Ihren Bruder, wirklich gern – das müssen Sie mir glauben. Aber gerade das erfüllt mich mit einer gewissen Besorgnis. Denn manches von dem, was er sich leistet, will mir beunruhigend erscheinen.« »Manchmal habe ich fast auch diesen Eindruck«, gestand Konstantin in gedankenloser Aufrichtigkeit. »Ich liebe meinen
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Bruder vorbehaltlos – aber sein Hüter bin ich nicht!« Der Sturmbannführer nickte und zog einen Zettel aus seinem Ärmelaufschlag – auf diesen Zettel war eine Skizze gezeichnet: ein länglicher Raum, ein breiter Tisch, ein »H« im Mittelpunkt und daneben ein Kreuz. »Haben Sie eine Ahnung, was das bedeuten soll?« Dabei handelte es sich um eine Skizze, die den »Lagebesprechungsraum im Führerhauptquartier« darstellte – das darin angebrachte Kreuz bezeichnete den Ort der anzubringenden Sprengladung, der Buchstabe »H« bedeutete: Hitlers Stuhl. Weder Maier noch Konstantin ahnten, was es mit dieser Skizze auf sich hatte – sie war in einem Papierkorb der Bendlerstraße aufgefunden worden. Und dort bezogen einige Putzfrauen von der Gestapo Sonderhonorare. »Man kann auch völlig ahnungslos oder ganz gegen seinen Willen in gefährliche Dinge hineinrutschen – ich kenne mich da aus.« Der Sturmbannführer griff freundschaftlich-beschwörend nach Konstantins Arm. »Und ich will ja auch nichts weiter von Ihnen als das: Sollte einmal irgend etwas Ihnen nicht ganz verständlich erscheinen – oder gar bedenklich – , dann wenden Sie sich unverzüglich an mich! Ich werde dann schon Ihren Bruder heraushauen!« »Ich habe Generaloberst Beck versprochen«, sagte Claus von Stauffenberg, »mit rückhaltloser Offenheit unsere Situation darzulegen. Wir werden danach – so oder so – zu einer Entscheidung kommen müssen. Und diese Entscheidung wird verbindlich sein.« An diesem Abend – am Sonntag, dem 16. Juli 1944 – hatten sich in der Wohnung des Oberst Stauffenberg am Großen Wannsee folgende Personen versammelt: Adam von Trott zu Solz, Legationsrat im Auswärtigen Amt; Hauptmann Ulrich Wilhelm Graf von Schwerin-Schwanefeld; Oberregierungsrat Peter Graf York von Wartenburg; Oberst Ritter Mertz von Quirnheim; Oberst im Generalstab Georg Hansen; Oberstleutnant Cäsar von Hofacker aus Paris; Berthold von Stauffenberg und der Hauptmann von Brackwede – neun
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Personen insgesamt. »Es existieren«, begann Claus, »drei Möglichkeiten – und das nicht nur nach Ansicht von Generaloberst Beck. Darf ich dich bitten, Fritz, diese drei Möglichkeiten zu umreißen.« »Ungern«, sagte der Hauptmann von Brackwede lächelnd. Dennoch schien ihn eine kaum zu verbergende Besorgnis zu erfüllen. Fast hastig erklärte er: »Lösung Nummer eins ist bekannt – das radikale Vorgehen. Nummer zwei kann als Berlin-Lösung bezeichnet werden – die Einvernahme des gesamten Befehlsund Nachrichtenapparates, die Rücknahme der Fronten, die Oberspielung des Hauptquartiers. Drittens: die sogenannte West-Lösung – dort Abbruch des Kampfes, Zurücknahme der Truppen bis zum Westwall, verstärkte Verteidigung im Osten.« »Und die Befehlshaber?« Brackwede lächelte sarkastisch. »Sobald Hitler ausgeschaltet ist, werden sie dringend eines neuen Staatsoberhauptes bedürfen, um wieder mit Anstand dienen zu können.« Der Hauptmann blickte fordernd zu Stauffenberg hinüber. Doch der Oberst schwieg. Er wollte sich nicht vorzeitig einmischen. Auch durfte seine Einstellung gewissen Heerführern gegenüber in diesem Kreis als bekannt vorausgesetzt werden. Unter anderem hatte er sie wiederholt »Nickesel« genannt. Und er hatte gesagt: Vor Hitlers Tür führen sie kühne Reden – doch in dessen Gegenwart kriechen sie zu Kreuz! »Wir haben«, erklärte Trott zu Solz, »wiederholt versucht, Verbindungen mit der Feindseite aufzunehmen ...« »Ähnliches«, warf der Hauptmann von Brackwede ein, »hat sich auch Himmler zu unternehmen bemüht. Natürlich blieben dessen Versuche negativ – mit Henkern wie ihm will niemand verhandeln. Doch wie sieht es mit unseren diesbezüglichen Bemühungen aus?« »Interesse, Wohlwollen, Anteilnahme – nichts weiter sonst«, berichtete der Legationsrat. »Unsere Freunde haben
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mühevolle Verbindungen bis zu Churchill aufgenommen – ohne jedes greifbare Resultat.« »Vielleicht ist das gut so«, sagte Berthold von Stauffenberg nachdenklich. »Wir müssen selbst – allein – mit allem fertig werden.« Die Anwesenden schienen verstummt zu sein. Brackwede betrachtete sie mit funkelnden Augen. Claus von Stauffenberg saß wie abwesend da – er vergaß, sein eiterndes Auge zu säubern. Eine dünne Spur begann sich auf seinem angespannten Gesicht abzuzeichnen; doch die bohrenden Schmerzen, die in ihm wüteten, ließ er sich nicht anmerken. »Ich habe heute mit Henning von Tresckow telefoniert«, berichtete der Hauptmann von Brackwede. »Er hat seinen Standpunkt folgendermaßen fixiert: Das Attentat auf Hitler muß erfolgen, koste es, was es wolle. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nun nicht mehr allein auf den praktischen Zweck an, sondern auch darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Weit und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat – unter Einsatz des Lebens. Alles andere ist daneben gleichgültig. Soweit Henning von Tresckow.« »Ich stimme ihm zu«, sagte der Oberst Claus Graf von Stauffenberg. »Es gibt nur noch eine Möglichkeit – und die muß und wird versucht werden. Wieder und immer wieder – bis es geschehen ist!« Tauartiger Trümmerstaub hatte sich auf die Straßen Berlins gelegt. Er schob sich zu den restlichen Häusern empor, schien die Fensterscheiben zu verkleben und die Dächer mit grauschmutziger Farbe zu überziehen. Nicht ein Mensch mehr, der vollkommen sauber wirkte. Dennoch glänzten die Schuhe des Leutnants Konstantin Graf von Brackwede, seine Handschuhe waren frisch gewaschen, und seine zahlreichen Auszeichnungen blitzten metallisch. Er stand auf dem Kurfürstendamm vor einem Filmtheater und wartete auf die Gräfin Oldenburg-Quentin –
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mit heftiger Unruhe; er hatte sich bereits eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit eingefunden. Er blickte zur Gedächtniskirche hin, zum Bahnhof Zoo und zum dunklen Hochhaus in Richtung Tauentzienstraße. Die verklebten brüchigen Fensterscheiben, die wie tote Augen waren, sah er nicht. Die Menschen, die sich an ihm vorüberschoben, trümmergrau auch sie, sauer riechend, in schlotternden Kleidern, mit ausgetrockneten Erdgesichtern – er registrierte sie nicht. Was er zu sehen begehrte, war allein Elisabeth. Und sie kam. Sie trug ein Kleid aus grauem seidigem Stoff – es umgab ihren Körper mit glatter Geschmeidigkeit. Fast zärtlich lächelte sie ihm entgegen. »Wie schön!« versicherte Konstantin dankbar. »Wie schön, daß es Sie gibt – und daß Sie gekommen sind.« »Ich bin gern hier«, sagte sie. Doch ihre Augen blickten über ihn hinweg, zu den Menschen hin, die sich auf die dunklen Schächte der U-Bahn zuschoben. Dort versanken sie wie Steine im Moor. »Sicherlich wird es wieder Fliegeralarm geben – doch bis dahin, hoffe ich, werden wir einen schönen Abend haben.« Sie gingen in ein Restaurant, das in einer Nebenstraße des Kurfürstendamms lag – es hieß Der Weinstock und wurde von Offizieren der Bendlerstraße bevorzugt. Der Besitzer diente der Widerstandsbewegung als »Briefkasten«, und für seine Freunde wurden gern Tische reserviert. »Ich habe Ihrem Bruder natürlich mitgeteilt, wo wir uns aufhalten werden«, sagte Elisabeth. »Das ist auf unserer Dienststelle so üblich – wir müssen jederzeit erreichbar sein.« »Ich hoffe, er hat nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß Sie in meiner Begleitung hier sind.« »Das schien ihm sogar zu gefallen«, gestand die Gräfin lächelnd. »Irritiert Sie das?« Diese Frage verneinte Konstantin; er errötete sogar leicht. Er beugte sich tief über die bescheidene Speisekarte. Doch er
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brauchte nicht zu wählen; denn der Besitzer selbst erschien und verkündete: Er erlaube es sich, persönlich die Auswahl zu treffen und einen Wein aus seinen privaten Beständen zu servieren. Er lächelte der Gräfin dezent zu und erklärte seinen Gästen: Der Hauptmann von Brackwede habe das telefonisch angeregt. Das Essen, das ihnen dann serviert wurde, war nicht sonderlich reichhaltig, doch erlesen – soweit das in Berlin noch möglich war. Dazu ein Frankenwein aus Kitzingen. Sie plauderten unbekümmert – fast eine Stunde lang. Dann erschien der Hauptmann von Brackwede. Er bewegte sich auf ihren Tisch zu, nahm Platz und sagte dann lächelnd: »Ich hoffe, ich störe! Aber es ließ sich nicht vermeiden, und es könnte sich lohnen.« »Ich stehe Ihnen selbstverständlich zur Verfügung«, versicherte Elisabeth. »Um Sie handelt es sich diesmal gar nicht – ich gedenke lediglich, Konstantin zu entführen. Ich bin nämlich mit Oberst Stauffenberg verabredet – und der hat nichts dagegen, wenn mein Bruder mich begleitet. Eine einmalige Gelegenheit für ihn! Und die gönnen Sie ihm doch, Gräfin – oder etwa nicht?« Leise fragte sie: »Muß das wirklich sein?« »Ja«, sagte der Hauptmann. »Ich halte es für notwendig – und für eine der vielleicht letzten Gelegenheiten für Konstantin, wichtige Erkenntnisse zu sammeln. Ich sehe: Sie vermögen nichts dagegen einzuwenden, Gräfin. Herzlichen Dank! Also los – komm, mein Kleiner!« »Immer nur herein!« rief Stauffenberg dem Hauptmann von Brackwede zu. »Ich bin gerade wieder einmal bei meiner Lieblingsbeschäftigung – ich betreibe Hochverrat.« Dabei lachte der Oberst Claus Graf von Stauffenberg fröhlich, und der Leutnant von Brackwede, der seinen Bruder begleitete, war sicher, einen kräftigen Scherz vernommen zu haben. Unter Generalstäblern schienen derartige Extravaganzen alltäglich zu sein – zumindest in diesem Hause.
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Der Oberst legte für einen kurzen Augenblick den Telefonhörer aus der Hand und schritt schnell auf den Leutnant zu. Er streckte ihm die drei Finger seiner Linken entgegen. »Freue mich, Sie kennenzulernen, Herr von Brackwede. Ihr Bruder hat mir bereits einiges von Ihnen erzählt.« Stauffenbergs herzhaftes Lachen erklang nur noch selten. Einst vermochten ihn seine Freunde durch geschlossene Türen hindurch an diesen Ausbrüchen reiner Fröhlichkeit zu erkennen – doch jetzt war um ihn entschlossene Energie, konzentrierte Aufmerksamkeit, angespannte Erwartung. Er hatte den Leutnant schnell wieder verlassen und erneut den Telefonhörer aufgegriffen – er sprach mit dem Chef des Stabes einer Heeresgruppe. »Die letzte Materialsendung ist mir von Ihrer Dienststelle vor etwa vierzehn Tagen, Anfang Juli, bestätigt worden – sehen Sie nach!« Und fast im gleichen Atemzug sagte er zu Hauptmann von Brackwede: »Die korrigierten Aufrufe und die neuen Texte für die ersten Fernschreiben liegen jetzt vor, Fritz.« Der Hauptmann begab sich an Stauffenbergs Schreibtisch, zog dort die unterste der rechts liegenden Aktenmappen hervor, nahm sie an sich und ließ sich in einen Sessel nieder. Konstantin blieb wie gebannt seitwärts stehen – er spürte die drängende Unruhe, die diesen Raum beherrschte, fast körperlich. Der Oberst sprach bereits wieder in das Telefon hinein: Nein, er könne keinesfalls die Materialzuwendungen verdoppeln; ja, er wisse, daß das notwendig wäre – doch man müsse in nächster Zukunft sogar damit rechnen, daß kaum noch die bisherigen Größenordnungen einzuhalten wären. »Dieser Krieg, mein Lieber, beginnt eine Schlittenpartie in den Abgrund zu werden ... Haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht, ob Sie abspringen wollen? Nein? Na – dann gute Reise!« Der Oberst legte den Hörer nicht aus der Hand – ein Gespräch löste pausenlos das andere ab. Der Leutnant von
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Brackwede hatte sich nur auf einen Stuhl gesetzt; ohne Aufforderung und mit bescheidener Zurückhaltung in der Nähe der Tür. Von hier aus konnte er den Bruder und den jugendlich-lebhaft wirkenden Chef des Stabes sehen – sie schienen sich wortlos zu verstehen. »Nein!« rief Claus Stauffenberg jetzt mit fast kalter Schärfe – sonst erklang seine Stimme leise, fast weich, mit bedächtiger Schwere. Doch diese Stimme konnte sich in Sekundenschnelle verwandeln. »Nein – das geht nicht! Die Vorrangstellung der Truppe hat bei den eigenen Frauen und Kindern aufzuhören – wenn deutsche Menschen aus den Ostgebieten in das Reich flüchten müssen, so sind sie zu unterstützen, nicht abzudrängen! Wenn die Wehrmachtführung versagt, muß das nicht die Zivilbevölkerung ausbaden.« »Deine Telefongespräche«, sagte der Hauptmann von Brackwede, kurz vom Studium seiner Unterlagen aufblickend, »sind in letzter Zeit erstaunlich deutlich geworden.« »Immer noch nicht deutlich genug«, sagte der Oberst. Er legte den Telefonhörer nicht auf die Gabel zurück und verlangte drei weitere Verbindungen: mit einem Rüstungsbeauftragten; mit der Reichsleitung Rosenberg; mit der Heeresgruppe B im Westen. Zwischendurch zündete sich Stauffenberg eine Zigarette an – niemand half ihm dabei. Der Leutnant war ausdrücklich von seinem Bruder vor derartigen Hilfeleistungen gewarnt worden – obgleich der Oberst nur noch drei Finger der linken Hand besitze, ziehe er sich selbst an, bediene er sich damit, verfertige er so seine Notizen. Stauffenberg steckte sich die Zigarette in den Mund, öffnete die vor ihm liegende Zündholzschachtel und entnahm ihr – mit sicherem, schnellem Griff – ein Streichholz. Er rieb das Holz geschickt gegen die Zündfläche; es brannte sofort. Fast im gleichen Augenblick ergriff der Oberst wieder den Telefonhörer. Auf seinem verbliebenen linken Zeigefinger steckte ein Siegelring - er trug die Inschrift: »FINIS INITIUM.«
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Da der Oberst die von ihm geforderte Verbindung nicht gleich erhielt, wendete er sich an Konstantin und fragte mit jetzt hellklingender Stimme: »Wie sehen Sie die Lage, Herr Leutnant?« »Ich glaube, ich habe nicht den notwendigen Überblick«, erwiderte Konstantin. »Er ist dennoch zuversichtlich«, warf der Hauptmann leicht belustigt ein. »Er gehört zu jenen, die bereit sind, für Deutschland zu sterben – wobei er allerdings Deutschland mit Hitler verwechselt. Ein weitverbreiteter Irrtum.« Stauffenberg wurde abgelenkt – er telefonierte jetzt mit dem Rüstungsbeauftragten, seine kräftigen breiten Schultern waren dabei leicht vorgebeugt; seine feste Stirn blieb fast faltenlos. »Daß wir in keinen normalen Verhältnissen leben, das hat sich auch bis zur Bendlerstraße herumgesprochen! Ich weiß um die Schwierigkeiten – aber es sind die Ihren! Und die Soldaten an der Front brauchen Waffen – und die werden Sie so lange liefern müssen, bis auch Ihr Verein total ausgebombt ist.« Unmittelbar danach erklärte er Konstantin, als gelte es, lediglich eine Rechenaufgabe zu stellen: »Die Heeresgruppe Mitte ist so gut wie erledigt. Der Zusammenbruch der Ostfront ist in wenigen Wochen zu erwarten. Die russischen Truppen werden in Kürze die Weichsel überschreiten, dann die Oder – und in absehbarer Zeit werden sie vor Berlin stehen. Das, Herr Leutnant, ist die Lage.« Konstantin Graf von Brackwede hockte wie erstarrt auf seinem Stuhl. Er blickte hilfesuchend zu seinem Bruder hin – doch der schien sich ausschließlich mit seinen Akten beschäftigen zu wollen. Stauffenberg aber telefonierte bereits wieder; mit einer Parteidienststelle – Bekleidung für die hilfsbedürftige Bevölkerung war auszugeben; dann mit einer Frau – sie berichtete vom Tode ihres Mannes, und Stauffenberg versuchte, ihr Worte des Trostes zu sagen. Fast im gleichen Atemzug wollte er von Brackwede wissen: »Wie weit bist du mit deiner Lektüre gekommen, Fritz? Hast du dir darüber ein Urteil bilden können?«
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»Diese Aufrufe sind zu lang, zu geschwollen, ohne jede rechte Durchschlagskraft. Der Mann auf der Straße wird sie nicht sofort begreifen.« »Was ich immer gesagt habe, Fritz – mit uniformierten Oberlehrern kann man keine neue Zeit beginnen!« Jetzt schien Stauffenberg dunkel zu erglühen – das ihm verbliebene Auge strahlte in stahlblauem Glanz. Der Leutnant betrachtete den Oberst fasziniert – auf dessen Worte vermochte er nicht recht zu achten. Er verspürte nur, herzbeklemmend, eins: Dieser Mann war von großer, mitreißender Kraft. Einer jener Truppenführer, für die man durch jedes Feuer ging. Der Hauptmann aber sagte sachlich: »Alle diese Weitschweifigkeiten lassen sich beseitigen. Ich werde radikale Kürzungen vornehmen. Von besonderer Wichtigkeit ist jedoch der Beginn eines derartigen Aufrufes. Dabei würde ich die Worte ›Adolf Hitler ist tot‹ unbedenklich abändern in ›Der Führer ist tot‹ – das klingt für die Leute weniger aufreizend und entspricht dem derzeitigen Sprachgebrauch. Der nächste Satz jedoch muß dann sofort die Erklärung dafür bringen, warum der Führer tot ist – wer für seinen Tod am glaubhaftesten verantwortlich sein könnte.« »Was meint denn der Leutnant dazu?« wollte Stauffenberg wissen. »Also los, Konstantin!« forderte der Bruder. »Wem würdest du wohl am ehesten zutrauen, am Tod des Führers schuldig zu sein?« »Niemandem!« rief der Leutnant verwirrt. »So was gibt es nicht!« »Was soll das heißen: So was gibt es nicht?« Der Bruder war nicht im geringsten bereit, nun noch irgendwelche Nachsieht zu üben. »Nichts ist unmöglich! Schon gar nicht das, was die Herdenschafe für unmöglich halten. Also – denke nach: Wer käme wohl dafür in Frage?« Der Leutnant stand verzweifelt nachdenkend im Raum – drei Augen betrachteten ihn forschend. Er beugte den Kopf
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vor; sein Ritterkreuz baumelte hilflos herab. Und schließlich sagte er: »Nun – ich denke: etwa frontfremde Elemente!« »Weiter«, drängte der Bruder. »Was verstehst du darunter, wenn du frontfremde Elemente sagst?« Des Leutnants glattes Knabengesicht glänzte schweißig. Mühsam sagte er: »Menschen ohne Gewissen – irgendeine Clique, etwa der eine oder andere Parteiführer.« »Na also!« sagte Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede zufrieden. »Das hätten wir – und das entspricht auch völlig meiner Ansicht. Genauso sollte die im Augenblick glaubhafteste Anfangsformulierung lauten: Eine gewissenlose Clique frontfremder Parteiführer ... Vielen Dank, Konstantin, du bist erlöst – du hast uns geholfen.« Am Vormittag des 18. Juli 1944 erreichte Oberst von Stauffenberg die Nachricht, daß der Generalfeldmarschall Rommel schwer verwundet worden war. Auf der Heimfahrt von der Invasionsfront hatten ihn alliierte Tiefflieger zusammengeschossen. Generaloberst Beck ließ mitteilen: Er erwarte verantwortungsvolle Besonnenheit. Doktor Goerdeler gelang es abermals, sich seinen Verfolgern zu entziehen – er verbrachte mehrere Nächte bei einem seiner ehemaligen Bürodiener. Die Vernehmungen von Julius Leber hatten begonnen – Maier bedauerte das von Brackwede gegenüber und behauptete, keinen Einfluß darauf zu haben. Der General von Tresckow schickte alarmierende Nachrichten von der Ostfront. General Blumentritt meldete die Einnahme von Caen durch die Alliierten – der Weg nach Paris war freigebombt worden. Unruhen in Ungarn, Partisanen sogar in Italien, Hamburg so gut wie ausgelöscht, München drohte ein Trümmerhaufen zu werden, kein Tag mehr, der Berlin verschonte – die Katastrophe schien vollkommen. »Dennoch gibt es Generale«, erklärte Brackwede, »die es jetzt noch für möglich halten, daß Hitler ein ähnliches Schicksal beschieden sein könnte wie einstmals Friedrich dem Großen – eine Art Wunder. Die Rettung in letzter Stunde.«
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»Auf so eine Art Wunder warte ich auch«, bekannte der Oberst. Er nahm gerade die von Brackwede vorgeschlagenen Korrekturen vor, als sein Telefon klingelte. Er meldete sich mit geschäftiger Routine. Das geschah kurz nach 15.00 Uhr. Ein Offizier des Führerhauptquartiers, der zum Stab des Generalfeldmarschalls Keitel gehörte, übermittelte einen Befehl: Der Chef des Stabes des Befehlshabers des Ersatzheeres habe sich am 20. Juli zur Lagebesprechung beim Oberbefehlshaber der Wehrmacht, also bei Hitler, einzufinden. »Ich werde kommen«, sagte Stauffenberg. Am 19. Juli 1944 hatte der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede seinen Bruder Konstantin zu sich in die Bendlerstraße bestellt. »Aber erst nach Dienstschluß, bitte!« Der Leutnant traf in den frühen Abendstunden ein. Die Gräfin Oldenburg-Quentin war nicht mehr anwesend. Der Hauptmann saß an seinem Schreibtisch und durchblätterte Stöße von Unterlagen. Nur wenige Schriftstücke davon sortierte er aus. »Ich habe lange über Oberst Stauffenberg und dich nachgedacht«, bekannte Konstantin. »Sehr gut!« rief der Hauptmann aus. »Und zu welchem Resultat bist du dabei gekommen?« »Du bist hier in einem Amt, das so ganz anders ist als meine bescheidene soldatische Welt. Du mußt dich mit Dingen beschäftigen, die uns kaum im Traum einfallen – dazu gehört wohl auch jeder erdenkliche Sonderfall! In deinem Bereich muß man auf alles vorbereitet sein – nicht wahr? Auch auf den Tod des Führers.« »Aber was dann, Konstantin, wenn wir nicht nur die Möglichkeit des Todes von Hitler in Erwägung ziehen – sondern vielmehr diesen Tod selbst systematisch vorbereiten? Ist dir dieser Gedanke niemals gekommen?«
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»Doch – vorübergehend schon«, gestand der Leutnant, ohne zu zögern. »Und das hat mich auch in heftige Gewissenskonflikte gestürzt. Dann jedoch fand ich zwei Argumente, die entschieden dagegen sprechen!« »Gleich zwei? Und welche waren das?« »Du und der Oberst!« Konstantin traf diese Feststellung völlig unbeirrt. »Ihr seid zwei Menschen, die man lieben und verehren muß – vorbehaltlos und voller Vertrauen. Wie den Führer.« »Danke für die Blumen, mein Junge – daraus kann man Kränze winden; vielleicht sogar Grabkränze.« Der Hauptmann lachte kurz auf und beugte sich wieder über seine Arbeit; sie allein schien jetzt sein Interesse zu besitzen. »Ich war gestern bei uns zu Hause«, sagte er dann, wie nebensächlich. »Wir haben den Geburtstag meiner Frau gefeiert.« »Hat sie nicht erst morgen Geburtstag?« »Ach – wer weiß, was morgen ist! Doch gestern konnte ich mich freimachen und bin für wenige Stunden nach Brandenburg hinausgefahren. Man soll seine Feste feiern, solange man noch Gelegenheit dazu hat. Meine Frau und die Kinder lassen dich grüßen – Mutter natürlich auch; es geht ihr, den Umständen entsprechend, verhältnismäßig gut.« »Hat sie Nachricht von Vater?« »Nein.« Er wußte: der schwerverwundete Vater, der General der Infanterie von Brackwede, war gestorben – vor drei Stunden hatte er die entsprechende Benachrichtigung erhalten. Doch er behielt sie für sich – einen Tag lang etwa gedachte er das zu tun. »Dennoch, meine ich, solltest du Mutter morgen oder übermorgen besuchen. Das läßt sich einrichten – du weißt, wir sind mit deinem Kommandeur sozusagen befreundet. Urlaubspapiere stehen bereits zur Verfügung.« »Danke«, sagte der Leutnant. Die Eigenmächtigkeiten seines großen Bruders vermochten ihn kaum noch zu beeindrucken. »Hast du sonst noch einen Wunsch?«
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»Du könntest mir einen Gefallen tun. Hier habe ich eine Aktentasche.« Der Hauptmann wies auf eine prallgefüllte braungelbe Ledermappe, die bereits auf seinem Schreibtisch stand. »Würdest du sie in Gewahrsam nehmen und sie zur Gräfin Oldenburg bringen – mit einem Begleitbrief, den ich noch schreiben werde?« »Selbstverständlich«, versicherte der Leutnant mit Eifer. »Das erledige ich gern für dich! Aber ich kenne die Adresse der Gräfin nicht – und ich weiß auch nicht recht, ob es jetzt noch, so spät, angebracht wäre ...« Der Hauptmann schob, karg lächelnd, die dicke Aktentasche auf den Leutnant zu. »Die Gräfin Oldenburg steht immer zur Verfügung, wenn sie gebraucht wird. Sie gehört zu den Menschen, auf die man sich verlassen kann. – Hast du das noch nicht herausgefunden?« Der Leutnant von Brackwede nahm die prallgefüllte Aktentasche an sich – sie wollte ihm leicht erscheinen. »Ich kann sofort aufbrechen – wenn du willst!« Der Hauptmann nickte zustimmend. Dann legte er ein weißes Blatt Papier vor sich hin – es besaß keinen Aufdruck, kein Wasserzeichen, nicht die geringste Besonderheit. Hierauf begann er zu schreiben: »Es ist soweit, Verehrteste! Ich schicke Ihnen eine Aktentasche und meinen Bruder. Versuchen Sie, beides aufzubewahren – so sicher Sie können und so lange wie nur irgend möglich. Mindestens jedoch vierundzwanzig Stunden. Sie werden hier in den nächsten Tagen nicht benötigt, und mein Bruder hat Urlaub. Machen Sie das denkbar Beste daraus. Sie wissen, wie ich Ihnen – in jeder Hinsicht – vertraue. Ich wünsche uns Glück – wir können das gebrauchen. Auch Konstantin hat es nötig. Leben Sie wohl! Ihr B.« Der Leutnant sah wohl, wie dieser Brief geschrieben wurde
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– seinen Inhalt jedoch kannte er nicht. Der interessierte ihn auch nicht. Allein der Adresse der Gräfin Oldenburg galt seine Aufmerksamkeit. Und die lautete: Schifferdamm 13, 3. Stock, links, bei Wallner. »Nicht gerade die vornehmste Gegend von Berlin«, meinte der Hauptmann, während er Konstantin den Brief, die Urlaubspapiere und die Aktentasche übergab. »Aber die Zeiten, da zu einer Gräfin mindestens eine Villa gehörte, sind vorbei. Ein Raum genügt – wenn er nur eine Tür hat, die sich verschließen läßt!« »Ich bin, nicht nur in dieser Hinsicht, keinesfalls verwöhnt.« »Um so besser!« Der Hauptmann betrachtete seinen Bruder mit zärtlicher Nachsicht – doch auch prüfend. Unvermittelt stellte er fest: »Du hast keine Waffe!« Sodann griff er in die offene obere Schreibtischschublade. »Hier!« Er warf Konstantin eine Pistole 08 in Lederhülle zu. Der fing sie auf und fragte, leicht belustigt: »Wozu soll das gut sein?« »Kann man das wissen?« Der Hauptmann von Brackwede lächelte dem Bruder zu. »Das Haus, in dem die Gräfin wohnt, liegt an irgendeinem Nebenarm der Spree – dort könnten Ratten sein.« An diesem Abend betrat Konstantin Graf von Brackwede das Haus Schifferdamm 13 gegen 20.00 Uhr, damaliger sogenannter mitteleuropäischer Zeit. Ein späteres amtliches Protokoll ließ einen Zeitunterschied von acht bis zehn Minuten zu. Laut mehrerer, übereinstimmender Zeugenaussagen geschah an diesem Abend folgendes: Der Leutnant von Brackwede, in Luftwaffenuniform, mit Ritterkreuz und umgeschnallter Pistole, eine vollgefüllte Aktentasche mit sich tragend, traf beim Eingang auf Joachim Jodler. Dieser war Hausverwalter und Ortsgruppenleiter der NSDAP. Beide unterhielten sich einige Minuten lang – dafür fanden sich zwei Zeugen. Und nach deren Aussagen soll diese Unterhaltung nicht ohne eine gewisse »Gespanntheit« verlaufen sein.
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Jodler stand in Lederpantoffeln da – darüber braune Reithosen, ein weitgeöffnetes Leinenhemd, breite, buntbestickte Hosenträger. Er rauchte eine Zigarre, blinzelte in den lauwarmen Abend und wartete auf die ihm zugeteilte Fremdarbeiterin – er hatte sie zu einem Parteifreund nach Butter geschickt. »Aber dieses Luder benutzt jede Gelegenheit, um sich herumzutreiben!« Der Leutnant grüßte höflich und mit der geboten erscheinenden Zurückhaltung. »Wollen Sie etwa zu mir?« fragte Jodler, sofort leicht mißtrauisch. »Ich gedenke, einer Dame einen Besuch abzustatten.« »Im dritten Stock – was?« Jodler lächelte wissend. Denn seines Führers Helden waren schließlich auch die seinen – und er gönnte ihnen von großdeutschem Herzen, daß sie von Zeit zu Zeit ihre Batterie aufluden. Nur daß so was immer wieder in seinem Hause geschah, gefiel ihm nicht sonderlich – denn bisher war er daran noch niemals beteiligt worden. »Na – schließlich bin ich kein Spielverderber! Aber bestellen Sie der Dame einen schönen Gruß von mir – sie soll sich diesmal möglichst nicht ganz so laut wie neulich aufführen! Ich empfehle in gewissen Augenblicken, trotz der schwülen Nacht, die Fenster zu schließen.« Der Leutnant verließ Jodler, ohne ihn noch eines Wortes zu würdigen. Er beschloß, überhört zu haben, was dieser Mensch gesagt hatte. Es paßte nicht zu Elisabeths zartgetöntem Bild. Erwartungsvoll stieg er die Treppen aufwärts – zum dritten Stock hoch. Das Haus Schifferdamm 13 wirkte strapaziert, verwohnt, ungepflegt – Generationen schienen ihre Spuren an den Wänden des Treppenhauses hinterlassen zu haben: viele tausendmal hatten sich hier schweißige Finger am Geländer entlanggetastet. Es roch nach faulendem Wasser und kaltem Kohl – die Stufen waren fleckig graubraun und abgetreten; sie quietschten bei jedem Schritt. Im zweiten Stockwerk wurde knarrend eine Tür geöffnet –
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jedoch nur spaltbreit. Durch diesen Spalt blickte die Frau Breitstraßer hindurch – und ihr entging nichts. Sie sah, wie sie später angab, einen blonden Jüngling, der sich vorsichtig aufwärtsbewegte; den Rest konnte sie sich vorstellen. Ihre ausgeprägte Phantasie war schlüpfrig wie eine Tümpelkröte. Später konnte die Breitstraßer bezeugen: Dieser Offizier erreichte etwa zwanzig Minuten nach 20.00 Uhr das dritte Stockwerk. Und hier wäre er, minutenlang, wie unentschlossen suchend, stehengeblieben. Konstantin betrachtete die Schilder an den Türen. Es gab deren drei; auf dem einen stand: Johann Wolfgang Scheumer, Studienrat. Auf dem anderen: Erika Elster. Das dritte verzeichnete lediglich den Namen Wallner. Und hier klingelte der Leutnant. Er mußte geraume Zeit warten, bis ihm geöffnet wurde. Dann erschien ein zwergenkleines Geschöpf mit flachsartigem Weißhaar; es erinnerte an Barte von Weihnachtsmännern. Die Stimme dieser Frau klang blechern, als rausche Wasser in eine Gießkanne. »Was wollen Sie?« »Kann ich Fräulein Oldenburg sprechen?« »Nein«, sagte die Wallner ungeduldig, »das geht nicht!« »Und warum nicht, bitte?« »Die ist nicht da!« Die Wallner machte Anstalten, die Tür zu schließen. Konstantin klemmte einen Fuß in die Tür. »Darf ich auf die Gräfin warten? Es ist wichtig!« Die Wallner schnaufte auf, heftig ablehnend. »Von mir aus können Sie warten, solange Sie wollen – aber nicht bei mir in der Wohnung! Ich kenne Sie doch gar nicht.« »Ich heiße Brackwede.« »Unsinn! Den Mann, der so heißt, kenne ich zufällig. Der sieht ganz anders aus – und außerdem ist der Hauptmann.« »Das ist mein Bruder«, erklärte der Leutnant geduldig. Die Wallner stutzte. Sie musterte den jungen Menschen vor
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sich – doch sie konnte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Hauptmann erblicken. Und so rief sie aus: »So was kann jeder behaupten!« Dann schlug sie die Tür energisch zu. Das alles konnte die Frau Breitstraßer aus dem 2. Stockwerk bezeugen. Darüber hinaus dies: Der Offizier stand im Treppenhaus, minutenlang unbewegt; seine Aktentasche behielt er dabei in der Hand. Dann lehnte er sich wartend gegen eine Wand, ging schließlich unruhig auf und ab, setzte sich hierauf – etwa gegen 20.45 Uhr – auf die oberste Treppenstufe. »Er sah aus«, behauptete die Breitstraßer später, »wie einer, der zu allem entschlossen ist. Aber wozu er wirklich entschlossen war, kann ich natürlich nicht sagen.« Etwa gegen 21.00 Uhr wurde im 3. Stock des Hauses Schifferdämm 13 die mittlere Wohnungstür geöffnet, auf welcher der Name Erika Elster verzeichnet war. Eine Frau im Bademantel untersuchte ihren Briefkasten und fand ihn leer. Dabei erblickte sie Konstantin – und das mit sichtlichem Wohlwollen. »Nanu – was machen Sie denn hier?« Ihre Stimme klang leicht verschlafen und ein wenig heiser – es war eine verlockende Stimme. »Warten Sie etwa auf mich?« Konstantin verneinte höflich – er hatte sich erhoben, stellte sich vor und erklärte seine Situation. Er schien auf wohlwollendes Verständnis zu stoßen. »Warum wollen Sie hier herumsitzen? Sie können getrost zu mir hereinkommen.« Erika Elster war rotblond, besaß ein marzipanhaftes Vollmondgesicht und eine barocke Figur. Sie fragte mit verblüffender Direktheit: »Sind Sie mit der Gräfin befreundet – ich meine: intim befreundet?« Der Leutnant wehrte entschieden ab. Er ließ sich in einem Sessel nieder, stellte die Aktentasche neben sich und betrachtete verwundert den Raum, in dem er sich befand: Kissen lagen unter ihm, hinter ihm, neben ihm, vor ihm; sie wucherten auf allen Stühlen, bedeckten ein breites Sofa,
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verdeckten den dicken Wollteppich. Rosarote, blaublasse, lindgrüne Farben – wo auch immer er hinsah. Er bekam Cognac zu trinken. Auch wurde ihm eine Schallplatte vorgespielt: Heimat, deine Sterne! Und Erika dehnte sich betont müde in greifbarer Entfernung. »Kennt Sie die Gräfin schon lange?« Konstantin antwortete ausweichend. Er blieb steif sitzen – sein rechter Fuß berührte die Aktentasche; auch seine rechte Hand hing, wie zufällig, darüber. »Ich bin Ihnen für Ihre Gastfreundschaff sehr dankbar – aber ich möchte sie nicht ausnutzen.« Er erhielt zunächst auch keine Gelegenheit dazu; denn die Türklingel schrillte. Die Gräfin Oldenburg war gekommen. Konstantin aufzuspüren, war nicht sonderlich schwer gewesen. Die Wallner hatte von ihm berichtet. Und die Breitstraßer wußte Einzelheiten: Die Elster hatte ihn in ihre Wohnung gelockt; und nichts anderes wäre doch auch wohl zu erwarten gewesen – von dieser Person! Die Gräfin Oldenburg schien diese Dame zu übersehen, was gewiß nicht leicht war, und sagte: »Falls Sie mich sprechen wollen, Konstantin, dann kommen Sie bitte mit.« Die Elster lachte mißbilligend auf, zugleich amüsiert und verächtlich. Doch Konstantin folgte der Gräfin durch den schmalen dunklen Korridor in ihr Zimmer. Seidiges Weiß war hier die vorherrschende Farbe. Sie las das Schreiben des Hauptmanns von Brackwede, das Konstantin ihr überreicht hatte. Ihr Gesicht wirkte überaus ernsthaft. Dann sagte sie: »Bleiben Sie noch ein wenig bei mir – falls Sie nichts Besseres vorhaben. Ich jedenfalls würde mich freuen, wenn Sie mir Gesellschaft leisten.« Und tapfer fügte sie hinzu: »So lange Sie wollen.« An diesem 19. Juli 1944 verließ der Oberst Claus Graf von Stauffenberg seine Dienststelle in der Bendlerstraße früher als sonst. Bereits kurz nach acht Uhr abends ließ er sich »nach Hause« fahren, zum Großen Wannsee; sein Bruder Berthold
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begleitete ihn. Berthold war wohl der einzige Mensch, dem sich Claus jemals rückhaltlos anvertraut hatte – selbst seiner zärtlich geliebten Frau Nina hatte er vieles verschwiegen, um sie nicht übermäßig zu belasten. Von Berthold wurde gesagt: er vereine Hoheit und Herz, Intelligenz und Geist. Er war für Claus die vollendete Ergänzung – Fülle, Tiefe und Stille zugleich. Einst waren sie unzertrennlich gewesen. Und die letzten vertraulichen Stunden im Leben des Oberst gehörten dem Bruder. Dieser 19. Juli schien wie ein Tag unter vielen anderen zu verlaufen. Berthold, der Marinerichter, arbeitete in seinem Amt, nur wenige hundert Meter von der Bendlerstraße entfernt. Claus erledigte noch am Nachmittag eine seiner üblichen, mehrstündigen Routinebesprechungen als Chef des Stabes. Dabei waren etwa dreißig Offiziere anwesend – und keinem von ihnen fiel »irgend etwas Besonderes« auf. Gegen 20.00 Uhr traf Berthold ein – er hatte den Weg von seiner Dienststelle bis zur Bendlerstraße zu Fuß zurückgelegt. »Diese Hochsommertage«, sagte er, »sind von verschwenderischer Fülle – man müßte auf dem Lande leben, um sie voll genießen zu können.« Claus nickte dem Bruder zu – er unterschrieb noch einige Aufstellungen, Briefe und Meldungen. Dann legte er seinen Arm kurz um die Schultern von Berthold und zog ihn hinaus. Im Hof wartete sein Wagen. In Dahlem, auf dem Weg zum Wannsee, kamen sie an einer Kirche vorbei. Dort fand ein Abendgottesdienst statt – das Portal war weit geöffnet, die Klänge einer Orgel wehten auf die Straße. Claus ließ halten. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stieg er aus. Einen Augenblick schien er zu zögern, das Gotteshaus zu betreten. Doch dann schritt er aufrecht hinein. Hier blieb er eine Zeitlang im hinteren Kirchenraum stehen – still, starr, mit ergeben gesenktem Haupt. Und es war, als sage er: »Hilf mir, mein Gott!«
Dann verstummte er für lange Zeit. 149
Zweiter Teil DER 20. JULI 1944 »Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Handlungen.« Ludwig Beck, Generaloberst
1 Aktentaschen, die Schicksale enthalten Dieser 20. Juli 1944 – ein Donnerstag – kroch auf Mitteleuropa zu wie ein gehetztes, ermattetes Tier. Der Nachthimmel spannte sich in fahlem Graublau über das zerfetzte Land. Der heißeste Tag des Jahres kündigte sich an. Der Tod ruhte nicht – er mähte die Soldaten an den Fronten, fiel wie in Trauben vom Himmel, ging durch die Lazarette, war im Wasser und in Erdbunkern, fuhr in Panzerwagen und brach in Wohnungen ein. Und dennoch gab es Menschen, die wie vom Spielen erschöpfte Kinder schlafen konnten. Dieser Krieg, fünf Jahre alt, war einem blindwütigen Stier vergleichbar, der dumpf-blutend dahintobt. Doch in diesen Augenblicken waren bereits alle Anstalten getroffen, ihm den Todesstoß zu versetzen. Und es war, als schreie die Weltgeschichte anfeuernd auf. In seinem Hauptquartier in Ostpreußen, inmitten jetzt schwarz-dunkler Wälder, saß Adolf Hitler in seinem dreifach abgeschirmten Wohnbunker. Ausgewählte Gesinnungsfreunde umgaben ihn. Und er redete auf sie ein. Die Fenster waren geöffnet – feuchte Wärme umhüllte die ermüdeten Anwesenden. Vor zwei Uhr früh ging der Führer nie schlafen – und bis dahin türmte er seine Gedanken wie bizarre Wolkenberge auf. Kein Thema war ihm fremd. Doch seine erklärte Lieblingsbeschäftigung bestand darin, sich selbst zu kommentieren. Denn er war Deutschland! Und Deutschland
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hatte sich seiner würdig zu erweisen – die Stunde der Bewährung stand bevor; das bereits seit Monaten. »Auch ich«, erklärte Generaloberst Jodl, der Chef des Wehrmachtführungsstabes, nicht ohne sichtlichen Stolz, »habe bereits vor Monaten in einer Rede vor Reichs- und Gauleitern ausgeführt, daß wir siegen werden, weil wir siegen müssen!« »Denn sonst«, ergänzte der Generalfeldmarschall Keitel, »hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren!« »Sieg – oder Untergang«, sagte Hitler versonnen und streichelte seine im Schlaf schnaufende Schäferhündin mit mechanischer Zärtlichkeit Diese Geste löste allgemeine Rührung aus. »Aber untergehen werden wir nur dann, wenn wir den Sieg nicht verdienen.« Mithin: Wir werden siegen! Daran schien niemand im Raum zu zweifeln. Reichsleiter Bormann hatte es gar nicht nötig, Zustimmung fordernde Blicke um sich zu werfen – er tat es dennoch. Es befriedigte ihn sichtlich, daß Keitel mit Nachdruck nickte: ein indirektes Treuegelöbnis. Hitler hatte nichts anderes erwartet. In dieser Nacht schienen die Ruinen Berlins zu leuchten wie Sumpflichter. Der bleischwere Himmel blieb hier frei von Bombern – seit langer Zeit zum erstenmal. In einer Villa am Großen Wannsee saßen die Brüder Stauffenberg. Sie tranken noch ein letztes Glas Wein und sprachen über die gemeinsame Jugend. In der Aktentasche, die ein wenig seitwärts von ihnen stand, befand sich die Bombe. »Ist es wahr«, fragte Berthold, »daß du dich einer umfangreichen Operation entzogen hast? Fritz von Brackwede hat mir erzählt, daß einige Ärzte versuchen wollten, wenigstens doch deinen rechten Arm wieder beweglich zu machen.« Claus nickte. »Das hätte jedoch Monate gedauert. Und das würde bedeuten: ich wäre jetzt nicht hier. Lediglich eines
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Armes wegen.« Der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede hatte in der Bendlerstraße ein Feuer entfacht – er saß, mit offenem Waffenrock, einsam davor. Er zerriß sorgfältig einen Stoß bereitgelegter Schriftstücke und warf sie in die Flammen. Zuckende Lichtfetzen umspielten sein Gesicht, das jetzt wie aus erstarrter Lava gebildet zu sein schien. Während gelbbraune Qualmwolken aufwärtszitterten, verengten sich seine Augen – es war, als bedränge ihn ein dunkler Gedanke, jener Ausspruch eines Vetters, der da gesagt hatte: »Fritz wird noch einmal Minister – oder er wird auf einem Schafott enden.« Nur wenige Kilometer davon entfernt – nordwärts, über Tiergarten und Moabit hinweg – stand beim Westhafen das Haus Schifferdamm 13: braundunkel, kastenartig, mit Fenstern, die wie verklebte Schießscharten waren. Keine Nächte in Berlin mehr, in denen Lichter unter freiem Himmel glänzten. Doch der Schlaf hatte noch nicht vermocht, sich dieses Hauses zu bemächtigen. Der Tod auch nicht. Beide lauerten davor. Joachim A. Jodler, Hausverwalter und Ortsgruppenleiter, besaß eine gewisse gerngewollte Ähnlichkeit mit seinem verehrten Führer. Und nicht nur seine Schnurrbartbürste bezeugte das – auch was er gewöhnlich von sich gab, war entsprechend. Das sogar in später Nachtstunde. »Man muß doch glücklich sein, hier in unserem Deutschland leben zu dürfen – nicht wahr?« Das sagte er zu Maria, deren Nachnamen er nicht aussprechen konnte – sie kam aus Polen, war als »Fremdarbeiterin« registriert und ihm zugeteilt worden; ihm und seiner Frau Hermine. Denn beide dienten sie dem Reich – und diese Maria war ausersehen worden, ihnen zu dienen. »Bist du glücklich bei uns?« fragte er fordernd. »Oder etwa nicht?«
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»Ja«, versicherte Maria hastig. Sie durfte ihn betreuen – Hermine war unterwegs. Sie schulte NS-Frauen; und diese Beschäftigung nahm sie neuerdings derartig intensiv in Anspruch, daß sie nicht nur tage-, sondern auch nächtelang nicht zu Hause war. Aber solche Opfer mußten gebracht werden, wurden auch gern gebracht – zumal ja diese Maria da war, um sein anstrengendes Dasein zu erleichtern. Sie hockte auf einem Schemel in Türnähe: kindhaft-zierlich, die Glieder eng an den Körper gezogen, sprungbereit lauernd. Große, verschwommen wirkende Augen beherrschten ihr krankbleiches Gesicht. Die schmalen Lippen waren leicht geöffnet, wie um besser atmen zu können. Langsträhniges blauschwarzes Haar fiel in seidiger Glätte abwärts. Maria war sechzehn Jahre alt. »Freut mich, daß es dir hier gefällt«, versicherte Joachim A. Jodler gönnerhaft und streckte seine Beine aus. »Du hast allen Grund, dafür dankbar zu sein – denn wer weiß, was man sonst mit dir gemacht hätte! Komm näher, Mädchen!« Maria bewegte sich mit kleinen Schritten auf ihn zu. Sie bemühte sich, dabei zu lächeln. Denn Jodler hatte ihr beigebracht, daß er auf eine gewisse zuversichtliche Fröhlichkeit Wert lege – das gehöre sich so! Sie füllte sein Glas und war bemüht, ihm nicht allzu nahe zu kommen. »Oder würdest du lieber in irgendeiner Fabrik arbeiten und in verwanzten Baracken schlafen? Aber davor bewahre ich dich gern.« Das sagte Jodler heiser und gutmütig – er erlaubte einer Fremdarbeiterin, sich einem Hoheitsträger zuzugesellen; immerhin war sie arisch. Sie mußte sich also beglückt fühlen. Umweglos griff er daher an ihre Knie – und schob seine Hand hoch. Doch Maria schrie, nach Sekunden der Starre, entsetzt auf. Dann stürzte sie, mit schreckhaft geweiteten Kinderaugen, davon. Sie stieß die Tür auf und lief in den dunklen Treppenflur hinein.
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Der Gefreite Lehmann hatte die ersten Stunden dieses Tages mit seinen neuen Freunden zugebracht: Parolen pinselnd in der Prenzlauer Allee. Etwa: Wie lange noch? Oder: Schlachtvieh für Hitler gesucht. Auch schlicht-raffiniert: Deutschland erwache! Nun saßen sie, ein wenig atemlos, in einem düsteren Kellerraum in der Landwehrstraße – in Nähe des Alexanderplatzes: ein Straßenbahner, zwei Studentinnen, ein Regierungsassessor, ein Rentnerehepaar, ein Dramatiker und Gartenzwerg Lehmann, nunmehr, laut seinen falschen Papieren: Kranführer, Westhafen, Bereich Kohle. Der zuständige Verwaltungsbeamte für ihn war der anwesende Regierungsassessor. »Machen wir das jede Nacht?« wollte der Neuling Lehmann wissen. Eine Studentin fragte auflachend: »War es denn sehr anstrengend?« »Nur umständlich«, meinte Lehmann lapidar. Die Freunde wußten offenbar noch gar nicht, wen sie sich da eingehandelt hatten. »Die Parolen sehen aus wie hastig hingezittert – das stört meinen ausgeprägten Schönheitssinn.« »Kunstmaler«, meinte der Dramatiker nachsichtig, »sind wir leider nicht.« Nunmehr entwickelte Lehmann einen reichlich weitgehenden Organisationsplan: Herstellung von Schablonen, Schulung der Anstreicher, rationellere Einsatzmethoden, Verwendung von dünneren und zugleich wetterfesten und leuchtenden Farben. Er genoß das Erstaunen, das er erregte. Der Rentner, der hier zugleich mit seiner Frau das geheime Lager verwaltete, gab zu bedenken: »Wie stellst du dir das vor, Genosse? Jedes Kilo Farbe muß erst mühsam herbeigeschafft werden.« »Dann werde ich eben eine größere Bestellung in die Wege leiten«, sagte Lehmann gemütlich. »Wenn schon, denn schon! Das ist meine persönliche Parole. Ich will doch gleich mal
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sehen, ob ich nicht heute nacht noch ein paar Fässer Farbe locker machen kann.« Bald danach telefonierte er – von einem neutralen Apparat aus, der seinen Freunden mit Hilfe von Nachschlüsseln zugänglich war. Lehmann war gar nicht sonderlich verwundert, als sich bald darauf der Hauptmann von Brackwede meldete. »Hier Abstellschuppen sieben!« rief der Gartenzwerg. »Kann ich eine dringende Bestellung aufgeben?« Brackwede brauchte nur wenige Sekunden, um zu erkennen, mit wem er sprach. Heiter klang seine Stimme auf: »Nun – ist inzwischen das gefährdete Material gut gelagert worden?« »Bestens!« versicherte Lehmann. »Vorbildlich abgeschirmt gegen alle erdenklichen Witterungseinflüsse.« Brackwede schien kurz zu zögern. Dann sagte er: »Hier befindet sich kein Dichtungsmaterial mehr – es ist verpackt, bereits unterwegs und soll gegen Mittag am Bestimmungsort abgeliefert werden.« »Fein«, meinte der Gefreite. »Kann ich, zwecks Rechnungsüberprüfung, die für mich jetzt zuständige Dienststelle aufsuchen?« »Tun Sie das«, sagte der Hauptmann. »Aber lassen Sie beim Antransport äußerste Vorsicht walten.« »Wird gemacht!« versicherte Lehmann grinsend. Und zu seinen Freunden gewendet sagte er: »Entweder wir pinseln ab sofort überhaupt nicht mehr – oder ich schleppe morgen abend faßweise Farbe an.« Der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede saß, um Haltung bemüht, seit Stunden auf einem Stuhl, der mitten in dem schmalen Raum stand – direkt unter der nur mattglühenden Lampe. Ein niedriger Tisch, der die Ausmaße eines aufgeschlagenen Völkischen Beobachters besaß, stand vor ihm; Tassen und Gläser befanden sich darauf – sie alle waren nahezu gefüllt. »Es ist wohl schon sehr spät«, sagte er mit höflichem
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Bedauern. »Langweilen Sie sich?« fragte Elisabeth Gräfin OldenburgQuentin. Sie saß ihm gegenüber – auch sie um steif wirkende Korrektheit bemüht. Es war, als befinde sie sich in ihrem Büro in der Bendlerstraße, wo in jedem Augenblick die Tür aufgehen konnte. Der Leutnant hob abwehrend die Hände – nein, nein, er langweile sich nicht. »Wie können Sie etwas Derartiges annehmen?« Er habe sich selten, wohl niemals, derartig angeregt unterhalten. Literatur war ihr bevorzugtes Gesprächsthema gewesen – doch über Shakespeare waren sie zunächst nicht hinausgekommen. Konstantin hatte sich dazu verleiten lassen, ganze Passagen aus Romeo und Julia zu zitieren. Nun machte er Anstalten, sich mit ähnlicher Ausführlichkeit Schiller zuzuwenden. »Seltsam«, sagte Elisabeth, »überaus seltsam, dieser Hang der Helden zur Poesie ... Auch Stauffenberg kann höchst komplizierte Gedichte auswendig aufsagen. Und Ihr Bruder kennt den Faust fast noch besser als seine Akten – was viel heißen will.« »Sie werden schlafen wollen, nicht wahr? Ich hätte schon vor Stunden gehen müssen.« »Ich will Sie natürlich nicht aufhalten – falls Sie ein bestimmtes Ziel haben sollten.« Elisabeth sagte das bewußt zweideutig. »Ich möchte nicht schuld daran sein, wenn Sie irgend etwas versäumen.« Diese Vermutung wies der Leutnant entschieden von sich. Er vermöge sich nichts Schöneres zu denken ... Er verstummte verwirrt. Und hastig fragte er: »Was machen wir mit der Aktentasche, die mir mein Bruder anvertraut hat?« Diese prallgefüllte Aktentasche stand neben ihm. Ihr braungelbes Leder glänzte matt. »Wissen Sie eigentlich, was sich in dieser Tasche
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befindet?« fragte Elisabeth fast lauernd. »Haben Sie sich Gedanken darüber gemacht, was Sie da eigentlich mit sich herumtragen?« »Wie käme ich dazu!« fragte der Leutnant mit großer Selbstverständlichkeit. »Mein Bruder hat sie mir anvertraut – das genügt doch wohl!« »Diese Aktentasche ist unverschlossen – haben Sie kein Verlangen, hineinzusehen?« »Nicht das geringste!« »Wie recht doch Ihr Bruder hat«, sagte Elisabeth. Sie lächelte – doch ihr Lächeln galt nicht ihm. »Er weiß, wem er vorbehaltlos vertrauen kann. Man muß ihn bewundern.« Sie schien in die Nacht hineinzulauschen. Brütende Stille war um sie – minutenlang. Dann stieg wie eine Leuchtkugel ein Geräusch auf: der schrille Schrei einer Frau! Und bald darauf folgte das dumpfe Zuschlagen einer Tür. Kurz danach hasteten schnell schlurfende Schritte durch das Haus. Der Leutnant hob den Kopf. »Was war das?« fragte er. »Kümmern Sie sich nicht darum«, empfahl Elisabeth entschieden. »In einer Zeit wie dieser gehören die Nächte nicht nur dem Schlaf! Vermögen Sie sich vorzustellen, daß es unter uns Menschen gibt, die nicht ohne Angst leben können? Ich sehe es Ihnen an: Dafür reicht Ihre Phantasie nicht aus – noch nicht. Aber das wird sich noch finden. Wollen Sie über Nacht hierbleiben, Konstantin?« Fast eine Viertelstunde später als gewöhnlich machte Adolf Hitler Anstalten, sich von seinen Vertrauten zu trennen. Diese Verzögerung bereitete Bormann einige Unruhe – der Führer, von ihm auch »Chef« genannt, brauchte dringend seinen Schlaf. Denn: unausgeschlafen war er ungenießbar – der streng geregelte Dienstbetrieb im Hauptquartier würde darunter leiden. Aber Wilhelm Keitel, der Generalfeldmarschall, hatte eine große Stunde – und die gedachte er nicht vorzeitig zu
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beenden. Er schwelgte in optimistisch stimmenden Erinnerungen. Und Hitler lieh ihm bereitwillig sein Ohr. »Wenn ich so daran denke, mein Führer, wie Sie sich wieder und immer wieder durchgesetzt haben – gegen alle erdenklichen Widerstände, gegen scheußliche Intrigen –, so kann ich das nur als Walten der Vorsehung empfinden!« Wilhelm Keitel meinte, was er sagte. Er war Hitler aufrichtig ergeben und absolut überzeugt davon, vorbildlich seine Pflicht zu tun. Das Wohlwollen seines Führers beschwingte ihn. Fast ausruferhaft ließ er seine bewährtesten Stichworte erklingen: Röhm-Putsch, Fritsch-Krise, die Blomberg-Affäre! »Aufgefangen, überwunden und erledigt alles das!« »Was uns nicht umbringt«, sagte Hitler, »das macht uns stärker!« Dieses Zitat nahmen die Anwesenden entgegen wie eine Offenbarung. Sie rissen die müden Augen auf: zwei Sekretärinnen, SS-Gruppenführer Fegelein, ein Stenograf, ein Feldmarschall, ein Adjutant, ein Generaloberst, ein Bedienter, ein Reichsleiter – sie alle hatten heftige Mühe, lebhafte Anteilnahme zu bezeugen. Und im Korridor wartete bereits ein SS-Scharführer – er hatte die Aufgabe, allnächtlich Hitlers Schäferhündin zwischen die Bäume zu führen und sie dann im Zwinger zu deponieren. Der Führer nahm den Faden auf. Rohm, der einstige Stabschef der SA, mußte umgelegt werden – aus purer Staatsnotwendigkeit. Der Generaloberst Freiherr von Fritsch schien homosexuell gewesen zu sein – das hatte sich dann allerdings als Irrtum herausgestellt. Der Generalfeldmarschall von Blomberg sollte eine Frau von zweifelhaftem Ruf geheiratet haben. Jedenfalls gelang es Hitler so, sich zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht zu ernennen – uneingeschränkt, ohne jede Zwischeninstanz. Lediglich zu seiner Unterstützung hatte er das Oberkommando der Wehrmacht geschaffen und es in die für ihn denkbar besten Hände gelegt – in die des Generalfeldmarschalls Keitel. »Wer das Große will, darf niemals kleinlich sein«, sagte
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Hitler. Was auch immer in Deutschland unter Warfen stand, beherrschte er, seit 1938, allein. »Und jeder Mann von Ehre hat seine Feinde! Wenn er sich behaupten will, muß er sie beseitigen.« »Gute Nacht«, sagte der Reichsleiter Bormann und schien ergriffen. Maria, die Fremdarbeiterin, stürzte in den dunklen, dumpf riechenden Treppenflur hinein und prallte gegen eine Wand; dort blieb sie liegen. Schwer atmend versuchte sie dann, sich wieder aufzurichten. Ihr offener Mund preßte sich gegen die schmutzige, abgegriffene Kalkschicht. Hier fand sie einer der Mieter aus dem 3. Stock – der Studienrat Scheumer; Johann Wolfgang mit Vornamen. Der war ein würdiger Mann mit heroisch wirkendem Staatsschauspielergesieht und silberleuchtendem Haarkranz. Spontan schloß er Maria in seine Arme. »Aber, aber!« rief er. »Was sind das für Sachen, liebes Kind!« Neuerdings pflegte Johann Wolfgang in den Nächten durch das Haus Schifferdamm 13 zu wandeln. Seine Frau lag schwerkrank danieder. Die Schule, an der er unterrichtet hatte, war seit Tagen zerbombt. So trieb es ihn denn dazu, noch lange nach Mitternacht himmelwärts zu blicken, sozusagen im Kantschen Geiste: den Sternen entgegen – das Moralgesetz indem schmächtigen Körper. Maria zitterte an seiner schweratmenden Brust. Seine Hände glitten über ihre Schultern, über ihren Rücken – und auch seine Worte waren wie ein sanftes Streicheln. »Nur nicht verzagen, mein liebes Kind! Sein Vertrauen darf der Mensch nie verlieren – was auch immer geschehen möge! Und du hast doch Vertrauen zu mir?« Maria bejahte bereitwillig. Sie hielt den Studienrat für einen feinen, vornehmen, gütigen Menschen. »Du kannst getrost mit mir kommen«, versicherte er. »Meine liebe Frau hat bestimmt nicht das geringste dagegen.« Er
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hatte ihr ein kräftiges Schlafmittel gegeben – sie würde kaum vor Mittag aufwachen. Sie stiegen die Treppe aufwärts, an der Tür der Frau Breitstraßer vorbei, die dahinter lauerte. Und während Studienrat Scheumer die Fremdarbeiterin Maria besorgt aufwärtsgeleitete, sagte er: »Was wäre denn schon der Mensch ohne seine Mitmenschen!« »Sie sind wohl neugierig auf unsere Gehirnreparaturwerkstatt?« scherzte Maier rauh. »Oder sind Sie hier bereits auf Quartiersuche?« »Ich gedenke mich lediglich an Ihrem Anblick zu erfreuen«, meinte der von Brackwede sarkastisch. Gestapo-Maier war als Nachtarbeiter bekannt. Nicht zufällig hing im Dienstzimmer des Sturmbannführers ein Schild, auf dem geschrieben stand: Morgenstunde hat Gold im Munde! Wenn ein neuer Tag heraufdämmerte, pflegten seine Opfer gewöhnlich mitteilsamer zu werden. »Wollen Sie mir nur die Zeit vertreiben, Herr von Brackwede – oder verfolgen Sie ganz bestimmte Absichten?« Sie standen sich lauernd gegenüber – im Keller des Gestapopalais in der Prinz-Albrecht-Straße. Sie zündeten sich, ohne einander aus den Augen zu lassen, Zigaretten an. »Wie mir berichtet wurde«, sagte dann der von Brackwede, »sollen Sie erhebliche Erfolge zu verzeichnen haben. Der Oberst Bruchsal soll singen wie ein ganzer Männerchor.« »Es ist zum Kotzen«, erklärte der Gestapogewaltige. »Dieser Bruchsal bringt selbst mich noch um meine Geduld. Der ist nämlich nach wie vor bereit, den Generalfeldmarschall Rommel zu belasten.« »Und das«, fragte der Hauptmann von Brackwede, »halten Sie für absurd?« »Eben nicht! Das ist ja gerade die Schweinerei!« Maier blickte trüb. »Aber wenn ich dem Führer damit komme, macht der mich womöglich glatt zur Sau.« »Dann kommen Sie ihm eben nicht damit – ganz einfach!«
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Der Hauptmann gab diese Empfehlung augenzwinkernd – und leise. Der Posten, der an der Kellertür stand, brauchte nichts von ihrem Gespräch zu vernehmen. »Sie haben es leicht! Sie kostet es ja nichts, mir Ratschläge zu erteilen. Aber bei mir weht ein kalter Wind! Himmler pustet mich glatt von meinem Sessel, wenn ich ihm nicht endlich greifbare Resultate bringe. Der will nämlich ›ran an den Speck!‹ Und wenn nicht mit meiner Hilfe, dann auf meine Kosten.« »Nur Geduld!« riet der Hauptmann. »Ich kann Ihnen versichern: es wäre ein gefährlicher Fehler, gerade jetzt irgend etwas zu überstürzen.« Der Sturmbannführer zog seinen Besucher in die nächste Ecke. »Die ganze Chose rollt bereits! Der Haftbefehl gegen Goerdeler ist keine Routine mehr – Kaltenbrunner, offenbar von Himmler angeheizt, wird bei der Kripo die Großfahndung veranlassen. Beck steht ja bereits seit Monaten an der Spitze meiner Liste – ich habe große Lust, ihn einzukassieren. Aus purer Notwehr. Verstehen Sie? Irgendwelches Belastungsmaterial wird sich schon finden lassen.« Das sogar stapelweise – dachte der von Brackwede; es war nur nötig, den Schreibtisch des Generalobersten auszuräumen. Mit dem, was dort lagerte, ließen sich dicke Aktenbände herstellen. »Und was ist mit Julius Leber?« Der Sturmbannführer schien leicht verlegen. »Der wird bereits verhört, seit gestern – ganz gegen meinen Willen. Aber ich konnte nichts dagegen machen. Doch dieser Bursche ist verdammt zäh, falls Sie das beruhigt. Bei dem werden wir Wochen brauchen!« »Wenn Sie jetzt klug sein wollen«, sagte Brackwede mit fordernder Ungeduld, »dann versuchen Sie zu bremsen. Und das energisch! Sie brauchen vielleicht nur noch vierundzwanzig Stunden auf der Stelle zu treten – oder möglicherweise zwölf.« Maier blinzelte Brackwede erregt an, mit eng zusammengekniffenen Augen. »Soll das eine Art makabrer
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Witz sein – oder ein Angebot?« »Ein ganz konkretes Angebot! Und nun denken Sie mal darüber nach. Welchen Preis wollen Sie dafür zahlen? Und ich kann nur hoffen, Sie erkennen: Billig ist das Ganze nicht! Fragt sich wohl nur noch: Was ist so ein Kopf wie der Ihre oder der meine – eigentlich wert?« »Seltsam«, sagte Elisabeth Gräfin Oldenburg, »wie schnell so eine Nacht vergehen kann.« Sie dehnte sich ein wenig, mit leicht erhobenen Armen. Diese Geste beglückte den Leutnant – in diesen Stunden hatten sie miteinander gesprochen, als hätten sie sich schon immer gekannt; bereits als Kinder. Ihre Jugend schien ähnlich verlaufen zu sein – sie waren auf Gütern in der Mark und in Pommern aufgewachsen. »In solchen Nächten schliefen wir oft im Freien – mein Bruder und ich«, erzählte Konstantin. »Entweder im Garten oder im Wald – in einem Zelt, zwischen zwei Decken.« »Es muß schön sein, einen Bruder wie ihn zu besitzen – ich war fast immer allein; ich habe keine Geschwister.« Jetzt zu sagen: Sie haben mich! – das wagte Konstantin noch nicht. Doch seine Augen blickten voll unverhüllter Zärtlichkeit. Und Elisabeth schien Freude über diese anflutenden Wellen lebhafter Zuneigung zu empfinden. »Ich bin ein wenig müde geworden«, sagte sie und sah ihn dabei offen an. »Aber noch nicht müde genug, um schlafen zu wollen – ich möchte mich nur hinlegen.« Konstantin versicherte wohl zum drittenmal in dieser Nacht, daß er ihr keinesfalls irgendwelche Umstände machen wolle. »Ich könnte ja noch ein wenig Spazierengehen, bis die erste Bahn nach Bernau hinausfährt. Auch besteht sicherlich die Möglichkeit, daß ich in der Bendlerstraße für die nächsten Stunden eine Unterkunft finde.« »Das unter keinen Umständen«, sagte die Gräfin. Und leise fügte sie hinzu: »Oder ist es Ihnen unangenehm, hierzubleiben?«
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»Ich versuche dabei nur an Sie zu denken!« versicherte Konstantin. »Allein Ihr Ruf ...« »Ach was!« sagte Elisabeth mit unerwarteter Energie. »Der gute Ruf ist eine Sache und so ein Krieg ist eine andere. In diesen Tagen müssen Millionen Menschen dutzendweise in engen Räumen zusammen hausen – wir sollten froh sein, daß wir wenigstens noch ein Zimmer für uns haben.« Hierauf trafen sie folgendes Arrangement: Sie würden sich, natürlich nicht völlig ausgezogen, nebeneinander auf ihr Bett legen. Sein Angebot, auf dem Fußboden zu schlafen, wurde von ihr abgelehnt; unnötige Unbequemlichkeiten könnte man sich sparen. »Und die Aktentasche?« »Die stellen wir zwischen uns.« Die Gräfin lachte auf. »Also los – sonderlich viel Zeit haben wir nicht mehr.« »Wir pinseln uns durch die Nächte«, sagte der Dramatiker müde. »Aber irgend etwas muß man doch in solchen Zeiten tun!« »Mir imponiert das«, meinte Lehmann. »Sie riskieren es fast jede Nacht, geschnappt zu werden. Wie lange betreiben Sie eigentlich schon diese Spiele?« »Seit drei Jahren«, sagte der Dramatiker. Und fast verlegen fügte er noch hinzu: »Allerdings mit einigen Unterbrechungen.« Sie hielten sich noch immer im Keller in der Landwehrstraße auf. Nur diejenigen der Gruppe, die in der Nähe wohnten, hatten sich entfernt. Übriggeblieben waren vier: die beiden Studentinnen, der Dramatiker und Lehmann. Erst bei Tagesanbruch konnten sie sich einigermaßen ungefährdet entfernen und sich unter die Werktätigen mischen. Der Weg zu ihrer Unterkunft war weit. Die beiden Studentinnen kannten sich kaum – die eine hatte sich der Philosophie verschrieben, die andere der Medizin. Sie schwiegen erschöpft. Normalerweise pflegten sie nach einer derartigen Nachtarbeit in diesem Keller auf Säcken zu
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schlafen. Diesmal vermochten sie es nicht – die beiden Männer kamen nicht zur Ruhe. Lehmann war hellwach. »Tun Sie das alles nur so – gewissermaßen auf Verdacht?« wollte er wissen. »Ja«, sagte der Dramatiker. Lehmann lag auf dem Rücken – er blinzelte in das Licht einer schwachbrennenden Kerze. Wenn er einen Arm hob, verdunkelte sich eine Wand. Die Studentinnen, die sich in einer Ecke zusammengekauert hatten, waren wie schweigende Schatten. Der Dramatiker hockte in Türnähe, gegen die rissige Wand gelehnt. »Und Sie haben niemals das Gefühl gehabt, völlig allein zu sein?« Lehmann richtete sich auf. »Kommen Sie sich nicht verlassen und verraten vor? Hat es viel Sinn, Parolen auf Mauern zu pinseln, während überall massenweise gestorben wird?« »Sie sollten schlafen«, sagte die eine der Studentinnen. »Über das, was in unserer Zeit geschieht, braucht man nicht erst lange nachzudenken – wenn man auch nur ein wenig Verstand besitzt. Und Überzeugung. Oder: ein Gewissen. Das führt dann zwangsläufig in Situationen wie diese!« Die andere Studentin, hellblond, blauäugig und mit einem schmalen, jetzt streng wirkenden Gesicht, fragte: »Sie haben doch wohl von den Geschwistern Scholl gehört?« Der Dramatiker erklärte mit gleichförmiger Stimme: »Sophie Scholl und ihr Bruder, dazu ein Freund, warfen Flugblätter in die Halle der Universität München. Sie verabscheuten Hitler und sein Regime – der Kreis um sie und ihren Professor namens Huber hieß Die weiße Rose. Sie wurden hingerichtet. Dann gab es da, unter anderen, eine sogenannte Rote Kapelle – zumeist Offiziere im Luftfahrtsministerium, soviel ich weiß. Auch sie wurden hingerichtet – und zwar streng geheim. Dazu: Geistliche und Pädagogen, Staatsbeamte und Schriftsteller, Gewerkschaftsführer und ehemalige Reichstagsabgeordnete fast aller Parteien. Und zahllose andere sonst. Einige tausend jährlich. Doch viele davon leben noch – so wie wir.«
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»Ich kenne einen General, der von Tresckow heißt«, sagte nun Lehmann, »einen Mann aus ältestem preußischem Adel – er hat mehrfach versucht, Hitler in die Luft zu sprengen. Ich kenne einen Oberstleutnant Heinz – der wollte mit einem Stoßtrupp in die Reichskanzlei eindringen, bereits neunzehnhundertachtunddreißig. Ein Oberstleutnant von Boeselager war bereit, mit seinen Leuten Hitler auszuheben. Der Generalmajor Stieff ebenso wie der Generalmajor von Gersdorff und auch der Hauptmann Axel von dem Bussche hatten sich Sprengstoffladungen auf den eigenen Leib montiert, um damit Hitler zu töten – und sich selbst.« »Und warum lebt dieser Mensch dennoch?« sagte leise der Dramatiker. »Weil vielleicht erst sein gewichtiger Gegenspieler kommen mußte: der sozusagen legitime Gegenpol für einen Teufel. Und er ist gekommen. Er ist Oberst und heißt Claus Graf Stauffenberg.« »Sofort aufmachen!« rief im Haus Schifferdamm 13 der SSScharführer Josef Jodler und schlug gegen die Tür. Ihm wurde unverzüglich geöffnet. Der Studienrat Scheumer stand im blau-weiß-gestreiften Bademantel da; seine silbergraue Senatorenfrisur schien leicht gesträubt. »Heil Hitler, Herr Scharführer«, sagte er. Und hastig fügte er hinzu: »Wie geht es Ihnen?« »Dieses Luder, die Maria, ist bei Ihnen!« Josef Jodler gab selbst noch im wallenden Nachthemd eine imposante Figur ab: ein Kriegerdenkmal mit nacktem Mann in Bronze kurz vor der Enthüllung. »Rücken Sie dieses Miststück freiwillig raus – oder muß ich Gewalt anwenden?« Dieser Josef war der Sohn des Hausverwalters und Ortsgruppenleiters Jodler. Er gehörte zu den Einsatzgruppen und war in den Ostgebieten mit Spezialaufgaben betraut. Zur Zeit war Josef – wieder einmal – auf Urlaub. Er hauste in der zweiten Wohnung im Erdgeschoß; und das tat er zumeist allein. Denn auch seine Ehefrau befand sich im Einsatz – und der war ähnlich wie der seine: Seine Frau war
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Spezialistin für Gold; für Goldzähne in Besonderheit. Ihre Dienststelle belieferte die Reichsbank direkt. Josef schob den Studienrat zur Seite. Er durchschritt den Korridor und begab sich durch die offenstehende Tür in das Wohnzimmer. Hier lag Maria auf dem Sofa – mit angstvollen Augen; eine Decke bis zum Kinn hochgezogen. »Schau mal einer an!« rief der Scharführer aus. »Sie werden doch nicht etwa ein heimlicher alter Lustmolch sein?« Der Studienrat versuchte, würdig empört zu erscheinen. »Ich muß doch sehr bitten, Herr Jodler!« Weiter kam er nicht. Der Scharführer lachte schallend auf – er war, wie er glaubte, ein Mann von starkem Humor, was noch besondere Folgen zeitigen sollte. »Halt die Fresse«, sagte er dann gemütlich zu Scheumer. Und zu Maria sagte er: »Du lüftest jetzt deinen Hintern und kommst sofort mit – so wie du bist.« Maria schlug die Decke zurück und erhob sich – sie hatte ihr sackartiges Leinenkleid ausgezogen; es lag sorgfältig gebündelt auf einem Stuhl. Sie ergriff es und begab sich dann, mit gesenktem Kopf, gehorsam zur Tür. Scharführer Jodler betrachtete sie mit steigender Aufmerksamkeit. »Sie müssen mir glauben, daß ich nur mit den allerbesten Absichten ...« Studienrat Scheumer stotterte besorgt. Denn mit Jodler junior war nicht zu spaßen. »Ich fühle mich verpflichtet ...« Der junge Jodler ließ ihn stehen. Er schlug Maria auf das Hinterteil und rief: »Los, du Nelke! Hau ab – in den Stall, wo du hingehörst!« Kurz nach fünf Uhr erhob sich der Oberst Stauffenberg. Er hatte nur wenige Stunden geschlafen – wie fast immer in den Wochen vorher. In Sekundenschnelle war er hellwach – sein Gesicht wirkte frisch, sein Auge blickte klar. Er begab sich an das Fenster, ergriff den Vorhang mit den drei Fingern seiner linken Hand und zog ihn auseinander. Die frühe Hitze dieses Tages ließ den Großen Wannsee fahlblau
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auffunkeln. Einige Minuten lang widmete sich Claus fast andächtig diesem sanft leuchtenden Bild. Dann begab er sich in das Badezimmer. Hier befand sich bereits Berthold, sein Bruder. Sie nickten sich zu. Irgendwelche Worte waren überflüssig. Claus zerrte sich, mit sicher zupackenden Fingern, das Oberteil seines Schlafanzuges vom Körper. Berthold half ihm nicht dabei – er wußte: der Bruder haßte das. »Das Thermometer«, bemerkte schließlich Berthold, »scheint jetzt schon zu kochen. Möglicherweise werden wir heute den heißesten Tag seit Jahren haben.« Claus seifte Gesicht und Oberkörper ein. Die Schmerzen, die er dabei empfand, blieben verborgen. Er war sechsunddreißig Jahre alt. Und kaum mehr als zweieinhalb Jahre älter war sein Bruder. Die erbarmungslose Zeit löschte diesen Unterschied fast völlig aus. Es war, als wären sie am gleichen Tag zur Welt gekommen. »Es wird alles planmäßig verlaufen«, sagte Claus, während er das Rasiermesser über sein Gesicht gleiten ließ. »Diesmal bin ich sicher.« »Ja«, sagte Berthold. »Ich spüre, daß du sicher bist.« Der Plan, nach dem Claus von Stauffenberg an diesem Tag zu handeln gedachte, war mit Generalstabsgründlichkeit entworfen worden. Die erste Phase davon sah folgendermaßen aus: Der Oberst verließ, gegen 06.00 Uhr, die Wohnung am Wannsee. Sein Bruder begleitete ihn. Der Oberst trug eine Aktentasche. Sein Fahrer wartete vor dem Haus mit dem Dienstwagen. Weiter war vorgesehen: Auf der Fahrt zum Flugplatz würde Stauffenbergs Adjutant, der Oberleutnant Werner von Haeften, zusteigen. Auch er trug eine Aktentasche. In ihr befand sich eine weitere Sprengladung; der Oberst wollte auf alle erdenklichen Zwischenfälle vorbereitet sein. In Rangsdorf wartete eine Heinkel-Kuriermaschine. Der Abflug war für sieben Uhr angesetzt.
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»Es ist soweit«, sagte der Bruder. Bevor Claus Graf von Stauffenberg sein Zimmer verließ, blickte er noch einmal kurz auf eine Fotografie, die auf dem kleinen Tisch neben seinem Bett stand. Sie zeigte Nina, seine Frau, und seine Kinder. Zuversichtlich lächelte er ihnen zu. Der Kraftfahrer legte grüßend die Hand an die Feldmütze, als er den Oberst freundlich und gelassen wie immer auf sich zukommen sah. Um diese Zeit beherrschte noch bleimüder Morgenschlaf große Teile von Berlin. Das grellfahle Licht der ersten Stunden dieses Tages zitterte auf den Trümmern der zerquälten, zersprengten, zerwühlten Stadt. Der Hauptmann von Brackwede hatte sich in der Bendlerstraße über ein Feldbett geworfen – völlig bewegungslos lag er da. Der Sturmbannführer Maier schlief in seinem Ausweichquartier »auf Vorrat« – er hatte zwei für diesen Morgen vorgesehene Verhaftungen verschoben. Der Oberleutnant Herbert träumte, neben Braut Molly, von großen Taten – nicht ahnend, daß sie ihm unmittelbar bevorstanden. Im Keller in der Landwehrstraße hatte sich Lehmann bei den Studentinnen niedergelassen – sie hatten ihm willig einen Teil ihrer Säcke, auf denen sie lagen, überlassen. Der Dramatiker vermochte nicht, zu schlafen – er schrieb Notizen auf kleine Zettel. Auf einem stand: »Mich wundert immer, daß wir noch dieselben Gesichter haben wie die vor dreitausend Jahren, obwohl soviel Haß und Leid durch sie gezogen sind.« Der Generaloberst Beck wurde von heftigen Schweißausbrüchen heimgesucht. Das geschah oftmals in letzter Zeit – seine Wirtschafterin hatte wiederholt das Bett am Morgen »völlig durchnäßt« vorgefunden. Freunde befürchteten: der Generaloberst wäre ein schwerkranker Mann. Auf seinem Gesicht zeichneten sich qualvolle Schmerzen ab. Julius Leber, der an diesem Tag zum deutschen Innenminister ausgerufen werden sollte, verbrachte diese
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Nacht wie viele andere seines Lebens. Er lag gefesselt auf dem Boden einer Zelle. Er fragte sich, warum er in diesen Morgenstunden nicht, wie üblich, zum Verhör gezerrt wurde – das mußte einen besonderen Grund haben. Denn: auch die Folterknechte pflegten, sozusagen traditionsgemäß, dienstplanmäßig exakt vorzugehen. Carl Friedrich Goerdeler, als Reichskanzler vorgesehen, hatte bei einem ehemaligen Regierungspräsidenten Unterschlupf gefunden – in der vorhergehenden Nacht war es ein Legationsrat gewesen, der ihn aufgenommen hatte; morgen würde es ein Geistlicher sein. Er wußte nicht, daß der Oberst von Stauffenberg bereits unterwegs war, um die letzte Entscheidung zu erzwingen. Eugen G., der Doktor, war am Tag zuvor von Stuttgart in Berlin eingetroffen. Er hatte sich in die Wohnung seines Freundes Helmuth von Moltke eingeschlichen – denn er hatte annehmen müssen, daß sie überwacht wurde. So war der Doktor über den Gartenzaun gestiegen. Nun schlief er ruhig und fest. Er hatte eine Postkarte erhalten, auf der zu lesen gewesen war: Die Hochzeit findet bald statt. Unterschrift: Peter York. Mithin: Peter Graf York von Wartenburg, Dr. jur.. Oberregierungsrat – auch er gehörte zum engsten Kreis. Und so fiel das Morgenlicht über Hunderte, denen der kommende Tag das Ende ihres Lebens bringen sollte. Und das nicht nur, weil sie entschlossen waren, an der Vernichtung Hitlers teilzunehmen. Zahlreiche starben einiger Bemerkungen wegen; andere, weil sie Verfolgten Unterkunft gewährt hatten; nicht wenige, weil sie auf irgendeiner Liste standen – ohne davon auch nur die geringste Ahnung zu haben. Notizen allein konnten Menschenleben vernichten. Die vielleicht umfangreichsten »Unterlagen für einen Staatsstreich« aber befanden sich in einer Aktentasche. Sie stand in einem schmalen hellen Raum – im dritten Stock des Hauses Schifferdamm 13. Sie lagen immer noch, erregend schlaflos, nebeneinander auf dem Bett. Elisabeth und Konstantin blickten zur
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graubleichen Stuckdecke empor – sie wollte ihnen wie eine Kuppel erscheinen, die sie abschirmte. »Warum schlafen Sie nicht?« fragte Elisabeth leise. »Ich kann nicht schlafen«, gestand Konstantin. »Nicht neben Ihnen!« Ihre Gesichter waren einander zugewendet. Sie schienen sanft zu leuchten – wie Silber in zärtlichem Kerzenlicht. Sie atmeten schwer. Und ihr Atem berührte ihre Haut wie mit zaghaften Fingern. »Elisabeth«, sagte er kaum vernehmbar. »Ja«, sagte sie. Es war, als werde im Haus eine Tür heftig zugeschlagen. Eine Wasserspülung rauschte auf. Danach schoben sich schleichende Schritte vorsichtig durch den Korridor. Wie in weiter Ferne brach sirenenartig der Schrei einer Frau hervor – um unmittelbar danach wie von dicken Kissen erstickt zu werden. Elisabeth und Konstantin hörten nichts davon. Sie tasteten sich zueinander. »Ich liebe dich«, sagte Konstantin. »Ja.« Elisabeth sagte das mit geschlossenen Augen – wie um das Licht des Tages nicht sehen zu müssen, das sich nun mit quälender Deutlichkeit über sie zu werfen versuchte. Und sie ließ mit sich geschehen, was ihr unvermeidlich erschien. »Mensch, ich glaube – ich beneide Sie«, sagte der Gartenzwerg Lehmann. »Warum eigentlich?« fragte der Dramatiker leicht belustigt. »Wegen der netten Studentinnen, die mir so manche Nacht Gesellschaft leisten?« »Na klar!« meinte Lehmann betont robust. »Ich habe mich selten so wohl gefühlt.« Sie sprachen leise miteinander – die Mädchen schliefen noch. Schon seit geraumer Zeit war die Kerze ausgelöscht worden – der Dramatiker konnte seine Notizen in der Nähe des kleinen verklebten Fensters schreiben.
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»Das«, meinte er zu Lehmann, »können Sie jede Nacht haben.« »Wissen Sie, worum ich Sie wirklich beneide? Um Ihr gutes Gewissen! Denn Sie können doch von sich sagen: Ich habe was getan!« »Nicht doch«, sagte der Dramatiker hastig und verlegen, »dichten Sie uns nichts an, das wir gar nicht verdienen. Wir können einfach nicht anders! Und das ist schon alles.« »Und von Ihrer Sorte gibt es also noch mehr?« »Eine ganze Menge! Zwei Gruppen hausen allein hier in der Landwehrstraße. Nahe beim Alexanderplatz wohnt ein Rentner, ein Schwerkriegsbeschädigter von neunzehnhundertvierzehn bis achtzehn – er schreibt, in Blockschrift, Postkarten; gegen Hitler und den Krieg. Jeden Tag legt er eine davon ab. In der Metzer-Straße gibt es einen Elektromeister, der uns mit Glühbirnen, Batterien und Taschenlampen versorgt. Allein am Luxemburger Platz wurden in einer Nacht drei verschiedene Parolen gepinselt, von drei verschiedenen Trupps – und keiner von uns war dabei.« »Wir wissen zuwenig voneinander«, sagte Lehmann. »Aber haben Sie nicht immer geahnt, daß es so etwas wie uns gibt?« »Nein«, gestand Lehmann. Seine Augen blickten alt und traurig. »Wir leben wohl zu sehr aneinander vorbei.« »Aber wir denken das gleiche, und manchmal handeln wir auch, wie wenn wir uns miteinander verabredet hätten ... Ist das nicht hoffnungsvoll?« Jetzt hatte das Tageslicht auch die Mädchen in der Ecke erreicht. Sie standen auf, massierten ihre verschlafenen Gesichter, zogen sich die Kleider zurecht und ordneten, mit schnellen Fingern, ihr Haar. Dann lächelten sie den Männern zu und kamen näher – ihre frische jugendliche Haut glänzte unverbraucht. »Wann sehen wir uns wieder?« wurde Lehmann gefragt.
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»Verdammt!« rief der. »Diese Nacht scheint mich völlig durchgedreht zu haben! Denn ich weiß wirklich nicht, was ich nun sagen soll.« »Sie sind uns jedenfalls immer willkommen«, versicherte das blonde Mädchen herzlich. »Männer wie Sie können wir gebrauchen.« »Mädchen«, sagte Lehmann leicht verwirrt, »vielleicht sehen wir uns jetzt zum letztenmal. Das hoffe ich, aber zugleich wünsche ich es nicht – doch das könnt ihr nicht verstehen. Denn wer weiß, was morgen ist! Ich werde euch jedenfalls niemals vergessen!« »Wir Sie auch nicht!« Lehmann umarmte sie spontan. Er spürte, beglückt erschauernd, ihre Lippen auf seinem Gartenzwerggesicht. Er schlug dem Dramatiker auf die Schulter und sagte: »Daß es so etwas wie euch gibt! Wenn der Stauffenberg das wüßte, würde ihm vieles leichter fallen.« Die dickbauchige Aktentasche, die der Hauptmann von Brackwede in Sicherheit gebracht zu haben glaubte, stand neben dem Bett, in der Nähe von des Leutnants Stiefeln. Ein dünnes seidenes Wäschestück war darübergeworfen worden. Dieses Zimmer gehörte zu der kleinen Wohnung der Kriegswitwe Wallner. Ihr Mann war Major gewesen und »für Führer und Großdeutschland« gefallen. Dennoch blieb ihr eine Zwangseinquartierung nicht erspart. Aber die Gräfin Oldenburg war ihr willkommen gewesen – die störte ihre jeweiligen »Besucher« nicht. Auf ihren derzeitigen »Besucher« flüsterte die Wallner nun leise und heftig ein. Er wäre zu laut durch den Korridor geschlurft; auch habe er die Wasserspülung bei offener Tür und offenem Fenster gezogen. »Das ganze Haus kann dabei aufwachen – und dann haben wir die Bescherung!« Der schmächtige Mann mit dem zerfurchten Hungergesicht, mit dem sie sprach, bat um Vergebung. Er blickte betrübt. »Ich wollte es nicht – ich bin bemüht, mich an unsere Vereinbarungen zu halten. Und ich kann nur hoffen ...«
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Die Wallner blickte grimmig. »Ich will nicht, daß Sie sich irgendwie bei mir entschuldigen! Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich gezwungen bin, Sie auf derartig schäbige Weise bei mir unterzubringen.« Der »Besucher« verbeugte sich dankbar. Er hauste bereits seit zwei Jahren in der Kammer der Frau Wallner – er hieß Dr. Grünfeld, war Arzt und Jude. Er hatte dem Major Wallner zweimal das Leben gerettet; einmal im Ersten Weltkrieg an der Front, dann in Berlin nach einem Verkehrsunfall. Vor dem großdeutschen Heldentod retten konnte er ihn nicht. »Sie haben viel Mühe und Ärger mit mir!« sagte er leise. Die Wallner knurrte unwillig. »Auch dieser Krieg wird einmal zugrunde gehen – und dann will ich wenigstens sagen können: Völlig kleingekriegt hat er mich nicht!« In der Wohnung nebenan schlief die Schauspielerin Erika – diesmal allein. Schlafen war ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie erfreute sich des verständlichen Wohlwollens derzeit angesehener Kreise. Der Polizeipräsident von Berlin war ihr bevorzugter Gast – er hatte ihr diese Wohnung besorgt, über die sie daher auch allein verfügen konnte. In der dritten Wohnung im dritten Stock hauste Studienrat Scheumer nebst Familie. Dazu gehörten, außer seiner kranken Frau, zwei anerkannt brave Töchter. Die eine war Krankenpflegerin, die andere Wehrmachtshelferin; beide befanden sich zur Zeit außer Haus. Scheumers Leben war ein wenig leer, seit seine Schule zerbombt worden war, doch er gedachte, es sinnvoll zu nutzen. Bevorzugt widmete er sich deutschen Philosophen – von Hegel bis Hitler. Daß diese einander ergänzten, versuchte er zu beweisen. Im Augenblick jedoch hatte er sich, vorsorglich, einer wesentlich profaneren Beschäftigung hinzugeben: Er verfertigte eine Art Aktennotiz. Darin war nachzulesen: Eine im Hause tätige Fremdarbeiterin, allgemein nur Maria genannt, wäre von ihm aufgegriffen und gewissermaßen in Sicherheit gebracht worden. SS-Scharführer Jodler habe sie dann, von ihm korrekt übergeben, in gleichfalls korrekter Weise übernommen.
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Folgten: nähere Angaben über Ort und Uhrzeit. Auch die Breitstraßer aus dem zweiten Stock schlief jetzt – randgefüllt mit wildwuchernden Erlebnissen. Die Morgensonne beleuchtete ihr verschrumpeltes Zitronengesicht. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, wie die Mäuler von Fröschen am Sumpfrand. Im Erdgeschoß rechts lag der Scharführer Jodler nackt auf dem Rücken – mit weitgeöffnetem Mund; er röchelte wie nach wohlgelungener Schwerarbeit. Neben ihm lag Maria – gleichfalls nackt. Sie hatte sich zusammengerollt wie ein verängstigter Hund. Die Wohnung links im Erdgeschoß war leer. Der Ortsgruppenleiter, dem sie gehörte, befand sich im Keller. Er war tot. Das Flugzeug für den Oberst Graf von Stauffenberg stand pünktlich auf dem Rollfeld in Rangsdorf. Seine Tragflächen bebten – der Pilot ließ den Motor warmlaufen. Dieses Flugzeug – eine Heinkel-Maschine – hatte der General der Artillerie Eduard Wagner, der Generalquartiermeister im Generalstab des Heeres, zur Verfügung gestellt. Es war ein sorgfältig gepflegtes, verläßliches und stabiles Transportmittel – jedoch ohne Funkeinrichtung. Funkeinrichtungen waren nicht allgemein üblich. Der wartende Pilot, ein erfahrener gleichmütiger Mann, überprüfte sein Armaturenbrett – es war kurz vor 07.00 Uhr. Der Wagen des Obersts Stauffenberg hielt am Rande des Flugplatzes. Claus stieg aus – gemeinsam mit seinem Bruder Berthold und Oberleutnant von Haeften. Der Generalmajor Helmut Stieff erwartete sie. Auch er gehörte zu den »Eingeweihten«, und an diesem Tag hatte er ebenfalls im Führerhauptquartier zu tun. Die Offiziere begrüßten sich kameradschaftlich, fast wie Freunde – Rangunterschiede schienen zwischen ihnen nicht zu bestehen. Stauffenberg schlug auf eine der beiden Aktentaschen, die sein Adjutant trug, als wolle er damit sagen:
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diesmal wird es gelingen! Die Gesichter der Offiziere glänzten – die frühe brütende Hitze schien sie wie feuchtwarme Tücher umhüllt zu haben. Stauffenbergs Stimme klang dennoch frisch und hell. »Wie fühlen Sie sich, Herr General?« »Ganz gut«, sagte Stieff lächelnd. »Wenn ich Sie so vor mir sehe, kann ich nur zuversichtlich sein.« Doch fast übergangslos fügte er hinzu – ohne Besorgnis, ohne jeden Zweifel, vielmehr als ein an exakte Planungen gewohnter Stabsoffizier: »Aber abgesehen von Ihrer Person: Sind Sie sicher, daß diesmal alles ordnungsgemäß abrollen wird?« »Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht«, stellte Claus von Stauffenberg fast ein wenig unwillig fest. »Aber nach menschlichem Ermessen sind alle Vorbereitungen mit der erdenklichsten Gründlichkeit getroffen worden.« Der Oberleutnant von Haeften hob die beiden Aktentaschen, die er trug – sein stets freundliches Knabengesicht blickte heiter: »Wir haben uns diesmal doppelt abgesichert! Sollte die eine Ladung nicht funktionieren, steht eine zweite bereit.« »Hast du genügend Watte für dein krankes Auge mitgenommen?« fragte Berthold den Bruder besorgt. »Ja, danke.« Der Generalmajor Stieff blickte nachdenklich vor sich hin. Er hatte bereits ein Übermaß an Enttäuschungen, selbst bei noch so sorgfältigen Planungen, erlebt. Und das konnte und wollte er nicht vergessen. »Diesmal könnte es entscheidend darauf ankommen, daß der Nachrichtenapparat funktioniert – das jedoch ist eine recht komplizierte Angelegenheit.« »Dann muß man eben vereinfachen!« rief der Oberleutnant von Haeften. »Das aber kann man nur, wenn man endlich vollendete Tatsachen schafft.« Dieser Oberleutnant erstrebte, gemeinsam mit anderen jungen Kameraden, die unbekümmerte Radikallösung. Der Generaloberst Beck und die Heerführer waren »Denker«; Olbricht, Stauffenberg und Brackwede gehörten zu den
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Planern, die zur Tat gedrängt worden waren. Sie jedoch, die Draufgänger, gedachten einen gordischen Knoten durch Schwerthieb zu lösen. »Die Zeit für Theorien«, sagte Claus, »ist jetzt vorüber. Nur noch wenige Stunden – und dann wissen wir, woran wir sind.« Er senkte, wie in nachdenklicher Ergebenheit, sein Gesicht. Es war, als habe er sich einen letzten Befehl erteilt. Er straffte sich, nickte dem Bruder lediglich zu und stieg dann in die Maschine. Der Pilot trieb den Motor auf hohe Touren. Der Himmel war wolkenlos. Der Windsack hing schlaff am Horizont. Der Start wurde, fast auf die Minute genau, um 07.00 Uhr freigegeben. Die Maschine taumelte über die Rollbahn, wurde hochgerissen und schwebte dann aufwärts. Berthold von Stauffenberg sah dem Flugzeug lange nach – bis es nur noch wie ein Punkt über dem flirrenden Horizont war. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Doch seine Augen glänzten feucht. Der Keller im Hause Schifferdamm 13 war für die einzelnen Mieter durch grobgezimmerte Lattenzäune unterteilt worden. Hier stanken ihre letzten Kartoffeln durch den heißen Sommer; hier lagerten spärliche Kohlenreste; und vereinzelte Gläser mit eingemachtem Obst standen in den Regalen. Koffer und Kisten, in denen letzte, wertvoll erscheinende Besitztümer untergebracht worden waren, stauten sich bis zur Decke. Der Mittelgang aber war zu einem »Luftschutzraum« ausgebaut worden. Und hier befand sich die Leiche des Joachim A. Jodler – einstmals Ortsgruppenleiter und Hausverwalter. Jodler senior lag quer über den beiden Mittelbänken. Sein Hemd wies einen handtellergroßen rostroten Fleck auf. Offenbar war er, wie im Liede, »durch die Brust geschossen« worden. Er wirkte jetzt geradezu friedlich. Die Kriegerwitwe Wallner war die erste, die ihn so erblickte. Sie gedachte eine Rindfleischkonserve heraufzuholen, um ihrem »Besucher« nach dieser unruhigen Nacht eine Freude
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zu bereiten. Beim Anblick der Jodler-Leiche wich sie zunächst zurück. Besorgt blickte sie um sich – sie überzeugte sich davon, daß sie allein im Keller war. Dann murmelte sie: »So habe ich ihn mir vorgestellt – in meinen Träumen.« Doch dann beschloß die Wallner: sie habe nichts gesehen! Sie entfernte sich eilig und hastete die Treppen aufwärts. Dabei traf sie auf Scheumer. Der begrüßte sie mit weit ausholender Gebärde – er schien einerseits einen Hut zu schwenken, andererseits den deutschen Gruß anbringen zu wollen. Nichts Genaues war erkennbar. Darin hatte er Übung. »Schon unterwegs?« fragte er verbindlichhausgemeinschaftlich. »Kleiner Morgenspaziergang – was? Auch ich habe Verlangen danach, den neuen Tag zu genießen.« »Falls Sie dabei zufälligerweise in den Keller kommen sollten«, meinte die Wallner munter, »dann könnten Sie bei dieser Gelegenheit einen Blick auf mein Sicherheitsschloß werfen. Das könnte aufgebrochen sein, oder ich habe es nicht abgeschlossen. Heutzutage kann ja alles passieren.« Studienrat Scheumer entfernte sich, seine Augen blickten menschenfreundlich. Mit beschwingten Bewegungen stieg er abwärts. Nach knappen zehn Minuten kam er wieder zurück – sichtlich erbleicht. Er hatte Jodler erblickt und »O Gott!« ausgerufen – eine spontane Anwandlung von Frömmigkeit, die sich der erklärte Philosoph sonst nicht zu leisten pflegte. Auch er befahl sich, nach heftigem Nachdenken, nichts gesehen zu haben. »Heil Hitler, Volksgenosse Schulz!« rief der Hauptmann von Brackwede spürbar parodistisch. »Schon den ganzen Dreck beseitigt, der hier gestern produziert worden ist?« »Grüß Gott, Herr Graf!« sagte die Putzfrau und blinzelte ihn an. »Sie sehen aus wie einer, der eine gelungene Nacht hinter sich gebracht hat.«
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Brackwede hatte nur wenige Stunden geschlafen – doch seine Augen blickten hellwach. »Muttchen« Schulz, die Putzfrau, gehörte zu seinen Schützlingen – einer der Freunde hatte sie ihm zugeschanzt: Die Gestapo begann sich für sie zu interessieren. So war sie für die Bendlerstraße sozusagen »kriegsdienstverpflichtet« worden. Sie wurde vom Hauptmann zu einer Tasse Kaffee eingeladen – er behandelte sie, als habe er einen lieben Gast vor sich. Und das war auch der Fall. Muttchen Schulz wußte, was ihren Grafen interessierte – und das waren zur Zeit: die Nachtarbeiter in der Bendlerstraße. »Die meisten haben einen tiefen Schlaf! Woher nehmen die eigentlich das gute Gewissen, das angeblich dazugehört?« Nach Muttchen Schulz’ Beobachtungen schien sich hier keiner »ein Bein auszureißen« – das allerdings mit Ausnahme der Freunde des Grafen von Brackwede. »Dieser Oberst Mertz scheint sich ja geradezu an seinem Schreibtisch festgebunden zu haben!« Sie scherzten noch einige Zeit. Der von Brackwede wußte die Erkundungen seiner »Nachteule« zu schätzen – sie erleichterten ihm einen allgemeinen Überblick über die Atmosphäre in diesem Haus. »Gehört dieser Herbert etwa neuerdings auch zu Ihren Freunden?« wollte Muttchen Schulz wissen. »Zumindest tut der so – und zwar angestrengt. Aber dem traue ich nicht über den Weg – nicht ohne Seife und Besen!« »Und warum nicht?« fragte der Hauptmann amüsiert. »Weil der Junge nicht lachen kann! Der kann kaum richtig grinsen – den würde ich nicht einmal als Nußknacker verwenden.« »Sie sollten zur weiblichen Kriminalpolizei«, meinte der Hauptmann. »Sobald sich die Möglichkeit dazu ergibt, werde ich das veranlassen.« Nunmehr stieg der Graf von Brackwede vom dritten Stock des Hauses Bendlerstraße 11/13 in den zweiten Stock hinunter – über eine Treppe aus imitiertem Marmor. Noch
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waren die Brausen der alltäglichen Tätigkeit nicht voll aufgedreht – denn die hier beschäftigten Offiziere pflegten sich zumeist wie Beamte zu benehmen: Sie hatten ihre Dienststunden, und die hielten sie ein. Der General Olbricht allerdings befand sich an diesem Tag bereits in seinem Zimmer. Der Oberst Mertz von Quirnheim saß bei ihm. Sie verglichen ihre Alarmlisten. Der Hauptmann von Brackwede gesellte sich zu ihnen – lässig, ohne besondere Begrüßung. Er beugte seine kühn geschwungene Nase über ihre Papiere und fragte: »Suchen Sie mögliche Fehlerquellen?« »Unser Alarmkalender«, versicherte der General Olbricht, »ist inzwischen noch einmal mit aller Gründlichkeit durchgearbeitet worden. Sobald wir die Bestätigung haben, daß bei Stauffenberg alles geklappt hat, rollen unsere Aktionen an.« Der Oberst Mertz nickte. »Und zwar werden wir diesmal alles auf eine Karte setzen – wir gehen nicht mehr Stufe um Stufe vor, wir operieren in voller Breite und mit der ganzen verfügbaren Durchschlagskraft.« Und lächelnd fügte der von Quirnheim hinzu: »Ein Unternehmen ganz nach Ihrem Herzen, nicht wahr?« »Überdies habe ich aber auch noch einen Verstand«, meinte der Hauptmann von Brackwede freundlich. »Das aber kann manchmal sehr lästig sein. Etwa dann, wenn ich mich frage: Was geschieht eigentlich, wenn alles schiefgeht?« »Dann«, sagte der General einfach, »sind wir erledigt.« »Bedingungslos?« fragte Brackwede unnachsichtig. »Oder sollten Sie nicht vielmehr sogar das – die mögliche Katastrophe – generalstabsmäßig eingeplant haben? Ich meine: Wenn jemand eine Schlacht beginnt – muß dann nicht auch ein möglicher Rückzug mit einkalkuliert sein? Um eine völlige Vernichtung zu vermeiden!« Der Oberst Mertz von Quirnheim schob seinen kahl glänzenden Gelehrtenschädel vor. »Sie denken an gewisse Absicherungen?«
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»An selbstverständliche Vorsichtsmaßnahmen – nennen wir das lieber so.« »Und an welche im besonderen?« »Es ist viel zu viel Papier in diesem Bau!« stellte der Hauptmann fest. »Das meiste davon sollte man verbrennen – damit es unter keinen Umständen in falsche Hände gerät. Haben Sie daran gedacht?« »Natürlich«, sagte Olbricht. »Derartige Maßnahmen sind vorgesehen – falls irgend etwas schiefgehen sollte. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß gewisse Unterlagen von sozusagen historischem Wert sind ...« »Herrschaften«, rief der Hauptmann von Brackwede ironisch aus, »an die Ewigkeit können wir ja immer noch denken. Zunächst geht es um die Erfordernisse eines einzigen Tages. Und da kann ich Ihnen nur raten: räumen Sie hier radikal auf! Verbrennen Sie alles, was Sie nicht unbedingt brauchen. Den Rest bringen Sie dann in Sicherheit. In meinem Bereich habe ich das bereits getan.« Die Aktentasche stand immer noch vor dem Bett, in dem Elisabeth und Konstantin lagen. Die wild aufglühende Sonne dieses Tages drängte sich jetzt gewaltsam durch die Vorhänge. »Ich liebe dich«, stammelte Konstantin kaum vernehmbar. Er hatte den Mund auf die Haut ihres Halses gelegt. Und wieder sagte er: »Ich liebe dich.« »Ja«, sagte Elisabeth – dieses eine Wort hatte sie in den letzten Stunden immer wieder gesagt, nur dieses eine Wort. Die Stuckdecke des hohen Zimmers, von graubleichen Rosenornamenten eingefaßt, schien sich über sie herabzusenken. Sargdeckelhaft. Sie klammerten sich aneinander mit geschlossenen Augen. Und ihm war, als falle er endlos tief – und finde sich dann wieder, von ihr aufgefangen, mit erzitternden Armen, mit fieberhaft bebendem Körper. Schwer atmend fragte er: »Liebst du mich auch?«
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»Ja«, sagte sie wieder – hastig und leise. Und ihre Hände verkrallten sich in seinen Rücken, als sie dann sagte: »Denke immer daran, daß ich dich liebe – vergiß das niemals.« Sie verbarg ihr Gesicht in seinen Armen. Die grelle Vormittagssonne quälte sie mehr und mehr. Sie wollte ihre Augen nicht öffnen. Und sie zitterte vor Glück und Angst. Das Haus Schifferdamm 13 schien dahinzutreiben – auf einer Woge aus Schaum, die haltlos davongespült wurde. Die Welt um sie war ausgelöscht; nur sie allein existierten. Elisabeth schrie ersterbend auf. Die Aktentasche stand jetzt im hellen Tageslicht. Das braungelbe Leder leuchtete wie ein Warnsignal auf. Um 10.15 Uhr landete die Heinkel-Maschine – nach dreistündigem Flug – bei Rastenburg in Ostpreußen. Der Oberst Stauffenberg stieg als erster aus. General Stieff und Oberleutnant Haeften folgten ihm. Sie warfen scharfe Schatten auf die zertretene Erde. Der Pilot wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Gelassen nickte er von Haeften zu, als der sagte: »Halten Sie sich, bitte, vom Mittag ab zum Rückflug bereit. Sie müssen dann innerhalb weniger Minuten starten können.« Der Flugzeugführer war ein Soldat. Er nahm Befehle entgegen und führte sie aus – wie alle anderen Soldaten auch. Genau damit rechneten die Männer der Bendlerstraße; darauf basierte auch der Plan »Walküre«: Befehle wurden gegeben – sie würden befolgt werden. So war das in Deutschland. Der Oberst von Stauffenberg blickte mit prüfendem Auge um sich: alles lief plangemäß ab. Sie waren, fast auf die Minute genau, gelandet. Die Maschine hatte sich als flugtüchtig erwiesen – und sie würde exakt zur verlangten Zeit wieder für sie bereitstehen. Langsam rollte ein Kübelwagen auf sie zu – der Lagerkommandant des Führerhauptquartiers hatte dieses Fahrzeug für sie geschickt. Stieff und Stauffenberg stiegen
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wortlos ein. Der Oberleutnant von Haeften plauderte noch ein wenig mit dem Fahrer. Dann stieg auch er ein. Höchst sorgsam umfaßte er die beiden Aktentaschen. »Soll ich ein erhöhtes Tempo vorlegen?« fragte der Kraftfahrer entgegenkommend. Stauffenberg verneinte. »Halten Sie bitte die übliche Geschwindigkeit ein.« Das aber waren fünfundzwanzig bis dreißig Minuten – genau nach Plan. Sie fuhren durch schwarzblauleuchtende Wälder: Hochtannen, deren Äste dicht ineinander verschlungen zu sein schienen, wie Finger von betenden Händen. Dann wieder umgab sie hellflirrendes Grün – Birken zumeist, mit silberweißen Stämmen. Feuchtwarme Luft umströmte ihre Gesichter. Claus von Stauffenberg atmete tief diesen Duft aus dampfender Erde, schwellendem Moos und triefendem Harz – er erinnerte ihn an die Wälder seiner Kindheit, an die Spaziergänge mit Berthold, an jene einsamen Stunden, durch die Gedichtzeilen klangen wie Glocken aus Glas. Seine Begleiter sahen ihn lächeln. Der Oberleutnant von Haeften befingerte behutsam seine Aktentaschen. Der General Stieff blickte mit dunklen nachdenklichen Augen auf die zerwühlte Fahrbahn. Zu stark belastete ihn das Wissen um die endlose Kette von Fehlschlägen: die unerprobte Sprengladung – der fragwürdige Zünder – Hitlers Unberechenbarkeit! Auch hatten viele praktische Erfahrungen mit Bomben die merkwürdigsten Ergebnisse gezeitigt. Ein leichter, wehender Vorhang konnte wie eine Betonwand einen Raum abschützen. Ganze Häuserflächen krachten bei einer gewaltigen Detonation zusammen, doch in nächster Nähe stehende Gipsfiguren blieben völlig unbeschädigt. Stauffenberg beugte sich plötzlich vor, mit gewinnendem Lächeln – Stieff entgegen. Er sagte: »Wissen Sie, was für mich das Merkwürdigste ist? Ich bin es gewohnt, mit möglichst
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größter Genauigkeit zu planen – und das habe ich auch diesmal getan. Dennoch habe ich immer wieder erkannt, daß sich kein Mensch exakt berechnen läßt – schon gar nicht ein Volk, eine Zeit oder gar das, was wir Schicksal nennen.« »Dem, meinen Sie, sind wir ausgeliefert?« »Nicht ausgeliefert! Wir gehören ganz einfach dazu. Nur eins bleibt uns, glaube ich, dabei zu tun übrig: Wir müssen mit uns selbst fertig werden! Das allein zählt.« Um 10.45 Uhr erreichten sie das Führerhauptquartier. Fast genau zur gleichen Zeit tauchte der Gefreite Lehmann wieder in der Bendlerstraße auf. Er hatte sich in eine blaue Monteurkluft gehüllt – schließlich war er ja als Kranführer im Westhafen registriert, dort heute allerdings mit ärztlichem Attest entschuldigt. »Irgend etwas zu reparieren?« fragte er unternehmungslustig. Der Hauptmann von Brackwede zog ihn in sein Dienstzimmer. »Zunächst einmal«, meinte er, »können Sie sich ausruhen – bis hier der Laden läuft, werden noch einige Stunden vergehen. Außerdem sehen Sie ziemlich mitgenommen aus, alter Freund.« »Das täuscht!« versicherte der Gartenzwerg. »Zwar fehlt mir die prima Generalstabsverpflegung plus Herberts Sonderrationen – doch sonst bin ich munter wie ein Fisch. So habe ich die letzte Nacht gleich mit zwei Studentinnen verbracht. Ich kann Ihnen nur sagen: Erlebnisse über Erlebnisse!« Sie alberten eine Zeitlang in herzlicher Fröhlichkeit herum. Lehmann verlangte Cognac, und der von Brackwede wollte weitere Einzelheiten wissen. »Stellen Sie sich vor«, sagte Lehmann ernsthaft, »während wir hier planen, riskieren uns unbekannte Gesinnungsgenossen Nacht für Nacht Kopf und Kragen. Wir schreiben ganze Aktenstücke voll – dort schreit es von den Mauern, dort werden Menschen versteckt, werden
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Todeskandidaten in Sicherheit gebracht ...« Der von Brackwede nickte. »Das ist mir bekannt. Wir sind weit stärker, als wir einst vermutet haben.« »Was uns offenbar fehlt«, meinte Lehmann, »das scheint so ziemlich genau das zu sein, was unsere Generalstäbler mit Koordinierung der Kräfte bezeichnen – etwa, schlicht gesagt: die Kontakte der Grafenclique mit der Genossenclique.« »Und wo, alter Freund, bleibt die Clique der Gefreiten?« »Ich habe große Lust, die zu gründen.« Bei seinem Paris-Aufenthalt war Lehmann auf höchst interessante Erkenntnisse gestoßen: Dort war der Mann, der alle Fäden in seinen Händen hielt, der Oberstleutnant Cäsar von Hofacker – nicht nur verwandt mit Stauffenberg, sondern auch Trauzeuge des von Brackwede; der Freund und Kamerad von einem Dutzend anderer, die zum innersten Kreis gehörten. »Das geht sogar noch wesentlich weiter«, erklärte der Hauptmann lächelnd. »Einer unserer verläßlichsten Offiziere ist der Schwiegersohn des Generals Olbricht. Mein Vater kannte die Generale Beck und von Stülpnagel genau – sie verkehrten in unserem Haus. Hoepner war einst der Kommandeur von Stauffenberg. Und zu unserem Doktor gehört ein ganzes Rudel Geistlichkeit. Julius Leber kann mit einer Garde alter Kampfgefährten rechnen. Hinter Carl Goerdeler stehen Teile der Industrie.« »Welch eine Fülle von Vettern!« rief der Gartenzwerg aus. Doch dann fügte er hinzu: »Aber ich verstehe, was Sie damit sagen wollen: Man muß sich unbedingt aufeinander verlassen können.« »Und das kann man in solchen Zeiten doch nur, wenn man sich kennt – genau kennt. Schließlich, mein Lieber, geht es hier doch nicht nur um gegenseitige Sympathie oder um gemeinsame Gesinnung – sondern ganz einfach: um Tod oder Leben.« »Dennoch«, meinte Lehmann, »hätten wir uns viel mehr um
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jene bemühen sollen, die mit uns weder verwandt sind noch zu unseren privaten Freunden und Regimentskameraden zählen.« »Ach, mein Lieber, fangen Sie nicht auch noch an, Fehlern und Versäumnissen nachzuspüren – ich selbst habe das bereits seit Jahren getan. Sonderlich wohl in meiner Haut fühle ich mich nicht. Wir leben in einer derartig großen Zeit, daß es mir schwerfällt, darin zu atmen – vergessen Sie das nicht. Wir sollten Gott danken, daß wir es wenigstens doch bis zu diesem Tag geschafft haben!« »Noch ist der nicht vorbei«, sagte Lehmann. »Und in letzter Zeit muß ich sehr oft an meine Mutter denken. Sie sagte immer: Du kannst noch so bemüht sein, dich wie ein Engel aufzuführen – ehe du dich versiehst, tanzt der Teufel mit dir!« Die Leiche im Luftschutzkeller des Hauses Schifferdamm 13 wurde – sozusagen offiziell – von Erika Elster aufgefunden. Sie reagierte ohne jede Komplikation. Sie blickte hin und stellte fest: Dieser Mann ist tot. Sie sah auf ihre Armbanduhr – es war 11.15 Uhr – und begab sich in das Erdgeschoß. Hier klingelte sie zunächst bei Jodler senior. Da sich niemand meldete, läutete sie an der gegenüberliegenden Tür, bei Jodler junior. Und der spärlich bekleidete Scharführer öffnete. Er grinste breit und sagte dann: »Sie wollen doch nicht etwa zu mir? Ich habe nämlich Urlaub und war mitten im Pennen. Aber falls Sie etwa gerade deshalb ...« Erika amüsierte sich nur mäßig – die Gelegenheit war denkbar ungünstig. »Im Augenblick«, sagte sie und warf einen kurzen prüfenden Blick auf seine verschwenderisch behaarte Gorillabrust, »sollten Sie sich lieber um Ihren Vater kümmern – der liegt im Luftschutzkeller.« »Besoffen?« fragte Jodler junior. »Nein.« Erika zögerte nicht, ihm die Wahrheit zu sagen – sie war sogar ein wenig gespannt auf seine Reaktion. »Er ist tot.« Josef Jodler kniff die Augen zusammen – er verstummte für
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Sekunden. Irgendeine andere Regung war an ihm nicht wahrzunehmen. Schließlich sagte er: »Wohl ein Unglück oder so was Ähnliches – wie? Etwa nicht? Na – auf alle Fälle werde ich mir das ansehen.« Er stieg in den Keller – und Erika folgte ihm; mit wachsender Neugier. Schauspiele, gleich welcher Art und Abart, interessierten sie. Sie sah, wie sich dieser Sohn über seinen Vater beugte – und das geradezu sachverständig. Für ihn waren Leichen Alltag. »Erschossen«, sagte der Fachmann dann, sich wieder aufrichtend, »wer weiß, von wem?« Er musterte die Elster. »Waren Sie das?« »Bestimmt nicht! Und das ist alles, was ich weiß.« Josef Jodler blieb völlig ungerührt. Falls er entschlossen war, seine Selbstbeherrschung vorzuführen, so gelang ihm das überzeugend. »Na ja«, sagte er. »Schließlich ist Krieg, und da kann so ziemlich alles vorkommen. Überall treibt sich Gesindel herum. Möglich ist aber auch ein Unglücksfall – oder ein Selbstmord.« Er stand nachdenklich da. »Was machen wir da wohl am besten?« »Nun – zunächst einmal sollte wohl die Polizei benachrichtigt werden.« Erika begann soviel Kaltblütigkeit zu imponieren. »Eine amtliche Untersuchung ist doch in solchen Fällen üblich.« »Meinen Sie?« Jodler junior schien erstaunt. »So was ist tatsächlich noch üblich – im fünften Kriegsjahr? Wegen einer einzigen Leiche? Allein in Berlin gibt es doch fast in jeder Nacht einige Tausend davon!« »Sie vergessen, daß es sich hier sozusagen um eine ganz besondere Leiche handelt – um die eines Ortsgruppenleiters.« »Na schön«, meinte Jodler schließlich. »Dann wollen wir hiermal den Vorhang hochgehen lassen. Und wenn ich das Schwein finde, das meinen Alten umgelegt hat – aus dem mache ich Hackfleisch. Garantiert!« Der Oberst von Stauffenberg konnte das dritte, das letzte
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Tor, das ihn noch von Hitler trennte, bereits sehen. Er befand sich jetzt im mittleren Bereich des Führerhauptquartiers. Er hatte mit dem Adjutanten des Lagerkommandanten gefrühstückt – nunmehr war er zu Generalfeldmarschall Keitel befohlen. Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, empfing den einarmigen und einäugigen Oberst betont liebenswürdig. Nicht nur für ihn war Stauffenberg eine Art Symbol: der schwerverwundete Offizier, der dennoch weiter Krieg führte, für das Reich und den Führer, wie bereitwillig angenommen wurde. Nach einleitenden freundlichen Worten kam er zur Sache: »In erster Linie interessieren die neu aufzustellenden Volksgrenadierdivisionen.« »Sie sollen dem Befehlsbereich des Reichsführer SS unterstellt werden – nicht wahr?« fragte der Oberst offen. Keitel lächelte mit der ihm eigenen, betont kameradschaftlichen Kasinoherzlichkeit. »Das entzieht sich meiner Kenntnis.« Dies behauptete er ohne Zögern, obgleich er die Frage exakt hätte beantworten können. »Zunächst einmal müssen diese zusätzlichen Divisionen aufgestellt sein – die letzte Entscheidung liegt dann, selbstverständlich, beim Führer.« Stauffenberg blieb höflich – seine Stimme klang unverändert. Doch die drei Finger seiner linken Hand umspannten mit heftigern Zugriff seine Aktentasche, die er dicht an sich gezogen hatte. »Falls tatsächlich beabsichtigt sein sollte, Heereseinheiten dem Befehlsbereich der SS anzugliedern, so würde ich das gern vorher wissen – um zusätzliche Komplikationen zu vermeiden.« Wiederum lächelte Keitel bemüht verbindlich. »Machen Sie sich bitte deshalb keinerlei Sorgen – vertrauen Sie dem Führer vorbehaltlos. Denken Sie lediglich daran, daß es darum geht, letzte Kräfte zu mobilisieren. Wie und wo sie eingesetzt werden, wird sich dann schon finden.« Keitels buntscheckige Betonbaracke lag nur wenige hundert
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Meter von Hitlers Bunkern entfernt. Doch bis dahin war kein einfacher Spaziergang möglich: Ausgeklügelte Systeme von Sicherungen, Absicherungen und Abschirmungen von Tarnungen, Doppel- und Dreifachkontrollen verwandelten die »Wolfsschanze« in eine waffengespickte Tatarenburg. Nach dem ersten Tor, dem sogenannten »Eingangstor«, kam ein vermintes und befestigtes Gelände von etwa drei Kilometer Durchmesser. Dort standen Doppelposten, kreisten Streifen, lagerten schnellmotorisierte Truppenteile. Das zweite Tor erst gab den Zugang zu den eigentlichen Arbeitsund Verwaltungsbereichen des Führerhauptquartiers frei. Hier stauten sich die Stäbe – von Wachformationen durchsetzt, deren Kern die sogenannte »Offizierswache« war. »Sie werden bitte dem Führer nur das Dringendste vortragen«, empfahl Keitel bindend. »Wir stehen heute besonders unter Zeitdruck – deshalb waren auch einige Änderungen im Tagesablauf unvermeidlich.« Der Oberst Stauffenberg verriet keinerlei Ungeduld. Dabei war er außerordentlich besorgt – denn solche »Änderungen« hatten bekanntlich mehr als nur einen Plan der Verschwörer über den Haufen geworfen. »Wesentliche Änderungen, Herr Generalfeldmarschall?« Claus blickte zum offenen quadratischen Fenster hinaus. Er sah zwischen den hohen dunkelstämmigen Bäumen: würfelförmige Betonklötze in verschwimmenden fahlen Tarnfarben – ein zweieinhalb Meter hohes, elektrisch geladenes Drahtmaschennetz – mechanisch ihren Bereich abschreitende Wachposten – betriebsam wirkende Offiziere, die mit Aktenbündeln, Ledermappen oder Notizblöcken bewaffnet vorübereilten. »Die ›Mittagslage‹ beim Führer wird diesmal nicht, wie üblich, um vierzehn Uhr dreißig stattfinden«, teilte nunmehr Keitel mit. »Für diese Zeit ist bereits der Duce angemeldet. Mithin mußten alle Termine gekürzt und vorverlegt werden – die große Stabsbesprechung ist auf zwölf Uhr dreißig festgesetzt.« Keitel sah nervös auf seinen Terminkalender – er
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war ein ungemein vielbeschäftigter Mann. »Richten Sie sich also darauf ein.« »Ich richte mich darauf ein«, sagte Stauffenberg. Es war genau 12.00 Uhr. »Welch ein herrlicher Tag!« rief Konstantin aus. Er stand am Fenster und schob die Vorhänge ein wenig zur Seite – er erblickte ein rauchschwarzes Trümmergelände und dahinter die Lagerschuppen, Kohlenhalden und Verladebecken des Westhafens. Dreckdunkles Grau war die beherrschende Farbe. Doch die strahlende Sonne legte einen Glanz wie aus mattem Gold darüber. »Bitte, öffne die Vorhänge nicht – noch lange nicht«, sagte Elisabeth. »Ich will mit dir allein sein – ich will nur dich sehen. Nichts sonst.« »Du bist schön«, sagte Konstantin, sie betrachtend. »Komm zu mir«, sagte Elisabeth. Er eilte ihr entgegen – sie hob mit erwartungsvoller Freude ihre Hände. Er stolperte über die Aktentasche, die immer noch vor dem Bett stand. Sie lachte hell auf. Er schob, gleichfalls auflachend, die Aktentasche zur Seite. Sie polterte gegen einen Stuhl, auf dem ihre Kleider lagen. »Stelle sie in die äußerste Ecke, Konstantin – zwischen das Fenster und den Papierkorb. Ich will sie nicht sehen!« »Soll ich sie zum Fenster hinauswerfen?« fragte er fröhlich. Elisabeth schüttelte den Kopf. Er legte sich neben sie, nahm ihre Hände und zog sie zu sich. Er küßte zart ihre Stirn, wollte sich in ihren Augen sehen. Und diese Augen strahlten ihn hingebungsvoll an. »So wie es jetzt ist«, sagte Konstantin, »so müßte es immer sein.« Und fast heftig fügte er hinzu: »So wird es immer sein.« Elisabeth lächelte. »Dennoch werden wir wohl einmal aufstehen müssen – irgendwann einmal.« »So weit will ich gar nicht denken.« »Zumindest dieser Tag gehört ganz allein uns.«
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»Alle Tage – von nun an!« Sie waren überzeugt: Sie hatten Zeit – füreinander. Die Bendlerstraße benötigte Elisabeth nicht, und Konstantin besaß einen Urlaubsschein. Der Graf von Brackwede hatte sie abgeschirmt. »Mein Gott«, sagte sie dankbar. »Ich glaube, ich habe bisher nie gewußt, was das ist: glücklich sein! Jetzt bin ich es – und will es bleiben. So lange es irgend geht.« Gartenzwerg Lehmann, nunmehr wieder Gefreiter, machte sich im Dienstzimmer des Hauptmanns von Brackwede breit. Er manikürte seine Fingernägel mit einer Blattfeile, die er seinem Monteurkasten entnommen hatte. Aber so intensiv er auch damit beschäftigt schien – er betrachtete fast lauernd den Grafen. Der stand unbeweglich am Fenster. Doch sein hocherhobener Kopf verriet, daß ihn Unruhe beherrschte. Er hatte die Hände tief in die Hosentasche gesteckt. Sein Uniformrock war bis zur Brust aufgeknöpft. »Ich habe eine kleine Gefreitenclique zusammengestellt«, verkündete der Gartenzwerg. »Drei Mann vorläufig nur – aber alle prima Spürhunde. Was halten Sie davon?« »Ausgezeichnet!« Der von Brackwede nickte anerkennend. Er löste sich vom Fenster und kam auf Lehmann zu. »Wir müssen, glaube ich, auf alles vorbereitet sein, was sich Phantasie auch immer vorzustellen vermag. Doch zunächst einmal sollten wir uns ein wenig stärken ... Meinen Sie nicht auch?« »Sollten Sie etwa wieder einmal die Speisekammer Ihrer werten Familie ausgeräumt haben?« fragte Lehmann hoffnungsvoll. Der Graf öffnete die Aktentasche, die auf seinem Schreibtisch lag. Ihr entnahm er eine flaschenlange Mettwurst. Der Gartenzwerg grunzte beglückt und klappte ein Messer auf. Sie schnitten dicke Scheiben ab und begannen, hingebungsvoll zu essen.
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»Herrlich!« rief der Gartenzwerg kauend. Und dann wollte er plötzlich wissen: »Haben Sie eigentlich je Gewissensbisse? Nicht wegen Ihrer Wurst. Aber wegen Ihres Führers! Sie waren doch mal sein Gefolgsmann – wenn ich mich nicht irre?« »Sie irren sich nicht, Lehmann!« Der von Brackwede speiste mit ungetrübtem Appetit. »Ich bin einmal, vor der Machtübernahme, in diese Partei eingetreten. Aus Überzeugung – damals.« »Und wie lange hat das vorgehalten?« »Jahrelang!« gestand der von Brackwede. »Für mich war die Verbindung des Nationalen mit dem Sozialistischen faszinierend – in gewisser Hinsicht ist sie das übrigens, in meiner Sicht, auch heute noch.« »Jedoch nicht bei dieser Firma – was?« »Ich bin lange Jahre im Staatsdienst tätig gewesen – ich habe mich sogar eine Weile als Vizepolizeipräsident von Berlin beschäftigen lassen. Und ich habe dabei durchaus das zu tun versucht, was man in Preußen ›die Pflicht‹ genannt hat. Dann aber wurde ich Soldat.« »Und seit wann ging bei Ihnen das Licht an?« »Bereits neunzehnhundertdreiunddreißig fing ich an, mir diesbezügliche Gedanken zu machen. Worte stimmten nicht mit Taten überein. Anderes wieder, was ich nicht sehr ernst genommen hatte, erwies sich als tödlich ernst gemeint. Schamlose Lügen verblödeten das Volk. Die nationalen Sozialisten wurden zu Bonzen.« Der von Brackwede schüttelte den Kopf – ausnahmsweise einmal über sich. »Dennoch habe ich versucht, das Beste aus dem zu machen, was in Deutschland überhaupt noch möglich erschien. Aber kann man mit Verbrechern paktieren? Man kann es nicht! Es gibt keine Entschuldigung dafür – es sei denn die völlige Unwissenheit über die wirklichen Vorgänge. Aber eben das trifft bei mir – bei uns – nicht zu.« »Diese Mettwurst jedenfalls ist grandios!« Lehmann spaltete bereits ein viertes Stück davon ab. »Langsam, aber nur ganz
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langsam, begreife ich einiges von dem, was hier vorgegangen ist. Bei Beck, bei Ihnen und bei vielen anderen auch – dieser Scheißkerl von Hitler hat Sie um Ihre Ideale betrogen! Sie haben einen großmäuligen und mörderischen Fanatiker für die Verkörperung des sogenannten ewigen Deutschlands gehalten – und das verzeihen Sie ihm nie!« »Das verzeihe ich mir nicht«, sagte der Graf von Brackwede leise. »Beeilen Sie sich bitte, Stauffenberg!« rief der Generalfeldmarschall Keitel drängend. Er stand unruhig vor seiner Baracke. Sein Adjutant, der General der Infanterie Buhle, sah auf seine Uhr. Es war höchste Zeit, zur Lagebesprechung zu gehen. »Sofort!« sagte der Oberst. »Ich hole nur noch meine Aktentasche.« Claus Graf von Stauffenberg stand jetzt allein im Vorraum der Baracke. Er nahm Koppel und Mütze vom Kleiderständer und legte sie vor sich auf einen kleinen Tisch. Dann öffnete er seine Aktentasche mit schnellem, sicherem Griff. Das alles tat er mit den drei Fingern seiner linken Hand. Er schob die über der Bombe liegenden Papiere beiseite und umspannte die Kneifzange, die sich in seiner linken Hosentasche befand. Mit ihr drückte er den Säurezünder ein. Ein kaum wahrnehmbares Geräusch entstand – als ob ein Eiswürfel zerbrach. Die Explosion mußte nun in etwa fünfzehn Minuten erfolgen. »Nehmen Sie dem Oberst die Aktentasche ab!« rief Keitel seinem Adjutanten zu. Der wollte bereitwillig zugreifen, doch Stauffenberg lehnte mit entschiedener Freundlichkeit ab. Der Generalfeldmarschall achtete nicht darauf – er strebte eilig führerwärts. Ein paar ungezwungen erscheinende Worte wurden gewechselt. Der SS-Posten öffnete das dritte Tor weit. Vor ihnen lag Hitlers Wohnbunker, sein Gästehaus, die Lagebaracke, der Zwinger für des Führers Schäferhündin.
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Alsbald tauchte, wie zumeist, SS-Führer Rattenhuber persönlich auf. Seine scharfen Augen schienen jeden, der ihm begegnete, was hier unvermeidlich war, nach Waffen abzutasten. Doch er grinste Keitel breit entgegen – der und sein Gefolge durften ohne besondere Kontrollen passieren. Stauffenberg zwang sich dazu, sein Schrittmaß nicht zu beschleunigen. Im Vorraum der Lagebaracke angekommen, ging er auf den dort diensttuenden Nachrichtenfeldwebel zu. Und zu ihm sagte er: »Ich erwarte ein dringendes Gespräch aus Berlin.« Keitel und sein Adjutant hörten das deutlich. Und sie vernahmen auch, daß der Oberst sagte: »Ich benötige noch wichtige Unterlagen für meinen Vortrag beim Führer.« Dann betraten sie den Hauptraum. Hier war »die Lage« bereits in vollem Gange. Der General Heusinger berichtete über die Situation an der Ostfront. Vierundzwanzig Menschen umringten jetzt Hitler. Sie alle standen in einem länglichen Raum, der etwa fünf mal zehn Meter groß war. Wände und Decke waren mit grauweißer Preßpappe verkleidet worden. In der Mitte befand sich ein zehn Zentimeter dicker Eichentisch – er war sechs Meter lang und etwas mehr als ein Meter breit. Zwei massive Sockel trugen ihn. An der Längsseite, der Eingangstür gegenüber, stand Hitlers Stuhl. Davor lagen, sorgfältig übereinandergeschichtet, die zu den Vorträgen benötigten Generalstabskarten. Des Führers blankgeputzte Brille befand sich in seiner Reichweite. Dieser Raum besaß zehn Fenster. Und sie alle waren, der brütenden Hitze wegen, weit geöffnet. Stauffenberg hatte das erwartet – er registrierte es lediglich mit kurzem Blick. Hitler sah von seiner Karte auf – den Eintretenden entgegen. Er nickte Keitel zu und wartete dann, bis sich der Oberst bei ihm gemeldet hatte. Er reichte Stauffenberg die Hand – diese dekorativ wirkende Demonstration ließ er sich niemals entgehen: Der Feldherr begrüßte einen schwerblessierten Helden.
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»Ihren Bericht bitte später, Stauffenberg. Zunächst noch weiter: die allgemeine Lage.« Der General Heusinger setzte unverzüglich seinen Vortrag fort. Die Anwesenden beugten sich wieder, wie Hitler, über die ausgebreiteten Karten. Sie gaben sich eifrig, schienen angespannt zu lauschen, intensiv nachzudenken. Der Oberst Claus Graf von Stauffenberg aber stellte seine Aktentasche unter den Kartentisch – knapp zwei Meter von Hitler entfernt. Kurz danach verließ er unbeachtet den Raum. Es war 12.37 Uhr. In der Bendlerstraße wanderte der Hauptmann von Brackwede durch die Korridore und streckte seine Adlernase in das eine oder andere Dienstzimmer hinein. Das tat er nicht nur, um sich abzulenken – er leistete sich vielmehr eins seiner beliebten, bekannten Gesellschaftsspiele. Dabei pflegte er gewöhnlich zu fragen: »Nun – wie steht die Schlacht?« Die Antwort hatte dann nach den üblichen Spielregeln zu lauten: »Welche Schlacht?« Hierauf der von Brackwede: »Na diejenige, die wir gerade verlieren!« Darauf folgten dann einige seiner grimmigen Scherze. Ein gewisser Heiterkeitserfolg stellte sich auch an diesem Tage ein. Dennoch hatte der Hauptmann das Gefühl, nicht ganz in der gewohnten Form zu sein. Möglicherweise war das Wetter zu drückend. Um dennoch sein ablenkendes Vergnügen zu haben, begab er sich zu Oberleutnant Herbert. Erwartungsgemäß befand sich des Führers Offizier sozusagen in voller Fahrt: Er telefonierte mit Parteidienststellen – er forderte Propagandamaterial kistenweise an. Das bereits für die neuen, von Stauffenberg aufzustellenden Volksgrenadierdivisionen. »Sie schrecken wohl vor nichts mehr zurück – was?« Der
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Hauptmann ließ sich belustigt nieder und nickte Molly Ziesemann zu; die war jetzt nicht nur des Oberleutnants Braut, sondern auch im dienstlichen Bereich dessen engste Mitarbeiterin. »Sie scheinen offenbar schon für den nächsten Krieg vorzusorgen!« Herbert fühlte sich geschmeichelt. Seine Dienststelle funktionierte! Langsam begann sogar sein Benzinverbrauch an den von Stauffenberg heranzureichen; was viel heißen wollte. »Leider«, sagte er bedauernd, »klappt heute nicht alles ganz so gut wie sonst. Aber das liegt nicht an mir – das liegt an den Telefonverbindungen. Die funktionieren nicht in der gewohnten Weise.« »Sie funktionieren nicht?« fragte Brackwede aufhorchend. »Nicht alle.« »Und warum nicht?« »Weil heute doch Umschalttag ist«, erklärte Molly Ziesemann sachverständig – schließlich hatte sie lange genug im Nachrichtenkeller gearbeitet. »Die Zentrale wird verlegt.« Das interessierte den von Brackwede sichtlich – das ließ er sich genau erklären. Und er erfuhr: Das Hauptquartier wurde – ausgerechnet an diesem Tag! – von Rastenburg in Ostpreußen nach Zossen bei Berlin umgeschaltet. Das aber bedeutete möglicherweise: Das für die Verschwörer vielleicht wichtigste Nachrichtennetz war nur unvollkommen zu beherrschen. »Macht nur so weiter!« rief der Hauptmann und eilte davon. Er hastete die Treppe hinunter und überfiel den Oberst Mertz. Der ordnete fast liebevoll den Inhalt seines Panzerschrankes: Die Alarmpläne lagen wieder einmal, fein säuberlich geordnet, griffbereit. »Wir warten nur noch auf den auslösenden Anruf«, sagte er. »Und was dann, wenn dieser Anruf gar nicht durchkommt? Wissen Sie denn nicht, daß heute Umschalttag ist?« Der Oberst mit der funkelnden Gelehrtenbrille blickte nachdenklich. Dann griff er zum Telefon. Er ließ sich eilig mit
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einem verläßlichen Nachrichtenspezialisten verbinden. Und dieser Fachmann, der mit zu den Eingeweihten zählte, bestätigte des Hauptmanns Vermutung. »Kein günstiger Tag, um dieses Netz zu beherrschen – vielleicht sogar ein denkbar ungünstiger Tag. Es wird möglicherweise darauf ankommen, wie weit diese Umschaltungen bereits fortgeschritten sind.« »Nun?« fragte Brackwede mit funkelnden Augen. »Ist das auch in Ihrem Alarmkalender vorgesehen?« »Wir rechnen von vornherein mit Schwierigkeiten und Komplikationen.« Der Oberst Mertz von Quirnheim rückte seine Brille zurecht. »Dementsprechend sind wir entschlossen, uns durch nichts überraschen zu lassen.« »Aber finden Sie nicht auch, Verehrtester, daß diese Überraschungen reichlich früh in Erscheinung treten? Denn wie wollen Sie diese Revolte per Telefon durchführen, wenn die Verbindungen nicht klappen?« »Ich werde selbstverständlich veranlassen«, erklärte der Oberst leicht ungeduldig, »daß sich Experten mit diesem Problem beschäftigen.« Und auflachend fügte er hinzu: »Machen Sie uns ruhig weiter die Hölle heiß, lieber Freund – dafür haben wir Sie ja auch ausgesucht! Und ich bin sicher, daß Sie dabei Ihre Spezialaufgaben nicht vernachlässigen werden. Was machen, zum Beispiel, die Polizeieinheiten von Berlin?« »Dasselbe, wie die meisten hier in diesem Bau! Sie stehen herum und warten. Sie wissen noch gar nichts von ihrem Glück.« Das zuständige Polizeirevier für das Haus Schifferdamm 13 setzte einen ersten Beamten in Bewegung. Das war ein Polizeimeister namens Kopisch. Ein Hilfspolizist begleitete ihn. Und der war eine Art Wachhund – auf Zuruf reagierte er prompt: irgendwelche Selbständigkeit jedoch war bei ihm nicht zu fürchten. Kopisch, in langen Friedensjahren bewährt und in Kriegsjahren halbwegs ehrenhaft ergraut, handelte ziemlich genau nach Vorschrift: Er besichtigte den Fundort der Leiche
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und erstellte ein erstes, vorläufiges Protokoll. Sein Fuhrmannsgesicht blickte würdig-bieder. »Sie sind der Sohn des Toten?« fragte er. Josef Jodler stellte sich vor – er nannte Namen und Dienstgrad; auch deutete er seine Verwendung an. Er wurde durchaus respektvoll behandelt. Denn Meister Kopisch konnte mit Anerkennung registrieren: Dieser Mann hatte Haltung! Der wußte, was Krieg war. Irgendwelche Komplikationen waren somit kaum zu erwarten. »Und Sie?« fragte er, mit seinem Bleistift auf Erika deutend. »Was stellen Sie hier vor?« »Ich habe den Toten aufgefunden«, berichtete sie. Diese Person mißfiel dem Polizeimeister Kopisch, auf Anhieb, gründlich. Er konnte derartige prallfleischige Frauenzimmer nicht leiden. Sie erinnerten ihn aufdringlich an seine Versäumnisse. Denn er hatte für die bemühte Korrektheit seines Lebens schwer zahlen müssen. »Sie besitzen in diesem Hause eine Wohnung, ganz allein für sich?« Kopisch blickte mit tiefem Mißtrauen. »Und das hier, in dieser Gegend, im fünften Kriegsjahr?« »Da staunen Sie – was?« Erika fühlte sich herausgefordert, und sie gedachte wirkungsvoll zu parieren. »Ich verfüge eben über gewisse Beziehungen.« Meister Kopisch wehrte ab – Beziehungen zu haben behaupteten viele. Doch was konnte man schon damit anfangen? »Ein Minister wird es ja wohl nicht gleich sein – wie?« fragte er gelinde belustigt. »Nur der Polizeipräsident von Berlin«, sagte Erika lässig. »Genügt Ihnen das?« Kopisch blickte ungläubig von seinen Notizen auf. »Wir sind miteinander befreundet«, fuhr sie leichthin fort, »fast könnte man sagen: wir sind so gut wie verlobt.« Der Polizeimeister klappte seinen Mund und sein Notizbuch zu. Er murmelte einige Worte, die wie eine Entschuldigung klangen. Dann verschwand er. Seinen Wachhund, den
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Hilfspolizisten, ließ er jedoch zurück. »Sie sind ja geradezu eine Wucht«, sagte Jodler anerkennend. »Dem haben Sie es vielleicht gegeben! Aber ich habe schon immer eine Menge von Ihnen gehalten und mir so gedacht: Der ist allerhand zuzutrauen!« Erika lachte ihr bewährtes Bühnenlachen: silberhell, mit gelegentlich dunklen, verlockenden Untertönen. »Wie das Leben so spielt – was?« meinte sie gekonnt kokett. »Vor Überraschungen ist da niemand sicher.« Der Polizeimeister Kopisch aber hatte sich auf das nächste Telefon gestürzt. Er rief seine vorgesetzte Dienststelle an und erstattete hastig Bericht. Anschließend sagte er dann: »Das hier scheint ein ganz dicker Hund zu sein – da kann man leicht aufs Glatteis geraten. Da muß sofort einer von der Gestapo her, aber möglichst gleich einer vom Hauptamt – damit nichts schiefgeht. Ich werde inzwischen diese Bude hermetisch abriegeln.« Die Bombe im Führerhauptquartier detonierte um 12.42 Uhr. Der General Heusinger war mitten in seinem Vortrag: »Der Russe dreht mit starken Kräften nach Norden ein, wenn jetzt nicht endlich die Heeresgruppe zurückgenommen wird, dann werden wir eine Katastrophe ...« In diesem Augenblick schien die Lagebaracke wie von einem gewaltigen Donnerschlag zu erzittern. Grelle Stichflammen schossen auf und hüllten die Anwesenden in zerstörendes Licht. Dann füllte wattedicker, blauschwarzer, erstickender Qualm den Raum. Wildgurgelnde Schreie wichen lähmender Totenstille. Der Oberst Claus Graf von Stauffenberg stand etwa einhundertfünfzig Meter vom Ort dieser offensichtlich geballten Vernichtung entfernt. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Den Bruchteil einer Sekunde lang schien er wie erstarrt. Dann blickte er zu Oberleutnant von Haeften hinüber – der hielt sich am fahrbereiten Wagen auf. Der Oberst stieg ein. »Zum Flugplatz!« sagte er.
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Fünfzig Meter weiter, am Tor zum mittleren Bereich des Führerhauptquartiers, wurden sie aufgehalten. Der diensthabende Offizier bedauerte, sie nicht durchlassen zu können. Stauffenberg stieg scheinbar völlig gelassen aus und verlangte zu telefonieren. Er wählte selbst, sprach kurz in den Apparat hinein, legte dann auf und sagte mit klarer, ruhiger Stimme: »Herr Leutnant, ich kann passieren.« Er hatte mit niemandem gesprochen. Doch seine beherrschte Ruhe überzeugte. Die Eintragung im Wachbuch lautete: »12.44 Uhr – Oberst Stauffenberg passiert.« Um 12.45 Uhr wurde Großalarm ausgelöst. Etwa drei bis vier Minuten später näherte sich der Wagen des Oberst der Außenwache Süd. Hier sperrten bereits spanische Reiter jede Durchfahrt. Auch waren zusätzliche Doppelposten aufgezogen. Abermals stieg der Oberst aus seinem Wagen – mit unveränderter Ruhe. Der Wachhabende war der Oberfeldwebel Kolbe, ein ruhiger, fast gemütlich wirkender Mann. Lapidar erklärte er: »Durchfahrt gesperrt.« »Nicht für mich«, sagte der Oberst. »Lassen Sie mich telefonieren.« Diesmal jedoch, instinktsicher, manipulierte Stauffenberg nicht: Er rief den Adjutanten des Lagerkommandanten an. Und er sagte: »Hier Oberst Graf Stauffenberg bei Außenwache Süd. Die Wache läßt mich wegen der Explosion nicht passieren. Ich bin aber in Eile. Auf dem Flugplatz wartet Generaloberst Fromm auf mich.« Bis zu diesem Augenblick – 12.49 Uhr etwa – hatte es sich im Führerhauptquartier noch nicht herumgesprochen, was geschehen war. Man wußte lediglich: eine Explosion war erfolgt – mehr nicht. Und deshalb sagte der Lageradjutant: »Sie können passieren.« Stauffenberg legte mit abgezirkelt wirkenden Bewegungen den Hörer auf. Sein schmales, hochstirniges Gesicht blieb unverändert. Der Oberleutnant von Haeften blickte seinen Oberst voll glühender Bewunderung an – die Haltung dieses
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Mannes erfüllte ihn mit berauschender Zuversicht. Der Oberfeldwebel Kolbe bemerkte nichts Ungewöhnliches. Doch auch er besaß einen gewissen Instinkt. Und daher bestand er darauf, einen direkten Befehl zu erhalten. Er drehte die Kurbel seines Feldfernsprechers und ließ sich mit dem Adjutanten des Lagerkommandanten verbinden. Stauffenberg nahm diese umständliche, lebensgefährliche Korrektheit unbeweglich hin. Schweißtreibende Sekunden vergingen. An dieser Waldschneise befanden sich hochaufragende Tannen – wie Mäste einer Legion von ruhenden Segelschiffen. Grasgrüne Büsche umstanden sie und tasteten sich sanft und beharrlich bis zum Wegrand vor. Vögel, die unsichtbar zwischen den dichten Ästen einherhüpften, zwitscherten freudig – von niemandem beachtet. »Kann passieren«, sagte endlich der Oberfeldwebel Kolbe und gab den Weg frei. Während sie speisten, klopfte es leise an der Tür. Sie hatten eine Büchse Ölsardinen geöffnet, zwei Scheiben Brot dazu geschnitten und alles auf eine weiße Tischdecke gelegt – und die befand sich auf der Erde, unmittelbar vor ihrem Bett. »Ich finde es herrlich, hier mit dir zusammen zu sein«, sagte Elisabeth heiter und unbekümmert. Er beugte sich zu ihr hinüber – sie zog ihn an sich. Das Klopfen an der Tür ertönte abermals – um ein geringes lauter als vorher. Und jetzt vernahmen sie es. Elisabeth hob den Kopf, ohne die Hände von seinem Körper zu lösen. Sie sagte auf die verschlossene Tür zu: »Bitte – ich habe jetzt keine Zeit!« »Nur ein paar Sekunden«, flüsterte eine heisere, angstvoll gedämpfte Stimme. Es war die der Frau Wallner. »Ich muß Sie dringend sprechen.« »Bitte, das geht jetzt nicht! Es geht wirklich nicht. – Verstehen Sie das nicht?« »Doch!« grollte die Witwe Wallner verhalten. »Ich verstehe
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durchaus – ich bin ja schließlich nicht taub.« »Um so besser! Ich komme später zu Ihnen!« Sie legte ihren Kopf gegen Konstantin – der nahm ihn in seine Hände. Ihre Körper glänzten matt. Sie sahen sich ganz und atmeten schwer. Und wieder war die Stimme der Frau Wallner zu vernehmen – lauter als vorher, ungeduldiger, erregter. »Tut mir leid, Sie stören zu müssen – aber im Hause ist was passiert!« »Ach – das geht uns nichts an!« Elisabeth sagte das wie abwesend. Langsam ließ sie sich rückwärts gleiten. »Nichts geht uns das an! Das nicht – und nichts sonst.« Und flüsternd fügte sie hinzu: »Nur, was mit uns geschieht, Konstantin – nur das.« In der Bendlerstraße traf ein Mann in schlichtem Zivil ein. Er stieg in der Einfahrt aus seinem Kübelwagen und trug einen ledernen Handkoffer. Ein Posten näherte sich ihm. »Schon gut«, erklärte der Fahrer. »Das geht in Ordnung. Der Herr wird von General Olbricht erwartet.« Der Posten salutierte lässig – der Mann in Zivil machte keinen sonderlichen Eindruck auf ihn. Der sah fast so aus, wie er sich einen Vertreter für Staubsauger vorstellte. Immerhin: die Stimme dieses Mannes klang befehlsgewohnt – ein wenig rauh, doch mit sensenscharfen Untertönen. »Ich glaube, ich kenne mich hier noch aus«, sagte er. »Ich benötige keine Begleitung.« »Wie Sie wollen«, meinte der Posten ahnungslos. Daß er den für Generaloberst Fromm vorgesehenen Nachfolger vor sich hatte, konnte er nicht wissen. Er stieß die Tür zum linken Flügel zur Seite; und der Herr mit dem Koffer marschierte die Treppen hinauf. Er fand den richtigen Weg nicht gleich. Diese Bendlerstraße war wie ein Fuchsbau: vielfältig verschachtelte Haupteingänge – 1, 1a, 2; außerdem die Tür zum Wachlokal; ferner der Sondereingang für den Befehlshaber; schließlich mehrere Hintereingänge für das Versorgungspersonal. Dazu kamen
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vielästig abzweigende, dennoch eng ineinander verschlungene Korridore – quer über dem Hauptportal, seitwärts zu den Quergebäuden, auf- und abwärts zu den Zwischenstockwerken. Einige hundert Türen gehörten dazu. Der Kofferträger transpirierte leicht; doch aufrecht schritt er dahin. Sein schmales, durchfurchtes Gesicht begann sich zu röten. »Da bin ich!« sagte er, als er das Zimmer des Generals Olbricht betrat. Er stellte seinen Koffer zu Boden und blieb sekundenlang in standbildhafter Haltung stehen. »Ich hoffe, ich komme nicht zu spät.« Und nun erlebte der unscheinbare Zivilist die Genugtuung, den General Olbricht freudig aufspringen zu sehen. Auch der Oberst Mertz von Quirnheim streckte die rechte Hand weit aus. Sogar der Hauptmann von Brackwede erhob sich – wenn auch etwas salopp. Doch von ihm hatte der Herr mit dem Koffer keine andere Reaktion erwartet. »Herzlich willkommen, Herr Generaloberst!« rief Olbricht. Dieser Generaloberst war Erich Hoepner, Stauffenbergs einstiger Divisionskommandeur, der 1942 »entehrend aus der Wehrmacht gestoßen« worden war, weil er in der Winterkrise vor Moskau selbständig Truppen zurückgenommen hatte. Der von Brackwede nahm Hoepner den Koffer ab und prüfte dessen Gewicht. »Sie haben doch hoffentlich keine Akten mitgebracht? Davon haben wir hier mehr als genug.« Olbricht lachte auf, als habe er soeben einen Scherz vernommen – allerdings einen, den er nicht sonderlich gelungen fand. »Das ist nämlich eine von Brackwedes Hauptsorgen! Er fürchtet, daß wir vor lauter Papierkrieg kaum noch zu durchschlagenden Aktionen fähig sind.« »Das ist im Grundprinzip nicht unrichtig gedacht«, sagte Hoepner mit karger Anerkennung. »Präzise Befehle benötigen keine umständlichen Erklärungen.« Dann jedoch wies er auf seinen Koffer. »Hierin befindet sich lediglich meine Uniform – wenn es soweit ist, werde ich sie anlegen.«
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»Freue mich bereits auf diesen Anblick«, versicherte der Hauptmann von Brackwede lächelnd. »Hoffentlich brauche ich nicht allzulange darauf warten.« Noch wußte niemand in der Bendlerstraße, daß die Bombe bereits detoniert war. Denn die verbindliche, unmißverständliche Nachricht war noch nicht eingetroffen. So lud denn Olbricht, um sich die Wartezeit zu vertreiben, den Generaloberst Hoepner zu einem kleinen Imbiß ein. »Wünsche einen guten Appetit«, sagte der von Brackwede. »Ich werde inzwischen unseren derzeitigen Lieblingssport betreiben – ich werde telefonieren.« Kurz nach der Explosion im Führerhauptquartier – etwa um 12.43 Uhr – wankte Adolf Hitler ins Freie. Er tauchte aus den rauchenden Trümmern auf wie ein Nebelgeist. Keitel stützte seinen Führer besorgt. Hitler taumelte wortlos seinem Wohnbunker zu. Er war sichtlich schwer erschüttert – doch schwer verletzt war er nicht. Der herbeieilende Leibarzt konnte lediglich feststellen: Haare versengt; Brandwunden am rechten Bein; ein Trommelfell geplatzt; Prellungen am Rücken durch einen Teil der abgestürzten Decke. »Es ist wie ein Wunder!« rief Keitel aus. Das Wort »Wunder« gehörte zu den Lieblingsformulierungen Hitlers und seiner Umgebung. Dieses »Wunder« war, wie später nachgewiesen wurde, dem Oberst Heinz Brandt zu verdanken. Den hatte Stauffenbergs Aktentasche behindert – und so hatte er sie aufgenommen und sie an die andere, Hitler abgewendete Seite eines der klobigen Sockel des schweren Eichentisches gestellt. So rettete er seinem Führer das Leben – sein Leben rettete er damit nicht. Hitler tauchte alsbald wieder aus seiner Privathöhle auf und starrte auf die rauchenden Trümmer – die Lagebaracke war nur noch ein bizarrer Haufen aus zerborstenen Brettern, zackigen Betonfetzen und qualmendem Schutt. Keitel rief aufmunternd: »Der Führer lebt – nun erst recht!«
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Adolf Hitler – gebeugt und bebend – blickte unruhig forschend auf Überlebende und herbeigeeilte Hilfswillige. Er sah nichts als besorgte Ergebenheit. Das erleichterte ihn. Schließlich sagte er: »Es kann ein Angriff feindlicher Jagdbomber gewesen sein.« Und schroff fügte er hinzu: »Ich befehle eine gründliche Untersuchung!« Rattenhuber bellte seine Leute mit rauhen Feldwebeltönen an. Sie riegelten den inneren Sperrkreis hermetisch ab. Die Alarmstufe 1 trat in Aktion: jeder der Anwesenden wurde abgeschirmt – keine Maus kam mehr herein, niemand konnte hinausgelangen. Die Ärzte und Helfer eilten herbei – Verbandskisten wurden aufgebrochen, Tragbahren herangeschleppt. Die »Rattenhuber« überwachten alle diese Vorgänge mit entsicherten Maschinenpistolen. Eine knappe halbe Stunde nach der Explosion rollten bereits die ersten Sanitätswagen in Richtung Rastenburg davon. Die Überlebenden standen erregt herum. Der Generaloberst Jodl, Chef des Wehrmachtführungsstabes, nach Keitel Hitlers treuester Vasall im Hauptquartier, rief empört aus: »Diese verfluchte ewige Bauerei!« Er war überzeugt davon: Ein Bauarbeiter der Organisation Todt, vermutlich volksfremder Herkunft, hatte eine Bombe gelegt. Und zwar, allem Anschein nach, unter dem Fußboden; denn dort klaffte ein metertiefes Loch! Alsbald wucherten im Führerhauptquartier die seltsamsten Phantasiegebilde. Tote, Sterbende, Schwerund Leichtverletzte wurden zur Seite geräumt – die Überlebenden begannen zu mutmaßen: heimtückische Fremdarbeiter – britischer Geheimdienst – sowjetisches Sonderkommando – amerikanische Gangster mit Spezialauftrag! Bormann kam sogar auf die Idee: »Hier könnte eine jüdische Terrororganisation am Werk gewesen sein!« Hitler jedoch sagte ahnungsvoll: »Auch in den eigenen Reihen sind Kreaturen denkbar, die mich vernichten wollen – mich und damit Deutschland!«
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Auf Claus von Stauffenberg fiel zunächst nicht der geringste Verdacht. Erst zwei Stunden danach wurde »der einäugige Oberst« erstmalig als möglicher Täter in Erwägung gezogen. Schließlich kam die Vermutung auf, Stauffenberg könne inzwischen hinter der russischen Front gelandet sein. Die erste blutige Bilanz: Von den fünfundzwanzig Teilnehmern der Lagebesprechung waren vier tot; fünf lagen im Sterben; sechs galten als schwer verwundet. Völlig unbeschädigt kam nur einer davon: der Generalfeldmarschall Keitel. Der Führer aber befahl, besorgt um seinen Ruf als unverwundbares Nationalheiligtum: »Nichts, nicht das geringste, darf nach außen dringen!« Das Haus Schifferdamm 13 machte den Eindruck schäbiggrauer Gleichgültigkeit. Die verklebten Fenster blickten trüb. Die Risse in der Außenmauer waren wie Spuren von dicken, träge bohrenden Würmern, um deren Tätigkeit sich niemand kümmerte. »Ich heiße Voglbronner«, sagte der kleine Mann, der soeben angekommen war. Er legte artig die Hände – wie ein Schuljunge – aufeinander. »Ich bin beauftragt worden, die hier notwendig erscheinenden Ermittlungen durchzuführen.« »Der Alte ist tot«, sagte Josef Jodler. »Das zumindest steht fest.« »Zumindest das – allerdings.« Voglbronner blickte sanftmütig – er schien für seine Existenz um Vergebung zu bitten. »Aber es handelt sich doch wohl um keinen gewöhnlichen Tod – denn der Tote war kein gewöhnlicher Mensch.« »Natürlich nicht!« rief der Jodler-Sohn entschieden. Er glaubte zu ahnen, was hier von ihm erwartet wurde: sein Auftritt als großdeutscher Kämpfer. Und diesbezüglich gedachte er, niemanden zu enttäuschen. »Was aber, bitte, habe ich damit zu tun?« fragte Erika mit sichtlicher Ungeduld. Diese Entwicklung mißfiel ihr; sie witterte Komplikationen.
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Voglbronner hob beschwörend die Hände. »Bitte – mißverstehen Sie mich nicht!« bat er. »Ich bin nicht irgendeiner Leiche wegen hier – die gibt es zur Zeit zu Tausenden. Ich gedenke vielmehr, die Belange der Partei und des Staates zu wahren – mit Ihrer Unterstützung.« »Aha!« rief Jodler anerkennend aus. »Das läßt sich hören! Das ist der Wind, der hier wehen muß. Sie scheinen auf dem richtigen Dampfer zu sein.« »Dann kann ich nur hoffen«, meinte Erika erwartungsvoll, »daß Sie jeden Mißgriff vermeiden werden.« »Sie, gnädiges Fräulein«, versicherte der musterschülerhafte Gestapomann sanft, »stehen hier sozusagen unter meinem persönlichen Schutz.« Er hatte vorsorglich über sie Auskünfte eingeholt. Danach schienen die Angaben, die sie Polizeimeister Kopisch gegenüber gemacht hatte, nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein: Sie verdankte jedenfalls ihre Wohnung dem Polizeipräsidenten von Berlin, dem Grafen Helldorf. Der besaß, außer seinem Appartement im Hotel Exzelsior, etwa vier Wohnungen dieser Art. »Sie können sich da ganz auf mich verlassen – ich werde Ihre Belange zu wahren wissen.« »Und ich?« fragte Jodler, sich erwartungsvoll vorbeugend. »Was gedenken Sie, mit mir anzustellen?« »Ich beabsichtige, Sie um Ihre tatkräftige Hilfe zu bitten!« Polizeimeister Kopisch hatte ihm eine Art Anwesenheitsliste des Hauses Schifferdamm 13 übermittelt. Und darauf war ein Leutnant verzeichnet gewesen – noch dazu einer, der von Brackwede hieß. Und deshalb war Maiers Dienststelle, in Abwesenheit des Sturmbannführers, eingeschaltet worden. »Zunächst einmal«, meinte Voglbronner, »werden wir die Sippschaft in diesem Bau mal kurz durch den Wolf drehen. Bin jetzt schon gespannt, was dabei herausspringen wird.« Zu diesem Zeitpunkt – um 13.00 Uhr – befand sich der Oberst Claus Graf von Stauffenberg auf dem Weg zum Flughafen von Rastenburg. Sein Adjutant, Werner von Haeften, begleitete ihn. Beide schwiegen. Ihre Gesichter
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wirkten entspannt. Der Wagen holperte mit wilden Sprüngen über die strapazierte, ausgefahrene, von Schlaglöchern zerfetzte Chaussee. Der Kraftfahrer befingerte routinemäßig sein Steuerrad, um das Fahrzeug ausgeglichen vorwärtszulenken. Später würde er behaupten: »Es war eine völlig normale Fuhre, die ich durch die Gegend karren mußte. Die beiden Offiziere benahmen sich wie alle anderen auch, die ich zum Flugplatz gefahren habe.« Der Oberst und der Oberleutnant saßen schweigend nebeneinander. Sie waren überzeugt davon: Es war geschehen – und es war geglückt. Hitler existierte nicht mehr. Und damit war auch der teuflische Eid erloschen, der vorsichtige Patrioten immer noch zögern ließ. »Es war eine Stichflamme«, hatte Stauffenberg gesagt, »wie wenn eine Fünfzehn-Zentimeter-Granate einschlug – das aber kann keiner lebend überstehen!« Davon war der Oberst überzeugt – ohne ahnen zu können, was diese Überzeugung für Folgen haben sollte. Darüber hinaus wurde behauptet: Stauffenberg habe gesehen, wie Hitler tot aus der zerberstenden Baracke herausgeschleudert wurde. Und der General Fellgiebel soll berichtet haben: »Der Führer segelte wie eine Fledermaus durch die Luft.« Wieder andere glaubten, folgenden Ausspruch des Generals Fellgiebel verbürgen zu können: »Es ist etwas Furchtbares passiert! Der Führer lebt. Alles blockieren.« Mit »alles blockieren« meinte der Nachrichtengeneral die Funktion der Hauptvermittlung im Führerhauptquartier, die ihm unterstand. »Alle Leitungen abschalten ...« Doch diese Vermittlung war nicht die einzige im Raum von Rastenburg. Himmlers Hauptquartier lag in der Nähe – und das besaß eigene Nachrichtenquellen. Über die verfügte auch Göring. Und der Reichsleiter Bormann kam sogar auf die simple Idee, das normale Postnetz zu benutzen. So telefonierten alsbald Leute eifrig – noch während Stauffenberg und Haeften dem Flugplatz entgegenrollten. Die
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Bendlerstraße jedoch blieb ohne eindeutige, klare Nachricht. Lediglich in Zossen, bei Generalquartiermeister Wagner, lief – gegen 13.15 Uhr – eine rätselhaft erscheinende Nachricht ein: Attentat offenbar vollzogen, doch vermutlich mißglückt. Auf der Fahrt zum Flugplatz warf der Oberleutnant von Haeften die zweite, die Reservebombe, aus dem Wagen hinaus. Sie fiel mit dumpfem Aufprall in den Chausseegraben. Sie war jetzt, nachdem alles geschehen war, nur noch Ballast. Dem Fahrer entging dieser Vorgang nicht – später würde er darüber berichten. Und die Chronisten dieses Tages erklärten noch viele Jahre danach übereinstimmend: höchst seltsam, was hier geschehen war! Doch war das wirklich so merkwürdig? Eilige Reisende verschmähen überflüssiges Gepäck. »Alles verläuft planmäßig«, sagte der Oberleutnant von Haeften zuversichtlich, als er auf dem Flugplatz in Rastenburg die startbereite Heinkel-Maschine sah. Das Flugzeug erhob sich nur wenige Minuten danach. Fast drei Stunden mußten vergehen, ehe es Berlin erreichen würde. Doch Stauffenberg war sicher: Hitler war tot – und der Staatsstreich war ausgelöst worden.
2 Menschen, die wissen wollten, wessen sie fähig sind Das Haus in der Bendlerstraße lag breitklotzig da. Die mitten hindurchführende Fahrschleuse schien in einer Felsenhöhle zu enden. Wie vergittert wirkten die engen Fenster. »Vielleicht sollten wir einen kleinen stärkenden Mittagsschlaf halten?« schlug der Hauptmann Graf von Brackwede scherzend vor. »So ziemlich der ganze Verein in diesem Bau döst nur noch mühsam vor sich hin.«
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Er hatte sich erneut zu General Olbricht begeben. Der hielt sich, nach dem Imbiß, wieder mit Generaloberst Hoepner und Oberst Mertz von Quirnheim in seinem Dienstzimmer auf. Sie hatten vor sich Weingläser stehen – die blutrote Flüssigkeit in ihnen leuchtete. »Könnten Sie denn jetzt schlafen?« fragte Olbricht leicht verwundert. »Ich könnte, wenn ich wollte«, behauptete der von Brackwede und setzte sich unaufgefordert zu ihnen. »Aber ich will nicht!« »Unruhig?« fragte der Generaloberst Hoepner. Er legte Wert darauf, als verständnisvoller Vorgesetzter zu erscheinen. Großzügig nahm er hin, daß dieser merkwürdige Hauptmann unbekümmert zivilistische Allüren zur Schau stellte: Der trug seinen Waffenrock offen, als habe er sich ein leichtes Sommerjackett angezogen. »Unruhig bin ich auch«, gestand der Oberst Mertz. »Und das nicht erst seit dem reichlich unklaren Ferngespräch von vorhin.« »Da muß man eben Nerven behalten können«, meinte Hoepner, »und unbeirrt warten, bis unmißverständliche Nachrichten eintreffen.« Der von Brackwede hob das Kinn. Die scheinbar unerschütterliche Selbstsicherheit, die dieser Generaloberst in Zivil demonstrierte, begann ihn zu irritieren. Denn er sagte sich: In Stunden wie diesen war niemand vorstellbar, der gänzlich gelassen bleiben konnte. Mit einer Ausnahme vielleicht: der Generaloberst von Hammerstein! Aber den gab es leider nicht mehr – und Hoepner war kein Ersatz für ihn. Und nervös fragte Brackwede daher: »Von welchem Ferngespräch, bitte, ist hier die Rede?« Hoepner wollte abwehren – seiner Ansicht nach durften halbzivilistische Hauptleute nicht alles wissen. Doch Olbricht nickte Mertz kaum merklich zu. Und der berichtete: Vor wenigen Minuten – gegen 13.15 Uhr – wäre auf Umwegen, über General Thiele, eine Kurznachricht eingelaufen. Danach
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scheine das Attentat möglicherweise vollzogen, doch vermutlich mißglückt zu sein. »Unklar, mißverständlich und daher praktisch unbrauchbar«, entschied Hoepner. Der Hauptmann blickte mit verkniffenen Augen vor sich hin. »War die Lagebesprechung im Hauptquartier nicht für vierzehn Uhr dreißig angesetzt?« »Allerdings – sie wurde dann jedoch überraschend vorverlegt. Auf zwölf Uhr dreißig.« Der Graf von Brackwede beugte seinen Oberkörper vor – seine hellblauen Augen leuchteten auf. Er rief mit heller Stimme: »Ja – worauf warten wir denn noch!« »Auf eine einwandfreie Bestätigung«, sagte der Generaloberst verweisend. »Besteht eine Verbindung zum Führerhauptquartier?« »Nein!« Der Oberst Mertz schien Brackwedes Phantasie zielstrebig fördern zu wollen. »Die dortige Vermittlung meldet sich nicht – sie scheint außer Betrieb gesetzt worden zu sein.« Jetzt sprang der Hauptmann entschlossen auf. »Aber damit ist doch alles klar! Die Ausschaltung des Führerhauptquartiers beweist, daß Stauffenberg in Aktion getreten ist.« »Wir dürfen dennoch unter keinen Umständen voreilig handeln«, gab der General Olbricht zu bedenken. »Wir können nicht noch einmal ohne zwingende Notwendigkeit den Plan ›Walküre‹ vorzeitig auslösen – wie am vergangenen Sonnabend. Diesmal brauchen wir Gewißheit.« »Diese Aktion zu früh beginnen«, rief der von Brackwede, »das kann man mutig oder leichtsinnig nennen – sie jedoch zu spät beginnen kommt fast schon einem Selbstmordversuch gleich.« »Nur keine fragwürdigen Unternehmungen!« rief Hoepner warnend. »Wer Verantwortungsgefühl besitzt, muß für sinnvolle Sicherheit sein.« Der Oberst Mertz von Quirnheim schwieg und blickte lediglich Hauptmann von Brackwede an. Er zog die Brille von
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seinen Augen – das kalte Grau darin war auffunkelnden Blautönen gewichen. Der Hauptmann sagte: »Wir müssen jetzt handeln – so oder so! Dabei gibt es nur noch zwei Möglichkeiten – entweder wir schlagen sofort los; oder wir versuchen, alles zu vertuschen. In jedem Fall haben wir nur wenige Stunden Zeit – etwa drei Stunden, schätze ich. Eine sofortige Entscheidung jedenfalls scheint mir unvermeidlich.« »Das ist auch meine Ansicht«, sagte der Oberst Mertz ruhig. »Generaloberst Beck«, meinte Olbricht, »hat wiederholt davor gewarnt, voreilige Maßnahmen zu ergreifen.« Dabei blickte er auf Hoepner. Der schien beherrscht nachzudenken. Schließlich verkündete er: »Wir sollten abwarten – wir haben die Nerven dazu. Nur nichts panikartig überstürzen!« Berlin war wie ein kochender Kessel. Das Haus Schifferdamm 13 stand mitten darin. Die Quecksilbersäulen der Thermometer krochen über dreißig Grad hinaus. Der Gestapobeamte Voglbronner schien die Hitze nicht zu spüren. Sein bleiches Gesicht blieb trocken wie Leder. Dafür drohte der Mann, der die Protokolle schrieb, haltlos zu zerfließen: Schweiß stand in dicken Tropfen auf seiner Stirn. »Der Tod des Ortsgruppenleiters«, referierte Voglbronner, »scheint, nach den ersten Untersuchungsergebnissen, zwischen drei und sechs Uhr früh eingetreten zu sein. Eine Revolverkugel wurde aufgefunden – sie wird zur Zeit im Labor untersucht. Sie sehen – wir gehen methodisch vor. Und daher muß auch eine meiner ersten Fragen an jeden Einwohner dieses Hauses zwangsläufig lauten: Wo hielten Sie sich während der fraglichen Stunden auf? Also – Herr Jodler?« Der Scharführer sagte grinsend: »Ich lag im Bett!« »Allein?« fragte Voglbronner mild. »Meine Frau ist außer Haus – falls Sie das interessiert.« Jodler gab diese Erklärung augenzwinkernd ab. »Sie tut einiges für den Endsieg – und dagegen ist ja wohl nichts
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einzuwenden. Aber ich bin schließlich ein Mann und komme gerade von schwerstem Einsatz. Sie verstehen?« »Ich verstehe«, versicherte der Gestapobeamte mit wohlwollend klingender Nachsicht. »Also – mit wem?« Jodler junior nannte nunmehr – um notwendige Diskretion bittend – den Namen: Maria. »Die war gerade so zur Hand, wissen Sie. Oder mißgönnen Sie etwa unsereinem sein Vergnügen?« Voglbronner enthielt sich jeder Stellungnahme dazu. Er beauftragte Polizeimeister Kopisch, Maria herbeizuholen. Die erschien sogleich, stand zitternd da, senkte ihr hochrotes Gesicht. Jodler redete ihr herzhaft Mut zu. »Das ist ein ziemlich dummes Luder«, erklärte er dem Kameraden von der Gestapo. »Die spricht nur mühsam deutsch – man muß Nachsicht mit ihr haben. Aber willig ist sie durchaus.« Das schien tatsächlich der Fall zu sein. Denn Maria beeilte sich, stotternd, nach Worten suchend, alle Angaben des ]odler-Sohnes zu bestätigen. Damit schienen zunächst zwei in diesem Haus ein Alibi für die fragliche Tatzeit zu besitzen. Voglbronner lächelte verständnisvoll. Und wie nebensächlich fragte er dann: »Ist eigentlich dieses Mädchen in Ihrem Haushalt beschäftigt – oder in dem Ihres Vaters?« »Nun ja – der Alte hat da sozusagen die Vorhand. Gehabt. Aber die Kleine war auch sonst ziemlich anlehnungsbedürftig.« »Bei wem noch?« »Na schön«, erklärte Josef gönnerhaft, »wenn Sie so scharf darauf sind, will ich Ihnen gern einen guten Ratschlag geben – ich bin ja gar nicht so. Stecken Sie Ihre Nase in den dritten Stock! Es lohnt sich, dort mal auszumisten!« Als der Gefreite Lehmann das Dienstzimmer des Hauptmanns betrat, fand er den von Brackwede tief in seinen Schreibtischstuhl gelehnt – er hatte ein Buch aufgeschlagen. »Lesen Sie tatsächlich darin?« fragte der Gartenzwerg.
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»Dazu sind Bücher da«, erklärte der Hauptmann. Er durchblätterte die Aphorismen des Georg Christoph Lichtenberg – besonders in gewissen Augenblicken der Bitterkeit wußte er sie zu schätzen. Nicht wenige Aussprüche hatte er unterstrichen – einige davon las er jetzt nicht ohne Befriedigung. Etwa: »Es tun mir viele Sachen weh, die anderen nur leid tun.« Oder: »Schwachheiten schaden uns nicht mehr, sobald wir sie kennen.« »Nachrichten von unserem Oberst?« wollte der Gefreite Lehmann wissen. »Keine«, sagte der Hauptmann, »nicht die geringste.« »Ist das günstig?« »Das weiß ich nicht.« Der Gefreite schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das scheinen ja ganz beschissene Nachrichtenverbindungen zu sein! Weiß tatsächlich niemand, was im Augenblick der Oberst Stauffenberg anstellt? Ist er kurz davor? Oder befindet er sich bereits auf dem Flug hierher?« »Keine Ahnung, Lehmann!« »Das gefällt mir nicht. Das ist ja geradezu eine Fahrt ins Blaue! Ich jedenfalls würde an einem solchen Tag mindestens jede Viertelstunde Telefongespräche führen – jeder Schritt von Stauffenberg ist wichtig!« »Sie sind hier aber nicht Generalstabsoffizier, Lehmann.« »Leider nicht«, sagte der grinsend. Und um seinen Hauptmann abzulenken, berichtete er: »Ich leite hier zur Zeit lediglich meine Gefreitenclique, bestehend aus Beckerath und Klimsch; dazu kommt eine Kasinoordonnanz und der Putzer von Fromm. Alles meine Leute! Der eine lungert am Wachportal herum, der andere streunt durch die Korridore – und mein Hauptquartier befindet sich hier.« »Prächtig!« meinte der von Brackwede. »Sie wollen hier also eine Art Spürhundsystem aufbauen?« »Aus purer Langeweile – oder auch aus unverbesserlicher Vergnügungssucht. Auf alle Fälle will ich hier nicht tatenlos
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herumsitzen.« »Sind Ihre Leute eingeweiht?« »Wo denken Sie hin!« wehrte Lehmann fast entsetzt ab. »Schließlich bin ich Ihr Mitarbeiter – und außerdem kenne ich das System Stauffenberg: Jeder darf nur so viel wissen, wie zur Durchführung seines Auftrages unbedingt notwendig ist! In dieser Bude weiß doch kaum jeder fünfte Bescheid darüber, was hier wirklich gespielt wird!« »Nicht einmal jeder zehnte«, meinte der von Brackwede lächelnd. »Die Hauptsache jedenfalls: im Endeffekt läuft hier der Motor auf vollen Touren! Und so habe ich denn auch meiner Clique lediglich gesagt: Jungens – haltet Augen und Ohren offen. Und wenn euch dabei irgend etwas auffällt, dann ist mir das beschleunigt zuzuflüstern. Mal sehen, was dabei herauskommt – unmöglich ist hier schließlich nichts mehr.« Noch lag vieles von dem, was an diesem Tage geschah, wie hinter dichten dampfenden Nebelwänden. Es war, als drohte die beharrlich brütende Hitze zahlreiche Hirne zu lahmen – in Berlin ebenso wie einige hundert Kilometer oder nahezu drei Flugstunden davon entfernt: in der »Wolfsschanze« bei Rastenburg in Ostpreußen, dem Führerhauptquartier. Hier betrachtete Adolf Hitler – bereits umgekleidet – die Hose, die er während der Detonation getragen hatte. Ein Adjutant, eine Sekretärin, ein SS-Führer und einer seiner persönlichen Wachleute umstanden ihn und starrten wie er auf das Beinkleid – es schien »wie mit scharfer Schere« aufgetrennt worden zu sein. Der Führer und Reichskanzler und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht fand diesen Anblick bedeutsam und bezeichnend. Denn er konnte feststellen: Wieder einmal hatte ihn »das Schicksal« rasiermesserscharf gestreift. Und verschont. Damit: aufbewahrt! Zu welchen Taten wohl noch? Diese Hose wurde alsbald zu einem vielbestaunten Schaustück. Auch der Reichsleiter Bormann besichtigte sie und sprach von der »Vorsehung«. Und Generalfeldmarschall
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Keitel meinte: das gleiche habe er bereits festgestellt – und zwar unmittelbar nach der Explosion. Auch Reichsmarschall Göring erschien. Er setzte sich »jovial lärmend« in Szene und gratulierte mit lautstarken Worten. Auch er zitierte die Vorsehung. Hitler schien noch nicht die rechten Worte für diese Ungeheuerlichkeiten zu finden. Sein Schweigen wirkte bedeutsam und bannend. Er sagte lediglich: »Wie konnte das geschehen? Das will ich aufgeklärt wissen!« Diesbezüglich war Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, in seinem Hauptquartier bereits tätig – und seine Vermittlung funktionierte. Schon wenige Minuten nach 13.00 Uhr erreichte sein erster Anruf Berlin. Das Reichssicherheitshauptamt meldete sich. Himmler ließ sich mit Kaltenbrunner verbinden. »Hier ist eine Schweinerei passiert«, sagte er. »Stellen Sie sofort eine Flugzeugladung bester Leute zusammen – darunter Spurenfachleute mit Sprengstoffspezialisten. Und die lassen Sie so schnell wie nur irgend möglich hier anrollen.« »Wird erledigt«, sagte Kaltenbrunner. »Sonst noch was, Reichsführer?« »Nichts sonst mehr – im Augenblick! Aber halten Sie sich bereit. Alles Weitere wird sich finden. Irgend etwas Bestimmtes kann ich jetzt noch nicht sagen.« Das konnte zur Zeit offenbar niemand: in allen Einzelheiten wissen, was tatsächlich geschehen war. Der Oberst von Stauffenberg saß mit Oberleutnant von Haeften im Flugzeug. Unter ihnen glitt das östliche Deutschland dahin: Wälder zumeist von dunkler Einförmigkeit – Seen darin, die wie blasse Augen waren. Sie sprachen kein Wort. Der Oberst hatte sein Auge geschlossen – er wirkte entspannt. Der Oberleutnant lächelte wie erlöst. Der Flugzeugführer betrachtete gelangweilt sein Armaturenbrett.
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Der Motor dieser Maschine ohne Funkeinrichtung dröhnte mit ermüdender Gleichmäßigkeit. Und die Offiziere dachten: Was mag jetzt in der Bendlerstraße geschehen? Dort geschah nichts. Hoepner, Olbricht und Mertz warteten geduldig auf »eindeutige« Nachrichten. Zwischendurch tranken sie »auf den Erfolg«. Der Hauptmann von Brackwede begann zu telefonieren. Er versuchte, eine Verbindung zum Führerhauptquartier herzustellen – zu General Fellgiebel. Das jedoch gelang ihm nicht. Der Nachrichtengeneral Erich Fellgiebel hatte getan, was von ihm erwartet worden war: Er hatte die Nachrichtenzentrale der »Wolfsschanze« blockiert. Und das mit einer Gründlichkeit, wie sie konsequenter gar nicht mehr gedacht werden konnte: Auch die Bendlerstraße vermochte das Führerhauptquartier nicht zu erreichen. Der General Fellgiebel hatte, in jeder Beziehung, »total abgeschaltet«. Mit stoischem Gleichmut saß er zwischen seinen Offizieren und wartete auf das, was kommen mußte. Und das kam schnell: Keitel ließ ihn »zur Berichterstattung« rufen. Fellgiebel erhob sich, glättete seine Uniform, warf seine letzte Zigarre zum Fenster hinaus und sagte zu seinen verstummten Kameraden: »Wenn wir an ein Drüben glaubten, dann könnten wir jetzt sagen: Auf Wiedersehn!« Er wußte um sein Ende. Um 14.30 Uhr meldete sich Zossen bei Berlin. Von hier aus erreichte den Generalquartiermeister Oberst Eberhard Finckh in Paris die Nachricht: »Übung abgelaufen!« Das aber bedeutete: Das Attentat auf Hitler hatte stattgefunden. Die deutschen Truppen im Raum Groß-Paris wurden daraufhin sofort in Alarmzustand versetzt – weit früher als die von GroßBerlin. Denn nichts – immer noch nichts – geschah in der Bendlerstraße. Der Mann, der nunmehr – völlig ahnungslos – in Aktion trat,
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war Leutnant Dr. Hans Hagen. Er besaß ein gutmütiges, rosig schimmerndes Gesicht, sein babyhaft wirkender Körper wollte nicht überzeugend in die Uniform hineinpassen. Er blickte versonnen vor sich hin. Denn: er hatte einen Vortrag zu halten. Es galt, NSFührungsfragen wirkungsvoll zu behandeln. Diesmal bei Offizieren des Wachbataillons von Berlin. Das war für Hans Hagen weiter keine Schwierigkeit. Bevor er Offizier wurde, war er Beamter im Propagandaministerium gewesen. Und dort hatte ihn selbst der Chef, Josef Goebbels, stets mit Wohlwollen behandelt. Er war wer! Nun schlenderte er durch die Friedrichstraße und erdachte sich wirkungsvolle Formulierungen; wie etwa: Erst in letzter Not zeigt sich höchste Tugend! Oder: Für die wahre Größe kann kein Opfer groß genug sein! Auch: Geschenkt wird uns nichts – was errungen werden will, muß verdient sein! Er befand sich in der Nähe des Wintergartens, einem Varietegebäude, als er einen Personenkraftwagen erblickte – ein bei der Wehrmacht allgemein übliches Fahrzeug. Darin saß ein Mann in Generalsuniform. Und der Leutnant Dr. Hagen glaubte zu erkennen: das war Brauchitsch! Das verwunderte ihn. Denn dieser Brauchitsch, ein Generalfeldmarschall, befand sich zur Zeit »in Ungnade«. Er war, vom Führer persönlich, »außer Dienst« gestellt. Mithin durfte dieser Mensch nicht in Uniform existieren – nirgendwo; schon gar nicht in Berlin. Der Anblick kam dem Leutnant Dr. Hagen zunächst – laut späterer Aussagen – lediglich reichlich »komisch« vor. Sich darüber Gedanken zu machen, hielt er nicht für notwendig – im Augenblick nicht. Und er will gesagt haben: »Höchst merkwürdig!« Dabei konnte er den Generalfeldmarschall Walter von Brauchitsch – der bis 1941 Befehlshaber des Heeres gewesen war – gar nicht gesehen haben. Der hielt sich an diesem Tag auf seinem Gut in Ostpreußen auf. Doch das war unwichtig. Hagen hatte etwas erblickt, das ihn zu beschäftigen begann
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– unbewußt zunächst. Das versicherte er später, und das muß man ihm glauben. Doch dieser Irrtum gehörte zu den auslösenden Kräften für eine Tragödie ohnegleichen. Der Himmel war wolkenlos, völlige Windstille herrschte, die Thermometer krochen im Schatten auf vierunddreißig Grad zu. Die Lage an den Fronten: unverändert. Jedoch: keine Bomberverbände im Raum Groß-Berlin. Der Mann namens Voglbronner ließ sich Zeit. Instinktiv erkannte er: Dieses Haus Schifferdamm 13 war voller Möglichkeiten. Daß er im 3. Stock auf einen Leutnant von Brackwede stoßen würde, früher oder später – das war ihm bekannt. Wie er darauf zu reagieren hatte, wußte er noch nicht. Wissen konnte er auch nicht, daß dort, wo sich der Leutnant befand, eine Aktentasche existierte, die purer Sprengstoff war. Er gedachte lediglich, und das möglichst geschickt, zu lavieren – zwischen Rechtsinteressen, Staatsnotwendigkeit und zeitgemäßen Machtkonstellationen. Es war gegen 15.00 Uhr, als er sich auf den Weg in den dritten Stock machte. Gegen 15.00 Uhr erschien Keitel bei Hitler und bat ihn um die Erlaubnis, die »Nachrichtensperre« wieder aufheben zu dürfen. »Wegen der Anrufe von den Fronten.« Der Führer blickte seinen Generalfeldmarschall verwundert an. »Eine Nachrichtensperre? Aber davon weiß ich doch gar nichts! Wer hat das angeordnet?« Keitel war verlegen – seine sonst so liebenswürdige Stimme klang heiser. »Offenbar hat Fellgiebel Ihre Bemerkung, mein Führer, falsch ausgelegt. Bewußt falsch ausgelegt.« »Welche Bemerkung?« fragte Hitler, mit grollenden Untertönen. »Sie meinten, mein Führer: Nicht das geringste darf nach außen dringen!« »Was – und deshalb wird gleich der ganze Apparat blockiert!« brüllte Hitler auf. »Das ist ja Sabotage! Wer ist
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dafür verantwortlich? Sofort festnehmen den Kerl!« »Ich habe bereits vorsorglich den General Fellgiebel sichergestellt.« Um 15.00 Uhr ließ sich der Oberst Finckh von Paris mit dem Oberbefehlshaber West verbinden. Es meldete sich jedoch lediglich dessen Chef des Stabes, der General von Speidel. Er erklärte: Der Generalfeldmarschall von Kluge befinde sich nicht in seinem Hauptquartier. »Sie müssen ihn unverzüglich zu erreichen versuchen«, verlangte Finckh. »Hitler ist tot.« Der General von Speidel schwieg sekundenlang – diese Nachricht überwältigte ihn; sonderlich überraschend allerdings kam sie für ihn nicht: Er gehörte zu denen, die ins Vertrauen gezogen worden waren. Doch wußte er nicht um die genauen Einzelheiten. Schließlich erklärte er: »Der Generalfeldmarschall ist nicht erreichbar – nicht im Augenblick. Er hält sich in Frontnähe auf – er hat dort eine Lagebesprechung mit einigen seiner Generale.« Beide benötigten keinerlei Erklärungen füreinander. Sie wußten: Der Generalfeldmarschall besaß eine entscheidende Schlüsselposition – er allein konnte die »Westlösung« durchführen und damit lawinenartig bei der gesamten Wehrmacht den Umsturz auslösen. »Wann«, fragte Finckh beherrscht, »kann der Generalfeldmarschall zurückerwartet werden?« »Unbestimmt. Möglicherweise erst am späten Abend.« »Und bis dahin?« »Müssen wir warten.« In der Bendlerstraße geschah – nach wie vor – nichts. Von 15.00 Uhr bis 16.00 Uhr sprach der Leutnant Dr. Hans Hagen vor den Offizieren des Berliner Wachbataillons »zur Lage«. Treffliche Formulierungen schienen ihm zu gelingen. Seine Zuhörer durften als aufmerksam bezeichnet werden. Unter ihnen befand sich auch der Kommandeur dieser
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Einheit – der Major Otto Ernst Remer. Er besaß ein etwas grobgezeichnetes, doch entschlossen wirkendes Soldatengesicht. Er hörte in guter Haltung zu, gelegentlich nickte er zustimmend. Er war ein gläubiger Offizier seines Führers – das wurde auch in dieser Stunde wieder sichtbar. Hagen sprach vom germanischen Reich großdeutscher Nation und von entschlossener Gefolgschaftstreue. Dabei streute er Zitate aus der Edda, von Nietzsche und Rosenberg aus. Selbst Goethe blieb nicht verschont. »In diesen denkbar größten Stunden, die jemals unserem Volke zuteil wurden ...« Das Flugzeug des Oberst von Stauffenberg schwebte Berlin entgegen. Adolf Hitler stand am Behelfsbahnhof beim Führerhauptquartier, bereit zum Empfang des Benito Mussolini. Major Remer sagte zu Dr. Hagen: »Leisten Sie uns, bitte, noch ein wenig Gesellschaft – damit wir die angeschnittenen Probleme vertiefen können.« In der Bendlerstraße: nichts Besonderes! Sie warteten dort. Seit drei Stunden bereits. Tatenlos. Kurz vor 16.00 Uhr bog die schwarzgraue Staatslimousine des SS-Sturmbannführers Maier, vom Lützowplatz kommend, in die Bendlerstraße ein. Das Haus 11/13 war nicht zu verfehlen – es stand fast völlig frei in einem staubigen Trümmerfeld. Maier, in schlichtem dunklem Zivil, stieg gemächlich aus und befahl seinem Fahrer, auf der gegenüberliegenden, leeren Straßenseite zu warten. Fast neugierig bewegte er sich dann auf den breiten Zementblock zu – die Wache grüßte salopp. Das irritierte ihn bereits. Keine zusätzlichen Kontrollen fanden statt; er brauchte nicht einmal einen Ausweis vorzuzeigen. Nun begann er, leicht unruhig zu werden. Er beschleunigte seine Schritte – er eilte die hohlklingenden Treppen aufwärts und bewegte sich zielsicher durch
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verschachtelte Korridore. Er kannte diesen Fuchsbau ziemlich gut – er besaß genaue Pläne davon in seinem Amt. Hier hatte er »Betrieb« erwartet, Unruhe, hektische Geschäftigkeit – doch er fand: den scheinbar völlig normalen Ablauf eines ganz gewöhnlichen Tages. »Pennt ihr hier eigentlich?« fragte er. »Oder lebt ihr auf dem Mond?« Das sagte er zu Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede. Der blickte von seiner Lektüre auf. Er betrachtete den stierhaft antrottenden Maier leicht verwundert. »Dabei habe ich nun gedacht«, rief der aus, »hier wackelt bereits die Wand!« Maier blickte geradezu klagend. »Wie ist es nun, verehrter Freund – wollen Sie nicht oder können Sie nicht oder haben Sie überhaupt gar keine Ahnung, was da eigentlich im Rohr ist?« Brackwede gab sich gleichmütig – doch seine Augen begannen blitzlichthaft aufzufunkeln. »Warum regen Sie sich auf?« Maier begann unwillig zu schnaufen. »Sie enttäuschen mich aber mächtig! Oder sollten Sie hier alle kalte Füße bekommen haben? Denn soviel ist sicher: In Rastenburg scheint der Teufel los zu sein. Dort hat es gekracht! Himmler hat bei Kaltenbrunner ein Rudel Fahndungsund Sprengstoffspezialisten bestellt – und die befinden sich bereits auf dem Flug ins Führerhauptquartier. Und was macht ihr, Mensch?« »Wir warten.« »]a, zum Teufel – worauf denn noch?« Diese Frage vermochte Brackwede nicht zu beantworten. Er erklärte lediglich: »Hier jedenfalls ist es noch nicht soweit; dadurch sollten Sie sich nicht beunruhigen lassen. Eins jedenfalls kann ich Ihnen versprechen: Wenn es bei uns losgeht, werde ich Sie sofort benachrichtigen. Denn das entspricht unserem Abkommen.« »Und irgendwelche Einzelheiten wollen Sie mir nicht
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anvertrauen?« »Jetzt noch nicht. Außerdem rechne ich mit Ihrem Verstand und Ihren Verbindungen – Sie werden schon herausfinden, was Ihnen guttut.« »Mann«, sagte Maier, »wenn ihr hier noch lange zögert, versäumt ihr glatt den Anschluß – und geht garantiert baden. Ich werde dann nicht zögern, euch einzeln den Hals umzudrehen. Und wenn ich aufräumen muß, dann gründlich! Ist das deutlich genug?« Der Hauptmann nickte. »Ich weiß – auch das kann ein Preis für unser Abkommen sein. Aber noch, mein Lieber, sind alle Rechnungen offen. Sicher scheint lediglich, daß wir uns nicht das geringste schuldig bleiben werden. Nur Geduld.« Im Hause Schifferdamm 13 legte Voglbronner bereitwillig auf seinem Weg eine Art schöpferische Pause ein. Die Breitstraßer war der Anlaß dazu: Sie hatte ihm aufgelauert. Breitbeinig stand sie im gedämpften Flurlicht vor ihrer Tür. Ein zäher süßdumpfer Geruch umgab sie – gebildet aus haftendem Küchendunst und schweißfeuchter Kleidung. Noch ehe sie den Mund auftat, wußte Voglbronner, was von ihr zu halten war. Derartige Typen hoben ihre Nase nur, um sie irgendwo hineinzustecken. Dieses Weibsbild war wie eine trübe Quelle, die heftig sprudeln wollte. »Wenn es um Sitte und Anstand geht«, verkündete sie einladend, »dann kann man sich auf mich verlassen! Da kenne ich nichts, was mich davon abhalten kann, die volle Wahrheit zu sagen.« Voglbronner ließ seinen Begleiter Josef Jodler im Treppenhaus stehen und drängte seine mutmaßliche Kronzeugin in ihre Wohnung hinein. Und hier beschäftigte er sich eine geschlagene halbe Stunde mit ihr. Als er dann wieder zum Vorschein kam, lächelte er zufrieden. »Hören Sie, mein Bester«, sagte der Gestapomann zum Scharführer. »Ich weiß Ihre besonderen Verdienste durchaus zu würdigen – aber Ihre Position scheint mir alles andere als
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rosig zu sein. Hier stinkt es – meilenweit!« »Was denn, was denn!« erregte sich Jodler. »Hat mich etwa diese klapprige Arschgeige dahingehend verleumdet, daß ich ein Mann bin – ein ganzer Kerl? Na, und wenn schon! Jedenfalls bin ich kein alter geiler Bock wie dieser Studienrat Scheumer. Den sollten Sie sich mal unter die Lupe nehmen! Oder diese heimtückische Wachtel, diese Wallner, mitsamt ihren herumschleichenden Untermietern. Und vergessen Sie auch nicht dieses hochmütige Weibsbild – diese OldenburgQuentin –, die macht es offenbar nur mit Grafen.« »Das alles hört sich durchaus vielversprechend an«, sagte Voglbronner nachsichtig. »Zunächst jedoch bietet sich nach den bisherigen Ermittlungen nur einer als Täter an: nämlich Sie!« Jodler schnappte sichtbar nach Luft. Dicke Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Oberlippe. »Das«, bellte er heiser, »ist doch völliger Blödsinn! Ich – der Sohn – soll meinen eigenen Vater umgelegt haben?« »So was kommt vor!« Voglbronner war wieder einmal bei seiner Lieblingsbeschäftigung angelangt – er richtete mit Leidenschaft Jagdhunde ab. »Ich habe aber gar nicht die Absicht, Sie irgendwie zu belasten – denn schließlich gehören wir beide zum gleichen Verein.« »Na also!« rief Jodler erleichtert. »Das denke ich doch auch!« »Und eben deshalb gebe ich Ihnen jede erdenkliche Gelegenheit, diese Sache zu bereinigen – in Ihrem, in unserem Sinne. Sie verstehen, was ich damit meine?« Jodler glaubte tatsächlich zu verstehen. Schließlich waren das die Methoden seiner Branche: sobald ein Schuldiger gefunden worden war, gab es keine Verdächtigen mehr. »Das mache ich!« versprach er überzeugt. »Na fein«, sagte der Kamerad von der Gestapo. Er hatte jetzt eine Menge Zeit gewonnen – und er brauchte dem Leutnant von Brackwede nicht gleich zu begegnen. Er konnte zwischendurch versuchen, sich weitmöglichst abzusichern.
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»Ich kann nur hoffen, Sie leisten ganze Arbeit. Ich werde zunächst einmal Kaffee trinken gehen.« Kurz vor 16.00 Uhr landete die Heinkel-Kuriermaschine, mit Oberst Claus Graf von Stauffenberg und seinem Adjutanten, Oberleutnant Werner von Haeften, auf dem Flugplatz Rangsdorf bei Berlin. Haeften sprang aus dem Flugzeug und eilte zum nächsten erreichbaren Telefon. Stauffenberg blickte wie suchend über das fahle ausgedörrte Grün der Wiesenstreifen zum Hauptgebäude hin. Er erkannte, daß er von niemandem erwartet wurde, auch nicht von SS-Leuten; er atmete tief ein. Dann setzte er sich, hochaufgerichtet, in Bewegung. Dem Oberleutnant war es inzwischen gelungen, eine Verbindung mit der Bendlerstraße herzustellen. Nach wenigen Sekunden vernahm er die ruhige, sonore Stimme des Generals Olbricht. Ihm meldete er: »Wir sind soeben wieder eingetroffen!« »Endlich!« rief Olbricht aus – erleichtert und angespannt zugleich. »Was ist geschehen?« »Was geschehen ist?« Der Oberleutnant von Haeften stellte diese Frage ungläubig. Er blickte zu Stauffenberg hin. Der übernahm den Hörer. »Spreche ich mit General Olbricht?« fragte er. Möglicherweise nahm er an, falsch verbunden zu sein. Doch er erkannte die Stimme seines Mitverschworenen sofort. »Wie sieht es dort aus?« »Wir warten und warten auf Ihren Anruf, Stauffenberg!« Der Oberst schien fast sicher, sich verhört zu haben. »Wie weit sind wir?« wollte er nur wissen. »Sind wir gut vorangekommen?« »Ist es denn geglückt?« fragte Olbricht. Entsetzte, betäubende Sekunden der Stille folgten nach diesen Worten. Der Oberleutnant, der dieses Gespräch mithörte, blickte seinen Oberst fassungslos an. »Ist denn ›Walküre‹ noch nicht ausgelöst worden?« fragte
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Stauffenberg tonlos. »Wie konnten wir das tun – ohne eine einwandfreie Nachricht erhalten zu haben?« »Hitler ist tot!« sagte Stauffenberg. »Sind Sie sicher?« »Ich habe die Detonation mit eigenen Augen gesehen – es war wie ein Volltreffer durch eine Fünfzehn-ZentimeterGranate. Niemand hat überlebt!« »Verdammt!« rief der Oberleutnant von Haeften. »Drei volle Stunden, in denen nichts geschehen ist. Drei Stunden! Wo es doch auf jede Minute ankommt.« »Der Plan ›Walküre‹«, forderte der Oberst Claus Graf von Stauffenberg, »muß sofort ausgelöst werden. Sofort!« Von diesem Augenblick an war der 20. Juli 1944 erst wirklich: sein Tag! Der erste, der in der Bendlerstraße entschlossen reagierte, war der Oberst Mertz von Quirnheim. Er öffnete – ohne noch ein Wort zu verlieren, ohne die geringste Regung zu zeigen – den Alarmkalender, der griffbereit vor ihm lag. Wenige Minuten später gingen die ersten Befehle heraus – 16.12 Uhr genau. Der General Olbricht erstattete dem inzwischen eingetroffenen Generaloberst Beck Bericht. Der stand in Zivil in der Nähe der Fenster. Beck hatte überlegt auf seine Uniform verzichtet – »um das zivile Element dieses Widerstandes zu betonen«. »Stauffenberg ist überzeugt davon, daß Hitler tot ist«, sagte Olbricht. »Dann wird es auch stimmen«, sagte Beck. »Stauffenberg verlangt, daß der Plan ›Walküre‹ unverzüglich ausgelöst werden soll!« »Dann muß das auch geschehen – in Gottes Namen!« Die Stimme des Generalobersten klang bewegt – er neigte sein hart zerfurchtes Gesicht ergeben. »Ich bin bereit.« Das war der Generaloberst Hoepner auch – er nickte
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wiederholt zustimmend. Worte fand er nicht. Olbricht eilte in den Nebenraum. Hier war bereits der in der Bendlerstraße anerkannte Telefonstratege – nach Stauffenberg – am Werk, der Oberst Ritter Mertz von Quirnheim: Seine Anordnungen klangen kühl und sachlich und waren von äußerster Kürze. Eine exakt funktionierende Befehlsmaschine war in Gang gesetzt worden – sie lief jetzt, fast übergangslos, auf Hochtouren. Sein bevorzugtes Wort: »Es wird befohlen, daß ...« Nur gelegentlich mußte er ausdrücklich hinzufügen: »Dies ist ein Befehl!« Die häufigste Vokabel, die ihm entgegentönte, war ein schlichtes: »Jawohl!« Der von Brackwede betrat sein Dienstzimmer mit hocherhobener Adlernase – er schritt auf seinen Schreibtisch zu, hinter dem jetzt der Gartenzwerg Lehmann saß. Hier blieb der Hauptmann stehen, beugte sich dann vor und stützte seine Hände auf die Tischplatte. Sein strengblickendes, oft so irritierend hochmütig wirkendes Gesicht verzog sich plötzlich zu einem breiten Grinsen. Lehmann wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. »Na also!« sagte der Gefreite. »Das war ja auch zu erwarten – bei der Vorarbeit!« Der von Brackwede lachte auf – das jedoch nur kurz. Dann telefonierte er mit dem Grafen Helldorf, dem Polizeipräsidenten von Berlin – er informierte ihn: Er ist tot. Helldorf versprach, alle vereinbarten Maßnahmen unverzüglich anlaufen zu lassen und kündigte sein Erscheinen in der Bendlerstraße an. Lehmann hatte inzwischen die mittlere Schublade des Schreibtisches geöffnet und ihr ein Kistchen mit Zigarren entnommen – das hielt er Brackwede hin. Es war die Spezialmarke des Grafen: erlesene Exemplare, für ganz besondere Ereignisse vorgesehen, für Fest-, Feier- und Gedenktage. Nur noch drei Stück waren vorhanden.
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»Heute«, meinte der Hauptmann zugreifend, »werden zwei davon geraucht. Eine davon steht Ihnen zu, mein Lieber. Die andere wäre von mir so oder so geraucht worden – meine Frau hat heute Geburtstag.« Der Gefreite nahm die Zigarre wie einen Orden entgegen. Als er dem Hauptmann ein Streichholz hinhielt, sagte er bedächtig: »Sonderlich zufrieden sehen Sie nicht aus.« »Und worauf führen Sie das zurück?« wollte der Graf erstaunt wissen. »Schwer zu sagen – ich fühle das. Irgend etwas scheint Ihnen zu mißfallen. Aber was?« »Nun«, meinte der von Brackwede, dennoch mit Genuß rauchend. »Sie haben doch ein helles Köpfchen, alter Freund. Und eben deshalb hätten Sie eine ganz bestimmte Frage stellen müssen, als Sie erfuhren, daß es geschehen ist.« Lehmann zog intensiv an seiner Zigarre. Dann wurden seine Augen hellwach. »Wann?« fragte er. Der von Brackwede nickte anerkennend – Menschen, die scharf und schnell denken konnten, hatten sein besonderes Wohlwollen. »Genau das ist es!« »Also wann ist die Bombe geplatzt?« »Vor etwa vier Stunden.« »Mann!« vermochte Lehmann da nur noch zu sagen. »Das darf doch wohl nicht wahr sein. Und wo ist der Oberst jetzt?« »Bereits auf dem Weg hierher. Er ist gegen 16.00 Uhr in Rangsdorf gelandet – er wird von dort bis zur Bendlerstraße etwa fünfundvierzig Minuten benötigen.« Der Hauptmann blickte auf seine Uhr. »Etwa noch zehn Minuten – und dann wird es hier rauchen.« Der General Olbricht pendelte – abwechselnd mit Oberst Mertz – von den Alarmplänen zum Telefon und von hier in das Vorzimmer. Zwei Sekretärinnen bearbeiteten pausenlos ihre Maschinen. Eine Gruppe Ordonnanzen trugen die ersten, wichtigsten, bereits vorbereiteten Befehle zu den einzelnen Sachbearbeitern und in die Nachrichtenzentrale.
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Diese Nachrichtenzentrale lag im Keller. Das dort diensttuende Personal arbeitete schnell und zuverlässig: die gewünschten Verbindungen wurden prompt hergestellt, die Fernschreiber begannen zu rattern. Innerhalb weniger Minuten schien sich der Keller in einen Bienenkorb verwandelt zu haben. »Endlich ist bei uns mal was los!« meinte der Feldwebel unternehmungslustig. Er gehörte zu jenen, denen es Freude machte, seinen Apparat in voller Funktion zu sehen – so konnte er beweisen, wie sehr seine Leute »auf Draht« waren. Der diensthabende Offizier jedoch schien zurückhaltender. Er nahm die Unterlagen in Empfang, zeichnete sie ab, reichte sie weiter. Das offenbar völlig routinegemäß. Er sagte lediglich: »Reichlich viel auf einmal.« Dieser Offizier war der Leutnant Röhrig – eingeteilt als »Diensthabender« laut Tagesplan. Rein zufällig war er es, der hierzu befohlen war – es hätten auch vier bis sechs andere Offiziere sein können. Doch er war automatisch »an der Reihe«. Das war ein ernsthafter, aufmerksamer Mensch mit jünglingshaften Gesichtszügen und ein wenig scheu wirkenden Bewegungen. Er war dem Musischen zugetan – er hatte Musik studiert. Und er gehörte zu den Mitgliedern des NS-Studentenbundes, was weiter keine Besonderheit war. Er hielt den Text für ein Fernschreiben in der Hand und betrachtete es leicht verwundert. Der Feldwebel, der neben ihm stand, streckte bereits die Hand aus, um auch diesen Befehl zu übernehmen. »Ist irgend etwas unklar?« fragte er. »Diese Unterlagen«, meinte der Leutnant Röhrig vorsichtig, »wollen mir nicht völlig korrekt erscheinen.« Der Feldwebel staunte gelinde. »Das geht doch sicherlich in Ordnung! Diese Befehle kommen direkt von General Olbricht – er hat sie abgezeichnet.« »Gewiß, gewiß«, gab der Leutnant eilig zu. »Aber sie sind auf einfachem Papier geschrieben. Sie tragen keinen
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Geheimvermerk. Ihnen fehlt die Angabe einer Dringlichkeitsstufe.« »Das kann doch vorkommen«, sagte der Feldwebel, »besonders dann, wenn Eile dringend geboten ist – und das scheint doch hier der Fall zu sein.« Und besorgt fügte er hinzu: »Wollen Sie etwa alle diese Schreiben zurückgehen lassen?« »Das natürlich nicht!« Der Leutnant Röhrig beeilte sich, die Unterlagen weiterzureichen. »Ich bin lediglich ein wenig erstaunt – schließlich ist bei uns ein absolut korrekter Dienstbetrieb selbstverständlich. Und was da nicht völlig einwandfrei ist, das macht mich stutzig. Aber natürlich ist die jeweils schnellstmögliche Nachrichtenverbindung für uns oberstes Gebot.« Der Leutnant Röhrig in der Nachrichtenzentrale der Bendlerstraße »stutzte« also. Mehr als das geschah zunächst nicht. »Ordnungsgemäß« gingen die ersten Befehle hinaus. Jedoch: ein Leutnant in einem Keller war mißtrauisch geworden. »Wir werden ein Fest feiern!« rief Elisabeth beschwingt. Sie schritt mit mädchenhaften Bewegungen durch den schmalen Raum. »Ein Fest von gewaltigen Ausmaßen – was meinst du dazu, Konstantin?« Der betrachtete sie beglückt – und kaum etwas anderes hatte er in den vergangenen Stunden getan. Er glühte vor Zärtlichkeit. Zustimmend lächelte er sie an. »Ich werde alle meine Vorräte opfern – alle!« sagte Elisabeth und blickte sich suchend um. »Es muß so sein, als wenn nichts mehr nach diesem Tag kommen kann! Es ist der eine, einzige Tag, der ein ganzes Leben enthält ... Verstehst du das?« Das verstand Konstantin nicht – doch er nickte eifrig. Was sie auch immer sagen mochte: es klang herrlich! Er eilte auf sie zu und stolperte dabei über des Bruders Aktentasche. Elisabeth lehnte sich an ihn – diesmal jedoch nur kurz, fast scheu. Sie löste sich schnell und sagte: »Ich habe noch
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Bohnenkaffee – er wird für eine ganze Kanne reichen. Außerdem besitze ich einen halben Kuchen, eine Büchse mit Kaviar, zwei Packungen Knäckebrot und ein kleines Glas mit Gänseschmalz.« »Das schaffen wir nie«, rief Konstantin fröhlich. »Wir werden Gäste einladen«, erklärte Elisabeth großzügig, »das gehört sich so, wenn man ein Fest feiern will. Ich werde Frau Wallner zu uns bitten – und auch ihren ›Besucher‹.« Konstantin war einverstanden mit allem, was Elisabeth auch immer vorschlagen mochte. Gemeinsam bauten sie alle erreichbaren Lebensmittel auf. Dann öffneten sie die Tür ihres Zimmers weit. »Frau Wallner«, rief Elisabeth, »wir lassen bitten!« Die Wallner schien im blaudunklen, von Möbeln verstellten Korridor auf das Öffnen dieser Tür gelauert zu haben. Ihr flachsweißes Haar wirkte wie von Scheinwerfern angestrahlt – das graue Gesicht darunter war wie ausgelöscht. »Wir haben zusammengetragen«, sagte Elisabeth herzlich, »was wir noch besitzen. Bitte, dürfen wir mit Ihnen teilen? Die eine Hälfte für uns – die andere Hälfte für Sie und Ihren Gast. Für Ihren Besucher – wie Sie ihn nennen.« Frau Wallner schüttelte langsam ihr schmales Greisenhaupt. »Tun Sie das nicht«, sagte sie leise. »Bleiben Sie allein für sich. Kümmern Sie sich nicht um mich – und schon gar nicht um meinen ›Besucher‹.« »Sie verstecken hier einen Juden – nicht wahr?« Elisabeth schien das als große Selbstverständlichkeit zu empfinden. »Ich weiß das schon seit längerer Zeit – es ist gut, daß es noch Menschen wie Sie gibt.« Konstantin blickte ungläubig und erstaunt. Er brauchte lange Sekunden, um diese Eröffnung zu verarbeiten. Das Furchengesicht der Wallner löste hilfsbereites Mitgefühl in ihm aus. Und was Elisabeth auch immer dachte oder tat, es mußte gut sein! »Schließen Sie sich ab«, sagte Frau Wallner, »und wenn
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Sie dadurch nur Minuten gewinnen! Denn hier im Hause ist der Teufel los! Der alte Jodler ist in der vergangenen Nacht umgebracht worden! Polizei und Gestapo sind bereits eingetroffen. Und nun wird offenbar ein Schuldiger gesucht – um jeden Preis! Sie werden das ganze Haus umkrempeln! Und was dann?« Die Wallner entfernte sich – mit kaum wahrnehmbaren Trippelschritten. Schatten fielen auf ihr weißes Haar. Sie streckte die Hand wie eine Ertrinkende aus – doch nur, um die Tür zu schließen. »Was haben wir damit zu tun?« fragte Konstantin, um Gleichmut bemüht. »Nicht das geringste!« »Du scheinst dabei etwas völlig vergessen zu haben – die Aktentasche deines Bruders.« »Das verstehe ich nicht. Diese Aktentasche ist eine Sache für sich, und wir sind eine Welt für uns.« Elisabeth aber senkte den Kopf und sagte kaum vernehmbar: »Wie ahnungslos du doch bist.« Um 16.10 Uhr begab sich der General Olbricht zu Generaloberst Fromm. Der Befehlshaber des Ersatzheeres saß wie üblich hinter seinem stattlichen Schreibtisch, als habe er einen breitflächigen Betonwall vor sich. Er legte Wert auf Distanz. Olbricht begann dieses Gespräch entschlossen, ohne jede Einleitung. Er erklärte: »Hitler ist einem Attentat zum Opfer gefallen.« Der Generaloberst Fromm blieb sekundenlang stumm. Sein fleischiges Feldherrngesicht verriet intensives Nachdenken. Er blickte auf den gepflegten Parkettboden seines Dienstzimmers – nicht auf Olbricht. Und gedehnt fragte er dann: »Woher wissen Sie das?« Der General wußte das von Oberst Stauffenberg. Das jedoch gedachte er Fromm nicht zu sagen – dem mußte die letzte Wahrheit möglichst behutsam beigebracht werden. »Die Nachricht, daß Hitler tot ist, kam direkt aus dem
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Führerhauptquartier. Dort hat ein Attentat stattgefunden.« »Wer verbürgt das?« »General Fellgiebel.« »Wer sonst noch? Liegt eine offizielle Bestätigung vor?« »Die kann gar nicht vorliegen, da Hitler ja nicht mehr existiert.« Der General Olbricht bemühte sich, unerschütterliche Überzeugung zu verbreiten. »Aber bei uns und beim Generalquartiermeister in Zossen sind gleichlautende Meldungen eingetroffen. Die nunmehr notwendig erscheinenden Maßnahmen sind unvermeidlich – der Plan ›Walküre‹ muß ausgelöst werden. Ich bitte um Ihre Zustimmung.« Der Generaloberst Fromm schnaufte auf – unwillig und erregt zugleich; wie ein Pferd vor einer Feuerwand. Sein Gesicht schien sich zu röten; sein Blutdruck war in letzter Zeit unnormal hoch gewesen. Doch er erklärte mit beherrschter Haltung: »Sie sehen mich verblüfft! Ich stelle fest: Sie reagieren auf eine nicht einwandfrei bestätigte Nachricht von dritter Seite. Überdies unterbreiten Sie mir daraufhin einen Vorschlag von höchster Tragweite. Ist das nicht ein wenig überstürzt? Haben eingehende Nachprüfungen stattgefunden? Nein? – Nun – ich jedenfalls gedenke mich nicht voreilig in irgendwelche Abenteuer einzulassen.« »Mit einem Abenteuer, Herr Generaloberst, hat das nichts zu tun – hier handelt es sich vielmehr um eine historische Entscheidung!« Fromms Augen waren halb geschlossen. Er hatte eine Hand unter sein energievolles Kinn gelegt. »Sind Sie sicher?« fragte er dann. »Absolut sicher!« »Sie wissen, mein lieber Olbricht«, meinte der Generaloberst hierauf langsam, »daß mir Ihre und Ihrer Kameraden ganz spezielle Ansichten und Absichten nicht verborgen geblieben sind. Ich verstehe Sie – durchaus. Doch Sie werden mir zugestehen, daß mir jede spontane,
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möglicherweise sogar als leichtfertig zu bezeichnende Handlung fremd sein muß. Ich trage eine große Verantwortung – und die kann mir keiner abnehmen.« Olbricht erkannte sofort, daß sich Fromm – wie üblich – abzusichern gedachte. Und dafür hatte Olbricht sogar Verständnis – er war seiner Sache absolut sicher. Er selbst nahm den Hörer des Telefons ab und verlangte eine Verbindung mit dem Führerhauptquartier – völlig überzeugt davon, daß sie nicht zustande kommen würde. Doch mit verblüffender Schnelligkeit meldete sich »Wolfsschanze«. Fromm war selbst davon überrascht. Er verlangte Keitel zu sprechen. Der Generalfeldmarschall antwortete prompt. Der Generaloberst Fromm strömte sogleich generalskollegiale Herzlichkeit aus. Fast beiläufig fragte er: »Was ist denn eigentlich bei euch im Führerhauptquartier los? Hier in Berlin gehen die wildesten Gerüchte um.« »Kein Grund zu ernsthafter Besorgnis«, erklärte Keitel. Hierauf Fromm: »Auf Hitler soll ein Attentat verübt worden sein. – Stimmt das?« Daß Keitel und Fromm alles andere als Freunde waren – Fromm gehörte zu denen, die Keitel einen »Lakaien« nannten, und Keitel bezeichnete Fromm als »Querulanten« – und daß sie sich gern gegenseitig aus dem Weg geräumt hätten, davon war in diesen Augenblicken nichts spürbar. Keitel erklärte vertraulich und fordernd zugleich: »Allerdings – ein Attentat auf den Führer ist versucht worden, doch es ist zum Glück fehlgeschlagen. Der Führer lebt und ist nur unwesentlich verletzt.« Und dann fragte er, fast im gleichen Atemzug: »Wo ist übrigens Ihr Chef des Stabes, der Oberst Graf Stauffenberg?« »Der ist noch nicht bei mir eingetroffen«, sagte Fromm. Und das war alles. Keine weitere Bemerkung über Stauffenberg. Nicht der geringste Hinweis darauf, daß möglicherweise eine gefährliche
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Situation entstanden sein könnte. Vielmehr schien das Gefühl beherrschend zu sein: Es ist noch einmal alles gut gegangen! »Also – halb so wild, das Ganze«, erklärte Fromm dem General Olbricht. »Völlig überflüssig mithin, das Stichwort ›Walküre‹ für innere Unruhen auszugeben. Sie sehen: der Führer ist nicht so leicht umzubringen! Somit also: immer ruhig Blut!« Im Hause Schifferdamm 13 hatte inzwischen der SSScharführer Jodler – nunmehr in voller Uniform – die angedrohte Initiative ergriffen. Niemand störte ihn dabei. Voglbronner war, wie angekündigt Kaffee trinken gegangen. Der Treppenflur lag wie in dumpfem Halbschlaf da. Gleich unsichtbaren Gasschwaden krochen die Hitzewellen über die Treppenstufen. Der Hilfspolizist blockierte pfahlartig den Eingang. Meister Kopisch leistete sich einen verspäteten Nachmittagsschlaf, versunken in einem mächtigen Ledersessel. Josef Jodler aber war entschlossen, aufs Ganze zu gehen! Das mit zwei zusammengehörenden Zielen: Er mußte jeden Verdacht überzeugend von sich wälzen – und zugleich irgend jemanden finden, dem er ihn aufhalsen konnte. Durchaus systematisch bearbeitete er zunächst im zweiten Stock die Breitstraßer. Er glaubte genau zu wissen, wie derartige Typen am wirkungsvollsten zu behandeln waren – er schlug ihr zunächst einmal ins Gesicht, links und rechts. Das als Einleitung. Dann versprach er ihr Mietnachlaß, einen größeren Kellerraum, eine Sonderzuteilung und Aussicht auf eine Wohnung im ersten Stock. Daraufhin erklärte die Breitstraßer sich bereit, ihre Aussagen zu korrigieren – für entsprechende Hinweise wäre sie dankbar. Und die wurden ihr dann auch reichlich zuteil. Sie war fortan gewillt, zu beschwören, was Jodler junior für richtig hielt. Die nächste Station war Studienrat Johann Wolfgang Scheumer. Bei ihm beschloß Jodler, zunächst mal kurz und kräftig auf die patriotische Tube zu drücken. Jodler appellierte
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an Scheumers staatserhaltende Gesinnung und Endsiegbereitschaft. Dieses geschah jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Hierauf wurde Jodler deutlicher – er riß den Studienrat hoch und knallte ihn gegen die Wand. Der schnappte entsetzt nach Luft und starrte seinen Gesprächspartner mit schreckensbleichem Gesicht an. Mühsam fragte er dann: »Bitte – was verlangen Sie?« »Ich wollte Ihnen helfen – denn ich dachte immer, Sie wären ein nationalsozialistischer Mensch! Ihr Verhalten aber gibt mir zu denken – mein Vater hat mich schon mehrmals vor Ihnen gewarnt. Sollten Sie etwa ein Volksfeind sein? Womöglich haben Sie als solcher meinen Alten umgelegt!« Scheumer hob beschwörend die Hände – er bat darum, derartige Mißverständnisse überzeugend aus der Welt schaffen zu dürfen. Diese Bitte wurde ihm gewährt; und da er ein Mann des Geistes war, erhielt er den Auftrag, einen ausführlichen Bericht zu verfassen – mit unmißverständlichen Ehrenerklärungen für Jodler junior und dem Bemühen um Hinweise auf einen möglichen Täter. Danach begab sich Jodler in die Nebenwohnung – zu Erika Elster. Und hier prallte er auf volle Sympathie. Diese jedoch vermochte er im Augenblick nicht voll zu genießen; er hatte es eilig. »Kann ich mich auf Sie verlassen? Ich meine im Hinblick auf eine positive Aussage.« »Na klar – ich lege doch Wert darauf, daß Sie uns erhalten bleiben. Das aus mancherlei Gründen.« »Gnädigste – wenn ich das alles hier im Eimer habe«, versicherte er herzlich, »dann müssen wir uns unbedingt mal ganz privat miteinander unterhalten. Daß es nur so kracht!« Dann jedoch stieß er auf ein unerwartetes Hindernis; denn die nächste Tür blieb ihm – vorerst – verschlossen. Er trommelte mit den Fäusten und stieß einen Fuß gegen die Türfüllung. Frau Wallner aber öffnete ihm nicht.
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»Ich zähle bis drei!« kündigte Jodler keuchend an. »Wenn bis dahin die Tür nicht auf ist, dann können Sie was erleben!« Der Hauptmann von Brackwede stand an einem der Vorderfenster – er hatte sich ein Monokel über das linke Auge geklemmt, um besser sehen zu können. Die Nachmittagssonne beleuchtete seinen kahl werdenden Schädel. Kein Tropfen Schweiß war auf seinem jetzt unruhigverwegen wirkenden Gesicht zu bemerken – die brütende Hitze des Tages schien ihn nicht berührt zu haben. »Endlich!« rief er dann aus. Er hatte den Wagen des Obersts Stauffenberg erblickt. Er stieß sich von der Fensterbank ab, durchquerte mit drei Schritten den Raum, riß die Tür auf, ließ sie offen und eilte – durch den Korridor zum Treppenhaus hin – Claus entgegen. Der Oberst eilte die dumpf aufpolternden Marmorstufen hinauf – er schien einen Berg erstürmen zu wollen. Es war 16.40 Uhr. »Ist die Aktion angelaufen?« rief er dem Freund entgegen. »Höchste Zeit, daß du kommst«, sagte Brackwede. Er stieß die nächste Tür auf, die zu den Räumen des General Olbricht führte. »Du wirst vorfinden, was du erwartest.« »Danke«, sagte Stauffenberg hastig. »Gut, daß du da bist.« Den Bruchteil einer Sekunde lang sahen sie sich in die Augen. Ihre Hände berührten sich nur flüchtig. Dann eilten sie weiter. Im Zimmer des Generals Olbricht stand der Generaloberst Beck – ruhig wie ein Gedenkstein. Um diesen schwergewichtigen Mittelpunkt gruppierten sich die anderen: Sie blickten erwartungsvoll schweigend dem Oberst entgegen. Allein Mertz von Quirnheim unterbrach seine Tätigkeit nicht – er hob lediglich grüßend eine Hand, telefonierte jedoch mit maschinenhafter Exaktheit seine Befehle weiter. »Hitler ist tot«, verkündete der Oberst Stauffenberg. »Das Führerhauptquartier«, sagte Beck gemessen, »behauptet das Gegenteil.« »Nach menschlichem Ermessen muß Hitler tot sein«,
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erklärte Stauffenberg unbeirrt. »Ich selbst habe die Explosion gesehen.« Beck hob mit knapper Geste die Hand. Doch ehe er noch das Wort ergreifen konnte, rief der Graf von Brackwede: »Ob nun Hitler tot ist oder nicht – wir müssen jetzt handeln, wie wenn er tot wäre! Betrachten wir Keitels Behauptung als Täuschungsmanöver.« »Gut«, sagte Beck entschlossen. »Gut so! Für mich ist dieser Mann tot! Davon lasse ich mein weiteres Handeln bestimmen. Von dieser Linie dürfen wir jetzt nicht mehr abweichen.« Ab sofort gab es in der Bendlerstraße keine Unklarheit mehr – nicht in diesem Punkt. Olbricht neigte zustimmend seinen Rennreiterschädel. Hoepner blickte feldherrnhaft. Brackwede nickte Stauffenberg zu. Die jüngeren Offiziere im Raum standen sekundenlang da, als befänden sie sich in der Garnisonskirche zu Potsdam. »Die Truppenteile in Krampnitz, Groß-Glienicke, Döberitz und Potsdam sind inzwischen, wie vorgesehen, alarmiert worden«, teilte Mertz dem Oberst Stauffenberg mit. »Sämtliche Alarmbefehle werden bestätigt.« »Gut«, sagte der Oberst und schritt zum nächsten Telefon. »Besteht Verbindung mit dem Kommandanten von Berlin?« »Bei General von Hase versammeln sich zur Zeit die ihm unterstellten Kommandeure zum Befehlsempfang.« »Existieren Nachrichten aus anderen Städten?« »Wien meldet Bereitschaft. Prag hat bisher lediglich unsere Befehle als empfangen bestätigt. Aber in Paris sind bereits die ersten Aktionen ausgelöst worden.« Stauffenberg blickte zu Brackwede hinüber – nichts anderes war in Paris, wo der Oberstleutnant Cäsar von Hofacker tätig war, zu erwarten gewesen. »Und wo ist Witzleben?« Dieser Generalfeldmarschall – Erwin mit Vornamen – war als neuer Oberbefehlshaber der Wehrmacht vorgesehen. Auch er gehörte zu den erklärten Gegnern Hitlers – und das nicht nur, weil ihn der Führer, 1942, »seines Amtes enthoben«
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hatte. Er achtete Beck ungemein und gehörte zu den Freunden des Generals von Brackwede; für ihn war dieser Hitler »ein Brechmittel«. Ganz selbstverständlich daher, daß der Generalfeldmarschall von Witzleben an diesem Tag bereitwillig in Aktion trat. Jedoch: nicht in der Bendlerstraße! Vielmehr tauchte er etwa dreißig Kilometer davon entfernt auf: in Zossen – beim Generalquartiermeister. Aber dort gab es nichts Entscheidendes für ihn zu tun. »Hier wird er gebraucht!« rief Stauffenberg. »Er wird schon noch kommen«, meinte der von Brackwede mit sanfter Ironie. »Und ich denke, er kann getrost so spät eintreffen, wie immer er will – die Hauptsache: es ist dann nicht etwa zu spät.« Die beiden Obersten begannen, heftige Telefonschlachten zu entfesseln. Ihre Arbeitsteilung war genau vorgeplant worden: Jeder von ihnen hatte seine Spezialliste vor sich liegen. Beck und Hoepner wußten, was sie in den nächsten Minuten und vielleicht sogar Stunden erwartete: So gut wie nichts, das ihr persönliches Eingreifen erfordern würde. Sie mußten warten. Indessen hatte sich eine erste, kleinere Offiziersgruppe gebildet, die im Korridor des zweiten Stockwerkes herumstand. Die Herren sprachen gedämpft miteinander. Einige sahen »starr, verkniffen und bleich wie der leibhaftige Tod« aus; andere wirkten lediglich ratlos. »Nur munter, Freunde!« rief ihnen der Graf von Brackwede vorübereilend zu. »Das muß ein fröhliches Begräbnis allererster Klasse werden.« »So was kommt gar nicht in Frage!« Das erklärte der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede empört. Er stellte sich demonstrativ neben Frau Wallner, die erregt mit den Händen flatterte. »Hier eindringen zu wollen – das ist glatter Hausfriedensbruch.« Jodler bearbeitete die Tür wie eine Trommel. Sein nächster Fußtritt ließ das Holz aufdröhnen.
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»Aufmachen – verdammt noch mal! Hier steht SS!« Elisabeth war äußerst besorgt. »Wir sollten mit ihm reden, Konstantin«, empfahl sie dringend. »Bitte – nur keine Gewalt! Es muß auch anders gehen!« »So jedenfalls geht es nicht«, sagte der Leutnant kampfbereit. Er war zu brutal aus seinem Traumidyll gerissen worden. »Dem werde ich mal beibringen, was Manieren sind!« »Den lasse ich nicht in meine Wohnung – den nicht!« rief Frau Wallner mit bebender Empörung. »Nur über meine Leiche!« Und das wirkte durchaus nicht übertrieben. »Bitte beruhigen Sie sich«, sagte der Leutnant ritterlich. »Schließlich existieren in diesem Land immer noch Ordnung und Gerechtigkeit!« und reichlich überflüssig fügte er hinzu: »Nicht zuletzt dafür kämpfen wir.« Frau Wallner blickte Konstantin betroffen an. Elisabeth versuchte zu lächeln – es gelang ihr nicht. Und sogar Jodler schien vor Staunen seine Trommelei unterbrochen zu haben. »Na – wird’s bald!« rief er dann jedoch wieder. »Meine Geduld ist jetzt zu Ende!« »Meine auch!« sagte der Leutnant und schritt entschlossen vorwärts. Dabei zog er seinen Waffenrock an, den ihm Elisabeth reichte. »Bitte, sei vernünftig!« »Das bin ich«, versicherte der Leutnant. »Versuche, mit diesem Menschen im guten auszukommen. Reize ihn nicht unnötig noch mehr. Du bringst uns sonst in Gefahr. Mein Gott – du scheinst wirklich nicht zu wissen, was alles in diesem Land möglich geworden ist.« Diese Warnung überhörte Konstantin. Er schritt zur Tür und öffnete sie weit. Jodler versuchte, rammbockartig hereinzustürzen, doch er prallte dabei auf den Leutnant. »Hoppla«, sagte der kraftvoll bremsend, »nicht gleich so stürmisch! Oder sollten Sie etwa lebensmüde sein?« Die Offiziere des Wachbataillons von Groß-Berlin umstanden ihren Kommandeur, den Major Otto Ernst Remer.
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Der plauderte mit seinem Gast, dem Leutnant Dr. Hans Hagen. »Sie haben uns da einen ganz ausgezeichneten Vortrag gehalten. Aufbauend, zeitnah.« Hagen verneigte sich dankend und blickte in die Runde. Die Offiziere schienen wie ihr Kommandeur zu empfinden. Auch sie sahen so aus, als hätten sie eine erlebnisreiche Stunde hinter sich gebracht. Und während sie weiter freundliche Worte wechselten, wurde der Major Remer von seinem Adjutanten hinausgebeten. »Ein dringendes Telefongespräch, Herr Major persönlich werden verlangt.« Es war 16.15 Uhr. Der Kommandeur meldete sich, sagte »Jawohl!« und hörte zu. Der Adjutant, der neben ihm stand, sah Remer »kreidebleich« werden. Und abermals rief der »Jawohl!« Seine Augen blickten trüb. Dann jedoch straffte sich der Major, begab sich wieder zu seinen Offizieren, bemühte sich, seine rauhe Stimme kraftvoll klingen zu lassen und rief: »Meine Herren! Auf den Führer ist ein Attentat verübt worden. Die Wehrmacht hat die Regierungsgewalt übernommen.« Die Offiziere schwiegen – verwundert, ratlos, um Haltung bemüht. Der eine oder andere schien bestürzt zu sein. Die meisten jedoch warteten auf das, was nun unweigerlich kommen mußte – auf den nächsten Befehl. Der würde die Situation klären bis weitere Befehle eintrafen. »Der Plan ›Walküre‹«, verkündete Major Remer, »tritt jetzt in Tätigkeit. Unsere Aufgabe wird es sein, vorsorglich das Regierungsviertel zu besetzen und abzusperren. Das ist die erste Phase unseres Vorgehens. Wir wollen sofort die notwendigen Einzelheiten besprechen, sofern sie nicht durch die letzte Übung bereits bekannt sind.« Bei der nun stattfindenden ersten Befehlsausgabe, die ohne jede Gegenfrage dienstbereit hingenommen wurde, stand der Leutnant Hagen, leicht abgedrängt, im Hintergrund. Während Remer sprach, begann er zu denken. Und fast schlagartig
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erinnerte er sich nun an das, was er vor wenigen Stunden gesehen zu haben glaubte: den Generalfeldmarschall a. D. von Brauchitsch – in voller Uniform, fahrend durch die Friedrichstraße. Und Hagen flüsterte den Offizieren, die in seiner Nähe standen, zu: »Kinder – hier stinkt es!« Der Herr, der dem Hauptmann von Brackwede zugeführt wurde, bewegte sich elegant und schien vollendete Umgangsformen zu besitzen. Er verbeugte sich nicht nur vor dem Hauptmann, sondern auch leicht vor dem Gefreiten Lehmann, was diesen sichtlich entzückte. »Die Herren kennen einander nicht?« fragte der von Brackwede. Er wies mit großer Theatergeste auf den Gefreiten: »Einer meiner verläßlichsten Mitarbeiter.« Der Besucher stellte sich vor: »Sie erlauben – Polizeipräsident Graf Helldorf.« »Gefreiter Gartenzwerg Lehmann«, sagte der blinzelnd. »Sehr angenehm.« Helldorf war verblüfft – das jedoch nur wenige Sekunden. Er hörte den Hauptmann schallend auflachen – der kannte diesen Graf-gleich-Gartenzwerg-Witz seines Lehmann, fühlte sich aber in dieser Situation aufs neue durch ihn erheitert. Nun lachte auch der Polizeipräsident. »Auf derartige Scherze hätte ich natürlich in Ihrem Bereich gefaßt sein müssen, Herr von Brackwede.« Helldorf schüttelte dem Gefreiten die Hand. »Doch natürlich konnte ich kaum annehmen, daß Sie selbst heute ...« »Heute erst recht«, sagte der Hauptmann, um dann sogleich wissen zu wollen: »Laufen bei Ihnen alle vereinbarten Unternehmungen an?« »Alles ist startbereit – ich wollte mich jedoch erst noch persönlich vergewissern ...« »Was – noch läuft nichts!« Der von Brackwede sagte das leise, durchaus noch höflich, aber mit scharfem Unterton. »Kommen Sie mit«, sagte er drängend, »Sie sollen
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Stauffenberg an der Arbeit sehen und mit Beck sprechen.« »Hitler ist tot!« rief der Oberst dem Grafen Helldorf entgegen – mitten in einem Telefongespräch, das er sofort wieder aufnahm. »Also doch!« sagte der Polizeipräsident. Er wirkte sichtlich erleichtert. Er begrüßte die Anwesenden höflich, obgleich er von dem Hauptmann bedrängt wurde. »Worauf warten Sie denn noch – die vorgesehenen Aktionen müssen auf der Stelle anrollen.« »Ein Stichwort von mir genügt.« »Dann geben Sie es durch, bitte!« Brackwede machte Anstalten, Helldorf in den nächsten Raum zu schieben – und der schien auch bereit, das mit sich geschehen zu lassen. Doch nun ertönte die Stimme des Generalobersten Beck – ruhig, bestimmt, gewichtig. Und dieser aufrichtige Mann sagte: »Wir müssen loyalerweise den Polizeipräsidenten davon unterrichten, daß gewisse Nachrichten aus dem Führerhauptquartier vorliegen, denen zufolge Hitler nicht tot sein soll.« Stauffenberg verstummte sekundenlang. Hoepner wendete sich ab. Mertz von Quirnheim blickte ungläubig von seinen Akten auf. Doch Olbricht rief hektisch, sich mehrfach wiederholend: »Keitel lügt, Keitel lügt!« »Ich vermochte nur noch von der Vorsehung zu sprechen«, erklärte der Generalfeldmarschall Keitel wieder einmal »Es gibt keine andere Erklärung für das, was geschehen ist.« Keitel geleitete seinen Führer und dessen Besucher, Benito Mussolini, an den Ort der Tat. Hitlers Schäferhündin jaulte auf – sie befand sich im Zwinger, damit sie den Staatsbesuch nicht störte. »Es war wie vierzehn-achtzehn an der Front«, erzählte Hitler – und davon erzählte er besonders gern. »Ich erinnere mich da zum Beispiel an die Detonation einer Mine, die zahlreiche Kameraden und mich verschüttete. Heute war es so ähnlich.«
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Mussolini, der Duce, hob ruckartig seinen Quadratschädel und starrte auf den Trümmerhaufen der Lagebaracke. Sein einst so straff wirkendes Gesicht glich einer ausgebleichten Gummimasse, die ihre Konturen verlor. Langsam schritt er über zerfetzte Balken hinweg auf jenen Punkt zu, an dem, wie ihm versichert wurde, Hitlers Stuhl gestanden hatte. Der Führer gönnte seinem Gast diese Beschäftigung – denn: intensive Besichtigung befreite von anstrengenden Gesprächen. Doch Mussolinis entspannende Pause konnte er nicht teilen. Keitel flüsterte ihm, von hinten her, zu: »Ich habe mit Fromm telefoniert. Der war reichlich unruhig, doch es gelang mir, ihn zu besänftigen.« Von rechts her flüsterte nun Himmler auf den Führer ein: »Nach den bisher durchgeführten Untersuchungen scheint der Oberst Stauffenberg als Täter in Frage zu kommen.« Und fast triumphierend, wenn auch mit der gebotenen Vorsicht, rief er Keitel zu: »Ihr Stauffenberg, Herr Generalfeldmarschall!« »Es ist nicht mein Stauffenberg!« wehrte Keitel eilig ab. »Ich kenne ihn kaum. Und wenn Sie tatsächlich einwandfreie Beweise haben sollten ...« »Noch nicht – aber bald.« Hitler wurde unwillig. Er, besaß sonst einen wachen Sinn für die Gegenspiele in seiner nächsten Umgebung – er duldete sie nicht nur, er förderte sie sogar. An diesem Tag jedoch waren ihm Intrigen zuwider – er wollte Resultate sehen, von seiner vereinten Mannschaft erbracht. »Wer mir die Schuldigen anschleppt«, sagte er rauh, »der kann mit meiner Dankbarkeit und Anerkennung rechnen. Und wer auch immer schuldig sein mag – ich will ihn haben.« Benito Mussolini kletterte über die Trümmer hinweg wieder auf seinen Kampfgefährten Adolf Hitler zu. Zwei auserwählte Kriegsberichterstatter belichteten hingebungsvoll ihre Filme – sie waren sicher: sie fingen Weltgeschichte ein. Die denkbar besten Objekte standen ihnen zur Verfügung. Der Duce, dem Trümmerberg entstiegen, straffte sich – Foto. Er schritt Hitler mit ausgestreckten Armen entgegen –
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Foto. Ihre Hände griffen kraftvoll ineinander – Foto. Sie blickten sich, endsiegbewußt, in die Augen – Foto. Und Mussolini sagte, laut Stenogramm, ersichtlich für die noch zugängliche Weltöffentlichkeit bestimmt: »Nachdem ich das gesehen habe, bin ich der Meinung: das war ein Zeichen des Himmels!« »Sie kennen mich nicht – oder vielleicht nur dem Namen nach: ich heiße Maier. Ich bin mit dem Grafen von Brackwede befreundet. Mehr noch als das: Wir verfolgen gemeinsame Interessen. Ist Ihnen das bekannt?« »Nein«, sagte der Mann, der vor dem Sturmbannführer stand. Es war Julius Leber – Maier hatte ihn sich vorführen lassen. Damit das geschehen konnte, war lediglich ein Korridor zu durchschreiten gewesen; von Leber mit kraftlosen, wie gelähmten Beinen. Nun standen sie sich zum erstenmal gegenüber. »Ich weiß alles von Ihnen«, behauptete Maier und lud Leber ein, auf einem bereitstehenden Stuhl Platz zu nehmen. Das geschah. »Und ich kann nur hoffen, Sie wissen auch einiges von mir.« »Nichts«, sagte Julius Leber. Damit vermochte er den Sturmbannführer weder zu enttäuschen noch gar zu kränken. Der wußte genau, daß er hier den »dicksten Felsbrocken der Widerstandsbewegung« vor sich hatte – er gab dennoch die Hoffnung nicht auf, ihn bewegen zu können. »Ich weiß, Herr Leber – man kann Ihnen nichts vormachen. Noch vermochte offenbar niemand, Ihren Willen zu brechen. Selbst ich gerate nicht in Versuchung, das ausprobieren zu wollen. Im Gegenteil – ich würde gern mit Ihnen zusammenarbeiten. Ähnlich wie mit dem Grafen von Brackwede.« Dieser Leber erschien sogar jetzt noch von imponierender Mächtigkeit. Mochte auch sein Körper gekrümmt sein, wie von
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heftigen inneren Schmerzen – sein kantiges Gesicht blieb erhoben. Und in seinen Augen schien sogar ein fernes Lächeln aufzuschimmern. »Was ist geschehen?« fragte er. »Genau das, was Sie möglicherweise vermuten, Herr Leber.« Maiers Stimme klang werbend. Julius Leber schloß seine Augen – keine andere Reaktion sonst war an ihm wahrzunehmen. Der Sturmbannführer sah das nicht ganz ohne Bewunderung – ein Gefühl, das bei ihm Seltenheitswert besaß. »Wären Sie bereit, sich mir anzuvertrauen – mir bestimmte Hinweise zu geben.« »Nein«, sagte der zerschlagene Mann einfach. »Warum sollte ich das?« Maier atmete gepreßt, wie unter einer schweren Last. Doch er sah im Augenblick keine andere Möglichkeit, als sie zu ertragen. Leber hatte alle erdenklichen Folterungen überstanden. Selbst Kommissar Habecker, dem anerkanntesten und erfolgreichsten Gestapospezialisten, war es nicht gelungen, diesen Menschen zum Sprechen zu bringen. Lebers unzerstörbare Härte war schon zu einer Sage geworden. Bereits vor 1933 hatten ihn seine Gegner gefürchtet: Mehrmals hatte er sich bei Saalschlachten mit einem Stuhlbein durch eine messerschwingende Meute geprügelt. Als ihn in der Nacht der Machtübernahme ein Rudel SA-Leute überfiel, schlug er sie zusammen – ein Angreifer überlebte nicht, zwei Schwerverwundete blieben liegen, der Rest flüchtete. »Ich kann in diesen Augenblicken nicht abseits stehen«, versicherte Maier nahezu herzlich. »Ich will nicht tatenlos bleiben ... Verstehen Sie das?« »Durchaus! Sie wollen sich absichern.« »Nennen Sie das, wie immer Sie wollen!« Der Sturmbannführer griff nach seinem Hals – sein Kragen schien ihm zu eng geworden zu sein. »Ich biete Ihnen jede
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erdenkliche Vergünstigung – für eine Anregung, mit der ich einiges anfangen kann.« »Wenden Sie sich an den Grafen von Brackwede.« Erst in diesem Augenblick erkannte Maier ganz, wie gefährlich das Spiel war, in das er sich eingelassen hatte. Leber wußte: Ging alles gut, war er frei – sonst war er endgültig verloren. Völlig überflüssig daher, auch nur eine winzige Andeutung preiszugeben. Des Sturmbannführers Gesicht war von Schweiß bedeckt. Um 16.40 Uhr bat der Leutnant Dr. Hans Hagen den Kommandeur des Wachbataillons um eine Unterredung. »Unter vier Augen, bitte.« Sie wurde ihm bereitwillig gewährt. Die Befehlsausgabe war beendet – die Offiziere eilten bereits zu ihren Soldaten. Die ersten alarmierenden Trillerpfeifen ertönten. Major Remer stand einsatzbereit da. »Sie tragen eine große Verantwortung«, begann Leutnant Hagen tastend. »Das weiß ich«, entgegnete der Kommandeur schlicht. »Ich empfinde bei diesen Vorgängen«, gestand nunmehr der Leutnant, »ein gewisses Unbehagen.« »Das empfinde ich auch.« Soweit waren sie sich einig. »Herr Major«, sagte Dr. Hans Hagen nunmehr, »was dann, wenn wir etwa einem Irrtum zum Opfer zu fallen drohen?« »Das wäre schlimm. Aber ein Befehl ist schließlich ein Befehl – und ich bin Soldat.« »Nicht auch Nationalsozialist?« »Ein nationalsozialistischer Soldat, ein Offizier des Führers ...« Hier jedoch stutzte der Major; und darüber schien er selbst verwundert zu sein. »Aber wenn der Führer nicht mehr ...« Er wußte offensichtlich nicht weiter. Über sein braves Fähnrichsgesicht gingen Wellen der Ratlosigkeit. Er wollte tapfer sein; befehlstreu und dennoch mutig. Wie das zu erreichen war, wußte er nicht.
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»Herr Major«, schlug Hagen vor, »lassen Sie mich zu meinem Minister fahren.« Sein Minister war Goebbels. »Er weiß sicherlich mehr, als wir wissen können.« »Ich habe, laut Plan ›Walküre‹ den Befehl, den Minister für Volksaufklärung und Propaganda sicherzustellen – was praktisch bedeutet: ich soll ihn verhaften lassen.« »Läßt sich das mit Ihrem Gewissen, mit Ihrer Überzeugung vereinbaren?« fragte der Leutnant Hagen beschwörend. Er sah einen Mann vor sich, der da schwankte wie ein Rohr im Winde. »Stellen Sie mir ein Solo-Krad zur Verfügung! Lassen Sie mich, für Sie, die Situation klären. In spätestens einer Stunde wissen Sie mehr, Herr Major.« »Schaden«, meinte Remer schließlich, »kann das ja nichts. Fahren Sie also los!« »Erlauben Sie mal!« rief Josef Jodler und betrachtete den Leutnant, gegen den er geprallt war, verblüfft. »Sie wollen mich doch nicht etwa daran hindern, diese Wohnung zu betreten?« »Doch – das will ich«, erklärte Konstantin entschlossen. Jodler fühlte sich leicht geblendet – und zwar durch das Ritterkreuz dieses Offiziers. Das war nicht zu übersehen – Vorsicht schien somit geboten. Doch allein deshalb wurde ein Josef Jodler nicht gleich weich. Außerdem fühlte er sich im Recht; zusätzlich lag noch eine Art Notstand vor. Immerhin gehörte er zu jenen, die bestimmten, welche Methoden in Deutschland zu herrschen hatten. »Also, Herr Leutnant«, sagte er bemüht kriegskameradschaftlich, »ich frage ja nicht danach, warum Sie hier sind – Sie werden schon Ihre schönen Gründe haben, und deshalb kein Neid! Aber in diese Wohnung muß ich hinein – das sozusagen als neuer Hausverwalter anstelle meines nun leider verblichenen Vaters.« »Dazu«, erklärte der Leutnant, »kann ich nur soviel sagen: Wohnungsinhaberin ist Frau Wallner – und die hat mich gebeten, niemanden hereinzulassen.«
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»Ich will mich nur mal kurz umsehen und dann mit der Wallner ein paar Worte flüstern.« »Nein!« rief die zitternde Frau aus dem Hintergrund. »Der darf nicht über meine Schwelle!« Elisabeth aber meinte vermittelnd: »Warum sollten wir Herrn Jodler nicht entgegenkommen? Er kann sich doch hier ruhig umsehen, wenn er will – und unterhalten kann er sich auch mit uns.« »Nein!« schrie die Wallner schrill. »Sie wollen nicht?« fragte Jodler. »Nein!« Die Frau im Rabenkleid und mit der leuchtendweißen Mähne schlurfte davon und schlug die Küchentür hinter sich zu. »Sie will nicht – tut mir leid«, sagte der Leutnant höflich und abweisend zugleich. »Sie haben es gehört, und es bleibt Ihnen wohl nun auch nichts anderes übrig, als sich danach zu richten.« Sie standen sich jetzt allein gegenüber – auch die Gräfin hatte sich entfernt. Konstantin, erhobenen Hauptes blickte gelassen; und in diesem Augenblick glich er seinem Bruder in frappanter Weise – er ahnte nichts davon. Jodler legte, notgedrungen, eine mehr sentimentale Walze auf, von der er sich einige Wirkung versprach. »Ich handele hier im Interesse der Bewegung – der Partei, des Staates. Sollten Sie irgend etwas dagegen haben?« »Nicht das geringste«, sagte der Leutnant. »Aber eben gerade deshalb möchte ich jeden Übergriff vermieden sehen. Schließlich leben wir in Deutschland.« »Aber das ist es doch gerade, was ich Ihnen klarzumachen versuche, Herr Leutnant. – Verstehen Sie das nicht?« Elisabeth war in ihr Zimmer geeilt. Hier blickte sie suchend um sich. Dann warf sie mit schnellen Griffen die Decke über das offene, zerwühlte Bett. Hierauf ergriff sie die Aktentasche, die in der Fensterecke stand. Sie verbarg sie hastig in der untersten Schublade ihrer Kommode.
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»Mein Gott«, sagte sie dabei kaum vernehmbar, erregt, atemlos, »diese Welt ist völlig aus den Fugen geraten. Wie soll man nur damit fertigwerden!« »Ich fürchte«, sagte der General Olbricht drängend, »es wird langsam allerhöchste Zeit, dem Generaloberst Fromm endgültig reinen Wein einzuschenken.« »Solange der nicht merkt, was hier vorgeht«, meinte Hoepner, »sollten wir ihn auch nicht unnötig belasten.« »Wir sollten Fromm nicht unterschätzen, denk ich. Der weiß ziemlich genau, was hier geschieht – er will es jedoch nicht wissen.« »Das kann uns doch nur recht sein«, sagte der Generaloberst Hoepner gleichmütig. »Fromm ist alles andere als ein einfältiger Mann«, stellte Beck fest. »Ich möchte ihn nicht zum Gegner haben – er kann kaltblutig sein wie Hammerstein-Equord, ohne dessen kristallklares Gewissen zu besitzen. Ich fühle mich auch nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken, einen Fromm zunächst scheinbar unbeteiligt im Hintergrund zu wissen.« »Man sollte ihm die Pistole auf die Brust setzen!« riet der Hauptmann von Brackwede unternehmungsbereit. »Und das nicht nur symbolisch. Entweder er macht mit – oder es knallt!« Der Generaloberst Beck blickte verweisend auf den Hauptmann. »Ich lehne derartige Methoden entschieden ab.« »Das ehrt Sie«, erklärte der Hauptmann unbeeindruckt, »doch das kann ein entscheidender Fehler sein. Wir haben es hier nicht mit ehrenwerten irrenden Volksführern zu tun, sondern mit hochtourigen politischen Vernichtungsmaschinen – und die lassen sich nur mit Gewalt lahmlegen.« Beck schüttelte mißbilligend seinen Kopf. Hoepner blickte ablehnend. »Dennoch«, sagte der General Olbricht beharrlich, »muß die Angelegenheit Fromm möglichst schnell und konsequent bereinigt werden.« »Na schön – dann erledigen Sie das«, meinte Hoepner
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schließlich. »Dazu bin ich auch bereit«, sagte Olbricht. Hierauf wandte er sich an Beck: »Wollen Sie mich begleiten, Herr Generaloberst?« Der zögerte kurz. Dann sagte er: »Ich gedenke erst später einzugreifen. Zunächst jedoch sollten wir unter allen Umständen den Eindruck einer Überrumpelung vermeiden. Fromm muß sich freiwillig entschließen können.« »Ach was!« rief der von Brackwede. »Das ist ganz einfach Zeitverschwendung – Sie werden das sehen.« »Vielleicht haben Sie nicht unrecht, Brackwede«, gab der General Olbricht zu. »Durchaus möglich aber auch, daß Fromm wesentlich anders reagiert. Eben weil er nicht zu durchschauen ist, müssen wir auf alles Erdenkliche gefaßt sein.« »Erwarten Sie jedoch keinesfalls, daß er Ihnen in die offenen Arme stürzen wird«, rief der von Brackwede. »Stellen Sie von mir aus eine Flasche vom besten Rotwein bereit – aber auch zwei bis drei entschlossene Offiziere, die vor nichts, nicht einmal vor Fromm zurückschrecken.« »Diese Anregung wird akzeptiert«, stimmte Olbricht zu. Er sah suchend um sich. »Dennoch halte ich es für richtig, Fromm nicht allein gegenüberzutreten – möglicherweise brauche ich einen Zeugen, vielleicht auch jemanden, der meine Forderungen unterstützt, meine Position festigen hilft. Darf ich fragen, welcher der Herren mich begleiten will?« »Ich – mit Vergnügen!« rief der von Brackwede. Doch ehe noch gegen dieses Angebot protestiert werden konnte, meldete sich der Oberst Stauffenberg und erklärte: »Ich werde das tun – ich halte es für selbstverständlich.« Eugen G., der Doktor, schritt eilig auf die Eingangshöhle der Bendlerstraße zu. Er trug einen sommerlichen, sportlichen Anzug. Seine hellwachen Augen blickten prüfend. Er erblickte jedoch nichts von dem, was er erwartet hatte: kein Menschengewimmel, keine Stauung von Fahrzeugen,
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keinerlei Ansammlungen von Waffen. Gleichgültigkeit schien von den grauen Sandsteinmauern auszugehen. Ein Offizier erschien – ein Hauptmann des Heeres: jung, ruhig, betont höflich. Er trat, aus einer der linken Türen kommend, dem Doktor entgegen und fragte: »Sie wünschen, bitte?« Eugen G., gedrungen, doch von energievoller Beweglichkeit, blickte zu dem stattlichen Offizier empor. Gedämpft sagte er: »Parole Heimat.« Der Hauptmann blieb unverändert verbindlich und distanziert zugleich. Doch er legte nun die rechte Hand an seine Mütze – zu einer vorschriftsmäßigen Ehrenbezeugung. »Willkommen«, sagte er lediglich. Und dann rief er dem Türposten zu: »Der Herr kann passieren.« Dieser Vorgang wollte dem Doktor hoffnungsvoll erscheinen – trotz der scheinbaren Nachmittagsmüdigkeit schien hier dennoch nicht geschlafen zu werden. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als Eugen G., über die imitierten Marmortreppen eilend, den Korridor im zweiten Stock betrat: mehrere Türen waren weit offen – lebhafte Stimmen schallten heraus; einige Offiziere standen in kleinen Gruppen beieinander – sie schienen intensive Gespräche zu führen. »Fritze!« rief dann Eugen G. beglückt aus – er hatte den Grafen von Brackwede entdeckt. Er ging auf ihn zu. »Daß gerade du es bist, dem ich hier begegne ...« »Mann Gottes!« rief der Hauptmann aus. »Welcher Teufel reitet dich?« »Wie sieht es hier aus?« Der Doktor schüttelte die Hand des Hauptmanns herzlich. »Wie weit seid ihr gekommen? Geht alles in Ordnung?« Der von Brackwede zog seinen Freund zur Seite, zu einem Fenster hin, durch das der erste Hof des Bendlerstraßenblocks gesehen werden konnte: Steinplatten, ein wenig zerbleichter Rasen, ein einsames Fahrzeug, zwei Menschen, die regungslos nebeneinanderstanden. Nicht ein Anhauch atemloser Umsturztätigkeit.
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»Was hast du hier zu suchen, Eugen?« Der Doktor hielt diese Frage für völlig überflüssig. Er betrachtete mit steigender Besorgnis das angespannte Gesicht des Freundes. »Du scheinst nicht sonderlich zufrieden zu sein?« »Ich bin sogar tief beunruhigt – wenn ich dich hier sehe! Hast du einen Auftrag? Mußt du eine Nachricht übermitteln? Ist für dich an diesem Tag eine offizielle Tätigkeit vorgesehen? Nichts davon! Aber du bist hier!« »Ich bitte dich, Fritze – wo sonst wohl soll ich denn in diesen Augenblicken sein?« Der von Brackwede umarmte den Freund gerührt – er klopfte ihm auf die kraftvollen Schultern. Dann jedoch schob er ihn von sich und sagte fast streng: »Was sind wir doch für ein seltsames Volk, Eugen! Anhänger eines Rattenfängers und Gefolgsleute Gottes, blindwütige Vaterlandsverteidiger und Menschen voll gefühlvoller Heimatliebe! Ein Mann wie du könnte jetzt etwa für uns beten. – Doch was tut er? Er will bei uns sein! Ach, lieber Freund – wohin soll das führen?« »Da sind Sie ja endlich, Stauffenberg«, sagte der Generaloberst Fromm. »Das Führerhauptquartier hat sich bereits nach Ihnen erkundigt – kennen Sie den Grund dafür?« Der General Olbricht hatte vorsorglich im Vorzimmer zwei Offiziere postiert – ein dritter bereitete eine Art Notquartier vor, einen Raum, der für Verhaftete geeignet war. Zum Befehlshaber sagte er: »Es handelt sich um eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit.« »Das ist Ihre Ansicht, Olbricht. – Sie muß aber nicht unbedingt auch die meine sein, nicht wahr?« Der Befehlshaber des Ersatzheeres lehnte sich erwartungsvoll in seinem Schreibtischsessel zurück. »Nun – was gibt es denn besonderes, Ihrer Ansieht nach?« »Hitler ist tot – Oberst Stauffenberg kann diesen Tod bestätigen.« Fromm lächelte nachsichtig – er war bemüht, seine
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Überlegenheit zu demonstrieren. Und er erklärte gedehnt: »Das kann doch unmöglich stimmen. Wie Sie wissen, habe ich erst vor kurzem mit Generalfeldmarschall Keitel telefoniert – und der versicherte mir das Gegenteil.« »Keitel lügt – wie immer!« sagte Stauffenberg fest. Der Generaloberst senkte den Blick und spielte mit einem Brieföffner. Seine Hände verrieten kaum noch zu bändigende Unruhe. Und dann hörte er noch, zu allem Überfluß, den General Olbricht sagen: »Wir haben das Stichwort ›Walküre‹ ausgegeben – alle vorgesehenen Maßnahmen gegen innere Unruhen sind bereits angelaufen.« Nun duckte sich Fromm – wie unter einem heftigen heimtückischen Schlag. Dann sprang er stierartig auf – der Schreibtischsessel hinter ihm polterte zu Boden. Wütend bellte er auf: »Das ist glatter Ungehorsam! Wer hat es gewagt, diesen Befehl zu geben?« Olbricht nahm alle Verantwortung auf sich. Stauffenberg lächelte ihm freundschaftlich zu. Fromm jedoch gab sich mit dieser »Kavalierslösung« nicht zufrieden. »Federführend dafür«, brüllte der Befehlshaber auf, »ist der Oberst Mertz von Quirnheim. Und der soll sich unverzüglich bei mir melden.« Das war, wie Fromm glaubte, in dieser Situation ein geschickter Schachzug. Denn dieser Oberst war kalt und klug, ein Rechner und ein Realist. Irgendwelche spontane Dummheiten waren von dem am wenigsten zu erwarten. Fast hoffnungsvoll blickte der Befehlshaber zur Tür. Mertz von Quirnheim trat nach wenigen Minuten ein. Mit stoischer Ruhe und scharf prüfendem Gelehrtenblick sah er Fromm entgegen. »Mertz«, rief der, »ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie es gewagt haben, Befehle in meinem Namen zu geben. Ohne mich vorher zu befragen!« »Doch – das habe ich getan«, erklärte der Oberst ruhig.
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»Das glaube ich nicht – das kann ich nicht glauben! Sie sind doch kein Idiot, Mertz!« »Ich orientiere mich lediglich an feststehenden Tatsachen, Herr Generaloberst. Und feststeht für mich: Hitler ist tot.« »Irrsinn!« stieß Fromm hervor. »Der Kerl ... der Mann ... ich wollte sagen: der Führer lebt! Davon bin ich überzeugt! Und wer das nicht wahrhaben will, wer nicht bereit ist, sich danach zu richten – den werde ich verhaften lassen. Rücksichtslos! Sie alle, so wie Sie hier stehen – wenn es sein muß!« Der Oberst Mertz von Quirnheim blieb völlig unbeeindruckt. Er trat lediglich einen Schritt zurück, wodurch er zwischen Stauffenberg und Olbricht zu stehen kam. Fromm schien eine Wand vor sich zu sehen. Und der Oberst Stauffenberg erklärte: »Ich selbst habe die Bombe gezündet.« Fromm schwankte leicht, hielt sich jedoch aufrecht. Und messerscharf erklärte er dann: »Wenn das zutrifft, Stauffenberg, müssen Sie sich erschießen. Es gibt keine andere Lösung für Sie. Denn das Attentat ist mißglückt.« Der Oberst deutete, nahezu ironisch, eine abschiednehmende Verbeugung an. Dabei fiel eine schmale dunkle Haarsträhne auf seine hochgewölbte schweißnasse Stirn – er wischte sie lässig fort. Fromm aber sagte heiser: »Ich erkläre Sie hiermit alle drei für verhaftet!« »Sie täuschen sich über die wahren Machtverhältnisse«, erklärte Olbricht. »Sie können uns gar nicht verhaften – wir verhaften Sie!« »Das werden Sie nicht wagen!« sagte Fromm tonlos. Er bewegte sich, wie gestoßen, vorwärts – er schien bereit, sich auf Olbricht zu werfen. Dabei prallte er auf den dazwischentretenden Stauffenberg. Die Hände des Generalobersten krallten sich in die Uniform seines Chefs des Stabes – sie wurden ihm zur Seite geschlagen. Fromm taumelte kurz und stand dann hilflos da.
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Und kaum vernehmbar sagte er: »Das darf es doch nicht geben.« »Sie zwingen uns dazu, Herr Generaloberst«, sagte Olbricht. »Bitte betrachten Sie das, was unvermeidlich ist, als eine vorbeugende Maßnahme. Sollte sich Ihre Einstellung zu diesen Vorgängen ändern, brauchen Sie uns das nur mitzuteilen.« »Das werden Sie noch bereuen«, fauchte Fromm. Stauffenberg öffnete die Tür. Zwei Offiziere traten hervor. Sie ersuchten den Befehlshaber des Ersatzheeres, ihnen zu folgen. Das geschah nahezu mechanisch. Fromm wurde in ein Nebenzimmer eingesperrt. Uhrzeit: 17.15. Im dritten Stock des Hauses Schifferdamm 13 durchlebte der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede einige unruhige, verwirrende Minuten. Er war überzeugt davon, absolut richtig gehandelt zu haben. Doch er fand die erhoffte Zustimmung nicht. »Ich verstehe dich nicht«, sagte er befremdet zu Elisabeth. »Ich habe doch nur getan, was selbstverständlich war. Wir sind doch schließlich kein Freiwild!« »Du hast uns in Gefahr gebracht«, sagte die Gräfin bitter. Sie blickte dabei durch das jetzt weitgeöffnete Fenster. Der Himmel über Berlin hatte sich mit bleigrauen Wolken überzogen, und die löschten die Sonne aus. Die Hitze brütete dennoch weiter. Niemand mehr vermochte frei zu atmen. »Ich verstehe vieles nicht«, sagte er. »Doch soviel habe ich inzwischen wohl herausgefunden: Man darf niemals verallgemeinern! Bedenkliche Ausnahmeerscheinungen gibt es überall.« Elisabeth schien ihm auszuweichen. Sie bewegte sich unruhig um den schmalen Tisch – von ihm fort. Dann fragte sie, gegen die Fensterwand gelehnt: »Willst du uns ausliefern?« Was er allein registrierte, war dies: Sie entzog sich ihm.
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Doch er wollte Elisabeth wieder lächeln sehen. »Bist du beunruhigt, weil ich hier bei dir bin?« »Nein, Konstantin – das ist es nicht.« Sie blickte zur Kommode hin, in der die Aktentasche lag. »Doch wir müssen vermeiden, daß es hier zu einer Hausdurchsuchung kommt. Das aber kann nur allzuleicht geschehen – schließlich haben wir es hier mit der Gestapo zu tun. Ahnst du wirklich nicht, was das bedeuten kann?« Konstantin glaubte zuversichtlich lächeln zu können. »Diese Leute gehen doch bei eurer Dienststelle ein und aus. Sturmbannführer Maier etwa kenne ich und der Polizeipräsident von Berlin soll mit meinem Bruder befreundet sein. Mit diesen Menschen muß man doch reden können!« »Dann tu das, bitte!« rief Elisabeth drängend aus. »Rede mit ihnen. Sofort. Ehe es zu spät ist.« »Im Sperrkreis A alles wieder normal«, meldete der SSFührer Rattenhuber eifrig seinem Führer. »Die Toten und Verwundeten sind weggeschafft, beziehungsweise verarztet worden. Der Tatort wird durch zwei meiner verläßlichsten Leute überwacht – bis die Sonderkommission aus Berlin eintrifft, die jeden Augenblick zu erwarten ist.« »Schon gut!« rief Bormann gedämpft und winkte ab – der Führer durfte nicht gestört werden: Er dachte nach. Rattenhuber entfernte sich leicht gekränkt. »Es sollte auch nachgeprüft werden«, meinte Bormann, sich zwei, drei Worte notierend, »ob nicht etwa die Überwachungsorgane versagt haben. Rattenhuber ist verdächtig dienstbeflissen.« Bormann pflegte sich keine Gelegenheit entgehen zu lassen, seine Position zu festigen – das gelang am wirkungsvollsten, wenn er andere entwertete, anzweifelte oder sie gar verdächtigen konnte. Hitler reagierte meistens darauf – wenn auch, leider, nicht gerade in diesem Augenblick. Gedankenschwer hockte der Führer in seinem Wohnbunker. Vereinfachter Reichskanzleikomfort umgab ihn: Breitsessel, Orientteppiche, Damastvorhänge – dunkelgetönte
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Niederländer in dicken Goldrahmen hingen an den Wänden. Bewährte Würdenträger hatten sich eingefunden. Unter ihnen – hager, karg mit Worten und soldatisch korrekt dasitzend: der Großadmiral Dönitz. Auf die vage Nachricht von einem Attentat war er unverzüglich herbeigeflogen – beim Anblick des nur leicht lädierten Hitler hatte er bewegt von Gott und dem Reich gesprochen und unwandelbare Treue gelobt. Nun saß er, bevorzugt, zu des Führers rechter Seite – gleichermaßen bedeutsam schweigend wie sein oberster Kriegsherr. Gering, der Reichsmarschall, hatte sich inzwischen durch Alkohol gestärkt. Nun begann er, ausgedehnt das Heer zu beschimpfen – der Anlaß dazu war denkbar günstig. »Bei dieser schmutzigen Sache haben garantiert Heeresgenerale ihre angeblich sauberen Finger mit im Spiel gehabt!« Keitel, selbst General des Heeres, schwieg zunächst abwartend. Er blickte auf seinen Führer – der schien in seinem Sessel zusammengesunken zu sein. Allein Dönitz schien plötzlich lebhaft zu werden. »In diesem Punkt«, sagte der Großadmiral, »teile ich die Ansichten des Herrn Reichsmarschalls. In der Tat hat das Heer nicht die Erwartungen erfüllt, die erhofft werden konnten. Aber auch die Luftwaffe hat versagt – und zwar ganz jämmerlich.« »Das«, fuhr Göring auf, »ist ein Pauschalurteil, das ich ablehnen muß!« »Ich halte dennoch«, sagte Dönitz reserviert, »meine Ansicht aufrecht.« Womit der Großadmiral deutlich gemacht hatte: Allein die Marine ... Hoffnungsvoll blickte er zu Hitler hin. Der Führer jedoch schwieg nach wie vor. Am Tisch ihm gegenüber hockte Benito Mussolini – nun kaum mehr noch als eine Art »Gauleiter der Lombardei«. Er war wie sein eigenes, bereits verwittertes Standbild. Er hütete sich, an diesen fiebrigen Gesprächen Anteil zu nehmen. Ihn beachtete aber auch niemand. Keitel blickte versöhnungsbereit. Bormann und Himmler
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flüsterten im Hintergrund. Göring trank sein Glas leer und ließ es sich sofort wieder füllen. Ribbentrop, der Außenminister, beugte sich vor. »Die Ansichten des Herrn Großadmirals«, meinte er mit von ihm unerwarteter Kühnheit, »scheinen nicht einer gewissen Überzeugungskraft zu entbehren.« Göring aber polterte: »Halten Sie doch gefälligst Ihren Mund – Sie Sektreisender!« Ribbentrop verstummte beleidigt. Der Duce schien die Teppichblumen zu zählen. Des Führers Gehör hatte offenbar gelitten – sein anhaltendes Schweigen war bestürzend. Nun aber griff Martin Bormann ein. Er wußte, wie sein Führer aus derartig tiefer Versunkenheit gerissen werden konnte – eine lähmende Lethargie, die vielleicht nicht zuletzt auf den ausgefallenen Nachmittagsschlaf zurückzuführen war. Er beugte sein ausdrucksloses Gesicht vor und sagte bedächtig: »Diese Revolte – falls es überhaupt eine sein sollte – erinnert mich an unsere Situation im Jahre neunzehnhundertvierunddreißig.« Damals hatte Ernst Rohm, der Stabschef der SA, den Versuch unternommen, gegen Hitler zu putschen. Er und seine Anhänger wurden »liquidiert« – und noch einige andere Unbequeme dazu. Der Führer persönlich hatte sich eingeschaltet; Göring und Himmler besorgten die restliche »Arbeit«. Und das war ganze Arbeit gewesen. »Ich werde sie ausrotten – mitsamt ihrer Brut«, gurgelte Hitler auf. Sein Haß schoß fontänenartig hoch. »Krepieren sollen sie wie Ratten.« Und dann stürzte der Führer auf Himmler zu und schrie: »Erschießen! Jeden erschießen, der auch nur im geringsten verdächtig ist!« »Nun – wie steht das Rennen?« erkundigte sich GestapoMaier mit vertraulicher Herzlichkeit. »Was meinen Sie, Verehrtester – werden es Ihre Leute schaffen?« »Die Anfänge sind durchaus vielversprechend«, versicherte
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der Hauptmann Graf von Brackwede und gab sich gut gelaunt. »Und selbstverständlich ist uns jede tatkräftige Hilfe willkommen.« Sie hatten sich im Cafe Röhr getroffen – zwischen Zoo und Spree; zehn Minuten von der Bendlerstraße entfernt: Hier saßen sie in einer Ecke. Niemand schien sie zu beachten. »Sie haben also nicht den Eindruck, daß diese ganze Angelegenheit ein totgeborenes Kind ist?« Der Sturmbannführer zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Nun – jedenfalls kann ich mir nicht gut vorstellen, daß Sie sich an irgendwelchen Pleiteunternehmen beteiligen.« Für Maier war die Hauptsache: sie waren »im Geschäft«. Und sie handelten gewissermaßen auf neutralem Boden. Falls irgend etwas schiefgehen sollte, konnte niemand dem Sturmbannführer nachweisen, daß er sich zu diesem verdächtigen Zeitpunkt in der Bendlerstraße aufgehalten hatte. »Also«, sagte der von Brackwede, »kommen wir zur Sache. Sie wollen sich sichern, und ich gedenke, diese günstige Gelegenheit auszunutzen. Somit Zug um Zug! Zunächst einmal benötige ich laufend verschiedene Hinweise – besonders auf geplante Gegenmaßnahmen.« »Einverstanden«, sagte Maier. »Und hier gleich mein Hinweis Nummer eins: In der nächsten halben Stunde wird Standartenführer Piffrader in der Bendlerstraße aufkreuzen – vorläufig ohne klare Befehle; er soll lediglich seine Nase dort hineinstecken.« »Gut«, sagte der Hauptmann. »Das ist kein schlechter Anfang für unsere Transaktionen. Als nächste Leistung erhoffe ich von Ihnen die Bereitstellung gewisser Persönlichkeiten, die wir möglicherweise dringend benötigen könnten.« »Unter anderem Julius Leber – was?« Brackwede blinzelte überrascht – der Mann verstand sein Geschäft. Eilig sagte er: »Einzelheiten später! Mir genügt zunächst, wenn ich mit Ihrer grundsätzlichen Bereitschaft rechnen kann.«
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»Das können Sie – bis zu einem bestimmten Punkt« »Ich weiß! Wenn diese Sache schiefgehen sollte, dann haben wir niemals darüber gesprochen. Aber Sie werden alles das ausnutzen, was Sie wissen – ohne die geringste Rücksicht. Nun gut – das nehme ich in Kauf. Ich riskiere also, um in Ihrer Fachsprache zu reden, meine Rübe.« »Nicht nur das«, versicherte Maier ungeniert. »Sie müssen dann sogar damit rechnen, daß ich Sie durch den Wolf drehen lasse – Sie und Ihren ganzen Verein!« Der Leutnant von Brackwede stieg in voller Uniform die Treppen des Hauses Schifferdamm 15 abwärts. Er verlangte, den »Leiter dieser Aktion« zu sprechen, und wurde zu Voglbronner geführt. »Ich habe Anlaß, mich zu beschweren.« Der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede begann dieses Gespräch in sachlichem Ton. »Das Vorgehen des Herrn Jodler, der sich auf höhere Weisung beruft, also vermutlich auf die Ihre, will mir höchst bedenklich erscheinen.« »Das würde ich ehrlich bedauern«, versicherte Voglbronner. »Immer vorausgesetzt: Ihre Besorgnisse sind begründet.« Nunmehr erging sich der Gestapobeamte längere Zeit in wohlklingenden zeitgemäßen Allgemeinplätzen: Wo gehobelt werden müsse, wären fallende Späne unvermeidlich; auch fehle es an vorbildlich ausgebildeten Beamten; Notlösungen müßten als unvermeidlich angesehen werden. Schließlich: Weitgehendes Verständnis sollte erhofft werden dürfen – das wäre gleichbedeutend mit stabilem Vertrauen in gute großdeutsche Gesinnung. »Und damit, Herr Leutnant, darf ich wohl bei Ihnen rechnen?« »Gewiß!« versicherte Konstantin prompt. »Doch gerade deshalb bin ich ehrlich empört über derartige Methoden!« Voglbronner war sicher, sich nicht zu irren: Er hatte einen ziemlich schlackenreinen Idealisten vor sich. Die aber waren wie rohe Eier zu behandeln. Ausweichend fragte er daher zunächst: »Wie war doch gleich Ihr Name?«
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»Entschuldigen Sie bitte, ich habe wohl versäumt, mich vorzustellen.« Er nannte Namen und Dienstgrad. »Brackwede?« Voglbronner gab sich überrascht. »Ich kenne einen Hauptmann, der so heißt – der war früher VizepolizeiPräsident von Berlin.« »Das ist mein Bruder«, sagte der Leutnant mit Stolz. Voglbronner erhob sich. Er umkurvte den Tisch, hinter dem er sich verschanzt hatte, streckte seine Hand aus und sagte: »Das hätten Sie mir gleich sagen müssen!« Doch diese Szene wohlwollenden Entgegenkommens wurde durch heftiges, lawinenartig herannahendes Gepolter erstickt. Es dröhnte vom Treppenflur auf sie zu. Dann wurde die Tür aufgestoßen – und darin stand Jodler: hochrot und sichtlich beglückt. Er sagte: »Ich habe ihn erwischt! Er versuchte, sich in einem Schrank zu verkriechen. Aber derartige Praktiken kenne ich! Damit darf man mir nicht kommen.« »Bitte«, wollte Voglbronner wissen, »wovon sprechen Sie?« »Von einem Juden!« rief Jodler. »Die Wallner hatte ihn in ihrer Wohnung versteckt. Eine Judensau! Und jetzt ist doch wohl auch klar, warum sich dieses Miststück Wallner geweigert hat, mich in ihre Bude hineinzulassen.« Der Scharführer blickte um sich, als habe er soeben eine Schlacht siegreich beendet. »Das spricht doch Bände – oder etwa nicht?« »Das«, erklärte Voglbronner, »ändert natürlich vieles. Noch vermag ich die sich daraus ergebenden Folgen nicht abzusehen – ich weiß nur soviel: Sie könnten weitreichend sein!« Als der Hauptmann von Brackwede – vom Cafe Röhr kommend – in die Bendlerstraße zurückkehrte, stellte sich ihm Oberleutnant Herbert in den Weg. Der schien auf ihn gelauert zu haben. Er wirkte feierlich. »Herr Hauptmann«, sagte er, offenbar wohlüberlegt, »ich befinde mich in einem Gewissenskonflikt.«
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»Tatsächlich?« fragte der Graf von Brackwede. Er hatte es eilig – er wollte zu Stauffenberg. Dennoch wollte er wissen: »Und wie äußert sich das?« »Wenn die Nachricht stimmt, daß der Führer tot sein soll ...« »Nehmen Sie das an! Was dann?« »Dann gedenke ich, durchaus die Konsequenzen zu ziehen!« Herbert schien weltgeschichtliche Entscheidungen zu wittern – zumindest für nicht ausgeschlossen zu halten. Er blickte um sich, mit eilfertigen Verschwörerblicken. Doch niemand schien sie zu belauschen. Und so erklärte er: »Ich könnte mir den Hoheitsadler von der Brust reißen! Und dazu sind auch andere Kameraden bereit. Was sollen wir tun?« »Abwarten«, sagte der von Brackwede. »Wie stehen Sie dazu?« drängte Herbert. »Haben Sie den Eindruck, daß es sich lohnt? Ich meine: Glauben Sie, daß eine Entscheidung herangereift ist? Ich habe Vertrauen zu Ihnen.« »Das habe ich wirklich nicht verdient«, versicherte der Hauptmann mit mühsamer Ironie. »Was sollen wir tun – meine Kameraden und ich?« Der Oberleutnant Herbert, Verbindungsoffizier, blickte Brackwede mit flehenden Augen an. »Wir sind für jeden Ratschlag dankbar.« »Halten Sie sich aus der Schußlinie«, empfahl der von Brackwede, ehe er weiter aufwärtsstürmte, Stauffenberg entgegen. »Das ist der beste Rat, den ich Ihnen und Ihresgleichen geben kann. Jetzt nichts zu tun, das kann vielleicht einmal gleichbedeutend damit sein, vieles getan zu haben. Falls der Führer tatsächlich tot sein sollte, können Sie getrost auf Gott vertrauen – und auf die stärkeren Bataillone!« Der Hauptmann entfernte sich eilig. Der Oberleutnant Herbert aber trabte zu seinen Gesinnungsfreunden zurück, die in seinem Dienstzimmer beunruhigt beieinanderstanden. Und zu ihnen sagte er: »Alles ist offen. Das weiß ich von Hauptmann von Brackwede, und der hört bekanntlich das Gras wachsen. Was können wir also Besseres tun als
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abwarten?« »Uns absichern!« schlug ein Major vor. Dieser Major, Heythe mit Namen, verwaltete, wie er glaubte, allerwichtigste Akten. Er hielt sich für eine bedeutende Person. Jedoch: Er war nicht eingeweiht worden! Das aber mußte er als Deklassierung auslegen. Außer ihm hatten sich noch drei andere Herren bei Herbert eingefunden – und das wahrlich nicht nur, weil es hier erlesene Getränke gab. Den einen trieb seine Gesinnung hierher – er war Hitlerjugendführer. Der andere, ein Oberleutnant, war auf Major Heythes Dienststelle beschäftigt. Der dritte gehörte, immer noch, zu Molly Ziesemanns intimen Freunden; außerdem war er Parteigenosse. »Natürlich bin auch ich dafür, daß wir uns absichern«, stimmte Herbert zu. »Aber wie am besten?« »Wir müßten Waffen haben«, meinte der Major. »Gegen wen denn?« fragte der Offizier, der auch Parteigenosse war, bestürzt. »Das ist wohl falsch gefragt«, korrigierte Major Heythe höflich. »Man kann genausogut sagen: Wir benötigen Waffen für eine bestimmte Aufgabe. Worin die zu sehen ist, muß sich wohl erst noch herausstellen. Die Hauptsache jedoch: Wir haben vorgesorgt!« »Sehr richtig!« rief der Hitlerjugendführer zustimmend. »Wenn es darauf ankommt, können wir mit unseren Pistolen allein nicht viel anfangen – da müssen dickere Sachen her!« »Die aber gibt es im Lager des Zeughauses von Berlin«, sagte der Major sachverständig. »Dort werden sie in rauhen Mengen aufgestapelt – man muß sie nur anfordern. Und das sollten wir tun.« »Das werden wir auch tun!« rief Herbert aus. »Wir gedenken nicht tatenlos herumzustehen. Auf uns muß man sich verlassen können – in jeder Beziehung.« Der Major Heythe nickte zustimmend. Er blickte auf seine Armbanduhr, bevor er zum Telefon griff. Der Oberleutnant
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Herbert sah über dessen Schulter. Es war 17.15 Uhr. »Ein gewisser Piffrader ist im Anmarsch!« telefonierte der Spürhund der Gefreitenclique vom Wachlokal. »Ein SS-Bonze, wie er im Buch steht – in voller Uniform.« Lehmann gab diese Nachricht an seinen Hauptmann weiter. Der nickte, erhob sich und sagte: »Dirigieren Sie diesen Kerl in das Vorzimmer von Oberst Stauffenberg.« Der von Brackwede stieg die Treppe abwärts, begab sich in den ersten Stock, durchquerte die Zimmer von Olbricht und Mertz: Weit mehr als ein Dutzend Freunde hatten sich tatbereit eingefunden – jetzt saßen sie beieinander und schwiegen zumeist. Eugen G., der Doktor, hockte im Schreibtischsessel des Generals. »Immer noch munter?« fragte der Hauptmann den Freund. »Ich warte«, sagte der Doktor. Er hatte vor sich eine Zeitung liegen – sie wölbte sich leicht. Der von Brackwede hob dieses Papier interessiert hoch – darunter befand sich eine Pistole: geladen und gesichert. »Gehört dieser Apparat dir, Eugen?« »Wem denn sonst, Fritze!« »Respekt«, sagte der von Brackwede. »Ein verhinderter Pastor mit einer vollautomatischen Pistole – welch ein Anblick!« »Was, Fritze, kann zeitgemäßer sein?« Der von Brackwede schlug dem Freund auf die Schulter und begab sich zu Oberst von Stauffenberg. Der telefonierte – wie üblich. »Besuch für dich, Claus – Standartenführer Piffrader wird gleich hier aufkreuzen.« »Wer ist das, Fritz – und was will er?« »Der bewährte Piffrader gehört zu den erfolgreichsten Herrenmenschen seines Vereins. Auf sein Konto kommen, allein auf dem Balkan, schätzungsweise an die zweihunderttausend Juden. Doch im Augenblick dürfte er keinen festumrissenen Auftrag haben – er versucht wohl
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lediglich zu sondieren.« »Was soll ich mit einem derartigen Subjekt anfangen?« fragte Stauffenberg widerwillig. »Umlegen!« empfahl der von Brackwede. Der Oberst sagte leise: »Ich verstehe dich, Fritz. Wir haben uns zu einer Radikallösung entschlossen – und ich weiß, daß dabei jede Halbheit von Übel ist. Dennoch kann ich deinen Ratschlagen nicht folgen – schon des Generalobersts Beck wegen nicht.« »Dann kann ich dir nur raten: Kümmere dich darum nicht. Überlasse derartige Dinge mir; denn einer muß den Mut dazu haben. Das hier, Claus, ist keine Auseinandersetzung zwischen Gentlemen – hier geht es um Leben oder Tod. Und nicht nur für uns.« »Nein«, sagte Stauffenberg ruhig. »Ich liebe und verehre dich viel zu sehr, um dir auch das noch zuzumuten. Es muß genügen, daß meine Hände blutig sind.« Inzwischen war der SS-Standartenführer Piffrader – im Auftrag des Reichsführers, wie er betonte – im Vorzimmer des Befehlshabers des Ersatzheeres angelangt. Er bewegte sich lässig und überlegen. Drei jüngere Offiziere umringten ihn mit höflichem Interesse: von Kleist, Fritzsche und von Hammerstein – ihnen waren, was dieser Besucher nicht wissen konnte, die speziellen Verhaftungen anvertraut. »Irgendeinen besonderen Wunsch?« fragte einer der Offiziere in leicht ironischem Ton. »Endlos lange Zeit habe ich nicht«, meinte Piffrader ungeduldig. Er brauchte nur kurze Zeit zu warten – dann erschien der Oberst Claus von Stauffenberg. Er blieb in der Tür stehen und wollte von dort aus wissen: »Was, bitte, haben Sie für einen Auftrag?« »Ich gedenke Ihnen, Herr Oberst, lediglich einige Fragen zu stellen.« »Das lehne ich ab.«
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»Das ist eine Weigerung, Herr Oberst, die ungeahnte Folgen haben kann.« »Nicht für mich, Herr Piffrader.« »Ich bestehe aber darauf«, erklärte der SS-Führer, »bestimmte Antworten zu erhalten.« Piffrader, germanisch blond und blauäugig, wirkte straff, beherrscht, selbstbewußt und männlich hart. Der Mann war genauso, wie sich der kleine Moritz einen Gestapogewaltigen vorstellte. »Sie sind verhaftet«, erklärte der Oberst. »Das war, nach Fromm, Nummer zwei«, sagte der Leutnant von Hammerstein zu seinen Kameraden. »Und Nummer drei scheint bereits im Anmarsch zu sein.« Dabei handelte es sich um den General von Kortzfleisch, den Wehrmachtkommandanten von Berlin. Und der gehörte zu denen, die zu wissen glaubten, was Deutschland wirklich war – nationalsozialistisch und führertreu. Zutiefst mißtrauisch tauchte er in der Bendlerstraße auf. Er verlangte nach Fromm, wurde jedoch an Olbricht verwiesen. Und in dessen Dienstzimmer traf er den Generaloberst Beck an. Kortzfleisch stellte sich breitbeinig auf und verlangte: »Ich ersuche um Aufklärung über das, was hier geschieht.« »Es handelt sich«, erklärte Beck, »um eine denkbar totale Veränderung.« Und kameradschaftlich fügte er hinzu: »Sie sind als guter, verläßlicher Soldat bekannt – Sie sollten nun auch bereit sein, entsprechend zu handeln.« »Ich habe einen Eid geleistet«, sagte der General abweisend. »Und den gedenke ich auch zu halten.« »Ein Eid, einem Menschen gegenüber geleistet, der selbst eidbrüchig geworden ist – der kann nicht gelten!« »Mir ist nichts bekannt, was derartige Mutmaßungen rechtfertigt«, behauptete Kortzfleisch und begann, sich zurückzuziehen. »Außerdem bin ich überzeugt davon, daß hier ein höchst verhängnisvoller, wenn nicht verbrecherischer
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Irrtum vorliegt. Mein direkter Vorgesetzter ist immer noch Generaloberst Fromm – nur von ihm allein nehme ich Befehle entgegen.« »Ich appelliere an Ihr Gewissen, Herr General!« Kortzfleisch schien zu zögern. Sekundenlang blickte er unentschlossen. Er wußte nicht – beim besten Willen nicht – , wie er sich nun verhalten sollte. Er hatte niemals unter Beck direkt gedient – er wußte lediglich um den fast schon sagenhaften Ruf, der diesen Generaloberst umgab: Man sagte von ihm, er wäre Moltke und Schlieffen in einer Person. Jedoch: es existierte Hitler. Er hatte Kortzfleisch gegenüber wiederholt Wohlwollen bewiesen. »Nein«, sagte der General daher. Beck wandte sich betrübt ab. Stauffenberg wurde um eine Entscheidung ersucht. Und der Oberst entschied: »Verhaften!« »Damit hätten wir Nummer drei«, sagte der Leutnant von Hammerstein. »Das«, meinte der schnell unterrichtete Graf von Brackwede, »ist immerhin ein Anfang. Aber mehr als ein Anfang ist das nicht.« Voglbronner war an einem Punkt angelangt, an dem es für ihn nur eine Reaktion gab: Jetzt alles in der Schwebe lassen, sich nicht festlegen, möglichst Ausweichkanäle bauen! Er tat, als denke er angestrengt nach – in Wirklichkeit erstrebte er nur Zeitgewinn. »Ich habe diesen Juden vorläufig in den Keller gesperrt«, berichtete Jodler junior hochbefriedigt und jeder Anerkennung sicher. Das war eine Tatsache, die hingenommen werden mußte. Voglbronner erkannte das mühelos. Wegen eines Juden würde er nichts wagen – der war geliefert. Jedoch: welche Folgerungen ergaben sich daraus? »Ich jedenfalls«, versicherte der Leutnant steif, »habe damit nichts zu tun!«
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Das war lediglich eine Behauptung – immerhin jedoch eine, die von einem von Brackwede kam. Das mußte berücksichtigt werden. Voglbronner jonglierte bereits mit mindestens zwei Bällen – aber das war für ihn kaum mehr als ein Kinderspiel; er konnte, wenn es sich als notwendig erwies, noch ganz andere Kunststücke fertigbringen. »Dieses Weib, diese Wallner, die den Juden versteckt hielt, steht inzwischen unter Bewachung«, berichtete Josef Jodler. »Parteigenosse Scheumer, der Studienrat, hat von mir Befehl bekommen, dieses Saustück nicht aus den Augen zu lassen.« »Ich kann nur hoffen«, sagte mit unterdrücktem Zorn der Leutnant, »daß die Gräfin Oldenburg, meine Verlobte, vor Belästigungen jeder Art verschont bleibt.« »Schau mal einer an!« rief Jodler grinsend. »Die Dame ist also mit Ihnen verlobt! Und ich dachte immer, bei der hat Ihr Bruder, der Hauptmann, seine Finger im Spiel.« »Ich muß mir derartige Verdächtigungen entschieden verbitten!« rief Konstantin empört. Mit nur kurzem verächtlichem Blick streifte er Jodler. Dann forderte er von Voglbronner: »Ich hoffe, daß Sie derartige Auslassungen sofort unterbinden werden!« Voglbronner schien längere Zeit mit seinen Notizen beschäftigt. Dann ersuchte er den Leutnant ebenso wie den Scharführer, sich durch ihn nicht ablenken zu lassen. »Widmen Sie sich getrost Ihren Lieblingsbeschäftigungen – ich gedenke, inzwischen zu recherchieren.« Als sie ihn verlassen hatten, griff Voglbronner zum Telefon. Er rief die Prinz-Albrecht-Straße an und verlangte Sturmbannführer Maier – und Maier schien nichts anderes zu tun zu haben, als auf Anrufe zu warten. Voglbronner berichtete: Er wäre, rein routinemäßig, in das Haus Schifferdamm 13 gerufen worden. Hier handele es sich vermutlich um einen Mordfall. Ein Parteifunktionär, ein verdienstvoller SS-Unterführer und ein Offizier der Wehrmacht gehörten zu den Personen, die direkt oder indirekt damit zu tun hätten. Allein deshalb habe auch eine Benachrichtigung
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ihrer Dienststelle stattgefunden. Soweit, so gut. Aber! »Aber dabei bin ich auf den Leutnant von Brackwede gestoßen – den Bruder des Hauptmanns. Was soll ich mit ihm anfangen?« »Was könnten Sie ihm denn eventuell anhängen?« wollte Maier wissen. »Einiges schon, falls sich das als zweckdienlich erweisen sollte.« Voglbronner berichtete weiter: Ein Verdacht auf Begünstigung wäre nicht ausgeschlossen, denn der Leutnant von Brackwede habe bei seiner angeblichen Verlobten, der Gräfin Oldenburg, eine ganze Nacht verbracht. Und das sozusagen unter dem gleichen Dach mit einem versteckten Juden. »Daraus ließe sich einiges machen – falls gewünscht!« »Warmhalten«, entschied Maier nach kurzer Pause. »Aber keine Komplikationen – unter keinen Umständen. Ganz einfach: braten lassen – ohne dabei etwas anzubrennen. Ist das klar?« »Jawohl«, sagte Voglbronner. Dabei war ihm nichts »klar«. Höchstens das: Wieder einmal mehr war ihm »die Verantwortung« zugeschoben worden. Doch was er nun eigentlich verantworten sollte, wußte er nicht. Es war 17.25 Uhr. Der Leutnant Dr. Hans Hagen hatte das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda erreicht. Es gelang ihm, bis in das Vorzimmer von Goebbels vorzudringen. Er nahm auch diese Hürde mit den Worten: »Es handelt sich um eine äußerst schwerwiegende Angelegenheit.« Naumann, der Staatssekretär, kannte Hagen – der hatte sich stets als verläßlich erwiesen. Und er kannte auch seinen Minister – der besaß ein ausgeprägtes Gefühl für sinnvolle Kontakte. Lediglich eine knappe Viertelstunde verging, bis der Leutnant vor Goebbels stand. »Nun, mein lieber Doktor Hagen – was bringen Sie mir?« fragte der Propagandaminister mit heiter erscheinendem
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Lächeln. Er war in einen saloppen Straßenanzug aus bestem englischen Stoff gehüllt – perlgrau mit kaum wahrnehmbaren Blaupunkten. »Packen Sie aus!« »Ich habe beim Wachbataillon Groß-Berlin einen Vortrag gehalten«, begann der Leutnant zu berichten – hastig und dennoch ein wenig umständlich. »Fast unmittelbar danach wurde ›Walküre‹-Alarm durchgegeben.« Der Minister hockte zwergenhaft und doch wie thronend hinter seinem Schreibtisch. Er gab zu verstehen: Für bewährte Gesinnungsgenossen hatte er immer Zeit. Dabei hatte er einen Schreibblock zu sich herangezogen; er machte sich, wie üblich, Notizen. »Das Regierungsviertel«, berichtete Hagen, »wird in diesen Augenblicken vom Wachbataillon umstellt.« Nun schien Goebbels für den Bruchteil einer Sekunde zu erstarren. Dann sagte er: »Das ist doch unmöglich!« Der Leutnant Hagen blickte ergeben auf seinen Minister. Den beeindruckt zu sehen, war ein großer Augenblick. Doch ihn auszukosten, wäre leichtfertig gewesen. Hastig erklärte er: »Die Truppen haben ihre Befehle erhalten, und es ist anzunehmen, daß sie entsprechend handeln werden – falls nicht noch im letzten Augenblick wirksame Gegenbefehle erfolgen.« Diese Eröffnung schien Goebbels einen heftigen Stoß zu versetzen. Er warf den Bleistift hin und schob den Schreibblock von sich. Er erhob sich mit schroffen Bewegungen. Wie eine mechanische Figur schritt er zum Fenster. Und von hier aus sah er: Lastkraftwagen, die schwerbewaffnete Soldaten trugen. Ein Panzerspähwagen rollte langsam vorwärts – das Rohr seines Geschützes schwenkte bedrohlich. Fast wollte es Goebbels erscheinen, als werde er direkt anvisiert – unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. Dumpfes Motorengedröhn zitterte zum grauen
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Himmel auf. Das geschah vor dem Haus Nummer 20 in der HermannGöring-Straße. Daß Goebbels ausgerechnet hier residierte, in der Straße, die den Namen des »großdeutschen Gummilöwen« trug, hatte ihn oftmals zu mancher ironischen Bemerkung veranlaßt. Doch jetzt schien sein Berufslächeln ausgelöscht wie eine Laterne. Sekundenlang stand er schweigend da. Dann fragte er: »Was ist dieser Remer für ein Mann?« »Ich halte ihn für verläßlich«, sagte hierauf Hagen. Und er fügte hinzu: »Ich bin überzeugt – der Major ist ein guter Nationalsozialist.« »Dann holen Sie ihn her«, entschied Goebbels. »Er soll sofort zu mir kommen. Ich will mit ihm reden.« »Sehen Sie sich das einmal an«, sagte in der Nachrichtenzentrale der Bendlerstraße der Leutnant Röhrig. Er schob seinem Feldwebel ein Bündel Fernschreiben zu. »Was halten Sie davon?« »Diese Befehle tragen die höchste Dringlichkeitsstufe.« »Das sollen sie ruhig – von mir aus. Dringlich scheint im Augenblick alles zu sein.« Der Leutnant tippte mit dem rechten Zeigefinger auf zwei, drei Textstellen. »Aber langsam mache ich mir mehr und mehr Gedanken über das, was wir hier durchgeben.« »Der Inhalt«, meinte der Feldwebel bedächtig, »geht uns doch nichts an – oder?« »Gewöhnlich nicht«, gab der Leutnant zu. »Doch dies ist kein gewöhnlicher Fall. Oder läßt Sie das völlig gleichgültig, was hier geschrieben steht?« Der Feldwebel las: »An W.Kdo I - XIII, XVII, XVIII, XX, XXI, W.Kdo. Gen.Gouv. Böhmen-Mähren. ... ohne Verzug ihres Amtes zu entheben und in besonders gesicherte Einzelhaft zu nehmen sind: sämtliche Gauleiter, Reichsstatthalter, Minister, Oberpräsidenten, Polizeipräsidenten, höheren SS- und Polizei-Führer,
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Gestapoleiter und Leiter von SS-Dienststellen, Leiter der Propagandaämter und Kreisleiter.« »Nun ja«, gab der Feldwebel schließlich zu, »das ist ein ziemlich starkes Stück.« »Lesen Sie weiter!« forderte der Leutnant Röhrig. »Lesen Sie das hier!« »Verbände der Waffen-SS, deren uneingeschränkte Unterordnung zweifelhaft ist, sind rücksichtslos zu entwaffnen. Dabei energisches Zugreifen mit überlegenen Kräften, damit stärkeres Blutvergießen vermieden wird.« »Das«, sagte der Feldwebel, unruhig geworden, »geht allerdings ziemlich weit. Wenn ich das so durchdenke, fühle ich mich nicht mehr sonderlich wohl in meiner Haut. Aber was kann man da tun?« »Diese Fernschreiben«, stellte der Leutnant fest, »sind gezeichnet worden mit: Fromm, Generaloberst, und Graf Stauffenberg. Aber Fromm hat seit fast einer Stunde nicht mehr telefoniert – er ist auch nicht erreichbar. Wenn er verlangt wird, meldet sich für ihn Stauffenberg.« Die Fernschreiber ratterten durch die Kellerräume. Die Mädchen an den Klappenschränken waren pausenlos tätig. Ihre Stimmen klangen gehetzt. Abgedrosselte Klingeltöne verstummten nicht mehr. »Vielleicht«, gab der Feldwebel zu bedenken, »sollten wir bestimmte Telefone überwachen?« »Welche, Ihrer Ansicht nach?« »Die von Stauffenberg, Olbricht und Mertz von Quirnheim – diese zunächst.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, stimmte der Leutnant erleichtert zu. Er fühlte sich von seinem Feldwebel verstanden. »Bitte veranlassen Sie das.« »Und was geschieht mit den vorliegenden Fernschreiben?« »Die haben Zeit – denke ich – trotz Dringlichkeitsstufe eins. Die muß ich zunächst einmal gründlich durcharbeiten. Und das wird vermutlich einige Zeit in Anspruch nehmen – das
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kann sogar, unter Umständen, Stunden dauern. Was halten Sie davon?« »Ich bin da ganz Ihrer Meinung, Herr Leutnant. Nur schade, daß offenbar niemand existiert, an den wir uns vertrauensvoll wenden können.« »Nur Geduld«, sagte der Leutnant Röhrig hoffnungsvoll. »Wir handeln absolut korrekt – wir gehen gründlich vor, wir überstürzen nichts leichtfertig. Und das ist zunächst alles, was wir tun.« Lehmanns Gefreitenclique trat mehr und mehr in Tätigkeit. Der Korridorspürhund meldete gewisse behutsame Ansammlungen. Fromms Bursche berichtete von der Blockierung des Generalobersten. Der Mann bei der Wache bemängelte die lässige Ein- und Ausgangskontrolle. Der Gartenzwerg gab alle diese Berichte an Hauptmann von Brackwede weiter. »Dieser Laden«, meinte er, »ist nicht straff genug durchorganisiert.« »Fehler«, sagte der Graf, »sind unvermeidlich, und Mängel halte ich für selbstverständlich.« »Die Herbert-Horde einschließlich Heythe und Volksgenossen«, berichtete Lehmann, »telefoniert laufend mit dem Zeughaus. Sie haben dort Waffen angefordert.« »Die können wir, unter Umständen, gut gebrauchen.« »Die Anforderung ist inzwischen bestätigt worden.« »Dennoch«, meinte der von Brackwede, »kann es erfahrungsgemäß Stunden dauern, bis das bestellte Material anrollt.« Er irrte sich nicht – vier Stunden sollten noch bis dahin vergehen. »Neuigkeiten von Fromm?« »Aus erster Hand!« Der Gartenzwerg grinste. »Der Generaloberst hat Sonderwünsche angemeldet. Er hat darum gebeten, nach Hause entlassen zu werden – mithin in seine Dienstwohnung in diesem Bau.« »Im Grunde ist es doch wohl gleich, wo der sich aufhält – vorausgesetzt, er ist kaltgestellt.« »Fromm hat sogar sein Ehrenwort angeboten – und feierlich
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versichert: er werde sich ruhig verhalten.« »Das allerdings klingt bedenklich. Mit einem Typ wie Fromm ist nicht zu spaßen. Sein angebliches Ehrenwort kann eine Notlüge sein. Sobald der nur einen kleinen Finger freibekommt, wird er uns zu erledigen versuchen. Ich muß sofort zu Stauffenberg.« »Bedenken Sie dabei besonders eins«, riet der Gartenzwerg. »Dieser Bendlerblock ist total verbaut – mit einem halben Dutzend Notausgängen. Und die muß man kennen. Fromm aber kennt sie bestimmt wie kaum einer sonst. Mit einer Ausnahme vielleicht: der Leutnant von Hammerstein. Sein alter Herr, der General, hat hier einmal residiert. Damals war der Leutnant noch ein Knabe – aber Knaben pflegen munter herumzuschnüffeln. Das kann manchmal von ungeahntem Wert sein.« »Danke für diesen Hinweis! Sonst noch was?« »Lassen Sie die Torwache verstärken – dort pendelt lediglich ein Offizier herum. Der Rest döst vor sich hin. Jeder kann hier kommen oder gehen, wie es ihm gerade gefällt. Zur Zeit ist die Bendlerstraße wie ein Taubenschlag. Dabei habe ich mir immer vorgestellt: wenn es soweit ist, wird sich dieser Kasten in eine Festung verwandeln.« »Ich erwarte schnellstes und rücksichtsloses Durchgreifen!« Hitler rief das Himmler zu. Der feuerte damit Kaltenbrunner an. Und dieser heizte Müller ein. Heinrich Müller war SS-Obergruppenführer und Chef der Gestapo. Er kam von der Kriminalpolizei her – und dort war er ein anerkannter Experte für Gewaltverbrechen gewesen. Nunmehr beschäftigte er sich, seit zehn Jahren bereits, mit dem Einfangen und Ausrotten sogenannter staatsfeindlicher Elemente. »Der Führer fordert, daß die Schweinehunde sichergestellt werden!« Dies wurde Müller mitgeteilt. »Setzen Sie die besten Leute an!« »Wird gemacht!« versprach Heinrich Müller.
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Er beherrschte sein Metier – die eher ehrend gedachte Bezeichnung »Leichen-Müller« war keine Übertreibung. Er galt als ein peinlich genauer Buchhalter des Todes. Wer ihn sah, hielt ihn zunächst für einen bescheidenen, korrekten Staatsbeamten, der manchmal eine Art kundenwerbenden Krämerwitz besaß – doch nichts konnte täuschender sein. Einen derartigen Irrtum hatten nicht wenige mit ihrem Leben bezahlt; auch einige seiner Mitarbeiter. Müller wußte genau, wo der erste Hebel anzusetzen war. Er ließ den Mann zu sich rufen, den er »geheim« mit der Überwachung der Wehrmacht beauftragt hatte: SSSturmbannführer Maier. Und den kanzelte er zunächst einmal ab. »Da scheint sich eine große Sauerei zusammenzubrauen, und Sie wissen offenbar von nichts! Einige Herren der Wehrmacht, auf die Sie ein wachsames Auge haben sollten, betreiben offenbar unbekümmerte Putschversuche.« »Einige vage Nachrichten allerdings ...« »Und dann stehen Sie hier noch herum, Maier? Bringen Sie Ihre Leute in Schwung, stecken Sie persönlich Ihre Nase in diese Angelegenheit. Der Führer will Resultate sehen, Maier – und ich will das auch. So schnell wie nur irgend möglich.« »Jawohl«, sagte Maier scheinbar ergeben. Er kannte diese Aufmunterungstour – sie war nicht nur in der Prinz-Albrecht-Straße üblich. Auch der Gestapochef dachte nicht weiter über seinen Abteilungsleiter nach: Der würde spuren! Unverzüglich führte Müller das nächste Telefongespräch – mit dem SD, dem Sicherheitsdienst. »Wo hält sich der SS-Brigadeführer Skorzeny auf?« »Im Zug nach Wien.« »Dann sorgen Sie dafür, daß Skorzeny seine Fahrt sofort unterbricht – er soll sich unverzüglich in Berlin melden, beim Chef des Reichssicherheitshauptamtes, bei Kaltenbrunner persönlich. Ja, Mensch, ja – lassen Sie den Zug anhalten,
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auch wenn dabei alle Fahrpläne über den Haufen geworfen werden. Befehl des Führers – und außerdem ein Befehl von mir.« Der nächste auf Heinrich Müllers Liste war der Polizeipräsident von Berlin, der Graf Helldorf. Diesem eröffnete er ohne weitere Einleitung: »Nehmen Sie bitte folgendes zur Kenntnis: Erstens – ein Militärputsch scheint im Gange. Zweitens: der Führer befindet sich wohlauf. Drittens: das Polizeipräsidium wird ab sofort, bis auf weiteres, dem Reichs Sicherheitshauptamt direkt unterstellt. Damit empfangen Sie, viertens, Befehle nur von Kaltenbrunner – da sich dieser jedoch im Führerhauptquartier befindet, vertrete ich ihn. Fünftens: SS-Verbände sind bereits im Anmarsch auf Berlin.« Nichts davon stimmte exakt – doch das war SSObergruppenführer Müller völlig gleichgültig. Ihm kam es allein auf die Wirkung an – und die schien einzutreten: Der Graf Helldorf atmete hörbar und fand offenbar nicht die rechten Worte. Der Gestapochef blickte zufrieden. Schließlich sagte der Polizeipräsident: »Ich habe da wesentlich andere Dinge gehört...« »Von wem?« fragte Müller sofort scharf. »Liegen dort etwa Befehle vor, die dem widersprechen, was ich Ihnen soeben gesagt habe? Nein? Na also! Ich nehme nicht an, daß Sie irgendwelchen Gerüchten Glauben schenken werden. Halten Sie sich in Zweifelsfällen an mich. Alles andere wäre mehr als nur eine Dummheit – und eigentlich nur erklärbar dadurch, daß Sie plötzlich lebensmüde geworden sein sollten. Gerade das aber kann ich mir bei Ihnen kaum vorstellen – wer sollte dann auch wohl Ihre drei bis fünf Witwen trösten.« Im Hotel Majestic in der Avenue Kleber in Paris befanden sich die Dienststellen des Militärbefehlshabers in Frankreich: General der Infanterie Karl Heinrich von Stülpnagel – ein Mann mit einem scharf konturigen Frontsoldatengesicht; darin Augen, die zumeist gütig, fast väterlich-wohlwollend zu blicken pflegten.
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»Ich habe persönlich mit Stauffenberg telefoniert«, berichtete der Oberstleutnant der Luftwaffe Cäsar von Hofacker. »In Berlin sind alle vorgesehenen Aktionen ausgelöst worden.« Und sichtlich zufrieden konnte er melden: »Wir hier scheinen offenbar bereits einen gewissen Vorsprung zu besitzen. Der Kommandant von Groß-Paris, Generalleutnant von Boineburg-Lengsfeld, hat seine Truppen zum Einsatz gegen alle Dienststellen der SS, der Gestapo und des SD in unserem Bereich bereitgestellt.« Der General von Stülpnagel nickte kaum wahrnehmbar – er fand: das alles war selbstverständlich. Er hatte nicht einen Augenblick gezögert, den Befehl zu erteilen: Verhaften, festnehmen! »Bei Widerstand ist von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Standgerichte sind, wie vorgesehen, zu bilden.« Er beherrschte die Situation in Paris völlig – nicht wenige seiner Mitarbeiter unterstützten ihn vorbehaltlos dabei. Auf jede Truppeneinheit in seinem Bereich war Verlaß. Dennoch blickte er nachdenklich auf seine Freunde. »Ich habe mit Generaloberst Beck telefoniert«, berichtete er. »Ich habe Beck versichert, daß er sich auf uns verlassen kann, daß wir entschlossen mitmachen. Dann jedoch hat sich der Generaloberst nach Generalfeldmarschall von Kluge erkundigt. Hierauf aber konnte ich keine Antwort geben.« »Der Generalfeldmarschall«, meinte Cäsar von Hofacker, »kann sich jetzt doch gar nicht mehr ausschließen. Die Entscheidung ist gefallen. Und Kluge weiß, daß nun die große Lösung in seinen Händen liegt – ein Befehl von ihm, und die Armeen im Westen sind auf unserer Seite. Der Rest der Wehrmacht muß dann folgen.« »Das ist auch die Ansicht des Generalobersts Beck«, sagte Stülpnagel bedächtig. »Er selbst muß mit Kluge sprechen!« »Das habe ich Beck auch geraten.« »Und mit welchem Erfolg, Herr General?« Das kühne, angespannte Gesicht von Hofackers schien dunkel zu glühen.
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»Was hat Beck erreicht?« »Das weiß ich nicht«, gestand der General von Stülpnagel mit kaum merklichem Unwillen. »Ich weiß nur soviel: Der Generalfeldmarschall von Kluge hat mich bitten lassen, mit meinem Stabschef bis gegen zwanzig Uhr zur Heeresgruppe zu kommen – einer wichtigen Besprechung wegen.« »Das ist nicht ungünstig«, behauptete der Oberstleutnant Cäsar von Hofacker zuversichtlich. »Und das ist typisch Kluge! Er sagt nicht nein, nicht ja – er zögert die Entscheidung hinaus; diesmal allerdings nur um wenige Stunden.« »Und wenn Kluge nein sagt – was dann?« wollte einer der Offiziere wissen. Stülpnagel verriet keinerlei Reaktion auf diese Frage – er blickte lediglich Hofacker an. Und der sagte, überzeugt davon, Optimismus fordern zu dürfen: »Gewiß – der Generalfeldmarschall ist ein äußerst vorsichtiger Mann; die Umstände haben ihn dazu gemacht. Aber feststeht auch, daß er klar und konsequent denken kann. Er wird sich daher an die Realitäten halten.« »Und was dann, wenn diese erhofften Realitäten sich als nicht vorhanden herausstellen sollten?« »Dann müssen wir sie eben schaffen!« rief der von Hofacker. »Wenn er nur auf vollendete Tatsachen reagiert, dann soll er sie bekommen. Wenn die Bombe für Hitler ihm noch nicht genügt, dann legen wir ihm alle im Westen erreichbaren Partei-, SS- und Gestapobonzen vor die Füße. Das wird ihn überzeugen!« »Was hast du erreicht, Konstantin?« fragte Elisabeth, als der Leutnant wieder ihr Zimmer betrat. »Wird man uns in Ruhe lassen?« »Ich hoffe es. Ich habe mich mit einem Beamten unterhalten, der ein ziemlich vernünftiger Mann zu sein scheint.« Konstantin von Brackwede setzte sich auf den Stuhl, der in Türnähe stand. »Natürlich ist diese ganze Angelegenheit nicht unkompliziert.«
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»Heißt das – diese Leute könnten womöglich doch noch diese Räume durchsuchen? Auch unser Zimmer?« »Das ist kaum anzunehmen.« »Ist es ausgeschlossen?« »Nein – das kann man wohl nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch du mußt dich deshalb nicht beunruhigen, Elisabeth. Ich bin fast sicher, daß hier letzten Endes nichts geschehen wird, was ungerecht, was unberechtigt ist. Der leitende Beamte macht einen soliden Eindruck.« »Ach, das machen sie fast alle! Sie können durchaus menschlich blicken – auch dann noch, wenn sie bereits nach der Pistole greifen.« Die Gräfin Oldenburg-Quentin hielt sich am Fenster ihres engen Zimmers auf. Sie schien tief Atem holen zu wollen – die unvermindert heftige Hitze des Tages bedrängte sie. »Du meinst – diese Sache mit dem Juden –?« »Ja!« Elisabeth sagte das mit hervorbrechender Heftigkeit. »Man hat ihn behandelt wie ein Stück Vieh!« »Das war einer jener Übergriffe, die leider immer wieder vorkommen«, erklärte der Leutnant verwirrt. »Ich werde mich darüber beschweren.« »Sei still!« rief die Gräfin Oldenburg empört. »Bitte rede nicht so leichtfertig von Dingen, die du offensichtlich nicht kennst. Du solltest mit deinem Bruder darüber sprechen.« »Gut, Elisabeth – ich werde mit ihm darüber sprechen.« Konstantin war bemüht, sie zu beruhigen. Er näherte sich ihr und wollte sie zart an sich ziehen. Doch sie wich ihm aus. Leise fragte sie: »Und die Aktentasche – was wird mit der?« Der Leutnant von Brackwede gab sich Mühe, Elisabeth zu verstehen – es gelang ihm nicht. Das quälte ihn. Und er sagte: »Bitte, was geht uns jetzt diese Aktentasche an? Mein Bruder hat sie mir zur Aufbewahrung übergeben – mehr ist darüber nicht zu sagen.« »Und wenn die Gestapoleute kommen, dieses Zimmer
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durchsuchen und die Aktentasche mitnehmen wollen – was dann?« »Ich bitte dich, Elisabeth – das ist absurd.« »Nein, leider ist es das nicht, Konstantin. Diese Aktentasche kann sie nicht gleichgültig lassen. Sie werden sie mitnehmen wollen – wenn sie auch nur zu ahnen beginnen, was sich darin befinden könnte! Glaube mir das. Und – richte dich darauf ein.« »Was ist mit Döberitz?« wollte der Oberst von Stauffenberg ungeduldig wissen. »Warum meldet sich Döberitz nicht?« »Ich bin dabei, das zu überprüfen«, sagte der Oberst Mertz von Quirnheim. Der von Brackwede schob sich interessiert näher – alle halbe Stunde etwa tauchte er hier mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf, um zu sehen, »wie der Laden lief«. Er zog sich dann zumeist gleich wieder zurück, um die Freunde nicht zu stören. Diesmal jedoch fragte er: »Ich denke, wir haben in Döberitz einen besonders zuverlässigen Mann am Ruder?« »Sogar drei«, sagte Claus. Er unterbrach seine Telefonschlacht, um vom Hauptmann eine Zigarre entgegenzunehmen. Der fragte, ein Streichholz entzündend: »Sind etwa die Rundfunkanstalten immer noch nicht besetzt?« Brackwede kannte den »Walküre«-Plan ziemlich genau. Er wußte: die Infanterieschule Döberitz war, in erster Linie, für eine der wichtigsten Aktionen dieses Tages vorgesehen. Verläßliche Truppen sollten das Haus in der Masurenallee in Berlin und den Deutschlandsender bei Königswusterhausen übernehmen – unbeschädigt, strahlungsbereit. »Nichts davon ist bisher geschehen«, sagte Stauffenberg unwillig. Dieses Gespräch wurde durch das Erscheinen von Generaloberst Hoepner unterbrochen. Er hatte inzwischen seine Uniform angezogen – auf einer Toilette im
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Zwischenstock. Brackwede betrachtete ihn mit vergnüglichem Staunen – einiger Glanz ging nunmehr, gegen jede Erwartung, von Hoepner aus. Der berichtete: »Fromm meldet beharrlich immer neue Wünsche an. Diesmal ersucht er um Verpflegung.« »Was denn, was denn?« rief der Hauptmann aus. »Glaubt der etwa, daß wir hier lediglich das Kasino umorganisieren?« Generaloberst Hoepner vermied es, sich auf die Ebene dieses aggressiven Hauptmanns zu begeben – er machte deutlich: er gedenke allein mit Oberst Stauffenberg zu verhandeln. »Beck, Olbricht und ich sind der Ansicht, daß Fromm ritterlich, wenn auch reserviert, behandelt werden muß. Belegte Brote und auch eine Flasche Wein sollten ihm zugestanden werden.« »Was mästen wir uns da heran?« rief der Hauptmann von Brackwede grimmig. »Wenn man eine Revolte machen will, muß man zunächst einmal die Glacehandschuhe ausziehen – das Servieren von Speisen und Getränken gehört überhaupt nicht dazu.« »Bitte, handeln Sie nach Belieben«, sagte Stauffenberg kurz. Und kaum hörbar fügte er leicht gereizt hinzu: »Wir haben hier im Augenblick wesentlich andere Sorgen!« Dabei blickte er zu Mertz von Quirnheim hinüber. Der berichtete: »General Hitzfeld, der Kommandeur der Infanterieschule Döberitz, hält sich in Baden auf – eines familiären Trauerfalles wegen.« »Ausgerechnet heute!« rief Brackwede bestürzt. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte Stauffenberg sachlich. »Schließlich gibt es in Döberitz noch Oberst Müller – den StellVertreter des Kommandeurs. Auch er gehört zu den Eingeweihten. Was ist mit ihm?« »Oberst Müller«, sagte Mertz von Quirnheim, »befindet sich auf einer Dienstreise. Er hält Vorträge in der Umgebung. Er wird gegen zwanzig Uhr dreißig zurückkehren.« »Herrgott – das ist reichlich spät«, stellte der Hauptmann
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fest. »Viel zu spät.« »Unser dritter Vertrauensmann in Döberitz«, sagte der Oberst Mertz, »der Adjutant des Kommandeurs, berichtet mir: Die Truppe ist alarmiert und abmarschbereit. Aber die Offiziere sind unsicher. Sie besprechen die Gegebenheiten der Lage. Ihre Ansichten sind gespalten. Sie haben mit Mehrheit beschlossen, sich zunächst einmal abwartend zu verhalten.« Der sogenannte »große Befehl« – die Verhängung des Belagerungszustandes – erreichte die Nachrichtenzentrale der Bendlerstraße erst gegen 18.00 Uhr. Dieses ebenso wichtige wie umfangreiche Dokument hatte zunächst als Entwurf in der »Walküre«-Mappe existiert. Nun mußte es zunächst »formulargerecht« konzipiert werden. Die Vorzimmerdame Erika von Tresckow, die Frau des Generals, und Margarethe von Owen bemühten sich pausenlos darum. Ihre Schreibmaschinen standen stundenlang nicht still. Sodann wurde dieser »große Befehl« sorgfältig durchgesehen, korrigiert, mit sprachlichen Feinheiten versehen. Erst dann wanderte er in die Nachrichtenzentrale. Und hier geriet er unvermeidlich in die Hände von Leutnant Röhrig. »Sie werden dort oben immer deutlicher«, meinte er zu seinem Feldwebel. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich die Durchgabe derartiger Texte überhaupt verantworten kann.« »Vielleicht sollten wir das eine oder andere abändern?« schlug der Feldwebel ungeniert vor. Er hatte erkannt, wohin der Leutnant zu zielen begann – er war bereitwillig mit von dieser Partie. Ging irgend etwas schief, hatte Röhrig die ganze Verantwortung. Lag der Leutnant jedoch richtig, was ihm nicht unwahrscheinlich schien, dann hatte auch der Feldwebel das Große Los gezogen. Sie waren informiert, wie kaum jemand sonst in der Bendlerstraße. Sie überwachten jetzt die Telefone von Stauffenberg und Mertz, sie blockierten ankommende Gespräche, sie begannen, die ihnen übergebenen Befehle zu verstümmeln oder sie weiterhin einfach liegen zu lassen.
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Zumindest für einige Zeit. Zweihundertundzwanzig Minuten war ihr Rekord. »Wir sollten auch von uns aus Verbindungen aufnehmen«, schlug der Leutnant Röhrig vor. »Wir sollten aktiv werden, denke ich.« Dieser Gedanke drängte sich ihnen mehr und mehr auf. Sie wußten jetzt auch, an wen sie sich zu wenden hatten: Die Funktion des SS-Sturmbannführers Maier war ihnen nicht unbekannt geblieben – sie versuchten, mit ihm zu telefonieren. Doch Maiers Adjutant unterrichtete sie höflich dahingehend: der Sturmbannführer wäre in einer äußerst wichtigen Angelegenheit unterwegs. »Vielleicht«, schlug der Feldwebel vor, »sollten wir uns direkt mit dem Reichssicherheitshauptamt in Verbindung setzen – mit Kaltenbrunner oder Müller persönlich?« »Noch nicht«, meinte Röhrig vorsichtig. »Noch ist es wohl nicht soweit.« Während er das sagte, stand im zweiten Stockwerk der Bendlerstraße ein Oberst Hassel untätig herum. Auch er gehörte zu den verläßlichen Offizieren. Prompt hatte er sich bei Olbricht gemeldet und war herzlich willkommen geheißen worden. Jedoch: »Zur Zeit ist noch alles in der Schwebe. Alles läuft zwar planmäßig – dennoch können wir im Augenblick nichts anderes tun als warten, Geduld haben, die Nerven behalten.« Dieser Oberst Hassel war einer der besten und anerkanntesten Nachrichtenfachleute des Heeres. Überdies ein Mann von lauterer Gesinnung, großer Entschlußkraft und unbezweifelbarer Improvisationsgabe. Doch er stand herum. Nur wenige Meter von der Nachrichtenzentrale entfernt. Er plauderte mit einigen Offizieren – aber deren Unruhe und Unentschlossenheit vermochte er nicht zu verstehen. Abermals begab er sich, einsatzbereit, in den Bereich der Olbrichtgruppe. Er registrierte den dort herrschenden hektischen Betrieb geduldig. Doch niemand kümmerte sich um ihn.
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Schulterzuckend wendete er sich ab – und fuhr nach Hause. Kurz nach 18.00 Uhr meldete der Korridorwachhund der Gefreitenclique: »Im großen Vorzimmer des Befehlshabers stehen drei Generale.« Lehmann teilte das dem Hauptmann von Brackwede mit. Der blickte verwundert. »Was wollen diese Herren dort?« »Sie haben Aktentaschen und wollen zu Generaloberst Fromm. Sie sagen: sie sind bestellt. Von Fromm persönlich.« Der von Brackwede setzte sich unverzüglich in Bewegung. In der Kommandozentrale des Widerstandes sah er suchend um sich. Die Obersten telefonierten, die leitenden Generale konferierten; die Freunde, die sich eingefunden hatten, standen in Gruppen umher; sie führten ihre Debatten gedämpft. Der Hauptmann setzte sich auf einen Stuhl vor Stauffenbergs Schreibtisch. Der winkte seinen Adjutanten, den Oberleutnant von Haeften, herbei; und mit ihm begann sich Brackwede zu unterhalten. »Für Fromm sollen sich Besucher angemeldet haben – höre ich.« Der Oberleutnant lachte unbekümmert auf – sein Jungengesicht strahlte. Fast war es, als mache ihm das, was hier geschah, Spaß. »Bei den drei Generalen im großen Vorzimmer handelt es sich um die Chefs der Amtsgruppen – für sie war um achtzehn Uhr eine der üblichen Routinebesprechungen beim Befehlshaber angesetzt. Ich habe ihnen gesagt: Fromm ist zur Zeit nicht erreichbar. Und sie meinten: Dann warten wir eben, bis er erreichbar ist.« »Und das beunruhigt Sie nicht, junger Freund?« »Woher denn? Sollen die doch warten!« Brackwede blickte den Oberst an – der nickte ihm zu. Der Hauptmann erhob sich und ging in das große Vorzimmer. Die drei Generale blickten ihm forschend entgegen – offenbar begannen sie, unruhig zu werden. Sie waren es nicht gewohnt, länger als eine Viertelstunde auf Fromm warten zu
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müssen; nicht ohne daß sie benachrichtigt worden wären. »Was ist hier los?« fragte der eine General. »Haben Sie eine Ahnung davon?« Der Hauptmann verneinte diese Frage unbedenklich. »Wo ist der Generaloberst?« »Das kann ich leider auch nicht sagen.« Die drei Generale begannen eine kurze interne Beratung. Einer meinte: »Warten wir noch eine Viertelstunde.« Der andere sagte: »Begeben wir uns zu unseren Dienststellen zurück – wenn der Befehlshaber uns benötigt, wird er uns rufen lassen.« Der dritte General aber gab zu bedenken: »Fromm pflegt seine Termine genau einzuhalten oder zumindest rechtzeitig abzusagen – und wenn er uns jetzt nicht empfangen kann, würde er uns das mit zwei, drei Worten persönlich mitteilen. Meine Herren, ich befürchte – hier stimmt etwas nicht.« Die Chefs der Amtsgruppen beim Befehlshaber des Ersatzheeres waren erprobte, verläßliche Schreibtischstrategen – im Fronteinsatz bewährt, als Generalstäbler herangebildet, sorgfältig ausgesucht; von Fromm persönlich. Sie gingen bereitwillig die geraden Wege, die ihnen vorgeschrieben wurden – für irgendwelche »fragwürdigen Sachen« waren sie nicht zu haben. Brackwede erkannte das ohne sonderliche Mühe. Er begab sich wieder zu Stauffenberg und sagte: »Die wirst du nicht so leicht los, Claus.« »Vielleicht«, meinte der Oberleutnant von Haeften hoffnungsvoll, »denken sie nach und machen mit. Vielleicht sollten wir sie entsprechend aufklären.« Der Hauptmann schüttelte ablehnend den Kopf. Dann beschäftigte er sich einige Minuten lang mit Stauffenbergs Notizen – der Oberst schob sie ihm bereitwillig zu. Und schon nach kurzer Zeit wurden die Generale im Vorzimmer laut und energisch. »Sie fordern«, berichtete der Oberleutnant von Haeften,
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»unverzüglich zu Generaloberst Fromm geführt zu werden.« »Na schön«, meinte der Graf von Brackwede. »Wenn die unbedingt darauf bestehen, dann sollte man ihnen diesen Wunsch auch erfüllen!« »Also gut«, entschied Stauffenberg. »Verhaften!« Das erledigte die Leutnantsgruppe höflich und energisch zugleich – sie bekamen langsam einige Übung. Proteste überhörten sie. Heftige Beschuldigungen ließen sie gleichgültig. »Folgen Sie uns, bitte«, sagte der Leutnant von Hammerstein so liebenswürdig, als lade er zu einer Kasinofestlichkeit ein. »Ist noch immer keine Rundfunkmeldung erfolgt?« fragte Adolf Hitler ungeduldig. »Leider nein«, sagte Bormann und zeigte ein betrübtes Gesicht. »Ich verstehe das auch nicht.« Und aufreizend bedächtig fügte er hinzu: »Goebbels pflegt doch sonst nicht so langsam zu schalten.« Doch der Führer hatte im Augenblick wenig Zeit, diese primitiv-raffinierte Bormann-Mischung aus Anerkennung und Verdächtigung zur Kenntnis zu nehmen. Hitler mußte seinen Gast verabschieden: Benito Mussolini. Sie standen auf dem Gelände der provisorischen Bahnstation des Führerhauptquartiers bei Rastenburg. Hohe Tannen umringten sie wie gigantische Wachsoldaten. Die Sonne umglänzte sie sanft. »Ich werde diesen Tag nie vergessen«, behauptete der Duce. »Daß Sie gerade heute hier gewesen sind, ist von tiefer, symbolhafter Bedeutung«, sagte der Führer. Sie reichten sich die Hände – sie hielten sie lange Zeit. Das war ein wohlgeplanter feierlicher Augenblick. Noch einmal sahen sie sich in die müde gewordenen Augen. Sie sollten sich nie mehr wiedersehen. Unmittelbar danach eilte Hitler in seine Betonhöhle zurück.
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»Ich habe den Eindruck«, sagte er, lauernd wie ein sich umstellt fühlendes Tier, »daß nicht alles so in Ordnung ist, wie angenommen zu werden scheint.« Er hob warnend eine Hand – sie zitterte heftig. »Irgend etwas braut sich zusammen – das Attentat war nicht alles.« Keitel berichtete: Er habe versucht, mit Olbricht zu sprechen – aber: »Er meldet sich nicht.« »Im Auswärtigen Amt«, sagte Ribbentrop, »herrscht absolute Ruhe. Dort ist nichts bekannt, was irgendwie ungewöhnlich wäre.« »Das Reichssicherheitshauptamt«, versicherte Himmler, »ist völlig intakt. Meine Leute sind bereit, sofort einzugreifen, falls bedrohliche Situationen entstehen sollten.« »Dennoch«, meinte Bormann, »sollte der Führer zum deutschen Volk sprechen – als vorbeugende Maßnahme.« »Dazu bin ich auch bereit«, erklärte Hitler. »Aber wie kann ich das mit der gebotenen Schnelligkeit?« »Leider ist es versäumt worden«, sagte Bormann, »dem Führer eine direkte Rundfunkleitung zu verschaffen. Das könnte sich als schwerwiegender Fehler erweisen. Kaum zu glauben, daß der Propagandaminister eine derartige Möglichkeit übersehen hat.« Hitler forderte nun, mit Dr. Goebbels direkt verbunden zu werden. Der meldete sich prompt, schien jedoch geradezu verdächtig gelassen zu sein, als er mitteilte: »Im Regierungsviertel sind Panzer aufgefahren – drei davon, dazu einige Gruppen Infanterie, kann ich von meinem Dienstzimmer aus sehen.« Der Führer des großdeutschen Reiches begann am ganzen Körper wie im Fieber zu beben. Doch seine Stimme klang unverändert rauh und stark: »Was bedeutet das alles, Doktor Goebbels?« »Ein Militärputsch – vermutlich.« Der Minister sagte das überaus sachlich – seine Nerven waren spürbar intakt. »Doch ich bin bereits dabei, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. In
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Kürze hoffe ich mehr und Wichtigeres berichten zu können.« Dieses kurze Gespräch löste im Führerhauptquartier wucherndes Mißtrauen aus. »Also doch!« rief Bormann. »Dieses Schweinepack!« sagte Himmler dumpf. Allein Keitel meinte optimistisch: »Es kann sich hierbei doch wohl nur um einen Irrtum handeln – so was tut ein deutscher Offizier nicht.« Hitler trank Tee. Göring dämmerte im Halbrausch dahin. Ribbentrop war sicher, sich und sein Amt aus dieser »schmutzigen Sache« herausgehalten zu haben. Eine der Sekretärinnen weinte erschüttert. Der Führer begab sich in eine Ecke, lehnte sich hier gegen die meterdicke kühle Wand und winkte Bormann und Himmler zu. Die eilten bereitwillig herbei. »Sollte es möglich sein«, fragte Hitler seine Getreuen besorgt, »daß selbst ein Goebbels abgefallen ist?« Himmler hob die Hände – klagend und verständnislos zugleich. Seine Augen blickten trüb. Bormann neigte schicksalsbewußt sein Haupt. »Ich habe«, versicherte er, »Goebbels stets für uneingeschränkt verläßlich gehalten – und ich tue das auch jetzt noch. Allerdings habe ich inzwischen erkennen müssen, daß in dieser unserer Welt so gut wie nichts unmöglich ist.« Fast auf die Minute genau zur gleichen Zeit rief der Oberst von Stauffenberg in Berlin überzeugt jedem zu, mit dem er telefonierte: »Die Nachricht, daß Hitler lebt, ist eine bewußte Irreführung!« Die Fernschreiben, die aus der Bendlerstraße hinausgelangten – soweit sie der Leutnant Röhrig nicht bremste, abänderte oder sogar neu formulierte – trugen die Unterschriften: Generaloberst Fromm – Oberst Stauffenberg. Oder: Generaloberst Hoepner, Befehlshaber des Ersatzheeres. Schließlich sogar: Generalfeldmarschall von Witzleben – Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Prag meldete: Planmäßiger Verlauf. Wien verkündete: Die vereinbarten Maßnahmen sind im Gange. Paris schließlich konnte sogar berichten: Bei uns rollen die Panzer.
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Um 18.30 Uhr wurde gemeldet: Die 3. Kompanie des Wachbataillons habe befehlsgemäß das Regierungsviertel umstellt. »Die befohlene Sperrlinie ist gebildet.« Und die durfte – nach Plan – weder ein General noch ein Minister überschreiten. »Wir sind über den Berg!« glaubte der Oberst Stauffenberg feststellen zu können. Doch der Hauptmann Graf von Brackwede meinte: »Ohne Leiche kein Totenschmaus.« Die Aktentasche stand mitten auf dem Tisch. Die Gräfin Oldenburg hatte sie dorthin gestellt, sie geöffnet und auf Leutnant von Brackwede zugeschoben. »Bitte, sieh hinein – du mußt wissen, worum es hier geht.« Konstantin schüttelte abwehrend seinen seidenblonden Knabenkopf. »Was sich in dieser Tasche befindet, hat mich nicht zu interessieren.« »Es ist dir gleichgültig?« Sie standen einander nahezu sprungbereit gegenüber. Das aufkeimende Mißtrauen zwischen ihnen schien jede Zärtlichkeit ausgelöscht zu haben. Sekundenlang starrten sie sich an, als wären sie einander völlig fremd. »Diese Aktentasche geht mich nichts an – sie gehört meinem Bruder.« »Und wenn sich darin Pläne befinden, die Widerstand gegen Hitler bezeugen? Und nicht nur das – weit mehr noch: Dokumente für einen genau geplanten Aufstand gegen deinen Führer? Sogar Einzelheiten über dessen Beseitigung – über dessen Tod? Wenn das zutrifft, Konstantin – was dann?« Der schien eisstarr dazustehen. Seine sonst strahlenden Augen wirkten fahl. Fast trotzig warf er den Kopf in den Nacken. Doch er benötigte lange Sekunden, um Worte zu finden. Dann aber sagte er mit ungehemmter Einfalt: »Selbst wenn das stimmen sollte, Elisabeth – was bedeutet das schon? Ich vertraue meinem Bruder vorbehaltlos. Selbst wenn sich also in
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dieser Aktentasche das Material befinden sollte, das du darin vermutest – Fritz kann es vielleicht gesammelt haben, um damit unseren Führer zu schützen?« »Mein Gott«, sagte die Gräfin Oldenburg-Quentin tonlos. »Ahnst du denn nicht, daß der Inhalt dieser Aktentasche einigen hundert Menschen das Leben kosten kann?« Um 18.35 Uhr stand der Major Otto Ernst Remer vor Minister Dr. Goebbels. Der Leutnant Hagen begleitete ihn. Goebbels tat das, was ihm stets am wirksamsten erschien: Er lächelte – breit, gewinnend, betont herzlich. Seine sarkastische Freude am Ungewöhnlichen verbarg er geschickt. »Sie sind mir willkommen, Herr Major«, versicherte er. »Ich weiß es zu schätzen, daß Sie Vertrauen zu mir haben – was auf Gegenseitigkeit beruht.« Er ersuchte die beiden, sich zu setzen – er schien Freunde zu empfangen und für sie unbegrenzt Zeit zu haben. Das gebräunte Gesicht von Remer blickte diszipliniert ergeben. Goebbels empfand reine Freude bei diesem Anblick. Er hatte einen preußisch erscheinenden Offizier vor sich, der offenbar zugleich williger Nationalsozialist war – eine Mischung, die kaum vielversprechender sein konnte. »Ich glaube«, sagte der Minister zuversichtlich, »daß wir uns verstehen. Wir können uns daher umständliche Einleitungen ersparen. Kommen wir also gleich zur Sache: Haben Sie den Befehl, mich festzunehmen?« »Jawohl«, gestand Remer nahezu beschämt. »Das ist mir zugemutet worden.« Goebbels empfand das Verlangen, darüber nähere Einzelheiten zu erfahren – er hätte gern gewußt, wie sich der Major das vorgestellt hatte. Doch er unterdrückte derartige Regungen. Er sagte vielmehr: »Ich verstehe Ihre Situation durchaus. Und ich erwarte auch gar nicht, daß Sie sich durch mich beeinflussen lassen – wenn Sie glauben, daß der Führer nicht mehr existiert.«
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»Glauben kann ich das nicht, Herr Minister – aber es ist mir gesagt worden.« »Dann ist die Lösung Ihres Problems höchst einfach, denke ich.« Der Minister griff zum Telefon. »Eine Verbindung mit dem Hauptquartier, bitte.« »Wolfsschanze« meldete sich prompt. Keitel schaltete sich bereitwillig ein. Bormann übernahm das Gespräch. Nur wenige Sekunden danach war Hitler am Apparat. »Mein Führer«, berichtete Goebbels freudig. »Neben mir steht der Kommandeur des Wachbataillons Berlin – Major Remer. Major Remer hat den Auftrag, das Regierungsviertel abzuriegeln und alle hier anzutreffenden Reichsminister und sonstige höhere Beamte festzunehmen. Darf ich Sie bitten, mein Führer, dazu Stellung zu nehmen?« Hitler schien bewegt – er atmete hörbar. Dann sagte er: »Ich will mit dem Major sprechen.« Der meldete sich. Die Größe der Stunde drohte ihn zu überwältigen. Doch das Lächeln des mithörenden Ministers bewahrte ihn davor, seine Haltung zu verlieren. »Major Remer«, sagte Adolf Hitler, »kennen Sie mich – erkennen Sie meine Stimme?« »Jawohl, mein Führer«, rief der zutiefst erregt. Dr. Goebbels nickte anerkennend dem Leutnant Hans Hagen zu. Der errötete vor Stolz. Er erkannte: eine Beförderung, zumindest, war ihm sicher. »Herr Major Remer«, sagte Adolf Hitler nunmehr, »ich spreche jetzt zu Ihnen als Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht. Betrachten Sie sich ab sofort als mir persönlich unterstellt. Handein Sie von nun an ganz in meinem Sinne – ich verlasse mich darauf.« »Jawohl!« rief der Major. »Ich gebe Ihnen den Auftrag, Remer, jeden Widerstand zu brechen! Arbeiten Sie mit Doktor Goebbels zusammen – aber rufen Sie mich unverzüglich an, wenn Ihnen irgend etwas unklar erscheint. Inzwischen handeln Sie mit äußerster
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Entschlossenheit! Absolut rücksichtslos. Denken Sie stets daran: hierbei geht es um Großdeutschland, um das Reich, um unser Volk.« »Um mich!« schien er noch sagen zu wollen – doch er sagte es nicht. Nach diesem Telefongespräch schien Adolf Hitler wieder »aufzublühen«. Die Stunden dumpf lauernder Schweigsamkeit waren offenbar vorüber. Bormann atmete auf. In der Bendlerstraße telefonierte der Oberst von Stauffenberg erneut mit Paris – mit Oberstleutnant von Hofacker, seinem Vetter und Freund. Der versicherte: »Bei uns geht alles in Ordnung. Stülpnagel reagiert prachtvoll. In wenigen Minuten fahren wir zu Generalfeldmarschall von Kluge – der wird mitmachen!« Generaloberst Beck ließ sich die letzten Meldungen vorlegen – er las sie aufmerksam. Sie schienen hoffnungsvoll zu sein. Ermunternd nickte er Hoepner und Olbricht zu. Der von Brackwede hielt sich bei seiner Gefreitenclique auf. Hier herrschte unbekümmerte Heiterkeit. Gartenzwerg Lehmann meinte augenzwinkernd: »Was immer auch kommen mag – ich kenne jetzt zumindest drei Fluchtwege. Einen über die Hinterhöfe, den anderen durch die Korridore, den nächsten über die Dächer!« Oberleutnant Herbert saß inmitten seiner Getreuen blechsteif da. Er fand bei ihnen weder Trost noch Hoffnung. Was wirklich geschah, vermochten sie nicht zu ahnen. Die bestellten Waffen vom Zeughaus kamen nicht. Vergeblich versuchte ihn Molly, seine Braut, zu trösten. Im Regierungsviertel versammelte der Major Remer seine Offiziere – er befahl ihnen einen geordneten Rückzug. Und diesen, möglicherweise, in Richtung Bendlerstraße. »Wir gehen zunächst in Bereitstellung.« Das aber mit der Parole: Es lebe der Führer! SS-Sturmbannführer Maier war nicht zu erreichen. Das Reichs-Sicherheitshauptamt lag »wie ausgestorben« da. In der Prinz-Albrecht-Straße fanden mehrere Stunden lang keine
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Verhöre statt. Gestapo-Müller pendelte raubtierartig durch sein Dienstzimmer. Im Haus Schifferdamm 13 gähnte Voglbronner tatenunlustig. Im Keller saß der bislang Versteckte stumm in einer Ecke. Die Breitstraßer gab vor zu beten. Jodler junior begann gelangweilt, nach der Fremdarbeiterin Maria zu tasten. Die Elster träumte, auf dem Rücken liegend, vor sich hin. Scheumer gab vor, Trost bei Goethe zu suchen. Die Wallner weinte. Elisabeth und Konstantin sahen sich an. Und es war, als blickten sie durch dicke Glaswände hindurch. Die Aktentasche, die im Raum stand, war wie ein unüberwindliches Hindernis zwisehen ihnen. Truppen marschierten indes – sie rollten auf Berlin zu, sie konzentrierten sich in Paris, sie waren in Wien, Prag und München in Bewegung gesetzt worden. Die dafür eingeteilten Soldaten blickten gleichmütig vor sich hin. Sie vermochten nicht zu ahnen, was von ihnen erwartet wurde. »Diese Welt«, sagte der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede, »ist randgefüllt mit den seltsamsten Torheiten und den denkbar ungewöhnlichsten, den unvorstellbar herrlichsten Ereignissen. Was jedoch machen diese Menschen daraus?« »Ich habe dem Heer nie getraut!« rief Hitler seiner Umgebung zu. »Die Generalität hat sich schon immer gegen mich verschworen.« Himmler pirschte sich an ihn heran. »In dieser Stunde des Notstandes!« begann er feierlich. Dann legte er ein vorbereitetes Schreiben auf den Tisch. Dessen Inhalt besagte: Zum Befehlshaber des Ersatzheeres – mithin zum Nachfolger des Generalobersts Fromm – wurde der Reichsführer SS ernannt. Dieses Schreiben unterzeichnete der Führer »im Stehen«. Und dabei rief er aus: »Erschießen Sie jeden, der Widerstand leistet! Es geht um das Schicksal der Nation!« »Mein Führer«, versicherte Himmler dankbar, »wo und unter welchen Umständen auch immer Staatsfeinde existieren
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sollten – wir werden sie beseitigen! Dafür leben wir. Das allein, mein Führer, ist wahrhaft deutsch gedacht!«
3 Männer, die ihre Pflicht und Schuldigkeit getan haben Der Rundfunkapparat, den der Hauptmann von Brackwede in seinem Dienstzimmer eingeschaltet hatte, plärrte die üblichen »munteren Weisen«: Durchhalteberieselung für sentimentale Vaterlands Verteidiger. »Sind Sie vergnügungssüchtig?« wollte Lehmann vom Nebenzimmer her wissen. »Oder sollten Sie mißtrauisch geworden sein?« »Ich bin neugierig«, erklärte Brackwede und telefonierte weiter. Der Hauptmann wartete nicht erst ab, bis ihn seine Vertrauensleute anriefen – er ermunterte sie von sich aus mit unruhestiftender Regelmäßigkeit. Je gereizter die so in Atem gehaltenen Mitverschwörer zweiter und dritter Garnitur wurden, um so heiterer gab sich der von Brackwede. »Mein Lieber«, sagte er jetzt freundlich anfeuernd, »Ihre Stimme hört sich an, als hätten Sie gerade Ihren Nachmittagsschlaf hinter sich gebracht.« Der Gesprächspartner – ein Major der Polizei – meinte besorgt: »Es ist alles so unübersichtlich ...« »Und das wundert Sie? Es ist doch kaum etwas anderes zu erwarten, solange Leute wie Sie Ihren Einsatz künstlich hinauszögern!« »Erlauben Sie, bitte! Solange ich nichts Genaueres, nichts Bestimmtes weiß ...« »Was denn, was denn!« rief der Hauptmann. »Finden denn bei uns nur Revolten statt, wenn vorher Garantiescheine ausgegeben werden?«
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Der Gefreite Lehmann stand grinsend in der Tür – er hatte das letzte Telefongespräch mitgehört. »Die ersten bekommen bereits kalte Füße – was?« »Es empört mich, Lehmann.« Der Graf von Brackwede sagte das völlig ruhig – nur sein Kinn war leicht vorgereckt. »Dabei habe ich sogar Verständnis dafür, daß uns viele nicht folgen. Jetzt mitzumachen – dazu gehört Mut. Und viel mehr noch als das! Aber erst große Reden führen, heilige Versprechen abgeben, vom wahren Deutschland stottern und dann zögern, sich winden sich verkriechen – das finde ich zum Speien!« »Da Sie gerade von speien sprechen – meine Clique meldet, daß im Kasino großer Andrang herrscht. Vielleicht wollen sich die Herren erst noch ein wenig stärken, bevor sie sich dann mit Entschlüssen beschäftigen.« Der von Brackwede nickte Lehmann dankbar zu. Und hierauf wollte er wissen: »Was steht denn heute auf der Speisekarte?« »Frische Schollen«, sagte der Gefreite. »Ich habe meinem Freund, der Kasinoordonnanz, Anweisung gegeben, für Sie einige davon zu reservieren.« »Fein«, sagte der Hauptmann. Denn auf Speise und Trank legte er Wert – das nicht so sehr, um zu genießen; es gehörte zu seinen Fronterfahrungen: nichts auslassen, was kräftigt – wer weiß, was später kam. Kurz danach bat Oberleutnant Herbert um eine Unterredung. Der Gartenzwerg ging in volle Deckung, als er erschien. Herbert blickte besorgt und berichtete einleitend: »Einige Kameraden und ich haben mehr und mehr den Eindruck, daß hier endlich irgend etwas geschehen muß!« »Dieser Eindruck«, meinte der von Brackwede, »trügt nicht.« »Man muß sich wohl entscheiden.« »Allerdings.« »Aber wofür eigentlich – was meinen Sie?«
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»Ganz einfach, Herbert! Legen Sie entweder Stauffenberg um – oder einen, der Stauffenberg umlegen will.« Der von Brackwede scherzte unbedenklich. »Das wäre eine unmißverständliche Stellungnahme.« Der Oberleutnant Herbert lachte mit Untergebenenherzlichkeit. Doch sonderlich wohl war ihm nicht bei derartigen Spaßen. »Und was, wenn ich fragen darf, Herr Hauptmann, werden Sie tun? Ich würde mich danach richten.« »Ich werde ins Kasino gehen – dort sind für mich Schollen reserviert.« Herbert bedankte sich ergeben und eilte zu seinen Kameraden zurück. Die sahen ihm erwartungsvoll entgegen. »Also, Freunde«, verkündete Herbert, »dieser Brackwede ist doch ein ganz gerissener Bursche! Wißt ihr, was der treibt? Der hört Rundfunk. Und könnt ihr euch vorstellen, was der beabsichtigt? Er will ins Kasino gehen! Dessen Nerven möchte ich haben.« Herberts Kameraden rätselten herum, was das wohl zu bedeuten habe. Sie glaubten feststellen zu können: Dieser Brackwede – der doch in diesem Bau seine Nase in allen Ecken hatte – hielt sich konsequent aus der Schußlinie. »Somit scheint höchste Vorsicht geboten!« Der Oberleutnant Herbert erhielt die Zustimmung seiner Kameraden. Allerdings blieb ihre Parole unverändert: Wachsamkeit! Und: »Das eine oder andere vorsichtige Gespräch mit Parteidienststellen könnte gewiß nichts schaden.« In diesem Augenblick wurde das eintönige Rundfunkgesäusel unterbrochen. Der Graf von Brackwede drehte seinen Apparat auf volle Lautstärke. Und er vernahm – um 10.40 Uhr – vom Deutschlandsender folgende Nachricht: »Auf den Führer wurde heute ein Sprengstoffattentat verübt... Der Führer selbst hat außer leichten Verbrennungen und Prellungen keine Verletzungen erlitten. Er hat
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unverzüglich darauf seine Arbeit wieder aufgenommen ...« Die ganze Nachricht war in knapp fünfzig Sekunden verlesen worden. Darin genannt wurden die Namen von Schwer- und Leichtverwundeten – zusätzlich noch der des Duce und der des Reichsmarschalls. Kein weiterer Name sonst! Kein bestimmter Verdacht wurde ausgesprochen. Der Gefreite blickte fragend den Hauptmann an. Der schaltete den Rundfunkempfänger ab. Er sagte sekundenlang kein Wort. Dann setzte er sich, mit langsamen Schritten zuerst, in Bewegung. Er eilte zu Oberst Stauffenberg. Die gleiche Meldung wurde zur gleichen Zeit auch von Leutnant von Brackwede gehört. Der stand am Volksempfänger im Zimmer der Gräfin Oldenburg-Quentin. Konstantin gedachte sich über die Luftlage zu informieren – und er vernahm die Nachricht vom Attentat auf den Führer. »Daß es Menschen gibt, die so was tun können!« rief er und lauschte weiter. Doch die Stimme des Nachrichtensprechers verstummte plötzlich – Elisabeth hatte den Stecker aus der Leitung gezogen. Und sie sagte fast schroff: »Was geht uns das an! Wir haben jetzt andere Sorgen.« »Erlaube, bitte!« rief der Leutnant Konstantin beunruhigt aus. »Immerhin hat es sich bei dieser Nachricht um den Führer gehandelt!« »Der lebt – angeblich!« Elisabeth bewegte sich auf die Tür zu; und hier blieb sie, leicht vorgebeugt, lauschend stehen. »Was in diesem Hause geschieht, ist im Augenblick für uns viel wichtiger! Man wird versuchen, uns in die Enge zu treiben – das allein sollte dich beunruhigen.« Konstantin schüttelte den Kopf. Er blickte traurig auf die Tür – die war von schmutzigem Braun, abgegriffen und klobig. Das Weiß der Wände schimmerte jetzt grell, die Vorhänge zeigten zerbleichtes Blau, die Möbel waren von verwohnter Schäbigkeit. Und das Bett war jetzt ein Bett – wie tausend
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andere auch. Alles hatte sich verändert. Ein schüchtern wirkendes Klopfen ertönte. Die Gräfin öffnete die Tür. Sie erblickte ein sanftmütiges, fast verlegen wirkendes Knabengesicht: glatt, rundlich, rosig. Dieses Männlein sagte mild: »Erlauben Sie, bitte – mein Name ist Voglbronner. Ich leite hier die Ermittlungen.« »Falls Sie etwa beabsichtigen sollten, hier eine Haussuchung vorzunehmen«, sagte Elisabeth energisch, »dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie dazu eine besondere Erlaubnis benötigen. Nicht wahr, Konstantin?« »Allerdings!« sagte der und stellte sich neben sie. Voglbronner bedauerte, sich derartig unterschätzt zu wissen. Doch er nahm es hin. Er verstärkte sein Lächeln und sagte: »Ich habe keinesfalls die Absicht, Ihnen irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten. Ich weiß schließlich genau, wen ich vor mir habe. Und ich darf versichern, daß ich Hauptmann von Brackwede ungemein schätze – er ist ein ungewöhnlicher Mann.« Der Leutnant glaubte sich erleichtert fühlen zu dürfen. »Und die Gräfin Oldenburg arbeitet auf seiner Dienststelle.« »Ich weiß das alles.« Voglbronner zeigte eine fast ergeben wirkende Höflichkeit. »Ich bin durchaus informiert.« Und plötzlich fragte er schlangenschnell: »Warum befürchten Sie dann aber, daß ich hier eine Hausdurchsuchung vornehmen könnte? Und was, meinen Sie wohl, könnte ich dabei finden?« »Diese Rundfunkmeldung«, sagte der Generaloberst Beck überlegen, »geht uns nichts an.« Er wußte, was in Deutschland Propaganda war. Falschmeldungen gehörten hier seit Jahren schon zum Alltag. Derartige Manipulationen widerten den aufrechten Mann an. Doch Brackwede blieb hartnäckig. »Diese Rundfunkmeldung mag uns nichts angehen – aber sie ist erfolgt. Und sie konnte schließlich nur erfolgen, weil der ›Walküre‹-Plan nicht einwandfrei funktioniert. Die Sender hätten schon seit mindestens einer Stunde von uns besetzt
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sein müssen.« »Eine unbequeme Wahrheit«, sagte Beck und nickte dem Hauptmann anerkennend zu. »Und es war höchste Zeit, daß dies endlich einmal offen ausgesprochen wurde.« Der Generaloberst schien sich nun als das erweisen zu wollen, wofür ihn der Graf von Brackwede hielt: ein alter, doch noch immer gefährlicher Löwe. Er bewegte sich mit schweren Schritten durch den Raum. »Ich bin nicht zufrieden!« rief er unwillig aus. Er blieb vor Olbricht stehen. »Wo bleibt Witzleben?« »Der Generalfeldmarschall ist von Zossen aus hierher unterwegs. Leider scheint sich sein Eintreffen zu verzögern.« »Er hätte hier sein müssen!« knurrte der Löwe. »Doch weiter – wo bleibt der General Lindemann? Der ist doch für eine Rundfunkrede vorgesehen?« »Er ist, leider, nicht aufzufinden.« »Und das Manuskript seiner Ansprache?« »Befindet sich bei ihm.« Der Generaloberst Beck sah grimmig zu Hauptmann von Brackwede hinüber. Worte waren überflüssig. Prompt erfolgte die nächste Frage: »Und warum meldet sich General Wagner nicht?« »Er ist nicht der einzige«, sagte der von Brackwede anstelle von General Olbricht. »Und ich halte das für weiter nicht verwunderlich. Die Gesamtsituation ist nicht übersichtlich genug. Die Reaktionen müssen entsprechend sein. Die einen lassen sich Zeit, andere weichen aus, und wieder andere lassen sich ganz einfach verleugnen.« Beck blieb vor Hauptmann von Brackwede stehen. Seine stahlgrauen Augen musterten ihn kritisch und hoffnungsvoll zugleich wie eine neue Geheimwaffe. Das Gesicht des von Brackwede blieb ausdruckslos; er hatte es lediglich, wie suchend, erhoben. Seine Raubvogelnase wirkte wie eine Herausforderung. »Mit nobler Haltung allein ist hier jedenfalls nicht sonderlich viel
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anzufangen.« Der Hauptmann blickte, wie hinweisend, zu Oberst Stauffenberg. Der stand, zwanzig Meter weiter, durch eine halboffene Glastür getrennt, in Fromms Zimmer. Stauffenberg telefonierte unentwegt – und wieder und immer wieder sagte er: »Keitel lügt ... Hitler ist tot... Die Aktion läuft!« Beck sagte, zu Hauptmann von Brackwede gewendet: »Wenn alle so wären!« Und danach blickte er zu General Hoepner hin. »Die alarmierten Truppen sind hier immer noch nicht eingetroffen!« rief der klagend. »Die SS-Verbände aber auch nicht«, sagte der von Brackwede mit milder Ironie. Stauffenberg aber rief: »Was gehen uns Propagandameldungen im Rundfunk an! Alles Lügen! Wahr ist folgendes: In Paris läuft die Aktion wie vorgesehen. Im Berliner Regierungsviertel sind die wichtigsten Häuserblocks durch das Wachregiment umstellt. Die ersten Panzer sind in der Stadtmitte eingetroffen.« »Und wann fällt der erste Schuß?« fragte der Hauptmann Graf von Brackwede. Im Führerhauptquartier war die von Kaltenbrunner angesetzte und herbeigeflogene Sondergruppe der Geheimen Staatspolizei emsig am Werk: Sprengstoffachleute, Spezialisten für Spuren-Sicherung, routinierte Fahndungsbeamte. Sie traten nach festgelegten Regeln in Aktion. Behutsam schoben sie sich auf den Tatort zu: Sie umringten, immer engere Kreise ziehend, vorsichtig das ihnen zugewiesene Objekt wie Käfersammler. Sie stellten fest: Tatort, engerer, das Lagezimmer, 12,5 m lang, 5 m breit; in der Mitte Kartentisch; an rechter Seite kleiner, runder Tisch; links Schreibtisch und Musikschrank. Raum und gesamtes Mobiliar stark zerstört. Rechts vom Eingang Loch im Fußboden, 55 cm Durchmesser.
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Knappe fünfzig Meter davon entfernt brüllte Hitler durch seinen Wohnbunker. Die sonst vergleichsweise kavaliersmäßig behandelten Sekretärinnen flohen beunruhigt. Allein Bormann hielt diesem Taifun stand. »Ich wünsche«, röhrte der Führer erregt, »jetzt endlich zum deutschen Volk zu sprechen! Warum kann ich das immer noch nicht?« »Ein Aufnahme- und Übertragungswagen aus Königsberg ist unterwegs.« »Und wann, Bormann, wird der hier eintreffen?« Der Reichsleiter hob bedauernd die Hände. Er wußte: bis es zur eigentlichen Sendung kam, konnten noch Stunden vergehen. Doch er sagte das nicht. Er meinte lediglich: »Ich werde natürlich auf äußerste Beschleunigung drängen.« Im Bereich der zertrümmerten Lagebaracke werkten die Spezialisten des Reichssicherheitshauptamtes weiter. Sie fertigten Zeichnungen an, nahmen Messungen vor, füllten Formulare aus. Sie stellten fest: Sprengloch zeigt, daß Sprengkörper oberhalb des Fußbodens detonierte. Untere Druckwelle zerstörte den Fußboden. Obere Druckwelle fand Ausgang durch Fenster, Tür und Zwischenwand. »Mein Führer«, meldete Bormann, sichtlich erleichtert, »der Aufnahmetrupp vom Reichssender Königsberg ist eingetroffen. In einer Viertelstunde etwa wird es soweit sein.« Die Rundfunktechniker arbeiteten angestrengt: Sie installierten ein Mikrofon, legten Kabel aus, überprüften die Tonqualität, erprobten die Aufnahmeapparatur. Sie schwitzten heftig – dabei bewegte sie nicht sosehr die »Größe der Stunde«; sie erkannten vielmehr zwingend: hier ging es um ihre Stellung! »Es kann losgehen, mein Führer«, sagte Bormann. Er rückte den Sessel für Hitler zurecht. Der ließ sich nieder. Die Papiere in seiner Hand flatterten. »Achtung – Aufnahme!« rief Bormann.
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Hitler hatte sich seine Brille aufgesetzt. Er mußte sich dennoch vorbeugen, um die zentimetergroßen Buchstaben der eigens für ihn angefertigten Spezialschreibmaschine lesen zu können. Seine Stimme gurgelte, drohte zu ersticken. »Mikrofon voll aufdrehen«, flüsterte Bormann den Technikern zu. Ein halbes Hundert Meter davon entfernt, schienen einige der Spezialisten von der Gestapo mit ernsthaften Gesichtern Kinderspiele zu betreiben: Sie siebten Sand. Offiziell: Sie führten eine »Durchsiebung der Schuttmassen« durch. Diese führte zur Auffindung von Metall- und Lederteilen sowie Resten einer eisernen Flachzange. Die Metallteile gehörten zu einem Sprengkörper und waren offenbar britischer Herkunft. Zur Verwendung gelangt war ersichtlich ein chemisch-mechanischer Zünder. Die aufgefundenen Lederstücke waren Teile einer Aktentasche – und diese wurde, mit Hilfe von Zeugen, als die des Oberst von Stauffenberg erkannt. »Das muß sofort gesendet werden!« befahl Hitler, nachdem er seinen Aufruf mühsam verlesen hatte. »Sofort senden und mehrmals wiederholen.« Das geschah kurz nach 19.00 Uhr. Hitler zog sich befriedigt zurück. Bormann versicherte ihm: »Das war überaus eindrucksvoll, mein Führer!« Keitel gratulierte. »Das waren überzeugende Worte!« Der Tontechniker meldete erlöst: »Aufnahme steht!« Es sprachen noch Reichsmarschall Göring und Großadmiral Dönitz in das gleiche Mikrofon. Auch sie hatten markante Formulierungen vorbereitet. Bormann überwachte ihre Kundgebungen mit aufmerksamer Geschäftigkeit. »Wann werden wir das senden können?« fragte er. »Baldmöglichst!« erklärte der verantwortliche Rundfunkmann. Das hörte sich vielversprechend an und löste nicht nur Worte der Anerkennung aus – auch eine verschwenderische
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Bewirtung: Bohnenkaffee, Bockwürste und Baumkuchen. Bormann betrachtete die Rundfunkleute hoffnungsvoll. »Das wird hinhauen!« flüsterte er Keitel zu. Doch es sollten noch mehr als fünf Stunden vergehen, bis diese Reden ausgestrahlt werden konnten. Aber so spät sie auch kamen – zu spät kamen sie nicht. »Von mir aus«, sagte Konstantin Graf von Brackwede, aufrecht dastehend, »können Sie diesen Raum ruhig durchsuchen.« »Wirklich?« fragte Voglbronner sanft lauernd. »Warum denn nicht? Schließlich haben wir nichts zu verbergen. – Nicht wahr, Elisabeth?« Sie nickte. Sie vermied es, zur Kommode zu blicken, in deren unterem Schubfach sich wieder des Hauptmanns Aktentasche befand; sie ließ Voglbronner nicht aus den Augen. Der sagte wie nachdenklich: »Warum sollten wir auch komplizieren, was bereits ausreichend geklärt zu sein scheint. Zumindest liegt ein Geständnis vor.« »Wer hat gestanden?« fragte Elisabeth, sich aufmerksam vorbeugend. »Nun – dieser Jude.« Voglbronner seufzte auf – unkenntlich, ob erleichtert oder besorgt. »Er hat gestanden, den Ortsgruppenleiter erschossen zu haben. Herr Jodler hat dafür gesorgt.« »Das ist doch purer Unsinn!« rief die Gräfin Oldenburg. »Ich denke«, sagte Konstantin warnend, »daß uns das nichts angeht.« Voglbronner lächelte. »Ich liebe eine gewisse Gründlichkeit«, erklärte er milde. »Und ich pflege, wenn möglich, nichts zu überstürzen. Dabei darf ich doch wohl zunächst einmal annehmen, daß Ihnen beiden die Existenz dieses Juden in dieser Wohnung unbekannt war?« »Eins zumindest weiß ich ganz genau«, sagte die Gräfin
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Oldenburg-Quentin mit drängender Entschlossenheit, »Frau Wallners Gast kann keinesfalls der Täter sein – denn der konnte in der vergangenen Nacht diese Wohnung gar nicht verlassen. Es existieren nämlich für unsere Flurtüren zwei Schlüssel: Der eine hängt beim Hausverwalter, also bei Jodler, aus Luftschutzgründen – der andere befand sich die ganze Nacht hindurch bei mir. Und die Tür war verschlossen. Das kann ich bezeugen.« »Haben Sie sich das auch gut überlegt?« fragte Voglbronner nachsichtig. »Da gibt es nichts zu überlegen!« Voglbronner sah kurz auf seine Armbanduhr. Eine derartige Abschweifung war ihm nicht unwillkommen: Noch immer fehlten ihm Sturmbannführer Maiers verbindliche Direktiven – also konnte er getrost seine Zeit verschwenden. Er erhob sich und rief einladend aus: »Wenn Sie mich also begleiten wollen ...« »Ich komme natürlich mit!« Der Leutnant stellte sich neben die Gräfin. Die jedoch sagte energisch: »Du hast doch, deinen eigenen Angaben entsprechend, gar nichts damit zu tun! Also bitte – laß mich das allein erledigen.« So blieb denn der Leutnant im Raum zurück. Er fühlte sich unglücklich, verlassen und mißverstanden. Elisabeth hatte sich unendlich weit von ihm entfernt. Von dumpf-dunklen Gedanken gequält, sah er vor sich hin – auf den schmalen samtbraunen Bucharateppich zu seinen Füßen. Dann blickte er, wie magisch angezogen, zur Kommode hinüber – in der, wie er wußte, die Aktentasche seines Bruders lag. Das fahlgewordene Licht des Tages hatte nicht mehr die Kraft, bis dorthin zu kriechen. Doch auf diese Kommode schritt jetzt der Leutnant langsam zu. »Ich habe das bedrückende Gefühl, lieber Brackwede«, gestand der Generaloberst Beck, »daß leider nicht alles
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planmäßig verläuft.« »So gut wie nichts«, erklärte der Hauptmann. Beck zog den Hauptmann in eine Fensternische. Er wußte: mit diesem Mann konnte er offen sprechen – der war wie sein Vater, in dessen Haus der Generaloberst oft und gern verkehrt hatte. Das äußere Bild, diese betont saloppe Lässigkeit, war wohl eine bewußte Täuschung. »Was machen wir falsch, Brackwede?« »Wir behandeln Ratten wie nützliche Haustiere.« Der von Brackwede sagte das mit rücksichtsloser Deutlichkeit. »Wir sollten aber gewisse Kameraden ohne Rücksicht auf jeden Rang dazu zwingen, sich klar zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden. Entweder sie haben eine Ehre – oder sie haben keine!« Beck schritt wieder löwenhaft unruhig durch den Raum. Er lehnte es ab, brutale Forderungen zu stellen. Er ersehnte Vertrauen – und er fand es nicht, nicht in der ersehnten Vollkommenheit. »Ich habe mich kaum jemals zuvor einsamer als in diesen Stunden gefühlt«, sagte er leise. »Ich empfinde das als selbstverständlich, Herr Generaloberst.« Beck streckte, spontan, seinen rechten Arm aus. Er tippte damit gegen die linke Schulter des steif dastehenden Hauptmanns – in herzlicher Vertraulichkeit. Er hatte etwas Derartiges kaum je zuvor in seinem Leben getan. Doch jetzt hatte er vor sich einen Menschen, der ihm wie ein geliebter Sohn vorkommen wollte. »Was kann ich tun, lieber Brackwede, um das, was hier geschieht, in die rechten Bahnen zu lenken?« »Rufen Sie den Generalfeldmarschall von Kluge an«, sagte der Hauptmann drängend. »Versuchen Sie, bei ihm eine Entscheidung zu erzwingen.« »Und wenn auch der sich verleugnen läßt?« »Dann wissen wir zumindest mehr.«
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Beck nickte. Brackwede stellte selbst die Telefonverbindung zum Oberbefehlshaber der Westfront her. Und der Generalfeldmarschall von Kluge meldete sich tatsächlich – innerhalb von wenigen Minuten. »Wie ist die Situation?« fragte er hastig. Beck begann mit exakten, doch umständlich wirkenden Erklärungen. »Bei Kluge«, flüsterte der mithörende Brackwede, »können Sie sich derartige Einleitungen ersparen. Der ist nicht zu überreden, der reagiert nur auf Tatsachen.« Der Generaloberst runzelte die Stirn. Und dann wollte er wissen: »Kluge, ich frage Sie hiermit ganz klar: Billigen Sie die hiesige Aktion und unterstellen Sie sich mir?« Das war deutlich genug. Kluge aber schwieg sekundenlang. »Das«, sagte der Oberbefehlshaber der Westfront schließlich, »ist eine unerwartete Situation. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu versichern, daß sich meine Einstellung bestimmten Erscheinungen gegenüber nicht geändert hat. Dennoch muß ich mich erst noch beraten – ehe ich mich entscheiden kann.« »Fragen Sie, wie lange das dauern wird«, flüsterte der von Brackwede dem starr dastehenden Generaloberst zu. Beck schien blaß geworden zu sein – sonst zeigte er keine Regung. Mit völlig normaler Stimme stellte er die ihm angeratene Frage. »Ich rufe Sie in einer halben Stunde wieder an«, versicherte der Generalfeldmarschall und beeilte sich, dieses Gespräch zu beenden. Der Generaloberst Beck sagte bitter: »Das ist Kluge!« Und mehr war dazu wohl nicht zu sagen. Der Sturmbannführer Maier hatte sich wohlberechnet »abgesetzt«. Nun war er bemüht, sich nach mehreren Seiten abzusichern. In diesen Stunden hatte er sein Hauptquartier bei einer ihm befreundeten Dame aufgeschlagen. Von dieser Sorte Damen existierten nicht wenige. Diese
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jedoch war diesmal allein ihrer Wohnung wegen ausgesucht worden: ihr Haus am Lützowufer lag äußerst günstig – zwischen Bendler- und Prinz-Albert-Straße. Auch Maier gab sich der Hauptbeschäftigung dieses Tages hin – er telefonierte. Dabei lag er auf einem vorzüglich gepolsterten Sofa in weinroter Farbe. Und nicht nur der Hitze wegen hatte er sich wesentlicher Kleidungsstücke entledigt. »Von deinen fünf ausgeprägten Sinnen«, sagte er zu seiner betreuungswilligen Dame, »solltest du jetzt mal einen abschalten Höre nicht mit – beschäftige dich anderweitig.« Maiers Trick bei diesem Telefongeplänkel bestand darin, daß er wohl laufend anrief, selbst jedoch nicht angerufen werden konnte. Er teilte niemandem mit, unter welcher Nummer er zu erreichen war – er behauptete vielmehr bei jedem Gespräch: »Bin gerade unterwegs!« Zunächst befragte er Voglbronner nach dem »Stand der Dinge« am Schifferdamm. Und der berichtete: »Entwicklungsmöglichkeiten in jeder gewünschten Richtung vorhanden.« Er bekam erneut den Befehl: Weiter auf der Stelle treten, keinen Ausweg verbauen. »Und machen Sie ja keinen Fehler, mein Lieber! Was Sie da bebrüten, das kann sich unter Umständen als ganz dicker Brocken entpuppen. Kapiert?« Maiers nächster Gesprächspartner war der Hauptmann von Brackwede. Und ihm gegenüber schlug der Sturmbannführer sanftvertrauliche Töne an. »Nun, mein Verehrtester – wie ist denn dort so die Gefechtslage?« »Kommen Sie her – sehen Sie sich das an!« Die Stimme des Grafen klang optimistisch. »Ein gutes halbes Dutzend Generale haben wir bereits eingesperrt.« »Tatsächlich?« Der Sturmbannführer war überrascht. »Und haben Sie SS-Gruppenführer Piffrader etwa auch vereinnahmt?« Als diese Frage bejaht wurde, empfand Maier sogar so etwas wie Respekt. »Und mich möchten Sie am liebsten wohl
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auch noch einbuchten – was? So als eine Art Faustpfand?« »Ich könnte Ihre Ratschläge ganz gut gebrauchen.« »Die bekommen Sie ja auch – aber nur telefonisch.« Maier lachte rauh auf. »Denn Sie wissen doch: ich bin einer der ersten, der Ihnen zum Sieg gratuliert – oder der Sie schnellstens in die nächste erreichbare Grube fahren läßt. Je nachdem! Wir verstehen uns – was?« Sie verstanden sich tatsächlich – darüber bestand kaum ein Zweifel. Auch dieses Gespräch befriedigte den Sturmbannführer. Er tätschelte das Hinterteil seiner Dame und begann, den nächsten Gesprächspartner anzurufen: den Oberleutnant Herbert – ein besserer Gesinnungskamerad ließ sich zwecks Absicherung wohl kaum finden. Ihn fragte er: »Wie – Sie leben noch? Ich meine: Sie leben auf freiem Fuß?« Herbert ächzte leicht; er sagte: »Hier ist alles völlig unübersichtlich! Können Sie mir nicht raten, was ich machen soll?« »Klar«, sagte Maier, »Zunächst einmal – saufen Sie nicht soviel! Sie sprechen so, als hätten Sie anstelle der Zunge einen nassen Waschlappen im Mund. Sie brauchen aber einen klaren Kopf! Sonst brauchen Sie weiter nichts zu tun als Ihre Pflicht!« »Gewiß, gewiß! Aber was ist darunter, nach Lage der Dinge, zu verstehen – was meinen Sie?« Maiers Vergnügen nahm zu. »Mein Ratschlag ist doch absolut eindeutig – oder? Und ich hoffe, Sie werden sich zu gegebener Zeit daran erinnern, daß ich es gewesen bin, der an Ihr Gewissen appelliert hat. Ich sage jetzt nur noch soviel: Es geht um Deutschland, Mann!« Nachdem dieses Gespräch beendet war, ließ sich der Sturmbannführer mit seiner eigenen Dienststelle verbinden. Einer seiner ersten Helfershelfer, ein Sturmführer, meldete sich. »Gut, daß Sie endlich anrufen – Sie werden hier laufend
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verlangt.« »Nichts kann wichtiger sein als das, was ich zur Zeit unternehme! Ich bin einer höchst gefährlichen Angelegenheit auf der Spur. Es scheint mir sicher, daß wir es mit einer Verschwörung großen Ausmaßes zu tun haben. Unterrichten Sie unverzüglich den Reichsführer von dieser Feststellung! Und für meine Dienststelle gilt der Befehl: Radikal vorgehen! Jetzt kommt es darauf an!« Worauf es ankam, sagte er nicht. Doch nun glaubte er, sich in jeder erdenklichen Weise gesichert zu haben. Mindestens die nächste Viertelstunde gehörte seiner bereitwilligen Dame. Die Posten des Häuserblocks in der Bendlerstraße, regelmäßig vom Wachbataillon Groß-Berlin gestellt, fertigten nach wie vor die Besucher mit lässiger Routine ab. Irgendwelche Sonderbefehle hatten sie nicht erreicht. Lediglich eine Art Verstärkung war kurz nach 16.00 Uhr aufgetaucht – ein Hauptmann zunächst. Der kümmerte sich persönlich um verschiedene, Einlaß begehrende Personen – das zumeist mit den Worten: »Kann passieren.« Das war noch nichts Besonderes. Das war schon einige Male vorgekommen – etwa, wenn der Befehlshaber einen Empfang gegeben hatte oder bei Sonderkonferenzen. Den ersten Hauptmann löste ein anderer Hauptmann ab und diesen ein dritter. Sie waren höflich, wirkten reserviert und schienen genau zu wissen, was sie wollten. Einige Gefreite unterstützten sie. Um 18.50 Uhr fuhr ein Kübelwagen in das Eingangstor. Der Hauptmann salutierte und rief sein stereotypes »Kann passieren!« Der Wachposten gab den Eingang frei. Und der Hauptmann sagte zu seinem Gefreiten: »Oberst Glaesemer.« Der telefonierte mit Cliquenchef Lehmann. Dieser verständigte den Hauptmann von Brackwede. Der meldete General Olbricht: »Der Kommandeur der Panzertruppenschule Zwei, Krampnitz, ist im Anmarsch.«
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»Was will denn Oberst Glaesemer hier?« fragte Generaloberst Hoepner verwundert. »Der müßte doch zu diesem Zeitpunkt ganz woanders sein!« »Wir werden ihn sofort empfangen«, sagte Beck – und das war ein Befehl. Kommandeur Glaesemer blieb im Türrahmen stehen – und blickte überrascht auf die stattliche Versammlung. Er wirkte straff, energievoll und solide – ein Berufsoffizier. Oberst Wolfgang Glaesemer erkannte Beck – ihm gegenüber deutete er eine respektvolle Verbeugung an. Doch er wendete sich nicht an ihn; er schritt auf Olbricht zu. »Darf ich, bitte, den Befehlshaber in einer dringenden Angelegenheit sprechen.« Olbricht verneinte diese Frage höflich. »Generaloberst Fromm ist zur Zeit nicht erreichbar – Sie können sich an mich wenden.« »Jawohl«, sagte der Kommandeur. »Mich hat der Befehl erreicht, die im Plan ›Walküre‹ vorgesehenen Aktionen auszulösen.« »Völlig korrekt«, bestätigte der General. »Und ich kann nur hoffen, Sie haben alle diesbezüglichen Befehle befolgt.« »Nein«, sagte der Oberst Glaesemer offen. Diese lapidare Eröffnung bewegte die Anwesenden heftig – Ausrufe des Unwillens waren vernehmbar. Olbricht vermochte nicht, seine Bestürzung zu verbergen. Allein Generaloberst Beck schien völlig unbeeindruckt. Er trat auf den Kommandeur der Panzertruppenschule Krampnitz zu und fragte: »Warum nicht?« »Ich kann und will dabei nicht mitmachen!« bekannte der Oberst heftig. »Diese ganze Angelegenheit gefällt mir nicht!« Hierauf sagte Beck: »Und wenn ich Ihnen persönlich versichere, Glaesemer, daß ich die Befolgung der Ihnen gegebenen Befehle für absolut ehrenwert erachte?« »Ich kann nicht!« sagte der entschlossen. »Sie werden die Folgen davon tragen müssen!« warnte
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Olbricht. Der Oberst Glaesemer vermochte nichts mehr zu sagen. Ergeben und aufrecht stand er da: Er hatte einen Befehl verweigert – sein Gewissen gebot ihm das. Und diese Verweigerung sprach er offen aus – den Befehlsgebern ins Gesicht! »Falsch, aber seinerseits ehrenwert gehandelt!« entschied der noble Generaloberst Beck. »Ich habe Verständnis für das Verhalten des Oberst.« »Dennoch«, sagte Olbricht, »lassen sich gewisse Konsequenzen nun nicht vermeiden.« Er sah zu Oberleutnant von Haeften hinüber – der nickte: Das Verhaftungskommando stand bereit. »Ich protestiere«, sagte der Kommandeur. »Ihr Protest«, sagte der General Olbricht, »wird zur Kenntnis genommen und sogar schriftlich fixiert – Sie können sich vielleicht später, unter Umständen, darauf berufen.« Der Oberst Glaesemer wurde abgeführt. Er erhielt Unterkunft im vierten Stock. Langsam schien sich die Bendlerstraße in ein provisorisches Gefangenenlager zu verwandeln: Fünf Generale, einschließlich Fromm, saßen dort bereits fest. Dazu SS-Führer Piffrader und dieser Oberst. Stauffenberg, davon unterrichtet, befahl ohne Zögern: »Der Stellvertreter des Kommandeurs von Krampnitz führt den Plan ›Walküre‹ durch! Das gilt ab sofort grundsätzlich für alle ähnlichen Fälle – versagt irgendwo einer, wird sich ein anderer finden lassen. So bitter arm an tatkräftigen Persönlichkeiten, wie hier neuerdings befürchtet zu werden scheint, kann doch Deutschland gar nicht sein!« Der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede kniete sich vor die Kommode. Er erfaßte deren zierliche Bronzegriffe und zog die Schublade heraus. Das tat er behutsam, fast zögernd. Das gelbbleiche Licht des beginnenden Abends fiel auf sein angespanntes Gesicht. Die Aktentasche lag mit der Verschlußseite nach unten. Er
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hob sie heraus und wollte sie an sich ziehen. Einige postkartengroße Stücke Papier hatten sich im Lederumschlag der Tasche verfangen. Sie fielen jetzt zu Boden; Konstantin griff nach ihnen und gedachte, sie wieder in die Schublade zurückzulegen – zu den anderen Papieren, die dort, aufeinandergeworfen, fast bis zum Rand reichten. Doch in halber Bewegung schien Konstantins Arm zu erstarren: Er hatte Fotos in den Händen. Und auf diesen sah er Elisabeth – immer wieder sie. Um Elisabeth waren Gesichter, die er kannte: Die lässige Überlegenheit eines Cäsar von Hofacker; der konzentrierte Ernst des Claus von Stauffenberg; die lächelnde Gelassenheit des geliebten Bruders. Dazu der eichenholzharte Leber, ein sehr väterlich wirkender Beck, der geduldig dastehende Graf von Moltke. »Sie kennt alle«, sagte Konstantin verwundert. »Aber sie hat mir nie etwas davon gesagt! Warum eigentlich nicht?« Ein wenig mühsam kam er dann zu der Erkenntnis: Das alles geht mich wohl nichts an! Doch diese Fotos beschäftigten ihn. Nur zögernd legte er sie zurück. Seine Hände glitten ordnend über die ihm entgegenquellenden Bilder – die ganze Schublade schien gefüllt von ihnen zu sein. Die Aktentasche hatte sie nur vorübergehend zusammengepreßt. Und mitten in diesen Fotos, ganz oben, lag ein geöffneter Brief. Konstantin erkannte ihn sofort: Es war der Brief, den ihm sein Bruder für die Gräfin Oldenburg-Quentin mitgegeben hatte – kaum vierundzwanzig Stunden war das her. Diesen Brief ergriffen seine Finger mechanisch – Konstantins Gesicht spiegelte Nachdenklichkeit und Neugier wider, dann aufschimmernde Unruhe. Entschlossen riß er das Schreiben aus dem Umschlag. Und er las, zunächst ungläubig erstaunt, schließlich mit steigender Erregung: »Es ist soweit ... schicke Ihnen eine Aktentasche und meinen Bruder ... bewahren Sie beides auf ... mindestens
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vierundzwanzig Stunden ... weiß, daß ich mich auf Sie, in jeder Hinsicht, verlassen kann ...« Konstantin ließ die Arme sinken. Das Blatt Papier fiel zu Boden. Alles um ihn schien bleich, erblaßt, wie von mehligem Staub überzogen: der Fußboden, auf dem er immer noch kniete; der Brief, der dicht neben ihm lag; das langsam ersterbende Licht dieses Tages. Und der Leutnant schlug, mit geballter Faust, gegen die Aktentasche – die fiel um und öffnete sich. In der Bendlarstraße versammelte General Olbricht die Offiziere seines Amtes um sich. Fünfunddreißig bis vierzig Mann umringten ihn. Sie standen stumm. »Dieses Unternehmen«, erklärte der General, »kann von ungeahnter Bedeutung sein! Ich sehe mich allerdings noch nicht in der Lage, Ihnen alle Einzelheiten mitzuteilen. Soviel jedoch sollen Sie wissen, meine Herren – in Ihren Händen kann die Entscheidung liegen! Ich verlasse mich auf Sie!« »Das können Sie auch!« rief ein Oberst. Einige der Offiziere nickten. Der stattliche Rest schwieg unbewegt. Olbricht redete auf sie ein. Er redete und redete. »Sie sollten mal kurz ausspannen«, rief währenddessen der Gartenzwerg seinem Oberst zu. Er offerierte ihm eine Zigarre aus sichergestellten Sonderbeständen – Claus griff bereitwillig danach. Es war die letzte Zigarre seines Lebens. »Werden Sie nicht müde?« fragte Lehmann besorgt. »Ich habe drei Telefongespräche mitgehört – mehr und mehr Leute lassen sich ganz einfach verleugnen.« »Man gewöhnt sich daran«, sagte Stauffenberg. »Ich bin darauf gefaßt gewesen.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Vielleicht hätte ich mich gar nicht wohl gefühlt, wenn alles glatt gegangen wäre.« Im Nebenraum verlangte inzwischen, angefeuert durch den Grafen von Brackwede, der Generaloberst Beck den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord der Ostfront zu
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sprechen. Doch der war angeblich nicht zu erreichen. »Auch er läßt sich verleugnen«, stellte Beck fest. Und nun verlor, zum ersten Male, der Graf von Brackwede seine überlegene Ironie. »Scheißkerle!« rief er aus. Der Generaloberst Beck aber bat die Umstehenden zu sich. Er befahl, eine »Aktennotiz« anzufertigen. Gemessen führte er aus: er habe der Nordarmee die Gelegenheit geben wollen, die geliebte Heimat, in diesem Fall Ostpreußen, sinnvoll zu verteidigen. Seine Absicht wäre es gewesen, deutsche Soldaten vor weiteren Irrsinnsbefehlen zu bewahren. Aber das wäre ihm leider nicht gelungen. »Uhrzeit: 19.30 Uhr«, sagte Beck. Das war der einzige registrierte Befehl, den er an diesem Tage gab. Er unterschrieb ihn nicht als »Generaloberst«, sondern lediglich als »General« – den Dienstgrad, der ihm einst von Hitler verliehen worden war, verschmähte er an diesem Tage. Was er in diesem Augenblick wirklich dachte, verriet er niemandem. Er sprach auch keinen Vorwurf aus – er stellte lediglich eine Tatsache fest. Und diese mußte er als besonders bitter empfinden. »Der große Alte steht da wie ein Felsen«, erzählte Brackwede den Obersten Stauffenberg und Mertz. Lehmann übernahm inzwischen die Bedienung eines Telefons. Der Hauptmann setzte sich auf den Schreibtisch des Befehlshabers. »Kein Anblick kann erhabener und besorgniserregender sein, Freunde! Ein edles Roß, das stolz einem Rudel Wölfe gegenübertritt – und weit und breit offenbar niemand, immer noch niemand, der aus vollen Rohren auf dieses Pack feuert!« »Zum Wachbataillon besteht keine Verbindung mehr«, verkündete Lehmann. »Das läßt General von Hase, der Kommandant von Berlin, melden.« »Das kann bedeuten: das Wachbataillon greift endlich an!« »Möglich aber auch«, meinte der Gefreite Lehmann, »daß
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ganz einfach die Telefonverbindungen nicht mehr richtig funktionieren.« Selbst der von Brackwede überhörte diesen Hinweis. Denn der Oberleutnant von Haeften erschien und rief mit freudiger Erregung: »Der Generalfeldmarschall von Witzleben ist eingetroffen! Endlich!« »Ich habe es getan!« sagte der gekrümmt da hockende Mensch hastig. »Ich habe ihn mit einer Pistole erschossen. Ich konnte nicht anders – es war – ein Zwang. Und Einzelheiten weiß ich nicht mehr.« »Er kann es gar nicht getan haben!« behauptete die Gräfin Oldenburg unbeirrt. »Er hat unsere Wohnung in dieser Nacht nicht verlassen.« »Mischen Sie sich nicht ein!« rief Jodler warnend. »Das alles geht Sie doch einen Dreck an! Oder ist das etwa Ihr Jude?« Voglbronner lächelte besänftigend – alles entwickelte sich, wie er fand, recht brauchbar. Der Mann war nur noch ein Wrack und zu jeder gewünschten Aussage bereit. Der junge Jodler spielte unentwegt Rammbock und war nach allen Seiten hin anzusetzen. Und die Hartnäckigkeit der OldenburgQuentin war einfach unbezahlbar – sie ermöglichte es ihm, diese Angelegenheit nach Belieben auszudehnen. »Ich verstehe das alles nicht!« rief Jodler empört. »Da serviere ich hier den Schuldigen wie auf einem Silbertablett, und dessen Aussagen funktionieren auch wie eine Schallplatte – aber das genügt offenbar nicht.« »Weil es nicht der Wahrheit entspricht!« sagte Elisabeth. Der zusammengeschlagene Mensch blickte sie flehend an: »Bitte – Sie schaden sich nur. Und mit mir ist es so oder so zu Ende.« »Nein«, sagte die Gräfin Oldenburg-Quentin mit Festigkeit. »Ich will kein Handlanger für eine mörderische Ungerechtigkeit sein.« »Pfui Teufel!« bellte Jodler. »So benimmt sich doch keine
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deutsche Frau!« Voglbronner war kurz davor, zu gähnen. Wie wichtig sich diese Dreckwelt doch nahm! Was war denn schon ein Jude, dachte er – ein Aspirant mehr für Verbrennungsöfen. Und was hatte denn schon eine Leiche zu bedeuten, auch wenn es zur Abwechslung mal die eines Ortsgruppenleiters war. Und was war Wahrheit oder Ehre oder Gerechtigkeit? – Düngemittel für Staatsernten! Nun gähnte Voglbronner tatsächlich. Er ließ den Mann wieder in den Keller transportieren. Er ersuchte die Gräfin Oldenburg, sich in ihrer Wohnung zur Verfügung zu halten. Sodann beschäftigte er sich mit Jodler. Und dem sagte er: »Ihre KZ-Methoden in Ehren – aber hier sind Sie nicht mit Ihrem Juden allein; hier ist alles, vorläufig noch, wesentlich komplizierter.« »Was denn, was denn?« rief Jodler. »Nehmen Sie etwa Rücksicht auf diese gräfliche Pimpelliese?« Voglbronner ödete es an, alles zu wissen, den Ablauf der Tat und den Täter zu kennen – und dennoch keinen Gebrauch davon machen zu dürfen. So wollte er wenigstens seinen, wenn auch nur mäßigen Spaß haben. »Die Gräfin Oldenburg«, erklärte er Jodler, »behauptet durchaus glaubhaft, daß der Jude die Wohnung nicht verlassen haben kann – sie hatte den Schlüssel. Das ist gar nicht so leicht zu widerlegen – es sei denn, der Jude wäre von einem Zeugen außerhalb der Wohnung zur fraglichen Zeit gesehen worden. Überlegen Sie sich das mal!« Scharführer Jodler schnappte prompt zu; er schluckte diesen Köder glatt. Und er fragte: »Was halten Sie von der Breitstraßer? Die ist in dieser Hinsicht verläßlich – die beschwört alles ...« »Mag sein«, bremste Voglbronner vorsichtig. Das war zu einfach, das würde zu schnell gehen, das versprach auch kein Vergnügen. »Dieses geschwätzige Waschweib ist aber kein überzeugendes Gegengewicht für diese ziemlich raffinierte Adelsstute. Da müssen Sie sich schon um ein anderes
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Prachtexemplar bemühen. Keine halben Sachen mehr, wenn ich bitten darf.« »Na schön – dann will ich mal aufs Ganze gehen«, versprach Jodler. Und gedämpft murrend, nicht an Voglbronner gerichtet, sagte er noch: »Diese Umstände – bei uns in Deutschland!« »Schöne Schweinerei, das!« rief der Generalfeldmarschall von Witzleben mit dröhnender Stimme. Der Hauptmann von Brackwede lächelte entzückt. Sogar der Gartenzwerg neben ihm grinste genußvoll. »Jetzt scheint es ja endlich hier richtig loszugehen!« Erwin von Witzleben war in voller Uniform erschienen – auch seinen Marschallstab hatte er mitgebracht. Der Ausruf »schöne Schweinerei« war sozusagen seine Begrüßungsrede gewesen – noch ehe er von jemandem Notiz nahm. Sein Gesicht leuchtete tomatenrot. Nun erst schien er den Generaloberst Beck zu erkennen. Fast in Paradehaltung schritt er auf ihn zu, verbeugte sich respektvoll und sagte gedämpft: »Ich melde mich zur Stelle!« Feierlicher Händedruck hierauf. Kein Vorwurf von Beck – keine Frage danach, warum der von Witzleben erst so spät hier erschienen wäre. Die Umstehenden atmeten erleichtert auf. »Ich muß schon sagen ...«, dröhnte dann der Feldmarschall wieder auf. »Mir brauchen Sie das nicht zu sagen, Witzleben«, ermahnte ihn Beck mit gemessener Höflichkeit. Der Generalfeldmarschall verstummte und verbeugte sich erneut vor Beck. Die Anwesenden genossen dieses Schauspiel nicht zum erstenmal: Fast alle derzeitigen deutschen Heerführer kamen aus Becks Schule – und seine Schüler waren sie geblieben. Wer jemals unter ihm gearbeitet hatte, hörte niemals mehr auf, ihn zu bewundern. Der Hauptmann von Brackwede flüsterte dem Gefreiten zu: »Hoffentlich bleiben uns feierliche Ehrenerklärungen erspart –
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jede Minute dafür ist besonders jetzt verlorene Zeit!« Lehmann eilte zur Tür, die in das Dienstzimmer des Befehlshabers führte und öffnete sie einladend weit. Witzleben – als Oberbefehlshaber der Wehrmacht vorgesehen – stürzte nun in Fromms Zimmer zu Stauffenberg. Und hier schlug er mit der Faust auf den Tisch, rief: »Ja, zum Donnerwetter noch einmal!« Er spie sozusagen Feuer, kanzelte alles ab, was ihn umstand. Auch Olbricht. Hoepner in Besonderheit. Und Stauffenberg verließ für Minuten seine Telefone und lauschte aufmerksam, leicht vorgeneigt, diesem unerwarteten Vulkanausbruch. »Eine Schweinerei!« rief der Generalfeldmarschall immer wieder. »Hier scheint ja überhaupt nichts richtig zu klappen!« Der Oberst Mertz von Quirnheim sah besorgt, wie sich das Gesicht seines Freundes Stauffenberg verdüsterte. Bereitwillig schob er sich vor – auf Witzleben zu: »Schwierigkeiten, Herr Generalfeldmarschall, sind von uns von vornherein als unvermeidlich angesehen worden.« »Danach frage ich gar nicht!« donnerte der von Witzleben. »Ich frage nach den Erfolgen!« »Dafür benötigen wir eine gewisse Zeit.« »Die haben Sie aber nicht!« »Vereinzelte Aktionen laufen durchaus vielversprechend an«, erklärte der Oberst. »Und die letzten Meldungen scheinen zu bestätigen ...« »Ich will Tatsachen sehen!« Witzleben pochte erregt mit seinem Marschallstab auf den Schreibtisch. »Welche Dienststellen sind besetzt, welche Reichsminister sind verhaftet, welcher Sender ist in unseren Händen – wo bleibt die Entscheidung von Kluge, wie sind die Reaktionen der Ostfront, wie weit ist die Ausschaltung der SS-Verbände gelungen? Nun?« »Es ist noch zu früh, um wirklich greifbare Resultate erwarten zu können.«
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»Es ist acht Stunden nach dem Attentat, meine Herren! Nach unseren Berechnungen aber waren bereits die ersten vier Stunden entscheidend.« »Drei Stunden haben wir verloren.« »Das ist eine Erklärung, keine Entschuldigung. Versager – wohin man auch blickt. Da mache ich nicht mit – das kann keiner von mir verlangen!« Es fand sich auch niemand, der das von ihm verlangte. Stauffenberg war verstummt. Der Oberst Mertz von Quirnheim blickte ratlos vor sich hin. Der Oberleutnant von Haeften stand mit bleichem Gesicht an der Tür. »Bedaure sehr«, sagte der Generalfeldmarschall mühsam zu Beck, »aber unter diesen Umständen ...« »Ich bedaure das auch sehr«, sagte Beck und wendete sich ab. Hierauf verließ Erwin von Witzleben hocherhobenen Hauptes die Bendlerstraße. Seine eindrucksvolle Schaustellung hatte kaum mehr als eine halbe Stunde gedauert. Kurz nach 20.00 Uhr bestieg er seinen Mercedes und ließ sich zu seinem Landsitz fahren – fünfzig Kilometer von Berlin entfernt. Dort sollte er am nächsten Tag verhaftet werden. Der Generaloberst Beck aber sagte: »An die Arbeit, meine Herren – der Aufstand geht weiter!« Der Oberst Claus Graf von Stauffenberg sah dem entschwindenden Feldherrn mit dunklem Auge nach. Dann schritt er zu einem der drei Fenster, an dem schweigend Brackwede stand. Von hier aus blickten sie auf die wie ausgestorben wirkende Bendlerstraße – niemand kam, niemand entfernte sich in diesem Augenblick. Die Hitze lagerte sich träge in den Trümmern. »Ich weiß, was du sagen willst, Fritz.« Stauffenberg schien vor sich hinzusprechen. »Ich kenne alle deine Argumente – und ich verstehe sie auch. Ich glaube jetzt sogar, daß sie richtig sind. Aber ich weigere mich dennoch, die von dir für
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notwendig gehaltenen Methoden anzuwenden. Ich habe auf ein einziges Leben gezielt, auf das von Hitler. Weitere Menschenleben zu fordern, weigere ich mich.« Der Oberst blickte jetzt zur Matthäikirche hin – sie stand etwa einen Kilometer entfernt. In einer Feuernacht war sie freigebombt worden. Ihr burgartiger Spitzturm ragte scharfkonturig in den grauen Himmel. Dicht geschmiegt an diese Kirche, die wie eine Festung Gottes war, lag ein kleiner, enger Friedhof. »Ich glaube«, sagte der von Brackwede, »mit dieser Situation muß jetzt jeder selbst fertig werden – auf seine Weise. Was mich anbelangt, so habe ich immer schon auf eigene Verantwortung gehandelt und werde das auch weiter tun. Du brauchst dich durch nichts, was ich nun zu tun gedenke, belastet zu fühlen. Ich bin von jetzt an meine eigene Widerstandsbewegung.« Stauffenberg lächelte ihn an. »Was ist schon ein Dutzend Generale – verglichen mit dir, Fritz!« »Was – nur ein Dutzend von dieser Sorte?« Der Hauptmann zwinkerte mit seinen graublauen Augen. »Und ich dachte immer, du hast eine gute Meinung von mir.« Der Generalfeldmarschall von Kluge hatte zwei Fernschreiben vor sich liegen. Das eine kam aus dem Führerhauptquartier und war von Generalfeldmarschall Keitel unterzeichnet – das andere stammte aus der Bendlerstraße und trug den Namen des Generalfeldmarschalls von Witzleben. Beide Fernschreiben widersprachen sich völlig. »Was werden Sie tun?« wollte sein Chef des Stabes wissen. »Abwarten«, sagte der von Kluge, »und zunächst einmal zu Abend speisen.« »Und bis dahin?« »Bleibt alles beim alten.« An diesem Abendessen beim Oberbefehlshaber West – in La Roche-Guyon –, dessen Teilnehmer sich gegen 20.00 Uhr
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versammelten, nahmen auch der General von Stülpnagel und Oberstleutnant Cäsar von Hofacker teil; ferner die Generale Speidel und Blumentritt. Die dabei üblichen Formen wurden zunächst vollendet gewahrt. Bevor sie sich in den Speisesaal begaben, sprach Cäsar von Hofacker – etwa fünfzehn Minuten lang. Mit verhaltener Erregung bemühte er sich, alle Argumente zu summieren, die einen Aufstand der Soldaten gegen Hitler zwingend notwendig erscheinen ließen: das Verhalten dieser Untermenschen – die Lage an den Fronten – die Ehre des Soldaten – die Entscheidung des Gewissens – die brennende Sorge um Deutschland... Der Feldmarschall unterbrach den Oberstleutnant nicht – er schien vielmehr aufmerksam zuzuhören. Dabei zeigte er weder Zustimmung noch Ablehnung. Er schwieg. Und dieses Schweigen war eine drückende Last. Schließlich sagte er lediglich: »Ja, meine Herren, eben ein mißglücktes Attentat!« Cäsar von Hofacker blickte fassungslos auf den Oberbefehlshaber. General von Stülpnagel verfärbte sich sichtbar. Die übrigen Anwesenden vermieden es, sich in die Augen zu sehen. »Darf ich zum Essen bitten, meine Herren!« sagte der von Kluge ungerührt. Sie begaben sich »stumm und bleich« in den Nebenraum. Hier saßen sie wortlos da. »Es war«, berichtete ein Augenzeuge, »wie in einem Totenhaus.« »Lehmann, mein Lieber«, sagte der von Brackwede, »ich gedenke, einen kleinen Ausflug zu unternehmen.« »Und wie stellen Sie sich das vor?« »Ganz einfach – ich setze mich in einen Wagen und lasse mich zur Kommandantur von Berlin fahren. Dort scheint dringend jemand gebraucht zu werden, der kräftige Antreiberdienste leistet – und dieses Vergnügen möchte ich mir gern gönnen.«
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»Und nun soll ich wohl einen Wagen flottmachen – was?« Der Gefreite Lehmann blickte verwundert. Dann berichtete er: auf den Straßen südlich des Tiergartens waren erste Trupps schwerbewaffneter Soldaten und vereinzelte Panzer sichtbar geworden. »Vermutlich haben die das Regierungsviertel verlassen und schrauben sich nun langsam auf die Bendlerstraße zu.« »Und wenn schon!« rief der von Brackwede. »Ein Grund mehr, möglichst schnell noch einzugreifen!« »Nun – wenn Sie sich unbedingt auf diese Weise amüsieren wollen...« Lehmann beendete diesen Satz nicht. Er begann zu telefonieren. Das tat er mit angestrengt wirkendem Gesicht. Nach knapp drei Minuten erklärte er: »Was ich vermutet habe – im Augenblick steht hier kein einziges Fahrzeug zur Verfügung.« »Das ist doch nicht möglich, Lehmann!« »Das ist – leider – eine Tatsache. Und es ist nur eine von vielen, die reichlich kurios sind. Lediglich sechs Fahrzeuge insgesamt standen hier in Bereitschaft – und die sind alle unterwegs. Wer weiß, wann wieder eins davon greifbar sein wird.« »Scheiße!« sagte der von Brackwede schlicht. »Sagen Sie das nicht«, rief der Gartenzwerg. »Auf diese Weise bleiben Sie uns erhalten. Denn wer weiß, was Sie sonst alles womöglich versäumen würden – der Zirkus geht doch hier erst richtig los!« »Nun – was macht die Hintertreppenfront?« wollte der Sturmbannführer Maier von Voglbronner wissen. Maier war in guter Laune – und das nicht nur der Dame wegen, bei der er Bereitschaftsstellung bezogen hatte. Vielmehr funktionierten bisher alle Kontakte ausgezeichnet. Das aber bedeutete: noch brauchte er sich nicht festzulegen – alle Möglichkeiten standen offen. »Hier läuft alles bestens«, versicherte Voglbronner. »Sie scheinen ja reichlich munter zu sein«, meinte der
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Sturmbannführer leicht verwundert. »Was macht Sie denn so sicher?« »Ich kann, Herr Sturmbannführer, so ziemlich alles liefern, was gebraucht wird – soweit das in meinem bescheidenen Rahmen überhaupt möglich ist.« »Woher wollen Sie denn wissen, Voglbronner, was ich brauche?« »Ganz gleich was, Herr Sturmbannführer – ich habe hier so ziemlich jede eventuell benötigte Sorte auf Lager.« Maier horchte sichtlich auf. »Also los – machen Sie mal ein paar Angebote!« »Also erstens: ein toter Ortsgruppenleiter. Einwandfrei ermordet.« »Von wem?« »Vermutlich von seinem eigenen Sohn – einem Scharführer der SS-Einsatzgruppen. Einer Polin wegen.« »Nicht schlecht«, meinte Maier. Hier bot sich eventuell ein Tauschobjekt im Rahmen des Reichssicherheitshauptamtes an – verpflichtende, auf Gegenseitigkeit beruhende Amtshilfe. »Weiter, Voglbronner.« »Außer einem Studienrat und einem Schnüffelweib, die aber mehr Abfälle oder Zugaben sind, könnte ich eine angebliche Braut des Polizeipräsidenten anbieten.« »Schau mal an!« rief der Sturmbannführer anerkennend. »Und worauf könnten Sie diese Dame festleimen?« »Ein Verhältnis mit dem Sohn des Ermordeten, also dem möglichen Mörder, scheint nicht ausgeschlossen – daraus ließe sich dann ein Verdacht auf Beihilfe, zumindest, konstruieren.« »Kompliment, Voglbronner. Fehlt jetzt nur noch, daß Sie auch dem jungen Brackwede und der Gräfin Oldenburg einiges anhängen können.« »Kann ich, Herr Sturmbannführer! In der Wohnung, in der beide übernachtet haben, ist ein Jude versteckt gehalten worden. Somit käme Mitwisserschaft in Betracht – hinzu kann
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Irreführung der Behörden kommen, Verdacht auf falsche Aussagen; selbst staatsgefährdende Betätigung ließe sich fixieren.« »Ahnen diese Tauben schon von Ihrem Glück?« »Nicht im geringsten! Sie geben sich völlig naiv – die können sich gar nicht vorstellen, über welche Möglichkeiten wir verfügen. Die glauben offenbar immer noch an so eine Art Lesebuchgerechtigkeit..« »Dann lassen Sie diese Naivlinge bei ihrem Glauben – bis auf weiteres jedenfalls. Schmoren Sie dort auf kleiner Flamme weiter – den ganzen Verein. Solange Sie keinen anderen Befehl von mir direkt bekommen. Im übrigen, mein lieber Voglbronner: das nenne ich ganze Arbeit. Und was jetzt auch immer kommen sollte – wenn Sie nichts falsch machen, können Sie Ihrer Beförderung kaum noch entgehen. Gemeinsam mit mir.« Der Oberleutnant Herbert begab sich treppabwärts zu einer geheimen Besprechung. Im unteren Keller sollte er einen Kameraden von der Nachrichtengruppe treffen. Es handelte sich – wie gesagt wurde – »um eine mögliche Koordinierung gleicher Bestrebungen«. Herbert war bemüht, ein harmlos-biederes, möglichst unauffälliges Gesicht zu zeigen. Das gelang ihm. Unbeachtet durchschritt er die Korridore – an Offizieren vorbei, die in Gruppen herumstanden, jedoch kaum noch sprachen. Sie bevölkerten auch die Treppenflure und versammelten sich im Hof. Noch waren die meisten von ihnen »einer grundlegenden Veränderung« gegenüber nicht ablehnend eingestellt. Doch existierten bereits auch ».warnende Stimmen«. »Da bin ich«, sagte der Oberleutnant Herbert und schritt auf den Abgesandten der Nachrichtengruppe des Dr. Röhrig zu. Sie reichten sich die Hände. Dann zogen sie sich in eine Nische zurück. Hier versicherten sie beide – mit der geboten erscheinen den Vorsicht –, daß sie diese Begegnung begrüßten. Dieser große Augenblick war allein der kleinen Molly
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Ziesemann zu verdanken. Ihr war es gegeben, an dieser Menschenfalle der Weltpolitik auf ihre Weise nicht einmal ganz unerheblich mitzubasteln. Sie, die derzeitige Braut und Mitarbeiterin des Oberleutnants Herbert, hatte einstmals selbst im Nachrichtenkeller der Bendlerstraße gearbeitet – sogenannte zarte Bande knüpften sich immer noch dorthin. So war es gekommen, daß sie zu einem wichtigen Bindeglied dieser beiden Gruppen wurde. »Ich kann nur hoffen«, sagte Herbert, »daß ihr dort unten besser über alle Vorgänge informiert seid – wir tappen sozusagen im dunkeln.« »Sind Sie für oder gegen den Führer?« wollte der Unterhändler der Nachrichtengruppe offen wissen. »Was für eine Frage!« Herbert richtete sich in edel gedachter Empörung auf. »Schließlich bin ich hier der verantwortliche Offizier für nationalsozialistisches Gedankengut! Damit bin ich ein erklärter Offizier des Führers!« Und übergangslos flüsternd, intern-vertraulich, meinte er: »Aber der Führer soll tot sein. Zumindest ist nicht alles einwandfrei klar.« »Der Führer lebt! Und was hier in diesem Hause betrieben wird, das ist Hoch- und Landesverrat.« »Menschenskind – sind Sie sicher?« »Absolut sicher.« Herbert schien zu erbeben. Seine Haut glänzte schweißig – er wischte sich mit dem Ärmel über die nasse Stirn. »Was gedenken Sie zu tun?« fragte der Nachrichtenunterhändler. »Ich bin da, natürlich, nicht völlig unvorbereitet«, sagte Herbert schwer. »Ich habe mich vorsorglich sogar auf das Unmögliche eingestellt – ich habe Waffen vom Zeughaus angefordert.« »Vor Stunden schon – wir wissen das. Aber diese Waffen kommen nicht. Und wenn sie hier sind – wie gedenken Sie sie anzuwenden?«
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»Sie wissen das also? Sehr gut, sehr gut! Dann sind Sie mein Zeuge!« Der Oberleutnant straffte sich. »Sobald diese Waffen kommen, werden wir hier aufräumen. Sind Sie tatsächlich sicher, daß Hitler noch lebt?« »Wir handeln bereits seit Stunden entsprechend.« Der Widerstand gegen den Widerstand hatte sich im Nachrichtenkeller der Bendlerstraße beträchtlich verstärkt. Der Leutnant Röhrig, sein Feldwebel und weitere ergebene Soldaten und Helferinnen leisteten ganze Arbeit: Sie begannen bereits, frühere Fernschreiben für ungültig zu erklären; sie überwachten alle Telefongespräche von Stauffenberg und seinen Freunden; sie hatten jetzt sogar eine Dauerverbindung zum Reichssicherheitshauptmann hergestellt. »Nunmehr bin auch ich fest entschlossen«, versicherte der Oberleutnant Herbert. »Ich wünsche, meine Wohnung aufsuchen zu dürfen«, begehrte der Generaloberst Fromm. »Dort gedenke ich, mich schlafen zu legen.« Friedlich erscheinend, saß er da. Er hatte seine belegten Brote verzehrt und die dazu servierte Flasche Rotwein leergetrunken. Die drei ebenfalls festgesetzten Generale – die Chefs der Amtsgruppen – umringten ihn wortlos. Auch sie waren großzügig vom Kasino aus versorgt worden. »Ich bin bereit«, erklärte Fromm, »mein Ehrenwort in jeder gewünschten Form dahingehend zu geben, daß ich meine Festnähme, solange sie dauert, respektiere.« Dieses Angebot wurde von dem bewachenden Offizier weitergeleitet. Es erreichte Olbricht, Hoepner und Beck. Die hielten eine kurze Besprechung ab. Das zugesagte Ehrenwort des Befehlshabers machte Eindruck. Generaloberst Beck nahm keine Stellung dazu. Olbricht erklärte sich für nicht zuständig. Hoepner meinte: »Auf diese Weise sind wir ihn wenigstens los. Denn Fromm sozusagen dicht am Genick zu wissen, ist ja nicht gerade ein wohltuender Gedanke.«
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»Also gut«, sagte Olbricht widerstrebend. Damit wurde Fromm gestattet, die mit seinen Diensträumen verbundene Wohnung aufzusuchen. Das von ihm angebotene Ehrenwort wurde als verbindlich angenommen. Fromm erhob sich wortlos, ersuchte seine drei Generale, ihn zu begleiten, nickte dem bewachenden Offizier nicht ohne Wohlwollen zu – und entschwand. Doch damit war der Generaloberst Fromm in seinem eigentlichen Fuchsbau angelangt, den er besser kannte als seine Bewacher. »Meine Herren«, sagte er nun zu seinen Generalen, »jetzt werden wir handeln.« Die Chefs der Amtsgruppen standen stumm – zu ungeheuerlich war für sie alles, was mit ihnen geschehen war. Fromm aber sagte: »Ich bleibe hier – auf meinem Posten. Nicht etwa eines Ehrenwortes wegen, das ich praktisch gar nicht gegeben habe. Abgesehen davon, daß es ungültig gewesen wäre – Verrätern gegenüber. Vielmehr gedenke ich hier abzuwarten, bis ich wieder meine volle Handlungsfreiheit erlange.« Er fand volles Verständnis. Das erfreute ihn und gab ihm weiteren Mut. »Sie aber, meine Herren, alarmieren die Truppe!« Er ersuchte die drei Generale, ihm zu folgen. Er schleuste sie über eine Hintertreppe zu seinem Sonderausgang hin – zu einer schmalen gläsernen Tür rechts von der Eingangshöhle. Nur er allein besaß den Schlüssel dazu. Sie war unbewacht. »Ich erhoffe baldiges rücksichtsloses Eingreifen. Sie haben dafür jede erdenkliche Vollmacht von mir. Ich warte auf Resultate!« »Herr Hauptmann«, rief der Oberleutnant Herbert atemlos, in das Dienstzimmer des von Brackwede hineinstürmend, »es steht jetzt fest, daß hier Hochverrat vorliegt!« »Von wem haben Sie das?« fragte der Graf und setzte sich das Monokel über sein sehgeschwächtes linkes Auge.
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»Aus ganz sicherer Quelle!« »Nun – dann wird es wohl stimmen«, meinte der von Brackwede fast heiter. »Mich wundert eigentlich nur, daß Sie so lange gebraucht haben, um das herauszufinden.« »Sie wissen davon?« fragte Herbert verblüfft. »Allerdings.« »Das verstehe ich nicht! Warum tun Sie nichts dagegen?« »Was denn etwa – zum Beispiel, mein Lieber?« »Nun – dagegen müßte man doch wohl mit Waffengewalt vorgehen! Meinen Sie das nicht auch?« Der von Brackwede lächelte nachsichtig. »Ihr Eifer, lieber Herbert, in allen Ehren. Und das Vertrauen, das Sie mir entgegenbringen, rührt mich geradezu. Aber ich kann Ihnen nur raten: lassen Sie sich niemals dazu verleiten, Ihren Verstand leichtfertig auszuschalten.« »Wie, bitte, Herr Hauptmann, soll ich das verstehen?« »Wortwörtlich. Denken Sie dabei an folgende Möglichkeit: Eine Revolte, ein Staatsstreich, ein Aufstand – wie immer Sie das nennen wollen – wird tatsächlich unternommen. Was aber dann, wenn das Vorhaben gelingt?« Herbert schien gegen eine Mauer geprallt zu sein. Wie benommen stand er da. Nahezu hilfesuchend blickte er auf seinen Hauptmann. Der aber sagte weiter: »Nehmen wir an, dieser Aufstand ist ein Schlag ins Wasser. Gut – dann weiß man auch, wer Hochverrat betrieben hat. Gelingt dieser Aufstand jedoch – dann wird es automatisch eine andere Sorte von Hochverrätern geben. Wollen Sie leichtfertig dazu gehören?« Der Oberleutnant schüttelte fast automatisch den Kopf. Nein – das wollte er nicht! Die verwirrendsten Gedanken brodelten in seinem Schädel. »Verflucht – was soll ich denn nun tun?« »Abwarten, mein Guter... Was denn sonst?« Damit hatte der Graf von Brackwede die Herbert-Gruppe erneut lahmgelegt – zumindest für die Dauer der nächsten
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Stunde. Dann erst kamen die Waffen vom Zeughaus. Gegen 21.00 Uhr gab der Generalfeldmarschall Keitel – vom Führerhauptquartier aus – folgenden Funkspruch »an alle Befehlshaber«: »Der Führer hat mit sofortiger Wirkung den Reichsführer SS Himmler zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt... Befehle von Fromm, Witzleben oder Hoepner sind ungültig.« Dieser Funkspruch erreichte auch, nur wenige Minuten später, die Bendlerstraße. Der Leutnant Röhrig hielt ihn triumphierend in den Händen. »Jetzt ist alles klar!« rief er aus. »Sollen wir diesen Befehl bevorzugt behandeln?« fragte der Feldwebel. »Selbstverständlich! Wir jagen ihn, so schnell wie nur möglich, in alle Richtungen.« »Und die Befehle von oben?« Damit waren die Fernschreiben und Funksprüche von Olbricht, Stauffenberg und Mertz gemeint. »Wie gehen wir da weiter vor?« »Die«, antwortete der Leutnant Röhrig, »bleiben von nun an alle einfach liegen!« Kerzen brannten auf dem Tisch, an dem der Generalfeldmarschall von Kluge mit seinen Gästen saß – der General von Stülpnagel und Oberstleutnant Cäsar von Hofacker unter ihnen. Sie speisten schweigend – sie saßen da »wie versteinert«. Der Generalstabschef berichtete: bei St. Le und Caen fänden blutige Kämpfe statt. Nachschub werde dringend angefordert – doch keinerlei Reserven stünden mehr zur Verfügung. »Die Front muß zusammenbrechen.« Der Oberbefehlshaber schien diese Nachrichten nicht zu hören. Er trank seinen Kaffee. Das Kerzenlicht umflackerte unruhig sein tief nachdenklich wirkendes Gesicht. Die Menschen seiner Umgebung glaubten: noch, noch immer nicht, habe er sich endgültig entschieden. »Darf ich um eine Unterredung unter vier Augen bitten?« verlangte der General von Stülpnagel.
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Sie fand in einem Nebenraum statt. Und hier erklärte der General: »In diesem Augenblick werden in Paris der SD, die SS und die Gestapo entwaffnet, festgesetzt und vor ein Kriegsgericht gestellt.« »Nein«, sagte der von Kluge tonlos, »das können Sie nicht wagen.« »Ich habe vollendete Tatsachen geschaffen. Ich konnte nicht anders handeln, Herr Generalfeldmarschall. Sie müssen jetzt die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen.« »Davon«, rief Kluge empört, »hätte man mich vorher verständigen müssen! Da mache ich nicht mit.« Und hastig fügte er hinzu: »Ich enthebe Sie Ihres Amtes!« Kluge hatte erhebliche Mühe, sich zu beherrschen. Er schritt erregt zur Tür, blieb dort sekundenlang regungslos stehen, kam dann zurück und sagte zu General Stülpnagel ungehalten und vertraulich zugleich: »Bringen Sie sich in Sicherheit – versuchen Sie zu fliehen.« »Das kann ich nicht!« »Sie haben nur noch diese Möglichkeit, Stülpnagel!« »Nicht – wenn auch Sie jetzt allein Ihrem Gewissen folgen!« »Ich trage«, sagte der von Kluge schwer, »die Verantwortung für mehrere hunderttausend Soldaten – wer will mir die abnehmen?« »Versuchen Sie, weit darüber hinaus, an Deutschland zu denken!« »Auf Abenteuer lasse ich mich nicht ein. Das ist mein letztes Wort in dieser Sache. Sie alle haben meine tiefste Sympathie – keinesfalls meine Zustimmung. Oder muß ich noch deutlicher werden?« »Nein«, sagte der General von Stülpnagel sich abwendend. »Ja«, rief der von Kluge heftig, »wenn dieses Schwein tot wäre!« Kurz danach unterschrieb der Generalfeldmarschall einen Ergebenheits- und Glückwunschfunkspruch an seinen Obersten Befehlshaber: »... der von ruchloser Mörderhand
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unternommene Anschlag auf Ihr Leben, mein Führer, ist dank einer gütigen Vorsehung mißlungen... beglückwünsche ich Sie und versichere Sie, mein Führer, meiner unwandelbaren Treue, was auch immer kommen mag...« Was auch immer kommen mag! Elisabeth Gräfin Oldenburg-Quentin sah die geöffnete Aktentasche – die stand auf dem Tisch. Sie sah auch die herausgezogene untere Schublade der Kommode und die Fotos, die dort lagen. Den Leutnant von Brackwede schien sie nicht sehen zu wollen. Sie schloß die Tür hinter sich, ging auf einen Stuhl zu und ließ sich nieder. Ihr Lächeln war bitter – sie schien erschöpft und schloß die Augen. Konstantin sagte gedehnt: »Ich mache dir natürlich keinerlei Vorwürfe.« »Warum auch?« sagte Elisabeth mit überraschender Festigkeit. Sie öffnete wieder die Augen und betrachtete ihn, als sehe sie ihn zum erstenmal. Er stand mitten im Raum. Sein Ritterkreuz leuchtete mild im späten Abendlicht. Sein jugendliches Gesicht schien jetzt von fast greisenhafter Schärfe in den Konturen zu sein. Mitleid für ihn überflutete sie. »Es gibt wirklich nichts, was du mir vorwerfen könntest«, sagte sie – doch ihre Stimme klang brüchig und schwach. »Bitte – was beunruhigt dich?« »Nichts«, sagte Konstantin hart. Elisabeth hob ein wenig die Hände, ihm entgegen – sie fielen kraftlos zurück. Sie ließ ihren Körper gegen die Lehne des Stuhles sinken. »Sind es die Fotos?« fragte sie mühsam. »Nein«, sagte er. »Diese Bilder sind ganz allein deine Angelegenheit.« »Gut.« Elisabeth schien ein wenig erleichtert. »Was ist es dann, Konstantin? Der Inhalt der Aktentasche?« »Nein«, sagte er gleichermaßen mechanisch. »Damit habe
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ich nichts zu tun. Und was mein Bruder damit zu tun hat, ist seine Sache. Außerdem bin ich nach wie vor überzeugt davon, daß mein Bruder ein Ehrenmann ist...« »Das ist er wirklich«, versicherte die Gräfin Oldenburg heftig. Sie richtete sich auf. In den bleichen Himmel des versinkenden Tages mischten sich fahlrote Farbstreifen der untergehenden Sonne. Sie ließen das schmale Zimmer in fleckigem Rosa aufleuchten. Konstantins Gesicht erglühte wie im Fieber. Er hielt ihr den Brief ihres Bruders hin. Seine Hand schien zu zittern. Das Papier darin flatterte kurz wie Taubenflügel. »Ist es das?« fragte sie. »Ja«, sagte er. Und da sie den Brief nicht nahm, ließ er ihn auf den Tisch vor sich fallen – dicht neben die Aktentasche. »Das alles war gestern«, sagte Elisabeth leise. »Und seitdem ist vieles geschehen. Alles! Begreifst du denn das nicht, Konstantin?« »Doktor«, sagte der von Brackwede zu seinem Freund Eugen G., »ich habe dich zu mir gebeten, um dir einen Vorschlag zu machen – dir und Lehmann.« Sie saßen im Dienstzimmer des Hauptmanns. Aus dem Radioapparat plätscherten die üblichen stimmungsfördernden Weisen der großen und kleinen Unterhaltungsorchester, der Tanz- und Salonkapellen, der Volks- und Militärmusiker. »Wenn Sie anfangen, Vorschläge zu machen«, meinte Lehmann, »dann werde ich immer leicht mißtrauisch. Am besten, Sie zeigen gleich ganz offen den dabei vorhandenen Pferdefuß.« »Nun gut, Freunde – ich bin dafür, daß ihr einen kleinen Abendspaziergang unternehmt.« »Ohne Sie?« wollte der Gefreite wissen. Der Doktor blickte verwundert. »Soll das etwa heißen, daß wir uns in Sicherheit bringen sollen?« »So ungefähr«, sagte der von Brackwede. »Ihr werdet sozusagen zwecks Aufbewahrung abkommandiert. Lehmann
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kennt den Weg hier hinaus.« »Den zeige ich auch Ihnen gern, Herr Hauptmann.« »Ich komme nach.« »Wir gehen alle drei zusammen – oder gar nicht«, erklärte der Doktor unbeirrbar. Der von Brackwede erhob sich, um zum Rundfunkapparat zu gehen: denn der schwieg plötzlich. Der Hauptmann betrachtete seine Freunde mit glitzernden Augen. »Lehmann könnte ich ja zur Not einen Befehl geben...« »In dem Augenblick«, warf er ein, »wäre ich wieder Kranführer im Westhafen – und damit ein Zivilist.« »Unverbesserlicher Spaßvogel«, sagte der von Brackwede. »Dir jedenfalls, Eugen, darf ich folgende Fragen stellen: Welche Tätigkeit übst du hier aus? Keine! Welche Funktion ist für dich, an diesem Tag, vorgesehen? Keine! Was glaubst du hier tun zu können? Nichts! Also?« »Ich bin hier – das genügt.« Der Doktor sagte das nicht ohne Verlegenheit. »Und ich will in diesen Stunden nirgendwo anders sein.« Der Hauptmann wandte sich ab – dem Radioapparat zu. Ein Sprecher des Deutschlandsenders verkündete: »In Kürze wird der Führer zum deutschen Volk sprechen!« Und dieser Text wurde mehrmals wiederholt. »Es ist wenige Minuten nach einundzwanzig Uhr«, sagte der Gefreite Lehmann, auf seine Armbanduhr blickend. »Nun?« fragte der Hauptmann lauernd. »Immer noch nicht Veranlassung genug, den von mir angeregten Spaziergang zu unternehmen?« »Es ist wirklich höchste Zeit«, meinte der Gartenzwerg grinsend. »Nämlich: höchste Zeit für das Abendessen – die für uns reservierten Schollen werden sonst kalt.« »Das«, sagte der Hauptmann, »ist mein Vorschlag Nummer zwei.« »Ich habe zwar nicht den geringsten Appetit«, gestand Eugen G., »aber diesen Vorschlag nehme ich an.«
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»Also los, Freunde!« Der Graf von Brackwede schritt zur Tür. »Und was deinen Appetit anbelangt, Doktor, darüber solltest du dir die geringsten Sorgen machen – ich esse bereitwillig für Zwei.« »Aber ich bin schließlich auch noch da«, bemerkte Lehmann. »Wo bleiben die Vollzugsmeldungen!« rief Hitler in seinem Befehlsbunker erregt. »Sie müßten schon längst eingetroffen sein! Gibt es denn nur noch Verräter und Versager in meiner Umgebung?« Er hatte wieder eine seiner dunklen Stunden. Der Rausch, von der Vorsehung abermals verschont worden zu sein, war schnell verflogen. Nach dumpfen, ziellosen Anklagen war Siegeszuversicht durchgebrochen. Doch auch die hatte nicht vorgehalten. Düstere Zweifel fielen nun über ihn her. »Was habe ich nicht alles für diese Generale getan – und was ist der Dank?« »Die Partei«, versicherte Bormann, »ist völlig intakt.« »Bei der Wehrmacht«, behauptete Keitel besänftigend, »handelt es sich nur um eine ganz kleine Gruppe – sie wird bald ausgeschaltet sein.« Nur noch sie beide – der Reichsleiter und der Generalfeldmarschall des Führers – umgaben Adolf Hitler. Die anderen hielten sich in den sogenannten Gesellschaftsräumen auf. Hier jedoch wurde fieberhaft gearbeitet. »Warum meldet sich Fromm nicht? Fromm soll sich sofort melden! Ich will ihn sprechen!« »Es ist versucht worden, mit dem Generaloberst Verbindung aufzunehmen«, meldete Keitel. »Bisher vergeblich.« »Diese Bendlerstraße, dieses Brutnest für Hochverräter, muß ausgenommen werden!« Hitler rief das in den Raum hinein – seine Stimme hallte von den Bunkerwänden wider. »Warum ist das noch nicht geschehen? Ist Artillerie aufgefahren? Rollen Panzerverbände an? Von mir aus kann man diesen Saustall dem Erdboden gleichmachen!«
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»Alle SS-Verbände im Raum Groß-Berlin sind bereits alarmiert«, konnte Bormann berichten. »Obergruppenführer Müller von der Gestapo leitet diese Aktionen persönlich. Auch Skorzeny ist inzwischen planmäßig eingetroffen – er soll in Vertretung Himmlers die Befehlsgewalt in der Bendlerstraße übernehmen.« »Wann aber – wann?!« Der Führer betrommelte seinen Schreibtisch. »Und was macht Remer? Weiß er, daß ich ihn zum Oberst ernannt habe?« »Er weiß es«, versicherte Keitel. »Nach letzten Meldungen ist das Wachbataillon vom Regierungsviertel abgezogen und in Richtung Bendlerstraße in Marsch gesetzt worden. Oberst Remer hat den General von Hase, den Wehrmachtkommandanten von Berlin, verhaften lassen.« »Hat er dieses Schwein an die Wand gestellt?« »Er hat den General dem Reichsminister Goebbels übergeben – dort wurde er festgesetzt.« Keitel setzte seinen Bericht hastig fort. »Ein General Herfurth, Chef des Stabes bei General Kortzfleisch, hat fernmündlich erklärt: es handele sich um einen Militärputsch – doch habe er die Zügel fest in der Hand.« Der Führer blickte starr vor sich hin. Ihn drängte es danach zu fragen: Wer ist Herfurth? Eine derartige Frage jedoch hätte an seinem vielgerühmten »phänomenalen Gedächtnis« zweifeln lassen. Das wollte er vermeiden. Dieser Generalmajor Otto Herfurth gehörte zu den Mitverschworenen. Er glaubte, sich rechtzeitig und wirkungsvoll tarnen zu müssen – er schirmte sich ab, er schaltete scheinbar um. Das taten andere auch. Nicht wenige von ihnen starben dennoch. »Hat Remer Format genug, um dieser Situation gewachsen zu sein?« Diese Zweifel konnte Keitel zerstreuen. »Ich habe den neuernannten Oberst dem altbewährten General Reinicke unterstellt.« Das aber war eine gute Wahl: Reinicke galt als exakt funktionierender Endsiegmensch von bestem
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großdeutschem Zuschnitt. »Er führt das Kommando bei den Absperrungen der Bendlerstraße.« »Na gut, gut!« sagte Hitler drängend. »Reinicke soll sich beeilen – und radikal vorgehen. Aber die Haupträdelsführer, diese Untermenschen, die will ich lebend haben – die will ich selbst verrecken sehen.« »Es scheint entschieden zu sein«, sagte der Polizeipräsident von Berlin, Wolf Heinrich Graf von Helldorf. Er traf diese Feststellung mit Bitterkeit, doch in gelassen wirkender Haltung. »Offenbar sind wir am Ende.« Das sagte er zu seinem Freund Hans Bernd Gisevius. Der, ein Regierungsrat, war eine Art Globetrotter der Anti-HitlerVerschwörung. Er verfügte über beachtliche Auslandsbeziehungen. Er war ein konspirativer Geist, der seit elf Jahren unter den Gegnern des Nationalsozialismus Unruhe erzeugte und Antriebskräfte freilegte. Er weigerte sich beharrlich, das Spiel aufzugeben. Zuviel an Zeit, Gefahr und Hoffnung waren darin investiert worden. »Nahezu zwölf bittere Jahre!« »Vergeblich das alles, was Sie sehen.« »Wenigstens eine Stunde noch!« beschwor Gisevius den Grafen Helldorf. Der lehnte sich ermattet zurück. Seine Stimme klang brüchig. »Hoffnungslos«, sagte er. Hans Bernd Gisevius beugte sich beschwörend vor. Seine Augen, die so viel gesehen hatten, wirkten leer. Dennoch appellierte er an den Glauben an Deutschland. An die Reste davon! »Man sollte versuchen, sie nicht zu verlieren.« Graf Helldorf aber, der Polizeipräsident, erklärte: »Machen Sie sich doch nichts vor! Seit Jahren haben uns die Generale beschissen. Alles haben sie versprochen. Nichts haben sie gehalten. Auch das, was sich heute abgespielt hat, ist nichts anderes als Beschiß!« Der Oberst Claus Graf Stauffenberg aber rief ungebrochen aus: »Es ist die Stunde, da der Offizier – und der Offizier allein
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– sich durchsetzen muß!« Im Haus Schifferdamm 13 lag im Keller die Leiche des Ortsgruppenleiters Jodler. Schlaff lag der einst so massig wirkende Körper da. Der zerschlagene »Besucher« aus dem dritten Stock hockte leise stöhnend bei ihm. Im Erdgeschoß lümmelte Voglbronner gelangweilt in einem Sessel. Ein Polizeibeamter stand, auf Befehle wartend, vor der Tür. In einem Nebenraum schlief die erschöpfte Maria auf kahlen Fußbodenbrettern. Die Bewohner im ersten Stock waren bemüht, sich nicht bemerkbar zu machen. Im zweiten Stock huschte die Breitstraßer unruhig herum – giftspritzbereit. Im dritten Stock hatte Scheumer, der Studienrat, seiner kranken Frau erneut eine starke Dosis Schlafpulver verabreicht. Er selbst hatte seinen angeblich überaus geliebten Faust aufgeschlagen – doch er las nicht darin. Er lauschte an der Wand. Und er vernahm zunächst: fröhlich-laute, doch unverständliche Worte; dann ein hochgestoßenes Gekicher; schließlich ein Aufstöhnen. Scheumer kannte derartige akustische Darbietungen – er hatte sie aus der Nebenwohnung ziemlich oft vernommen. Dort mochten die Männer wechseln, die Geräusche blieben sich gleich. »Du bist wirklich eine Wucht«, sagte Erika. »Du brauchst nur zu sagen, was ich für dich tun soll – und ich tue es.« »Fein«, sagte Jodler. »Wie wäre es denn da zum Beispiel mit einer prima Zeugenaussage – die könnte ich gut gebrauchen. Bin dann zu weiteren Gegenleistungen stets gern bereit.« In der Wohnung nebenan standen sich noch immer Konstantin und Elisabeth gegenüber – mit geneigten Köpfen. Sie blickten auf den Tisch, der sich zwischen ihnen befand, auf die Aktentasche darauf, auf den Brief – keiner von ihnen schien sprechen zu wollen. Dann aber rief Elisabeth mit glasspröder Stimme: »Warum kannst du nicht glauben?«
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»Ich habe es an diesem Tag verlernt«, sagte Konstantin leise. Kurz nach 22.00 Uhr rollte ein Lkw – ein sogenannter Kleintransporter Heer – durch das Tor des Bendlerblocks in den Hof. Niemand hielt dieses Fahrzeug auf, niemand kontrollierte es, niemand schien sich darum kümmern zu wollen. Der begleitende Unteroffizier begab sich unwillig zu den links von der Einfahrt gelegenen Wachräumen. Hier herrschte heftige und nicht gerade planvoll wirkende Unruhe. Mindestens zwei verschiedene Gruppen waren dabei, sich über Aufgabenbereiche und Befehlsbefugnisse zu streiten. Der Transportunteroffizier, ein robuster Hinterpommer, schüttelte verwundert seinen Schädel und griff dann einfach zum nächsten Telefon. »Gibt es in diesem Stall einen Oberleutnant Herbert?« wollte er wissen. »Mit dem könnt ihr mich mal verbinden.« Die Männer im Wachlokal umstanden jetzt zwei Offiziere, von denen jeder hier den Dienst übernehmen wollte – ein dritter, der gleichfalls nicht daran dachte, sich verdrängen zu lassen, saß zunächst noch abwartend auf einem Stuhl. Die Soldaten flüsterten miteinander – und plötzlich trat, für einige Sekunden, Stille ein: Einer der Offiziere hatte seine Pistole vor sich auf den Tisch geknallt. Und in diese Stille hinein sagte der Zeughaus-Unteroffizier gleichmütig, als habe er lediglich einige Kasten Bier transportiert: »Habe eine Ladung Waffen und Munition angekarrt. Stehe vorm Eingang zwei a. Wenn nicht bald einer kommt, karre ich das ganze Zeug wieder zurück.« Damit legte der Unteroffizier den Hörer in die Gabel und sah sich erwartungsvoll um. Und obgleich fast jeder im Raum gehört hatte, was er da soeben ins Telefon hineingesagt hatte, schien doch niemand sonderlich überrascht zu sein. Sie hatten alle ihre eigenen Sorgen. Instinktiv erkannten sie: Sich aus diesem Durcheinander möglichst herauszuhalten – das war bewährte Landser-Weisheit.
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Am Lieferwagen warteten nun jedoch sechs willige Waffentransporteure – der Oberleutnant Herbert an ihrer Spitze. Aber erst nach Quittierung übergab der Unteroffizier das Material – wobei er auf genaue Durchsicht und Zählung beharrlich Wert legte. Die so ausgelieferten Pakete und Kisten wurden bienenfleißig in den dritten Stock geschleppt – in Herberts Dienstzimmer hinein. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte der Hauptmann von Brackwede. Er war, außer den Herbert-Leuten, der einzige in der Bendlerstraße, der sich um diesen Transport kümmerte – einer der drei von Lehmann angesetzten »Spürhunde« hatte ihm diesen Vorgang gemeldet. »Danke verbindlichst, Herr Hauptmann!« Der Oberleutnant Herbert sagte das höflich und immer noch reichlich ahnungslos. »Sind Sie sich eigentlich mittlerweile darüber klargeworden, Herbert, wen Sie damit umlegen wollen?« »Reine Vorsorge«, versicherte der Oberleutnant hastig, »oder können Sie mir schon bestimmte Namen nennen?« »Einige – etwa die von fünf Generalen, die hier inzwischen festgesetzt worden sind. Einschließlich Fromm.« »Aber Hitler lebt!« »Wie lange noch?« Herbert schleppte verbissen eine Kiste mit zwei Maschinenpistolen aufwärts. Heftige Zweifel nagten an ihm. Der Schweiß, der sein angestrengtes Knabengesicht herabfloß, war nicht nur auf seine körperliche Anstrengung zurückzuführen. »Jetzt sind wir zu allem bereit«, rief er seinen Freunden zu – um sofort warnend hinzuzufügen: »Aber das müssen wir uns ganz gründlich überlegen!« Und für diese Überlegung wurde viel Zeit verbraucht – nahezu eine Stunde. Der Sturmbannführer Maier knöpfte bedächtig seinen SS-
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Waffenrock zu. Die Stunde schien gekommen, sich von seiner Dame zu verabschieden. Er hatte wieder eine Serie Telefongespräche hinter sich gebracht und dabei die erstaunlichsten Neuigkeiten erfahren. Nun schien Eile geboten. Besonders alarmierend für Maier war gewesen, daß es ihm nicht gelungen war, den Hauptmann von Brackwede zu erreichen. Das aber bedeutete: Der ließ sich entweder verleugnen – oder er war gar nicht mehr in der Lage, Gespräche zu führen. Und so oder so – dieser Umstand beschleunigte seine Entschlüsse. Zunächst jedoch gedachte er, noch abschließend einige Minen zu legen. Er rief Voglbronner an und fragte: »Was macht der Leutnant?« Er bekam die Auskunft: Der Leutnant von Brackwede bestehe darauf, das Haus zu verlassen – er müsse dringend seinen Bruder sprechen. »Na prächtig!« rief Maier hocherfreut. »Genau das, worum ich ihn bitten wollte! Sagen Sie dem Leutnant: ich komme sofort und fahre ihn hin – aus purer Freundschaft.« Sodann wurde der Oberleutnant Herbert angerufen. Und ihm sagte Maier: »Ich hoffe, daß Sie alle Vorbereitungen getroffen haben – es ist jetzt soweit. Ich schicke Ihnen den Leutnant Brackwede – er wird in einer Viertelstunde in der Bendlerstraße sein. Er überbringt meine Richtlinien – fangen Sie ihn am Eingang ab!« Nun verlangte Maier seine Dienststelle: »Militärputsch klar erkannt! Alle verfügbaren Einheiten zu mir. Treffpunkt: südliche Ecke Bendlerstraße, beim Spreekanal.« Zum Abschied von der Dame gönnte er sich nur noch Sekunden. Er eilte hinaus und pfiff seinen Wagen herbei. Der löste sich von einem Trümmerhaufen. »Schifferdamm dreizehn – höchstes Tempo!« rief der Sturmbannführer und sprang hinein. Um 22.30 Uhr versammelte der General Olbricht wieder die Offiziere seines Amtes um sich – zum drittenmal an diesem
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Tag. Er erklärte ihnen: Das Wachbataillon Berlin, das auch für die regelmäßige Bewachung der Bendlerstraße zuständig war, habe soeben seinen letzten noch im Hause diensttuenden Soldaten den Befehl erteilt, ihre Posten zu verlassen. »Wir werden nunmehr, meine Herren, eine Offizierswache zusammenstellen und selbst für unseren Schutz sorgen.« »Warum erst jetzt?« bemerkte ein Major tadelnd. Und ein Oberleutnant rief scharf: »Was wird hier eigentlich gespielt?« Olbrichts Gesicht schien erstarrt von schmerzlicher Empörung zu sein. Mühsam sagte er: »Ich lege, meine Herren, auf angstvolle Zweifler keinen Wert – ich brauche Freiwillige.« Sechs von sechsunddreißig Offizieren meldeten sich – darunter vier von jenen, die bereits in Tätigkeit getreten waren. Der Rest verließ den Raum – die meisten taten das grußlos. »Und das ist alles?« fragte sich der General Olbricht erschüttert. Der Leutnant von Brackwede wartete vor dem Haus Schifferdamm 13 – das Koppel umgeschnallt, die Mütze auf dem Kopf, die Hände in Lederhandschuhen. Die Aktentasche hatte er sich unter den linken Arm geklemmt. Voglbronner und der Polizeimeister standen an seiner Seite. »Schnell, schnell – steigen Sie ein, lieber Freund!« rief Maier. »Es ist etwas Fürchterliches passiert – wir müssen sofort zur Bendlerstraße!« Der Leutnant stieg ein, der Wagen fuhr scharf an. Der Sturmbannführer ergriff die Hand von Konstantin und fragte: »Haben Sie die Nachrichten im Rundfunk gehört? Wissen Sie, daß ein Attentat auf den Führer verübt wurde?« Das wußte der Leutnant. Er wußte auch, daß der Führer nur leichte Verwundungen und Prellungen... »Aber ist Ihnen auch bekannt, daß ein Militärputsch im Gange zu sein scheint? Daß Panzer rollen? Daß Generale eingesperrt worden sind? Daß sich der Attentäter in der
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Bendlerstraße aufhält und daß von dort die deutschen Fronten systematisch unterminiert werden? Nur – um den Führer zu stürzen?« Das wußte der Leutnant nicht – er blickte bleich wie der Mond. Und er hörte Maier fragen: »Herr Leutnant, kann man sich auf Sie verlassen – auf Ihre Treue zum Führer?« »Unbedingt!« versicherte der Leutnant blindlings. »Gut!« Der Sturmbannführer lehnte sich zufrieden in die Polster des Wagens zurück – seine Hand lag auf Konstantins Aktentasche, die zwischen ihnen stand. »Ich kann leider nicht selbst in die Bendlerstraße – noch nicht, ohne meinen Kopf zu riskieren. Und den brauche ich noch. Sie aber werden dort ungehindert hineinkommen. Am Eingang wird der Oberleutnant Herbert auf Sie warten.« »Und – mein Bruder?« fragte Konstantin. »Was ist mit meinem Bruder?« »Ich war bis vor kurzem ständig mit ihm in Verbindung«, sagte Maier wahrheitsgemäß, was ihn erheiterte. »Dann jedoch konnte ich ihn nicht mehr erreichen – wer weiß, was mit ihm geschehen ist! Sie werden sich vielleicht den Weg zu ihm freikämpfen müssen, mein Junge. Und eben dazu brauchen Sie Herbert und seine Leute. So – und nun werde ich Ihnen mal sagen, wie Sie am besten vorzugehen haben.« Den Rest der Fahrt über erteilte der Sturmbannführer seine Direktiven – und hierbei erwies er sich durchaus als Fachmann; die Praxis, bald danach, sollte das zeigen. Das nächtliche Berlin schien an ihnen wie auf einem Fließband vorüberzugleiten: dunkle Hausfassaden, grotesk geformte Trümmerberge, ausgetrocknete, hartkonturige Bäume, die den dunkelblauen Himmel zu zerschneiden schienen. Dann hielt der Wagen knapp dreihundert Meter vor dem Bendlerblock – dicht bei einem wie abgestellt wirkenden Panzerspähwagen. »Also –«, rief der Sturmbannführer dem Leutnant ermunternd zu, »dann Hals- und Beinbruch!«
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»Ich brauche dringend eine Vollmacht!« rief der eindringende Oberst. Er traf auf eine ernste, schweigsame Ansammlung von Menschen, die wie eine beherrschte Trauergemeinde wirkte. Der General Olbricht schritt diesem Mann entgegen – er vermochte sein Erstaunen kaum zu verbergen. »Was wünschen Sie, bitte?« »Ich benötige einen schriftlichen Befehl, eine Vollmacht, um mich gegen unentschlossene oder gar ablehnende Offiziere durchsetzen zu können. Dann werde ich sofort, wie vorgesehen, die Rundfunksender besetzen lassen.« »Oberst Wolfgang Müller – von der Infanterieschule Döberitz«, flüsterte Mertz von Quirnheim dem General zu. Der registrierte: dortiger General Hitzfeld – wegen Trauerfalls abwesend. Stellvertreter: Oberst Müller – bisher auf Vertragsreise unterwegs. Nunmehr also hier, um sich einen Auftrag bestätigen zu lassen, der vor sieben Stunden hätte erfolgen müssen. »Wir danken Ihnen«, sagte Olbricht dennoch nicht ohne Rührung. Selbst der Hauptmann von Brackwede verlor Sekunden seine immer schärfer werdende Ironie. Er lächelte dem Doktor zu. Und dann fragte er: »Haben Sie sonst noch irgendeinen Wunsch, Herr Oberst?« »Danke«, sagte Müller. »Allein die Vollmacht ist für mich wichtig.« Die diktierte der Oberst Mertz von Quirnheim mit unbewegtem Gesicht. Der General Olbricht unterschrieb sie. Müller nahm sie erleichtert entgegen. Das war der letzte, nachweisbare schriftliche Befehl der Verschwörergruppe, der an diesem Tag die Bendlerstraße verließ. Uhrzeit: 22.40 Uhr. »Ich werde den Herrn Oberst durch einen meiner Leute hinausbringen lassen.« Der von Brackwede verbeugte sich leicht vor Wolfgang Müller. »Ich kenne in diesem Fuchsbau
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einige Löcher, von denen noch nicht einmal Fromm was weiß.« »Leben Sie wohl und haben Sie Dank«, sagte der General Olbricht verhalten. »Daß es Menschen wie Sie gibt, macht das, was wir zu tun versuchen, sinnvoll.« »Hier herein!« rief der Oberleutnant Herbert gedämpft von einem der Hofeingänge her. Er hielt sich im dunkelsten Schatten auf – nur sein wedelnder rechter Arm wurde sichtbar. »Und Vorsicht, Vorsicht!« Er griff nach der freien Hand des Leutnants von Brackwede und schüttelte sie herzlich. Dabei zog er Konstantin mit sich – in den Schatten hinein. »Was bringst du uns? Kommst du tatsächlich direkt von Sturmbannführer Maier?« »Er hat mich hergebracht. Was ist hier los?« »Der Teufel! Mann – das brodelt hier wie in einem Hexenkessel! Jeder belauert jeden, einer verdächtigt den anderen – nur weiß keiner genau, warum. Was erwartet der Sturmbannführer?« »Wo ist mein Bruder – wie geht es ihm?« »Keine Ahnung! Der hält sich nicht in seinem Dienstzimmer auf. Ich wollte ihn von deinem Kommen benachrichtigen, habe ihn aber nicht erreicht. Doch was will Maier?« Sie blieben, ein wenig atemlos, an einem Treppenabsatz stehen. Konstantin hielt seine Aktentasche an sich gepreßt. Herbert hatte sich über das Geländer gebeugt und hielt nach Lauschern Ausschau. »Kannst du«, fragte Konstantin weisungsgemäß, »einige verläßliche Männer auftreiben?« »Ein Stall voll steht schon bereit.« »Seid ihr im Besitz von Waffen?« »Komm mit!« Der Oberleutnant eilte, sich oftmals umsehend – als müsse er befürchten, verfolgt zu werden – , in sein Dienstzimmer. Hier wies er mit weiter Geste um sich und fragte den Leutnant stolz: »Nun – was sagst du jetzt?« Konstantin von Brackwede sagte nichts. Er sah zu seinen
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Füßen, fertig montiert und griffbereit dastehend: ein Maschinengewehr; außerdem lagen da Maschinenpistolen, Karabiner, Armeerevolver älterer Produktion, sogar zwei Leuchtpistolen. Dahinter standen die Angehörigen der Herbert-Gruppe – später auch Heythe-Gruppe genannt, des Rangälteren wegen: ein Major, zwei Hauptleute, ein Oberleutnant, zwei Leutnants, dazu drei Unteroffiziere und vier Mann. »Unser Kamerad«, verkündete Herbert seinen Leuten, wobei er auf Konstantin wies, »bringt uns Richtlinien vom Reichssicherheitshauptamt.« Der Leutnant schien es jetzt eilig zu haben, seinen Auftrag loszuwerden – er wollte zu seinem Bruder. »Also – Sturmbannführer Maier läßt folgendes bestellen: In diesem Hause wird Hochverrat betrieben. Es geht um Leben oder Tod. Eine Gegenaktion mit Waffengewalt muß sofort erfolgen. Dabei sind alle Räume durchzukämmen, die dort angetroffenen Personen zu stellen und zu fragen: Für oder gegen den Führer!« »Alle Personen?« wollte der Major Heythe wissen. »Alle – ohne jede Ausnahme, ohne Rücksicht auf irgendeinen Dienstgrad.« »Und was dann, wenn einer nicht spurt?« »Wer sich nicht eindeutig für den Führer erklärt, muß festgenommen werden – sagt der Sturmbannführer. Wer führertreu ist, soll sich der Aktion unverzüglich anschließen.« »Habe ich richtig verstanden – wir sollen sogar gegen Generale vorgehen, unter Umständen?« »Ja – nach Ansicht von Maier. Er läßt sagen: Wer sich an diesem Unternehmen beteiligt, der handelt praktisch direkt im Auftrag des Führers.« »Nichts wie ran!« rief der Oberleutnant Herbert und griff nach einer Maschinenpistole. »Keine wilden Aktionen, bitte!« forderte vortretend der Major. Auch er nahm eine Maschinenpistole an sich, »Wir
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müssen zunächst schnell und gründlich organisieren – Stoßtrupps sind zu bilden, Melder zu bestimmen, eine Art Arrestlokal ist einzurichten.« »Ich lege zunächst einmal los!« rief Herbert und schwang seine Waffe. Er witterte Konkurrenz – er hatte es eilig. Er winkte den beiden jüngeren Offizieren zu: »Sie schließen sich mir an. Und Sie, Herr Major, können von mir aus den Rest organisieren.« Der Oberleutnant stürmte davon – Konstantin hatte er offenbar vergessen. Dem war das recht. Der junge von Brackwede entfernte sich, mit der Aktentasche unter dem Arm – er wollte seinen Bruder suchen. »Hast du noch eine Zigarre, Fritz?« fragte der Oberst von Stauffenberg den Freund. »Leider nein«, sagte der Hauptmann von Brackwede. »Wie du siehst, Claus, hat sogar auch meine Organisation Mängel aufzuweisen.« Minutenlang telefonierte der Oberst nicht. Das war für Brackwede ein beunruhigendes Bild. Und leise fragte er: »Müde geworden, lieber Freund?« Stauffenberg schüttelte den Kopf. »Ich warte lediglich auf eine Verbindung mit Paris.« »Du wirst niemals aufgeben, nicht wahr?« »Nein«, sagte Claus. Und wie nebensächlich fügte er hinzu: »Laß die anderen wissen, Fritz, daß niemand mehr gezwungen oder auch nur überredet werden darf, sich uns anzuschließen. Vielmehr soll sich jetzt jeder, der will und kann, absetzen. Jede erdenkliche Verantwortung ist auf mich abzuwälzen – darauf bestehe ich. Und vor allen Dingen sollst du dich in Sicherheit bringen – du mußt bezeugen, was hier geschehen ist.« »Gern, Claus«, sagte der von Brackwede gleichermaßen ruhig. »Ich hoffe nur, du gönnst mir noch einige Einblicke – in letzte Möglichkeiten.« »Ich kann dir nur sagen, Fritz, was ich erst vor wenigen
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Minuten Generaloberst Beck gesagt habe: Ich bitte, mir – mir allein – den Rest, der jetzt noch zu tun übrigbleibt, zu überlassen.« »Und was hat Beck darauf geantwortet?« »Er habe seinen Platz eingenommen und er gedenke ihn nicht zu verlassen – das war die Antwort des Generalobersten.« »Es ist auch die meine, Claus.« Stauffenberg horchte jetzt angespannt auf das, was durch das Telefon zu ihm drang. Sein Gesicht glühte wie Bronze im Kerzenlicht. Er sagte: »In Paris ist die Aktion gegen SD, SS und Gestapo abgelaufen – sie sitzen dort alle hinter Schloß und Riegel. Alle! Paris ist fest in der Hand unserer Freunde.« »Höchst anerkennenswert«, sagte der Hauptmann von Brackwede ohne jeden Sarkasmus. »Wir aber befinden uns in Berlin. Und jetzt werde ich mal wieder die Initiative ergreifen – ich will versuchen, für uns ein paar Zigarren zu organisieren!« Der Oberleutnant Herbert begann mit seinen Leuten zunächst das dritte Stockwerk durchzukämmen. Das ging folgendermaßen vor sich: Ein Unteroffizier riß die Tür eines Zimmers auf – Herbert stürmte hinein, die Maschinenpistole im Anschlag; die beiden Leutnants flankierten ihn. Er rief, weisungsgemäß, aus: »In diesem Hause wird Hochverrat betrieben! Entscheiden Sie sich – für oder gegen den Führer!« Er rannte, zumeist, sozusagen offene Türen ein. Zwar hoben Majore und Obersten ergeben ihre Hände, was für Herbert allein schon ein erbaulicher Anblick war. Im gleichen Atemzug erklärten sie fast immer: sie waren, natürlich, für den Führer. »Dann schließen Sie sich uns an!« forderte Herbert mit berauschter Entschlossenheit. »Schaffen Sie Ihrerseits klare, unmißverständliche Verhältnisse. Halbheiten werden Sie garantiert bereuen. Es lebe der Führer!« Diese Formulierungen gebrauchte Herbert, fast wortwörtlich,
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mehr als ein dutzendmal – schnell bekam er Routine bei dieser Beschäftigung. Stabsoffiziere versicherten ihre vorbehaltlose Loyalität. Generale äußerten sich mit Anerkennung. Leutnants entsicherten ihre Dienstpistolen und folgten ihm – bald umwimmelte ihn ein ganzes Rudel von Führertreuen. »Die Sache macht sich!« erklärte der Oberleutnant freudig. Nach zehn Minuten emsiger Gesinnungserforschung mit Maschinenpistolen war noch kein Schuß gefallen. Einem Major mußte die Waffe mit Nachdruck an die Rippen geschoben werden – dann bekannte auch er sich zum Führer. Allein ein Hauptmann verweigerte jede Erklärung – mit dunkelrotem Gesicht ließ er sich abführen. Doch diese Bilder der Gefolgschaftstreue änderten sich schlagartig, als die Herbert-Horde in den zweiten Stock hinabstürmte. Hier flüchteten einige im Korridor stehende Offiziere. Des Oberleutnants Zuruf: »Halt – stehenbleiben!« beachteten sie nicht, Er kam nicht dazu, auszurufen: »Oder ich schieße!« Dennoch vernahm er jetzt, in einiger Entfernung, eine Serie von Schußgeräuschen. Das Magazin einer Maschinenpistole wurde leergefeuert. »Was ist denn da los?« fragte Herbert, heftig atmend. Ein Melder konnte ihn aufklären: »Das ist der andere unserer Stoßtrupps, Herr Oberleutnant – ihn führt Major Heythe an. Und der ist direkt auf die Diensträume des Befehlshabers losgegangen.« Herbert stutzte – dieser Mensch, dieser Major, den er zu seiner Gruppe herangezogen hatte, kam ihm offenbar in die Quere! Der versuchte womöglich, ihm den Ruhm zu stehlen. Dem galt es zuvorzukommen. Herbert hastete vorwärts, stolperte, fiel lang hin, zerschlug sich die Stirn, raffte sich wieder auf. Auf ihn zu spazierte, mitten durch den leeren Korridor, ein Offizier. »Für oder gegen den Führer!« schrie ihm der Oberleutnant entgegen. »Verfügen Sie über Zigarren?« wollte dieser Offizier höflich
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wissen. Herbert erkannte jetzt erst den Hauptmann von Brackwede. Angestrengt versuchte er, kameradschaftlich zu grinsen. »Ich räume hier gerade auf – wollen Sie sich anschließen?« »Danke«, sagte der Graf und korrigierte den Sitz seines Monokels. »Ich habe im Augenblick anderes zu tun – ich suche Zigarren; möglichst solche mit Havanna-DeckbIatt.« »Offenbar bleibt uns nichts erspart«, sagte der Generaloberst Beck mit dunklem Gesicht. Er vernahm die Schüsse, die immer näher zu kommen schienen. Er sah keinem der Anwesenden mehr in die Augen – er wollte niemanden irritieren. Er ging zu einem der Fenster. Die Männer im Raum waren verstummt. Über ihren Gesichtern schienen Visiere zu liegen. Es war, als hätten sie sich wie Modelle für einen Maler aufgestellt – in kleinen abgezirkelt wirkenden Gruppen. Allein der Doktor, Eugen G., der hinter Olbrichts Schreibtisch saß, schob die Zeitung zur Seite, unter der griffbereit seine Pistole lag. Er nahm sie auf. Er betrachtete seine Hand: Die war ruhig, als befinde er sich auf einer waidgerechten Jagd. Darüber mußte er verwundert lächeln – denn auch er empfand Furcht vor dem, was auf sie alle zuzukommen drohte. Die Tür, die der Mündung seiner Pistole gegenüberlag, wurde aufgestoßen. Zwei Sekunden später stürmte Heythe vor – doch er prallte gegen die weit offene Tür des Panzerschrankes, in dem sich die »Walküre«-Pläne befunden hatten. Und da stand er nun. Der Doktor sah von diesem Major lediglich die Füße – und dessen verwundertes Gesicht, von der Nasenspitze an aufwärts. Die Panzerwand verdeckte das übrige. Eugen G. zögerte, zu schießen – das Bild vor ihm war nicht ohne Komik. Er geriet in Versuchung aufzulachen – er zielte dennoch. »Nicht schießen, bitte«, erklang hinter ihm die sonore Stimme des Generals Olbricht. »Nicht schießen.«
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In diesem Augenblick wurde die zweite Tür dieses Raumes aufgestoßen. Der Oberleutnant Herbert preschte vor. Die Maschinenpistole in seinen bebenden Händen schwenkte in die Runde. »Wo ist der Generaloberst Fromm?« Er erhielt keine Antwort. Die Männer im Raum sahen durch ihn hindurch, als wäre er aus Glas. Der Oberleutnant Herbert, sich verachtet fühlend, begann, den rechten Zeigefinger um den Abzug zu krümmen. »General Olbricht«, forderte er rauh, »ich verlange eine Erklärung.« »Ihnen«, sagte der, »habe ich keinerlei Erklärungen abzugeben.« »Dann erkläre ich Sie – Sie alle! – für verhaftet.« Der Major Heythe schob sich von seiner Seite aus vor. Jetzt galt es, Initiative zu zeigen! Sonst lief ihm noch dieser Oberleutnant Herbert den Rang ab. Immerhin: Mochte der sich auch, in dieser Stunde, als Draufgänger erwiesen haben – er, der Major, war jedenfalls der bessere Organisator. »Jedes Gespräch ist untersagt«, ordnete er an. »Die Herren werden isoliert, Widerstand ist zwecklos und wird mit der Waffe im Keim erstickt. Ich ersuche Sie, unseren Anordnungen uneingeschränkt zu folgen.« »Oder es knallt!« brüllte Herbert auf. »Jetzt befehlen wir – im Namen des Führers!« »Gott sei Dank – du lebst!« rief der Leutnant von Brackwede dem Bruder zu. Er hatte das Verlangen, sich auf Fritz zu stürzen, ihn zu umarmen, ihn mit tausend Fragen zu bestürmen. Das jedoch tat er nicht – die kaltgrau blickenden Augen des Hauptmanns, der soeben sein Dienstzimmer betreten hatte, hielten ihn davon zurück. »Wie kommst du hierher?« fragte der Ältere nahezu ungläubig. »Maier hat mir dabei geholfen – unser Freund Maier.«
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Der Hauptmann stieß unwillig die Tür mit dem Fuß zu. »Du scheinst wirklich unverbesserlich zu sein«, sagte Fritz bitter. »Was muß denn noch alles geschehen, bis du erkennst, wozu Menschen fähig sind!« »Hier«, sagte Konstantin, mit Eifer bemüht, sich zu verteidigen, »wird Hochverrat betrieben – soviel scheint doch wohl sicher. Aber ich bin fest überzeugt davon, daß du nicht das geringste damit zu tun hast.« »Herrgott!« rief Fritz-Wilhelm von Brackwede fast verzweifelt aus. »Wenn du wirklich so denkst, warum bist du dann nicht bei diesen wilden Vaterlandsverteidigern, die jetzt hier wahllos durch die Gegend knallen.« »Das«, sagte Konstantin, »konnte ich nicht. Irgend etwas hielt mich davon ab.« »Unbegreiflicher Unsinn – diese ganze Welt ist voll davon!« Der Hauptmann straffte sich abweisend. »Doch lassen wir das. Dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Sage mir lieber: Wo ist die Aktentasche, die ich dir anvertraut habe?« »Ich habe sie mitgebracht – sie steht hier auf deinem Schreibtisch.« Und wenn jemals ein Mensch den Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede fassungslos gesehen hatte, dann war das sein Bruder – in diesem Augenblick. Der erblickte ein maskenhaft erstarrtes Gesicht und den geöffneten Mund eines staunenden Kindes. »Was hast du?« fragte Konstantin besorgt. »Bist du krank?« »Ich komme mir vor wie ein toter Mann«, sagte Fritz und wendete sich ab. »Und das ist allein das Verdienst meines Bruders.« Das mit Maschinenpistolen bewaffnete Rudel drang weiter vor – über die Räume des Generals Olbricht hinaus. Die sich gegenseitig anfeuernden Offiziere durchbrachen die drei Glastüren, die zum Vorzimmer des Befehlshabers des Ersatzheeres führten. Schwere Marschstiefel stießen gegen samtrote Polsterbänke. Eine Maschinenpistole ratterte in
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Richtung auf eine Aktenwand. Ein Hitlerbild wurde kreuz und quer durchlöchert. »Alles Hände hoch und stehenbleiben!« schrie Herbert. Der hochgewachsene Mann, der sich den beutehungrigen grauen Wölfen zu entziehen gedachte, war der Oberst Stauffenberg. Ein Offizier hob seine Pistole. Von sechs Schüssen schienen zwei getroffen zu haben – den linken Oberarm und den Rücken. Doch Art und Umfang dieser Verwundungen konnten niemals mehr genau festgestellt werden. Eine Blutspur hinter sich herziehend, eilte Stauffenberg davon – dem Zimmer entgegen, in dem sich Generaloberst Beck befand. »Legen wir ihn um«, schrie einer aus der Meute. »Legen wir alle diese Schweine um!« Doch Herbert befahl, sich nach Maiers Ratschlägen richtend: »Erst müssen wir Generaloberst Fromm befreien!« Und das geschah. Der Generaloberst Fromm erwartete seine Befreier im Salon seiner Wohnung. Er saß in einem dunkelbraunen Ledersessel, als sie hereinstürmten. Sein fleischiges Gesieht blieb ausdruckslos – nur seine Augen glitzerten. Er sagte knapp: »Wird auch höchste Zeit!« Hierauf erhob er sich und befahl: »Alle Verdächtigen sind zu kassieren und in Bereitschaft zu halten. Wer zu fliehen versucht, ist zu erschießen – wer Schwierigkeiten macht, auch! Jetzt wird hier durchgegriffen!« Der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede hatte sich hinter die Aktentasche seines Bruders gestellt. Er zögerte offenbar, sie zu übergeben. »Hast du irgend etwas mit diesem Irrsinn zu tun, Fritz?« fragte er beharrlich. »Was geht dich das an?« sagte er ungeduldig. »Bist du an diesem Militärputsch beteiligt –? Bitte, sage mir das!« Dem Hauptmann von Brackwede gelang es, aufzulachen. »Meine Zeit ist knapp – und ich denke gar nicht daran, sie jetzt
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und hier mit dir zu vergeuden. Ich muß schleunigst verschwinden – ehe auch noch die letzten Schlupfwege verbaut sind.« »Also doch«, sagte Konstantin. Der Bruder griff entschlossen nach der Aktentasche und nahm sie an sich. »Ich habe immer mein eigenes Leben gelebt«, sagte er, bemüht, dabei zu lächeln. »Versuche du, das gleiche zu tun – auf deine Weise. Und im Augenblick kann das durchaus vorteilhaft sein.« Der Hauptmann öffnete den Verschluß der Tasche und blickte, schnell prüfend, hinein. Das helle Lampenlicht fiel voll auf sein Gesicht – seine kühn geschwungene Stirn schien zu leuchten. »Fritz«, fragte der Bruder leise, »was soll ich jetzt tun?« »Leben«, sagte der und schloß die Aktentasche wieder. »Und dann vielleicht auch gelegentlich daran denken, daß du ein Brackwede bist.« »Du weißt, daß ich dich liebe, Fritz – vorbehaltlos.« »Das weiß ich«, sagte der mit zärtlicher Verhaltenheit. Doch seine Stimme änderte sich übergangslos – als würde eine Tür zugeschlagen. »Aber das soll dich nicht daran hindern, deinen eigenen Weg zu gehen. Das selbst dann nicht, mein Kleiner, wenn er dich über die Leiche deines Bruders führen sollte. Über solche Kleinigkeiten sieht eine so große Zeit wie diese hinweg!« Nur wenige Minuten später – es war kurz nach 23.15 Uhr – stand der Generaloberst Fromm wieder hinter seinem Schreibtisch. Neben ihm hatten Maschinenpistolen-Offiziere Aufstellung genommen. Vier außerdem noch mit Gewehren und Handgranaten bewaffnete Unteroffiziere sicherten den Raum ab. Und in der Mitte standen: drei Generale – Beck, Olbricht und Hoepner; zwei Obersten – Stauffenberg und Mertz; ferner ein Oberleutnant – von Haeften, Stauffenbergs Adjutant. Sie schwiegen.
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Fromm blickte über diese sechs Männer hinweg. Seine Stimme klang kalt und entschlossen. Er sagte: »So, meine Herren! Jetzt mache ich mit Ihnen, was Sie heute nachmittag mit mir machen wollten.« Er hob die ihm zur Verfügung gestellte Pistole: »Legen Sie Ihre Waffen ab!« Doch keiner dieser Verschwörer trug eine Waffe bei sich. Sie schwiegen weiter. Lediglich der Generaloberst Beck sagte mit schlichter Festigkeit: »Ich habe hier, im Nebenraum, meine Pistole liegen. Die möchte ich aber für meine Privatzwecke behalten.« »Tun Sie das!« Fromm verstand sofort, was damit gesagt worden war – er schien erleichtert. »Aber tun Sie das sofort.« Beck versuchte noch, ein paar Worte über die »Zeit von früher« zu sagen. Der Generaloberst in Zivil wollte offenbar sein Leben nicht abschließen, ohne selbst bei einem Fromm Verständnis für seine Haltung gefunden zu haben. Der jedoch winkte schroff ab – man möge endlich tun, was unvermeidlich wäre. Und so griff Deutschlands konsequentester Offizier, Preußens letzter Philosoph in Uniform, zu seiner Pistole. Er setzte sie an und schoß sich durch den Kopf. Er taumelte; Blut quoll über seine weißen Haare, sickerte über sein Gesicht – doch er lebte weiter. »Helfen Sie dem alten Mann«, rief Fromm den herumstehenden Offizieren zu. Der Generaloberst Beck erhielt eine andere Pistole – »geladen und entsichert«. Abermals zielte er, die Waffe mit beiden bebenden Händen führend, gegen seinen Kopf – und drückte ab. Sein Schädel schlug ruckartig zur Seite. Sein Körper zuckte und bäumte sich auf. Er war immer noch nicht tot. Ein Feldwebel schleppte – auf Befehl von Fromm – den schwerverwundeten Mann in einen Nebenraum und gab ihm dort den Gnadenschuß. Der Häuserblock Bendlerstraße 11/13 war von Truppen
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umstellt: Panzer, Panzerspähwagen und motorisierte Infanterieeinheiten. Sie wurden von dem General der Infanterie Hermann Reinicke befehligt. Von General Reinicke war während der Dauer dieser Aktion »engste Zusammenarbeit« mit SS-Hauptsturmführer Otto Skorzeny verlangt worden. Das mit dem Hinweis: Skorzeny habe, bis zum Eintreffen von Kaltenbrunner oder Himmler, den Auftrag, die Funktion des Befehlshabers des Ersatzheeres zu übernehmen. Das aber bedeutete: Der Hauptsturmführer traf die letzten, entscheidenden Anordnungen. Und er war sich seiner Position sehr wohl bewußt. Er erteilte dem Heeresgeneral ungeniert, in handfester Draufgängermanier, seine Befehle. Selbst der persönlich erschienene Chef der Gestapo, 5SObergruppenführer Heinrich Müller, hatte in diesen Augenblicken bei Skorzeny nicht sonderlich viel zu bestellen. »Ich handele im direkten Auftrag des Führers!« erklärte der mehrmals. Und Müller war klug genug, sich nur dann einzumischen, wenn es um seinen direkten Bereich ging – er legte keinen Wert darauf, hier etwa als Stoßtruppführer zu fungieren. Müller besichtigte seine Spezialtrupps – fünf Greifergruppen standen bereit. Er nahm die Meldung der eingetroffenen Polizeieinheiten entgegen – etwa vierzig Mann waren zur Absperrung vorgesehen. Schließlich hörte er sich den Bericht von Sturmbannführer Maier an – das völlig wortlos. »Darf ich zu einer abschließenden Besprechung bitten?« forderte Skorzeny. Sie befanden sich im südlichen Teil der Bendlerstraße, nahe beim Spreeufer. Gelegentlich blitzte eine Taschenlampe auf. Die Soldaten hockten schweigend auf ihren Fahrzeugen. »Die aufmarschierten Truppen«, meldete der General Reinicke, »sind bereit, zum Angriff vorzugehen. Die Abriegelung des Bendlerblocks ist jetzt lückenlos. Panzer werden an allen Eingängen auffahren – bei Widerstand wird geschossen. Sonstige Einzelheiten wie abgesprochen
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vorbereitet.« »In Ordnung«, sagte Skorzeny. »Wenn es soweit ist – dann nichts wie rein in dieses Rattennest.« »Uns«, sagte Müller, der Gestapochef, »kommt es auf zwei Dinge an: Sicherung von Material und die Festnahme aller, die auch nur im geringsten verdächtig erscheinen.« »Ich habe da bereits vorsorglich eine ziemlich umfangreiche Liste vorbereitet«, erklärte Sturmbannführer Maier. »Aber nach den letzten Nachrichten fürchte ich, daß diese Liste noch lange nicht vollständig ist.« »Am sichersten wird sein«, sagte Skorzeny, »wenn wir zunächst einmal den ganzen Haufen, ohne Ausnahme, vereinnahmen.« »Nicht meine Leute!« forderte Maier. Der Chef der Gestapo betrachtete seinen Abteilungsleiter. »Wollen Sie irgend jemanden absichern, mein Lieber? Womöglich gar – sich selbst?« »Ich habe lediglich vorgesorgt«, versicherte Sturmbannführer Maier. »Reichlich spät – will mir scheinen.« Jetzt lächelte der SSObergruppenführer. »Sozusagen in letzter Minute.« »Aber, damit, noch nicht zu spät.« Skorzeny erkannte, was hier gespielt wurde: Jeder der beiden versuchte vorsorglich, seine Position zu festigen. Und um diese Pläne nicht in zeitraubende Rückendeckungsgefechte ausarten zu lassen, schlug er vor: »Die Gestapogruppen, meine ich, sollten die notwendig werdenden Verhaftungen durchführen – die Abteilung Maier stellt alles erreichbare Material sicher. Wir sollten jetzt nicht länger zögern.« »Wir können uns ruhig Zeit lassen«, meinte der Sturmbannführer Maier. »Diese Angelegenheit erledigt sich so gut wie von selbst. In einigen Viertelstunden fällt uns das Ganze wie eine überreife Frucht in den Schoß – ohne daß wir auch nur einen Schuß abzugeben brauchen.«
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»Was macht Sie so sicher?« fragte der Gestapochef lauernd. Maier bekam es fertig, selbstbewußt aufzulachen. Dann sagte er: »Eben die Tatsache, daß ich rechtzeitig vorgesorgt habe! Seit Stunden schon stehe ich mit verläßlichen Offizieren in Verbindung – ich habe eine Gegenaktion eingeleitet und sogar vertrauenswürdige Helfer eingeschleust. Sie werden sehen: meine Puppen tanzen immer richtig.« »Na – hoffentlich«, meinte der Obergruppenführer Müller betont skeptisch. »Von mir aus«, sagte Skorzeny, »sollen sie sich ruhig gegenseitig abknallen! Köpfe rollen garantiert – so oder so. Auf einen mehr oder weniger kommt es dabei nicht an.« »Es darf nur keiner übersehen werden«, meinte der Gestapochef und blickte zu Maier hinüber. »Freund Lehmann«, sagte der Graf von Brackwede und packte den Arm des Gefreiten, »ich gedenke Sie nunmehr zu belustigen.« Der Gartenzwerg betrachtete seinen Hauptmann erwartungsvoll. »Sollten Sie etwa jetzt noch einen Ausflug planen?« »Genau das! Läßt sich das ermöglichen?« »Aber ja«, sagte Lehmann. »Ich bin selbst kurz davor, mich hier zu verabschieden. Allerdings habe ich mit einer derartig angenehmen Begleitung kaum rechnen können. Darf ich fragen, wie ich zu einer solchen Ehre komme?« »Ich muß eine Aktentasche in Sicherheit bringen.« »Und wohin – bitte?« »Irgendwohin!« »Nun – das sollten wir vielleicht, meine ich, vorher klären.« Der Gefreite Lehmann hockte mit nachdenklichem Gesicht auf dem Schreibtisch des Hauptmanns. »Bei einem Ihrer Freunde können Sie natürlich kein Quartier beziehen – bei jedem von ihnen wird sehr schnell die Gestapo auftauchen. Jedoch, wenn Sie, Herr Graf, bereit wären, mit meinen neuentdeckten
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Genossen vorlieb zu nehmen, dann könnte ich Ihnen ein paar prima Adressen empfehlen.« »Mann!« rief der von Brackwede leicht ungeduldig. »Ihre Späße können Sie sich jetzt schenken! Sie sitzen da wie in einer Theaterloge. Jeden Augenblick kann die Bendlerstraße besetzt werden!« »Und das, Herr Hauptmann, ist genau der Augenblick, auf den ich warte.« Der Graf von Brackwede wußte nicht recht, ob er sich mehr besorgt oder mehr belustigt zu fühlen hatte. Lehmann schnitt eine kleine dünne Zigarre in zwei Teile – den etwas größeren davon reichte er dem Hauptmann. »Ich gedenke«, erklärte der Gefreite, »nach dem System des Leutnants von Hammerstein vorzugehen. Dem ist keine Möglichkeit entgangen. Und die letzte davon sieht so aus: über die Dächer, an einer Regenrinne abwärts, durch die Keller von zwei zerbombten Häusern, entlang einer zertrümmerten Mauer, etwa zehn Meter durch einen toten Kanalschacht – und dann können wir in die Spree spucken.« »Also los! Ich bin neugierig darauf, Ihre Freunde, einschließlich der schönen Studentinnen, kennenzulernen. Worauf warten wir noch?« Lehmann blinzelte in die Rauchwolke seiner Zigarre. »Je enger sich der Kreis um die Bendlerstraße schließt«, meinte er, »um so besser für uns. Wir unterlaufen sie dann sozusagen auf kleinstem Raum. Am sichersten wird sogar sein, wir betrachten dieses Schauspiel vom Dach aus – wenn erst alle im Bau sind, brauchen wir praktisch nur noch einen Spaziergang zu unternehmen.« »Er ist tot«, meldete der Feldwebel – und damit meinte er den Generaloberst Beck. Fromm nickte. Sein dunkel-entschlossener Gesichtsausdruck besagte: Bedauerlich, doch unvermeidlich! »Weiter!« sagte er drängend. Nun trat der Generaloberst Hoepner vor und erklärte: »Ich
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vermag meine Unschuld zu beweisen.« Er ersuche, höflichst, dementsprechend behandelt zu werden. »Mein Verhalten hatte ehrenwerte Motive. Und ich bedauere es sehr...« »Sie werden Ihre Konsequenzen daraus ziehen müssen!« rief Fromm. »Jawohl«, sagte Hoepner ergeben. Diese Erklärung nahm der Generaloberst Fromm mit einiger Erleichterung entgegen – das war ein Mann, der ihm nicht schaden würde. »Abführen!« rief er mit karger Handbewegung. Ein Unteroffizier und ein Mann taten das – der Generaloberst Hoepner folgte ihnen nicht ohne Haltung. Doch niemand im Raum nahm davon Notiz. Fromm straffte sich. Seine Augen wanderten wie die schnellen Lichter eines Leuchtturms über die vor ihm stehenden Offiziere hinweg: den General Olbricht, die Obersten Graf von Stauffenberg und Ritter Mertz von Quirnheim, den Oberleutnant von Haeften. »Und Sie, meine Herren?« Ablehnendes Schweigen. Nach einigen Sekunden erhob sich Generaloberst Fromm. »Ich nehme an«, sagte er, »daß Sie sich über Ihr Schicksal keinerlei Illusionen machen. Ich muß meine Pflicht tun. Ich gebe Ihnen noch einige Minuten Zeit – sagen wir: etwa fünf Minuten – damit Sie noch Abschiedsgrüße schreiben können.« Er ließ Papier und Schreibzeug zur Verfügung stellen. Es blieb unberührt liegen. Fromm entfernte sich. Ein halbes Dutzend Soldaten stand, die Waffen im Anschlag, feuerbereit im Raum. Niemand bewegte sich. Dann – fünf Minuten später – erschien der Generaloberst wieder. Er verkündete: »Im Namen des Führers hat ein Standgericht, von mir einberufen, stattgefunden.« Ob tatsächlich jemals ein derartiges Standgericht – ohne »Anhörung der Angeklagten« – stattgefunden hatte, vermochte später niemand nachzuweisen. Unbekannt, wer
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dazu gehört hatte; keine Notiz über Anklage und Urteil war jemals aufzufinden. Alles das versank in den Spätnebeln dieses blutigen Tages, wie vieles andere auch. Und Fromm erklärte weiter: »Dieses Standgericht hat vier der Herren zum Tode verurteilt. Nämlich: den Oberst im Generalstab Mertz; den General der Infanterie Olbricht; diesen Oberst, dessen Namen ich nicht kenne...«, und dabei wies er, ohne hinzublicken, mit weit ausgestreckter Hand auf Stauffenberg, »... und diesen Oberleutnant.« Damit war von Haeften gemeint. Abermals: Schweigen! Fromm wartete vergeblich auf irgendein Wort, auf eine Geste des Unwillens, auf einen Schrei der Auflehnung. In den Augen, die ihn anblickten, schimmerte bittere Verachtung auf. »Dieses Urteil ist sofort zu vollstrecken!« rief der Generaloberst Fromm hastig. Und er sagte zu einem Leutnant, der im Hintergrund stand, die Maschinenpistole im Anschlag: »Sie nehmen ein paar Leute und werden unten im Hof diesen Urteilsspruch vollziehen.« »Jawohl«, sagte der Leutnant gehorsam. Sein Name blieb unbekannt. Die Uhrzeiger rückten auf Mitternacht vor. Im Hof des Bendlerblocks leuchteten die Scheinwerfer eines Lastwagens auf – die Blendklappen waren ihnen abgenommen worden. Sie warfen ihr Licht gegen eine stumpfgraue Wand – scharfe Schatten zeichneten sich ab. Quadratische Haufen, aus Sandsäcken gebildet, stapelten sich rechts und links davon. Sie waren für den Luftschutz gedacht – jetzt würden sie Auffangvorrichtungen für Kugeln werden. Die vier zum Tode verurteilten Offiziere schritten über die dumpf hallende Steintreppe abwärts – dem Hof entgegen. Acht Soldaten, Offiziere und Unteroffiziere, begleiteten sie. Nicht ein Wort wurde gesprochen.
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Die Todeskandidaten stellten sich nebeneinander auf – auf der linken Seite des Hofes, kaum mehr als zwanzig Meter vom Haupteingang entfernt. Das Erschießungskommando formierte sich. Alles das geschah nahezu mechanisch – wie Puppen an Drähten bewegten sich diese Gestalten. »Durchladen und entsichern«, kommandierte der Leutnant. Die Soldaten schoben die ihnen übergebenen Rahmen mit Gewehrmunition in die Schlösser der Karabiner. Sie drückten sie in den Kasten, rissen den Ladehebel vorwärts und abwärts, standen dann wartend bereit. »Legt an!« rief der Leutnant. Der Hinrichtungsplatz war eng – kaum mehr als zwei Meter standen zwischen zwei Fenstern zur Verfügung. Die Opfer drängten sich aneinander – ihre Schultern berührten sich. Was sie zuletzt sahen, waren zwei ihnen entgegenstrahlende Scheinwerfer und verzerrte Schatten, die sie umstanden. Und dann: der Himmel! Er war fahlgrau und schien sich tief herabgesenkt zu haben. Eugen G., der Doktor, stand an eine Wand gelehnt. Vor ihm befanden sich drei Wachsoldaten – der eine, mit der Pistole in der Hand, überwachte die beiden anderen. Die richteten die Mündungen ihrer Schnellfeuerwarfen auf die drei Männer, die sich vor ihnen befanden. »Nur keine falsche Bewegung!« sagte einer warnend. Der Doktor blickte wie suchend um sich. Er hielt nach Möglichkeiten Ausschau, sich dieser Situation zu entziehen. Er schätzte die Chance ab, die Maschinenpistolenträger anzufallen – sie war gleich Null. »Auch darauf«, sagte der Mann rechts von Eugen G. leise, »bin ich vorbereitet gewesen. Es macht mir nichts aus.« »Schnauze halten!« rief einer der Wachsoldaten. »Sonst knallt es!« Rechts vom Doktor stand Helmuth James Graf von Moltke, der Rechtsanwalt und Sachverständige für Kriegs- und Völkerrecht im Oberkommando der Wehrmacht – er schien
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verhalten zu lächeln. Ergeben. Und dennoch wie erstarrt. Der Mann links vom Doktor war Berthold Graf von Stauffenberg, der Bruder des Oberst. Er schwieg und atmete schwer – auch er stand völlig regungslos. Sie hörten eine Stimme, die sie kannten. Es war die des Oberst Claus Graf von Stauffenberg. Sie kam, wie aus endloser Weite, ihnen entgegen. »... Deutschland!« rief diese Stimme. Eine wildaufratternde Salve, die wie ein zerberstender Gewitterhimmel war, löschte diese Worte aus.
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Dritter Teil DIE TAGE DANACH »Gebt Feuer!« hatte der Leutnant im Hof der Bendlerstraße kommandiert. Und ein halbes Dutzend Soldaten hatte gefeuert. Der Generaloberst Fromm persönlich überwachte diesen Vorgang. Mehrere sogenannte »Augenzeugenberichte« kamen Jahre später zum Vorschein. Fast alle widersprachen sich. Nach der einen Version soll dieses Erschießungskommando von einem Leutnant Schady befehligt worden sein – nach einer anderen von einem Leutnant namens Schlee. Der Major Remer versicherte: damit hätte er nichts zu tun gehabt. Kaltenbrunner erklärte – und dabei wurde er von Müller, Maier und Skorzeny mit Nachdruck unterstützt: Als es seinen Leuten gelang, die Bendlerstraße zu besetzen, wäre das alles schon vorüber gewesen. Fest stand allein: Der dafür eingeteilte Leutnant hatte seinen folgsamen Soldaten den Feuerbefehl erteilt. Der Oberleutnant von Haeften bäumte sich auf und brach zusammen. General Olbricht fiel wie ein gefällter Baum. Der Oberst Ritter Mertz von Quirnheim stellte sich vor Claus Graf von Stauffenberg. Der aber rief, bevor er starb: »Es lebe das heilige Deutschland!« »Für eine so gute und gerechte Sache ist der Einsatz des eigenen Lebens der angemessene Preis.« Julius Leber
1 Eine Nacht, die nicht enden wollte In den ersten Minuten nach Mitternacht dröhnte ein dreifaches »Sieg Heil« durch den Hof der Bendlerstraße. Der
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Generaloberst Fromm stimmte es an, das Hinrichtungskommando und die umstehenden Soldaten nahmen diesen Ruf auf. Sie brüllten ihre Worte über vier Leichen hinweg. Fromm blickte himmelwärts. Die heiße Nacht zitterte wie erschöpft. Von den Kalkwänden hallten die Stimmen dumpf wider. Die Gesichter waren zu schmutzig-grauen Flächen geworden. Der Generaloberst verließ den Hof. Er schritt durch seine Offiziere hindurch, die ihm auswichen. Fragende Stille umgab ihn – nur das scharrende Geräusch von Stiefeln war vernehmbar. »Ein Fernschreiben an den Führer«, sagte Fromm, als er wieder in seinem Dienstzimmer angekommen war. Er ließ sich schwer in einen Stuhl fallen. Er vermied es, in die Gesichter der Umstehenden zu blicken – sie waren neu in seiner engeren Umgebung. Sie wollten ihm leer und nichtssagend vorkommen. Er diktierte, als habe er eine alltägliche Routinemeldung durchzugeben: »Putschversuch niedergeschlagen... sämtliche Anführer erschossen ... in unwandelbarer Treue ...« Abschließend sagte er dann: »Uhrzeit: ein Uhr zwanzig.« Fast genau um diese Zeit begannen die Aktionen zur Besetzung der Bendlerstraße. Sie liefen ab, wie geplant. Die angesetzten Truppen konnten vordringen, ohne auf Widerstand zu stoßen. Der Offizier, der im Wachlokal Dienst tat, salutierte. Die Panzer standen unbeweglich da. Skorzeny schob sich vor – nur von zwei Mann begleitet. Der Sturmbannführer Maier folgte ihm. »Sie unterstellen sich mir!« rief Skorzeny, die Pistole in der Hand. »Jawohl«, sagte der Offizier und salutierte abermals. »Wir erwarten Sie bereits.« Nunmehr tauchte sogar eine Art Begrüßungskommando auf:
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der Major Heythe und der Oberleutnant Herbert. Sie drängten sich freudig erregt vorwärts. Skorzeny betrachtete sie mißtrauisch. »Wir haben hier reinen Tisch gemacht«, versicherte Herbert. »Alle hochverräterischen Elemente«, ergänzte Heythe, »sind inzwischen festgesetzt und damit ausgeschaltet worden.« SS-Hauptsturmführer Skorzeny nahm den Bericht des Generals Reinicke entgegen. »Alle Eingänge sind besetzt! Keinerlei Widerstand. Die Truppen sichern die Quer- und die rückwärtigen Gebäudeteile ab. Der vordere Trakt steht Ihnen zur Verfügung.« »Führen Sie mich zu Generaloberst Fromm«, verlangte Skorzeny von Major Heythe. »Wo ist der Hauptmann von Brackwede?« wollte Maier von Herbert wissen. »In seinem Dienstzimmer vermutlich – dort wird er auf uns warten.« Der Oberleutnant glühte vor stolzer Kampfbereitschaft. Jetzt war er sicher, in großer Stunde eine gute, eine glänzende Figur gemacht zu haben. »Ihre Ratschläge, Herr Sturmbannführer, waren für uns ungemein wertvoll – und ich kann versichern...« »Später«, sagte Maier, sich unruhig umblickend. »Zuerst muß ich den Hauptmann haben. Führen Sie mich zu ihm.« Sie eilten die Treppen hinauf – niemand stellte sich ihnen in den Weg. Die wenigen Offiziere, die ihnen begegneten, wichen ihnen bereitwillig aus – einige von ihnen hoben dabei die Hand zum deutschen Gruß. Sturmbannführer Maier registrierte das lediglich. »Wie ist das mit dem von Brackwede?« fragte er vorwärts drängend. »Hat der sich irgendwie verdächtig gemacht? Ich meine, sollte er etwa gegen...« »Aber doch nicht Hauptmann von Brackwede!« rief Herbert erstaunt aus. »Ganz im Gegenteil, möchte ich sagen! Der hat
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uns vielmehr wichtige Ratschläge gegeben!« »Das sieht ihm ähnlich!« rief der Sturmbannführer. »Und ich kann nur hoffen, wir treffen ihn weiter so munter an!« »Herr Generaloberst«, sagte der SS-Hauptsturmführer Otto Skorzeny, als er Fromm gegenüberstand, »ich habe den Auftrag, Ihr Amt zu übernehmen – bis weitere Befehle eintreffen.« »Wenn Sie diesen Auftrag haben«, erklärte Fromm gemessen, »dann werde ich Sie nicht daran hindern, ihn auch auszuführen. Sie handeln auf Befehl des Führers, nehme ich an.« »Auf direkten Befehl des Führers!« Der Generaloberst verließ seinen Platz – der Hauptsturmführer nahm ihn ein. Eine Verbeugung, von beiden Seiten ausgeführt, begleitete diese Zeremonie. Auch noch einen Handschlag auszutauschen, hielten sie für überflüssig. »Ich habe die überführten Hochverräter standrechtlich erschießen lassen«, erklärte Fromm. »Sie werden sich das überlegt haben«, meinte Skorzeny. »Und Sie werden es verantworten – denke ich.« »Selbstverständlich!« Der Generaloberst stand aufgerichtet da. »Ich habe nur meine Pflicht getan!« »Und was gedenken Sie nunmehr zu tun?« »Ich beabsichtige, Reichsminister Goebbels ausführlich Bericht zu erstatten. Haben Sie irgend etwas dagegen einzuwenden?« »Nicht das geringste«, sagte Skorzeny und griff zum Telefon. Fromm beachtete er fortan nicht mehr. Der verließ, gereckt, den Raum, in dem er jahrelang residiert hatte. Er sollte ihn nie mehr betreten. In Paris stand der General von Stülpnagel wortlos in der Halle des Hotels Raphael. Marschmusik umdröhnte ihn – sie kam aus voll aufgedrehten Radioapparaten. Vom einstigen
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Speisezimmer her, dem jetzigen Kasinosaal, klangen die erregten Stimmen der dort versammelten Offiziere. Oberstleutnant Cäsar von Hofacker, der neben ihm stand, sagte mit schwerer Stimme: »Dieser Kluge! Aber noch muß es nicht zu spät sein! Wenn wir alle SS-Führer erschießen, die wir gefangengesetzt haben...« Stülpnagel schwieg – er biß die Zähne zusammen und schloß die müde gewordenen Augen. Sein Kraftfahrer betrachtete ihn mitleidsvoll. Unbewegt nahm der General die Nachrichten entgegen, die ihm ein Ordonnanzoffizier überbrachte: Der Admiral Krancke habe alle in Paris liegenden Marineeinheiten alarmiert; SS-General Sepp Dietrich habe eine Art Ultimatum gestellt – er werde sein Panzerkorps gegen Paris anrollen lassen, wenn die SS-Führer nicht in Freiheit gesetzt würden; General Blumentritt werde in Kürze erscheinen, um Stülpnagel abzulösen – im Auftrag von Kluge. »Vollendete Tatsachen schaffen!« rief der Oberstleutnant von Hofacker verzweifelt. Stülpnagel sah seinen Vertrauten betrübt an – dann blickte er zu Boden. Die Marschmusik schwieg plötzlich. Dann ertönte die Stimme eines Rundfunkansagers. Und der verkündete: »In Kürze wird der Führer zum deutschen Volk sprechen.« »Warten wir noch eine halbe Stunde«, sagte der General tonlos. »Ich muß nachdenken.« »Wir denken zuviel«, sagte Cäsar von Hofacker kaum vernehmbar. Und dann schrie er auf: »Warum handeln wir nicht?« »Hier verläuft alles völlig programmgemäß«, erklärte Otto Skorzeny. »Fromm hat die Anführer umgelegt – der Rest der Offiziere spurt geradezu vorbildlich.« Das sagte er zu Ernst Kaltenbrunner, dem Chef des ReichsSicherheitshauptamtes. Der war inzwischen, von seiner machtvoll wirkenden Leibwache abgeschirmt, in der Bendlerstraße eingetroffen. »Geht das nicht ein wenig zu glatt?« fragte Kaltenbrunner.
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»Ich empfinde das als geradezu verdächtig.« »Ein absolut normaler Verlauf«, versicherte Skorzeny überzeugt. »Denn noch immer sind Befehle bei uns – wenn sie nur überzeugend ausgesprochen werden – auf verpflichtende Weise verbindlich.« »Haben Sie irgend jemanden über den Haufen schießen müssen?« »Die ganze erste Drecksarbeit«, konnte der Hauptsturmführer berichten, »haben uns die Kameraden von der Wehrmacht abgenommen. Die letzten Reste erledigt der General Reinicke.« General der Infanterie Hermann Reinicke kämmte zur Zeit, von verläßlichen Leuten unterstützt, das erste und zweite Stockwerk der Bendlerstraße durch. Auch er hatte seine große Stunde und war entschlossen, sie zu nutzen. Er verwandelte dieses Haus in ein Untersuchungsgefängnis. »Der läßt jeden festnehmen, der irgendwie verdächtig ist« erklärte Skorzeny. Die Standardformulierung dieses Generals bei seiner intensiven Beschäftigung lautete: »Meine Herren – Sie sind verhaftet. Sie werden aus dem Mund des Führers Ihr Urteil hören!« »Das ist alles viel zu einfach«, gab der Chef des Reichssicherheitshauptamtes erneut zu bedenken. »Das kann nicht die letzte Lösung sein! Hier haben doch Menschen existiert, die entschlossen waren, den Tod Hitlers herbeizuführen... Wo sind die, frage ich, geblieben?« »Sie haben sich eben wieder in ergebene Untertanen verwandelt!« »Hoffentlich irren Sie sich da nicht, Skorzeny.« Der Raum, den Kaltenbrunner durchschritt, bot viel Platz – er schien jedoch für diesen Mann nicht auszureichen. »Diesmal ist getötet worden – und das völlig rücksichtslos. Der Anschlag war genau gegen den Führer gezielt – gegen das Staatsoberhaupt. Von hohen Offizieren! Das aber hat es in
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Deutschland noch niemals vorher gegeben.« Der Küster der Matthäikirche – jener Kirche mit dem bürgartigen Glockenturm, den der Oberst Stauffenberg von seinem Dienstzimmer aus hatte sehen können – war ein braver, gutwilliger Mann. Als mitten in der Nacht an seine Tür gepocht wurde, erhob er sich ohne Murren und stieg in die bereitliegenden Hosen. Dann öffnete er gähnend. Vor ihm stand ein Feldwebel des Heeres. Auch er wirkte bieder, von verläßlicher Gesetztheit. Wie Brüder begegneten sie sich. Beide hatten sie gelernt, hinzunehmen, was kam – der eine von Gott, der andere mehr von den jeweiligen Vorgesetzten. »Wir müssen ein Grab schaufeln«, sagte der Feldwebel. »Und zwar ein ziemlich großes. Fünf Leichen habe ich schon mitgebracht – mit dreißig müssen wir unter Umständen rechnen.« Der Küster wagte es nicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Er nickte lediglich, zog die Hosen hoch und folgte dem Feldwebel. Vor der Kirche erblickte er das Begleitkommando und einen leichten Lastwagen. Gemeinsam trugen sie die Leichen zur Friedhofsmauer. Die Nacht umfieberte sie mit hellfahlen Farben. »Dann wollen wir mal!« sagte der Feldwebel, spuckte sich in die Hände und griff zum Spaten. Den stieß er kräftig in den knirschenden Sand hinein. »Also – los Leute!« rief er ermunternd seinen Begleitern zu. Der Küster zog sich zurück – er war beunruhigt; denn diese nächtliche und wenig christliche Beerdigung war ein Vorgang, den er allein nicht zu verantworten gedachte. So telefonierte er mit dem nächsten Polizeirevier. Kurz danach erschienen zwei Beamte und der Reviervorsteher dazu. Sie zündeten Fackeln an und leuchteten damit die Leichen ab: ein General, zwei Obersten, ein Oberleutnant und ein Zivilist – der Generaloberst Beck. »Na – so was!« sagte einer der staunenden Polizisten.
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»Leute!« rief der bereits schwitzende Feldwebel ungehalten. »Steht hier nicht herum und haltet Maulaffen feil! Packt lieber zu! Das hier ist eine geheime Staatsangelegenheit – davon darf nichts in die Öffentlichkeit dringen. Befehl direkt vom Führer! Also – was ist?« Nun griffen auch die Polizeibeamten einen der zahlreichen bereitliegenden Spaten auf. Sie stießen ihre Fackeln in die Erde und begannen eifrig zu schaufeln. Die rußigen Flammen beleuchteten ihre angestrengt wirkenden Gesichter. Die Toten lagen wie flache Hügel da. »Wo ist der Hauptmann?« fragte der Sturmbannführer Maier, auf Konstantin von Brackwede wie ein Habicht zustoßend. Der Leutnant stand allein im Dienstzimmer seines Bruders, in der Nähe des Fensters. Er war blaß und voller Unruhe. Er antwortete nicht. »Sind Sie etwa krank?« fragte Maier fast hoffnungsvoll. Er packte nach Konstantins Arm, daran rüttelnd. »Oder ist Ihnen der Schrecken in die Glieder gefahren? Ich habe Sie etwas gefragt!« »Ich weiß nicht, wo mein Bruder ist«, sagte Konstantin abweisend. »Und ich will es auch gar nicht wissen!« »Nanu, mein Lieber – was sind das für Töne! Fallen Sie uns jetzt nur nicht aus dem Rahmen, Mann! Ich muß so schnell wie möglich den Hauptmann sprechen – wir brauchen ihn dringend.« Der Leutnant trat zwei Schritte vor. Grelles Lampenlicht fiel jetzt auf sein angespanntes Gesicht und ließ es kreidebleich erscheinen. Und es war, als schimmerte sein Haar aschgrau. »Haben Sie die Absicht, meinen Bruder zu verhaften?« »Wie kommen Sie denn darauf?« rief Maier. »Nur keine voreiligen Schlüsse, bitte! Oder sollten Sie etwa überzeugt davon sein, daß er an dieser Sauerei beteiligt ist?« »Ich weiß gar nichts«, gestand Konstantin von Brackwede ratlos – und fast verzweifelt hob er die Hände. »Ich weiß
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überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.« Der Sturmbannführer atmete auf. »Das beste ist, Sie denken jetzt überhaupt nicht weiter nach. Warten Sie getrost auf die Dinge, die da kommen werden. Sie können das in aller Seelenruhe tun – dafür garantiere ich persönlich. Denn wie Sie meine Befehle und Anregungen an die Herbert-Gruppe übermittelt haben – das war prima Arbeit und wird anerkannt.« »Was ist wirklich geschehen? Und was habe ich jetzt damit zu tun? Warum suchen Sie so intensiv nach meinem Bruder?« »Mann! Sie fangen ja schon wieder an zu denken! Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf Ihres Bruders oder gar den meinen. Der Hauptmann und ich haben noch ein wichtiges Geschäft abzuwickeln. Aber – wo ist er?« »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ich denke mir aber: er muß ja wohl wieder hierher zurückkommen.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Vor etwa einer halben Stunde.« »Dann«, glaubte Maier erleichtert feststellen zu können, »muß er noch irgendwo im Hause sein.« Konstantin nickte. »Das hoffe ich auch. Aber er schien es sehr eilig zu haben. Er hat kaum mit mir gesprochen – und was er sagte, habe ich nicht verstanden. Er nahm die Aktentasche und verschwand.« »Welche Aktentasche?« fragte der Sturmbannführer aufhorchend. »Er hatte sie mir gestern anvertraut – nein, genauer: bereits vorgestern. In den Abendstunden.« »Wie – er hat Ihnen eine Aktentasche anvertraut? Was befand sich darin?« »Eine Menge Papiere. Es war übrigens die gleiche Aktentasche, die ich mit mir getragen hatte, als wir beide vor einigen Stunden zur Bendlerstraße fuhren. Sie haben sie mir nachgereicht, als ich ausstieg.« Der Sturmbannführer schnaufte wie ein Hund nach wilder ergebnisloser Jagd. Sein Mund war weit geöffnet. Er blickte
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mit fassungslosem Staunen den Leutnant an. »Menschenskind«, sagte er dann mühsam, »das müssen wir aber schleunigst bereinigen – wenn wir nicht gleich alle drei zusammen in die Binsen gehen wollen!« Kurz nach 01.00 Uhr sprach Adolf Hitler, der Führer und Reichskanzler und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht, zum deutschen Volk. Seine Stimme klang heiser, nur mühsam beherrscht, mit wolfsartig hallenden Zwischentönen. Hitler sagte: »Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen!... Wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann geschieht das besonders aus zwei Gründen: erstens, damit Sie meine Stimme hören und wissen, daß ich selbst unverletzt und gesund bin; zweitens: damit Sie aber auch das Nähere erfahren über ein Verbrechen, das in der deutschen Geschichte seinesgleichen sucht.« Der Oberst Stauffenberg wurde »wie ein Sack Kohlen« in die Grube geworfen. Fromm suchte Goebbels auf und rief dem ein tönendes »Heil Hitler!« entgegen. In Paris beschloß Stülpnagel zu kapitulieren. In Berlin lief der Hauptmann von Brackwede, seine Aktentasche mit sich schleppend, im Schatten der Häuser nordwärts, auf den Schifferdamm zu. Hitler weiter: »Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen...« Der Generaloberst Beck wurde auf Stauffenberg geworfen – ihre Gesichter streiften sich; Erde rieselte über ihre Lippen. Der Oberleutnant Herbert betrachtete erwartungsvoll seine Braut und entkorkte eine neue Flasche, um auf den endgültigen Sieg zu trinken. Generalfeldmarschall von Kluge sah mit Verachtung auf den brüllenden Radioapparat – und es war, als blicke er in einen Spiegel. Hitler: »... eine ganz kleine Gruppe... die nun glaubte, wie im Jahre neunzehnhundertachtzehn den Dolchstoß in den Rücken führen zu können... Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden.«
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Elisabeth Gräfin von Oldenburg-Quentin lag auf ihrem Bett, hörte das und weinte. »Ausradieren, dieses Sauvolk!« rief Jodler zwei Stockwerke tiefer. Auf dem Friedhof bei der Matthäikirche wurde der Oberleutnant von Haeften als letzter in die Grube geworfen. Goebbels sagte zu Fromm: »Sie scheinen ja große Eile gehabt zu haben, unbequeme Zeugen unter die Erde zu bringen!« Weiter Hitler: »... es ist unmöglich, daß vorn Hunderttausende und Millionen braver Männer ihr Letztes hergeben, während zu Hause ein ganz kleiner Klüngel verbrecherischer, ehrgeiziger und erbärmlicher Kreaturen diese Haltung dauernd zu hintertreiben versucht... Diesmal wird nun so abgerechnet, wie wir das als Nationalsozialisten gewohnt sind...« »Gott segne unseren geliebten Führer!« stöhnte die Breitstraßer hingebungsvoll auf – dabei vergaß sie, den Korridor zu überwachen; dort eilte Hauptmann von Brackwede die Treppen hinauf. Und Maier ordnete telefonisch für die Prinz-Albrecht-Straße an: »Soviel Zellen freimachen wie nur irgend möglich.« Dann erhielt Voglbronner einen Spezialauftrag. Berlins Straßen waren leer. Die meisten Menschen schliefen erschöpft und hörten Hitler nicht zu – die alliierten Bomber kamen auch in dieser Nacht nicht; dafür dankten sie Gott. Der Gefreite Gartenzwerg Lehmann traf bei seinen Gesinnungsgenossen ein. »Da bin ich wieder!« rief er ihnen zu. »Bereit, für Deutschland zu pinseln! Und besonders heute noch müssen ganz dicke Parolen angebracht werden, etwa: Laßt Euch nicht für dumm verkaufen. Außerdem ist es möglich, daß wir heute nacht noch weiteren Zuwachs bekommen – einen Mann, den sogar ich, und das mit Respekt, Graf nenne. Mit dem kann man Pferde stehlen – sogar die aus Bronze, die im Hof der Reichskanzlei stehen.« Nachdem Deutschlands Führer gesprochen hatte, ertönte der Badenweiler Marsch. Dann ließ sich der Reichsmarschall Göring vernehmen. Bemüht markig erklärte er: »Ein
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unvorstellbarer, gemeiner Mordanschlag wurde heute von einem Oberst Graf Stauffenberg...« Auf Stauffenberg fiel Erde und deckte ihn zu. Fromm trank Wein aus Goebbels Keller. Hofacker hatte Tränen in den Augen. Himmler meldete im Führerhauptquartier: »Die Revolte ist zusammengebrochen. In Berlin herrscht Ruhe. Mehrere Verhaftungen wurden vorgenommen; weitere werden folgen.« Nachdem eine Schallplatte mit einem schneidigen Militärmarsch abgeschnurrt worden war, sprach der Großadmiral Dönitz. Seine Satzgebilde waren wie Breitseiten. An großdeutscher Formulierungskraft übertraf er noch seine Vorredner. Er rief – unter anderem – aus: »Heilloser Zorn und maßlose Wut erfüllen uns über den verbrecherischen Anschlag, der unserem geliebten Führer das Leben kosten sollte... Eine wahnsinnige kleine Generalsclique, die mit unserem tapferen Heer nichts gemein hat, hat in feiger Treulosigkeit diesen Mord angezettelt...« Abschließend sagte dann der Rundfunksprecher: »Das Komplott... völlig zusammengebrochen... Die Rädelsführer haben sich... zum Teil selbst entleibt. Die übrigen... Schuldigen werden zur Verantwortung gezogen werden.« Hitler hockte in seinem Wohnbunker. Er nickte mehrmals, als er sich sprechen hörte. Dann befahl er: »Ich will sie hängen sehen! Sehen will ich das!« »Was machen Sie für ein entsetztes Gesicht, Verehrteste!« rief der Hauptmann von Brackwede ermunternd. Er lächelte die Gräfin Oldenburg an und ließ sich auf einen Sessel fallen. »Und ich habe immer gehofft, Sie würden sich freuen, wenn ich Sie einmal mitten in der Nacht besuche.« Elisabeth blickte ihn fassungslos an. Sie zog mit mechanischer Bewegung ihren Schlafrock enger um sich, als friere sie. »Mein Gott – wie kommen Sie hierher? Ausgerechnet hierher!«
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»Haben Sie Angst?« »Ja – um Sie!« Elisabeth schaltete das Deckenlicht aus – nur eine rotbleiche Lampe in der Nähe ihres Bettes brannte. Sie eilte zum Fenster und schob mit bebenden Händen einen schmalen Teil des Verdunkelungsvorhanges zur Seite. Schwer atmend blickte sie hinaus. »Keine Bange, ich halte mich hier nicht lange auf«, sagte der von Brackwede. »Doch ehe ich untertauche, möchte ich noch gern wissen, was Sie eigentlich mit meinem Bruder angestellt haben – der Junge ist total durchgedreht! Was ist geschehen?« »Die Gestapo war hier – fast den ganzen Tag«, erklärte Elisabeth. »Und jetzt, glaube ich, kommen sie wieder.« Brackwede sprang auf, eilte zu ihr an das Fenster und blickte hinaus: Eine schwarzgraue Limousine rollte mit abgedrosseltem Motor fast lautlos an und blieb vor der Haustür stehen. Voglbronner stieg aus und sah blinzelnd zum dritten Stock empor. »Alle Achtung«, sagte der Hauptmann, »dieser Maier versteht sein Handwerk! Letzte Feinheiten allerdings traue ich ihm nicht zu – auch nicht, daß er so dumm gedacht hat, wie ich diesmal gehandelt habe. Wo kann ich mich verstecken?« Er wurde mitsamt seiner Aktentasche in eine schmale fensterlose Kammer zwischen Küche und Toilette geschoben. Es war der gleiche Raum, in dem die jüdischen Besucher der Frau Wallner Unterschlupf gefunden hatten. »Was wollen Sie?« fragte die Gräfin Oldenburg den lauernd dastehenden Voglbronner. »Sind Sie etwa gekommen, um mich zu verhaften? Bitte – ich stehe zu Ihrer Verfügung.« »Nicht doch!« wehrte der Gestapomann ab. »Ich bin lediglich gekommen, um Ihnen eine Nachricht zu überbringen. Diese Nachricht sollen Sie, bitte, so schnell wie möglich weiterleiten. Sie lautet folgendermaßen: Hauptmann Brackwede wird dringend gebraucht. Sturmbannführer Maier legt größten Wert auf seine Mitarbeit – und je schneller die erfolgt, um so besser. Um so besser für uns alle – Sie
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möglicherweise mit eingeschlossen. Haben wir uns verstanden? Oder muß ich noch deutlicher werden?« In Berlin hatte sich in dieser Nacht auch der Amtssitz des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Josef Goebbels, in ein provisorisches Gefängnis verwandelt. Als der Hausherr sicher sein durfte, die Situation zu beherrschen, schwelgte er in ironischer Überlegenheit. »Und so was wollen Verschwörer sein!« rief er aus. Denn er hatte einen General nach dem anderen »kassieren« können, ohne dabei auch nur auf den geringsten Widerstand zu stoßen. »Die sind ja nicht einmal in der Lage, eine Sprengung richtig durchzuführen – kein Wunder, wenn wir da mit diesem Krieg noch nicht weitergekommen sind.« Fromm wurde – mit einer Flasche Wein – in das Rauchzimmer gesperrt. Im Musikzimmer saß Graf Helldorf, der Polizeipräsident von Berlin. Der General von Hase befand sich in einem Salon – auch ihm wurde Wein serviert. Und als Hase noch eine zweite Flasche verlangte, meinte Goebbels gut gelaunt: »Soll er sie von mir aus haben! Aber meinen ganzen Keller lasse ich mir nicht leersaufen.« Und zu Himmler sagte er fast verächtlich: »Eine Revolution am Telefon!« Dann aber fügte er, die Augen leicht zusammenkneifend, hinzu: »Nur ein paar Gewehrschüsse – und wer weiß, wo wir jetzt wären...« Dann lachte er wieder. In Paris erklärte der General von Stülpnagel: »Das Schicksal hat gegen uns entschieden.« Hierauf erteilte er den Befehl, die fast vollzählig eingesperrten SS-, SD- und Gestapo-Leute seines Bereiches wieder freizulassen. Er ordnete an: das habe in höflicher Form und mit dem Ausdruck des Bedauerns zu geschehen. »Sollen wir diese Herren womöglich noch zu einer Versöhnungsfeier einladen?« fragte Cäsar von Hofacker bitter. Der General schwieg. Doch sein Unterhändler, der Generalleutnant Hans von Boineburg-Lengsfeld, leistete sich souverän eine Komödie besonderer Art: Er suchte die inhaftierten SS-Führer auf und behandelte sie mit erlesener
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Höflichkeit. »Welch ein bedauernswerter Irrtum!« rief er aus und lud sie, mit großer Geste, ins Hotel Raphael ein. »Auf ein Glas Champagner.« Diese Einladung wurde mit Erleichterung angenommen. Und hier empfing sie der General von Stülpnagel. Sie lächelten sich mühsam an. Dann nahm der SSGruppenführer Oberg, der »Schlächter von Paris«, das ihm gereichte Champagnerglas entgegen. Er trank Stülpnagel zu, der bereits so gut wie tot war. Eine Art »rauschende Nacht« begann. Wehrmachtsoffiziere tranken mit SS-Funktionären – sie fühlten sich überaus erleichtert. Champagnerflaschen wurden batterieweise geleert; das Stimmengewirr verstärkte sich; rührselige Verbrüderungsszenen ließen sich offenbar nicht vermeiden. Der Oberstleutnant Cäsar von Hofacker fehlte, Wortlos hatte er sich zurückgezogen. Er stand wie erstarrt in seinem Zimmer – minutenlang. Dann begann er, die noch übriggebliebenen Papiere zu verbrennen. Inzwischen hatten sich der General von Stülpnagel und der SS-Gruppenführer Oberg in einer Ecke zusammengesetzt. Otto Abetz, der Botschafter in Paris, bemühte sich, zu vermitteln: Eine Art »Sprachregelung« wurde vereinbart. Danach habe sich folgendes ereignet: eine Alarmübung – nichts anderes sonst. Und die wäre mit der höheren SSFührung vorher völlig korrekt vereinbart gewesen. Das sollte alsbald den beteiligten Truppen und Parteieinheiten mitgeteilt werden. »Nun – ist das nicht die denkbar beste Lösung?« fragte der Botschafter. »Einverstanden«, sagte Gruppenführer Oberg. Er hob sein Champagnerglas – Stülpnagel entgegen. Und zu ihm sagte er, fast vertraulich, nicht für die Ohren anderer bestimmt: »Glauben Sie im Ernst, damit durchzukommen?« »Wir werden sehen«, sagte der. »Ich fürchte«, sagte der SS-Führer lächelnd, »diesmal
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haben Sie gefährlich hohe Summen auf das falsche Pferd gesetzt, Herr General.« Auch in der Bendlerstraße herrschte Hochstimmung. Sturmbannführer Maier war in den Räumen des Generals Olbricht ein erster wichtiger »Aktenfund« gelungen; er wies an die hundert Namen auf. Kaltenbrunner und Skorzeny nahmen diese Unterlagen entgegen. Gestapochef Müller hatte bereits drei Dutzend Verdächtige in die Prinz-Albrecht-5traße transportieren lassen – er hatte berechtigte Hoffnung, auf sechs Dutzend zu kommen. Der Oberleutnant Herbert gab seine sämtlichen Bestände frei. Er verteilte sie unter seine Kameraden, er ließ sie in den Nachrichtenkeller wandern, er versorgte damit großzügig die Anführer der eingesetzten Verbände: Grund zum Feiern war mehr als genug vorhanden. Denn: die ersten dankbar-würdigen Anerkennungen des Führers und Reichskanzlers waren inzwischen eingetroffen. Danach war nicht nur der Major Remer zum Oberst befördert worden – außer ihm erhielten auch noch drei weitere Stabs-Offiziere den gleichen Rang: Der Nachrichtenleutnant Röhrig war Hauptmann geworden. Und sein Feldwebel erblickte das Morgengrauen dieses Tages als Offizier. »Es hat sich gelohnt!« stammelte Herbert. Er entkorkte, mit Hilfe seiner Braut, die nächste Flasche. Sein rotwangiges Apfelgesicht glänzte wie mit einem Wolltuch poliert. Denn: er war Major. Doch damit war Hitlers Dankbarkeit für Herbert noch nicht erschöpft – zusätzlich wurde der »Bekämpfer der Bendlerstraßenrevolte« mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse ausgezeichnet. Und dieser Orden wurde sonst gewöhnlich nur »wegen besonderer Tapferkeit vor dem Feinde« verliehen. »Wo ist mein Freund Konstantin?« rief Herbert schwankend, nunmehr Major und Held. »Ich muß ihn umarmen! Und wo ist Brackwede, der Hauptmann, mein Gönner? An meine Brust will ich ihn drücken!«
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»Liebwerte Genossen«, sagte der Gartenzwerg Lehmann ermunternd – nunmehr wieder Kranführer im Westhafen – , »hier stelle ich Ihnen das neueste Mitglied unseres Vereins vor. Er ist mit Julius Leber befreundet.« Und damit war alles gesagt. Lehmann wies auf den Grafen von Brackwede, der verwundert in der Kellertür stand. Er hatte sich seine Aktentasche unter den Arm geklemmt; sein Monokel blitzte irritierend auf. Er musterte die Anwesenden mit spürbarer Neugier. Sie wurden ihm vorgestellt. Fritz-Wilhelm reichte jedem von ihnen die Hand. Dann ließ er sich zwischen ihnen nieder – mit großer Selbstverständlichkeit. »Hier«, erklärte Lehmann, »sehen Sie ein Rudel vielfacher Hoch- und Landesverräter vor sich.« »Fein«, sagte der von Brackwede. »Dann sind wir ja ganz unter uns.« »Was können wir für Sie tun?« fragte der Dramatiker. Das wollten auch die beiden Studentinnen wissen. Sie zeigten sich lebhaft interessiert. Doch Lehmann bremste ihre Begeisterung. »Der Graf ist schwer verheiratet – das müßt ihr wissen, Kinder. Außerdem habe ich euch für mich reserviert – ich bitte das zu berücksichtigen.« Sie lachten unbekümmert. Der von Brackwede fühlte sich hier geborgen – er stellte seine Aktentasche ab. Er erklärte: »Der Umgang mit mir kann lebensgefährlich sein – darauf möchte ich aufmerksam machen. Wer mir Unterkunft gewährt, kann dafür unter Umständen mit dem Tode bestraft werden.« Kranführer Lehmann grinste. »Damit, Herr Graf, können Sie hier niemandem imponieren.« Der von Brackwede nickte ihm zu und sagte: »Ich benötige eine Unterkunft – auf unbestimmte Zeit. Äußerlichkeiten spielen dabei keine Rolle, nur auf eins lege ich Wert: auf einen Ofen, der beheizbar ist. Ich gedenke, mit dem Inhalt meiner Aktentasche ein kräftiges Feuer zu entzünden.«
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Er erhielt, unverzüglich, sechs Angebote. »Lassen Sie sich ruhig Zeit, darüber nachzudenken«, meinte Lehmann. »Schließlich müssen Sie die nächsten Tage bei uns zubringen – und dabei sollten Sie sich möglichst wohl fühlen. Darauf legen wir Wert.« Kurz nach 04.00 Uhr früh erklärte Goebbels, zufrieden gähnend: »Meine Herren – der Putsch ist beendet.« Er gedachte nun, sich in seine privaten Räume zu begeben. Naumann, sein Staatssekretär, begleitete ihn. Sie schlenderten durch den Korridor – bis zur Führerbüste hin, die in einer Türnische stand. Der Minister betrachtete sie lächelnd und legte dann seine rechte Hand über die bronzene, tief in die Stirn fallende Frisur. Dabei sagte er: »Das ist nun schon der sechste Putsch gegen den Führer, den ich miterlebt habe.« Und auflachend fügte er hinzu: »Keiner war so gefährlich wie dieser – aber keiner ist auch so schnell niedergeschlagen worden.« Er konnte noch nicht schlafen. Er beklopfte mit nervösen Händen die Führerbüste. Sie klang hohl. Dann setzte er sich auf einen kleinen Tisch, der daneben stand, und ließ seine kurzen Beine baumeln. Abermals machte er sich über die »Verschwörer« lustig – die hätten ihren Putsch wie eine Milchmädchenrechnung angelegt. Doch dann verfiel er in dunkle, ihn offenbar selbst verwundernde Nachdenklichkeit. Sein kluges Galgenvogelgesicht blickte versonnen. Und leise, wie zu sich selbst, sagte er: »Absolut lächerlich, das Ganze! Wenn nicht dabei etwas wäre, das mich beeindruckt hat. Wissen Sie, was ich meine?« Sein Staatssekretär gestand, das nicht zu wissen. Er blieb abwartend stehen – völlig übermüdet, mit geröteten Augen. »Dieser Stauffenberg!« sagte Goebbels. »Das war ein Kerl! Welche Kaltblütigkeit, welche Intelligenz, welch eiserner Wille!« Und widerwillig bedauernd fügte er hinzu: »Unbegreiflich, daß er sich mit dieser Horde von Trotteln umgab!«
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|m Morgengrauen dieses Tages wurde der Küster der Matthäikirche erneut herausgetrommelt. Diesmal sah er sich einem Gestapokommando gegenüber. »Wir müssen die Leichen haben«, erklärte der Anführer. »Sie ruhen bereits unter der Erde«, sagte der Küster. »Dann werden wir sie eben wieder ausgraben, Mann – ganz einfach!« Die Gestapoleute schienen leicht belustigt – ein Haufen Erde war schließlich kein Hindernis für sie. Und Spaten gehörten zu jedem Friedhof. »Der Erkennungsdienst muß noch einige Fotografien machen.« So wurden sie wieder ausgegraben: der Oberleutnant von Haeften, die Obersten Mertz und Stauffenberg, der General Olbricht und ein Zivilist, der Generaloberst Beck. Die Leichen wurden auf einen Lastwagen geworfen und abtransportiert. Sie wanderten in irgendeinen Verbrennungsofen. »Ihre Asche wurde«, wie später Himmler verkündete, »in die Felder gestreut.« Der Generalmajor Henning von Tresckow ahnte nicht, was in Berlin geschehen war. Er hatte einen zermürbenden Tag hinter sich gebracht – die Lage an der Ostfront war katastrophal. Jetzt schlief er erschöpft auf seinem Feldbett. Der Oberleutnant Fabian von Schlabrendorff, sein Kamerad und Freund, weckte ihn. Tresckow erhob sich sogleich – er war es gewohnt, aus dem Schlaf gerissen zu werden. Auch schien es für ihn keine Hiobsbotschaft mehr zu geben, die ihn noch hätte erschüttern können. Er hörte regungslos, was Schlabrendorff zu berichten hatte. Dann bewegte sich Tresckow mit bedächtiger Schwere; er ging einige Schritte durch den kargen Raum – blieb stehen, schien intensiv nachzudenken. Schließlich sagte er mit großer Einfachheit: »Man wird versuchen, von mir die Namen unserer Freunde zu erfahren. Um das zu verhindern, werde ich mir das Leben nehmen.« Schlabrendorff schwieg – Tresckows unbeirrbare Selbstverständlichkeit ließ ihn verstummen. Um sie
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zerfressene, zerfallene Holzwände, Generalstabskarten und Organisationspläne, zerlesene Bücher und wie weggeworfen wirkende Kleidungsstücke. Die stickig-heiße Nacht umschlich sie wie auf Katzenpfoten. »Jetzt«, sagte Tresckow, »wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, daß wir recht gehandelt haben...« Denn: »Der sittliche Wert eines Menschen«, so sagte Henning von Tresckow, »beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben.« Er ließ sich an die Front fahren und schritt hier, allein, über die vordersten Linien hinaus. Er feuerte seine Pistole leer, um einen Kugelwechsel vorzutäuschen. Dann tötete er sich mit einer Handgranate. Es wurde gemeldet: der Generalmajor Henning von Tresckow sei »vor dem Feind gefallen«. Am Freitag, dem 21. Juli 1944, näherte sich ein Obergefreiter in den frühen Morgenstunden dem Häuserblock Bendlerstraße 11/13. Sein Name ist unwichtig. Sein Auftrag war ohne Bedeutung – er hatte lediglich ein Schriftstück zu überbringen. Dieser Obergefreite wußte nichts von dem, was geschehen war. Er hatte weder Rundfunk gehört, noch war er von irgendeinem Vorgesetzten aufgeklärt worden. Er hatte einen geruhsamen Schlaf hinter sich – jetzt führte er einen Befehl aus. Auf die spätere Frage, ob ihm irgend etwas Besonderes aufgefallen wäre, berichtete er lediglich: »Es war verdammt heiß. Das Hemd klebte mir auf der Haut. Die Straße war leer. Dann kamen mir – aus diesem steinernen Scheunentor des Bendlerblocks – Soldaten entgegen, etwa in Kompaniestärke. Sie hatten Maschinenpistolen und Gewehre umgehängt. Sie sangen. Das war alles.« Nichts Ungewöhnliches schien sich ereignet zu haben. Die Torwache funktionierte. Der Dienstbetrieb lief. Die abmarschierenden Soldaten sangen. Was sie hinter sich
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gelassen hatten, war nicht erkennbar. »Alles war völlig normal«, berichtete der Obergefreite. »Niemand kann uns entkommen«, erklärte SSSturmbannführer Maier suggestiv. »Früher oder später erwischen wir jeden – unser System ist lückenlos.« »Das mag sein«, sagte der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede reserviert. »Das sollte Ihnen aber nicht gleichgültig sein – Ihres Bruders wegen nicht!« Der Sturmbannführer schien besorgt. »Ich lege Wert darauf, daß Sie folgendes erkennen: Je schneller sich Ihr Bruder stellt – uns zur Verfügung stellt – , um so besser für uns alle.« Konstantin war ersucht worden, sich bei Maier in der PrinzAlbrecht-Straße zu melden. Und hier durchwühlte der Sturmbannführer einen Stapel Papiere: Verhaftungsbefehle und Vollzugsmeldungen. In den Gestapokellern befanden sich bereits mehr als hundert Verschwörer – die ersten Vernehmungen waren schon angelaufen. Kaltenbrunner persönlich leitete die Aktion. Er hatte zunächst drei Unterabteilungen aufgestellt und deren wichtigste Maier anvertraut: die Militärs aus der Bendlerstraße. Das allerdings nicht ohne die Bemerkung: »Der Führer will unverzüglich Erfolge sehen – und das will ich auch. Und da Sie, Maier, bereits vorsorglich auf diese Burschen angesetzt gewesen sind, werden Sie mir ja auch schnelle, überzeugende Resultate liefern können.« Das aber war nicht nur eine Forderung – das war eine Drohung gewesen. Maiers vorsichtiger Einwand – »die Hauptzeugen sind leider beseitigt worden« – wurde mit knapper Handbewegung beiseite gefegt. »Es wird auch noch andere geben – und die müssen Sie finden.« Es gab auch noch andere – einen zumindest mit Sicherheit: Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede; vielleicht der einzige noch existierende Kenner aller Zusammenhänge im Bereich der Stauffenberg-Gruppe. Der mußte gefunden werden!
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»Fliegen kann er nicht«, erläuterte der Sturmbannführer dem steif ablehnend dasitzenden Konstantin. »Zum Fliegen werden mehrfache, besondere Genehmigungen benötigt. Zu einem Auto gehören Fahrerlaubnis und Benzin. Auf den Bahnhöfen und in den Zügen werden doppelte und dreifache Kontrollen durchgeführt. Fußmärsche sind sinnlos – wir haben alle Gendarmen alarmiert und überall zusätzliche Streifen einsetzen lassen. Ober die Grenzen kann niemand – die sind dicht abgeriegelt. Also muß Ihr Bruder noch in Berlin sitzen!« »Das ist möglich – aber davon weiß ich nichts!« »Sie sollen sich zunächst einmal lediglich meine Argumente anhören«, sagte Maier, leicht ungeduldig. »Sie sollen erkennen, daß Flucht oder Verbergen sinnlos ist. Denken Sie nur an die Lebensmittelkarten; die reichen für vier Wochen. Hotels und Landgasthäuser gewähren nicht mehr als drei Tage Aufenthalt. Jedes Dorf ist mit Bombengeschädigten belegt. Und dann dies: Wer einem Flüchtigen Unterkunft gewährt, begibt sich in Lebensgefahr. Ihr Bruder kennt diese Spielregeln ganz genau.« »Das ist Sache meines Bruders«, sagte Konstantin unbeirrt abweisend. »Mann!« rief der Sturmbannführer aus. »Nehmen Sie doch endlich Vernunft an!« Er schlug mit der Faust in die Bündel von Papieren, die auf seinem Tisch lagen. »Ich verlange doch gar nicht von Ihnen, daß Sie Ihren Bruder ans Messer liefern! Sie sollen uns helfen. Rechtshilfe sollen Sie leisten. Und dabei könnten Sie dann außerdem noch Ihren Bruder vor dem Schlimmsten bewahren. Sehen Sie das immer noch nicht ein?« Der Leutnant Konstantin Graf von Brackwede schwieg. Sein Gesicht war bleich – Lippen und Kinn wirkten entschlossen. Doch in seinen Augen stand Ratlosigkeit. »Nun gut«, sagte Maier mit bedauernden Untertönen. Er griff nach einem Zettel – einem Verhaftungsbefehl. »Natürlich müssen wir uns in jeder erdenklichen Weise absichern. Da wir
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Ihren Bruder nicht haben, müssen wir uns eben an seine Mitarbeiterin halten.« »Die Gräfin Oldenburg«, versicherte Konstantin sofort, »hat nichts damit zu tun – nicht das geringste.« »Kann durchaus sein«, sagte der Sturmbannführer, »das wird sich herausstellen. Zunächst einmal werden wir sie verhaften. Doch kein Grund zur Unruhe, lieber junger Freund – es handelt sich lediglich um eine Vorsichtsmaßnahme. Dieser Dame wird – vorläufig – kein Haar gekrümmt werden. Und wenn Ihr Bruder auftaucht, werden wir sie entlassen. Das verspreche ich Ihnen.« »Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält.« »Ich glaube Ihnen, daß Sie das nicht wissen. Aber das kann sich ja ändern – vielleicht meldet er sich bald.« Maier schaltete nun auf verständnisvolles Mitgefühl. »Bitte, mein Lieber, Sie müssen davon überzeugt sein, daß ich Ihnen herzlich zugetan bin – auch Ihrem Bruder. Und ich kann nur hoffen, der Verdacht gegen ihn bestätigt sich nicht.« »Sie meinen: Noch ist nicht sicher...?« »Was ist denn schon in diesem Leben sicher!« Der Sturmbannführer ging, mit dem Haftbefehl in der Hand, auf Konstantin zu. »Hier – damit Sie sehen, wie weit ich Ihnen entgegenkomme: Sie selbst dürfen der Gräfin Oldenburg mitteilen, daß ich sie – leider – verhaften muß. Dabei können Sie sich Zeit lassen – eine ganze Stunde von mir aus; auch zwei. Ihr werdet euch sicherlich noch einiges zu sagen haben.« Der General der Infanterie Karl Heinrich von Stülpnagel war am 21. Juli »zur Berichterstattung« von Paris nach Berlin befohlen worden. Er wußte, was das zu bedeuten hatte. Er verabschiedete sich von seinen Mitarbeitern – bleich, lächelnd und mit klarer, ruhiger Stimme. »Es muß sein«, sagte er. »Und ich übernehme die alleinige Verantwortung für alles, was in meinem Bereich geschehen ist. Ich bitte jeden, sich konsequent danach zu richten.« Dann bestieg er seinen Wagen und fuhr davon; regungslos
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dasitzend. Gegen Abend erreichte das Fahrzeug des Generals Verdun. Er befahl, einen kurzen Umweg über Sedan zu fahren. Seine Begleiter sahen, daß er sich angespannt aufrichtete: Hier hatte er einst, im Ersten Weltkrieg, als junger Offizier gekämpft. Im Kreise seiner Kameraden hatte er oft davon gesprochen. Er ließ in einen Nebenweg einbiegen und sagte dann: »Halten Sie hier, bitte. Ich gedenke, noch einen kurzen Spaziergang zu unternehmen. Allein.« Er schritt aufrecht davon, eine schlanke, scharfgeschnittene Silhouette. Und es war, als versinke er am Horizont. Minuten später vernahmen seine Begleiter Pistolenschüsse – zwei oder drei. Die Soldaten sahen sich erschreckt an und liefen dem General nach. Sie fanden ihn erst nach längerem Suchen. Er lag in einem Kanal – das Gesicht nach oben, die Hände um den Hals verkrampft. Er röchelte, als sie ihn hinauszogen. Mütze und Koppel waren verschwunden, auch sein Ritterkreuz fehlte; er schien es sich abgerissen zu haben. Bleich und bebend lag er auf der Erde. Er hatte sich in die rechte Schläfe geschossen – die Kugel war von dort in die Augen gedrungen. Er war blind. Der schwerverwundete General wurde in das Lazarett von Verdun eingeliefert und hier mit »großer Fürsorge« gepflegt – bis er wieder denken, sprechen und aufrecht dastehen konnte. Dann wurde er vor ein Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und gehängt. Er starb wortlos. »Wie funktioniert eigentlich Ihr Gedächtnis, Herr von Brackwede?« wollte der Kranführer Lehmann wissen. »Ganz miserabel, wenn ich will«, sagte er. »Ich kann mich unter Umständen nicht einmal mehr daran erinnern, Sie jemals gesehen zu haben.« Sie hatten jetzt viel Zeit füreinander: Der Gartenzwerg spielte jetzt Generalstabschef, der Hauptmann versuchte sich
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als Gefreiter. »Ausweispapiere für uns sind bereits bestellt«, erklärte Lehmann. »Lebensmittelkarten kommen morgen. Ein halbes Dutzend Sonderausweise habe ich auch schon beantragt, dazu Dauerfahrkarten für S- und U-Bahn.« »Außerdem scheinen Sie – wenn ich richtig aufgepaßt habe – eine Art Malereibetrieb allererster Größenordnung organisieren zu wollen.« »Das«, meinte Lehmann lässig, »ist lediglich eine kleine Nebenbeschäftigung – mir schweben da noch ganz andere Projekte vor.« »Haben Sie deshalb nach meinem Gedächtnis gefragt?« Lehmann nickte. »Ich gedenke nicht, Tag für Tag tatenlos in einer anderen Bude zu verbringen und nur bei Nacht munter zu werden. Ich suche angenehme Freizeitbeschäftigung.« Diesen Tag – den 21. Juli, Freitag – verbrachten sie in der Wohnung des Dramatikers. Der von Brackwede hatte sich sofort über die dort vorhandenen Bücher gestürzt und sechs an sich genommen – mit ihnen hockte er jetzt an der Balkontür. Lehmann hatte den Wasserhahn in der Küche abgedichtet und den elektrischen Zähler mit Hilfe eines Magneten rückwärts laufen lassen. Nun hielt er nach weiteren Ablenkungen Ausschau. »Wissen Sie, Herr von Brackwede, was ich liebend gern tun würde? Basteln!« Der Graf ließ das aufgeschlagene Buch sinken. Er betrachtete den Gartenzwerg erstaunt und meinte dann: »Sie wollen doch nicht etwa Ihren Lieblingssport betreiben?« »Nur um nicht ganz aus der Übung zu kommen.« »Mann – haben Sie denn immer noch nicht genug? Der zwanzigste Juli, Freund, war gestern!« »Und warum sollten wir auch nur einen Tag versäumen? Irgendwo muß doch noch Sprengstoff lagern, nicht wahr? Und den hätte ich gern. Das ist schon alles.« Der von Brackwede schüttelte verwundert seinen Kopf.
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»Warum?« »Nur so! Man kann doch nie wissen, wozu sich so was noch mal gebrauchen läßt.« »Das ist es also – Sie wollen diesbezügliche Adressen von mir!« »Klar! Und das möglichst schnell. Damit wir dort noch vor der Gestapo eintreffen.« Der Graf von Brackwede blinzelte Lehmann verständnisvoll an. »Das ist gar keine schlechte Idee – und wer weiß, wen wir dadurch vor Schwierigkeiten bewahren.« Er schrieb, aus dem Gedächtnis, eine Adresse mit drei Zahlen auf einen Zettel. »Hier – versuchen Sie, das einzukassieren.« Noch am 21. Juli 1944 wurde Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, zum »Vorsitzenden der Sonderkommission des 20. Juli« ernannt. SS-Sturmbannführer Maier gehörte zu seinen Mitarbeitern. Der Führer befahl, daß ihm täglich – schriftlich, mit aller Ausführlichkeit und schonungslos offen – Bericht zu erstatten sei. Diese Sonderkommission sollte alsbald elf Unterabteilungen besitzen und an die vierhundert Gestapoleute beschäftigen. Sie vernahmen nahezu siebentausend verdächtige Personen – mehr als tausend davon wurden verhaftet, einige hundert von diesen wurden umgebracht. Am 22. Juli traf der Reichsleiter SS, Heinrich Himmler, in der Bendlerstraße ein. Das Offizierkorps des Hauses – soweit nicht bereits getötet, geflohen oder eingesperrt – fand sich zu seiner Begrüßung ein. Himmler hielt eine Ansprache, appellierte an Ehre, Treue und Gewissen und brachte ein dreifaches »Sieg Heil« auf den Führer aus. Die Offiziere stimmten kräftig in diesen Ruf mit ein. Endlich war nun Himmler auch BdE, Befehlshaber des Ersatzheeres. Kurz danach wurde Dr. Josef Goebbels zum »Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz« ernannt. Er trat sogleich in Aktion: mit einer seiner bewährten Rundfunk-Brandreden.
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Damit begann eine Zeit maßloser, brüllender Beschimpfungen. Reichsmarschall Göring nannte die Männer des 20. Juli eine »erbärmliche Clique von ehemaligen Generalen, die wegen ihrer schlechten wie feigen Führung davongejagt werden mußten«. Großadmiral Dönitz sprach von »Schurken und Handlangern des Feindes«. Himmler bezeichnete die Offiziere des Aufstandes als »Saboteure der Kriegsführung« und »Verbündete des feindlichen Auslandes«. In die gleiche Kerbe hieb auch Reichsleiter Bormann, Hitlers engster Vertrauter. Er redete von einem heimtückischen Versuch, »Frieden mit Moskau« zu schließen. Und das war ein Schreckgespenst erster Ordnung. Darüber hinaus leistete er sich Formulierungen wie »Miniaturwürstchen«. Ihn wieder versuchte der Generaloberst Jodl zu übertreffen. Er verbreitete die Ansicht, »diese Leute« hätten »den Jesuiten nahegestanden«. Und: Man müsse diese Subjekte als »noch verruchter als die niederträchtigsten Berufsverbrecher« einstufen. Soviel Eifer ließ auch den Außenminister von Ribbentrop nicht ruhen. Er nannte Stauffenberg ein »geistig minderwertiges Subjekt in Oberstenuniform«. Und Reichsleiter Ley gurgelte in trunkenem Haß: »Ausrotten – alle!« Das allerdings ging zu weit. Hitler selbst erließ einen Geheimbefehl, wonach derartige Redewendungen zu unterbleiben hätten. Denn: einige aus der beschimpften »adeligen Offiziersclique« wurden noch gebraucht. Goebbels, geschickt und skrupellos wie immer, traf da weit genauer den gewünschten Ton. Ohne zu zögern, bezeichnete er in seiner Rundfunkrede den Oberst Stauffenberg als ein »übles, entartetes Lebewesen«. Auch er sprach von einem »Komplott... im feindlichen Lager geschmiedet«. Der Sprengstoff – aus England; das Geld – aus Amerika; die Gesinnung – von den Sowjets. Dann aber stieß er wieder einmal in die Fanfare. »Wenn die Errettung des Führers aus größter Lebensgefahr kein Wunder war, dann gibt es keine Wunder mehr...« Und weiter zog er
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alle Register der Gemütsorgel für jene Art von Gläubigen, die Hitler und den lieben Gott in einem Atemzug nannten. »Wir können sicher sein«, rief er aus, »daß der Allmächtige sich uns nicht deutlicher zeigen konnte, als durch diese wunderbare Bewährung des Führers.« Frauen schluchzten auf, Soldaten schämten sich ihrer Tranen nicht. Ergebenheitstelegramme füllten Waschkörbe. Es gab sogar Geistliche, die ein Dankgebet anstimmten. Goebbels aber sagte, genußvoll grinsend, zu seinen Vertrauten: »Eine Bombe unter Hitlers Arsch war notwendig, damit er Vernunft annimmt.« »Elisabeth«, sagte Konstantin leise, »was ist aus uns geworden.« Es drängte ihn, auf sie zuzugehen, sie zu umarmen. Doch er stand stocksteif da. Er fand keine Worte, die aussagen konnten, was ihn bewegte. Elisabeths Gesicht war eine blasse Maske. »Sollen sie mich doch verhaften«, sagte sie. »Es ist unwichtig, gemessen an dem, worum es hier geht.« »Unwichtig nicht für mich!« rief Konstantin verzweifelt. »Für mich bist du alles.« Er setzte sich, wie erschöpft, auf einen Stuhl. Es war der gleiche Stuhl, auf dem seine Kleider gelegen hatten, als er bei Elisabeth gewesen war. Er erinnerte sich nicht daran. »Du mußt jetzt vieles vergessen«, sagte sie. »Man kann in einer derartigen Zeit nicht so leben, wie man gern will. Wir haben es versucht – doch es war vergeblich. Ich glaube, wir müssen jetzt in erster Linie an deinen Bruder denken – er allein ist wichtig. Seinetwegen ist unvermeidlich geworden, woran wir nie zu denken gewagt hatten. Und ich wünschte, du könntest das verstehen.« »Er hat nicht das Recht, derartige Opfer zu verlangen!« Konstantin streckte eine Hand aus – ihr entgegen – , doch er nahm sie wieder zurück. »Und er würde das auch niemals verlangen – schon gar nicht von dir. Wenn ich ihn nur sprechen könnte...«
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»Konstantin«, sagte die Gräfin Oldenburg leise und eindringlich, »erkennst du nicht, daß man versucht, dich gegen ihn auszuspielen? Und spürst du nicht, welch ungeheuren Wert dein Bruder für diese Menschen besitzt? Jedes Mittel ist ihnen recht, um ihn in ihre Hände zu bekommen.« »Was ist denn dieser Bruder für ein Mensch!« rief Konstantin fast anklagend aus. »Warum hat er denn niemals zu mir gesprochen, wie man zu einem Bruder sprechen muß: mit letzter Offenheit! Er muß doch wissen, daß ich ihn liebe; ganz gleich, was er getan hat. Auch wenn ich ihn nicht verstehen kann, selbst wenn er das Äußerste getan haben sollte – was ändert das an meiner Liebe zu ihm? Und für dich, Elisabeth, gilt das gleiche.« »Du hältst es also für möglich, Konstantin, daß dein Bruder an dem Attentat auf Hitler beteiligt sein könnte?« »Ja«, sagte der Leutnant. »Heißt das sogar – du hast Verständnis dafür?« »Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, Elisabeth – noch nicht. Ich weiß nur soviel: Für mich ist der Führer immer Deutschland gewesen; ich war bereit, für ihn zu sterben. Ich habe vorbehaltlos an ihn geglaubt. Aber wenn Männer wie Beck, Stauffenberg und mein Bruder so bedingungslos gegen Hitler sind, dann muß das sinnvoll und berechtigt sein.« »Gut«, sagte Elisabeth leise. Und nach kurzem Zögern erklärte sie: »Ich sehe ein – du mußt mit deinem Bruder sprechen. Vielleicht läßt sich das ermöglichen. Wir haben für alle denkbaren Sonderfälle gewisse Vereinbarungen getroffen. Halte dich in den Abendstunden, möglichst kurz nach acht, in der Halle des Bahnhofs Zoo auf – dort am Zeitungsstand, neben dem Eingang von der Unterführung aus. Aber, bitte – sei vorsichtig.« »Ich will alles Erdenkliche tun, Elisabeth – wenn ich dir nur helfen kann. Und ihm. Uns allen.« »Gehen wir jetzt«, sagte sie tonlos. Sie legte, ihn mit sich ziehend, ihre Hand in die seine – und diese Hand war kühl und fest. »Und mache dir, bitte, meinetwegen keine unnötigen
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Sorgen. Ich bin fast glücklich darüber, auch zu denen zu gehören, die jetzt verhaftet werden – das darfst du mir glauben.« Die beiden Herren, die im Führerhauptquartier erschienen, waren feierlich schwarz gewandet. Sie bewegten sich nicht ohne Würde. Sie wurden unverzüglich empfangen. »Meine Herren«, sagte Adolf Hitler mit betontem Wohlwollen zu ihnen, »große Aufgaben erwarten Sie! Wir werden die entsprechenden Einzelheiten festlegen. Und Sie dürfen versichert sein: ich habe volles Vertrauen zu ihren Fähigkeiten.« Er reichte ihnen die Hand – es war, als begegnete er befreundeten Staatsoberhäuptern. Er geleitete sie zu einer Polsterbank. Hier nahmen sie Platz: der Präsident des Volksgerichtshofes – und der Scharfrichter von Groß-Berlin. Der Präsident des Volksgerichtshofes war ein hagerer Mann mit glasharter Stimme. Der Berliner Scharfrichter wirkte eher wie ein Postbeamter, der verläßlich Briefmarken verkauft. Beide blickten ergeben auf den Führer – sie fühlten sich, offensichtlich, hochgeehrt. »Ich glaube«, sagte Adolf Hitler, »wir sind uns dahingehend einig, daß wir es hier mit einem Gesindel ganz übler Sorte zu tun haben.« »Mit einem Abschaum der Menschheit!« versicherte der Präsident. »Von mir aus würde ich auf jede Verhandlung verzichten – die Urteile können nicht zweifelhaft sein. Dennoch nehme ich an, daß die Form gewahrt werden soll.« »Durchaus!« stimmte Hitler zu. »Wir sind schließlich ein Rechtsstaat – jedoch fern von jeder Humanitätsduselei.« Der Volksgerichtshofpräsident erkannte sofort, was sein Führer anzudeuten beliebte. »Ich werde mit äußerster Kürze und Prägnanz vorgehen und jedes ablenkende Geschwätz im Keim ersticken. Reden aus dem Fenster sind in meinem Bereich sowieso nie gehalten worden.« »Sehr gut«, sagte der Führer. »Wie viele Urteile werden Sie
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pro Verhandlungstag schaffen?« »Etwa sechs bis acht, denke ich.« »Kommen Sie da mit?« fragte Hitler den Scharfrichter. »Ich werde mir alle erdenkliche Mühe geben«, versicherte der. »Bisher lag meine Tageskapazität bei drei bis vier Delinquenten – das ist um etwa dreißig Prozent mehr als bei meinen Kollegen in Königsberg und München. Jedoch halte ich in meinem Bereich eine Steigerung um hundert Prozent ohne weiteres für möglich, sofern mir Mittel zum Ausbau der Aufhängevorrichtung bewilligt werden.« »Sie werden bewilligt«, sagte der Führer. Sie tranken Tee. Er wurde in dünnen, zierlichen Porzellanfassen eingeschenkt und duftete angenehm herb. Kuchen war bereitgestellt worden. »Das Ungeheuerliche, das hier geschehen ist«, erklärte Hitler, »verlangt eine Sühne ohne Beispiel. Die Abschreckung muß eine denkbar vollkommene sein! Ich erwarte eine konzentrierte, überzeugende Verhandlung, ein schnelles, treffsicheres Urteil und eine unmittelbar danach erfolgende Vollstreckung. Wer am Vormittag verurteilt wird, muß bereits am Nachmittag hängen!« »Das wird geschehen«, versprach der Präsident. Und der Scharfrichter meinte: »Das wird sich machen lassen.« »Kein Erschießen!« sagte Hitler. »Das sind diese Kreaturen nicht wert – jede Kugel wird an der Front gebraucht. Hängen sollen sie!« »Der Tod durch den Strang«, versicherte der Präsident des Volksgerichtshofes, »ist hierbei übliche Praxis.« »Wie lange dauert so etwas?« wollte der Führer wissen. »Zehn bis fünfzehn Sekunden – je nach Kraft und Schwung meiner Helfer und nach Konstitution und Zähigkeit der Delinquenten.« »Läßt sich das nicht verlängern?«
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»Durchaus – etwa bei der Anwendung von Klavierdrähten anstelle von dünnen Drahtseilschlingen. So was kann dann sogar minutenlang dauern.« »Das will ich sehen«, forderte Hitler. »Das soll in allen Details gefilmt werden – die Hinrichtungen ebenso wie die Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof. Für unwichtige Passagen genügen Tonaufnahmen.« Bormann, im Hintergrund, fertigte eine Notiz für Goebbels an – dem unterstanden Film und Funk. Die Teetassen wurden aufmerksam nachgefüllt. Der Präsident des Volksgerichtshofes beugte sich vertraulich vor. »Um Angehörige der Wehrmacht der für sie zuständigen Wehrmachtsjustiz zu entziehen, mein Führer, wird es gewisser rechtlicher Voraussetzungen bedürfen.« »Das ist bereits geklärt«, sagte Bormann anstelle seines Führers. »Wir haben einen sogenannten Ehrenhof einberufen – und damit erledigen sich alle Schwierigkeiten spielend.« Der »Ehrenhof« der großdeutschen Wehrmacht tagte befehlsgemäß. Das geschah erstmals am 4. August 1944. Der Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt führte den Vorsitz. »Im Namen des Führers«, sagte er. Dann verlas er seine erste Liste. Zweiundzwanzig Namen befanden sich darauf – darunter ein Feldmarschall und acht Generale. »Diese Menschen«, sagte er, »haben es verwirkt, noch länger das Ehrenkleid der Nation tragen zu dürfen.« Keiner der Anwesenden widersprach. Zu ihnen gehörten die Generale Keitel, Burgdorf und Maisei; Schroth, Specht und Kriebel. Auch der Name Guderian stand auf dieser Teilnehmerliste. Doch dieser Panzerspezialist und erfolgreiche Truppenführer erklärte später: Er habe lediglich zwei oder drei Sitzungen beigewohnt – und das »höchst widerwillig«. Er habe diese ganzen Vorgänge als »abstoßend und tragisch« empfunden. Aber auch er stimmte mit. »Für derartige Elemente, welche die Hand gegen unser Staatsoberhaupt erhoben haben«, erklärte der
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Generalfeldmarschall von Rundstedt, »ist in unseren Reihen kein Platz.« So wurden sie denn »ausgestoßen« – und zwar: »mit Schande«. An die hundert Soldaten. Das jedoch bedeutete praktisch: Fortan war für sie die Wehrmachtsjustiz nicht mehr zuständig – sie konnten, »rein rechtens«, der Gestapo ausgeliefert und dem Volksgerichtshof überantwortet werden. »So sehr das auch der eine oder andere bedauern mag«, versicherte der Ehrengerichtshofvorsitzende, »es ist dennoch unvermeidlich, die hier allein notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Das, meine Herren, sind wir Deutschland und unserem Führer schuldig.« Die Gestapo griff weiter zu. Himmler selbst feuerte seine Leute an. Und Kaltenbrunner brauchte Material für seine täglichen Berichte an den Führer. Der Sturmbannführer Maier entpuppte sich als Hauptlieferant dafür. Seinen Leuten, besonders Voglbronner, gelangen weitere »Aktenfunde« in kürzester Zeit. So wurde eine »Regierungsliste« der Verschwörer in der Bendlerstraße aufgefunden – dazu eine Art »Tagebuch«. Die darin enthaltenen verschlüsselten stenografischen Notizen konnten von Experten leicht entziffert werden. Als nicht unwichtig auch erwies sich ein Stapel von Akten, der in Zossen, beim Generalquartiermeisteramt, entdeckt wurde. Aus Paris, von Gruppenführer Oberg, traf weiteres Material ein. Die Nachrichtenleute der Bendlerstraße legten Protokolle ihrer Mithöraktionen vor. »Das ist doch gar nicht schlecht«, meinte Sturmbannführer Maier zuversichtlich. »Für den Anfang nicht«, sagte Kaltenbrunner gönnerhaft. »Aber das ist noch lange nicht genug. Wenn Sie wirklich überzeugen wollen, Maier, müssen Sie schon noch ganz andere Geschütze auffahren.«
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Der Sturmbannführer forderte Verstärkung an – er erhielt sie umgehend. Nun versuchte er, sich auf die noch ausstehenden großen Asse zu konzentrieren. Doch Beck und Stauffenberg gab es nicht mehr; Leber war rechtzeitig ausgeschaltet worden. Aber noch fehlte einer: Goerdeler! Ihm spürte Maier nach. Er fand ihn nicht, obgleich er an die hundert Gestapobeamte angesetzt hatte. Zwei von denen jedoch kreuzten, routinemäßig vorgehend, im Christlichen Hospiz auf – hier hatte Goerdeler gelegentlich übernachtet. Diese Beamten fanden einen Trümmerhaufen vor – doch mitten darin jemanden, der diese Reste verwaltete. Der, ein verstört und zugleich bemüht wirkender Mensch, erklärte: »Herr Goerdeler ist uns bekannt. Er hat gelegentlich hier gewohnt – jedoch in letzter Zeit nicht mehr.« Die Gestapoleute wollten sich enttäuscht abwenden. Aber der Verwalter lief ihnen nach. »Nur noch ein dicker Brief von Herrn Goerdeler befindet sich hier – er hat ihn uns seinerzeit übergeben, und wir haben ihn in unserem Panzerschrank aufbewahrt.« Dieser Brief wurde den Gestapobeamten ausgehändigt – sie brachten ihn zu Voglbronner; der übergab ihn Maier. Dieser trug ihn zuversichtlich zu Kaltenbrunner weiter. »Hierin befinden sich einige Denkschriften, die purer Hoch- und Landesverrat sind.« »Was haben Sie denn sonst von diesem Goerdeler erwartet?« »Er nennt Namen – an die hundert.« »Das«, meinte Kaltenbrunner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, »ist wenigstens etwas – doch es ist noch immer nicht das, was wir dringend brauchen: die totale Übersicht!« »Das«, sagte der Sturmbannführer Maier, »kann vermutlich nur ein einziger liefern – der Graf von Brackwede!« »Und wo ist der?« »Das weiß ich im Augenblick noch nicht genau.«
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»Dann suchen Sie ihn gefälligst! Wir erwarten von Ihnen, daß Sie uns das denkbar beste Material in der vorstellbar schnellsten Zeit liefern. Oder was meinen Sie wohl, warum wir Sie seit Jahren bereits in dieser Richtung angesetzt haben? Wenn Sie jetzt versagen sollten, dann wird das Folgen haben, die Sie sich unschwer vorstellen können. Oder muß ich noch deutlicher werden?« »Drehen Sie sich jetzt nicht um«, sagte eine gedämpfte Stimme neben dem Leutnant von Brackwede. »Schauen Sie weiter geradeaus – und das möglichst genauso treuherzig wie bisher.« Konstantin stand in der Bahnhofshalle am Zoo. Er hatte sich einige Zeitungen gekauft und sie sich unter den Arm geklemmt. Er betrachtete die Menschen, die sich an ihm vorüberschoben. »Schlagen Sie eine Ihrer Zeitungen auf«, sagte die Stimme leise. »Tun Sie so, als ob Sie läsen – erst dann können Sie mit mir unauffällig sprechen.« Der Leutnant befolgte diese Anordnung. Er öffnete den Völkischen Beobachter – diese hierfür wohltuend großformatige Zeitung verdeckte sein Gesicht, sein Ritterkreuz, fast alle seine Auszeichnungen. Verhalten fragte er: »Sind Sie das, Lehmann?« »Kommen Sie nur nicht auf die Idee, mich etwa zu umarmen«, sagte der. »Und nennen Sie, bitte, keinen Namen. Versuchen Sie, sich möglichst gleichgültig zu geben.« Lehmann stand direkt neben ihm – er schien die aushängenden Postkarten zu betrachten. Er kaufte sich eine davon. Sie stellte ein großdeutsches Kunstwerk dar: Adolf Hitler in glänzender Ritterrüstung – hoch zu Pferd, eine wehende Hakenkreuzfahne in der Hand. Dann sagte er zu Konstantin: »Folgen Sie mir – möglichst unauffällig. Halten Sie dabei fünf bis zehn Schritte Abstand.« Der Leutnant von Brackwede erkannte schnell die hierbei herrschenden Spielregeln. Er faltete, betont gemächlich, seine Zeitung zusammen. Dabei erblickte er Lehmann – in
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schlichtem, strapazierfähig wirkendem Zivilanzug: Ein Rüstungsschwerarbeiter schien von seiner Schicht zu kommen. Damit begann eine verzwickte Kreuz- und Querfahrt durch die Innenbezirke von Berlin. Sie führte vom Bahnhof Zoo zum Nollendorfplatz, von hier zum Gleisdreieck, von dort zurück zur Bülowstraße, weiter zum Wittenbergplatz. Sie endete zunächst in der Uhlandstraße. Hier verschwand Lehmann in einem Hauseingang. Der Leutnant folgte auf nicht ungeschickte Weise: Er schien gleichmütig einherzutrotten. Es war, als unternehme er lediglich einen Spaziergang. »Sie machen Fortschritte, Herr Leutnant«, sagte Lehmann anerkennend. Er schob sich die blaue Schirmmütze ins Genick. »Sie benehmen sich fast schon so wie einer von uns.« Konstantin griff nach der ihm entgegengestreckten Hand und drückte sie mit Herzlichkeit. »Wie geht es Ihnen?« fragte er. »Ähnlich wie Ihrem Bruder«, sagte der Gartenzwerg grinsend. »Und das wollten Sie ja wohl wissen. Wir sind noch ziemlich munter – wenn auch nicht gerade wie die Fische im Wasser.« »Sind wir jetzt da?« »Wo denken Sie hin – noch lange nicht!« Lehmann wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Zunächst veranstalten wir immer noch umständliche Kinderspiele – wie beim guten Onkel Karl May. Der ist schließlich nicht umsonst der Deutschen Lieblingsdichter!« Der Leutnant betupfte sich ebenfalls die Stirn – auch diese ersten Tage nach dem 20. Juli waren noch brütend heiß. Erst am Dienstag, dem 24., fiel ein starker Regen. Doch unmittelbar danach schien die Luft wieder zu kochen. »Sie glauben – man hat uns verfolgt?« Lehmann schüttelte seinen Kopf. »Das hoffe ich nicht – doch ich bin grundsätzlich darauf vorbereitet. Ich halte nicht
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viel vom Glück oder von Zufällen – ich bin mehr für systematisches Vorgehen. Ein halbes Dutzend Ausweich- und Täuschungsmanöver haben wir jetzt hinter uns gebracht – das wird vermutlich genügen.« »Das macht Ihnen sogar Spaß – wie?« »Es gibt sonst nicht mehr viel, was dieses Leben in Deutschland jetzt noch vergnüglich macht – ich ergreife jede sich in dieser Hinsicht anbietende Gelegenheit.« »Ach, lieber Freund«, sagte der Leutnant spontan, »was ist das doch für ein seltsames Land, in dem wir leben müssen.« »Überleben müssen wir – nichts weiter sonst.« Lehmann zog sich wieder die blaue Arbeitermütze in sein glänzendes Gesicht. »Und eben deshalb müssen wir damit rechnen, daß an jeder Ecke einer steht, der diesen Strauchdieb Hitler für den bedingungslos zu liebenden Vater des Vaterlandes hält. In diesem Deutschland, Herr Leutnant, sind jetzt die ehrlichsten Patrioten Freiwild.« Carl Friedrich Goerdeler hatte die Vorgänge des 20. Juli nicht im Brennpunkt miterlebt. Er war auf der Flucht vor der Gestapo. Man hatte auch nicht versucht, ihn hineinzuziehen. Doch er hatte die Meldungen und Ansprachen im großdeutschen Rundfunk gehört. Seit Tagen schon umgaben ihn keine Mitverschworenen mehr. Er versuchte nur noch unterzukriechen – wo immer sich ihm eine Möglichkeit dazu bot. »Der Führer lebt also«, wurde festgestellt. »Das scheint so«, sagte Goerdeler. »Er lebt und ist offenbar Herr der Situation!« Goerdeler verabschiedete sich von einem seiner zahlreichen Gastgeber – einem Beamten des Reichswirtschaftsministeriums. Der murmelte ein paar Worte des Bedauerns, beeilte sich jedoch, Goerdeler zur Tür zu geleiten. Der verschwand im Dunkel der Nacht. In diesen Tagen wechselte er täglich seine Unterkunft. Die pausenlose Flucht vor den Greifern gehörte seit langer Zeit zu
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seinem fast schon wieder geregelt erscheinenden Leben. Vorerst blieb er noch in Berlin. Und hier verlebte er auch, am 31. Juli, seinen 60. Geburtstag. An diesem Tag hielt er sich in der Wohnung eines gewissen Labetzki auf. Dieser Mann war ein Bürodiener. Er kannte Goerdeler nur flüchtig, und für den war er lediglich einer von vielen Namen auf einer endlos wirkenden Liste. Dennoch gewährte der Bürodiener Labetzki dem einstigen Oberbürgermeister mit schlichter Bereitwilligkeit »Nahrung und Unterkunft«. Er sah ihn, still und gebückt, in einer Ecke sitzen. Goerdeler hatte sich Schreibpapier ausgebeten. Er verfertigte wieder einmal eine Denkschrift. Diese jedoch war nur kurz. Tage danach – während er von Unterschlupf zu Unterschlupf wechselte – traf Goerdeler in der U-Bahn eine Bekannte. Und zu der sagte er in dem ihm eigenen suggestiven Wanderpredigerton: »Du sollst nicht töten!« Er machte deutlich, daß er Stauffenbergs tragisches Scheitern »als ein Gottesurteil« betrachte. »Der Herr hat es nicht gewollt.« Nun erblickte er sein Bild mit seinem Namen auf allen Anschlagtafeln und Plakatsäulen, in der U-Bahn und vor Theatern, auf Mauern und auf Bretterzäunen, in jeder Zeitung, die er aufschlug. Eine Million Mark wurde für seinen Kopf geboten. Das war die höchste Summe, die jemals für die »Ergreifung eines Verbrechers« ausgesetzt worden war. Und sie wurde, nur wenig später, auch ausgezahlt. Jeder, der Goerdeler aufnahm, riskierte dabei sein Leben. Und tatsächlich starben später viele, nur weil er an ihrem Tisch gespeist, in ihrem Hause geschlafen. So wanderte er denn, Todesspuren hinter sich lassend, von einer Zuflucht zur anderen. Am 8. August verließ er Berlin. Wie ein aussätziger Bettler schlich er sich seiner Heimat Westpreußen entgegen. Sein
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Ziel war Marienwerder – das Grab seiner Eltern. Zwei Tage und zwei Nächte war er dorthin unterwegs. Als er das Grab erreicht hatte, kniete er nieder und betete. Seine schweißnasse Stirn berührte die Erde. Völlig erschöpft lag er da. Dann eilte er weiter. Er schlief auf freiem Feld, in einer Scheune, in einem Wartesaal. Er ernährte sich von gestohlenen Rüben. Einen Landarbeiter bat er um Brot. Er schlürfte Wasser wie ein Tier. Am 12. August erreichte er, am Ende seiner Kräfte, ein Gasthaus. Der Ort hieß Konradswalde. Und hier wurde er von einer Luftwaffenhelferin erkannt, von zwei Zahlmeistern gestellt und an die Gestapo ausgeliefert. Doch damit war sein Ende noch nicht gekommen. Sein mit Namen, Daten und Details randgefülltes Gehirn sollte »angezapft« werden. Das noch monatelang – nachdem sein Todesurteil bereits ausgesprochen worden war. »Welch ein erbaulicher Anblick«, sagte der Hauptmann von Brackwede zu seinem Bruder, der vor ihm stand. »Warum bist du gekommen?« »Um dich zu sehen, Fritz!« »Nun gut – jetzt siehst du mich«, sagte der. Er lag auf einem Sofa, rauchte eine Zigarre und schien Rundfunk zu hören. Das Zimmer, in dem er sich befand, lag in der Nähe des Savignyplatzes und gehörte einem Angestellten der Kohlenhandlung Leber. »Ich muß dich sprechen, Fritz. Elisabeth ist verhaftet worden«, sagte Konstantin. »Das«, sagte der von Brackwede mit geschlossenen Augen, »war zu erwarten. Doch ich halte sie nicht eigentlich für gefährdet. Elisabeth ist ein hellwacher, geschickt operierender, überaus kluger Mensch – das solltest du, meine ich, erkannt haben. Hinzu kommt: Sie ist tapfer!« »Sie ist viel zu anständig – sie darf hier nicht zu irgendeinem Opfer werden!«
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Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede bewegte sich nicht. Wie abwesend fragte er lediglich: »Hast du Nachrichten von zu Hause?« »Deine Frau macht sich Sorgen um dich!« »Das«, sagte der von Brackwede leise, »bleibt Frauen, die einen Menschen meiner Sorte geheiratet haben, niemals ganz erspart.« »Deine Kinder fragen nach dem Vater!« »Konstantin«, sagte der Graf fast hart, »das können zwei völlig verschiedenartige Dinge sein – ein Mann und seine Familie. Jedes eine Welt für sich.« Konstantin betrachtete den Bruder empört. »Du weißt offenbar gar nicht, was du angerichtet hast. Deine Frau und deine Kinder sind beunruhigt. Außerdem wirst du von der Gestapo gesucht – Maier will dich dringend sprechen. Im übrigen will ich wissen, was wirklich geschehen ist. Doch das im Augenblick Wichtigste: Du mußt Elisabeth helfen!« »Ich muß mein Quartier wechseln – nichts sonst kann zur Zeit für mich wichtiger sein.« Der Hauptmann erhob sich. »Du solltest endlich aufhören, mit deinen Gefühlen hausieren zu gehen – ob es sich nun dabei um das Vaterland oder um die Familie handelt.« »Unfaßbares ist geschehen, Fritz!« »Ich nenne das selbstverständlich, dringend notwendig, völlig natürlich – du kannst dir aussuchen, was dir davon am besten gefällt.« »Was hast du mit diesen Vorgängen zu tun?« wollte Konstantin wissen. »Sage es mir!« Der Hauptmann lächelte, während er sich die Socken anzog. Das Zimmer besaß ein breites Berliner Fenster, und die Möbel im Raum waren von zierlicher Schönheit: frühes, sorgsam gedrechseltes Biedermeier. Die Uhr auf dem Kamin erklang hell mit schwebenden Silbertönen. »Diese Welt«, sagte Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede, während er nach seinen Schuhen langte, »ist voller Idealisten
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– man kann sie auch, nach Lage der Dinge, Idioten nennen. Und die einen wie die anderen öden mich an – ich habe genug von allen!« »Ich weiß wirklich nicht, Fritz, was ich von dir halten soll!« »Nichts«, sagte der und schnürte seine Schuhbänder. »Ich bin weder der Typ eines Märtyrers noch der eines Handlangers – ich bin auch kein Dummkopf. Ich will nichts weiter als überleben. Und ich hoffe: das ist genau die Auskunft, die du dringend zu brauchen scheinst.« Konstantin Graf von Brackwede stand vorgebeugt, mit gesenktem Kopf im Raum, sein Ritterkreuz baumelte anseinem Hals. Er bewegte, wie unruhig suchend, die Hände. Fritz-Wilhelm betrachtete den Bruder mit zärtlicher Nachsicht. »Wenn ich dir irgendwelche Illusionen zerstört haben sollte, mein Kleiner – ich habe das gern getan.« »Verstehst du denn nicht –? Ich will dir folgen!« »Wohin?« »Wohin du willst.« »Abgelehnt!« erklärte der von Brackwede. »Ich bin kein Leithammel. Ich wünsche meinen eigenen Weg zu gehen! Und du kannst allen, die sich möglicherweise deshalb Gedanken machen sollten, bestellen: ich verbitte es mir, daß irgend jemand – ganz gleich wer – auch nur die geringste Rücksicht auf mich nimmt.« »Du verkennst uns völlig, Fritz!« »Das, mein Kleiner, wage ich kaum zu hoffen! Sage meiner Frau: Sie soll jetzt so leben, als wenn es mich niemals gegeben hätte. Die Gräfin Oldenburg soll wissen, daß sie jetzt allein mit allem fertig werden muß, was auf sie zukommt – und sie muß so handeln, als ginge es nur um ihre Haut.« »Was verlangst du von uns?« Der Hauptmann richtete sich auf. Er knöpfte, flüchtig wie immer, seinen Uniformrock zu – den Kragen schloß er nicht. »Und dem lieben, guten Maier kannst du bestellen: Mit mir sind keine Geschäfte mehr zu machen!«
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»Ich habe Ihnen«, sagte der Generalfeldmarschall Model, »ein Schreiben unseres Führers zu überbringen.« Das sagte er zu Generalfeldmarschall Günther von Kluge. Der zögerte, das ihm zugeschobene Dokument entgegenzunehmen. »Bin ich abgelöst?« fragte er tonlos. Model senkte, andeutend nickend, sein kühlglattes Gesicht. »Ich persönlich bedauere ungemein, diese Nachricht überbringen zu müssen – doch es handelt sich dabei um einen direkten Befehl, dem ich mich nicht entziehen kann.« »Sind Sie mein Nachfolger?« fragte Günther von Kluge. »Einer«, sagte der, »muß das ja wohl sein – nicht wahr?« Dieses Schreiben Adolf Hitlers forderte Kluge auf, sich unverzüglich nach Berlin zu begeben, um »gewisse fragwürdige Einzelheiten« aufzuklären. Was das zu bedeuten hatte, erkannte der Generalfeldmarschall sofort: Verhöre, vermutlich durch die Gestapo, standen ihm bevor. Längere Zeit saß er da »wie benommen«. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, sagte er mühsam. »Das«, sagte Model betont höflich, »kann ich nicht beurteilen.« Nur wenige Monate später sollte auch dieser Generalfeldmarschall Selbstmord begehen – mit seiner Dienstpistole, in einem Wäldchen, das im Ruhrgebiet lag; in der Nähe von Essen. An diesem Tage jedoch hatte er die Krönung seiner Feldherrnlaufbahn erreicht: Er war zum Oberbefehlshaber West ernannt worden. »Ich wünsche noch einige Briefe zu schreiben«, sagte von Kluge. Diese Bitte wurde ihm großzügig gewährt. Und während sein Dienstwagen bereitgestellt wurde, schrieb der Generalfeldmarschall von Kluge an seinen Sohn: Er habe immer nur seine Pflicht getan – und wenn er sterben sollte, dann in Erfüllung dieser Pflicht. Hierauf schrieb er an seinen Obersten Befehlshaber, an Hitler:
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»Mein Führer, ich habe immer Ihre Größe bewundert... Sie haben einen ehrenhaften und großen Kampf gekämpft... Dieses Zeugnis wird Ihnen die Geschichte ausstellen...« Nachdem das geschehen war, verließ der Generalfeldmarschall sein Hauptquartier. Er setzte sich in seinen Dienstwagen und fuhr ab. Er hatte nur spärliches Gepäck mit sich genommen. Sein Kraftfahrer berichtete später: Der Generalfeldmarschall, hinter ihm sitzend, habe laute, doch unverständliche Selbstgespräche geführt. »Hier wollen wir halten«, sagte er, nach Stunden eintöniger Fahrt. »Hier gedenke ich zu ruhen.« Mit steifen Gliedern stieg der Generalfeldmarschall aus. Wie suchend sah er um sich. Sie befanden sich in der Nähe von Verdun. Im Schatten alter Kastanienbäume wurde eine Decke ausgebreitet. »Danke«, sagte der von Kluge müde. Dann legte er sich hin. Seine Begleiter entfernten sich. Hier zerbiß der Generalfeldmarschall eine Giftkapsel, die er bereits seit Monaten mit sich führte. Er starb schnell und still. Nur wenige Kilometer war er von jenem Ort entfernt, an dem sich der General von Stülpnagel blind geschossen hatte. Der, laut Kluges Abschiedsbrief, »ehrenhafte« Kämpfer Hitler überlebte den 20. Juli 1944 lediglich um neun Monate und zehn Tage. Dann erschoß er sich. Seine Leiche wurde mit Benzin übergossen und verbrannt – auch seine Asche wurde in den Wind gestreut: wie die des Oberst von Stauffenberg. »Ich könnte Sie, wenn ich wollte, zu Hackfleisch verarbeiten lassen«, sagte der Sturmbannführer Maier. »Aber das wollen Sie nicht – wie?« Der Gartenzwerg Lehmann lächelte vorsichtig. »Was habe ich denn schon von einem Würstchen, wenn ich einen ganzen Ochsen am Spieß braten kann!« In den Mittagsstunden dieses Tages war Lehmann in der Nähe des Bahnhofs Zoo aufgegriffen worden – bei einem
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seiner Besorgungsgänge. Zunächst hatte er lediglich bemerkt, daß er verfolgt wurde. Das beunruhigte ihn nicht sonderlich – er schlug ein paar kurze heftige Bogen und war sicher, mindestens zwei bis vier Verfolger abgeschüttelt zu haben. Daß mehr als zwei Dutzend allein auf ihn angesetzt worden waren, hatte er nicht ahnen können. »Aber dieses Würstchen«, meinte er, sich behutsam vortastend, »scheint Ihnen dennoch einiges wert zu sein. Warum eigentlich? Dieses Aufgebot allein meinetwegen hat mich geradezu besorgt gemacht. Sie halten mich doch nicht etwa für eine Art kleinen Stauffenberg?« Maier mußte auflachen – Lehmann registrierte diese Regung aufmerksam. Sie begannen, sich anzublinzeln. Sekundenlang. Dann griff der Gartenzwerg nach dem nächsten Stuhl und ließ sich darauf nieder. »Sie sind vielleicht ein Spaßvogel!« rief der Sturmbannführer. »Außerdem sind Sie weit gerissener, als ich mir das vorgestellt habe.« »Und damit aber doch ein Mann nach Ihrem Herzen – wie?« Der Gartenzwerg konnte sich diese Schmeichelei leisten – sie waren allein im Raum. Auch Maier setzte sich. Er schien nachzudenken. Dann schob er, über seinen Schreibtisch hinweg, Lehmann einladend eine Zigarrenkiste zu. »Die ganze?« fragte der ungeniert. Wieder lachte Maier polternd auf. »Ihren Humor möchte ich haben. Jungchen! Dabei wissen Sie doch ganz genau, daß ich Sie hier durch sämtliche Mühlen drehen könnte – bei dem, was Sie so alles angestellt haben.« »Davon wissen Sie noch nicht einmal die Hälfte – vermute ich.« Der Gartenzwerg öffnete die Zigarrenkiste und beschnupperte den Inhalt sachverständig. Dann meinte er: »Drei davon hätte ich ganz gern – eine für jetzt, die andere für den Heimweg, die dritte als eine Art Kameradengruß; Sie wissen ja, für wen.« Der Sturmbannführer nickte. In seinen Augen schimmerte
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etwas wie Respekt auf. »Mann«, sagte er, »so was Ausgekochtes wie Sie – und ausgerechnet bei diesem Pleiteunternehmen! Warum sind Sie nicht bei uns?« »Vielleicht reden wir noch mal darüber«, meinte Lehmann. »Aber im Augenblick haben wir beide ja wohl ganz andere Sorgen. Ich möchte gern meine Zigarren in Sicherheit bringen, und Sie haben Sehnsucht nach dem Grafen von Brackwede... Nicht wahr?« »So ungefähr«, gab Maier zu. »Und dabei rechne ich nun mit Ihrer tatkräftigen Hilfe.« »Warum nicht.« Der Gartenzwerg kombinierte schnell und begann sofort, seine Forderungen zu stellen. »Das ist natürlich nicht ganz einfach – aber Sie haben das ja bereits erkannt. Sie verlangen nicht einfach von mir die Adresse des Grafen – die könnte ich Ihnen auch nicht geben; die weiß ich gar nicht. Er wechselt laufend sein Quartier. Aber ich werde versuchen, ihn zu finden.« »Menschenskind«, rief der Sturmbannführer ungeduldig, »bei mir brauchen Sie doch keine Eiertänze aufzuführen – das grenzt ja fast schon an Beleidigung. Sie zweifeln doch nicht etwa meinen Verstand an?« »Nichts liegt mir ferner!« versicherte der Gartenzwerg. »Ich kann also hier verschwinden, ohne daß Sie mir Ihre Spürhunde nachhetzen.« Maier nickte. »Sie tauchen unter und bei Brackwede wieder auf. Und Sie wissen ja: Ich finde Sie wieder, wenn ich will; irgendwann bestimmt. Und früher oder später würden wir auch den Grafen finden – garantiert.« »Sie brauchen ihn jedoch sofort – und das gedenken Sie sich einiges kosten zu lassen.« »Eine ganze Menge sogar! So verzichte ich auch auf Ihre Gesellschaft, Lehmann – was mir ausgesprochen schwerfällt.« »Nun gut – ich soll also dem Grafen von Brackwede, wenn ich Sie richtig verstehe, eine Nachricht von Ihnen überbringen.«
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»Sie haben mich richtig verstanden.« Der Sturmbannführer beugte sich vor. »Sie werden ihm sagen: Von mir aus kann er ruhig so tun, als wäre ihm sein Bruder gleichgültig und die Gräfin Oldenburg auch. Aber er hat schließlich noch eine Frau und einige Kinder – drei oder vier, wenn ich nicht irre. Und die gedenke ich nunmehr zu kassieren – rücksichtslos! Es sei denn, er stellt sich – in kürzester Zeit. Übermitteln Sie ihm das.« Lehmann zeigte sich nicht überrascht; er kannte die Methoden der Gestapo und die derzeitigen Preise für Menschenleben. »Welche Sicherheiten gedenken Sie ihm zu bieten?« »Geht er auf meinen Vorschlag ein«, erklärte der Sturmbannführer Maier, »dann lasse ich seine Frau und die Kinder abreisen – in die Schweiz. Das innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Die entsprechenden Einzelheiten wie Paß, Reisegenehmigung und Fahrkarten, sind vorbereitet. Aber eine Stunde nach erfolgtem Grenzübertritt seiner Angehörigen muß dann Brackwede hier sein. Das ist meine Bedingung.« »Sie verlassen sich auf sein Wort?« »Verwundert Sie das?« Maiers Augen funkelten. »Er soll mich anrufen – weiter nichts.« »Und wenn er nicht anruft, dann verhaften Sie seine ganze Sippe, nicht wahr?« »So ungefähr.« »Was aber dann«, wollte Lehmann wissen, »wenn er sein Wort gibt – es aber dann nicht hält? Die Hauptsache: Er weiß seine Frau und die Kinder in Sicherheit.« »Dann kassiere ich den Bruder und mache ihn mitsamt der Gräfin Oldenburg fertig. Dann greife ich Sie auf und Brackwede dazu – und dann fliegen die Fetzen.« »Kapiert«, sagte Lehmann. Er erhob sich und verstaute die ihm überlassenen Zigarren sorgfältig in einer Zeitung. »Also dann – möglichst nicht auf Wiedersehen.«
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»Sagen Sie Brackwede noch eins: Er hat, wenn er kommt, für seine Person nicht das geringste zu befürchten – ich erwarte vielmehr, sozusagen mit offenen Armen, einen hochwillkommenen Mitarbeiter.« Der Generalfeldmarschall Rommel lag schwerverwundet danieder. Er erholte sich nur langsam. Er hatte das Lazarett in Frankreich verlassen können und hielt sich nun zu Hause auf – in seiner schwäbischen Heimat. Hier erreichte ihn Hitlers Befehl: Der Generalfeldmarschall habe sich »zu einer wichtigen Besprechung« nach Berlin zu begeben. Rommel wußte, was das zu bedeuten hatte. Er telegrafierte zurück: »Bedaure nicht kommen zu können; bin krank.« Und zu seinen Freunden sagte er: »Hitler will mich beseitigen.« »Das«, sagten diese, »wird er sich nicht trauen.« Sieben Tage später erschienen in Hesslingen, wo Rommel wohnte, in den Mittagstunden die Generale Burgdorf und Maisei. Mit ihnen kamen Truppen der Waffen-SS. Sie umschlossen das Dorf – mit schußbereiten Waffen. Sie hatten den Befehl, auf den einst von Hitler bewunderten und so verschwenderisch ausgezeichneten Feldherrn das Feuer zu eröffnen, falls er versuchen sollte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. »Wir kommen im direkten Auftrag des Führers«, versicherten die beiden Generale feierlich. Jeder Versuch, sie abzuweisen, war zwecklos. Sie erklärten: Notfalls müßten sie sich mit Gewalt Zutritt verschaffen. Sie wurden zu Rommel geführt. Mit ihm hatten sie ein nahezu einstündiges Gespräch. Die Führer-Generale erklärten: Rommel sei überführt, an der Verschwörung gegen den Obersten Befehlshaber beteiligt gewesen zu sein. Er habe nun die Wahl: Gift oder Volksgerichtshof. Wähle er das Gift, so würde seine Familie keinerlei Verfolgung erleiden. Auch werde dann ein feierliches Staatsbegräbnis garantiert. Eine Verhandlung vor dem
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Volksgerichtshof aber würde bedeuten: Schimpf und Schande und ein qualvolles Ende. »In einer Viertelstunde bin ich tot«, sagte Erwin Rommel zu seiner Frau. Er verließ sein Haus um 13.05 Uhr – in Begleitung der beiden Generale. Bereits fünfundzwanzig Minuten später wurde er tot in einem Ulmer Lazarett abgeliefert. Seine Begleiter erklärten: »Die Todesursache ist Embolie. Eine weitere Untersuchung ist nicht notwendig. Befehl des Führers!« Das feierliche Staatsbegräbnis fand tatsächlich statt. Der Führer und Oberste Befehlshaber ließ sich durch Generalfeldmarschall von Rundstedt vertreten. Der sagte, auf den Sarg weisend, in dem Rommel lag: »Sein Herz gehörte dem Führer.« Und Adolf Hitler erklärte, scheinbar tief bewegt, seiner Umgebung: »Wir werden für ihn ein würdiges Ehrenmal errichten – nach dem Sieg!« Am 30. Juli – fast auf die Minute genau zehn Tage nach jenem Augenblick, da im Führerhauptquartier Stauffenbergs Bombe explodiert war – erschien der Hauptmann FritzWilhelm Graf von Brackwede in der Prinz-Albrecht-Straße. »Ich werde erwartet«, erklärte er einem SS-Mann am Eingang. Er hatte seine Aktentasche bei sich – die gleiche, die am 20. Juli vom Schifferdamm zur Bendlerstraße hin und zurück transportiert worden war. Nur befanden sich jetzt keinerlei Papiere mehr darin. Ihr Inhalt bestand aus: Seife, Handtuch, Rasierzeug, Schlafanzug, einer Garnitur Unterwäsche, einem Paar Socken. »Sturmbannführer Maier ist schwer beschäftigt«, verkündigte der SS-Posten. »Er ist für niemanden zu sprechen.« »Das gilt nicht für mich«, sagte der von Brackwede überzeugt. Das heftige, hervordrängende Verlangen, einfach wieder umzukehren, überwand er schnell. »Sie brauchen ihm
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nur meinen Namen zu nennen.« Sein Name wurde genannt. Ein Staudamm schien zu brechen. Zwei SS-Posten verwandelten sich blitzschnell in wachsame Begleiter und führten diesen Besucher Maier zu. Und der kam dem von Brackwede bereits im Treppenflur – mit sozusagen offenen Armen – entgegen. »Da sind Sie ja endlich!« »Ein Abkommen ist schließlich ein Abkommen«, sagte der Graf. »Außerdem bin ich, wie Sie wissen, außerordentlich neugierig – vielleicht sogar auf das, was Sie hier in zahlreichen Spielarten zu bieten haben: den Tod.« »Sie sind und bleiben ein alter Witzbold«, bellte Maier. »Jedenfalls sind Sie hier – und das ist die Hauptsache. Ich schließe daraus, daß Sie nunmehr gewissermaßen zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit bereit sind. Was dabei auf dem Spiel steht, wissen Sie vermutlich genau!« »Ich weiß lediglich«, erklärte der Graf von Brackwede, »was Sippenhaftung ist – und das genügt mir völlig.« »Sie brauchen bloß«, rief der Reichsführer SS Himmler seinen Mitkämpfern an der totalen Ausrottungsfront zu, »die germanischen Sagas nachzulesen...« Nichts konnte für endlösungsbereite großdeutsche Menschen unmißverständlicher sein. Danach war die Sippe die allein maßgebliche Keimzelle jeder Gemeinschaft. Gedieh sie vielversprechend, mußte sie auch zielstrebig gepflegt und unterstützt werden. Fügte sie sich nicht in die Gemeinschaft, galt es, sie auszurotten. So wurden auch Frauen, Väter, Brüder und Schwestern, Greise und Kinder, Kinder selbst im Säuglingsalter, »sichergestellt«. Alle erreichbaren Angehörigen der vermutlichen Hauptbeteiligten wurden von der Gestapo aufgegriffen. Mindestens zwölf Frauen im Alter von über siebzig Jahren befanden sich darunter – auch die Mutter der Brüder Stauffenberg. Sie wurden in Gefängnisse, Erziehungsheime und Konzentrationslager eingeliefert. Sie wurden für »völkisch
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minderwertig« erklärt und entsprechend behandelt. Ihre letzten Spuren konnten erst Monate nach Kriegsende und nach mühsamem Suchen wiedergefunden werden. Und weiter erklärte Himmler: »Die Familie Stauffenberg wird ausgelöscht werden bis ins letzte Glied.« Nina Gräfin Stauffenberg, die Frau des Oberst, sah der Geburt ihres vierten Kindes entgegen. Sie fand mitleidige Wärter. Sie wurde nicht mißhandelt und erhielt fast ausreichend zu essen. Ihr wurde der Name Schank zugeteilt. Stauffenbergs Kinder – zwei Söhne und eine Tochter – wurden von der Mutter getrennt. Sie hatten fortan auf den Namen Meister zu hören. Parteiorganisationen »verwalteten« sie – mit anderen kindlichen Schicksalsgefährten lebten sie in abgelegenen abgesperrten Unterkünften. Und wieder und immer wieder wurde ihnen gesagt: Eure Väter sind elende Verbrecher! »Übersehen Sie die unvermeidbaren und unangenehmen Kleinigkeiten großzügig«, empfahl Maier. »Denken Sie real, handeln Sie klug. Werden Sie das für uns, was man im Bereich der britischen Justiz einen Kronzeugen nennt. Sie können dafür fordern, was Sie wollen.« »Bin ich tatsächlich in Ihren Augen ein derartiges Schwein?« fragte der von Brackwede. »Unsinn!« rief Maier. »Wir beide sind doch die geborenen Geschäftspartner – in dieser verdammt lebensgefährlichen Branche. Wir wissen, wo und wie die Hirsche am sichersten wechseln. Zumindest vermag ich mir nicht vorzustellen, daß ein so kluger Kopf wie Sie aus einem derartig elenden Bankrott nicht lieber aussteigen will.« »Sie scheinen enorme Schwierigkeiten zu haben.« Der Sturmbannführer nickte zustimmend. Er konnte jetzt nur noch gewinnen, seiner Ansicht nach. Und so gefiel er sich denn in breitströmender Offenheit. »Wir arbeiten hier auf Hochtouren – in Tag- und Nachtschichten. Einige hundert Beamte angesetzt auf etwa tausend bisher Verdächtige.«
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»Ein ganz stattlicher Haufen, meinen Sie nicht auch? Dieses Aufgebot hätte ich gern am zwanzigsten Juli in voller Tätigkeit gesehen.« »Ich weiß, ich weiß – wir haben alles aufgegriffen, was sich angeboten hat. Wir sichten; wir wählen aus; wir versuchen, Anhaltspunkte zu entdecken. Ein höchst mühsamer Vorgang! Außerdem ist, meiner Meinung nach, der Startschuß zu spät gegeben worden.« »Wollen Sie damit sagen: Himmler hat gezögert, hier alle Schleusen zu öffnen?« Maier grinste vertraulich. »Wir kennen doch unseren Himmler! Wer weiß, ob der nicht sogar unter den Verschwörern seine Zuträger und Mitarbeiter besitzt – so wie er ja auch seine Rückversicherungsjuden hat.« »Und so was kann verdammt peinlich werden – wie?« »Mein Lieber – ich hoffe nicht, daß Sie sich irgendwelchen falschen Hoffnungen hingeben. Wir haben uns in jeder Hinsicht abgesichert – natürlich mit dem Einverständnis des Reichsführers. So existieren diesbezügliche ausführliche Vernehmungsrichtlinien; speziell für diese Veranstaltung ausgearbeitet.« »Ich verstehe. Sie haben ganz einfach befohlen: Jede ablenkende, irreführende oder gar Verwirrung stiftende Aussage ist unter keinen Umständen zu dulden. Allein auf das sogenannte Wesentliche kommt es an.« »Ich sehe – Sie kennen sich aus.« »Wenn ich also, zum Beispiel, damit anfangen würde, über unsere geheimen Verbindungen und Absprachen zu reden – dann würde man mir prompt den Mund stopfen, nicht wahr?« »Und zwar gründlich«, sagte der Sturmbannführer. »Mit halben Maßnahmen geben wir uns dabei nicht ab. Sie kennen uns – ich brauche Sie nicht erst zu warnen.« »Nein – das brauchen Sie nicht.« »Dann sind wir uns ja wieder einmal einig!« Maier rieb sich geschäftig die Hände. »Es kann also losgehen! Legen Sie Ihre
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Listen auf den Tisch.« Der Graf von Brackwede schüttelte mit Entschiedenheit seinen Raubvogelkopf. »Unser Abkommen ist absolut eindeutig. Sie haben meine Familie in Sicherheit gebracht, und meine Gegenleistung dafür bestand darin, daß ich mich bei Ihnen melde. Das ist hiermit geschehen. Mehr ist nicht vereinbart worden.« »Mann«, sagte der SS-Sturmbannführer Maier mit unwillig staunenden Augen, »Sie wollen doch nicht etwa versuchen, mich über den Löffel zu halbieren? Nicht in dieser Situation! Das kann Ihr Todesurteil sein – eins unter einigen hundert anderen. Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«
2 Die letzten Tage, in denen sich das andere Deutschland zeigte »Ich bin der auf Sie angesetzte Spitzel«, sagte der Mann mit dem schläfrig dreinblickenden Spitzmausgesicht. »Ich heiße Dambrowski – Alarich mit Vornamen, wofür ich nichts kann. Sie sind also gewarnt.« Alarich Dambrowski wischte kniend die Zelle auf, in der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede untergebracht worden war. Dabei blickten seine Triefaugen mit prüfender Schnelligkeit um sich. Sein ausgemergelter Körper bewegte sich in kraftsparender Monotonie. »Sie wissen offenbar gar nicht, daß Sie hier sozusagen in der ersten Klasse untergebracht worden sind.« »Betrachten Sie sich, bitte, als mein Gast!« hatte Maier gesagt. Und der von Brackwede erkannte, daß er hier ein offenbar bevorzugter Gast war. Denn ihn umgab ein gewisser Komfort: ein gefedertes Feldbett, ein Stuhl mit Lehne, ein sargdeckelgroßer Tisch. Sogar ein Schreibpult stand unterhalb des vergitterten Fensters. Und der geradezu bestaunenswerte Höhepunkt war ein Waschbecken; dazu eine Toilette. Mit
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fließendem Wasser. »Sie müssen ein ganz wichtiges Tier sein«, meinte Dambrowski neugierig. »Vermutlich der Schwager von irgendeinem Reichsleiter – oder so was?« Brackwede schwieg. Er betrachtete den auf den Knien herumrutschenden Menschen mit dem Körper eines verhungerten Kindes nicht ohne Verwunderung. Schließlich sagte er: »Wenn Sie mein Spitzel sind, dann müssen Sie auch über mich Bescheid wissen – zumindest oberflächlich.« »Stimmt«, sagte Alarich und richtete sich auf. Seine Augen waren trüb wie aufgerührtes Moorwasser. »Sie kennen sich aus – was? Sie sollen sogar irgendwann mal Stellvertretender Polizei-Präsident von Berlin gewesen sein. Stimmt das?« Brackwede nickte. »Dennoch befinde ich mich jetzt in einer Zelle. Und derartige Räumlichkeiten habe ich bisher – reichlich gedankenlos übrigens – immer nur von außen betrachtet.« »Ach – an so was gewöhnt man sich«, meinte Dambrowski. »Sind Sie schon lange in diesem Bau?« »Nahezu fünf Jahre!« Der Streichholzmann mit den schlotternden Gefängniskleidern blickte fast stolz. »Und dazu gehört was – das kann ich Ihnen versichern! Ich gelte als der beste Spitzel im ganzen Laden. Und diese Knochen- und Gehirnmühle ist wohl absolut einmalig in der ganzen Branche... Meinen Sie das nicht auch?« »Genauere Einblicke fehlen mir noch.« »Die werden Sie garantiert bekommen.« Alarich nickte bedächtig. »Und Sie ahnen ja gar nicht, was so ein Mensch alles aushalten kann – das sage ich Ihnen gewissermaßen zur Ermunterung. Ich habe sogar Augenblicke erlebt – seltene, schöne Augenblicke – , in denen Gestapoleute nach einer Vernehmung fast so fertig waren wie der, den sie vernommen hatten!« »Ich kann mir durchaus vorstellen«, meinte der Graf von Brackwede ohne jede Ironie, »daß Sie ein erfolgreicher Mann in Ihrem Metier sind – Ihre Anbiederungstechnik ist große
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Klasse.« »Sie sind ein Fachmann!« rief Alarich beglückt. »Danke für das Kompliment. Wir werden glänzend miteinander auskommen – das ist sicher. Nur fürchte ich, daß wir nicht viel Zeit füreinander haben werden. Die Hyänen von der Gestapo arbeiten diesmal auf Hochtouren. Die erste Lieferung für den Volksgerichtshof ist so gut wie komplett.« »Wer?« fragte der von Brackwede. »Nun – etwa Goerdeler, Witzleben, Stieff und Hoepner.« Alarich Dambrowski schien vorzüglich orientiert. »Über diese Hochverräter, nach derzeitigem Sprachgebrauch, scheint haufenweise Material zu existieren. Doch bei vielen anderen Galgenaspiranten brüten unsere Stinktiere mächtig herum. Da sollen Sie wohl kräftig nachhelfen – was?« »So ungefähr«, sagte der Graf erstaunt. »Und – werden Sie das tun?« »Für den Anfang wollen Sie reichlich viel wissen, Herr Dambrowski.« Der von Brackwede blickte lächelnd in die listigen Augen. »Aber ich sehe ein, daß es gut für Ihr Ansehen als bester Spitzel in diesem Hause ist, wenn Sie mit gewissen Resultaten aufwarten können. Nun also – Sie können mitteilen, daß ich offensichtlich nicht abgeneigt sei, zeitgemäß zu singen. Nur muß man mir dafür einiges bieten. Maier soll sich mal überlegen, was ihm gewisse Einzelheiten wert sind.« »Herr von Brackwede«, sagte Alarich Dambrowski anerkennend. »Ich danke Ihnen für Ihre durchaus verwertbaren Anregungen. Ich bin zu Gegendiensten gern bereit.« »Sie, Herr Präsident, sind nunmehr für mich der deutschen Justiz richtigster Mann!« Das sagte Adolf Hitler, der Führer und Reichskanzler, zu Dr. Roland Freisler, dem Präsidenten des Volksgerichtshofes. Erneut saßen sie einander im Hauptquartier gegenüber. Es galt, letzte Absprachen zu treffen – in wenigen Tagen sollte die erste Verhandlung stattfinden. »Ich kann versichern, mein Führer, daß alle Vorbereitungen
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mit der notwendigen Gründlichkeit getroffen worden sind.« Freisler war ein Mensch mit einem hageren straffen Gesicht – sein Kinn wirkte energisch, seine Stimme klang metallisch hart: stahlklingenhaft. »Ich werde, ganz in Ihrem Sinne, mein Führer, ein drakonisches Strafgericht abhalten.« »Bravo!« rief der unvermeidliche Reichsleiter Bormann, nach einem kurzen Seitenblick auf seinen Führer. Dr. Roland Freisler war fünfzig Jahre alt – er war aber immer noch nicht Staatssekretär; lediglich bis zum Unterstaatssekretär hatte er es gebracht. Dann jedoch war er, seiner Ansicht nach, abgeschoben worden: 1942 erfolgte seine Ernennung zum ersten Präsidenten des neu errichteten Volksgerichtshofes. Er sollte auch dessen letzter Präsident sein. Aber werden wollte er: Reichsjustizminister. Nun erschien ihm die Gelegenheit dazu günstig. »Zwischen dem Oberreichsanwalt und mir«, berichtete er, »besteht weitgehende Übereinstimmung – zumal die existierenden Gesetze absolut eindeutig sind und gar keine Möglichkeiten zu faulen Kompromissen geben. Auf Hoch- und Landesverrat steht die Todesstrafe – sie wird beantragt werden, und mein Urteil wird entsprechend lauten.« »Das beruhigt mich«, versicherte Adolf Hitler. Seine Hände bewegten sich unruhig, während sein Körper wie erstarrt wirkte. »Ich lebe und arbeite für Deutschland – ich kenne nichts anderes! Seit Jahren komme ich nicht mehr dazu, ein Buch zu lesen, ein Theater zu besuchen, ein Konzert zu hören.« »Der Führer«, sagte Bormann zwar leise, doch deutlich, »opfert sich auf.« »Nichts jedoch«, sagte der, »kann selbstverständlicher sein! Unser Leben gehört dem Reich – und das Reich bin ich! Nichts darf existieren, das unser Deutschland gefährdet. Auch Sie, Freisler, werden in Ihrem Bereich dafür sorgen!« »Ich werde die Feinde meines Führers erbarmungslos ausrotten«, erklärte er schlicht. »Sind sie geständig?« fragte Bormann.
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»Sie sollen winseln«, berichtete Freisler. »Die Gestapo scheint diesbezüglich gute Vorarbeit geleistet zu haben – den Rest besorge ich.« Wieder Bormann: »Wird es auch Verteidiger für diese gemeingefährlichen Kreaturen geben?« »Allerdings – der allgemein üblichen Verhandlungstechnik entsprechend.« Der Volksgerichtshofpräsident zeigte sich optimistisch. »Dabei handelt es sich zumeist um sogenannte Pflicht-Verteidiger – nur in Ausnahmefällen sind dem Angeklagten private Rechtsanwälte bewilligt worden. Wie dem aber auch sein mag: In diesen wohl wichtigsten, größten und weitestzeugenden Stunden der deutschen Justiz wird die Gerechtigkeit überzeugend triumphieren – dafür garantiere ich.« »Auf den«, versicherte Martin Bormann, als er wieder mit Adolf Hitler allein war, »kann man sich hundertprozentig verlassen.« Und Hitler sagte, beruhigt und versonnen: »Dieser Freisler ist unser Wychinski!« Damit würdigte er Stalins Staatsanwalt, den er zugleich auch für den wirksamsten obersten Parteirichter der Sowjetunion hielt. Dieser Mann imponierte ihm. Wenn diesem russischen Giganten der Gesinnungsgerichtsbarkeit irgend jemand das Wasser reichen konnte – dann Roland Freisler. »Der wird das schaffen!« erklärte Großdeutschlands Staatsoberhaupt. »Der wird dafür sorgen, daß es bei uns eine Gerechtigkeit gibt, die der Welt den Atem verschlägt.« Und in diesem Punkt sollte er sich nicht getäuscht haben. »Langsam, mein Lieber, werde ich ungeduldig«, sagte der SS-Sturmbannführer Maier. Seine Stimme klang betrübt. »Ich würde mich hier gern als Ihr Freund erweisen – aber ich bin schließlich in dieser Maschinerie auch nicht mehr als ein Rädchen unter vielen. Und Sie wissen ja, wie das so geht: Hitler heizt Bormann ein, der setzt Himmler unter Druck, dieser Kaltenbrunner und der mich! Ich bin es letzten Endes, der Resultate liefern muß.«
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Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede saß wie sprungbereit auf der Kante seines Stuhles. Er bemühte sich um überzeugende Gelassenheit. Doch die Unruhe, die ihn beherrschte, ließ seine Hände erzittern – er preßte sie aneinander. »Wo befindet sich der Inhalt Ihrer Aktentasche?« wollte der Sturmbannführer wissen. »Irgendwo«, sagte Brackwede ausweichend. »Was verlangen Sie für diese Papiere?« »Möglicherweise existieren sie gar nicht mehr.« »Heißt das etwa«, fragte Maier heiser, »daß Sie diese Unterlagen vernichtet haben –?« »Und wenn das so wäre?« »Nun«, sagte der Sturmbannführer, schwer atmend, »dann bleibt uns immer noch Ihr Gedächtnis.« »Wenn das jedoch völlig versagen sollte – was dann?« »Dann werde ich Sie an Kommissar Habecker überweisen müssen. Wissen Sie, wer das ist?« »Nein!« »Dann schätzen Sie sich glücklich! Verglichen mit Habecker bin ich ein ausgesprochener Gemütsmensch, wofür Sie leider kein rechtes Gefühl zu besitzen scheinen. Das aber bedaure ich – ganz ehrlich. Denn dieser Habecker würde Ihren Fall weiterbehandeln – falls wir uns nicht doch noch einig werden sollten.« »Erwarten Sie tatsächlich von mir, daß ich Menschen, die mit mir befreundet sind, die ich verehren und lieben gelernt habe, serienweise ans Schafott liefere?« »Sie sehen derartige Manipulationen offenbar viel zu einseitig!« Der Sturmbannführer schien aufrichtig besorgt. »Warum ziehen Sie es nicht vor, hierbei die Ansicht zu vertreten, daß Sie der Gerechtigkeit, dem Reich, dem Führer – bitte, suchen Sie sich das Passende aus – wichtige Dienste leisten könnten? Und so was muß gar nicht einmal direkt erfolgen, falls es das sein sollte, was Sie stört. Mir genügt völlig, wenn Sie mir den Inhalt der Aktentasche zur Verfügung
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stellen oder die darin befindlich gewesenen Listen rekonstruieren. Sie brauchen keine Bemerkung dazu zu verlieren. Wir einigen uns auf die übliche offizielle Version: Es war ein Fund! Nun – was meinen Sie?« »Nein«, sagte Brackwede. »Das lehne ich ab – das ist kein annehmbares Angebot. Denn der ursprüngliche Inhalt dieser Aktentasche ist weit mehr als nur mein Leben wert.« »Nun gut – ich biete also an: Ihr Leben und das der Gräfin Oldenburg zusätzlich. Und das Ihres Bruders außerdem.« »Stop!« sagte der Graf von Brackwede entschieden. »Das sind Luftblasen. Meinem Bruder können Sie nicht das geringste anhaben – den haben Sie selbst am zwanzigsten Juli zum Hitler-Helden gemacht.« »Seien Sie da nicht zu sicher«, warnte Maier. »Helden lassen sich besonders leicht umbringen. Und ich kann nur hoffen, Sie fordern mich nicht heraus, Ihnen auch noch das zu beweisen.« Vor dem Volksgerichtshof stand – als einer der ersten – der einstige Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, Und da er nunmehr vom »Ehrenhof« aus der Wehrmacht ausgestoßen worden war, besaß er weder Titel, noch Rang und Würden. Er war nur noch: Angeklagter Witzleben. Dieser Angeklagte Witzleben hatte Mühe, seine Hose festzuhalten – sie drohte herabzurutschen. Und Freisler witzelte: Warum mache sich der Angeklagte immer wieder an seiner Hose zu schaffen – habe die denn keine Knöpfe? Die Leute im Zuschauerraum lachten erwartungsvoll auf – an die zweihundert Menschen waren zugelassen worden; alle ausgesucht führertreu. Kaltenbrunner saß in der ersten Reihe – leicht zurückgelehnt, mit verschleiertem Blick, sein Kinn betastend. Und Freisler begann die ersten seiner zahlreichen Register zu ziehen. Er verkündete, mit geradezu klagender Stimme: Er wäre, als Mitglied des Reichstages, einstmals – 1940 – tief bewegt gewesen, als der Führer diesen Witzleben zum Generalfeldmarschall befördert hatte. »Doch wie schäbig hat
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dieser Mensch diese Großzügigkeit belohnt! Er nahm verräterische Beziehungen zu einem Subjekt namens Beck auf.« Erwin von Witzleben, gezeichnet von Schmerzen, Hunger, Hilflosigkeit, versuchte seine besondere Situation zu erklären. Er habe erkennen müssen, daß im Verlauf dieses Krieges Fehler gemacht worden wären – schwerwiegende Fehler. Er vermied es, dabei den Namen Hitler zu nennen. Freisler brüllte ihn nieder. »Das ist Hochmut, wie er noch nicht dagewesen ist... erklären, Sie können es besser machen als der, der unser aller Führer ist... Denken Sie, der Führer ließe sich kampflos nehmen, schnappen? Denken Sie das?« Und Witzleben sagte darauf: »Ja, das habe ich mir damals eingebildet.« »Das hatten Sie sich damals eingebildet!« rief Freisler schneidend. »Ach, diese Mischung von Verbrechen und Stupiditat...« Sodann beschäftigte sich Freisler ausgedehnt mit lächerlichen Kleinigkeiten. »Sie machen ja tolle Fahrten mit unserem Benzin!« Der Angeklagte berichtigte höflich: Er fahre nicht mit Benzin; sein Wagen werde mit Holzgas angetrieben. Hierauf Freisler: »Auch damit kann man sparen!« Böse, spöttische Passagen zwischendurch. Dabei die lauernde Frage: »Sie hatten Magenbluten? Waren Sie sehr krank?« Ja – sagte Witzleben. Und prompt stellte Freisler triumphierend fest: »Sie waren also verärgert darüber, daß Sie krankheitshalber nicht Heerführer sein konnten!« Und mit gespieltem Abscheu rief dann der Präsident aus: »Sie wollten ja gegen das Volk regieren!« Auch gebrauchte er Wortgebilde wie »Ehrgeizlinge«, »hundsgemeine Felonie« und »fragwürdige, altersschwache Erscheinung«. Er zischte wie eine Lokomotive unter Volldampf. In seinem Schlußwort tönte er mit edel gedachtem Pathos: »Wir kehren zurück in das Leben, in den Kampf. Wir haben
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keine Gemeinschaft mit Ihnen ... Wir marschieren mit totaler Kraft hin zum totalen Sieg!« Unmittelbar vorher hatte Präsident Freisler den Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben zum Tode verurteilt – zum Tode durch den Strang. »Erhängen« lautete der dafür verwendete Fachausdruck. »Sie gehören doch zu jenen Menschen, die Gott und die Welt zu kennen glauben«, sagte der Kranführer Lehmann zu dem Dramatiker. »Was halten Sie von der Gerechtigkeit – aber von jener, die göttlich genannt wird?« »Lieber Freund, was muten Sie mir zu?« Der kleine bewegliche Mann schüttelte seinen schmalen Kopf. »Ich beschäftige mich mit einzelnen Menschenleben – ich versuche, sie auszudeuten. Sie gänzlich zu erklären, vermag ich nicht.« Lehmann war an diesem Tage lange vor der üblichen Zeit im Keller seiner Malerkolonne eingetroffen. Hier hatte er den Dramatiker angetroffen – der füllte, wie üblich, schmale Zettel mit seinen Notizen. Er pflegte zu behaupten: dieses Milieu rege ihn ungemein an. Die Wahrheit war: er wollte rechtzeitig zur Verfügung stehen. »Warum eigentlich das alles?« sinnierte der Gartenzwerg. »Warum führen Sie nicht ein brausendes Leben mit Ihren Schauspielerinnen – die legen sich doch glatt dafür hin, daß Sie ihnen eine Rolle auf den Leib schreiben? Warum gehe ich nicht mit unseren Studentinnen essen und danach auf meine Bude – warum pinseln wir statt dessen Mauern an? Und warum spielt der Graf von Brackwede, der doch ein blitzgescheiter Mann ist, eine höchstwahrscheinlich tragische Heldenrolle? Denn der könnte, wenn er nur wollte, Oberpräsident oder Reichskommissar sein: Warum will der das nicht? Warum hat Stauffenberg nicht für Hitler telefoniert und auf seine Beförderung zum General gewartet?« Der Dramatiker schien seine Notizen zu ordnen. Er schwieg. »Versuchen Sie mal«, fuhr Lehmann fort, »mir das wenigstens annähernd zu erläutern – schließlich sind Sie doch
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so eine Art Schiller, wie? In meiner Jugend habe ich den gefressen wie Plumpudding. Heute noch habe ich Magenverstimmungen davon.« Der Dramatiker sagte leise, fast qualvoll: »Was Sie da so beharrlich suchen, das wird gewöhnlich der Sinn eines Lebens genannt.« Er tastete nach Worten. »Es ist das Bemühen, sich nicht der Sinnlosigkeit auszuliefern.« »Und was bedeutet das – ganz praktisch?« »Nun – man kann etwa Wände anpinseln.« »Oder auch ein Staatsoberhaupt, das ein Verbrecher ist, in die Luft jagen!« »Auch das.« »Na schön«, sagte der Gartenzwerg. »Jeder muß eben mit sich selbst, mit seiner Umwelt, mit seinem Leben fertig werden – und zwar so, daß er das Gefühl hat, sich selbst in die Augen schauen zu können.« »Das, mein Freund, ist nicht wenig.« Lehmann beschäftigte sich mit dem Koffer, den er mitgebracht hatte. Er enthielt Sprengstoff – in ähnlicher Menge, wie ihn Stauffenberg benutzt hatte, von gleicher britischer Qualität. »Wem schiebe ich das am besten unter den Hintern?« fragte er versonnen. »Damit auch ich endlich weiß, was wirklich sinnvoll ist! Und das in diesem Deutschland!« »Wer ist Kommissar Habecker«, wollte Fritz-Wilhelm von Brackwede wissen. Alarich Dambrowski sah den Hauptmann mitleidig an. »Hat man Ihnen etwa damit gedroht?« Er scheuerte dabei mechanisch die Klosettschüssel aus. »Dann ist es verdammt ernst. Dieser Habecker ist des Teufels liebster Sauhund in Person – oder, offiziell gesagt: der wohl erfolgreichste Beamte in diesem Haus. Bei ihm gibt es immer nur zwei Möglichkeiten: man krepiert – oder man gesteht, was er will.« Brackwede, jetzt in einem zerknüllten grauen Straßenanzug, mit blauem Hemd und offenem Kragen, erhob sich unruhig
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von seinem Feldbett. Er ging auf den Mann mit dem verkniffenen Gesicht zu. »Kennen Sie eine Gräfin Oldenburg?« Alarich Dambrowski nickte nahezu betrübt. Seine erhobenen Hände wirkten spinnwebdünn. »Eine überaus nette Dame«, sagte er. »Wir haben selten derartig erlesene Exemplare in unserem Laden. Und sie hatte – hatte, sage ich – ein besonders zartes Gesicht.« »Heißt das – man hat sie geschlagen?« »Sie ist einigen Verhören unterzogen worden – ohne sonderliche Resultate übrigens; soweit ich weiß.« Dambrowski ließ die Wasserspülung laufen. Und während sie rauschte, sagte er: »Die Gräfin ist in der Zelle nebenan untergebracht. Ich soll, wie zufällig, beide Türen auflassen und dann für längere Zeit abhauen. Damit Sie miteinander reden können. Anordnung von Kamerad Maier.« Brackwede begann zu ahnen, was ihn erwarten würde. Und er erkannte, daß er diese Begegnung hinauszuzögern trachtete. Quälend war er sich seiner Schwäche bewußt. Bemüht, sich ablenken zu lassen, fragte er den Kalfaktor: »Woher kommen Sie?« »Aus Hamburg«, sagte der. »Dort bin ich Transportarbeiter im Hafen gewesen ... Das sieht man mir heute nicht mehr an, was? Aber ich habe immer noch eine tüchtige Portion Schmalz in den Knochen – erst neulich habe ich einem General das Genick umgedreht. Der wollte einen Selbstmord verüben, bekam den aber nicht mehr ganz fertig – da habe ich so schnell wie möglich nachgeholfen. Im übrigen bin ich ein Kommunist – das heißt: offiziell war ich einer. Stört Sie so was? Nein? Gut! Seit neunzehnhundertdreiunddreißig lebe ich auf großdeutsche Staatskosten. Erst war ich im Konzentrationslager Dachau, dann in Flossenbürg, hierauf kam ich in das Gefängnis Plötzensee, schließlich landete ich hier.« »Auch Sie wollen nichts als überleben – was?« »Sie scheinen genauso wie ich zu denken, Herr von
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Brackwede.« Alarich Dambrowski blinzelte müde. »Nicht wahr – auch die angekündigten tausend Jahre gehen einmal vorüber; vielleicht schon in den nächsten Monaten. Bis dahin aber muß man sich eben durchfretten – und wohl noch so manches in Kauf nehmen. So auch den Anblick der Gräfin Oldenburg. Den kann ich Ihnen leider nicht ersparen. Oder wollen Sie mich um mein Ansehen als bester Spitzel dieser Spezialhölle bringen?« Minuten danach sah Brackwede die Gräfin in der Nebenzelle liegen. Sie vermochte kaum, sich zu bewegen – nur mühsam hob sie ein wenig eine Hand. Ihr Gesicht war eine aufgequollene rosige Masse. Sie versuchte dennoch zu lächeln. Fritz-Wilhelm blieb vor ihr stehen. Zaghaft berührte er ihre Hand – sie bewegte einige Finger. Sekundenlang schloß Brackwede die Augen, als habe ihn schmerzende Helligkeit geblendet. Seine Stimme aber klang ruhig. »Sprechen Sie jetzt kein Wort. Ich weiß, was Sie mir sagen wollen, Elisabeth. Haben Sie Dank für alles. Noch heute werden Sie frei sein.« Sie blickte ihn mit flehenden Augen an. Er jedoch schüttelte entschieden den Kopf. Dann beugte er sich über sie und berührte mit seinem Gesicht, überaus behutsam, das ihre. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er hinaus. Im Korridor lauschte Alarich Dambrowski. Und zu ihm sagte der von Brackwede: »Ich bin jetzt soweit; jede erwünschte Aussage kann von mir erwartet werden – melden Sie das weiter.« Ein gewisser Karl Theodor Huber hielt sich an diesen Tagen für den geplagtesten Mann in ganz Großdeutschland. Mit verstörten Augen starrte er vor sich hin, seine Hände flatterten, und kalter Schweiß rann über sein Gesicht. Dieser Karl Theodor Huber, einer soliden süddeutschen Bauernfamilie entstammend, war Tonmeister beim großdeutschen Rundfunk. Er hatte den Auftrag erhalten, die Verhandlungen vor dem Volksgerichtshof tontechnisch einzufangen. Und Reichs-Sendeleiter Hadamovski persönlich
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hatte zu ihm und den übrigen, die dafür eingesetzt waren, gesagt: »Leute – ihr seid mit einer einmaligen Aufgabe betraut. Ihr arbeitet sozusagen direkt für das Ohr des Führers!« Zunächst schien auch alles richtig anzulaufen: Mehrere Mikrofone wurden im Gerichtssaal installiert und sorgfältig ausprobiert. Huber selbst nahm den Präsidentenstuhl ein und machte Sprechproben. Seine Gehilfen spielten Verteidiger und Angeklagte. Und ein Reporter gefiel sich als Ankläger. Er rief mehrmals: »Beantrage ich somit die Todesstrafe!« »Ganz groß!« stellte der Huber-Karl in seiner improvisierten Tonkabine fest. »Das muß hinhauen! Da wird jeder Atemzug primissima in die Tüte kommen.« Doch bereits am 7. August – bei der ersten Sitzung des Volksgerichtshofes in Sachen »Attentat auf den Führer, Hochverräterische Verschwörung; permanenter Landesverrat« – fiel der Tonmeister aus allen Wolken seines technischen Himmels. Denn: eine Kette von Katastrophen bahnte sich an! Dieser Präsident brüllte fast immer – die überstrapazierten Mikrofone klirrten anhaltend auf. Und einige der Angeklagten sprachen wieder zu leise; manche flüsterten fast nur. Hier einen gediegenen tontechnischen Ausgleich zu finden, schien Karl Theodor Huber eine nahezu übermenschliche Anforderung zu sein. Besonders verzweifelt war das Händeringen des Tonmeisters bei der Vernehmung des ehemaligen Wehrmachtkommandanten von Berlin, des Generals Paul von Hase. Denn dieser Mensch besaß nicht die Lautstärke, die von einem General erwartet werden konnte – vielmehr sprach er undeutlich, widerwillig, oft kaum vernehmbar. »Sie waren also im Komplott«, stellte Roland Freisler fest. Und abermals zuckte der Tonmeister verstört zusammen – denn diesmal war es der Präsident, der da plötzlich unerwartet leise sprach. »Eine Sauerei, das Ganze!« stöhnte der Mann in der Tonkabine. »Komplott« – das war bei dieser Vernehmung das
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Lieblingswort des Roland Freisler. Der Angeklagte Hase habe die Anmaßung, das Regierungsviertel zu besetzen, nicht sofort und mit aller Entschiedenheit abgelehnt. »Also sind Sie im Komplott darin gewesen!« Das wurde lediglich, in den Ohren des Tonmeisters, verhalten gejault – wie von einem Schakal in der Ferne. Die Zeiger der Tonskala flatterten hilflos. »Ich blieb zunächst zu Hause«, berichtete der Wehrmachtkommandant von Groß-Berlin. »Ich hatte noch dienstlich zu tun.« Freisler heulte jetzt sirenenartig auf. »Aha! Sie haben sich dienstlich beschäftigt, haben noch Mittag gegessen. Was noch?« »Nichts Besonderes!« sagte der General von Hase ergeben. Freisler stieß sofort, habichtartig, auf seine sichere Beute. Seine Stimme schrillte wie eine Alarmglocke. Huber-Karl betätigte in flackernder Erregung sämtliche erreichbaren Tonregler. »Nichts Besonderes also!« rief der Präsident. »Ich aber hätte gedacht, daß Ihnen in jeder Minute riesengroß vor Augen diese Erkenntnis hätte sein müssen: Jede Minute, die jetzt abläuft, bin ich ein Schurke, Verräter und Lump und mehr schuld daran, daß vielleicht unser Führer gemeuchelt wird...« »Herr Präsident«, sagte der General von Hase leise, »diese Gedanken sind mir selbstverständlich durch den Kopf gegangen.« Und Freisler mit schmetternden Fanfarentönen: »Verbrecher... Amtsanmaßung... Wortverdreher.« Schließlich zischte er: »... denn Sie waren ja kein Soldat mehr, nachdem der Verrat in Ihrer Brust war... eine absolute Unmöglichkeit!« Auch hier: das Todesurteil. Roland Freisler: »Eidbrüchige, ehrlose Ehrgeizlinge... verrieten ... so wie noch niemand in unserer ganzen Geschichte die Opfer unserer Krieger, Volk, Führer und Reich... Verräter an allem, wofür wir leben und kämpfen,
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werden sie alle mit dem Tode bestraft. Ihr Vermögen verfällt dem Reich.« »Dieser Mann ist eine glatte Katastrophe!« murmelte der Tonmeister Karl Theodor Huber, am Ende seiner Kräfte. »Der hat nicht die geringste Ahnung, worauf es hier ankommt.« »Ich bin überaus betrübt«, behauptete der Sturmbannführer Maier. »Was muten Sie mir zu? Wozu zwingen Sie mich? Habe ich das verdient? Mann – wo wir uns doch immer so gut verstanden haben?« »Ach – reden wir doch nicht herum!« rief der von Brackwede aus. »Sie bekommen von mir ein vollständiges, juristisch einwandfreies Geständnis – unter der Bedingung, daß Sie die Gräfin Oldenburg-Quentin unverzüglich freilassen.« »Nur Ihr Geständnis – Ihre Mitarbeit nicht? Nicht Ihr Material?« »Zug um Zug«, sagte Fritz-Wilhelm von Brackwede unbeirrt. »Tun Sie doch nicht so verwundert – Sie wissen genau, daß ich meine Haut so teuer wie nur irgend möglich verkaufen werde. Also los – kommen wir zum nächsten Posten unserer Rechnung.« »Wie Sie wollen«, sagte der Sturmbannführer Maier enttäuscht. »Aber ich habe Sie gewarnt, ich habe Ihnen gut zugeredet, ich habe getan, was ich konnte. Was nun unvermeidlich wird, das ist nicht meine Schuld, dazu zwingen Sie mich.« Hierauf gab der Sturmbannführer Befehl: Die Gräfin Oldenburg-Quentin sei sofort zu entlassen. Sie könne sich, unbewacht, in ihrer Wohnung aufhalten; die Akten über sie seien abzuschließen. »Der Leutnant Konstantin von Brackwede ist zu verständigen – er soll sich um sie kümmern. Recht so?« Der Graf nickte. Sodann erschienen zwei Vernehmungsbeamte. Der eine diktierte eine bereits vorbereitete Erklärung, der andere schrieb sie direkt in seine Maschine. Danach sagte Fritz-
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Wilhelm von Brackwede folgendes aus: »Ich war an den Planungen und Vorbereitungen des Attentates auf Hitler maßgeblich beteiligt. Ich habe am zwanzigsten Juli neunzehnhundertvierundvierzig beim Aufstand in der Bendlerstraße aktiv und führend mitgewirkt. Ich bin mir der Tragweite meiner diesbezüglichen Handlungen und der Bedeutung dieses Geständnisses durchaus bewußt.« Nachdem der Graf von Brackwede dieses »Protokoll« in fünffacher Ausfertigung unterschrieben hatte, nahm es der Sturmbannführer Maier an sich. Er schickte die Beamten hinaus. Betrübt schien er sein Dienstzimmer zu betrachten – es war karg möbliert und roch nach kaltem Zigarrenrauch und verstaubtem Papier. Der Sturmbannführer nahm die fünf Blätter des kurzen lebensgefährlichen Protokolls zwischen seine klobigen Hände. »Ich kann diesen Wisch zerreißen«, sagte er. »Sie brauchen nur zu sagen: Ab sofort arbeiten wir zusammen.« »Zerreißen Sie diese Papiere nicht«, sagte der Graf. Maier zuckte mit den Schultern. »Dann wird Ihre nächste Station Habecker sein.« Den Volksgerichtshofpräsidenten Roland Freisler umrahmten die beiden »Beisitzer« – der General Hermann Reinicke und der Volksgerichtsrat Lemmle. Der eine glaubte unbeirrt an Hitler, der andere war lediglich ein Beamter. Beide taten, wie sie versicherten, »nichts als ihre Pflicht«. Der General Reinicke – nunmehr Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes im Oberkommando der Wehrmacht – blickte mit Abscheu auf diese Hoch- und Landesverräter. Sie machten, seiner Ansicht nach, keine sonderlich gute Figur – von einigen Ausnahmen abgesehen. »Der Weg der Wahrheit«, rief Roland Freisler aus, »ist schwer, weil er schmal ist, aber leicht, weil er gerade ist. Gehen Sie diesen Weg!« Der Präsident liebte derartige Zitate – sie reichten von den Nibelungen bis zu Hitler, den er gelegentlich sogar »unseren Herzog« nannte, der »treue Gefolgsmannen« verdiene.
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Doch derartige Dinge vermochten dem General Reinicke nicht zu imponieren. Die grellflackernden Scheinwerfer ließen ihn gleichgültig, die surrenden Kameras konnten ihn nicht ablenken, die drei breitflächigen Hakenkreuzfahnen, die hinter ihm hingen, sah er nicht. Lediglich die Büste des großen Friedrich, des Preußenkönigs, fiel ihm auf. Wenn sein Blick darauf ruhte, erschienen seine Augen mild. Freisler brüllte: »Ein Schurkenwerk, das alle Schranken sprengt und jeden Maßes spottet, ist geschehen!« Der Präsident sprach während dieser Verhandlungen weit mehr, als alle Angeklagten, ihre Verteidiger und Ankläger zusammengenommen. »Den Führer wollte man uns rauben, feige meucheln!« Der General, dekorativ und ernsthaft wirkend, dachte an den Eid: Er war schändlich gebrochen worden! Er dachte an die Unantastbarkeit eines Staatsoberhauptes. Und er war absolut sicher: Preußisch-deutsches Soldatentum konnte das nicht sein, was hier vor seinen irdischen Richtern stand – mochte ihm dieser Richter im blutroten Talar auch auf die Nerven fallen. Da war der einstige Generalmajor Helmuth Stieff – jetzt in schäbigen Zivilkleidern: schmal, leicht verwachsen, mit starrem Gesicht. Er stand stumm und regungslos da, als ihn Freisler einen »elenden Lügner« nannte. Freisler: »... ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß Sie zunächst vor der Polizei gelogen haben, daß sich die Balken biegen mußten.« Als »Polizei« bezeichnete er ungeniert die Gestapo. »Haben Sie also gelogen? Stimmt das? Ja oder Nein?« »Ich habe Dinge verschwiegen«, gab Stieff zu. »Ja oder Nein!« brüllte Freisler auf. »Zwischen Lüge und Wahrheit gibt es kein Wenn oder Aber. Haben Sie gelogen, oder haben Sie die volle Wahrheit gesagt?« Die habe er nachher gesagt, erklärte der Angeklagte. Und unberührt, fast versteinert wirkend, schwieg er, als Freisler den Oberst Stauffenberg als »Mordbuben« und »Verbrechergenossen« bezeichnete. Doch als dieser
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Präsident von »nationalsozialistischer Mannestreue« tönte, unterbrach ihn Stieff plötzlich und sprach von der Verpflichtung »dem deutschen Volk gegenüber«. Der beisitzende General horchte ungläubig auf – das ging doch wohl entschieden zu weit! Hier handelte es sich schließlich um überführte Hochverräter! Was ging in deren Hirnen eigentlich vor? Erwartungsvoll blickte er den Präsidenten an. Roland Freisler enttäuschte derartige Erwartungen nicht. Er bellte den »elenden Angeklagten Stieff« heftig an. »Führer und Volk sind immer eins! Was ist das für ein jesuitischreaktionärer Vorbehalt, den Sie da machen? Was glauben Sie, was geschehen wäre, wenn einer der letzten Goten am Vesuv einen solchen Vorbehalt gemacht hätte? Was glauben Sie, was da mit einem geschehen wäre, der bei einem wandernden Treck germanischer Stämme so etwas gesagt hätte? Er wäre in den Sumpf versenkt worden, weil Sumpf zu Sumpf gehört.« Der General lehnte sich zurück. Mit bitterem, knapp angedeutetem Lächeln betrübter Verachtung betrachtete er den Angeklagten. Dann schloß er kurz die Augen. Wieder einer mehr, der erhängt werden mußte. Auch im unteren Keller des hinteren Teiles des Gestapogebäudes in der Prinz-Albrecht-Straße wieselte Alarich Dambrowski umher. »Ich bin hier überall unentbehrlich«, verkündete er augenzwinkernd. »Sie gehören auch weiterhin zu meinen Schützlingen – denn ich habe Sie in den oberen Räumen mit prima Erfolg bespitzelt.« Die Zelle, in der sich Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede jetzt befand, war schmal und dreckig wie ein flüchtig entleerter Mülleimer. Seine Hände befanden sich in Fesseln – eine um seinen Leib geschlungene Eisenkette bereitete ihm schneidende Schmerzen, sobald er sich bewegte. »Sie müssen lernen, selbst unter derartigen Umständen zu essen – und zu schreiben«, empfahl der Kalfaktor. »Üben Sie das – Sie bekommen dann den Bogen bald heraus. Unmöglich ist nichts – solange man noch lebt. Und hat nicht dieser seltsame Oberst, dieser Stauffenberg, nur noch eine Hand
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gehabt?« »Eine Hand mit drei Fingern«, sagte der von Brackwede. »Na sehen Sie!« Dambrowski lächelte ermunternd. »Und jetzt nehmen Sie das.« Er angelte aus seiner Hosentasche ein kinderfaustgroßes Stück Wurst heraus und einen Kanten Brot. »Das werden Sie nötig haben. Denn das Essen hier reicht nicht aus, einen Menschen auf dem Damm zu halten – Goerdeler stöhnt vor Hunger jede Nacht. Und außerdem werden Sie heute noch Habecker, dem Sauhund, vorgeführt. Ich kann da nur hoffen, Sie sind auf alles gefaßt. Achten Sie dabei auf Elfriede.« Der Kriminalkommissar Habecker, zu dem dann Brackwede gebracht wurde, wirkte zunächst wie ein Briefträger, der Geldsendungen austeilt: gleichmütig freundlich, voll ruhiger Nachsicht, mit gutmütig klingendem Organ. Er hatte ein biederes Stammtischgesicht. Er begann mit der sogenannten »offiziellen Eröffnung«: »Ich mache Ihnen bekannt, daß gegen Sie der Vorwurf erhoben wird, an der Verschwörung des zwanzigsten Juli beteiligt gewesen zu sein. Ihr grundsätzliches Geständnis liegt vor. Zeugen sind vorhanden. Es hat keinen Zweck zu leugnen. Also – beginnen wir mit Ihrer Aussage.« Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede betrachtete den Raum, in dem er sich befand – er war, wie wohl auch alle anderen in diesem Gebäude: kreideweiß, sauber, mit klobigem Fußboden. Habecker stand vor ihm, grelles Licht war auf ihn gerichtet; ein Gestapobeamter wie ein prallgefüllter Schlauch hielt sich hinter Brackwede auf. Und in einer Ecke hockte Habeckers Schreibkraft – gelangweilt wartend, mit schilfgrünen Augen unter glattgekämmtem Braunhaar. Sie hieß Elfriede. »Ich leugne nichts«, sagte der von Brackwede fest. »Aber ich werde keine sonstigen Aussagen machen.« Habecker schlug ihm in das Gesicht – mit der flachen Hand zunächst. Der Gefesselte versuchte vergeblich, diesem Schlag auszuweichen. Ein Fausthieb traf ihn in das Genick – der
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Beamte hinter ihm war in Aktion getreten. Und abermals schlug Habecker zu; diesmal mit der geballten Faust auf die Adlernase des Grafen – sie begann zu bluten. »Damit«, sagte der Kriminalkommissar, »sind wohl alle Mißverständnisse beseitigt. Jetzt können wir also anfangen, offen miteinander zu reden. Ihre Aussage, bitte.« »Ich habe nichts auszusagen«, erklärte der von Brackwede. Er vermochte nur mühsam zu atmen – das aus der Nase rinnende Blut, das zu den Mundwinkeln floß, drohte ihn zu ersticken. »Und ich werde nichts aussagen!« »Du solltest dir dieses Großmaul etwas näher betrachten, Elfriede«, empfahl Habecker und zündete sich eine Zigarette an. »Du hast doch eine Schwäche für derartige Schreihälse. Also los, ziere dich nicht... stopfe ihm das Maul.« Elfriede erhob sich, glättete ihren Rock und schritt fast tänzelnd herbei. Ihre schillernden Augen schienen den Grafen von Brackwede abzutasten. Dann nahm sie Habecker die Zigarette aus dem Mund und drückte sie aus – auf Brackwedes gefesselten Händen. Der biß die Zähne zusammen, schloß die Augen und schwieg. Der Beamte hinter ihm umklammerte ihn vorsorglich. »Er will dir nicht in deine schönen Augen sehen!« stellte Habecker ermunternd fest. Er lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und stand mit leicht gespreizten Beinen da. »Er scheint deine besonderen Vorzüge nicht in der rechten Weise schätzen zu wollen. Benimmt sich so ein Kavalier?« Der Graf öffnete seine Augen – und er sah zwei ausgestreckte Fingerspitzen von Elfriedes Hand auf sich zukommen. Sie schienen langsam, erzitternd, wie auf einem Transportband vorwärts bewegt zu werden. Und dann verspürte er einen heftig bohrenden Schmerz – der prallte von seinen Augen geschoßartig zum Hinterkopf. »Ein bescheidener Anfang«, bemerkte Habecker lässig. »Kleine Ouvertüre für eine abendfüllende Oper. Von mir dirigiert!« Die Gräfin Oldenburg lag auf ihrem Bett wie zerbrochen. Sie
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bewegte sich nicht. Ihr Atem war kaum vernehmbar. Der Arzt, den Konstantin herbeigeschleppt hatte, saß erschöpft auf einem Stuhl. Lähmende Müdigkeit beherrschte sein Gesicht – seine derzeitige alltägliche Praxis umfaßte ganze Friedhöfe. Und dennoch fragte er: »Wie konnte das geschehen?« »Sie war bei der Gestapo«, sagte Konstantin. Der Arzt erhob sich in schweigender Empörung. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er schien vergeblich nach Worten zu suchen. Sein Kopf war tief gesenkt. Schließlich sagte er hastig: »Sie sollte schnellstens in ein Krankenhaus eingeliefert werden – aber ich weiß keins, das sie aufnehmen kann. Alle sind überfüllt. Auch müßte sie eine Morphiumspritze bekommen – mindestens eine. Aber ich kann sie ihr nicht geben. Ich verfüge schon lange nicht mehr über ausreichende Medikamente.« »Ist es – schlimm?« fragte Konstantin angstvoll. »Was ist denn nicht schlimm – in dieser Zeit.« Der Arzt beugte sich noch einmal über die Schwerkranke. Er streckte seine Hand nach ihr aus, zog sie aber, ohne Elisabeth berührt zu haben, wieder zurück. »Ich will mich bemühen, Medikamente aufzutreiben. Vielleicht wird auch irgendwo ein Krankenbett frei. Versprechen kann ich nichts.« »Und bis dahin?« »Vielleicht«, sagte der Arzt, »gibt es hier nur noch eins, das helfen könnte: beten! Glauben Sie mir – derartige Ratschläge fallen mir nicht leicht. Aber jetzt weiß ich nichts Besseres.« Der Arzt eilte wie gehetzt davon. Er versprach, möglichst bald wiederzukommen; morgen vermutlich, irgendwann im Laufe des Tages. Konstantin hörte das nicht. Er beugte sich über Elisabeth. Er blickte auf ein verquollenes Gesicht, das jetzt wie eine erstarrte Masse aus brüchigem Wachs war. Lange, quälende, traumhaft wuchernde Minuten gingen dahin. Sie waren allein mit sich und ihren kraftlos gewordenen Gedanken.
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Und ihm wollte scheinen, als beginne sie zu lächeln, sich in Zärtlichkeit aufzulösen, zu vergehen in ersterbender Hingabe – wie einstmals; nur wenige Stunden und Tage zuvor. »Ich liebe dich, Elisabeth«, sagte er und beugte sich vor. Doch Elisabeth Gräfin von Oldenburg-Quentin war tot. Der Sturmbannführer Maier war ungehalten – selbst ein Habecker kam in der für ihn wichtigsten Angelegenheit nicht vorwärts. Zugleich verstärkte Kaltenbrunner den Druck auf die ihm unterstellten Abteilungsleiter: Der Führer erwarte tagtäglich nicht nur ausführliche Berichte, sondern auch überzeugende Erfolge. »Warum kommen Sie mit Brackwede nicht weiter?« fragte Maier drängend. Kommissar Habecker schien leicht deprimiert. »Dieser Bursche ist verdammt zäh! Ich spiele auf der ganzen Klaviatur – aber der ist stumm wie ein Fisch!« »Und wann, glauben Sie, wird der singen?« »Das«, mußte Habecker eingestehen, »kann ich leider nicht genau sagen.« Sturmbannführer Maier wußte, was diese Auskunft zu bedeuten hatte: Erfolge waren somit kaum zu erwarten – zumindest nicht in absehbarer Zeit. Das aber war geradezu katastrophal – für ihn. »Haben Sie bereits alle Möglichkeiten ausprobiert, Habecker?« »Die allerletzten noch nicht. Soll ich?« »Ja«, sagte Maier hart. Damit hatte er den von Brackwede vorbehaltlos ausgeliefert. Doch das hielt er jetzt für unvermeidlich – er hatte den Grafen gewarnt. »Was meinen Sie, Habecker – werden wir damit weiterkommen?« »Das«, erklärte der Kommissar, »scheint mir leider völlig offen zu sein. Es gibt solche Fälle...« »Ja, wissen Sie denn, was das bedeutet!« rief der Sturmbannführer erregt. »Ahnen Sie denn nicht, was das für
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Folgen haben könnte? Für Sie! Auch für mich. Für uns alle. Sie müssen ihn zum Sprechen bringen!« »Ich tue mein möglichstes«, sagte der Kommissar. Er schien sich in seiner Berufsehre gekränkt zu fühlen. »Ich habe bisher meine Fähigkeiten stets bewiesen. Doch es gibt Ausnahmen. Wie etwa dieser Julius Leber.« »Leber!« rief der Sturmbannführer erbittert aus. »Kommen Sie mir doch nicht mit dem!« Er war an die dunkelsten Stunden seines Gestapodaseins erinnert worden. »Dieser Julius Leber ist ein absoluter Sonderfall. So etwas wie den kann es doch gar nicht noch einmal geben.« »Leider doch, fürchte ich – der von Brackwede ist in gewisser Hinsicht ein ähnlicher Typ.« Und fast versonnen fügte der Kriminalkommissar hinzu: »Man stelle sich diese beiden einmal als Innenminister und Staatssekretär vor... Die würden eine Welt umkrempeln – wenn sie Gelegenheit dazu bekämen.« »Lassen Sie solche Spekulationen«, wehrte Maier schroff ab. »Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihr Fachgebiet. Entweder: der von Brackwede redet endlich – oder: Sie verstummen mit ihm!« Habecker zog sich beleidigt zurück. Der Sturmbannführer sah ihm nicht ohne Hoffnung nach: Dem hatte er kräftig eingeheizt. Dennoch erkannte Maier, daß er einigen Grund hatte, düster in die Zukunft zu blicken. Verbissen stürzte er sich in seine Arbeit und hoffte auf einen Lichtblick. Und der schien sich tatsächlich anzukündigen. Noch am gleichen Tage wünschte ihn ein gewisser Lehmann telefonisch zu sprechen. Der Sturmbannführer meldete sich auf der Seile – obgleich er mitten in einer Vernehmung war. »Erinnern Sie sich noch an mich?« fragte Lehmann. »Und ob ich mich an Sie erinnere, Sie Himmelhund!« rief
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Maier bemüht gemütlich. »Was verschafft mir das Vergnügen? Ich nehme nicht an, daß Sie sich danach erkundigen wollen, wie es mir geht.« »Wie käme ich denn dazu?« meinte Lehmann sanft. »Ich gedenke Ihnen lediglich ein Geschäft vorzuschlagen.« »Warum nicht! Also – was können Sie anbieten; was verlangen Sie dafür?« »Ich verlange einen gültigen Paß, Geleitschutz bis an die Schweizer Grenze und tausend Dollar in bar – echte Dollars, versteht sich.« Der Sturmbannführer schwieg überwältigt. Er vermochte nur noch mühsam zu scherzen. »Soll ich etwa auch noch Ihren Arsch vergolden lassen, Mann?« Doch Lehmann fuhr sachlich fort: »Ich biete Ihnen die Unterlagen des Grafen von Brackwede – dazu die genaue Rekonstruktion der Stauffenberg-Bombe.« »Tatsächlich?« fragte Maier fast atemlos. »Wann?« »Wann immer Sie wollen. Geht unser Geschäft in Ordnung?« »Noch heute – von mir aus!« »Abgemacht«, sagte Lehmann zufrieden. »Erwarten Sie meinen Anruf innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden. Aber dieses Angebot gilt nur für Sie – mehr als drei Mann dürfen Sie nicht mitbringen. Und dann – Zug um Zug!« »Einverstanden«, versicherte Maier. »Ich lasse sofort alles vorbereiten.« »Fein«, sagte der Gartenzwerg scheinbar zufrieden. »Aber versuchen Sie nicht, mich übers Ohr zu hauen. Ich bin kein Graf, ich habe keine Manieren, ich scheiße auf jede Sorte Ehrenwort. Ich will liefern und kassieren. Und das, denke ich, kann doch nur ganz in Ihrem Sinne sein.« Der Hauptankläger bei den Prozessen vor dem Volksgerichtshof hieß Lautz – Oberreichsanwalt Lautz; ein würdig aussehender Jurist. Er überlebte alle und alles. Später erhielt er »die ihm zustehende« Pension; und auch er erklärte,
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nichts weiter als seine Pflicht getan zu haben. Und wenn nicht er – irgendeiner hätte das tun müssen. Seine Situation war sozusagen kristallklar – er brauchte sich nur nach den bestehenden Gesetzen zu richten. Und nichts anderes sonst tat er. Auf Hoch- und Landesverrat stand die Todesstrafe – und die beantragte er regelmäßig. »Richter des Volksgerichtshofes des Großdeutschen Reiches! Die Geschichte der preußisch-deutschen Wehrmacht, die reich an Beispielen ist von Mut, Tapferkeit, Treue und Ehre, ist ohne Beispiel für den Vorgang, der heute mit solcher Eindringlichkeit vor Ihnen, meine Herren, entrollt worden ist. Bei der Schilderung der Person und ihrer Tat ist es daher schwer, immer wieder das Maß einzuhalten, das der Würde dieses Gerichtshofes entspricht... Es ist erschütternd ... es war ein kleiner Kreis ehrvergessener Lumpen ... Haß gegen den Führer ... brennender Ehrgeiz, voranzukommen ... menschliche Unzulänglichkeit in weitestem Ausmaße ... in der Verbindung mit einer abgrundtiefen Gewissenlosigkeit gegenüber dem deutschen Volk ... Sie haben versucht, durch einen Mordanschlag auf den Führer, der feige in seiner Ausführung war und durch Gottes Segen mißglückt ist, die Gewalt über Heer und Heimat zu bekommen. Sie wollten dann durch ein feiges Paktieren mit einem Feinde ... das Reich dem Feinde ausliefern. Sie sind deshalb nicht nur Hochverräter, sondern auch infame Landesverräter.« Und das von nun an fast Tag für Tag: Todesstrafe, Aberkennung der Ehrenrechte – soweit nicht durch den »Ehrenhof der Wehrmacht« bereits geschehen – , Einziehung des Vermögens. Hierzu dann abschließend Freisler – dem Antrag des Oberreichsanwalts zustimmend: Vom Tod durch die Kugel könne nicht gesprochen werden – doch das Reich habe sich ein Gesetz geschaffen, für den Fall besonders schimpflicher Taten. Danach könne »die Vollstreckung der Todesstrafe
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durch den Strang erfolgen«. Und: »Damit haben wir gesagt, was hier zu sagen ist.« Das war der »normale Ablauf« dieser Tage. Und sie alle taten »nur ihre Pflicht«. Sie »dienten dem Recht«. Einige Zeit später empfanden sie dann diese Vorgänge als »tragisch«. Gelegentlich gab es auch »erheiternde Zwischenspiele«. Unbekümmertes Gelächter klang im dichtbesetzten Zuschauerraum auf. Auch der Oberreichsanwalt fühlte sich dann ein wenig erleichtert und zeigte ein nachsichtiges Lächeln. So etwa, als der Präsident Freisler die »Volksgenossin Elsa Bergenthal« vor den Richtertisch zitierte. Diese gutwillig und bescheiden wirkende Frau behandelte er mit ausgesuchter Höflichkeit. »Wir haben Sie hergebeten, damit Sie Zeugnis ablegen.« Freisler behauptete, sich dabei vorbeugend, die »Ehre der Volksgenossin Bergenthal als deutsche Frau« bereitwilligst zu respektieren. »Wir nehmen an, daß Sie um Ihrer Ehre willen die Wahrheit sagen werden.« »Ja«, versprach Frau Bergenthal. Die zweihundert Zuschauer, meist in Uniformen, hoben erwartungsvoll die Köpfe. Etwas Besonderes schien sich anzubahnen. »Sie waren Wirtschafterin bei diesem Beck«, begann Roland Freisler mit sanft-säuselnden Untertönen. »Sagen Sie, war er eine starke, feste Persönlichkeit, die etwas bedeuten konnte, wenn sie vor das Volk tritt und vom Volk etwas fordert?« »Das weiß ich nicht«, sagte die Bergenthal. »Darüber kann ich mir kein Urteil erlauben.« Dafür, gab Freisler entgegenkommend vor, habe er Verständnis. Auch verlange er keine wertende Beurteilung – ihn interessierten lediglich bestimmte, möglicherweise bezeichnende Einzelheiten. Waren etwa, »zum Beispiel morgens, Spuren seines Herumwälzens« vorhanden
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gewesen? Das mußte die Volksgenossin Bergenthal bejahen. Sie berichtete, zwar widerstrebend, doch aufrichtig, daß er – Beck – »des Nachts furchtbar geschwitzt hat, daß er furchtbar aufgeregt war«. »So daß also morgens«, ergänzte Freisler genußvoll, »wenn er das Bett verließ, dieses klatschnaß war?« Das bejahte die Zeugin. Der Präsident umhüllte sie mit Wohlwollen. Er sprach seinen Dank aus, ließ sie unvereidigt und verabschiedete sie mit herzlich klingenden Worten. Und triumphierend stellte er dann fest: Ein Mensch, »der sich in seiner Angst nachts so im Bett wälzt, daß sein Bett am Morgen klatschnaß ist, vierzehn Tage lang« – das könne doch wohl »kein Mensch von besonderer Stärke« sein. Und solch ein schlappes Gesindel habe sich angemaßt, den einzigartigen, unvergleichlichen Führer ... Die Zuschauer murmelten beifällig. »Immer noch munter?« fragte Habecker und gab sich gelangweilt. »Oder sind Sie jetzt endlich bereit, Vernunft anzunehmen?« »Ich habe keine Aussage zu machen«, erklärte der Graf von Brackwede unbeirrt. Sein Gesicht war von Hunger und Qualen gezeichnet – ein dicht gewobenes Faltennetz. Die blutunterlaufenen Augen blickten trüb. Er hatte drei Tage und drei Nächte in enger Fesselung verbringen müssen – hart zusammengeschnürt wie ein Paket. In seiner Zelle war das grelle, schmerzend blendende Licht niemals ausgeschaltet worden. Die karge kraftlose Kost hatte ihn schlaff und müde gemacht. Er war geschlagen, getreten und angespien worden. Und Elfriede, Habeckers Sekretärin, hatte versucht, seine Zunge mit einer Kneifzange herauszuziehen und ihren Bleistift in seine Hoden zu bohren. Drei Vernehmungsbeamte waren, außer Habecker, pausenlos am Werk gewesen. Der eine hatte gebrüllt und
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Brackwede mit Faustschlägen und Fußtritten traktiert; der andere gab sich gemütlich-menschlich; ein dritter appellierte eindringlich an Ehre, Gewissen und sonstige für zweckdienlich gehaltene höhere Werte. Brackwede sagte kein Wort. »Sie sollten sich irgend etwas ausdenken, was ablenkt«, empfahl Alarich Dambrowski besorgt, während er dem Grafen das Blut vom Körper wusch. »Können Sie nicht irgendeinen Köder auswerfen, ehe Sie hier völlig zu Knochenmehl verarbeitet werden? Wissen Sie, welches die sicherste Tour ist? Sie belasten ganz einfach irgend jemanden, der bereits tot ist.« »Nicht einmal das!« sagte der von Brackwede aufstöhnend. Und wieder wurde er Habecker vorgeführt. »So etwas wie Sie«, sagte der, scheinbar gelinde verwundert, »ist mir schon lange nicht mehr in die Hände geraten – Sie wecken ja geradezu meinen Ehrgeiz«. Dabei betrachtete der Kriminalkommissar seine Fingernägel, die abgekaut wirkten. »Sie enttäuschen mich schwer, denn gerade von Ihnen hätte ich mehr Einsicht erwartet. Mann, Sie müssen nun doch mit unseren Methoden einigermaßen vertraut sein. Also – wie ist es: Höre ich jetzt endlich Namen?« Der von Brackwede schloß die Augen und hob den Kopf – das war eine Geste eindeutiger Ablehnung. Seine zusammengekniffenen Lippen waren wie ein harter, schmaler Strich. »Noch ein letzter Versuch«, sagte der Kommissar Habecker. »Mir liegt eine Vernehmung des Goerdeler vor, die Sie schwer belastet.« »Diese Vernehmung wird gefälscht sein«, sagte der von Brackwede mit gepreßter Stimme. Er wußte: derartige Überrumpelungsmethoden waren in diesem Hause allgemein üblich. »Stellen Sie mich Goerdeler gegenüber – dann wird es sich erweisen, ob Ihre Unterlagen echt sind.« Habecker zuckte mit den Schultern. »Na schön – wenn Sie durchaus darauf bestehen, dann werden wir also jetzt wirksamere Überredungskünste spielen lassen.«
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Nunmehr fielen vier Mann über den Grafen von Brackwede her. Sie bearbeiteten ihn mit keuchendem Vernichtungswillen. Eine ganze Nacht lang. Sie trieben Nadeln in seine Fingerspitzen, in seine Hüfte, in seine Beine. Sie banden ihn mit Stricken zwischen zwei Balken fest und zerrten seine Glieder auseinander – langsam zuerst, dann ruckartig. Sie verschnürten ihn, bis er nur noch ein Klumpen aus Fleisch und Knochen war – dann schlugen sie ihn mit Knüppeln in den Nacken, so daß er sein Gleichgewicht verlor und mit seinem Gesicht auf den Fußboden prallte. Blut spritzte ihm aus Nase, Mund und Ohren. Das waren die »vier Grade« der in der Prinz-AlbrechtStraße üblichen Folter. Diese Methode hatte sich die Gestapo nicht ausgedacht – sie hatte sie übernommen. Aus dem Mittelalter. Das Herz des von Brackwede flatterte wild; in seinem Kopf schien ein Vulkan ausgebrochen zu sein. Er verlor das Bewußtsein und brach gurgelnd zusammen. Zwölf Stunden lag Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede wie leblos, insektenartig zusammengekrümmt, in einer Ecke seiner Zelle. Als er wieder zu sich kam, schrie er, Blut spuckend, mit verkrampften Gliedern zur Tür kriechend: »Nein! Ich sage nichts! Nicht ein Wort. Jetzt erst recht nicht.« Tag für Tag erstattete Ernst Kaltenbrunner – Chef des Reichs-Sicherheitshauptamtes – seinem Führer ausführlich schriftlichen Bericht. Absendeort: Berlin SW 11, PrinzAlbrecht-Straße 8. Unterschrift: 5S-Obergruppenführer und General der Polizei. In diesen Berichten: »Stimmungsmäßige Auswirkungen« – »Zusammenstellung von Meldungen« – »Vernehmungsberichte« – »Darstellung der Hintergründe« – »Verhaftungslisten« – »Ergebnisse der Untersuchungen«. Und wieder und immer wieder: »Die Stimmung der Bevölkerung.« Dafür zeigte Adolf Hitler besonderes Interesse. Und darauf
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nahmen die Kaltenbrunner-Berichte bereitwillig Rücksicht: Der Führer sollte zu lesen bekommen, was er gern hörte. So wurde von einem Offizier der Wehrmacht berichtet, der gesagt hatte: »Solche Schweine wie diese hätten wie Katzen in einem Fluß ersäuft werden müssen.« In den Zeitungen stand: »Der Volkszorn kocht in gerechter Empörung.« Die großdeutschen Rundfunkanstalten verbreiteten pausenlos ähnliche Behauptungen. »Die Front«, so hieß es, »steht bedingungslos hinter dem Führer, voller Abscheu...« Und gleich mehrere Volksgenossen sollten, laut Kaltenbrunner-Bericht, übereinstimmend erklärt haben: »Solche Schweinehunde müßten mittelalterlich gefoltert werden.« »Des Volkes Stimme« wurde bienenfleißig »gesammelt« – in Bürgerhäusern, Kasernen, Gaststätten, Fabriken und »von Kämpfern an vorderster Front«. Das wollte der Führer lesen – das wurde ihm zugetragen. Deutschland dankte Gott – so schien es. Dabei erfuhr das Staatsoberhaupt auch, daß in Halle eine Frau festgenommen worden war, weil sie ihr Bedauern über das Mißlingen des Attentats ausgesprochen hatte; eine andere Frau war in Wien verhaftet worden – sie hatte gesagt: »So was mußte ja mal kommen!« Das waren in den für den Führer bestimmten Berichten die einzigen Gegenstimmen. Sonst jedoch, so hieß es, hätte die braven Volksgenossen »eine furchtbare Wut« erfaßt. Aber auch Dankbarkeit. Aus Schwerin wurde berichtet: »Besonders Frauentagen, der Führer habe einen guten Schutzengel.« Und als Ansicht von »Soldaten und jungen Offizieren« wurde angegeben: »Der Tod durch den Strang ist – für diese Verräterkreaturen – eine durchaus angemessene und noch milde Sühne«. »Ältere Offiziere« hingegen hätten gemeint: »Eine Kugel sollte diesen Leuten gegönnt werden.« Und immer wieder wurde verzeichnet, was »das empörte deutsche Volk« lauthals und »übereinstimmend« von sich
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gegeben hätte: »Den Saustall ausmisten!« »Endlich reinen Tisch machen!« Und schließlich: »Man sollte lieber einen zuviel als einen zuwenig aufhängen!« »Können Sie sich wieder bewegen?« fragte Alarich Dambrowski. Er beugte sich besorgt über den Grafen von Brackwede. »Sie sind in der vergangenen Nacht ganz allein auf Ihre Pritsche gekrochen – Mann, und ich dachte, Sie sind am Ende.« »Es geht schon wieder.« »Lassen Sie das niemanden merken«, riet der Mensch mit dem ausgehungerten Kinderkörper. »Bleiben Sie noch möglichst lange so liegen – tun Sie so, als ob Sie nicht den Finger krumm machen könnten. Ich werde sagen: Ich habe Sie auf Ihre Pritsche geschleppt.« Dambrowski begann den von Brackwede abzutasten – mit sicher und zart zugreifenden Spinnenfingern. Der Graf schrie vor Schmerzen auf. »Schlimm«, sagte der Kalfaktor. »Was macht Ihr Hirn – können Sie denken?« »Ich will nicht.« »Gut, gut!« Alarich zog eine Flasche aus der Hosentasche. »Viel kann ich nicht für Sie tun. Auf Salben und Verbände werden Sie verzichten müssen. Aber eine kleine innere Stärkung kann ich Ihnen bieten. Lebertran. Den habe ich organisiert – den will hier keiner saufen. Aber das ist besser als nichts.« »Geben Sie her.« Brackwede griff mit bebenden Händen nach der Flasche. »Ich muß sobald wie möglich wieder aufstehen.« »Um wieder in die Mühle zu kommen?« »Ich muß einen von meinen Freunden sprechen.« »Wen denn, zum Beispiel?« »Irgendeinen!« »In diesem Bau gibt es vermutlich eine ganze Menge davon – nicht wahr? Kann ich Ihnen dabei behilflich sein?« Brackwede verlangte, am nächsten Morgen in den
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Waschraum geführt zu werden. Dort fanden sich immer gleichzeitig mehrere Untersuchungshäftlinge ein. Ein Wort der Verständigung oder auch nur ein warnender Blick waren dann möglich. Und unter der Dusche in der Ecke konnten manchmal sogar Kurzgespräche geführt werden. »Schonen Sie sich – unter allen Umständen«, empfahl Dambrowski und formte aus Brackwedes Rock ein Kopfkissen. »Wenn Sie jedoch irgendeine Nachricht übermitteln wollen – vielleicht kann ich das für Sie tun?« »Sie wollen mich wohl verschaukeln – was?« Alarich schien sich erheblich anzustrengen, um ein Lächeln zu zeigen. »Sie sind schon wieder reichlich munter, scheint mir. Ich begrüße das. Also – wem wollen Sie irgend etwas übermitteln? Den Grafen Moltke, Üxküll oder Berthold Stauffenberg? Auch der Jesuiten-Müller aus München ist hier. Ferner: der Doktor.« »Der auch?« Der Kalfaktor hustete heftig – er hatte versucht, aufzulachen. »Dieser Doktor ist eine Nummer für sich. Wissen Sie, was der sich, unter anderem, leistet? Der zieht jeden Morgen dem Pastor Delp die Zettel aus der Tasche, die der in der Nacht beschrieben hat. Und bisher hat noch keiner der Überwacher das gemerkt. Was sagen Sie dazu?« Der von Brackwede richtete sich auf – er preßte die Zähne zusammen. Kalter Schweiß überströmte sein Gesicht. »Sagen Sie irgendeinem von diesen Menschen – ganz gleich wem – , ich habe keinen Namen genannt. Nicht einen einzigen.« »Haben Sie das wirklich nicht?« fragte Dambrowski ungläubig. »Nein – nicht einen Namen!« »Und damit glauben Sie weiterzukommen?« Der Kalfaktor hob seine Hände. »Goerdeler etwa reitet eine ganz andere Tour. Er soll ellenlange Listen verfertigt haben – darin sind die unglaublichsten Namen vorzufinden. Ich glaube, sogar der von Himmler ... Wenn das nicht Methode ist, was dann? In diese
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Kerbe könnten Sie auch hauen.« »Jeder so gut, wie er kann«, sagte der von Brackwede, bevor er sich erschöpft fallen ließ. »Ich jedenfalls kann schweigen.« Und dann brach er, völlig entkräftet, zusammen. »Tut mir aufrichtig leid, Ihnen das sagen zu müssen – aber Ihr Bruder hat gestanden.« Der Sturmbannführer Maier gab diese Erklärung mit tönendem Bedauern von sich. »Damit aber sind Sie gezwungen, sich unmißverständlich für ihn oder für den Führer zu entscheiden. Sollte Ihnen das etwa schwerfallen?« Konstantin Graf von Brackwede, in die Prinz-AlbrechtStraße bestellt, nahm die ihm hingehaltenen Unterlagen entgegen. Er durchblätterte sie mit steifen Fingern – was er las, schien keinerlei Reaktion bei ihm hervorzurufen. Wortlos reichte er die Papiere wieder zurück. »Ich kann Ihre tiefe Erschütterung verstehen«, versicherte Maier. »Diese jetzt leider feststehenden Tatsachen müssen Sie stark beeindrucken. Dennoch bin ich sicher, daß nichts Sie davon abhalten kann, Ihre Pflicht zu tun.« »Was erwarten Sie von mir?« fragte Konstantin, ohne den Sturmbannführer anzusehen. »Sie müssen Ihren Bruder zur Vernunft bringen. Und unter Umständen müssen Sie sogar bereit sein, gegen ihn auszusagen. Ich weiß, ich weiß – ich verlange viel! Aber ich will Ihren Bruder, mit Ihrer Hilfe, vor dem Schlimmsten bewahren – mein Wort darauf! Sind Sie bereit, mit ihm zu sprechen?« Konstantin nickte und erhob sich. Ein Beamter führte ihn in den untersten Keller – hier geleitete ihn ein Wächter weiter. Sie betraten die Zelle, in der Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede lag. Ein Arzt war bei ihm und bemühte sich intensiv, seinen »Patienten« wieder auf die Beine zu bringen – damit der möglichst bald für die nächste Folterung zur Verfügung stehen konnte.
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Konstantin blickte fassungslos auf den Bruder. Der lag mit geschlossenen Augen wie ein Toter da – doch sein Mund war weit geöffnet; er röchelte leicht. Konstantin trat näher. Arzt und Wärter entfernten sich und schlossen die Tür. Minuten vergingen. Dann kniete sich Konstantin nieder und beugte sich über des Grafen zerschlagenes Gesicht. »Fritz!« sagte er leise. Und der stöhnte auf. Seine Hände begannen sich zuckend zu bewegen. Dann öffnete er, mit flackernden Lidern, die Augen. »Mein Kleiner«, sagte er mühsam. »Du mußt kein Wort sprechen, Fritz«, sagte Konstantin mit schmerzvoller Zärtlichkeit. »Ich verstehe dich auch so.« »Ich bin noch nicht am Ende«, sagte Fritz. »Und kein Mitleid – nur das nicht.« »Nein«, sagte Konstantin. »Ich bin jetzt ganz dein Bruder.« »Das«, keuchte Fritz, »ist schlimm«. Er versuchte, sich aufzurichten. Schmerzen schienen ihn wie ein Steinschlag zu überfallen – sein Gesicht verzerrte sich. Er sank zusammen und verlor das Bewußtsein. Konstantin aber verließ den Raum und die Prinz-AlbrechtStraße. Er begab sich in die einstige Wohnung der Gräfin Oldenburg. Und hier erschoß er sich. »Es ist jetzt soweit«, hatte Lehmann erklärt. »Fahren Sie zum Savignyplatz. Hier halten Sie sich bei der öffentlichen Telefonzelle am Rondell auf. Dort werden Sie von mir angerufen werden.« Der Sturmbannführer Maier war sicher, nun sein ersehntes Ziel erreichen zu können. Denn dieser Lehmann – davon war er überzeugt – war ein Realist. Der schien ihm ganz dem Typ zu entsprechen, der sogar seine eigene Mutter verkaufte – wenn es nur gewinnbringend war. Maier hielt somit die Spielregeln bereitwillig ein: Allein Voglbronner, sein engster Mitarbeiter und Vertrauter, durfte ihn begleiten – hinzu kam ein SS-Standartenführer: Gestapo-
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Müllers bester Sprengstoffspezialist. Pünktlich zur verabredeten Zeit klingelte das Telefon. Lehmann gab ihnen eine in der Nähe gelegene Adresse an. Das bezeichnete Haus wurde innerhalb von fünf Minuten erreicht. Dann standen sie dem Gartenzwerg gegenüber. »Herzlich willkommen«, sagte der. Auf dem Tisch vor ihm lag ein dickes Bündel Papiere. Daneben stand eine Aktentasche – sie war von der gleichen Art wie die der Grafen Stauffenberg und Brackwede. »Treten Sie näher, meine Herren ich bin sicher, Ihnen einiges bieten zu können.« Der Raum, in dem sich die drei höheren Gestapo-Offiziere mit Lehmann befanden, war nahezu leer. Er lag unmittelbar unter dem Dach dieses Hauses. An den schrägen Mansardenwänden hingen Bleistiftskizzen. »Dieser Papierstapel hier vor mir entspricht genau den Dokumenten, die der Graf von Brackwede in Sicherheit wissen wollte. Und diese Aktentasche gleicht exakt der des Grafen Stauffenberg, mit welcher Hitler oder unser Führer, wie Sie wollen, in die Luft gesprengt werden sollte.« »Schon gut«, meinte der Sturmbannführer großzügig. »Kommen wir gleich zu unserem Geschäft.« »Erlauben Sie mir bitte, noch eine kurze Erklärung zuvor«, sagte Lehmann zu seinen Besuchern, die etwa drei Meter vor ihm standen. »Und bitte, bleiben Sie jetzt dort, wo Sie gerade sind – kommen Sie nicht vor, gehen Sie nicht zurück, das könnte zu unerfreulichen Mißverständnissen führen.« »Kein langes Palaver, mein Lieber«, empfahl Maier. »Zur Sache!«. »Ich bin mitten drin«, versicherte Lehmann. »Und deshalb möchte ich Sie auf diese Aktentasche aufmerksam machen – sie enthält die gleiche Art und die gleiche Menge Sprengstoff, wie sie am zwanzigsten Juli zur Verwendung gelangte. Die Wirkung ist also bekannt. Ein Säurezünder der gleichen Serie befindet sich ebenfalls in der Ladung. Aber als besondere
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Aufmerksamkeit habe ich mir erlaubt, eine kleine Überraschung einzubauen. Bitte betrachten Sie den Apparat, der vor mir liegt.« Lehmann wies auf ein handgroßes Instrument – es hatte Ähnlichkeit mit einer Morsetaste. Eine Taschenlampenbatterie war angeschaltet. Zwei Drähte gingen davon ab und verschwanden in der Aktentasche. »Ein Kontaktauslöser«, sagte der GestapoSprengstoffspezialist tonlos. »Stimmt genau. Primitiv, aber verläßlich«, erklärte Lehmann. »Ein kurzer Druck – und diese Bude fliegt in die Luft. Und so schnell wie ich am Drücker bin, kann hier niemand schießen oder weglaufen. Ist das klar?« »Der bekommt das glatt fertig!« stieß Voglbronner hervor. »Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!« warnte Maier mit bebender Stimme. Er versuchte, auf eine gemütliche Tonart zu schalten – was ihm jedoch nicht überzeugend gelang. »Das ist doch typisch Lehmann! Habe ich es nicht immer gesagt: der hat es ganz faustdick hinter den großen Ohren.« »Kommen Sie aber nicht näher, um sich das etwa anzusehen!« warnte der Mann an der Taste. Jetzt gelang es dem Sturmbannführer, aufzulachen. »Ich bin doch nicht blöd, Mann! Ich traue Ihnen glatt zu, daß Sie nicht bluffen – Ihnen traue ich das zu. Aber ich weiß auch, daß Sie, genau wie ich, weder ein Idealist noch ein Idiot sind. Sie wollen weiter nichts als mit garantierter Sicherheit kassieren.« Voglbronner atmete erleichtert auf – Maier, der Praktiker, schien wieder einmal recht zu haben. Voglbronner meinte: »Ich hatte gleich ein saukomisches Gefühl, als ich hier hereinkam und dann diese Geschenkpackung wie zu Weihnachten mitten auf dem Tisch sah.« »Schon gut«, sagte der Sturmbannführer unwillig, »Sie halten am besten den Mund!« Und zu Lehmann sagte er werbend: »Wir haben alles, wie vereinbart, vorbereitet und mitgebracht – einen Paß, tausend echte Dollar, Fahrkarte
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erster Klasse und Reisegenehmigung mit Sonderausweis nach Basel.« »Basel hätte ich gern einmal kennengelernt«, meinte Lehmann. »Also dann nichts wie hin, Mensch!« Die Stimme des Sturmbannführers klang wieder munter. »Und nun nehmen Sie endlich Ihre Flosse vom Drücker – das macht mich noch nervös. Und Abkommen ist schließlich Abkommen!« »Sie werden mich nicht jagen?« fragte der Gartenzwerg. »Sie werden nicht meinetwegen die Grenzen sperren und den Inhaber meines Passes auf die Festnahmelisten setzen lassen – immer vorausgesetzt, es gelingt mir, dieses Haus zu verlassen.« »Sie bekommen mein Wort«, versicherte Maier. »Das Wort eines Halunken«, stellte Lehmann sanft fest. Der Sturmbannführer lief rot an – und stieß dann warnend hervor: »Gehen Sie nicht zu weit, Mensch!« »Er will nicht!« flüsterte Voglbronner entsetzt. »Nur nicht bewegen!« warnte der Sprengstoffspezialist. »Nur den Bruchteil einer Sekunde...« »Lehmann«, gurgelte der Sturmbannführer, »nehmen Sie Vernunft an.« »Was ist das – Vernunft?« Lehmann blickte verächtlich. »Was kann man mit Vernunft anfangen, wenn man mitten unter die Schakale geraten ist? Man kann doch nur versuchen, einige davon zu erledigen – bevor man selbst draufgeht.« »Er meint es ernst«, sagte Voglbronner kaum vernehmbar. »Er will nur, daß wir uns in die Hosen machen«, meinte Maier, nicht ganz ohne Hoffnung. »Die Sprengwirkung«, sagte der Spezialist, »würde das halbe Haus ...« »Das macht nichts«, erklärte Lehmann lässig. »Haben Sie nicht gelesen, daß hier Parteidienststellen untergebracht sind? Ein Parteigenosse hat übrigens diesen Raum zur Verfügung
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gestellt und für diese Zeit im Keller eine Besprechung angesetzt – wir sind also ganz unter uns.« »Was fordern Sie?« fragte Maier ergeben. »Fordern Sie, was Sie wollen!« »Zwei Menschen«, sagte Lehmann ruhig. »Zwei Tote und einen Todeskandidaten – die Gräfin Oldenburg, den Leutnant von Brackwede und den Grafen.« »Das ist doch – das ist...« Der Sturmbannführer blickte fassungslos – sein Gesicht war fleckig, sein ganzer Körper schien zu beben. »Nein – das darf nicht wahr sein!« »Und außer diesen drei Menschen fordere ich von Ihnen meine ostdeutsche Heimat – an deren Untergang Sie mitschuldig sind.« »Mein Gott!« stammelte Voglbronner wie erstickend. »Zum Teufel mit Ihnen allen!« sagte Lehmann fast heiter. Dann drückte er auf die Taste. Das Haus erbebte. Das Dachgeschoß verwandelte sich in einen Feuerpilz und zerbarst in hunderttausend Fetzen. Nicht die Spur von einem Menschen konnte mehr aufgefunden werden. Vor Roland Freisler stand der einstige Generaloberst Erich Hoepner. Und an ihm hatte der Präsident seine besondere diabolische Freude. Bereits beim Aktenstudium hatte er in Hoepner ein Belustigungsobjekt ersten Ranges gesehen. »Also!« begann der Präsident. Und ohne erst noch in seine Unterlagen blicken zu müssen, stellte er fest: Der Angeklagte hatte sich bereits am 19. Juli nach Berlin begeben. »Warum?« Hierauf Hoepner nicht ohne erklärenden Eifer: »Meine Frau hatte von ihrem Pelzhändler Salbach die Aufforderung bekommen, sie möchte in der ersten Hälfte der Woche hinkommen, um den Pelz, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, anzuprobieren ...« Freisler blinzelte wohlgefällig – dieser Hoepner kroch ihm bereitwillig auf den Leim: Mit diesem Mann konnte man womöglich selbst den Führer erheitern. »Sie fuhren also nach
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Berlin. Erstens wegen Ihrer Frau.« »Ja«, sagte Hoepner. »Zweitens wollte ich von Berlin aus nach Schlawe telefonieren. Drittens wollte ich mir Zigarren besorgen. Und viertens wollte ich meiner Frau behilflich sein.« »Das war schon erstens«, korrigierte Freisler mit freudiger Ironie. Die zweihundert Zuschauer im Saal lachten auf – gedämpfte Heiterkeit rollte wogenartig auf den Richtertisch zu. Hoepner blickte leicht verwundert – er begriff offenbar gar nicht, was hier mit ihm geschah. Der Präsident aber beugte sich vor, auf sein Mikrofon zu – und damit praktisch an das Ohr seines Führers: dessen zukünftiger Justizminister erfreute ihn. Freisler beutete Hoepners Biederkeit schamlos aus. Er stellte eine Falle nach der anderen, und in jede lief der Generaloberst hinein – beschimpft, geschmäht, dem Gelächter der zum Prozeß abkommandierten Zuschauer preisgegeben. Hoepner wurde als »Feigling« bezeichnet, als einer, der wegen Ungehorsams aus der Wehrmacht entfernt worden war, als »Ehrgeizling«, irrsinnig gewordener Hochverräter, Gesinnungslump und Mordgehilfe. Hoepner versuchte dennoch, sich zu verteidigen; mehr noch: Er war bemüht, sich zu rechtfertigen. »Ich war der Ansicht, der Führer ist tot!« Nun sprudelte Präsident Freisler fontänenartig Führerbekenntnisse in die Mikrofone: »... Der Führer ist ewig im deutschen Volk. Wenn der Führer stirbt, dann muß sein Werk als ein Vermächtnis in unserer Seele liegen... Treue... Weg in die Zukunft marschieren... Sie... Mörder am Führer... inzwischen aber hätte ja der größte Esel wissen müssen, was los war. Sie aber blieben weiter auf Ihrem Sitze sitzen...« Das leugnete Hoepner nicht. Und immer wieder versicherte er, in gutem Glauben, mit sauberem Gewissen gehandelt zu haben, überzeugt davon, seine soldatische Pflicht zu tun. Dabei habe er natürlich nicht wissen können... »Ich betrachte mich nicht als Schweinehund.« »Nein?« fragte Roland Freisler. »Welche Tierart würden Sie
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denn für passender finden?« Hoepner blickte verständnislos – er war diesen scharf zubeißenden Angriffen des Präsidenten in keinem Augenblick gewachsen. Er bemühte sich, auf Freislers Frage eine Antwort zu finden. »Vielleicht – ein Esel?« schlug Freisler vor. »Ja«, sagte Hoepner bitter, »ein Esel.« Doch auch das bewahrte ihn nicht davor, zum Tod verurteilt zu werden. Die ersten Todesurteile des Volksgerichtshofes zum Komplex 20. Juli wurden bereits am 8. August verkündet – knapp zwei Stunden später fanden in Plötzensee die ersten Hinrichtungen statt. Doch noch nicht alle Verurteilten durften sofort sterben. Einige »wurden noch gebraucht« – so Goerdeler; er sollte auch weiterhin Denkschriften verfassen. Und Goerdeler füllte Hunderte von Seiten – über »deutsche Lebensgebiete« etwa, auch über eine »Finanzreform«. Er wurde am 2. Februar 1945 hingerichtet. Andere wurden erst wenige Tage vor Kriegsschluß umgebracht. Die Liste der Selbstmorde umfaßt mehrere Dutzend Namen – darunter befanden sich bereits in den ersten Wochen zwei Feldmarschälle und vier Generale. An die hundert kamen noch dazu; Soldaten und Diplomaten, Beamte und Gelehrte, ehemalige Minister, Gewerkschaftsfunktionäre und Abgeordnete: Sie sprangen in den Tod, schnitten sich die Pulsadern auf, jagten sich eine Kugel in den Kopf, nahmen Gift oder griffen ihre Peiniger an. Am 29. August wurde gegen die Paris-Gruppe verhandelt: Stülpnagel, Finckh und Hofacker mußten vor dem Richtertisch Aufstellung nehmen. Der General, der sich blind geschossen hatte, erklärte mit bündiger Kürze: er stehe zu seiner Tat. Oberst Finckh schwieg verächtlich. Oberstleutnant Hofacker wagte zu erklären: »Ich bedauere, daß das Attentat mißglückt ist.« Sie alle wurden erhängt.
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Vor, mit und nach ihnen mußten sich zahlreiche Männer verantworten, die nichts von den Vorgängen des 20. Juli gewußt hatten. Mehr noch: Sie kannten weder die Vorbereitungen noch den Kreis der Verschwörer. Aber sie standen auf irgendeiner Liste; manche hatte man für ein höheres Amt vorgesehen – nach dem Umsturz. Deshalb mußten sie sterben. Kaum einer der Verschwörer blieb unentdeckt – dennoch kamen einige mit geschundener Haut davon. Denn: exakte Unterlagen waren nicht immer aufzutreiben. Wohl konnte bergeweise Material herbeigeschafft werden – nur das vielleicht wichtigste nicht: das des Grafen von Brackwede. Die »Tüchtigkeit« der Gestapo jedenfalls zeigte sich im Gerichtssaal deutlich. Und das nicht nur an den gelieferten dickbändigen Unterlagen; auch auf den Gesichtern der Angeklagten: Spuren gewaltsamer Vernehmungen waren unverkennbar. Einige vermochten sich nur mühsam aufrecht zu halten – sie waren wie zerfallende Wracks. Viele von ihnen gaben dennoch nicht auf. »Ich habe es getan«, sagte vor dem Volksgerichtshof der Legationsrat von Haeften, »weil ich den Führer für den Vollstrecker des Bösen in der Geschichte halte.« Auch Helmuth von Moltke wagte einen kurzen Zweikampf mit Freisler, den dieser erregt niederzuschreien versuchte. Der Botschafter von Hassel war von unzerstörbarer Würde. Und Julius Leber stand felsenfest im Raum – bei Beschimpfungen blinzelte er verachtungsvoll wie ein Löwe beim Geheul der Schakale. Nachrichtengeneral Fellgiebel rief bei der Urteilsverkündung aus: »Beeilen Sie sich mit dem Aufhängen, Herr Präsident – sonst hängen Sie eher als wir!« Der Generalfeldmarschall von Witzleben wuchs in seiner letzten Minute über sich hinaus. Er sagte zu Freisler: »In drei Monaten zieht das Volk Sie zur Rechenschaft und schleift Sie bei lebendigem Leibe durch den Kot der Straßen.« Doch diese Prophezeiung sollte sich nicht bewahrheiten.
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Freisler starb am 3. Februar 1945 bei einem Luftangriff auf Berlin. Er war mitten in einer Verhandlung in den Keller geeilt. Das Kammergericht erzittere in den Fugen, schwankte und brach dann, »unter ohrenbetäubendem Krachen«, zusammen. Ein gewaltiger Balken löste sich von der Decke und fiel auf Freisler. Beim gleichen Bombenangriff wurde auch das Gestapoquartier in der Prinz-Albrecht-Straße zertrümmert. Die Kellergefängnisse jedoch überstanden selbst das. Dort wurden sogleich die Folterungen wieder aufgenommen. Bis jedoch diese Ereignisse eintraten, sollten noch Monate vergehen – und kein Tag davon war ohne Todesurteile. Freister – ehemaliger Kommunist, Arbeiter- und Soldatenrat, seit 1925 dann Mitglied der NSDAP – präsidierte bei jeder Sitzung und verkündete an die hundert Todesurteile. Dem zum Verschwörerkreis gehörenden Rechtsanwalt Joseph Wirmer rief er zu: »Bald werden Sie in der Hölle sein!« Und Wirmer antwortete: »Es wird mir ein Vergnügen sein, wenn Sie bald nachkommen, Herr Präsident.« Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede – mit Spritzen, Medikamenten und Sonderrationen wieder einigermaßen aktionsfähig gemacht – wurde zu einem bereitstehenden Transportwagen gebracht. Hier lag er auf Bodenbrettern, eng gefesselt wie üblich. Ein Begleiter stand mit gezogener Pistole bei ihm. Brackwede versuchte, zu den vergitterten Fenstern aufzusehen – doch ein grobleinener, schmutzig-grüner Stoff verdeckte sie. Die stickige Hitze beengte seinen Atem. »Wohin fahren wir?« wollte er wissen. Er erhielt keine Antwort. Der Mann mit der Pistole lauerte bewegungslos. Der Wagen holperte über ausgefahrene Straßen – die Mündung der Pistole schwankte. Brackwedes Kopf schlug dumpf gegen den Boden. Dann wurde er hinausgestoßen. Er sah einen Platz, der wie ein Schießstand war: Eine dicke, grasbewachsene Mauer aus Sand befand sich in seinem Rücken. Sie wies Spuren von
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zahlreichen Einschüssen auf. Dunkelbraune Flecken zu seinen Füßen – eingetrocknetes Blut. »Na – kennen Sie sich hier aus?« fragte der Begleiter grinsend. »Oder haben Sie so was noch niemals gesehen?« Hier – unter fahlem Himmel, hohe, zerschossene Wände um sich, knirschender, gelbweißer Sand wie Löschpapier für Blut unter seinen Füßen – stand Fritz-Wilhelm von Brackwede länger als eine Stunde. Er vernahm in nur geringer Entfernung peitschende Schüsse, erstickte Schreie, einen dumpfen Fall danach – hierauf unbekümmerte Stimmen: Es gab Menschen, für die das Töten gewöhnliche Alltagsarbeit war. Danach wurde der von Brackwede in einen niedrigen, fensterlosen Schuppen geführt. Dumpfer Gestank, zusammengebraut aus Verwesung und Formalin, ließ ihn zurückweichen. Dann erblickte er plumpe truhenartige Gebilde. Zwischen ihnen hielt sich Habecker auf und winkte ihm zu. »Kommen Sie näher«, sagte der Gestapokommissar fast gelangweilt. »Ich werde Ihnen jetzt mal zeigen, was Sie angerichtet haben.« Habecker hob, als der von Brackwede in seiner Nähe stand, den Deckel einer Truhe. Eine Leiche lag darin – sie hatte ein Frauengesicht, das zunächst unkenntlich schien. Doch Fritz wußte: das war Elisabeth Gräfin Oldenburg – oder das, was von ihr übriggeblieben war. »Die mußte sterben«, erklärte Habecker im Tonfall eines Museumsführers, »weil Sie, Brackwede, möglichst ungestört überleben wollten.« Hierauf klappte er den Deckel wieder zu. Das tat er jedoch nur, um in geradezu rhythmischer Gegenbewegung einen anderen Deckel zu heben. Und wieder kam eine Leiche zum Vorschein – ein wachshaft glattes, unzerstörtes Gesicht; lediglich ein blauroter Fleck an der rechten Schläfe verunzierte dieses Bild – Konstantin. »Er hat sich erschossen, weil er die Schande, die Sie über ihn und seine Familie gebracht haben, nicht ertragen konnte.«
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Habecker knallte den Sargdeckel zu. »Mann – genügt Ihnen das immer noch nicht?« Präsident Roland Freisler hatte Augenblicke, in denen er überzeugt war, eine reiche Ernte einzubringen. Denn es war ihm gelungen, selbst noch einigen dieser Angeklagten nationalsozialistische Töne zu entlocken. Mochte auch hinter derartigen Geständnissen und Zugeständnissen der nackte Selbsterhaltungstrieb stehen – die Hauptsache: sie erklangen! So behauptete von Popitz: »Ich bejahe in jeder Weise den nationalsozialistischen Staat.« Auch Graf Helldorf versicherte, daß er den Nationalsozialismus »bejahe«. Goerdeler formulierte: »Die wesentlichen Grundsätze der Partei waren Forderungen, die mir schon im Elternhaus vorgelebt waren.« Derartige Sätze ließ der Präsident im Protokoll unterstreichen. Sorgfältig wurden »Schuldbekenntnisse« gesammelt. So ein Brief des Generalobersten Stieff, in dem geschrieben stand: »Mein Leben ist zerstört. Gestern und heute hat die Hauptverhandlung stattgefunden. Der Antrag lautet auf Tod, und er kann auch nicht anders ausfallen. Er ist gerecht... Ich gehe ruhig und gefaßt in den Tod, den ich mir schuldbeladen zugezogen habe.« Im offiziellen Gestapobericht an den Führer waren zwei Worte dieses Briefes besonders hervorgehoben worden – durch eine sofort ins Auge springende Schrägschriftform. Diese Worte hießen: »gerecht« und »schuldbeladen«. Dabei muß als äußerst zweifelhaft gelten, ob der General jemals einen derartigen Abschiedsbrief geschrieben hat. Weitere Zitate, ausschließlich in diesem Sinne, sollten nach dem Willen der amtierenden Rechtswahrer zu einseitigen Zeugnissen werden. So etwa soll ein gewisser Leonrod die Hoffnung ausgesprochen haben, »in die Familiengeschichte nicht aufgenommen« zu werden; »denn für diese bin ich ein Schandfleck«. Jäger: »Ein Zufall, der mich mitschuldig werden ließ.« Helldorf: »... meine Schuld eingestanden...« Smend: »... auch ich mitschuldig und muß sterben ... So scheide ich als
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ehrloser Mensch aus dem Leben und habe alles, aber auch alles verspielt.« »Ich glaube, wir können zufrieden sein«, sagte Freisler zu seinen Beisitzern im Vorraum, nach der üblichen Tagesarbeit. »Der Führer hat mir seine Anerkennung ausgesprochen – und damit auch Ihnen. Er läßt ausrichten: Wir sollen weiter so fortfahren.« Er erlaubte einem Gerichtsdiener, ihm aus dem roten Talar zu helfen. Dabei unterhielt er sich mit dem Oberreichsanwalt. »Einige der Verteidiger muten reichlich volksfremd an ... Meinen Sie das nicht auch?« »Hierbei handelt es sich gewiß um Ausnahmen.« »Dennoch sollten wir alles unterbinden, was der Wahrung der Würde des Gerichts abträglich sein könnte... Nicht wahr? Auch Verteidiger sind schließlich nichts anderes als Diener der Gerechtigkeit, genau so wie Sie und ich.« Der Oberreichsanwalt nickte. »Der eine oder andere dieser Herren scheint in der Tat nicht ganz zu begreifen, worum es hier eigentlich geht. Ich werde, Ihrem Hinweis entsprechend, die notwendig erscheinenden Belehrungen erteilen lassen.« Freisler verabschiedete sich – »Auf morgen dann, meine Herren« – von seinen Beisitzern, dem Oberreichsanwalt und dessen Gehilfen. Und seinen Assistenten fragte er: »Wer ist morgen an der Reihe?« Dieser nannte sechs Namen – darunter den des Hauptmanns von Brackwede. »Nichts Besonderes also«, meinte der Präsident und schloß seine Aktentasche. Der Scharfrichter von Berlin hatte seine besonderen Probleme. Er fühlte sich dem Führer, der ihn empfangen hatte, zutiefst verpflichtet. »Ich will ihn nicht enttäuschen«, sagte er. Er hatte eine Arbeitsbesprechung mit seinen beiden Gehilfen. Sie saßen um einen Tisch, der im Hinrichtungshaus in Plötzensee stand. Sie tranken einen vorzüglichen
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Weinbrand – der gehörte sozusagen mit zur Ausrüstung dieses Raumes; sie hatten dienstlich darauf Anspruch. »Ich habe die Filme von den ersten Hinrichtungen gesehen«, berichtete der Scharfrichter. »Und ich muß nun gestehen: ich bin nicht voll befriedigt.« »Warum denn nicht?« wollte einer der Gehilfen wissen. »Es hat doch bisher alles geklappt.« »Rein technisch gesehen schon«, gab der Scharfrichter zu. »Aber sozusagen optisch haben sich da gewisse Mängel ergeben.« Sie sahen aus wie die Teilnehmer einer halbwegs gemütlichen Skatrunde. Der Scharfrichter blickte wie ein verläßlicher Schalterbeamter nach langen Dienstjahren. Seine Gehilfen hatten brave Arbeitergesichter – einer von ihnen war Vater von vier Kindern, der andere stand kurz vor der Ehe: Seine Verlobte arbeitete in einem Blumengeschäft. »Wir haben doch geradezu Rekorde aufgestellt«, sagte einer der Gehilfen, »und das Tag für Tag. Das macht uns niemand so leicht nach.« »Gewiß, gewiß«, sagte der Scharfrichter. »Doch bei diesen Filmen zeigten sich Mängel, die beseitigt werden müssen, da ich sie dem Führer nicht zumuten kann.« »Vielleicht ist der Kameramann eine Niete!« meinte der andere Gehilfe. »Dieser Filmfritze fiel mir schon mehr als einmal auf den Wecker! Schließlich muß der sich doch nach uns richten – wie?« »Wir arbeiten diesmal unter besonders komplizierten Bedingungen«, führte der Scharfrichter aus. »Und das müssen wir berücksichtigen. So sind die Haken zu blank und die Drahtschlingen sind das auch – sie verursachen, wenn gefilmt wird, blitzende Lichtpunkte. Diese beeinträchtigen das Bild.« »Dann pinseln wir einfach die Haken und Schlingen an – oder wir besorgen uns ein anderes Material. Das muß aufzutreiben sein.« »Sehr gut!« rief der Scharfrichter zustimmend. »Aber da ist
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noch etwas. Es ist unmöglich, daß einer von euch beiden, wenn der Delinquent aufgehängt wird, mit dem Rücken zur Kamera steht.« »Aber wir können doch nicht die Methoden ändern!« Die Gehilfen wirkten besorgt. »Das ist doch in der Praxis erprobt – einer steht davor und packt den Delinquenten an den Hüften; der andere steht dahinter und greift ihm unter die Schultern. So heben wir ihn hoch und lassen ihn dann fallen.« »Schön und gut«, sagte der Scharfrichter. »Aber derjenige, der davorsteht, verdeckt das Gesicht des Verurteilten – es kann nicht einwandfrei aufgenommen werden. Und ich meine, dem Führer wird das nicht gerade gefallen. Denn der will doch alles ganz genau sehen.« »Scheiße!« sagte einer der Gehilfen. »Jetzt müssen wir womöglich schon wieder umlernen.« Der Hauptmann Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede stand – von zwei Polizeibeamten flankiert – im großen Saal des Kammergerichtes in Berlin. Die Fesseln waren ihm abgenommen worden. Er massierte mechanisch seine zerschundenen Handgelenke und sah sich um: blutrote Hakenkreuzfahnen, die brandrote Richterrobe Freislers, die fleckfieberroten Kragenspiegel eines Generals des Heeres, der hier als Beisitzer fungierte. Der gelangweilt erscheinende Ankläger hockte im rabenschwarzen Talar seitlich. Der Präsident ließ sich Zeit – er blätterte in den vor ihm liegenden Akten. Dieser Angeklagte schien ihm nicht weiter bedeutsam zu sein. Ein Hauptmann, einer der vielen Adeligen, ein mittlerer Verwaltungsbeamter aus dem ostpreußischen und schlesischen Raum, dann Soldat seit Kriegsbeginn – mit einigen Unterbrechungen. Sozusagen mit der linken Hand zu erledigen. »Treten Sie näher«, begann Freisler lässig. Er pflegte sich erst bei Generalen, Botschaftern oder hohen Beamten von Anfang an ins Zeug zu legen. »Sie wissen, warum Sie hier stehen?«
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»Nein«, sagte der von Brackwede. »Das schon gar nicht, wenn ich hier vor mir die Büsten von Friedrich dem Großen und Adolf Hitler sehe. Denn der eine hat die Folter abgeschafft, und unter dem anderen ist die Folter wieder eingeführt worden. Das nenne ich einen Rückschritt um zwei Jahrhunderte.« Roland Freisler blickte verwundert – offenbar hatte er soeben nicht genau aufgepaßt. »Was war das? Habe ich mich verhört? Hoffentlich! Sagen Sie mal – sind Sie eine Art verhinderter Historiker oder so was Ähnliches? Mit Geschichtsspekulationen wollen wir gar nicht erst anfangen – hier gelten allein Tatsachen.« »Das ist genau das, worauf ich hinaus will«, erklärte der von Brackwede fest. »Ich bin gefoltert worden – erst dann habe ich die vorliegenden Aussagen gemacht. Diese Aussagen können daher keine Grundlage für diese Verhandlung sein. Außerdem betrachte ich dieses Gericht als voreingenommen, befangen und nicht zuständig für mich – ich lehne es ab.« Roland Freisler richtete sich maßlos überrascht auf. Sekundenlang blickte er fast hilfesuchend um sich. Und er sah ungläubiges Erstaunen, verwirrte Unruhe und sogar, vereinzelt, ein mühsam verborgenes Grinsen. Um Überlegenheit bemüht, schaltete der Präsident nun auf Ironie. »Sie sind wohl ein Witzbold – wie?« »Möglich – ich habe Adolf Hitlers Buch Mein Kampf gelesen; und darin steht: Wenn durch die Regierungsgewalt ein Volkstum dem Untergange entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern Pflicht...« »Das ist pure, schäbige, elende Schurkerei!« brüllte Freisler auf. »Und weiter schrieb Adolf Hitler in seinem Buch: Menschenrecht bricht Staatsrecht, und jeder Weg, der hierzu führt, ist zweckmäßig, und sein Nichtbegehen muß als pflichtvergessenes Verbrechen bezeichnet werden.« »Sie sind ja ein ausgemachter Lump!« schrie Freisler erregt.
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»Sie, ein Verbrecher, wagen es sogar, die Erkenntnisse unseres Führers für Ihre niederen Zwecke zu mißbrauchen? Dadurch sind Sie gezeichnet! Schämen Sie sich nicht?« »Vielleicht sollte ich mich tatsächlich schämen«, gab der von Brackwede zu, »weil ich einen Hitler zitiert habe.« Roland Freisler brüllte, die Mikrofone klirrten wie zerberstendes Glas; in der Tonkabine verbreitete sich ein vernichtendes Rauschen und zerstörte die nächsten Aufnahmen. Brackwedes Pflichtverteidiger duckte sich entsetzt. »Schurke Brackwede!« schrie Freisler bebend. »Ich entziehe Ihnen das Wort! Die Sitzung wird für eine halbe Stunde unterbrechen.« »Mann Gottes!« flüsterte einer der Polizeibeamten, die neben dem Hauptmann standen. »So was dürfen Sie sich doch nicht leisten – das hat hier bisher noch niemand gewagt.« »Höchste Zeit offenbar, daß einer damit anfängt«, meinte der Graf von Brackwede entschlossen. Und zu dem Pflichtverteidiger, der sich in heftiger Besorgnis ihm zuwandte, sagte er: »Sie gehen jetzt am besten in volle Deckung – ich verteidige mich allein.« »Ich will Sie aber verteidigen«, versicherte der mit Eifer. »Ihr Hinweis auf die Folter könnte eine völlig neue Situation schaffen – falls es uns gelingt, derartige Mißhandlungen glaubhaft zu machen.« »Sind Sie verheiratet – haben Sie Kinder?« fragte der Graf. »Ja«, sagte der Verteidiger verwundert. »Sind Sie ein Gegner des Nationalsozialismus?« »Nun – wie könnte ich das!« »Ohne für Ihr Leben fürchten zu müssen – ich verstehe.« Der von Brackwede schien zu lächeln. »Warum wollen Sie sich dann hier auf fragwürdige Abenteuer einlassen? Sie haben alles zu verlieren – ich nichts mehr. Halten Sie sich also zurück – überlassen Sie getrost mir das Feld.«
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Nach einer unruhigen halben Stunde nahm Freisler wieder seinen Präsidentensitz ein. Er hatte inzwischen erneut die Akten dieses von Brackwede durchgeblättert und nichts Besonderes darin zu finden vermocht – ein klares Geständnis lag vor, nichts weiter sonst. Das genügte! »Schurke Brackwede«, begann der Präsident, »kommen wir nunmehr zur Sache. Wollen Sie etwa behaupten, Schurke Brackwede, an den Ereignissen des zwanzigsten Juli völlig unbeteiligt zu sein?« »Keineswegs«, sagte Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede. »Ich habe mich sogar außerordentlich intensiv dafür eingesetzt. Meiner Überzeugung nach mußte Hitler beseitigt werden – nur so, nur dann konnte Deutschland überleben.« Präsident Freisler nahm das hin – er atmete sogar erleichtert auf. Denn: ein derartiges Eingeständnis reichte völlig für ein Todesurteil aus. Das stimmte ihn fast milde. Nun, da das Wichtigste bereits entschieden war, durfte er sich wieder seinen Allgemeinplätzen widmen. »Dem Gericht liegt ein eindeutig hochverräterischer Plan zur Vereinfachung der Verwaltung vor. Geben Sie zu, dessen Verfasser zu sein, Graf Brackwede?« »Schurke Brackwede, bitte«, korrigierte Fritz. »Und was diesen Plan anbelangt, so bekenne ich mich gern dazu. Er sollte eine neue, übersichtliche Ordnung schaffen – und keinen Raum lassen für Korruption, Volksbetrug und Gewaltanwendung. Seine Voraussetzung allerdings war die Beseitigung...« »Sie halten wohl nicht viel von einem Eid, Brackwede – Schurke Brackwede, wenn Sie so wollen.« »Nicht wir haben diesen Eid gebrochen – sondern Hitler und Ihresgleichen. Verbrecher aber haben kein Anrecht auf Treue!« Aufbrüllende Proteste wurden vernehmbar. Der Ankläger schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Beisitzer schienen schamvoll empört zu erröten. Zuschauer sprangen von den Sitzen.
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Roland Freisler schwankte sekundenlang. Er fühlte sich versucht, diese Verhandlung einfach abzubrechen. Das jedoch hätte, möglicherweise, als Schwäche ausgelegt werden können; Feinde und Neider besaß auch er. Er mußte überzeugend den Prozeß beherrschen – es gab gar keine andere Wahl für ihn. Und daher hob er beschwichtigend die Hand, bemühte sich, überlegen zu lächeln, und erklärte der erregten Zuschauermenge: »Wir sollten nicht vergessen, meine lieben Volksgenossen und Volksgenossinnen, daß wir es hier mit Leuten zu tun haben, die nach Lage der Dinge gar nicht normal sein können. Und einige von ihnen müssen sogar mit Sicherheit geistesgestört sein. Mit einem derartigen Exemplar haben wir es hier offenbar zu tun.« »Früher oder später wird sich das gewiß herausstellen«, sagte der von Brackwede. »Doch selbst ein Spatzengehirn, meine ich, sollte ausreichen, um zu erkennen, daß dieser Krieg verloren ist. Ihn zu verlängern, bedeutet weitere Massenmorde und die totale Vernichtung. In den wenigen Monaten, die jetzt noch kommen werden, können sich die Verluste der letzten fünf Jahre verdoppeln.« Diese Rechnung war fast exakt: nach dem 20. Juli 1944 starben in diesem Krieg fast genausoviel Menschen wie in der Zeitspanne vorher, und die Zerstörungen von Städten und Dörfern verdoppelten sich. Doch diese Bilanz der Geschichte wurde erst später sichtbar – als es zu spät war. Freisler blickte mit vernichtend gedachter Verachtung auf diesen Angeklagten. »Dieser ausgemachte Schurke«, sagte er, »ist der überzeugende Beweis dafür, wie bitter notwendig eine drakonische Rechtsprechung geworden ist. Denn immer wieder versuchen niederträchtige, kriminelle Elemente, unserem Führer in den Rücken zu fallen. Geborene Berufsverbrecher, die nicht einmal davor zurückschreckten, sich als gläubige Nationalsozialisten auszugeben. Oder wollen Sie das etwa leugnen, Schurke Brackwede?« »Nein«, sagte der und senkte den Kopf. »Auch ich habe
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einmal an Hitler und den nationalen Sozialismus geglaubt – bis ich erkannte, wer dieser Mann war und was er tat. Ich wurde zu seinem Gegner – ich hatte keine andere Wahl. Und ich war, wie viele andere Kameraden auch, der Überzeugung, daß dieser Mensch beseitigt werden mußte – nicht erst dann, als sich seine Niederlage abzuzeichnen begann, sondern schon lange vor seinem Krieg. Wir schulden Gott, dem Recht und der Freiheit Gehorsam – nicht einem Verbrecher.« Der Verteidiger des Grafen von Brackwede war zutiefst erregt. »Was soll ich jetzt tun?« fragte er. »Geben Sie mir Vollmacht, und ich werde versuchen, dieses Gericht zu erschüttern – zumindest als fragwürdig hinzustellen.« »Und was hoffen Sie damit zu erreichen?« Der Verteidiger blickte den Grafen prüfend an – dessen Haltung hatte ihn aus seiner ermatteten Gleichgültigkeit gerissen. »Wissen Sie, Herr Graf, was ich empfinde? Scham darüber, nicht an Ihrer Stelle zu stehen.« »Versuchen Sie zu überleben«, sagte der Graf, »um später hiervon erzählen zu können.« »Ich will jetzt nicht feige sein.« »Danke«, sagte der von Brackwede. »Aber beantworten Sie mir jetzt, bitte, eine einzige Frage: Glauben Sie, das Todesurteil für mich verhindern zu können?« »Nein – das nicht.« »Das eben glaube ich auch nicht, Herr Verteidiger.« Und dann fügte der von Brackwede hinzu: »Ich hatte einen Freund – einen Gefreiten namens Lehmann. Der besaß ein größeres Herz als manch einer von uns. Aber er verfügte auch über gesunden Menschenverstand. Und wissen Sie, was der mir gesagt hat? Jedes Opfer für eine gute Sache ist berechtigt – wenn es sinnvoll ist. Sinnlose Opfer hingegen – so heldenhaft sie auch anmuten mögen – sind pure Torheit.« »Ich verstehe«, sagte der Verteidiger ergeben. Der von Brackwede wußte: andere Verteidiger waren
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anders; sie verteidigten angeblich Großdeutschland, jedoch nicht selten sich selbst. So hatte es einen gegeben – und er stand nicht allein – , der seine Verteidigungsrede mit den Worten begann: »Sie werden fragen, warum noch Verteidigung?« Dann erklärte er weitschweifig, daß es doch wohl seine, des Verteidigers wahrste Aufgabe wäre, »dem Gericht bei der Urteilsfindung zu helfen.« Jedoch: es könnten Situationen entstehen, »wo es auch dem besten Verteidiger nicht möglich ist, irgend etwas zugunsten des von ihm vertretenen Angeklagten zu sagen...« Ein DDr. Falck hatte ausgeführt: »Ich stehe ... als Pflichtverteidiger und Wahlverteidiger auf dem Standpunkt, daß der Verteidiger nach Möglichkeit versuchen muß, der Gefahr zu entgehen, ein zweiter Ankläger zu sein ...« Ein Verteidiger namens Dr. Bergmann: »... sehe ich mich daher nicht in der Lage, einen von dem Antrage des Herrn Oberreichsanwalt abweichenden Antrag zu stellen.« Der Verteidiger Dr. Kunz: »... stimme ich mit dem Vertreter der Anklage überein ...« Verteidiger Dr. Weissmann: »...das an sich unvermeidbare Todesurteil... bin sicher, daß Sie... das richtige und gerechte Urteil finden werden.« »Ein anderer meiner Freunde«, erzählte der von Brackwede seinem Verteidiger, »der allgemein nur der Doktor genannt wurde, war ein ungemein ehrenwerter Mann. Darüber hinaus ein Moralist ohne Beispiel – ein erklärter Diener Gottes überdies. Doch wissen Sie, was er mir geraten hat? Er hat zu mir gesagt: Man kann Lügnern nicht allein durch Wahrheit begegnen und das Verbrechen nicht allein durch Anständigkeit ausrotten.« »Ihr Doktor lebt«, sagte der Verteidiger leise. »Tatsächlich«, sagte der von Brackwede beglückt. »Wie hat er das angestellt?« »Er wurde vor den Volksgerichtshof zitiert wie viele andere
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auch. Er stand da wie ein Löwe – mit Julius Leber, dem Grafen von Üxküll und von Hofacker vergleichbar; von Ihnen, Herr von Brackwede, ganz abgesehen. Doch er wurde, fast als einziger, lediglich zu einer geringfügigen Gefängnisstrafe verurteilt.« »Wie gut – wenigstens einer, der später von uns zeugen kann. Wie ist das unserem Doktor gelungen?« »Er hatte«, meinte der Verteidiger, »die richtige Frau geheiratet: Diese besaß eine Jugendfreundin – und die wiederum ist mit Freisler befreundet.« »Herrlich!« sagte der Graf von Brackwede. »Herrlich, kurios und unvorstellbar zugleich – auch so kann Weltgeschichte gemacht werden. Dadurch jedoch sollten wir uns, Herr Verteidiger, nicht ablenken lassen – für uns gelten Regeln, für die es wohl keine Ausnahmen gibt.« In den Monaten nach dem 20. Juli fanden – nach erreichbaren amtlichen Unterlagen – sechsundsiebzig »offizielle« Hinrichtungen statt. Mit den registrierbaren Morden und Selbstmorden stieg die Todeszahl der »unmittelbar Beteiligten« auf einhundertundsiebenundvierzig an. Vorsichtige Schätzungen rechnen mit zweihundert Gewaltopfern; mindestens. Noch in den letzten Tagen des Krieges wurde Admiral Canaris nackt zur Hinrichtung geführt. Zahlreiche andere wurden ins Freie getrieben und dann »auf der Flucht« erschossen. Der Generaloberst Fromm, wegen »Feigheit« zum Tode verurteilt, wurde am 19. März 1945 im Zuchthaus Brandenburg von Beamten »liquidiert«. Er starb mit dem Ruf: »Heil Hitler!« Es starben Kinder, Greise, Jünglinge, Mädchen und Mütter. Nicht alle wußten, warum. Ihr Tod verlor sich im Massensterben der Fronten, der Heimat und der Konzentrationslager. Der Führer des Reiches aber, auch er dem Tode nahe, verkündete: »Wir werden siegen, weil wir siegen müssen! Denn sonst hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren.«
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»Der Angeklagte Brackwede«, sagte Roland Freisler, »hat das letzte Wort.« Bemüht, den Schein zu wahren, wollte er unbeirrbare »Rechtsprechung« demonstrieren. Dennoch erklärte er vorsorglich: »Es handelt sich um ein letztes Wort – nicht etwa um eine Schlußrede. Irgendwelche Weitschweifigkeiten gedenke ich nicht zu dulden.« Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede sagte: »Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor einem namenlosen Unglück zu bewahren. Ich bin mir klar, daß ich daraufhin gehängt werde. Aber ich bereue meine Tat nicht. Und ich hoffe, daß sie ein anderer, in einem glücklicheren Augenblick, durchführen wird.« »Tod durch den Strang!« rief der Präsident Roland Freisler. »Unverzüglich zu vollstrecken!« Knapp zwei Stunden nach diesem Urteil traf Fritz-Wilhelm Graf von Brackwede in der Strafanstalt Plötzensee in Berlin ein. Die rostroten Backsteinmauern umschlossen ihn. Alle Vorbereitungen zu seiner Hinrichtung waren getroffen. Das Gebäude, in dem der Scharfrichter mit seinen zwei Gehilfen auf ihn wartete, lag abseits – von zertretenem Rasen umgeben, von verknorrten Kiefern umstanden. Der Hinrichtungsraum war etwa vier Meter breit und acht Meter lang. Hier hielten sich auf: der Generalstaatsanwalt des Reiches, der Scharfrichter und seine beiden Gehilfen, zwei Gefängniswärter und zwei Filmoperateure. An der Längswand stand ein kleiner Tisch – auf ihm befanden sich Gläser und eine Flasche Weinbrand; für die Zeugen der Hinrichtung bestimmt. Zwei schmale, vergitterte Fenster an der Stirnseite des Raumes ließen blasses Tageslicht eindringen. In der Decke unmittelbar über ihnen war ein Eisenbalken, ein sogenannter T-Träger angebracht – acht massive Fleischerhaken hingen dort. Der Graf von Brackwede betrat diesen Raum erhobenen Hauptes. »Angeklagter«, sagte der Reichsanwalt
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routinegemäß, »Sie sind durch den Volksgerichtshof zum Tode durch den Strang verurteilt worden. Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes!« Der Scharfrichter legte dem Grafen von Brackwede die Metallschlinge um den Hals. »Das kitzelt etwas«, sagte er – er war für seinen Humor bekannt. »Aber das geht schnell vorüber.« Die Gehilfen des Scharfrichters – sein Honorar betrug 300 Mark pro Hinrichtung, das seiner Handlanger 50 Mark – packten den Grafen von Brackwede, hoben ihn hoch, hängten die Schlinge in den Fleischerhaken und ließen ihn »mit großer Wucht« fallen. »Welch eine Welt!« sagte er, bevor er starb. Der Mitverschworene Pater Alfred Delp schrieb in der Nacht, die diesem Tage folgte, in seiner Todeszelle mit gefesselten Händen: »Es sollen andere einmal besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.«
NACHBEMERKUNG DES AUTORS FRITZ-DIETLOF GRAF VON DER SCHULENBURG Geboren am 5. September 1902 in London – hingerichtet am 10. August 1944 in Berlin Diese einzigartige Persönlichkeit der deutschen Widerstandsbewegung ist das gewiß unerreichbare Vorbild für die in diesem Buch geschilderte Romangestalt des Grafen von Brackwede gewesen. Wesentliche Hinweise auf Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg sind Dr. Eugen Gerstenmaier zu verdanken – er bezeichnete ihn als einen bewunderten Freund und einen der Besten des »anderen Deutschland«. Die Ausführungen von Eberhard Zeller in Geist der Freiheit, dem wohl vorzüglichsten Bericht über diese Vorgänge, gaben weitere entscheidende Anregungen. Ein Bild, das Annedore Leber in ihrem Buch Das
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Gewissen steht auf veröffentlicht hat, war von zwingender Kraft. Zahlreiche, ausführliche Gespräche mit Freunden, Kameraden und Verwandten des Grafen und mit Frau Charlotte Gräfin von der Schulenburg, die den Verfasser mit Dankbarkeit und Bewunderung erfüllt haben, vollendeten die erahnte Vision: Dieser Mann war tatsächlich ein Symbol des anderen, des besseren, des ersehnten neuen Deutschland – und er war dabei ein sehr eigenwilliger Mensch von faszinierender Vielschichtigkeit. Sein Leben hat Albert Krebs in einer vorbildlich exakten Biographie beschrieben. Ein Roman jedoch unterliegt eigenen Gesetzen. Er muß versuchen, über die registrierbaren Tatsachen hinaus, Hintergründe auszuleuchten, die Zeit zu deuten, in einer einzigen Gestalt geschichtliche Strömungen zu erfassen. Das aber macht Zugriffe unvermeidlich, die über das historisch Nachweisbare hinausgehen. Deshalb entstand der von Brackwede – ein Schulenburg und ein Schlabrendorff zugleich, ein York und ein Üxküll. Preuße, Graf und Soldat – das alles ist dieser Mann in kaum vorstellbarer Vollkommenheit tatsächlich gewesen. Der Lebensablauf des Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg jedoch sieht so aus: Als Fritz-Dietlof 1902 geboren wurde, war sein Vater kaiserlich-deutscher Militärattache in London. Dieser Vater, Friedrich, General der Kavallerie, war ein »preußischer Mensch« im Sinne des Soldatenkönigs. Ludwig Beck gehörte zu seinen bevorzugten, hochgeschätzten Kameraden. Später wurde der General zum SSObergruppenführer ernannt – als er 1939 starb, fand für ihn ein Staatsbegräbnis statt. Fritz-Dietlofs Mutter Freda, eine geborene Gräfin von ArnimMuskau, war »schwungvoll« und von »feurigem Temperament«. Gelegentlich wurde sie als »rote Gräfin« bezeichnet. Doch ihre Ehe mit dem »strengen, gerechten
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Preußen« war voller Harmonie. Fritz-Dietlof zeigte frühzeitig besonderen Eigenwillen. Er rebellierte gegen seine britische Gouvernante und versuchte, »mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen«. Er prügelte sich mit seinen Klassenkameraden und fiel durch seine »ausgeprägte Lesewut« auf. »Ein höchst seltsamer Knabe!« Er hatte vier Brüder und eine Schwester. Der eine der Brüder wurde das Opfer eines Unfalls, zwei starben an einer schweren Krankheit, der vierte fiel an der Front – am 14. Juli 1944. Vier Wochen später wurde Fritz-Dietlof erhängt. Seine Schwester Elisabeth, von hoher künstlerischer Begabung, lebt heute in einem Kloster. Die Schulenburgs gehörten zum alten Schwertadel. Ihre Ahnen dienten unter dem Prinzen Eugen und Friedrich dem Großen. Sie verwalteten ihren Besitz, wurden Soldaten oder Beamte. Fritz-DietIof absolvierte das Abitur »spielend«, schlug sich als Student durch zahlreiche Mensuren und wurde »völlig mühelos« Referendar und Assessor. 1932 trat er in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ein – »trotz starker Bedenken gegen Hitler und einige andere«. Doch er war damals überzeugt davon, daß sich eine neue, gewichtige Zukunft ankündigte – was einstmals »Preußen« gewesen war, so dachte er, würde nunmehr »das Reich« werden. 1933 heiratete er eine Studentin aus gutbürgerlichem Hause: seine Frau Charlotte. Sechs Kinder wurden geboren – fünf Mädchen und, als drittes Kind, ein Sohn. Sie alle leben heute noch: in Amerika, in England, in München. Der Geburtstag der Gräfin ist der 20. Juli. Diese Ehe – mit einem Lebensstil bewußter Schlichtheit – war des Grafen von der Schulenburg ersehnter Ruhepunkt: Hier durfte er unbekümmert heiter und herzhaft offen sein, ein ausgelassen fröhlicher Spielgefährte, ein Phantasietänzer und ein Märchenerzähler. Noch kurz vor seinem Tode erklärte er: »Meine Familie ist eine Welt für sich.« Als Fritz-Dietlof 1933, nach Ostpreußen versetzt, in die
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Bereiche des Gauleiters Erich Koch geriet, verfiel auch er zunächst dem damals weitverbreiteten Irrtum: krasse Übergangserscheinungen wären unvermeidlich, Fehler müßten hingenommen werden, Versagen sei menschlich. Doch er begann unruhig zu werden – die schnell sichtbar werdende Korruption der »braunen Bonzen« widerte ihn an. Er verließ die Gauleitung von Ostpreußen und wurde Landrat des Kreises Fischhausen. Hier verlebte er eine gesegnete Zeit – er erwies sich als großherzig im Detail, genau im Wesentlichen und von herzlicher Hilfsbereitschaft. Ein Landrat, der wie »ein Stellvertreter des Königs von Preußen« war. Seiner Wandlung zum Gegner des Nationalsozialismus ging offenbar ein komplizierter und qualvoller Denkprozeß voraus. Er sonderte sich nicht sogleich von der Partei ab – er hielt zunächst noch eine Opposition innerhalb der Bewegung für sinnvoll. Es dauerte Jahre, bis er bereit war, letzte Konsequenzen aus seinen Erkenntnissen zu ziehen. Bereits als junger Verwaltungsbeamter in Potsdam verkehrte Fritz-Dietlof mit Offizieren des dort stationierten Infanterie-Regiments 9, das nicht selten »JR Graf« genannt wurde. Es war das »Traditionsregiment« des »Garde du Corps«, deren letzter Kommandeur der General von der Schulenburg gewesen war. Es wurde eine der Keimzellen, aus denen die Ereignisse des 20. Juli entstanden. Hier in Potsdam wurde Fritz-Dietlof später Soldat, und hier fand er Menschen, denen er spontane Sympathie entgegenbrachte. Unter ihnen: Plettenberg, Bussche, Willessen, Hammerstein, Kleist – sie alle adlig und aus verdienstvollen Familien stammend; wie er. Dazu nur wenige, die bürgerlich waren, die nicht zuletzt deshalb Schulenburg bevorzugte: Der Hauptmann Klausing, der Stauffenberg beim zweiten Attentatsversuch begleitete; und der Hauptmann Fritzsche, der dann am Tag des Attentates zu denen gehörte, die in der Bendlerstraße die Verhaftung von -Fromm und anderen Generalen vornahmen.
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1937 war der erkennbare Wendepunkt. Als Fritz-Dietlof zum Stellvertretenden Polizeipräsidenten von Berlin ernannt wurde, sagte er zu seinen Freunden: »Ich hatte mich zu entscheiden, ob ich meinen Dienst quittieren oder der Fouche Hitlers werden sollte. Ich habe das zweite gewählt.« Die Vorgänge der »Kristallnacht« erregten ihn zutiefst – danach gab es bei ihm kein Zögern mehr. Bald darauf wurde er in einem Geheimdokument der Partei als »politisch untragbar« erklärt. Als dann der Krieg ausbrach, meldete sich der Graf an die Front – das war »seine Art von Emigration«. Er wirkte auf Militärs stets herausfordernd salopp, das Monokel über dem sehgeschwächten linken Auge irritierte, seine herzliche Kameradschaft mit einfachen Soldaten fiel auf. Ein Leutnant namens Konstantin – ein sehr junger Mensch »von heldenhaftem Wesen« – besaß seine besondere Zuneigung. Als er gefallen war, schrieb der Graf von der Schulenburg eine poetische Würdigung dieses Offiziers. Sie erschien als Reclam-Heft, 1942. Bald danach forderten ihn Dienststellen in Berlin an. Er arbeitete im Wirtschaftsministerium, er entwarf eine großangelegte Verwaltungsreform, er wurde dem General von Unruh zugeteilt, der in der Etappe Soldaten »für die Front frei machen« sollte. Bei allen diesen Tätigkeiten suchte und sammelte der von der Schulenburg Menschen gleicher Gesinnung. Sein sicherer Instinkt und seine bannende Überredungskunst wurden viel gerühmt. Bald wurde er der wichtigste Verbindungsmann zwischen den verschiedenartigsten Widerstandsgruppen. Seine Kontakte reichten von der Gestapo bis zu Generaloberst Beck. Uneingeweihte hielten ihn für »undurchsichtig«; er erschien ihnen als verschlagen und herausfordernd zugleich. Sie nannten ihn »das Sphinxgesicht« oder den »wilden Schulenburg«. Schneidender Zynismus wurde ihm ebenso nachgesagt wie sanfte Ironie. Mit Generalen sprach er »wie mit seinesgleichen« – mit Gefreiten auch. Nur wenige Freunde lernten ihn wirklich kennen. Ihnen
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eröffnete er sich ganz und mit vorbehaltloser Herzlichkeit – sie gehörten, sobald sie sein Vertrauen besaßen, gewissermaßen zu seiner Familie. Und diese Freunde haben nicht zufällig zu den gewichtigsten Persönlichkeiten des 20. Juli 1944 gezählt: Cäsar von Hofacker war Trauzeuge und Pate von Schulenburgs Sohn. Und Pate mit ihm war Peter von York. Hinzu kam der Graf von Oxküll und der Graf Ulrich-Wilhelm von Schwerin. Und dazu gehörten, nicht zuletzt, auch die Brüder Stauffenberg – Claus und Berthold. Sie alle erlebten fröhlich durchzechte Nächte auf dem Lande, sie verbrachten so manche Urlaubstage gemeinsam, sie trafen sich bei Familienfeiern – lange Jahre, bevor der Krieg ausbrach. Ihre Gespräche wurden dunkler, grübelnder, entschlossener. Sie verschworen sich miteinander, am Tag des Aufstandes gemeinsam in Aktion zu treten. Niemand von ihnen überlebte. Der Graf von der Schulenburg besaß die geistige Kraft und die »Kühnheit des Verstandes, weit vorausdenken zu können«. Bereitwillig nahm er neue Ideen in sich auf. Als junger Assessor verehrte er den Sozialisten Winnig. Er las Marx und Hegel, Kant und Engels, Freud und Lenin, Thomas von Aquin und Plato. Dann hatte er Julius Leber kennen und lieben gelernt – das National-Preußische und das Sozialistisch-Demokratische, das dieser verehrte, unzerstörbar erscheinende Mensch zu vereinen trachtete, wollte auch dem Grafen als »leuchtende Zukunft« erscheinen. Dr. Eugen Gerstenmaier bekannte, während dieses Buch geschrieben wurde, mit großer Nachdenklichkeit: »Ich denke oft an jene Vorgänge zurück. Und vieles davon ist Vergangenheit; unvergeßlich, doch nun schon wie hinter Schleiern liegend. Aber immer wieder ertappe ich mich bei dem Gedanken: Was hätte Fritze Schulenburg zu dem gesagt, was jetzt geschieht; wie hätte er darauf reagiert, was hätte er mir geraten?« Und leise fügte Dr. Gerstenmaier hinzu: »Ich wollte, diese Menschen würden leben – sie fehlen uns.« »Wir müssen uns opfern«, sagte Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, als er am 20. Juli 1944 erkannt hatte, daß der
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Aufstand der Soldaten gescheitert war. »Später wird man uns verstehen.« Seine letzten stolzen Worte vor dem Volksgerichtshof sind in diesem Buch aufgezeigt – als die des Grafen von Brackwede. Im Spiegelbild einer Romangestalt also ist hier versucht worden, das Wesen eines völlig ungewöhnlichen Menschen und seiner Gesinnungsfreunde zu deuten. Diese Gestalt wurde konzipiert, ehe noch alle erreichbaren Unterlagen zur Verfügung standen. Sie brauchte dann jedoch nur geringfügig verändert zu werden. In Bewunderung wird daher dieses Buch gewidmet: FRITZ DIETLOF GRAF VON DER SCHULENBURG UND SEINEN KAMERADEN.
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