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Ideologie, Kultur, Medi n, N ue echte, Rassismus
Argume t
Stuart Hall
Ausgewählte Schriften
Stuart Hall
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hrift
Ideologie, Kultur, Medi n, N ue echte, Rassismus
Argume t
Stuart Hall
Ausgewählte Schriften
Stuart Hall
Ausgewählte Schriften Herausgegeben
von
Nora Räthzel
Mit einem Vorwort von H. Gustav Klaus ,
Argument
Aus dem Englischen übertragen von Wieland Elffcrding, Birgit ErmHch, Gabriela Mischkowski, Gottfried Polage. Nora Räthzel und Thomas Weber
CIP-Titeillurnahme der Deuls<;!len Bibliothek
Hall, Strulft:
Ausgewählte Schriften I Smart HalL Hrsg. von Nora lüthzel. Mil e. Vorw. von GuWIV Klaus [Aus d. Eng!. iibertr. von Wieland El fferi ndg .. ]
Hamburg ; IJcrlin : Argument, 1989 ISBN 3-B86i9-313·X NE: Hall, Sruart: [Sammlung
] Alle Rechte vorbehalten
co ArgumentNerlag 1989 Argument-Verlagsbüro: Rentzelstralle I, 2COO Hambllrg 13. TeL (040) 4560 18 Argum.em-Redaktlon: Onkel-Tom-Straße 64a. 1000 Berlin 37, Tel. (030) 813 5024 Umschlag: Johanncs NlIWl'lIth Talerfanung durch die
Übersetzer
Konvcrtierung: Fotosatz Barbara Steinhardt, West-Berlin Druck: WDA Druckerei, Brodersdorf Erste Auflase 1989
Vorwort
Seit nunmehr drei Jahrzehnten spielt Stuart Hall eine führende Rolle im S pekt ru m der britischen Linken. Anders als seine etwas älter en
Mitstreiter Raymond Williams oder E.P. Thompson hat ihn allerdings
nicht die Veröffentlichung eines Klassikers - der Kulmrtheorie oder Sozialgeschichtsschreibung - bekannt g,emacht. Die publizistische Tätigkeit des 1932 auf Jamaika Geborenen, erst als Stipendiat Anfang . der fün fziger Jahre nach England Gekommenen verlief
weniger
spek takulär, ohne deswegen weniger ertrag reich oder anregend zu sein . Ob
als Zeitschriftenherausgeber oder Projektleiter, stets wußte Hall seine
Person in den Hintergrund zu steHen. Mit selbstverleugnender Be scheidenheit reihte er sich in Arbeitszus amrnenhänge und Autorenkol
lektive ein, weH, wie er es einmal in eine r Bilanz seiner Tätigke it am Centr:e for Contemporary Cultural Studies formulierte, ihm die »einsa me, isolierte, individualisierte und konkurrenzbesessene Arbeitswei
Ähnlich dem Prinzip des forsche nden Lernem«, mi t dem hierzulande in den siebzi ger Jahren e inzelne Reformuniversi se« ein Grellei war.
»
täten angetreten sind, organisierte und praktizierte er die Arbeit in Pro
jekten und Forschungsgruppen, im strikten Gegensatz zu jener ver� b rei te ten Sp ezies Einzelkämpfer unter den Geisteswissenschaftlern,
»die ihre Arbeitsthemen wie Schlagstöcke im Gepäck herumtragen«.
Diese Einstellung erklärt zum Teil, weshalb es auch in Großbritannie n bis 1988 nicht ein einziges Buch gab, in dem der Autor als Alleinver fasser finnierte. Als sich im Gefolge der krisenhaften Ereignisse des Jahres 1956 (20.
Parteitag der KPdSU mit der berühmten Ch ruschtsc how-Rede, Suez
Invasion, U ngarnaufstand) die New Left herauskristallisierte, gehörte Smart Hall zu d en Aktivisten der ersten Stunde. Dank seiner g länzen den Rhetorik war der Mi t begru nder und -herau sgeber der Oxforder Universities and Left Review ein gefragter Redner auf vielen Tribünen
und Veranstaltungen. In der New Left kamen ehemalige Kommunisten
- die britische Partei hat 1956-58 fast zehntausend M itgli eder verlo
ren
und Labour-Linke zusammen, Kritiker der Konsumgesellschaft
und Anh änger der Kampagne
für nukleare Abrüstung, engagierte
Schriftsteller und radikale Akademiker. Als sich die Universities anti
Left Review 1960 mit dem u.a. von Thompson edierten New Reasoner
zur heute noch ersc heinenden New Left Review zusarnmenschloß, hieß
der Herausgeber wiederum Stuart Hal1.
JfJrwort
6
Die erste akademische Position, die HaH bekleidete, war eine Do zentur für Medienwissenschaft am Chelsea College in London
(1961-64). Hier entstand das gemeinsam mit Paddy Whannel geschrie bene Buch The Popular Ans (1964). eine Gegenstandsbeschreibung und Analyse massenhaft verbreiteter Kulturformen von F ilm und Fern sehen bis zu Groschenheften und Popmusik, unter Berücksichtigung ihrer möglichen Einbindung in den schulischen und universitären Un� terricht. Anlage und Ergebnisse dieses Werks ebenso wie die Teil nahme an den Kulturdiskussionen der New Left prädestinierten Hall für die Arbeit an dem 1964 von Richard Hoggart an der Universität Birmingham eröffneten Centre tor Contemporary Cultural Studies. 1
Die Untersuchungen von Hoggart
(1he
Uses
oi Literacy. 1957)
und
Williams (Culture and Society 1780-1950, 1958, sowie The Long Revo lu ti on , 1961) hatten das materiale und theoretische Fundament gelegt,
die Aufbruchsstimmung der späten fünfziger und· frühen sechziger Jahre das geistige Klima geschaffen, in dem gegen beträchtliche Wi derstände ein kulturwissenschaftlicher Aufbaustudiengang und ein neues Forschungsparadigma inauguriert werden konnten. Die inhaltli che Ausrichtung und der konzeptionelle Rahmen von cultural studies, wie wir sie heute in Großbritannien an vielen Polytechnics und einigen wenigen Universitäten finden, sind jedoch untrennbar mit dem Namen Staatt Hall verbunden. Erst unter seiner Leitung - Hoggart war 1969 zur Unesco nach Paris gegangen - hat das Centre die an seine litera
turwissenschaftHche Herkunft gemahnende Orientierung an »Texten« zugunsten der Konzeptualisierung von kulturellen P raxen abgelegt, die Gesellschaftstheorie gegenüber der funktionalistischen Soziologie in
den Vordergrund gerückt und die Parteinahme zugunsten marginali sierter und unterprivilegierter sozialer und ethnischer Gruppen an den Tag gelegt, die vielen argwöhnischen Beobachtern ein Dorn im Auge war und ist. Mit der Entstehung einer neuen pluralen marxistischen Kultur in Großbritannien, entschieden gefordert durch den massiven Import kontinentaler Denkansätze seitens der neuen Mannschaft der New Left Review um Perry Anderson, wuchs dem Centre zumindest im Bereich
der Kulturanalyse eine Avantgarde-Position zu. Es gab eine Zeit, in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, als das Erscheinen eines Heftes der Institutszeitschrift Working Papers in Cultural Studies an manchen lin ken Fachbereichen besonders der Polytechnics mit der gleichen 1
Stuart HaU blieb bis 1979
am
CCCS in Binningham. Seither ist er Professor
für Soziologie an der Open University.
7
J.brwort
Ungeduld erwartet wurde wie hier während der Studentenbewegung das Neueste aus den Redaktionszimmem des Argument, der alternati ve oder des Kursbuch. Zwar hatten die Working Papers zunächst eine ungleich niedrigere Auflage. Das sollte sich jedoch in dem Augenblick ändern, als die Bände in das Verlagsprogramm von Hutchinson über nommen wurden: Der erste Titel Resistance through Rituals (1976) deutsch in veränderter Fassung 1979 als Jugendkultur im Widerstand - mußte gleich mehrfach nachgedruckt werden. Eingeleitet worden ist die Rezeption der Arbeiten Stuart Hans in der BRD durch ein vom WDR ausgestrahltes Rundfunkinterview 1977, das noch im gleichen Jahr in Gulliver 2 (Argument-Sonderband
18)
abge
druckt wurde. FruherePräsentationen des Centre in Asthetik und Kom munikation 24 (1976) und Literaturmagazin 5 (1976) hatten weniger Re sonanz. Waren es zunächst die ethnographischen Arbeiten, die hier in die Jugendkulturdiskussion Eingang fanden, so hat Das Argument (seit Heft 118, 1979) vor anem an die Ideologieforschung angeknüpft. In On Ideology
(1978;
zugleich auch zehnter und letzter Band der »brking
Papers, 1977) hatten Hall und seine Mitarbeiter A1thussers Bestim mung von Ideologie als real existierendes gesellschaftliches Verhält nis, verankert und reproduziert in Institutionen, z war gewürdigt, zu gleich aber auch wegen ihrer funktionalistischen Schlagseite, die kaum Platz für Widerspruch und Opposition ließ, kritisiert.
Für dasProjekt Ideologie-Theorie (1977-1985) wurden diese Arbei ten zu einer Art von Grundungstexten. Von hierher las man Althusser und Gramsci neu, arbeitete schließlich die marxistischen Positionen in der Ideologiefrage auf. In den daraus resultierenden Theorien über Ideologie (1979, Argument-Sonderband 40) ist Stuart Halls Einfluß nicht nur durchweg zu spüren, sondern von ihm stammt auch der histo rische Abriß über Ideologie und Wissenssoziologie in bürgerlicher Tradition (Kapitel
7).
In der Camera obscura der Ideologie (1984, Ar
gument-Sonderband 70), einem Band mit drei Bereichsstudien des Projekts Ideologie-Theorie über Philospohie, Ökonomie und (Natur-) Wissenschaft, taucht Stuart Hall wiederum als einer der drei Autoren auf. Man kann sagen, daß die Veröffentlichung des vorliegenden Ban des eine späte Folge dieser Zusammenarbeit ist. In der Kampagnenanalyse, die das Buch Polking the Crisis: Mug ging. the State, and Law and Order (1978) liefert, verbindet sich das den Jugendkulturarbeiten eignende Moment der Empathie mit der These von den hegemonialen Strukturen der Ideologietheorie. Aus gangspunkt war hier die in den britischen Medien geschürte, rassi stisch besetzte Hysterie vor der gewalttätigen Straßenkriminalitätt die
Jilrwort
8
hauptsächlich jungen Schwarzen angelastet wurde. HaU, wie erwähnt selbst Westinder, und seine Ko-Autoren zeigen� wie der durch die Wirtschaftskrise brüchig gewordene gesellschaftliche Konsens durch die Panikmache vor dem
mugging
zusammengekleistert wird, wobei
reale Erfahrungen und irreale Ängste gerade auch »kleiner Leute« mo bilisiert und zielverschoben eingesetzt werden: In der Abschottung von den stigmatisierten schwarzen Jugendlichen wird die Nation er neut auf die staatstragende Eigentumsideologie eingeschworen, so als hätten die Mugger mit ihren bei brutalen Überfällen entwendeten Brieftaschen die Institution des Privateigentums überhaupt in Frage gestellt. (Begriffe wie »Konsens« und »Hegemonie« signalisieren den Bezug auf Gramsci. der hier gewissermaßen als Korrektiv zu Althus ser fungiert.) Staatstheoretische Ableitung und aktuelle politische Analyse fließen auch in den Schriften über den Thatcherismus zusammen, den Hall schon früh als äußerst ehrgeiziges Projekt begriffen hat, die gesamten sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit zurückzurollen und unter geschicktem Einsatz populistischer Rhetorik längst residual ge glaubte viktorianische Werte wie Eigeninteresse, Konkurrenz, Streb samkeit, Nation, Familie, Pflichtgefühl usw. wiederzubeleben und ag
gressiv durchzusetzen. Zunächst in der Zeitschrift Ma rxism Todayer
schienen; deren ständiger Mitarbeiter Hall ist, sind diese Aufsätze zum Teil in The Po lities ofThateherism
(1983) gesammelt.
Durch die Zuge
hörigkeit zum »advisory board« von Marxism Today, der attraktiv ge stalteten und monatlich in 17000 Exemplaren vertriebenen Zeitschrift des eurokommunistischen Mehrheitstlügels der britischen KP, be kennt Hall auch politisch Farbe, wobei sich die Einschätzung, eine so zialistische Alternative zum Stalinismus wie zur Sozialdemokratie zu finden, bis auf das gemeinsam mit Williams und Thompson 1967/68 verfaßte
May Day Manifesto zurückverfolgen
Februar 1989
läßt.
H.
Gustav Klaus
Inhalt
Das »Politische« und das »Ökonomische« in der Marxschen Klassentheorie ., ....... " . . . . . . . . .
11
Gramscis Erneuerung des Marxismus und ihre Bedeutung für die Erforschung von »Rasse« und Ethnizität . . . . .. . . . . . .
56
Massenku1tur und Staat .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
Die strukturierte Vennittlung von Ereignissen . . . . . . . . . .
126
Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien . . . . . . . . . . .
150
Der Thatcherismus und die Theoretiker
172
Neuorientierung der Linken
Der Staat
-
.
. . ..... . ... . ..
.
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. . . . . . . . .
2.07
der alte Verwalter des Sozialismus . . . . . . . . .
220
.
Anmerkung zur Textauswahl D r u cknachweise
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Literaturverzekhnis .
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236 237
238
1 1 1 1 1 1 1 1
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1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 1
1 1 1 1 1 1 1
1 1 1
a-
1,
II ..
Das »Politische« und das »Okonomische« in der Marxschen Klassentheorie Die Gr·enzen dieses Artikels liegen auf der Hand. Ein umfassender oder systematischer ) Überblick« über die Marx.sche Klassentheorie kann hier nicht geboten werden. Erstens, weil Klassen, Klassenver hältnisse und Klassenkampf Begriffe sind, die im Zentrum von allem standen, was Marx geschrieben hat - einschließlich natürlich des Ka pitals, seinem Hauptwerk über die »Bewegungsgesetze« der kapitali stischen Produktionsweise, in dem das Thema ))Klassen« ganz ans Ende verlegt ist und auf geradezu peinigende Weise unvollständig bleibt. Eine umfassende Würdigung von »Marx zum Thema Klassen« würde daher auf die Rekonstruktion seines gesamten Werkes hinaus laufen. Zweitens, weil es die »Klassentheorie« im Sinne einer homoge
nen Einheit oder eines homogenen Gegenstandes bei Marx gar nicht gibt. Marx hat in jeder wichtigen Phase seiner Arbeit über Klass,e und
Klassenkampf geschrieben. Wir wissen, daß diese Texte einen unter· schied1ichen Stellenwert haben und mit unterschiedlichen Absichten geschrieben wurden, und daß dies entscheidend dafür ist. auf welcher Ebene, unter welchem Aspekt und auf we1chem Abstraktionsgrad die Frage behandelt wurde. Die Polemik gegen den Linkshegelianismus in der Deutschen Ideologie, die programmatische Absicht und rhetori sche Vereinfachung im Kommunistischen Manifest, die Analyse der politischen Konstellation in den Klassenkämpfen in Frankreich, die theoretische Arbeit in den Grundrissen und im Kap.ital- in jeder die ser Schriften wird das Problem der Klassen aufgrund der verschiede nen Stoßrichtungen und Adressaten in unterschiedlicher Weise ge stellt. Aus Marx' eigenen Kommentaren und seiner Korrespondenz - zum Beispiel in bezug auf den unterschiedlichen Aufbau in den »Arbeits heften« der Grundrisse und im &lpital
-
wissen wir, daß er die Frage
der DarsteUungsweise sehr ernst nahm .. So schrieb er z.B. in seinem
Brief an Weydemeyer am 1. Februar 1859 über die beabsichtigte Publi kationsfolge der ersten vier Abschnitte des ersten Bandes des Kapital:
"Du begreifst die p()litischen Grunde, die mich bewogen, mit dem 3. Kapitel Uber 'Das Kapital' zurückzuhalten, bis ich wieder Fuß gefaßt habe.« (Marx/Engels 1972, 195)
Drittens wissen wir, daß a11 diese verschiedenen Texte bis zu einem ge wissen Grad auch durch die Problematiken begrenzt und geprägt wur den, in deren Rahmen MarK zum jeweiligen Zeitpunkt dachte und schrieb. Mit der Ent wicklung des Marxschen Denkens wandelten und
12
Ausgewählte Schriften
veränderten auch sie sich. Althusser konstatiert zu Recht, daß Marx'
»Entdeckungen« zum Teil e ntschei dend mit den » B rüchen « zwischen
den jeweilige n Problematiken zusammenhängen. W i r müssen nicht unbedingt die Rigidität und Totalität akzeptieren, in der Althusser mit
Hilfe des »epistemologischen Einschnitts« das Marxsche Werk »perio
disiert«
-
zumal s ich Althusser selbst später davon distanziert hat
(vgL die Haupt»revisionen«
Althusser 1976). A ber seine Interven
ti on verhindert, daß wir Marx jemals wieder in einer Weise lesen, die, mittels ei nes prospektiv-retrospektiven Taschenspielertricks, einen
einzigen , homogenen »Marxismus« konst it uie rt , der sich stets auf einer vorgezeichneten Bahn bewegt, von den ökonomisch-phi10sophi
se he n Manu$kripten über den
Bürgerkrieg in Frankreich bis z u seinem
vorgegebenen teleo l ogischen Ziel. Eine derart i ge Lesweise tut nich t
nur Marx Unrecht, sie g i bt auch ein falsches und irreführendes Bild von der Art, wie theoretische Arbeit auszusehen hat, und sie vers chlei
ert die Rückzüge und Umwege, d urch die diese voranschreitet und sich entwickelt. Sie fordert in uns ei n en »faulen« Marxismus, da sie j a na
he l egt . für uns gäbe es keine kritische Arbeit mehr zu leisten, wir
bräuch ten uns nicht ernsthaft mit den Di ff�renzen und Entwicklungen im Marxschen Werk auseinanderzusetzen
-
alles, was uns zu tun
bleibt, ist, uns auf die »Offensichtlichkeit« des )�Marxismus« zu verlas
sen, die in allen Texten von Marx latent sch1ummert. Diese Art marxi stischen »gesunden Menschenverstandes« hat dem Ma rxismus' als
einer lebendigen und sich entwickelnden Praxis enorm g es ch ad et ,
ebenso dem not wendi gen Streit innerhalb der T heorie selbst .
Teilweise wird es also um eine spezifische Praxis des Lesens gehen
- eine, di e versucht, die Logik der Argumentation und des Autbaus e:ines Textes festzuhalten, und zwar vor dem Hinterg rund der Thes en und Be griffe, die den Diskurs des Textes ermöglichen, ihn her\olorbrin
gen. Vieles von dem, was anhand einer begrenzten Anzahl von Passa
gen und Texten hier diskutiert werden wird, ber uht auf der Entwick lung einer sokhen theoretischen Arbeitsweise. Sie b einhal tet auch,
einen Text nicht einfach als sol�hen, als etwas Gesch10ssenes hinzu
nehme n . Das g ilt sowohl für die SteHen. an denen der Text .offensicht
lich »ins Auge springt«, als auch für die, an denen er offensichtlich
komplex oder dunkel ist. Der Klassenkampf ist in jeder Zeile und in
j edem Abschnitt des Kommunistischen Manifestes geradezu handgreif Hch präsent. Abe r der Klassenbegriff, auf dem dieser Text beruht , ist,
wie wir hoffentlich werden zei gen können, nicht von der glänzenden Ober fläche her unmittelbar faßbar. Das Kapital is t das genaue Gegen teil- ein komplexer th eo r etischer Text, dessen zentraler Gegenstand
J
:.tL j 2.
S
J
iS
Das »Politische« und das »Ökonomische«
13
die kapitalistische Produktionsweise ist, und der über weite Strecken hinweg den Klassenkampf auf eine andere Ebenet auf ein anderes Mo
�ent »verschoben« zu haben scheint Es g ehört mit zu den schwersten Ubungen, aus dem Manifest herauszu»lesen«, wie das Verhältnis von .
Klassen und Produktionsweise gefaßt wird, und umgekehrt die Geset ze und die Bewegung des Kapitals im Kapital unter der Perspektive des
eht, so gibt u ns .Marx selbst (wiederum in einem Brief, diesmal an Engels vom 30. April 1868) einen wunderbaren EinbHck in die Art der Beziehung beider zu einander. Im wesentlichen faßt er seine Argumentation aus dem dritten Band zusam men. Er geht einige der komplexesten techn ischen Klassenkampfes zu »lesen«, Was letzteres
ang
�
Theoreme durch: die Konstituierung der »Durchschnitts profitrate«,
das Verhältnis zwischen den verschi�enen Produktionszweigen; das Problem der Transformation »von Wert in Produktionspreis«, den teo
denzieHen Fan der Profitrate. Danach ke hrt er schließlich zu dem zu rück, was den »Ausgangspunkt der Vulgärökonomie« ausm ach t : zur berühmten Trinitarischen Formel (dere.n vernichtende Entla r v ung in
extenso im dritten Band eine der reichhaltigsten Abschnitte dieses Werkes is t) Gemeint i s t die Formel, die die VerteHung des Profits als harm onisc hen Rückfluß jedes seiner Teile zu dem ihm zugehörigen ,
Faktor in der kapital ist ischen Produktion »erldärte«: die Grundrente entspringt de m Boden, der Profit (Gewinn) dem Kapital, der Lohn aus der Arb eit. Indern Marx die »wirkliche« Bewegung hinter dieser Ver
teilung enthüBte. entlar vte er ihre »Erscheinungsfonn«; aber das ist keine bloße »theoretische« Entmystifizierung: »Endlich, da jene drei (Arbeitslohn, Grundrente, Profit [Zins]) die Einkommens quel1en der drei Klassen von Grundeigentümern. Kapitalisten und Lohnarbeitern der Klassenkompjals Schluß, worin sich die Bewegung u nd Auflösung der gan zen Scheiße auflöst.« (Marx/Engels 1972, 172) -
Althusser hat uns vorgeführt , wie theoretische Texte zu »lesen« si� mit der Methode des »symptomatischen Lesens«. Meine eigenen An
-
merkungen ob en gehen nicht so weit Die Idee des »symptomatischen Lesens« ist natürlich Freuds Theorie der Symp tombildu ng im Diskurs
des Patienten entnommen, wie er sie in seinem wichtigen Werk über Die Traumde.utung entwickelt hat Wendet man diese ausgereifte .
Theorie nun auf theoretische Texte an, dann entsteht das Problem ihrer Kon t rom e rbarkeit Es ist eine Sache, einen komplexen Text mit einem .
stets offenen Auge für die M a trix der begrifflichen Prämissen und Sätze zu ]esen, di e diesen Text tragen und ihm seine wie auch immer geartete theoretische Konsistenz geben - und uns hel fen, sein
»Schweigen«, seine Leerstel1en, zu identifizieren. Das Herauslesen von Leer stellen ist mit Sicherheit ein tragendes Fundament einer i
L
14
Ausgewählte Schriften
kritischen theoretischen Praxis. Eine ganz andere Sache aber ist es, das »symptomatische Lesen« als eine Art theoretischer Guillotine zu beimtzen, mit der jeder Begriff, der die Tollkühnheit besitzt, vom vor gezeichneten Weg abzuweichen, einfach geköpft wird. Leider ist die Grenze zwischen heiden Lesarten fließend. Es ist nicht immer leicht, zwischen einem »symptomatischen Lesen« zu unterscheiden, mit dem wir die theoretische Struktur eines Marx sehen Textes aus den Oberflächenformulierungen herauslesen können, in denen die Begriffe in ihrem
wie es manchmal etwas dubios ge
nannt wird - »praktischen Zustand« erscheinen, und einem »sympto
matischen Lesen«, das in Wirklichkeit nur einen Deckmantel dafür lie fert, diese »praktischen Begriffe« in ihren »reinen« theoretischen Zu stand zu versetzen, so daß der Text dazu gebracht wird, auch »tatsäch lich« das zu sagen, was immer der Leser von vornherein hÖ,ren wollte. Das Kapital lesen (Althusser 1971), das sich dieser Methode in ihrer
radikalsten und extremsten Form bedient, bewahrt uns einerseits vor
einem »unschuldigen« Lesen von Marx, andererseits aber macht es sich selbst schuldig, das, »was Marx w irklich gesagt hat«, so zu trans
fonnieren, daß es - natürlich - das produziert, was die Autoren von
Anfang an entdecken wollten. Um es ganz klar zu sagen: Wenn »prakti sche Begriffe« bei Marx mit Hilfe strukturalistischer Instrumente und Begriffe systematisch auf eine abstraktere theoretische Ebene gehoben werden, dann ist es nicht weiter schwierig, am Ende einen »strukturali
stischen« ?\.larx zutage zu fOrdern. Die Frage - die enorm wichtige Ausgangsfrage von Das Kapital lesen -, was für ein »Strukturalist« der reife Marx denn tatsächlich gewesen ist, kann nicht in dieser zirku lären Weise beantwortet werden. AJthusser selbst weiß das. Schließ lich war er es, der - in Für Marx - die notwendig geschlossene Zir kularität eines »Lesens«, das seine )�Antworten« bereits in Form der
Fragestellung vorwegnimmt, klipp und klar demonstriert hat. Er nann te diese Zirku]arität
ideologisch.
, Im folgenden werde ich versuchen, beides zu vermeiden - dle »Un schuld« eines »Lesens«, das an der Oberflächenform der Argumenta tion kleben bleibt, und die spezifische »Schuld«, die einer Interpreta tionsweise anhaftet. die schlicht meine vorgefaßte Meinung bestätigt. Mein Ziel ist eine bestimmte Art der Befragung einiger zentraler Pas sagen bei Marx darüber, was sie über Klassen und Klassenkampf aus sagen. Ich spreche von Klassen und Klassenkampf im Zusammenhang, weH mich diese Verknüpfung in diesem Artikel am meisten interessiert und sie die Auswahl der Passagen bestimmte, die ich untersuchen wi n.
Mir wird es speziell darum gehen, zu zeigen, warum und worin sich
15
Das »Politische« und das »Ökonomische«
Marx Vorstellungen von Klassen u nd Klassenkampf in v e rschiedene n Phasen seine r Arbeit verändert haben und welch e Entwicklung sie
durchliefen. Ich möchte einige der FriihschTiften und Texte des »Über gangs« neu übe rde nken - viele von ihnen wurden allzu rasch auf den begr ifflich en Schrotth a u fen geworfen . Aber ich werde sie natürlich
aus dem Blickwinkel der reifen und entw i ckelten Marxschen Theorie untersuchen - ich werde versuchen, sie nicht unschuldig sondern im Lichte des Kapitals zu betrachten. »
«,
I
Das Kommunistische Manifest wurde von Marx Bu nd de r Kommuni sten ver faßt :
und Engels für
den
»um ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen welt offen dar(zu)legen und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der P'drtei selbst entge
genzustellen.« (MEW 4, 461)
Es wu rde am Vorabend der großen revolutionären Erh ebun g von 1848 veröffentlicht - zum Zeitpunkt seines Erscheinens befand sich Marx bereits auf Ei nla du ng der liberal-radikalen Re gierung von
Frankreich, die Loui s Ph ilippe gestürzt hatte, in Paris. Es sollte eine revolutionäre Sturmglocke sein; v i ele, wenn nicht alle der darin enthaltenen Verein fachun gen müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Im So mmer 1848 begann die Konterrevolution sich zu entfalten; Marx und Engels waren zu der Einsicht gezwungen, daß sie die Geburtswehen der bürgerlichen G eseIl sc haft als deren Thten gel äut mißverstanden hatten. Marx änderte se in e Ansi chten und zwar über weitaus mehr als über die Geschw indigkeit, mit der es zum revolutionären Endkampf kommen sollte. Gw yn Williams (1976) hat gezeigt, wie dieser »Ein s ch ni tt in der Perspektive - ein politischer E in schni tt - seinen Nie -
,
«
derSChl ag in de r theoretischen Struktur eines der wichtigsten Texte von
MarJ{ fand, im Achtzehnten Brumllire des Louis Bonaparte. Ja, man
kann , ohne die Zusammenhänge verei nfachen
zu wollen, durchaus sagen, daß der his torische Zusammenbruch der Achtundvierziger Re vo lutio n einen enormen theoretischen Fortschritt im MafJ,schen Ver s tändnis von Klasse n und ihrem Ve rhältnis zum politischen Kampf be wirkt hat. Welche Entfernung er zurückgelegt hat und welche Ent deckun ge n er gema cht hat, läßt sich ermessen, wenn. man die Unter schiede und Gemeinsamkeiten - bei der Darstell ung von Kla.ssen im Manifest von 1847 einerseits und im Achtzehnten Brumaire und den Klassenkämpfen in Frankreich von 1850 und 1852 andererseits heraus -
arbeitet ..
Ausgewählte Schriften
16
»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämp fen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrucker und Unterdriickte standen in stetem Gegensatz zu
einander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf,
einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären U m gestaltung der ganzen Ge sellschaft e ndete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.«
(MEW 4,462) »( . . . )
. s mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur d3
wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie
mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats glei chen sich immer mehr aus, indem die M asch in er i e mehr und mehr die Unterschiede der Ar
üb e rall auf ein gleich niedriges Niveau herab ( ... ) machen den Lohn der Ar immer mscher sich ent wickelnde, unaufhörliche
beit verwischt und den Lohn fast
druckt . Die wachsende Ko nku rre nz der Bourgeois
beiter immer schwankender; die
Verbesserung der Maschinerie macht ihre ganze Lebensstellung immer unsiche rer; immer mehr nehmen die Kollisionen zwischen dem einzelnen Arbeiter und
de m einzelnen Bou rgeois den C harakter von Kollisionen zweier Klassen an. Die
Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die Bourgeois zu b ilden ; ( ... )« (Ebd
.•
470)
»Die Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei,
wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch d i e Konkurrenz unter den Arbei
t e rn selbst. Aber sie entsteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger: Sie erzwi ng t
d ie Ane rken n ung einzelner Interessen der A r b e iter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt. So die Zehnstundenbill in Eng land.«
(EbcI., 471)
Was diesen Text so fatal ver führeris c h macht, das ist sein v ereinfach en
der revol ution ärer Schwung - sein Elan und die zuversichtliche Ge wißhei t, mitten in der heranfoI lenden unaufhaltbaren Welle revoluti,o
nären Kampfes und proletarischen Sieges zu se in, und vor allem
��in
ungebrochener Glaube an die historische Zwangsläufigkeit. Diese Au
ßerungen reiben sich mit unserem inzwischen geläuter ten Wissen über die unendlich » lan ge Verzö gerung « der Revolution - und unserem
Wissen, um wieviel komplexer und ungewisser ihr Ausgang geworden ist. Damit ver bund en ist die Ablehn un g einer der zentralen Thesen,
die diese Vorstellung der Entwicklung-durch-Revolution offenbar be fördert und stiitzt: die fortschreitende Vereinfa chung der Klassenanta g o nism en (entlang eines gradlinig g ezeich neten Geschichtsverlaufes)
in zwei prinzipiell fe indliche Lager - B ou rg eoisi e und Proletariat, die sich in einem »Auflösungsprozeß« von einem »so heftigen, so grellen
(MEW 4, 471) gegenüber
stehen. Die gesamte Logik in diese m Teil des Textes ist durch die historische Konstella tion , in der er verfaßt wurde, überdeterminiert. Die K lass en werden in diesem Text Charakter«
zweifellos , auf recht simple Weise historisch konstruiert: Auflösung
des Feudalismus, revolutionäre Rolle der aufkommenden Bourgeoisiet »freie Konkurrenz« und »freie Arbeitskraft«, bei Marx die heiden
Das »Politische(( und das »Ökonomische«
17
Voraussetzungen für die Errichtung der kapitalistischen Produktions weise auf erweiterter Stufenleiter, gigantische Entwicklung der pro
duktiven Möglichkeiten des Kapitals, dann die Industrie- und Handels krisen, fortschreitende Verelendung, Klassenpolar isi,erung, revolutio n ärer Bruch und Umsturz. Diese Linearität, dieser unverhüllte historische Evolutionismus, wird wesentlich nur durch das Spiel eines einzigen Widerspruchs un terbrochen oder verschoben: durch den Widerspruch zwischen der Entw icklung der Produktivkräfte und den »fesselnden« Produktions verhältnissen, in die sie eingebettet sind. Dieser Grundwiderspruch
bestimmt die Zuspitzung des Klassenkampfes in der kapitalistischen Produktionsweise. Sein Verlauf ist natürlich auch VerzÖgerungen un terworfen, aber seine Haupttendenz strebt vorwärts - zum Zusam menstoß. Das liegt daran, daß die beiden Ebenen zusammengespannt werden - der Klassenkampf »reift« in dem Maße, wie der Kapitalis mus sich )>>entwickelt«, Ja, letzterer entwickelt und vollendet den erste ren: der Kapitalismus ist sein eigener Totengräber. Der Kapitalismus produziert also seine eigene ��Negati0l'!«: die u nterdrü ckten Klassen,.
deren aufstrebende Kämpfe diese Phase zu ihrer Vollendung und die Gesellschaft vorwärts in das nächste Stadium ihrer Entwicklung trei ben. Da die Konstellation Bourgeoisie versus Proletariat als die »allge meinste« Form des Klassenkampfes bestimmt wird - das Proletariat als die letzte zu emanzipierende Klasse, als die, die »nichts zu verlieren hat als ihre Ketten« -, umfaßt die proletarische Revolution zugleich
d ie E manzipation aller Klassen oder die Abschaffung der Klassenge sellschaft an sich. Die Grundproblematik des Manifestes ist klar. Ihre Präsenz scheint durch die Transparenz der Schreibweise hindur ch - eine stilistische Transparenz, die wiederholt, wie die Verhältnisse und Zusammenhän ge, von denen der Text handelt, aufgefaßt und weiterentwickelt wer den: Das Manifest behandelt Klassen als »ganze« Subjekte - kol1ekti
ve Subjekte oder Akteure. Die Übertragung des Klassenkampfes von der ökonomischen auf die politische Ebene wird als vöHig problemlos behandelt. Heide Ebenen sind austauschbar: die eine führt unweiger
lich auf die andere. Ihr Zusammenhang stellt sich über das he r, was Alth usser die »transitive Kausalität« genannt hat. In ihr wird die Ge schichte als eine sich entfaltende Abfolge von Kämpfen gefaßt - einge teilt in Epochen, zugespitzt durch den Klassenkampf, der ihr Motor
ist. Sie faßt die kapitalistische Gesellschaftsstruktur als eine ihrem Wesen nach einfache Struktur: Ihre unmittelbaren Formen mögen zwar komplexer Art sein, ihre Dynamik und Gliederung. werden
J
d
Ausgewählte Schriften
18
jedoch als einfach und essentialistisch begriffen. Ihre Gliederung ist grundsätzlich durch einen einzigen Widerspruch (Produktivkräfte ver
sus Produktionsverhältnisse) »gegeben«t der sich von der ökonomi
schen »Basis« aus problemlos, gleichmäßig und unverändert durch alle verschiedenen Ebenen de r Gesellschaft hindurch entfaltet. Von daher führt der Bruch auf einer Ebene früher oder später zu einem para ll ele n Bruch auf anderen Ebenen. Diese Au ff assung wurde als »h istori zi
stisch« definiert (Althusser 1969), da sie eine gesellschaftliche Forma
tion als eine, wie Althu sser es nannte, »expressive Totalität« auffaßt.
Aber hinter diesem »Historizismus« findet sich noch die Spur einer
früheren Problematik - die Auffassung der proletarischen Revolution als Befreiung der ganzen Menschheit, als der »Moment«, in dem die
Herrschaft der Vern unft in der Geschichte errichtet wird. Diese Pro blematik erinnert an die humanistische Stoßri cht ng z.B. im Abschnitt u
»Ü ber den Kommun"ismus« in den Manuskripten von 1844 mit seinen
unverhül1t Feuerba·chschen und Hegeischen Obertönen. Eine heroi sche. humanistische Vision, die sich aber sowohl in ihren wesentlichen
Voraussagen als auch in der Art ihrer Begri ffsbild ung als bruchi g er
wiesen hat.
Die klarste und entschiedenste Demontage dieser gesamten Proble matik findet man ohne Zweifel in Althussers Aufsatz »Widerspruch und Überdeterminierung « in Für Marx (1986). Das Manifest läßt sich heute nicht mehr anders als im Lichte dieser Intervention lesen. Alt husseT legt darin, kurz gesagt, dar, daß in der konkreten Analyse eines
j eden historisch spezifischen Augenblicks der Grund widerspruc h der
kapitalistischen Produktionsweise - der zwischen den Produktivkräf ten und den sie »fesselnden« Produktionsverhältnissen
-
zwar »letzt
endlich« determinierend ist, daß aber dieser Widerspruch allein nicht ausreicht, um zu erklären, wie die verschiedenen Ebenen des Klassen
kampfes zu einem revol ution ären Bruch führen. Denn da sich die Ebe
nen einer Gesellschaftsformation nicht so glatt aneinanderfiigen wie
das Manifest unterstellt, entfalten sich auch die Widerspruche nicht unmittelbar und unvermittelt von der ökonomischen Basis aus, um einen auf allen Ebenen gleichzeitig stattfindenden Bruch zu initiieren. Ja, wie Lenin zu Recht im Hinblick auf
1917 mein te,
die entscheidende
Frage ist eher, wie sich »völlig verschiedene Strome, vö1lig ungleichar .
tige Klasseninteressen, völlig entgegengesetzte politische und soziale
B estreb ungen vereinigten, und zwar bemerkenswert 'einmütig' verei nigten« als Resultat »einer außerordentlich originellen historischen Si
tuation« (LW 23, 316). Diese verschiedenen Ströme lassen sich also
nicht auf die determinierenden »Gesetze« der ökonomischen Basis
Das »Politische« und das »Ök onomische«
19
reduzi eren .
» ( , . . ) der Widerspruch Kapital-Arbeit (ist) nie mals einfach ( . . . ) , sondern ( . . , ) immer durch die Formen und die konkreten histori s �h en Umstände spe zifiziert ( . . . ), in denen er si ch auswirkt. Spezifi ZIert d urch die Form en des Überbaus ( . . . ), durch die äußere und inne re h isto ri s c he Situati on (. . . ), da eine Reihe dieser Phänomene vom ' esetz der ungleichmä ßigen Entwicklung' im leninistischen Sinn ab hangen kann . « (Alt huss er 1986, 72)
�
D as bedeutet, wir müssen uns v erschi edene Widersprüche vorstel len , vo n denen jeder seine eigene Spezifik hat, sein eigenes En twi ck (Ullgste mpo, eine eigene innere Geschichte und eigene Existenzbedin g ungen - zuglei ch »determiniert und determinierend« ist, womit, ku rz ges agt, die Frage nach der relativen Autonomie und der spezifi sche n Wirksamkeit der verschiedenen Ebenen einer Gesellschaftsfor mation ges tellt ist Bezogen auf das oberste Prinzip des Marxismus ohne das er theoretisc h nicht von irgendeiner anderen »Soziologie« un tersc h e i dbar wäre , nämlich der »Determination in letzter Instanz durch di e (ökonomische) Produktionsweise«, heißt das : Man kann eine en tsche i den de Wende im KTäfteverhältnis einer Gesellschaftsforma tion nicht adäqu at als Reduktion aller Nebenwidersprüche auf den
Hauptwiderspruch »denken« . Kurz, der Marxismus braucht eine Form
der Determin ati on , die nicht gleichzusetzen ist mit einern ökonomi · sehen Reduktionismus. Die »Vereinigung« dieser »heterogenen Strö
m e«, so Alth usser, sollte man sich nicht als Reduktion, sondern als einen komplexen Effekt »denken« - eine Anhäufung aller In s tanzen und Wirksamkeiten, eine »Fusion«, ein Bruch - eine »Überdetermi ni erung« . Da rau s fo lgt , daß eine Gesellschaftsformation keine »Totali
tät« im essentialistischen Sinne ist, in d er eine einfache »Identität« zwf..
sehen ih ren verschiedenen Ebenen besteht und die Überbauebenen bloße » Epiphänomene«, bloße Begleiterschei nungen der objektiven
Gesetze sind , die »die ökonomische Basis« regieren . Es handeJt sich v ielm ehr um eine notwendig komplexe Einhe it - ein »Ensemble«, das
sel bst bereits das Resultat vieler Determinationen ist, eine Einheit, die vor allem d urch ihre Ungleichheit charakterisiert i s t . In sein er 1857 geschri e benen Einleitung zu den Grundrissen erklärt Marx , daß, obwohl das Kapital für seinen anhaltenden Kreislauf so
wohl der Produktion als auch der Distribution und des Austausches be darf, d iese nicht als »gleiche«, sonde rn aJs verschiedene »Momente«
e i n e s Kreislaufs zu denken sind ,. die in eine »Einheit«
eingegliedert [ar
ticuJated into] sind - eine Einheit, die ihre notwendigen Unterschiede nicht verwischt , sondern »in ih ren Unterschieden« zu »de nken « ist.
Und obwohl e s die »Produktion« ist, die l etztendlich den Gesamt-
#
Ausge-wlthlte Schriften
20
kreislauf determiniert , ist jedes einzelne >.>Moment� selbst determin ie rend , spielt seine notwen di ge , nicht-r,eduzierbare RaUe im Prozeß der Selbstverwertung des Kap itals und gehorcht seinen eigenen Existenz
be di ng unge n . Auch und vor allem das Verh ältni s d es
Öko nomische n
zum Pol i ti sche n mu ß beg riffli ch gefaßt werden als das Verhältni s zwei
er Momente, die durch ihre notwendigen Unterschiede und- Verschie bungen in eine Einh ei t eingeg l i edert sind . Von daher gibt es
keine not
wendige, unmittelbare Ents p rech ung zwischen der »ökonomischen« u nd de r
»
polit isch en « Kon s titu i erung der Klassen . Die Beg ri ffe , in
denen m a n d i ese
»
kom plexe Einheit« denken konnte, waren frei l i c h
noch zu entwicke1 n . Zweife ll os führte dies dazu , daß das Terrain de r weiteren Arbeit von Marx sich radikal von dem im
Man ifest unter
s c hied .
So wichtig es ist, die Grenze .zu markieren, d i e d i ejenige Phase de s
Marxschen Denkens, die i hren definitiven Ausdruck im Manifest fin
det, von seiner späteren En twickl u ng trennt, so wichtig i st es auch , un s an das zu erinnern , wa s w i r n icht preisg eben dürfen . Es wird erkenn bar, wenn wir das Manifest ein wen i g aus seiner unmittelbaren Umge bung herauslösen und seine »Fortschritte« im , wie ich es auszudrucken
versucht habe, »Licht des Kapitals« n eu bedenken . Nehmen wir er�
stens die Er kl äru n g , daß »die Geschichte aller bi sh erigen Gesellschaf
ten ( . . . ) die Ges chic hte von Klas senkämpfen (ist) « ; sie ist heute ein ebenso selbstverständl icher Bestand teil des Marxismus wie sie d a
mals, als sie zum ersten M a l vorgebrach t wurde, eine »aufsehenerre
gende These« war. Ohne sie ist der Marxi sm u s undenkbar. Die Beto
nung liegt h ie r fas t genauso stark auf >.>Klassen« wie auf »Kämpfe«. Die unmitte1 bar da rau ffolgende , knappe Entwicklung dieser These Freier und Sklave , Feudalherr und Le i beigener, Bourgeois und Prole
tarier - i st ein abso1ut n otwe nd iger Au s gangspu nkt , wenn au ch keine adäquate D arstellu ng der kom pl exen Klassenstrukturen der Produk
tionswei sen ' auf die sie sich j ewei ls beziehen . Die Vo rstellun g, daß »
d i e Menschen« zuerst biologische In d ividue n oder »nackte Indivi
duen« d er Ma r ktges el l s ch aft sind und s i ch erst da nn zu Klassen zusam
mens ch ließ en - Klasse als eine sozus agen sekundäre Form at i on
_ . ,
läßt sic h durch diesen Text oder durch irge nde inen späteren Text von
Marx nicht stützen . Dies deutet deshalb berei ts auf di e vielen späteren Passagen hin, in denen Marx den scheinbar natürHchen und sel bstve r
ständlichen Rekurs auf die »Individuen« als Basis ei n er Klas s en theor i e
en tthro nte .
Vom Standpu nk t des Marxismus si nd die Menschen stets durch das antagonistische Klassenverhältnis, i n da s sie h i neingeworfen werde n ,
Das ».politische« und das
»Ökonomische«
21
prä konstituiert. Historisch gesehen sind sie nie in ihrer unergründli chen und ei nzigartige n Individualität, sondern stets durch das »En semble der gesellschaftlichen Verhältnisse« artikuliert - das heißt als Träger des Klass enverhältnisses. Diese vorangegangene Konstituie
rung bringt unter spezifi schen Bedingungen al s Resultat ei n en spezifi schen Typ von In dividu alität h e rvor : das nach Besitz strebende Indivi
duum der bürgerlich en p o lit is chen Theorie, das' bedürftige Individu um der Marktgesell schaft, das Verträge schließende Individuum der Gesellsch aft der »freien Arbeit«. Außerhalb dieser Verhältnisse kann �s Individuum (dieser »Robinson Crusoe« der klassi schen poli tischen Okonomie, der selbstg enügsam in seiner Wel t l ebt, die nur vom Stand punkt »sein er« Bedürfn isse und Wünsche betrachtet wird), das der na türliche , enthistori sierte Ursprungsort der bürgerl ichen Gesellschaft und Theorie bild ete, in kei ner Weise einen theoretischen Ausgangs punkt bilden . Es ist nichts als die Zu samm n fa ssung vieler Bestim e mu ngen« . Die Geschichte seiner Produktion i st , wie Marx bemerkte, »in die An nalen der Menschheit eingesch ri eben mit Zügen von Blut . und Feuer« (M EW 23� 743) . Und weiter : »
l>�ie
Ges ellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Be· z�ehungen, Ver hä ltn is se aus, wo rin diese Individuen zueinander stehen. Als ob �I ner sagen wollte: Vom S tandpunkt der Gesell schaft aus existieren Sklaven und ci tIzens nicht: sind heide Menschen . Vielmehr s i nd sie das außer Gesellschaft . Skla ve s e i n un d citizen sein, sind geseIJschaftIiche Bestimmungen , Beziehungen der Men Schen A und B. Der Mensch A st als solcher nicht Sklave. Sklave ist er in der und durch die Gesell c s haft. « (Grundrisse, 176)
i
�
)J ie aUe seine Vorgänger, geht der kapitalistische Produktionsprozeß unter be sti m m ten mat eriell en Bedingu ngen vor sich,. die aber zugleich Träger bestimmter geseHschaftJ icher Verhältnisse sind, welche die Individuen im Prozeß ihrer Le· be,n sprodu ktion e inge h en . Jene Bedingungen , wie diese Verhältnis se, sind ejner� Voraussetzungen , andererseits Resultat und Schöpfu ngen des kapitalistischen Produktionspr ozesses ; sie werden von ihm produziert und reproduziert. « (MEW
se1ts
25,
827)
Diese Formul ieru ngen widersprechen allem, was sich als sozio l og i sch er »gesunder Menschenverstand« ü ber GesellschaftskIassen äu
ße rt - und ih re Ke rnau ssag- e i st impli z it bereits im Manifest vorhan d en . Wichtig ist zwei ten s die Prämisse, die Marx selbst als spri ngenden Punkt seines eigenen Beitrages sah (Man an Weydemeyer, 5.3.1852, Marx/EngeIs 1972) und die Marx und Engels in ih rem gemeinsamen Vo rwort zur deu ts chen Ausgabe des Manifestes von 1872 erneut be
kräftig ten :
»(. . . ), daß die Existenz der Klassen bloß 8.n bestimmte historische Entwicklungs phasen der Produktion gebunden ist« (ebd . , 59).
L
_I
Ausgewählte Schr.iften
22
Die Produktio nsbedingungen und -verhältnisse sowie ihre Spezifik in
verschiedenen Phasen der widersp rüchlich en Kap ital entw i cklu ng bil
den den gru ndlegenden und zentralen Rahmen der marxistischen Klas sentheo rie. D i e se Prämisse unterscheidet d en Marxismus als »wissen
schaftl iche« Theorie von aUen vorangegangen en und folgenden For
men des u top i schen Sozialismus. Von nun an war der K1assenkampf
nicht mehr l ä nge r eine moral ische Aussage ü ber die Unmenschlichkeit
des kapitalisti schen Systems, und die Zerstörung des Kap itali smus
wurde n i cht mehr J änger als bloßes Wü ns c h e n und Hoffen von au ß en
auf das System proj iziert.
So verstanden produzi ert und reproduziert sich der Kapitalismus
selbst
als eine antagonistische Struktur von Klassenverhältnissen ; er
spaltet die »Bevölkerung « unerbittlich wieder und w i eder in antagoni
stische Klassen . Man beachte aber gleichzeitig, daß es die Entwick lu ngsp h a sen in der Produktionsweise sind , die für eine m arx i s ti s che
Klassentheorie die notwendigen , wenn auch n icht hinreichenden Be
d i ng ungen bilden - es ist nicht » das Ökonomische« i m handgrei fl i
chen Sinne, das hier »determiniert«. Hier ist d i e Marxsche Th eor ie ab
solut ko ns istent : von den ersten Fo rmuli e rungen
über
die Deutsche
Ideologie bis zu m Schluß. Da ab er die Herrschaft des ges u nden , bür
gerlichen Alltagsbewußtseins derart mächtig ist und derart h artn äcki g
immer wieder aufs neue bis ins Herz der marxistischen Theorie selbst
vord ring t , soHten wir diesen Punkt nochmals klarstellen : Es s ind die ma ter i e l l e n u nd sozial en VerhäJtnisse, in denen die Menschen i h re ma
teriel len Existenzbedingungen p rodu z ieren und rep roduzi eren , die » determinierend« sind - wie, das b leib t zu kl ä ren . Die un g lei ch e Ver
teilung von ökonomischem Reichtum , Gütern und Macht , die d ie G ru nd lage für eine »sozio-ökonomische« Auffa s s u ng der »Gesell
schaftsklassen« bildet, ist für Marx n i cht die Basis, sondern das
tat
Resul
der vorausgegangenen Einteilung der Träger der kapitalistischen
Produktion in Klassen und ihre Einordnung in Klassenverhältnisse
sowie d ie vorangegangene Verteilung der P rod u kti on smi tte 1 zwischen »Eigentümern« und » En tei gneten« .
Auch die Vereinfachung der K1assen , eine Gru ndthese des
stes,
Manife
ist nicht ganz so s i mp el ,. wie sie aussieht . Das Arg u me nt , im Ka
pitalismus sei der Kampf Bourgeoisie versus Proletariat die grundle gende Fo rm des Klassenkampfes, bed eutet nicht - wie manchmal ge sagt w ird -, daß im
Manifest d i e Existenz
anderer Klassen und Klas
senfraktionen vernachlässigt wird . Tatsächlich findet sich ein summa
risches Urteil über das revol utionäre Potential , zu dem unter anderem
I
Das » Politische« und das »Ökonomische «
23
»die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann , der der Bauer« ebenso wie »das Lumpenproletariat« geh ö ren , von dem Marx niemals abweichen soUte. Was er sagt, ist, daß »VOn allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberste hen , ( . . . ) nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse (ist)« (MEW 4, 472 ). Eine problematische Aussage, die weiterer Analyse
Handwerker,
bedarf.
. Marx gründet seine Aussage auf der objektiven Stellung des Proleta
nats i nnerhalb einer Produktionsweise, die auf der Enteignung der
P�oduktionSmitte] und der Ausbeutung seiner Arbeitskraft beruht. In diesem S inne hat der Satz seine Gültigkeit: die revolutionäre Stellung es Proletariats ist durcp seine Verortung in e.iner bestimmten Produk t�onsweise »ge geben« (spezifiziert). Damit aber läßt sich das Proleta l at te ndenziell als ein homogenes und undifferenziertes »Klassensub � Jekt« auffasse n ein Subjekt, das eine Rolle in der Geschichte spielt, a er selbst keine eigene, innere, widersprüchliche Geschichte hat, zu nundest nicht in der kapitalistischen Epoche. Diese Prämisse, die von Marx später m odifIZiert wurde, muß von uns zurückgewiesen werden. n a n kan diese Passage freilich auch noch anders lesen, so, als be M haupte sie, daß, w eil das Proletariat in der ökonomisc hen Struktur der pitalistischen Produktion eine objektiv revolutionäre Stellung ein nUllm t , es deshalb auch u nd immer empirisch ein revolutionäres politi sches Bew ußtsei n und eine revolutionäre Form politischer Organisa
�
-
�
�
tion aufweis·en muß.
Diesen weiteren »Schritt« machte Lukacs in Ge Schich te und K lassenbewußtsein; und wo er anerkennen muß, daß die ses Proletariat sich »empirisch« nicht immer zu der ihm zugewiesenen emporschwingt , behandelt er sie »abstrakt«, als sei SIe ein ihm zuges chriebenes Schicksal - sein »poteßtielles BewuBt sei n« -, angesichts dessen die tatsächlichen, konkret historischen Di r v� genzen bloße zeitweilige Irrtümer sind. Von dieser Position au�.Iäßt 81Ch das für den Marxismus gewaltige historische Problem des »Oko
�ewußtseinsform
n o i smus«, des trade-unionistischen Bewußtseins und des Eingebun rn densein s der e s teu ropäi schen Arbeiterbewegungen in die Schranken des Sozialdemokratischen Reformismus nicht systematisch erklären. Damit kehren wir zu einer der entscheidendsten Schwächen des Mani
w
festes zurü ck, die in der einen oder anderen Fonn immer wieder im Text auftaUCht, eine Schwäche, die man jetzt zu sammenfa ssend kenn zeichnen kann ;
Das Manifest hat recht mit seiner (offenkundig und notwendig sche
matischen) Behandlung der ökonomischen Konstitution der Klassen im Rahmen der Entwicklungsphasen der Produktionsweise. . Aber es
L
Ausgewählte Schriften
24
hat fatale Mängel, wo die Beziehungen zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen systemati sch behandelt werden . Hier erhält man
entweder nur unbefri edigen de Antworten (z .B. , Politik und Ökonomie seien mehr oder weniger richtungsgleich, würden sich mehr oder we
niger »entsprechen«) , oder es bleibt eine Lücke stehen, die dann später immer wieder mit der fehlerhaften Abstraktion eines Lukacsschen Hi
storizismus gefüllt werden kann . Kurz, all das, was notwendig ist, um
die Spezifik des politischen Klassenkampfes und seine Beziehung zur
ökonomischen Sphäre zu denken - wovon unsere Fähigkeit, »das En
semble « als ein Ganzes zu erklären, ab hängt -, ist zu diesem Zeit
punkt im Mar xschen Denken als verwendbares begriffliches Instru
mentarium noch nicht vorhanden. Die »Entdeckung« dieser Begriffe
wurde geradezu erzwungen du rch die hi stori sche u n d pol iti sche Kon stellatio n , zu deren Erklärung sie benötigt wurde
-
den Zusammen
bruch der 1848er Revol u tion . Ihre klarste und gehaltvol1 ste Formulie
rung findet sich denn auch in den Schriften über Frankreich , eher flüchtig (und weniger befriedigend) in den Randbemerkungen zu Eng
land - Texte, die, ausgelöst durch die Niederlage der Revolution, i n einem Augenblick der theoretischen Reflexion und Klärung geschrie ben wurden. Hier befinden wir uns auf dem Boden wirkl icher Ent deckungen und eines revolutionären theoreti schen Durchbruchs. Di e ser Durchbruch findet zwar
»im
D enken« statt, läßt sich aber wohl
kaum angemessen als »epistemologisch« bezeichnen . Wir sind jedoch dem
Manifest, diesem Text
mit seiner blendenden
Oberfläche, noch nicht auf den Grund gegangen . Warum und wie habe n Marx und Engels sich diese »KJassenvereinfachung« als implizi ten Bestandteil der
sich entfalten den kapitalistischen Entw ickJung vor
gestell t (mit den entsprechend folgenschweren Konsequenzen ftir di e Entzifferung der Bewegungen des Klassenkampfes)?
II
Diese »Vereinfachung«
wird
durch den wach sen d en Umfang und die
steigende Stufenleiter der kapital istis chen Produktion hervo rgerufen .
Es ist n ütz li ch , die Umstände, die das Proletariat zunächst hervorbrin
gen , dann entfalten und s ch1 ießl ich alle Mittelschichten in seine wach
sen den Reihen treiben , kurz aufzulisten (vgL MEW 4 , 468f.) : a) di e
Formierung einer Klasse ohne Eigentum an den Produktionsmittei n t
die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen hat , den »Wechselfällen der Konkurrenz und allen Schwankungen des Marktes« ausgesetzt; b) die Arbeitsteil u ng als Folge der exten siv,en Anwendung von Ma schi nerie ,
die den Arbeiler »dequalifiziert« , ihn zum bloßen Zubehör der
Das »Politische« und das »Ökonomische«
25
Ma s chine degradiert; c) d ie wachsende Ausbeutung der Arbeitskraft, )}.S l. es du rch Ver mehrung der in einer gege bne n Zeit geforderten Ar belt, beschleunigten Lauf der Maschine usw. « ; d) die Zus.ame m nfas s ung der Arb eiterschaft »industrielle Annee« in der Fabrik unter d m Kommando von » Unteroffiz ieren und OffIZieren des Kapitals«; e) dIe En twe rtung der Arbeit durch die Senkung des Wertes der Arbeits kraft die Einstellung von Frauen und Kindern zu niedrigeren Löh nen ; f) die Ausli eferung der Klasse zur Ausbeutung auf dem Subsj
�
-
als
�
-
st�nzmittelmarkt durch den Hausbesitzer, den Krämer, den Pfand leI�er. In dies em Kontext steht g) die These, daß die untere Schicht des -
MIttel s tande s
schrittweise »ins Proletariat hinabfaIlt« - teilweise ve rlo re ne � Kampf gegen h) das konzentrierte Großkapital . DIe Mi ttelschic hten sind das, was Gramsci die »subalternen« Fraktio n en der M i tte lkla ssen nennen würde. Sie sind ihrem Wesen nach .kon� servati v und reaktionär, es sind diejenigen, die »suchen das Rad der Gesch ichte zurück zudrehen«. »Revolutionär« sind oder werden sie nur »im Hinbli ck auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat« . CMEW 4, 472) im Hinblick auf ihre »Proletarisierung« .
d�rch ihren
-
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß aUe diese rasch skiz ziert en Gedanken im 13. Kapite des ersten Bandes des Kapi tal , dem Kapi tel über »Maschinerie und große Industrie«, wieder auf . tau chen und dort ausführlich entwickelt werden. Die historische Bil d ung einer Klasse » ier Lohnarbeiter«, die nichts zu verkaufen hat als h re Arbeitskr aft und aus dem Geflecht der feudaIe.n Beziehungen hervorgega ngen ist, ist im Kapital beständiger Bezugspunkt als die »hi tor ische Basis« des Kapitals. Die zunehmende Reduktion des Arbei ters auf e in »Zube hör der Maschine« steht im Mittelpunkt der Marx s ehen Be schr eibu ng des Arbeitsprozesses und seiner qualitativen Un te rsch eid u ngen zwischen der Ph as e der »Maschinerie« und der der »großen Industrie« . D ie Beschreibung der wachsenden Ausbeutung der Arbei tskra ft deutet auf die wichtige Unterscheidung im Kapital ZWischen absol u tem (Verlängerung des Arbeitstages) und relativem Mehrwert (Zunahme der »toten« im Verhältnis zur »lebendigen« Ar
l
i
fre
s
beit) h in . Die DarsteUung der zunehmenden Hierarchisierung und des wach senden » Despoti smus( des Kapitals führt dann weiter zur Unter� sc he idu ng zwischen »formeUer« und »reeller« Subsumtion d er Arbeit.
Die » Entwertung« der qualifIZierten Arbei tskraft und d ie Bildung einer
»Reservearmee« sind zwei entscheidende, dem »tendenziellen Fan der Profitrate« »entgegenwirkende Ursachen« , die beide im ersten Band
d e s Kapital (z . B. in Kapitel 24) diskutiert werden und dann wieder im dritten B and, in dem die wachsenden Konzentrations- und Zentralii
L
Au sgewählte Schriften
26
sationsprozesse des Kapitals ausführlicher dargestellt sind. In diesem Kontext wird auch die Entstehung des »Gesamtarbeiters« beschrieben u nd zum ersten Mal auf die Ausbreitung der neuen Zwischenschichten
als Folge der sich entwickelnden Arbeitsteilung verwi esen , da das alte
Kleinbürgertum und seine materiel1e Basis in »Klein«- und Handelska
pital zerfalle n . Im Rahmen dieser ausführlichen theoretischen Darstel
lung wird die Skizze im Manifest, die kaum mehr als einen Hinweis
darauf enthält, wie die kapitalistische Produktion die Grundlage für diese Bildung und Neugruppierung der Klassen bildet,
erweitert und
transformiert . Wir müssen also wiederum die für die Entwicklung
einer Theorie der Klassen not wendi ge n Kontinuitäten und Brüche be achten .
Die von Marx im Kapital verwan dten Formulierungen , dort, wo er die allge meine Tendenz der g .anzen Entwicklung - in konzentrierter Form - darstellen wi1 1 , sin d denen , die er im Manifest anwendet, a uf
fallend ähnlich . Man braucht sich nur dem zusammenfassenden Über
blick in dem kurzen Abschnitt über die »Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation« im 24 . Kapitel des ersten B and es zu zuwenden , um die vertrauten Sätze erneut zu h ören :
»Auf einem gewi ssen Höhegrad b ring t sie d ie materiellen Mittel ihrer eignen Ver
nichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im GeseHschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen .
C . . ) Sobald dieser
Umwandl ung sprozeß nach Tiefe und Umfang die alte Gesel l schaft h inreichend rer setzt hat, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital
verwandelt sind , sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit ( . . . ) eine neue Fonn. ( . . . )
Diese E xpropri atio n vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der ka pitalis t i schen Produktion selbst, d urch die Zentralisation der Kapitale. ( . . . ) Hand
in Hand mit dieser Zentralisation oder Expropriation vieler Kapitalisten durch we nige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets W'd.chsen der Stufenleiter, die bewußte tech n ische Anwendung der Wissenschaft, die plan mäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemein sam verwendbare Arbeitsm ittel , die Ökonomisierung aller Produktionsmi ttel
durch ih ren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Ar beit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts
( . . . )« Damit zu
gl e ich aber »wächst ( . . . ) auch d ie Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschu lten,
ve rei nten und organ i s ierten Arbeiterklasse.« (MEW 23. 789ff. )
Das ist das Echo, die »Stimme« de s Manifestes im
Kapital. Aber neben
dieses Resümee müssen wir die Einzelheiten setzen; mehr noc11, wir müssen uns die Methode ansehen, mit de r die einfache Skizze im Ma
nifest in die Ausdrücke und Begriffe der im Kflpital darges teU ten Un
tersuchung übersetzt wird. Ein »Lesen« des Textes, das den Gehalt die ser theoretiSChen Transformation im einzelnen nachweisen könnte, ist
Das »Politische« und das »Ökonomische« i
27
Rahmen dieses Artikel s unmöglic h . Aber anband von einigen Bei spIelen läßt sich zeigen , wie der im Manifest skizzi erte Prozeß - der dort größtenteil s als eine l ineare Entwicklung konzipiert ist, die sich durch die Beschleuni gung des Klassenkampfes zuspitzt - in s einer Um arbeitu ng im Ka ital durch die konsequente Anwendung der Kon p zeption des Wider spruchs und durch ein dialektisches Entwicklungs
�
denken von
Grund auf transformiert wird.
Zwei Beispiele sol lten ausreichen . Im e te n Unterabschnitt des 13. Kapitels markiert Marx den tech ni schen Unterschied zwischen einer se ts der Natur der Arbeitswerkzeuge (und der daraus folgenden Ar ltste ilu ng im Arbeitsprozeß selbst) , durch die die erste Phase der ka
�
�
�
PItal is tischen En twicklung - die Maschinenära - gekennzeichnet ist,
und an dere rseits der weiteren qualitativen Entwicklung - der des Ma
sch inensystems -, i n dem nicht der Arbeiter die Maschinen , sondern umgekeh rt, die Ma schinen den Arbeiter »anwenden«, charakteristisch
für die Phase der »großen Industrie«. Im vierten Unterabschnitt über » Die Fabrik« untersucht Marx dann die vielfältigen und widerspcüchli c?en Au sw i rkungen dieses Übergangs auf die materielle Basis des Ka Ita li s P mus . Er erläutert unter anderem die ZerJegung der traditionellen Qu ali fi katio nen der A rbeiterklasse, die zunehmend auf die Maschinen selbst » übergehen« - an dieser SteHe spri cht er von der »Tendenz der Gl ei chmac herei oder Ni vel lierung der Arbeiten« (442). Das hat unmi t te lbare Ausw irkungen auf die gesellschaftliche Organisation der Pro
dukti on : Sie zieht eine Neuglie erung der Produktion in »Hauptarbei d ter« und »bloße Handlanger« nach sich, und parallel dazu entsteh t eine
neue »höhere, teils wissenschaftlich gebildete ( . . . ) Arbeiterklasse«, di e »mit der Kontr oHe der gesamten Ma schinerie und ihrer beständi
gen Reparatu r besch ft ä igt ist«
(443) .
. Wo di e Maschinerie die Organi sati on des Arbeitsprozesses zu dik beren beginnt. bringt sie weitere widerspruch1 iche Entwicklungen he rvor : die leich tere Ersetzbarkeit e ine r Arbeiterschaft d urch ei ne an dere; die Einfü hrung des kontinuierlichen Produktionsprozesses und de s Sch ic h tsyst ems (des »Relaissystems«) ; die Entwertung der Arbeits kraft und die Erosion der traditionellen Qualifikationen, die aus einer frÜheren Arb eitsteilung stammen - »traditionelle Gewohnheiten« Werden j etzt » system atis h umgeformt« . Die Einverleibung des Arbei c
ters i n die Maschine, das systematische »Auspumpen« der lebendigen Arbeit durch die tote Arbeit schreitet in einem enormen Tempo fort:
)�Das Detai lgesch ick des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters versc hw indet als ein w inzig Nebending vor der Wissenschaft, d�n geheuren Natu rkräften und der gesellschaftJichen MassenarbeIt, dIe
u�
Ausgewählte Schriften
28
im Masc hin en system ve rkörpert sind« (446) . Und auc h das hat weitere
Konsequenzen für die Arbei tsdis zi pl i n , die Hierarchie und das Kom
mando über die Arbeit - d i e Sp altu ng der A rbei te r in »Handarbeiter und Arbeitsaufseher« (in �)gemeine Industriesoldaten und Industrieof fiziere«, 447) u nd für die Verwaltu ng eines differenzierteren un d auf Zwang beruhenden Fabriksystems. Dr. Andrew Ure selbst, der »Poet«
der g roßen Industrie, sah , wie die Revolutionierung der Produktions
mittel die Wegn ahme aller Arbeiten , welche spezifische Qualifikatio nen u nd ein spezifisches Geschick ver langten , aus den » Annen d e s zu ge sc h i ckten und oft zu Unreg el m äß i gkei te n aller Art geneigten Arbei ters« und »ihre Verlageru ng auf einen sich selbst regulierenden M ech a nismus« , den sogar ein Kind üb erwach en kann , ebenso erforderte wie ermöglichte. Auf diese Weise hatte die »techni sche« Revol uti onieru ng der Arbeitsmittel unerwartete Auswirkungen auf di e Regul ierung der Arbeit� die U nterdrückung von Streiks u nd anderen ;>periodischen Ar beiteraufständen« gegen die Lebensbedingungen (456, 459) . U nd er neut mit den Worten von Ure konstatiert Marx , »daß d a s Kapital , i ndem es die Wisse n schaft in seinen Dienst preß t, stets die rebellische Hand der Arbeit zur Ge1eh rigkdt zwingt« (460) . Schon in diesem Abschnitt können wir sehen , wie das, was im Mani fest al s einfacher Antagonismus erscheint, hier zu einem komp l exe n und widersprüchlichen Antagonismus verknüpft ist: no twendige Be d i ng u nge n erweisen s i ch als ni cht in te nd i e rte Effekte, die selbst wie derum widersprüchliche Ausw irkungen haben; Au swi rkungen auf Eb en e n , an die man nicht gedacht hatte ; Tendenzen, d i e sofort von ihrem Gege nte il durchkreuzt werden ; Fortschritte, di e an a nderer Stel le zu Rüc ksc hri tten werden . Vor all em aber i s t das das Proletariat, das in dem früheren Text als eine we sentli ch h om ogen e Kraft vorge s tell t wurde, nunmehr sel b s t dauernd und unablässig d e n Ei nwi rkungen d er w i de rs prü ch lichen Kap i talgesetze ausgesetzt, wird umdefiniert, reor gani s i ert und umgeformt. Bereits i m Manifest hat te Man vorausgese hen, wie die wac hse n de Ve rei nhe i t l i chun g des Proletariats u nter den Bedi ngung e n der Fabrikarbeit beständig durch die tendenzielle »Kon kurrenz der Arbeite r unterei nander« durchbrochen wird . Aber nur, we n n wir d e n Entwicklungsprozeß, der zu r Grun dl age der wachsen den Vereinh eit lichun g wird , genauer untersuchen , können wir verstehen , warum das Kapital not wendig beides hervo rb ri ngt : die Tendenz zur Vermassung und »Vereinfachung« der Arbeit und, ge nau so »notwen dig« , die Tendenz zur innere n Spaltung in g el ernte und u ngel ernte Ar beiterInnen , die Vertei l ung der Qaulifikationen au f verschiedene Pro d u ktio n sz weig e von denen die »g roße Indu stri e « ungleichmiißig Be si tz .
Das ",Politische« und das »Ökonomische«
29
er�rei ft und sie ungleichmäßig transformiert.
Und wir können sehen, WIe durch die »Entwertung« der traditionellen Arbeitskraft auf Grund der massenhaften Ein stel lung von Frauen und Kindern (eine Entwick lung , die ausschließlich durch die Revolut ionierung des Arbeitsprozes
se s selbst mögli ch wurde) eine Gruppe von Arbeitskrä ften gegen die andere gestellt und ein weiterer Widerspruch eingeführt wird : »die na türlichen Unterschiede des Alters und Geschlechts«, das heißt die Ein
führung der geschlechts spezifischen Arbeitsteilung in die gesell schaft l ich e Arbeitsteilung ; und wieso das Kapital dazu in der Lage ist, diese nenen Formen der Arbeitsteilung (oder die parallel dazu verlaufende zwi schen Aufsehern , der »qualifizierteren Arbeiterklasse«, und Ma SChinenarbeitern) zu seinem Vorteil zu nutzen. Kurz, wie die Produk ti on zweier gegensätzlicher Tendenzen in der widersprüc hlichen Ent
wicklung des Kapitals jeder simplen Vorstellung von dem »zwangsläu figen Zus ammenhalt des Proletariats« zuwiderläuft und statt dessen die wirkliche Realisierung dieses Zusammenhalts unter den historisch
neuen Bedingungen der kapitalistischen Organisation auf die Tages ordnung setzt. Ein fü r Form und Charakter des Klassenkampfes unter den moder nen P roduktionsbedingungen absolut zentrales Element findet sich be
reits in der folgenden , scheinbar
e i nfa che n
Bemerkung:
»Soweit in der automatischen Fabrik die Teilu ng der Arbeit wiedererscheint, ist sie Zunächst Verteilung von Arbeitern unter die spezialisierten Maschinen und . von Ar
beite rmassen, die jedoch keine geg liederten Gruppen bllden, unter die verschied n en Departements der Fabrik, wo sie an nebeneinander ger:eihten gleichartigen Werkzeugmaschinen arbeiten , also n ur einfache Kooperation unter ihnen stattfin det . Die gegliede rte Gruppe der Manufaktur ist ersetzt durch den Zusammenhang des Hauptarbeiters mit wenigen Gehilfen. « (442f.)
Diese Tendenz bringt die andere nicht zum Verschwinden - sie berei tet sowohl die wachsende Basis für die »Vergesellschaftung der Arbeit«
als auch für die technische Abhängigke it der verschiedenen kapitali sti Schen Produktionszweige voneinander, und sie ist die gesellschaftliche
Gru ndl age für die Bildung des modernen Proletariats. Die Entwick Jung des ;Kapital is mu s reproduziert beide Tendenzen zugleich : Indem das Kapital , kurz gesagt, seine »wch n ischen i( Grenzen hinter sich läßt,
indem es eine der materiell en Schranken überwindet , die seiner revo lutioni erend en Selbstexpansio n i m Wege stehen , produziert es neue Widerspruche auf einer höheren Entwicklungsstufe. Sein Fortschrei
ten i st - ganz im Gegen satz zum Haupteindruck, den das Manifest vennittelt - im vollen Sinne dialektisch. Da s läßt sich auch an einer anderen Stelle zeigen, an der ebenfalls ei.n sch einbar direktes »Echo« aus dem Manifest widerhallt. Im Manifest
.
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30
Ausgewählte Schriften
erwähnt Marx die beiden »Wege«, die dem Kapital offen steh en - Ver längerung des Arbeitstages und »Vermehrung de r i n ei ner geg ebenen Zeit gefo rderten Arbei t , be schleuni gter Lauf der Maschinen u sw. « (MEW 4, 469) In einem anderen Zusammenhang erwähnt er auch die
wachse nde politische Stärke des Proletar i a ts - »sie entsteht immer
wi eder, stärker, fester, mächtiger« (471) -, die die Anerkennung »ein
zelner Interess,en der Arbeiter« erzwingt; in diesem Kontext führt er dann die Zehnstundenbill in EngJand an . Wieder i st n ich t zu überse hen , welche tiefe und dur chgehe nd e Transformation diese Vorstellun
gen e rfahren haben , wenn sie im Kapital wiede r auftauchen . Die er
weiterte Anwendung von Maschinen hat eine Zunahme der Arbeits
produktivität zur Folge - »Verkürzung der fü r die Produkti o n einer Wa re notwendigen Arbeitszeit« . Sie hat aber auch zur Folge, daß der Widerstand der Arbeiter gegen die Verlängerung de s A rbe itstages ab nimmt. Hier ent5teh t sofort ein Widerspruch , da die Maschinerie, »indem sie von den beiden Faktoren des Mehrwerts, den ein Kapita] von gegebener Größe liefert, den einen Faktor, die Rate des Mehr
werts, nur dadurch vergrößert, daß sie den andren Faktor, die Arbei terzahl verkleinert« ( ME W 23, 429) . Diese Wirkungen sind daher ebenso widersprüchlich w ie »unbewußt« (Fn. 153, 430) . Wenn d i e Ma
schinerie den Arbeitstag verlängert , »die Arbeitsweise selbst wie den C harakter des gesell s chaftlich en Arbei tskörpers in einer Art umwäl zt 1
die den Widerstand gegen di e se Tendenz bricht . produzi ert sie andrer seits, teils durch Einstellung dem Kapital früh er unzugän gli cher Schichten der Arbeiterklasse, teils durch F reise tzung der von der Ma
schine verdrängten Arbeiter, eine überflüssige Arbeiterpopulation«( . (430) Diese schrankenlose Ausb eutu ng der Arbeitskraft ruft i n Teilen
der herrschenden Klasse »ein e Reaktion« hervor, die zur »Spal tung der
Bourgeoisie selbst« fü h rt , eine Spaltung, die die A rbei ter in i hrem Kampf au snutzen , indem sie die Fabrikgesetzgebung mit der gesetzli
ch en Beschränkung des Arbeitstages erzwingen . Ferner erwähnt Marx , daß die Kapi tal isten diese Begrenzung pol i ti sch ve hement be
kämpften ; sie erklärten , die Produktion sei unter diesen Umständen »u nmög l ich« . Aber es war genau der Zwang zur Begrenzu ng, zu der » die anschwe l lend e Empörung der A rbei terkl a s se den Staat zwang« (432) , der das Kapital dann dazu antrieb, »durch gesteigerte Produk
tivkraft der Arbei t den Arbeiter zu befahigen, mit derselben Arbeits ausgabe in derselben Zeit mehr zu produ zi e ren« (432) . Damit über
die schritt das Kapital - in untersch iedli c her Weise und ungeplant entscheidend e Schwelle von der Ä ra des a bsoluten zur Ä ra des relati ven Mehrwerts.
Das »Politische«( und das »Ökonomische«
31
Die Auswirkungen sind ungeheuer : E rhöhung der organi schen Zu sammensetzung des Kapitals; Senkung des Wertanteils in jeder einzel nen Ware; Intensivierung des Arbeitsprozesses ; »dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit« (432); »erhöh te Anspannung der Arbeits kraft« (ebd . ); Beschleunigu ng de s Produktionsprozesses; gewaltiger Anreiz zum technischen Fortschritt und zur Anwendung der Wissen schaft als materieller Produ k v r ti k aft ; die Vorteile, die die rrschaft
He
der » Regel mäßigkeit, Gle i chförmig kei t, Ordnung und Kontinuität der Arbe it« fü r das System der Kontrolle hat. Soweit nur der Aus Wirkungen, wie Marx sie beschrei bt. 1858, hält Marx fest, berichtete
einige
der Fabrikinspektor: »Die großen in Maschinen jeder Art eingefüh n rte Ver beßrungen haben die Produktivkraft sehr gesteigert. Ohne allen Zweifel gab die Verkürzung d es Arbeitstags C ) den Smchel zu diesen Ve rbeßrungen. « (438) Am Ende des 13. Kapitels kehrt Marx zu den Au swirku ngen der um di lahrhundertmi tte verabschiedeten Fabrikge e . . •
�etzgehu ng zurück;. hier beschäftigt er sich ausführlich sowohl mit
Ihren technischen als auch mit ihren sozialen Folgen (Erziehu ng, Kin der, Fami l ie) . Was also im Manifest als eine einfache Abkoppelung der Ebene der Produktionsweise von der des pol itischen Kampfes er sc heint. wird hier in eine widersprüchliche »Einheit« zusanimenge bracht: eine Einheit , die zeigt, wie, während sich das Wertgesetz durchs etzt , das Kapital b li nd und unhewußt voranschreitet, wie es ge ZWu ngen ist, sich weiterzuentwickeln, indem es seine eigenen selbst gese tzten Grenzen un Schranken durchbricht; wie sein »politisches« d Bewuß tsein oftmals von seinem inneren Trieb und seinen inneren Not wendigkeiten abweicht. Damit ist die Regenerationsfähigkeit des Kapi tal s sehr ansc haulich besch rieben : Wie es permanent dazu gezwu ngen ist, sei ne eigenen widers üchlichen Impulse mit sozialen und ökono pr mischen Organisationsformen zu verknüpfen, die es zum Vorteil seiner eigenen »Logik« entsprechend zurechtbiegen kann . Damit zeigt sich au ch , wie das Kapital, um die Interess engegensätze innerhalb der eige nen Reihen zu mei stern - vor allem aber auch, um jene »spezifischen« Fortschritte, die die Arbeiterklasse ihm aufzwingen kann , im Rahmen seines Systems zu halten und unter KontroHe zu bringen -, ein anderes Repertoire entwickelt : es entdeckt neue »Lösungen«: In diesem Kapitel verabschiedet sich Marx entschieden von jeder Vorstellung,. die die »Logik des Kapital s« als ein simples , gradliniges , funktionales -sicb Entfalten« sieht, oder als etwas, das von der »Logik des Klassenkamp fes« zu trennen sei, als handele es sich um zwei unverbundene Fäden . Aus dieser historisch-analytischen Darstellung löst Marx den fruchtbaren theoretis c hen Keim heraus, um ihn im folgenden Kapitel
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Ausgewählte Schriften
32
in einer theoretisch »reineren« Form zu entwickeln : die »Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts« . Die gesamte Entwicklungs tendenz wird knapp und präzise zusammengefaßt:
,.Die Verallgemeinerung der Fabrikgesetzgebung als physisches und geistiges
Schutzmittel der Arbeiterklasse« - das Ergebnis eines unmittelbar politischen
Kampfes - ,.verallgemeinert u nd beschleunigt ( . . . ) die Verwandlung zerstreuter Arbeitsprozesse auf Zwergrnaß stab in ko mb i nie rte Arbeitsprozesse ( . . . ), also die Konzentration des Kapitals
u nd die Al1einherrschaft des Fabrikregimes . « (525f.)
»Sie zerstört alle altertümlichen und Übergangsformen , wohinter sich die Herr schaft des Kapitals noch teilweise versteckt, und ersetzt sie durch seine direkte, UD
verhü1lte Herrschaft. Sie verallgemeinert damit auch den direkten Kampf gegen diese Herrschaft . «
(526)
Sie ,erzwingt Gleichformigkeit, Regelmäßigkeit, Ordnung und Ökono mie, spornt zu tech nischen Innovationen an und steigert damit auch die
Intensität der Arbeit und die »Konkurrenz der Maschinerie mit dem Arbeiter« (ebd . ) . Sie zerstört die materielle Basis des Kleinbetriebes und der häuslichen Produktion. »Mit den materiellen Bedingungen und der gesellschaftlichen Kombination des Produktionsprozesses reift sie die Widersp ruche und Antagonismen seiner kapitalistischen Form�� (ebd . ) . Wenn dies auss ieht wie eine in letzter M i nute erfolgte
Rückkehr zum Manifest� dann nur, weil der widersprüchliche� doppel te Druck der kapitalistischen Entwicklung und sein ihm innewohnen des antagonistisches Wesen den Kern in beiden Konzepten ausmacht.
Der Fluchtpunkt &pital zeigt, daß die sogenannte »Vereinfachung der Klassen und des Klassenkampfes« - oder das, was wir jetzt die kom plexe Vereinfachung der Klassen und die Logik des Klassenkampfes in
nerhalb der »Logik« der historischen Entwicklung des Kapitals nennen müssen - vollständig und unwiderruflich transformiert wurde. Was die marxistische »Klassentheorie« angeht , haben wir damit e in ganz neues Terrain betreten . In
Wie wir gesehen haben , ist das Verhältnis zwischen dem ökonomi schen und dem politischen Aspekt des Klassenkampfes einer der wich tigen Punkte, die im Manifest nicht zufriedenstellend geklärt werden. Marx fragt tatsächlich nach der »Organisation der Proletarier zur Klas
se, und damit zur politischen Partei« (MEW 4, 471) - als seien die po litischen Aspekte nur eine fortgeschrittenere Form des »Ökonomi schen« , als bedürften sie keinerlei begrifflicher Veränderung oder Ausweitung des theoretischen Rahmens. In der Deutschen Ideologie sagt Marx über die Kapitalistenklasse, daß »die einzelnen Individuen nur i n sofern eine Klasse (bilden) , als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben ; im übrigen stehen sie
Das » Politische« und das
»Ökonomische«
33
einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber. « (MEW 3, 54) Im Elend der Philosophie bezeichnet Marx den utopi schen Sozialismus als typisch für eine Zeit, in der »das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituieren und daher der Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie noch keinen politischen Charakter trägt« (MEW 4, 143) . Er nennt das Proletariat »diese Masse« , die bereits als Klasse im Gegensatz zum Kapital steht ,
aber noch keine »Klasse für sich« ist. Im Achtzehnten Brumaire schreibt Marx : ,.Insofem Millionen von Familien unter ökonomischen Exisrenzbedingungen leben , die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenübersteJlen, bilden sie ein Klasse. Inso fern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauem besteht , die Diesel bigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihre Klasseninteressen im eigenen Namen ( . . . ) geltend zu machen . «
(M E W 8, 198) 1871 schrieb Man in einem Brief a n Friedrich Bolte, der wiederum die Frage der Fabrikgesetzgebung berührte: »Das political movement der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Erobnmg der political power für sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem ge
wissen Punkt entwickelte previous organisation der working dass nötig, die aus ihren ökonomischen Kämpfen selbst erwächst. Andrerseits i st aber jede Bewegung, worin die A rbeiterklasse als Klasse den herr schenden Klassen gegenübertritt und sie durch pressure from without zu zwingen
sucht, ein pol itical movement.
Z.B. der Versuch ,
in einer einzelnen Fabrik od er in
ei nem einzelnen Gewerk durch strikes elc. von den einzelnen Kapitalisten eine BeM
schränkung der Arbeitszeit
zu
erzwingen, ist eine rein ökonomische Bewegung;
dagegen die Bewegung, ein Achtstunden-etc.
Gesetz zu erzwingen,
ist eine politi
sche Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonomi� sehen Bewegu ngen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, das heißt eine Bewegung d er Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form. in einer Form, die allgemeine gesellschaft1 ich zwingende
Kraft besitzt.
Wenn
diese
Bewegungen eine gewisse prev ious Organisation unterstellen, sind sie ihrerseits ebensosehr Mittel der Entwicklung dieser Organisation. « (MEW 33,
332f.)
Marx ging es hier darum, bestimmte Beschlüsse des Generalrats der Internationale, dessen Statuten er formuliert hatte, zu klär en . Wenige Tage später schrieb Engels mit einer ähnlichen Absicht in der Thriner Zeitschrift
»{ . . .) d aß die
11 Proletario Italiano : ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse der große Endzweck
ist, dem jede politische Bewegung, als Mittel, unterzuordnen ist . ( . . . ) daß in dem streitenden Stand der Arbeiterklasse ihre ökonomische Bewegung und ihre politi sche Betätigung untrennbar verbunden sind . « (MEW 17, 468f.)
Marx und Engels überdenken hier also genau das, was sie i m Man ifest zu vereinfacht skizziert hatten : die notwendigen Verschiebungen und
die Konstellationen im Verhältnis zwischen 'den politischen und den
.. .
I. :
Ausgewählte Schriften
34
ökonomischen Formen des Klassenkampfes. Die Zeitspanne, die da zwischen liegt, ist ziemlich lang
vom Elend der Philosophie bis zur
Pariser Kommune, ein Zeitraum, in dem das Marxsche Nachdenken über dieses entscheidende Thema » weiteren Schwa nku ngen« - wie
Poulantzas (1973, 58) es genannt hat - unterlag. » Diese 'Schwankun gen' sind sorgfältig zu betrachten . Die in dem obigen Zitat aus dem Elend der Philosophie gezogene Unterscheidung zwischen Klasse »an sich« und Klasse )}für sich« er starrte später zu einer Art Standardformel . Sie setzt das Ökonomische und Politische auf falsche Wei se ins Verhältnis. Sie unterstellt , daß es eines Tages einen Moment geben könnte, in dem das ganze Proletariat das revolutionäre Klassenbewußtsein entwickelt haben wird, das ihm durch eine gegebene., ökonomisch-objektive Bestimmung vorgeschrie ben ist; und daß man überhaupt erst dann von einer Etistenz der Klasse auf der Ebene des politischen Kampfes sprechen kann. Wir haben be reits zuvor auf die Schwächen dieser säuberlichen Aufspaltung hinge wiesen : einer Aufspaltung , die den »politischen Klassenkampf« aus schließlich für diesen Moment erfüllten Bewußtseins zu reservieren scheint; die dieses Bewußtsein zu direkt aus der ökonomischen Deter miniertheit der Klassen ableitet; die das Erlangen einer »autonomen« Form von Klassenbewußtsein zum ei nzigen Prüfstein der politischen Existenz einer Klasse macht und die Klassen als einheitliche hi stori sche Subj ekte faßt . D i e U nt ersc h ei d u ng zwischen »an sich / für sich « ist dann nützlich ,
wenn unterschiedliche �1omente und Formen des Klassenbewußtseins definiert werden sollen, und viellei cht sogar dann , wenn man in ganz großen Zügen die Entwicklung weg von einer »korporativen(� Form des Klassenkampfes markieren will . Dann müßten wir aber eine gelegent l iche Äußerung von Marx in einer Weise weiterentwickeln , die mit der Stoßrichtung dieses Passus im Widerstreit läge. Denn die Unterschei dung zwis·chen »korporativ« und dem , was Marx später einen Kampf nennt , der eine »allgemeine, gesellschaftliche zwingende Kraft be sitzt« (MEW 33, 333) ist keine Unterscheidung zwischen der Anwe senheit oder Abwesenheit von politischen Kämpfen und der »entspre chenden« Form von Klassenbewußtsein, sondern das genaue Gegen tei l : eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Formen des
Klassenkampfes, zwei Arten von KJassenbewußtsein, von denen jedes
seine eigenen determinierenden Bedingungen hat , die in den mate rienen Verhältnissen der Klassen im Kapitalismu s begründet sind.
Wie Marx und Engels geseh en h aben - und wie Lenin noch genauer ausführte -, hat der Reformismus der Arbeiterklasse, das »trade-
Das »Politische« und das » Ökonomische«
35
unionistische Bewußtsein« (oder was Lenin in ßbs tun ? die »bürger liche Politik der Arbeiterklasse« nannte (LW 5, 452]) , seine eigenen Existenzbedingungen, seine eigene materielle Basis in der ökono mischen Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Es ist keineswegs eine Ebene oder Form des Klassenkampfes sozusagen »unterhalb« des pl it i schen Horizontes ; m an könnte eher sagen, daß es die natürliche - oder wie Lenin es nannte, die »spontane« - Form des Kampfes der Arbeiterklasse ist, und dann, wenn es keine Mittel gibt,. diesen Kampf auf eine »allgemeinere« Ebene zu heben. Wie solche Bedingungen allerdings aussehen, und wodurch die Formen des ökonomischen und politischen Kampfes auf ihre »allgemeinere« Ebene gehoben werden könnten,. das ist in der Unterscheidung »an sich/für sich« nicht erfaßt .
o
Brief an Bolte hat einen ganz anderen Ansatzpunkt. Hinter der Formulierung »die Erobrung der political power« (MEW 33, 333) durch die Arbeiterklasse steht die MacGche Überzeugung, daß die po litische Macht des von der Bourgeoisie errichteten Staates gebrochen werden müsse; und seine Betonung der »Diktatur des Proletariats«, die aus seiner Analyse der Pariser Kommune stammte, erhielt im Bürger krieg in Frankreich konkrete Gestalt. Aber noch interessanter ist, daß d ie Begriffe »ökonomisch« und »politisch« hier offenbar dazu ver wandt werden,. um zu kennzeichnen, wo der Klassenkampf in jeder spez i fische n Konstellation sich jeweils auswirkt. Die Org anisierung des Proletariats in der Produktion, zur Abwehr von Versuchen des Ka pitals, die Ausbeutung durch die Verlängerung des Arbeitstages zu in tensivieren, wird als eine »ökonomische Bewegung« definiert, wäh rend Versuche, das Gesetz über die Beschränkung des Arbeitstages zu verändern (deren Adressat daher der bürgerliche Staat selbst sein muß) , eine »politische Bewegung« konstituieren. Hier wird alles in eine konkrete, historisch-spezifische Situation übersetzt, in der der Klassenkampf »wirksam wird«. Es fehlt jede Spur von Automatismus, wo über die Bewegung von einer Ebene zur anderen gesprochen wird . In allen diesen Zitaten wird die Frage auf die Tagesordnung gesetzt, unter welchen weiteren Bedingungen - und in welchen Formen - die antagonistischen Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Produk tionsweise auf die Bühne der Politik treten und die jeweils entsprechen de Wirkung haben können . Dje Begriffe, die es uns ermöglichen, die Quellen und die Mechanismen der »relativen Autonomie« der politi schen Ebene des Klassenkampfes im Verhältnis zur ökonomischen zu begreifen, finden wir vor allem i n Klassenkampfe in Frankreich und im Der
Achtzehnten Brumaire.
' i : .' ;
,
Ausgewählte Schriften
36
Die ersten Kapitel der Klossenkämpfe wurden unmittelbar nach
1848
geschrieben . Obwohl Marx bereits hier davon überzeugt war, das Pro
letariat sei noch nicht »reif« , zum Sieg, konzentriert sich dieser Teil
der Analyse darauf, wie die bürgerlichen politischen Kräfte d u rch ihre eigenen inneren Widerspruche dazu getrieben werden , die Basis ihrer » reifen« politischen Herrschaft
das allgemeine Männerwahlrecht
zu zerstören und sich in der Folge vor der einzigen Alternative wieder finden: Rückzug unter den Schutz von Napoleons Bajonetten oder pro l etarische Revolution. Das letzte Kapitel wurde jedoch später entwor fen und veröffentlicht; sein Wechsel der Perspektive markiert einen zentralen und unumkehrbaren » Einschnitt« , den Fembach den »viel leicht wichtigsten (Einschnitt) seiner gesamten politischen Arbeit als
Kommunist« bezeichnet . Den Kern dieses Einschnitts hat Gwyn Wil Harns so zusammengefaßt : »Im Sommer
1850
kehrte Man zu seinen ökonomischen Studien zurück, die ihn
v iel e Jahre lang im British Museum u ntertauchen l i eßen. Er kam zu dem
daß der Revol utionskreis von 1848 durch eine spezifische Krise der
Schluß.
neuen kapital i
stischen Gesellschaft in Gang gesetzt worden war (. . . ) , daß die Rückkehr zum
Wachstum eine neue Welle von Revolutionen extrem u nwahrscheinlich machte, u nd , wichtiger noch, daß eine proletarische Revolution auf dem Kontinent so l ange unmöglich sei . wie sich die kapitalistische Ökonomie und die kapi tal istischen Pro duktionsverhäl tnisse nicht viel vollständiger entfaltet hätten. (. . . ) Seine neue Per spektive gründete sich auf ei ne bedeutend reichhaltigere, die Strukturen mehr ins Zentrum ruckende Analyse, die dann siebzehn Jahre später im Kapital ihren Höhe
punkt erreichen sollte. « (1976, 112)
Der Unterschied zu den Ausführungen im Manifest
-
wohl am klar
s ten ersichtUch in der Analyse, die Marx im Achtzehnten Brumaire bi e
tet - liegt nicht dari n , daß nunmehr die »Politik« auf Kosten der »ob j ektiven Bedingungen« , d i e durch den Entwicklungsstand der Produk tivkräfte und der Produktionsverhältnisse im Kapitalismus bestimmt
sind, hervorgehoben wird . Das Gegenteil ist der Fall . Die objektiven
Detenninationen und die Schranken dafür, welche Lösungen auf poli tischer Ebene »möglich« sind und welche nicht, werden in den späte
ren Arbeiten weitau s rigoroser formuliert, zusammenhängender erfaßt
und systematischer zur Geltung gebracht als in den früheren Texten .
Die Herausarbeitung des »praktischen Begri ffs� des Politischen , für die der Achtzehnte Brumaire zu Recht berühmt ist, wird durchgehend strukturiert von der Bedeutung, die Marx der »Determiniertheil« der politischen Entscheidungen durch die objektiven Bedingungen gibt . An dieser S telle bricht Marx mit der Annahme, die bei den Ebenen
würden einander genau entsprech en
,
so daß die Formen und Inhalte
der einen vollständig im Rahmen der Bedingungen und Schranken der anderen gegeben seien . Indern Marx die Formen , die der K1assen-
Das »Politische« und das »Ökonomische«:
37
kampf bei (wie Gramsei es nannte) »seinem Übergang auf die Ebene des komplexen Überbaus« annimmt, i m einzelnen und auf provozierende Weise verfolgte, gebrauchte er zum ersten Mal jene Be griffe, die uns allei n dazu befähigen, d ie Spezifik des Politischen zu »denken« .
I
In knappen Worten: Die Krise von 1851 wird, in ihrer Gesamtten denz und ihrem Verlauf, grundlegend und entscheidend durch die ob j ekti ve Entwi cklung des französischen Kapitalismus überdeterminiert. Dieser setzt den äußeren Rahmen, innerhalb dessen die Formen de s Politischen entstehen und auftreten. Die franzö si sche Gesellschaftsfor mation befindet sich noch in einem relativ frühen Stadium der kapitali stischen Entwicklung . Das Proletariat steht mit seinen Parolen und Forderungen bereits »auf der Bühne«, aber es kann noch keine ent scheidende , vor allem keine autonome Rolle spielen . Die Bourgeoisie hat sich bereits voll herausgebildet und ist in ihren Hauptfraktionen auf der politischen Bühne vertreten, wobei jede Fraktion bald die eine, bald die andere Partei oder Gruppierung gegeneinander ausspielt, bald die eine, bald die andere mögliche Lösung ausprobiert. Sie hat ihre hi storische Rolle jedoch noch lange nicht erfüllt; vor allem hat sie bis jetzt noch keineswegs j ene Klassen, die aus früheren Produktionswei sen hervorgegangen sind, in ihren hegemonialen Bann »geschlagen«. Von daher ist die Bourgeoisie noch nicht in der Lage, von sich aus und auf eigene Faust von der französischen Gesellschaft Besitz zu ergreifen und deren kulturelle und politische Strukturen den Bedürfnissen der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise »anzupassen«. So stolpert die Republik von einer instabilen Koalition zur anderen� sie durchläuft das gesamte Repertoire der republikanischen und demokra tischen Formen : gesetzgebende Versammlung, parlamentarische De mokratie, bürgerlich-republikanische, republikanisch-sozialistische Demokratie. Jede »Form« ist der Versuch einer der Fraktionen der Bourgeoisie, ihre jeweilige politische Hegemonie - stets im Rahmen eines zeitweiligen Bündnisses zu sichern. In dem Maß.e, wie sich die einzelnen Bündnisse erschöpfen oder besiegt werden, verringert sich die soziale Basis für eine mögliche Lösung - das Proletariat ist in jedem dieser Bündnisse entweder ein zweckdienlicher und uniergeord� neter Partner od er - als sich das Ende nähert - die isolierte Kraft. Und schließlich , nachdem sich alle möglichen Lösungen erschöpft . haben, wirkt das labile Gleichgewicht der Kräfte auf der Bühne zugun sten von Napoleon Bonaparte, der »gerne als der patriarchale Wohltäter aller Klassen« auftreten möchte, aber nur weil er sie bereits besiegt hatte: »Frankreich braucht vor allem Ruhe.{( -
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,
38
Ausgewählte Schriften
Wir müssen uns hier auf zwei Aspekte dieser Beweisführung be schränken : auf die Frage der Klassen und ihrer politischen »Erschei nungsformen« sowie auf das Problem der »Determination in letzter In stanz« der Formen und Ergebnisse des politischen Kampfes durch die ökonomi sche Produktionswei se.
c
Zunächst fant auf: Obwohl die Strukturanalyse der Hauptldassen der kapitalistischen Produktionsweise durchgehend den analytischen Rah men der gesamten Darstellung bildet - das und nichts anderes verleiht der gesamten , verwirrenden und dramatischen Erzählung ihren logi schen Zusammenhang -, treten auf dieser Bühne keine »Klassen als solche( auf. Das Proletariat ist die Klasse, die am häufigsten als »Block« vorgeführt wird , aber selbst hier durchkreuzt die Bestimmung der spezifischen und problematischen RoHe des >,Lumpenproletariats« die Tendenz , das Proletariat im Zusammenstoß der Positionen als eine einheitliche Kraft darzustellen. In bezug auf das Kapita1 unterscheidet Marx stets dessen vorherrschende Fraktionen : »das große Grundeigen tum« , die große Industrie« , »der große Handel�( (MEW 8, 138f. ) , die »zwei großen Interessen« des Kapitals (ebd . ) , »Finanzaristokratie« , »industrielle Bourgeoisie« (121) etc. Das Kleinbürgertum - »eine Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen« (144) - wird de facto zum Dreh- und Angelpunkt. Und wenn Marx schließlich zur Kennzeichnung der Klassenposition Napo leons kommt, verweist er auf die Präsenz einer Klasse, die eigentlich eine niedergehende historische K raft war, und schält ihre Hauptfrak tion heraus : die »kleinen Parzellbauern« . Zweitens muß erwähnt werden , daß keine dieser Fraktionen auf der p o litischen Bühne jemals isoliert agiert . Der Schlüsse1 begriff, der die verschiedenen Klassenfraktionen mit den politischen und konstitutio nellen Formen verbindet, ist das Bündnis oder, genauer gesagt, das wechselnde und sich ständig neu zusammensetzende Bündnis oder der Klassenblock. Die erste verfassungsmäßige Form der »Krise« ist die de r bürgerlichen Republik. Sie wurde durch den Juni-Aufstand des Pa riser Proletariats hervorgerufen, das aber, obwohl es die Haupt1ast des Kampfes trug, in dem politischen Bündnis nur eine untergeordnete Rolle spielte. Eine Zeitlang sind die führenden Fraktionen des Bünd nisses die Finanzaristokratie und die industrielle Bourgeoisie mit Un terstützung des Kleinbürgertums . Auf der politischen Bühne stehen noch andere entscheidende Kräfte, die klassenmäßig nicht eindeutig einzuordnen sind: die Armee, die Presse, Intellektuelle, die Priester, die ländliche Bevölkerung . Ge legentlich deutet Marx den Klasseninhalt dieser unterstü tzenden
I ,
Das »Politisch e«
und das »Ökonomische«
39
Schichten und Cli quen an : So nennt er zum Beispiel die Mobilgarde das »organisierte Lumpenproletariat« (121) . Hier taucht das Pariser Proletariat zum letzten Mal als ein bestimmender Faktor auf; danach wird die Sache »hinter dem Rücken der Gesellschaft« geregelt. Das Proletariat befindet sich jedoch bereits i n einem Bündnis, dessen füh rende Fraktion aus einer anderen Klasse herkommt. Die Republik of fenbart somit nur »die uneingeschränkte Despotie einer Klasse über andre Klassen« (122) . Dennoch hat diese instabile politische Form eine strukturelle und historische Funktion : Sie ist die klassische »politische Umwälzungsform der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd. ) . Ihre »Ge schichte« ist zu diesem Zeitpunkt die »Geschichte der Herrschaft und der Auflösung der republikanischen Bourgeoisfraktion«
(124).
In Op
pos ition zu ihr steht die »Partei der Ordnung«, die sich hinter den alten Parolen von Eigentum , Familie, Religion und Ordnung
sammelt.
In
dieser Situation tritt dieses Bündnis in seiner zweifachen royalistischen Verkleidung auf - als legitimistische Bourbonen und als Orleanisten. Indes hat auch dieser labile Block seine Klassenzusamrnensetzung: Hinter den »verschiedenen Schattierungen des Royali smus« vereinigen sich die »großen Grundeigentümer« mit ihren Cliquen und Truppen (Pfaffen und Lakaien) , »die hohe Finanz, die große Industrie, der große Handel , d.h . das
Kapital
mit seinem Gefolge von Advokaten,
Professoren und Schönrednern« (138f. ). Auch hier versteckt sich der
Kampf um die Vorherrschaft hinter der notwendigen Einheit ange
sichts der »Partei der Anarchie« . Was sie grundsätzlich spaltet - und
sie dazu trieb. »jedes seine eigne Suprematie und die Unterordnung des anderen zu restaurieren« (139) - waren
nicht nur ihre materiellen
Existenzbedingungen (»zwei verschiedene Formen des Eigentums«) , sondern auch die ideologischen Traditionen, durch die sie jeweils ge formt worden waren . Das i st eine von vielen Stellen , an' denen Marx die spezifische Wirkung der j eweiligen
ideologischen
Dimension des
Klassenkampfe s auf das POlitische zeigt, wobei er allerdings noch eine
weitere komplexe Ebene hinzugefügt hat: »Auf den verschiedenen For
men des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich
ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Emp findungen , Illusionen , Denkweisen und Lebensanschauungen. « (139) Man muß ferner klar »die Phrasen und Einbildungen der Parteien von
ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden« (ebd . ) . Was diese Frak tionen von sich selbst in der Situation des Mai »dachten«, läßt sich zwar i n l,etzter Instanz auf ihre materielle Existenzgrundlage zurück führen, hatte aber reale und eigenständige Auswirkungen - wie der
Achtzehnte Brumaire
auf dramatische Weise vorführt. Marx fuhrt für
I!
40
Ausgewählte Schriften
jedes »Moment« de r Situation im Brumaire die g leiche Analys e durch : die Bildung komp lexer Koalitionen, die auf Kl as senfrak ti onen beru hen , ihre inneren Wid ersp rüche, die »Notwendigkeit« der poli ti s chen
Po si tion e n , zeitwei li gen Prog ramme un d id eolo gis chen Formen, in denen jene »Interessen« auftreten . Der dritte Punkt bezieh t sich auf die F rage , wie diese p oli ti schen
Fraktionen und Schichten im Verlauf des Kampfes si ch politisch dar
stellen. Die be id en H auptfrakti onen der Großbourgeoisie ers chei nen auf der politischen Bühne in ihren jeweiligen royalistischen Gewän
dern, aber das »Stück«, das dieses Bündnis objektiv aufführt, ist nicht di e Restauration ihrer j eweiligen Herrschaftshäuser. Ihre Vereinigung
. zur »Partei der Ordnung« und ihre Repräs entatio n durch diese Partei
w irft die Frage nach der H errschaft der Klasse »als solcher« auf u nd
nicht die nach der Vorherrsch aft einer Fraktion über die andere. Ob
j ektiv gesehen mach t gerade diese zei tweilige u nd unheilige All i anz sie
zu »Repräsentanten der bürger lich en Weltordnun g«.
Marx kehrt
immer wieder zu dieser zentral en Frage des »Klasseninhaltes« und sei
ner politischen Repräsentationsweise zurück. Es geht nicht einfach darum, daß die Repräsentati on von Klasseninteressen durch poli tis che Bündni sse und » Parteien« niemal s ein e geradlinige Sache ist. Das poli
tische Interesse
i
e ner
Klassenfraktion kann auch d u rch die Rolle, die
e i n e andere Fraktion auf der poli tis ch en und i deologi sch en Bühne spielt, vertreten werden. Marx' Darstell u ng der Ko aliti on zwischen Proletariat und K leinbü rgertum in der »sogenan nten sozial-demokrati
sehen Partei« (141) b i etet dafür ein hervorragendes Beispiel . Diese »Partei« handelt zu näch st unmittelbar im I nteresse derjenigen , die
durch d ie erzwungene Umgruppierung der bürgerlichen Truppen zu kurz gekommen waren. Ihre innere Struktur ist widersprüchlich:
Indem es sich einordnet, wird deIn Proletariat »die revolutionäre �pit ze« geb rochen und seine sozialen Forderungen erfahren »eine demo
kra ti sch e Wendu ng « . Die »Sozial-Demokratie« hat auch ei nen obj ekti
venpolitischen Inhalt, de r n ich t dar i n b esteht , ,>Kap i tal un d Lohn arbei t
( . . . ) aufzu heben ,
sonde rn ( . . . ) ih ren Gegensatz abzuschwächen und in '
Harmonie zu verwandeln<� (141) . Ei n e »demokratische« Reform im
Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft..
In diesem Zu samme nh an g warnt Marx uns vor einer allzu redukti
ven Auffa s sung der p oli t i sch en Repräsentation. Diese zei twei l ige »Lö s ung« ist nicht deshalb kleinbürgerlich , weil sie d ie engen Interessen d ieser Übergangsklas se vertritt. Ihre »Repräs entanten« lassen sich ana lytisch nicht fassen, wenn man sie auf ihre Klassenzugehörigkeit redu
ziert
- s i e sind nicht alle »Krämer«, Dieses Bündnis hat deshalb e inen
Das » Politische« und das » Ökonomische«
41
»kleinbürgerlichen« Charakter, weil, zumindest übergangsweise, die
allgemeine Lösung der Krise, die sie anstrebt und verkörpert , mit den
objektiven Schranken de r besonderen materiel len Interessen und der
besonderen soz ialen Lage des Kleinbürgertums als Klasse korrespon diert. Die politischen Repräsentanten, wer immer sie sind und was
immer ihre eigene besondere materielle Besti mmung ist, nehmen in
jenem M omen t die politische Position de s Kleinbürgertums ein ; sie .
spielen eine kleinbürgerliche politische Rolle und tragen kleinbürgerli
che politische Lösungen vor. Von verschiedenen Aus gangspunkten aus findet im Rahmen objektiver Schranken ein Zusamm·entreffen statt,
das - so Marx - die Grundlage fur die Entzifferung des »Verhältnisi ses der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klas se, die sie vertreten« , bil det (142) . Obwohl also die sozial en und mate
riellen Schranken sqwie der objektive Klasseninhalt die Bedingungen und den Horizont bestimmen, innerhalb dessen in einer bestimmten Situation eine »kleinbürgerliche Lösung« entstehen kann, so hängt . doch alles von den Mitteln und Bedingungen ab, die es einer solchen Lösung erst erlauben , in den Vordergrund zu tre ten und im Krisenthea ter als politische Kraft konkrete Gestalt Dieser Begriff der Repräsentation
objektiver Klasseninhalte
anzu nehmen .
die Analyse der Repräsentation
einander entgegengesetzter Kräfte und der ·
Mittel und Bedingungen des politischen Kampfes, eines Kampfes mit eigenen Erscheinungsformen und eigener, spezifischer Wirksamkeit -,
erlaubte es Marx, eine verblüffende Antwort auf die zentrale Frage
des Achtzehnten Brumaire zu geben . Wen repräsentiert Napoleon, wer wird von dieser außergewöhnlichen Form , den Kampf zu beenden
(mittels Staatsstreich) repräsentiert? Wir wissen, zu welcher Erklä
rung s ich Marx entschloß: Napoleon »vertritt« den Parzellenbauern -
den konservativen, nicht den revolutionären Bauern , den Bauern,. der nicht über den Status quo hinausgehen, sondern ihn befestigen will . Wir können hier die Art, wie diese »Lösung« konstruiert wi rd , nur grob umreißen (vgI . 198ff. ) . Sie umfaßt, erstens, eine Untersuchung
der spezifischen bäuerlichen Produktionsweise, die auf der kleinen Parzelle grundet , und der Form des gesellschaftlichen Lebens, das aus ihr hervorgeht : die Isolierung voneinander, die erzwungene Selbstge
nüg samkei t , die Struktur der Dorfge.meinschaft, die fehlende Ent. wicklungsvielfalt, die Armut der gesellschaftlichen Bezi ehunge n .
Marx verfolgt die entscheidende Transfonnation der ökonomischen Rolle der Bauernschaft - vom halbhörigen Bauern zum freien Grund eigentümer - unter der Regentschaft Napoleon I . und ihre unmittelba
ren Folgen : die Zersplitterung des bäuerlichen Eigentums, den Durch-
: , �. r
�
Ausgewählte Schriften
42
bruch von freier Konkurrenz und Marktwirtschaft, die Rolle von Wu cherern , Hypoth ek und S chu ld en in diesem zurückgebliebenen , tradi
tionellen Sektor. Marx zeigt h ier detailliert d ie verheerenden Auswir kungen der durch den kapitalistischen Einbruch auf dem Land h ervor gebrachten Desorganisierung der bäuerlichen Gesell schaft. Dieser Vorgang bereitete den Boden für den zun ehm end en Antagonismus
zwischen Bauernschaft und Bourgeoisie - ein Antagonismus, der Na
pol eo n zu seiner »Unabhängigkeit« verh al f. Die Pa rzel l enbaue rn wer
den nicht nur i n ein Meer von Schulden gestürzt, die versteckte Steuer last verbindet ihre Verel end un g schicksalhaft mit den erstarkten Armen der Regierung und dem staatl i ch en Exekutivapparat. Im weüe ren stell t Marx au f meisterhafte Weise dar, wie die ideologi
schen An s chauu n gen der B au ernsc haft in der Id eol og i e von Loui s Na poleo n - in d en ») idees napoleoniennes« - weni ge r eine Entsprechu ng al s einen ergänzenden W id e rh all finden . Ihrem objekti ven G eh al t n ach si nd d i e » idee s napoleo ni en ne s « nichts a l s »Ideen der unentwickelten ,
juge nd fri schen Parzelle« (203 ) . Es gibt eine » Homo log i e der Formen« zwischen ihnen . Bedeu tet dies nun, daß Napoleons Lös ung letztend lich ni cht der sich entwickelnden bürgerl ich en Produktionsweise in
Fran kre i ch entspricht, kein Rettungsanker der Bourgeoisie ist? Tatsa che ist, so Marx , daß N apoleo n nicht mehr einen bestimmten Tei l der
Bourgeoi s ie vertreten kann , denn er ist nur durch die sukzessive Nie derlage oder den sukzessiven
Rücktri tt der einzelnen Hauptfraktionen
der Bourgeoi s ie an die Macht gekommen . Diese fo rtsc hreiten de Liqui
d ierung bietet nur eine unsichere u n d w i dersprüchlich e Grundlage für
ei nen Staatsstreich . Das führt Napoleon dazu , seine pol itisch en An sprü che am Ende au f die Klasse der Parzellenbauern zu stützen , die »sich nicht vertreten (können) , sie müssen vertreten werden. Ihr Ver
treter muß zug lei ch als ihr Herr, al s eine Autorität über ihnen ers ch ei
nen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den ande ren Klassen beschützt und ihnen von ob en Reg en und Sonnenschein
schickt« (198f. ) . An genau dieser Stelle aber - an der eine g an ze Klas senfraktion po l i t is ch nur durch d i e polit i s ch e Ausnahmeform einer Ein-Mann-Diktatur in E rs c h ein u ng tritt - vollzieht Marx eine letzte
ironische Wen du ng . Denn durch Napoleon ge rät die Parzellenbauern
schaft in direkte A bhängigke i t von der Exekutivgewalt - vom
Staat.
Durch diesen Reifeprozeß der Staatsmacht, die Schaffung ei ner auf
geblähten ab er »u nabh ängi g en « Staatsmaschinerie, die d urch das Na
pol eoni sch e Regime perfektioniert w ird , und gestützt auf die wider sp rü chli che Basis seiner »Unabhängigkeit« kann Napol eon schließlich
n icht dieser oder j en er Frakti on d er Bou rgeo i sie , sondern d er Ent-
Das »Politische« und das » Ökonomische«
43
wicklung der kapitalistischen Verhältnisse in Frankreich überhaupt dienen . »Aber das materielle Interesse der französischen Bou rgeoisie ist gerade auf das in
n igste mit der Erhaltu ng jener breiten und viel verzweigten Staatsmaschinerie ver
woben. Hier b ringt sie ihre überschüssige Bevölkerung unter und ergänzt in der Form von Staatsgehältern , was sie nicht in der Fonn von Profiten, Zinsen , Renten und Honoraren einstecken kann . Andererseits zwang ihr politisches Interesse sie,
d ie Repression, also die Mittel und das Personal der Staatsgewalt, täglich zu ver mehren ( . . . ) . So war die französische Bourgeoisie durch ihre Klassenstellung ge
zwung en , einerseits die Lebensbedingungen einer jeden , also auch ihrer eignen
parlamentarischen Gewalt zu vernichten , andererseits die ihr feindl iche Exekutiv gewalt unwiderstehlich
zu
machen. « (150f.)
ihre )}Leistung«, und sie wird durch die »Krise« von 185 1 , durch U mschwü nge u nd U mwege durch For tschri tte und Rück schritte hindurch zur Reife gebracht und vollendet, zugunsten der sich entfaltenden kapitalistischen Kräfte der französischen Gesellschaft. Das ist die objektive Leistung der Revolution, die sie »auf der Reise durch das Fegefeu e r « vol lbr i ngt (196).
Das ist l angfristig
,
Der politische Klassenkampf hat also seine eigene Wirksamkeit, seine eigenen Formen und Existenzbedingungen, sein eigenes Mo ment, sein Tempo und seine Richtung, seine eigenen inneren Wider sprüche, seine »eigentümlichen« Ergebnisse und Resultate. Auch wenn alles in letzter Instanz durch den Entwicklungsstand der materiellen und gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist, durch die sich die vorherrschende Produktionsweise reproduzi ert (wie auch die unterge ordneten oder überlebenden Produktionsweisen, die in j eder konkre ten Gesellschaft mit der in ihr vorherrschenden Produktionsweise ver bunden exi stieren) können nur sehr wenige der tatsächlichen Ver schiebungen in den politischen Beziehungen der Klassenkräfte da durch entziffert werden, daß man sie auf die abstrakten Bedingungen des »Hauptwiderspruchs« reduziert. Das Politische ist mit der Ebene des Ökonomischen verknüpft; und beide si nd - um die Unterschei dung ganz klar zu machen - durch die mit der »ProduktIonsweise« verbundenen Kräfte und Verhältnisse überdeterminiert (grundlegend durch sie konstituiert und in den möglichen Varianten und Ergebnissen durch sie begrenzt) . ,
Sie als etwas Unverbundenes zu betrachten , als etwas, was in keiner Weise miteinander »korrespondiert« , hieße das oberste Prinzip des hi storischen Materialismus aufzugeben: das Prinzip der Gesellschafts formation als »komplexe E inhei t« als »Ensemble der Verhältnisse«. Zu d i eser Artikulation aber kommt es nur über eine Reihe von Ver sc hiebungen und Desartikulationen . Zw ischen die Klassent die in den ,
Ausgewählte Schriften
44
ökonomischen Produktionsverhältnissen konstituiert werden - sei es i n ihrer »feinen« Fonn (da, wo die Produktionsweise als ein analyti scher Rahmen fungiert) oder ihrer konkret-historischen Form (wo sie
in komplexen Formen auftreten , verbu nden mit den Formationen frü
herer Produktionsweisen) , tri tt eine Reihe von Formen , Prozessen,
Bedi ngungen und Voraussetzungen (die mit einem spezifischen Satz von nicht reduktiven Begriffen faßbar werd en ) , die die Ebene des Poli ti sch en in einer Gesellschaftsformation »au sfüllen«, Die Repräs enta
tion des
»
Ökono mis ch en
«
auf der Ebene des »Politischen( läuft über
d i es e Formen und Prozesse. Ohne diesen Prozeß, diesen komp]exen Zu samm e nh ang von Praxen des politischen Klassenkampfes gäbe es
üb erhau p t keine »politische« Ebene. Und sobald der Klassenkampf auf der Bühne d es pol itisch en Klassenkampfes dem Prozeß der »Repräsen
tation« u nterwo rfen i s t , ve rew ig t sich diese Verbi ndung: Sie gehorcht n i ch t nur den auf sie wirkenden Detetminationen, sondern auch einer
eig en en , inneren Dynamik; sie hält sich an ihre eigenen , spezifischen
E xi sten z bed i n gu ngen . Sie wird unumkehrbar. Diese Transformation ist es, die die notwendige Ebene des Politischen produz i ert und stützt.
In dem Moment , in dem d i e Klassenkräfte als po l iti sche Klassenkräfte
auftreten , haben sie poli ti s che Konsequenzen; sie b rin gen »Lösu ngen « hervor
Resultate, Ergebnisse, Ko n s equen zen -, die nicht in die
Ausgangsbedingungen rückübersetzt werden kö nn en .
Natü rl i ch gew i nnt der politische Klassenkampf seine einzelnen Ele mente aus dem » Rohmaterial« d er geseHschaftl iche n Produktionsver hältnisse - auf d e r Ebene der P ro duk t i on swe i se . Und die pol i t i s ch en Resulta te u nd Fo lgerung e n , die auf der Ebene d es Politischen »gewon
nen« oder ge s ich e rt werden , dienen nicht nu r dazu , >,das Politische« als eine dauerhafte Praxis in jeder Gesellschaftsformation zu veranke rn -
eine P ra x i s , die niemals mehr ein »leerer Ort« sei n kann -, sondern sie wirken sich auch auf di e Wei terentwic klun g der Kräfte und Verhältnis
se der materiellen E xi s tenzbed ingungen selbst aus . Das heiß t , sie w i r
ken auf das zurück, was sie konstituiert: sie haben ihre eigenen Wi r
kungen . Die spezifische po l iti sche Form , in der der »Kompromiß« m it
dem Staatsstreich 1 851 geschlossen wurde� ist sowohl für das Tempo al s auch für den Charakter der kapitalistischen Enrwicldung in Frank
reich wichtig. Sie beei n flu ß t sowohl das pol iti sche als auch das ökono
mi s ch e Leben der französischen Gesell schaft. Diese »Rückwirkung« der po l i ti s ch - ideo lo gi s ch e n Üb e rb au ten auf die ) Basis« bewegt sich
n icht in einem »luftleeren Raum« . Aber ihre genaue Richtung und Ten
denz i st nicht ausschl ießlich durch die Kräfte und Ve rhäl tni s se an der Basis, sondern auch durch die Kräfte u nd Verhältnisse des po li t i sch e n
Das »Politische« und das »Ökonomische«
45
und ideologischen Kampfes vorgegeben und durch al les was an ihnen spezifisch - relativ autonom ist. D ie Auswirkungen des Überbaus können auf die Entwicklung der Basis entweder fordernd oder bebin dernd »zurückwirken«. So schrieb Althusser, »daß der 'überdetermi nierte Widerspruch' überdeterminiert sein mag entweder im Sinn einer historischen Hemmung, einer echten Sperrung ( . . . ) oder im Sinn eines ,
revolutionären Bruchs, daß er sich aber unter diesen Bedingungen nie im 'reinen' Zustand darbietet. « (1968, 72f.) In seinem berühmten Brief an Conrad Schmidt sprach Engels genau diese Frage an und erklärte: »Die Rückwirkung de r Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung kann dreier lei Art sein: S ie kann in derse lben Richtung vorgehen , dann geht's rascher. Sie
kann dagegen angehn, ( . . . ), oder sie kann der ökonomischen Entwicklung be stimmte Richtungen abschneiden und andre vo rsch re ib en ( . . . )« (MEW 37. 490f.)
»Die Charakteristik der heiden Grenzsituationen«, so Althusser, »ist hier gut au fgeze igt 0968. 73, Fn. 32) . (Man beachte, daß d ieser Be griff von » Determinierung« sich von der weiter ausgebauten aber »for maleren( Konzeption einer Determination durch »strukturale Kausali tät« unterscheidet die Althusser und Balibar in Das Kapital lesen übernommen haben . Diese formalistischere Fassung war eine der. Hallptquellen der »theorizistischen Abweichung« Balibars . «
,
In der Einleitung zu den Grundrissen schreibt Marx, daß, sobald wir das Verhältnis zwischen den verschiedenen »Momenten« eines Prozes ses nicht mehr als ein identisches denken wir notwendig von Gliede rung s prec hen müssen (Grundrisse, 29) . Als Gliederung wird ein Be ,
ziehungstyp bezeichnet, in dem zwei Prozesse, die ihre jeweilige Spe z i fi k behalten und ihren eigenen Existenzbedingungen gehorchen, sich zu einem »komplexen Ganzen« verschlingen . Dieses Ganze ist daher das Ergebnis }) v i el e r Bestimmungen« , wobei die Existenzbedingungen d es einen nicht genau mit denen des anderen zusammenfaUen (Pol itik nicht mit Ökonomie, Zirkulation nicht mit Produktion) , auch wenn er steres der »bestim mte Effekt« des letzteren i st ; denn Politik und Zirku lation haben auch i h re eigenen inneren »Bestimmungen«. Die Beg riffe , die Marx
im
zum ersten Mal herausarbeitet und einsetzt - Bündnis, Block,. konstitutionelle For men, Regime, poli ti sch e Repräs entanten pol itisch e Ideologien od er , sind B eg ri ffe mit deren »Id een« , Fraktion en Gruppierungen etc. Hilfe wir die Komplexität dieser doppelten Determination denken können . Da diese politischen Formen und Verhältn isse ihrerseits durch die antagonisti schen Klassenverhältnisse der kapitalistischen Produ k tionsweise, in der sie auftreten , konstituiert werden, sind sie selbst die konkre te n Ob e kte der Praxen des Kla s senkampfe s - des KlassenAchtzehnten .Brumaire ,
,
-
,
»
j
«
46
Ausgewählte Schriften
kampfes auf der »politischen Bühne« . Der repräsentative Aspekt die
ses Verhältnisses wird durch den Ausdruck »Bühne« u nd d i e durchgän gige Dramaturgie der Darstellung im Achtzehnten Brumaire noch un
terstrichen . Diese Eben e ist in j eder entwickelten Gesellschaftsforma tion präsent, sie wird s tets auf d ie eine oder andere Weise »au sg efüllt « . Sie erfüllt für die Gesellschaftsformation als Ganzes eine »Funktion« ,
r \ 1I I
indem hier die Formen und Verhältnisse des PoE tis ch en auftauchen, in denen die verschiedenen Kapitalfraktio nen und ihre j eweiligen pol i t i schen Verbündeten kämpfen könne n - sowohl gegeneinander als auch
gegen die unterdrückten Klassen . Vermittels dieser Formen beherr
schen sie den Klassenkampf u nd bringen d ie KulturgeseH schaft , Poli tik, Ideologie und den Staat mit den breiten »Gmndbedürfnissen« der
sich entfaltenden Produktionswei se in Einklang. Aber diese »Bedürf nisse« ersch einen nie i n »Reinform« . Am Beispiel Großbritannien konnte Marx sogar sehen , daß die Hauptklassen des Kapitals nie in ihrer ganzen Pracht und vereint au ftreten , um selbst und in ihrem eige nen Namen »für das Kapital« »die Aufsicht über die Gesellschaftsfor m ation ,( zu übernehmen . Die Un terscheidu ng zwischen der »ökono
m isch her rsc hend en Klasse« und der » politi sc h führenden oder regie
renden Kaste« in den Schriften von Marx und Engels über Großbritan
nien wiederholt i n knapper Form die Unters chei du ngen , die im Acht zeh nten Brumaire ausführlich dargestellt wurden ; sie liefern den Schlüssel zur Entzifferung des Klassenkampfes i n Großbritannien :
Ii
»Die regierende Kaste ( . . . ) ist unter keinen Umständen mit der h err schenden Klasse i dentisch« (»Parties and Cliques«, in: Survey From Exile,
279) . Die pol itis ch e
Ebene bietet daher auch den notw endigen
Repräsentationsraum , in dem die Verhandlungen stattfinden , die Koa litionen und »labilen Gl ei chgewi ch te « ge b il d et und aufgelöst werden , die den )}Kapitalgesetzen« ihre einschläg.igen Ausw irkungen ermögli
chen. Folglich kann die Arbeiterklasse auch in diesem »Raum« - aber auch dessen spezifische Formen und Bez i eh u ng en nutzend - mit ihren politischen Kräften und Repräsentanten darum kämpfen , die Kap i tal macht zu kontrollieren, um so in einer günstigen politischen Situation die ökonomische S truktu r der Gesellschaft zu transformieren . Dabei
wird sie genau den Punkt zum Gegenstand ihres Kampfes machen, in dem sich d ie Struktur ve�dichtet - i n der Form des bü rg erl i chen Staa tes, das heißt in der politischen M a c ht . Wir dürfen uns also »den Klas senkampf« nicht so vorstellen , als seien die Klassen auf der Ebene des
Ö konom ischen zunächst als einfache und homogene Einheiten konsti tuiert und erst auf der Ebene d es Pohtischen gespalten . Die politische Ebene ist »abhängig« - determ iniert -, denn ihr )�Rohmaterial« stammt aus der Produktionsweise als Ganzer. In einem Prozeß der
,
I
Das »Poli tische« und dns
» 6konomische«
47
»Repräsentat ion « muß etwas zu repräsentieren sein. Aber die Konsti tuierung der Klassen ist ein komplexer Vorgang, der auf allen Ebenen der Gesellschaftsformation stattfindet - auf der ökonomischen, der politischen, der ideolog ischen . In der spezifischen Situation einer
konkreten historischen Fonnation den »Stand« des Krä fteverh ältni ss es zwischen den Klassen zu erfassen, bedeutet, die notwendige Komple
xität und die no twendi gen Verschiebungen in dieser »Einheit« zu erfas
sen . Nur in der einzigartigen Ausnahmesituation eines revolutionären Bruchs werden die In stanzen auf diesen verschiedenen Ebenen einan der entsprechen. Man kann also die »Einheit« des so konsti tuierten Klassenkampfes nur dann erfassen, wenn man die Klassenfrage in
ihrer widersprüchlichen Form begreift.
IV Zwanzig Jahre liegen zwischen dem Achtzehnten Brumaire und dem
Bürgerkrieg in Frankreich , wo Marx einige der damals entwickelten
Begriffe ausbaut. Die begrifflichen Weiterentwicklungen in d iesem
Text stehen in direktem Zus ammenhang mit einer revolutionären poli..
ti schen Ko nstellation, die einer ernsthaften Analyse bedurfte
(die Pari..
ser Kommune) , wie auch unter dem starken Einfluß der erneuten poli tischen Arbeit von Marx und Engel s im Rahmen der Internationalen (einschließlich des Kampfes gegen Ba kunin und die Anarchisten) . An
i
dieser Stelle können nur drei wkhtige Punkte aus dem politischen Schrifttum angeführt werden , die innerhalb der marxistischen Bewe
gung viel zu wenig bedacht und studiert werden . Der erste Punkt betrifft die absolute Notwendigkeit für die
Arbeiter
klasse, sich als »Partei« zu konstitu ieren , deren Ziel »die Eroberung
der politischen Macht« ist, deren Zweck das Zerbrechen des bürgerli
chen S taates und der Staatsmacht i st: dieses »nationale(n) Krieg swerk
z,eug (s) des Kapitals gegen die Arbeit« , dieser »öffentliche(n) Gewal t
zur Unterdrückung der Arbeiterklasse«, dieser »Maschine der Klas senherrschaft« ( ME W 17. 3 36f. ) . Diese »Lektion« wurde nachdruck
lich im Vo rwo rt zur deutschen
Ausg abe des Manifests von 1872 festge
halten : »Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz neh men und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann .« (MEW
4 , 574) Die detaillierte A naly se der Kommune ist nicht nur Marx' aus
führlichste Schrift über die Fonnen der pol i tischen Macht des Proleta riats, sie enthält auch das entscheidende Argument für das , was Marx in s eine r Kritik des Gothaer Programms di e »revolutionäre Diktatur
des Proletariats« (MEW 19, 28) nennt , die ei nzige u nd notwendige
. !
48
Ausgewählte Schriften
Form , i n der die Arbeiterklasse »l ange Kämpfe und eine Reihe histori
scher Prozesse durchlaufen muß, in denen sie die Verhältnisse u nd die Menschen verändert. « (MESW, 291, aus dem eng! . Orig . übersetzt) In diesem Kontext kehrt Marx zu der bereits im Achtz.ehnten Brumai re
aufgeworfenen Frage zurück, welche Klassenkräfte du rch die Ge
stalt und Formation des Napol eonischen Staates repräsentiert wurden
und in wel ch er Beziehung die napoleonische »Lösung« zur ökonomi schen Entwicklung des Kapitalismus in Frankreich stand . Im Bürger
krieg in Frankreich a rbei tet Marx ausfüh r l ich die zunehmende Ver selbständigung der »zentralisierten Staatsmac ht« heraus (MEW 17,
3 36f. ) ; er faßt die konstituti onellen Formen der 1851er Krise zusam men, in denen diese Staatsm acht heranreifte und sich entwickelte -
das »objektive Werk« der Revolution und das poli ti s che Werk der Herr
schaft über die unterentw i ckelten Fraktionen, die es Napoleon ermög
lichten, das Werk zu vollenden.
Hier findet sich dje Grundlage für jen e Theorie, die den Staat als »Klassenstaat« faßt, als politische l1:rdichtung ; ei n e Theorie, der Lenin später zu einem so hohen SteUenwert verhelfen sollte (durch sei
nen Kmrunentar in Staat und Revolution zu den fragm enta ri schen Ein
sichten von Marx und Engels) . Auf eine der Konsequenzen� die diese
neue Theorie für un s er Verständni s vom Verhältnis
i schen dem poli
zw
ti s chen und dem ökonomi schen Aspekt des Klassenkampfes hat , we rd e ich sogl ei c h eingehen.
Marx zur Frage der »Repräsentation« zurück. Napoleo n , so schreibt e r, �gab vor, sich auf die Bau ern zu stützen , auf Zunächst aber kehrt
jene große Masse der Produ zen ten , die nicht u nm i t te lba r in den Kampf zw i schen Kapital und
Arbeit verwickelt waren{{
(MEW
17,. 337) . Die
ses Klasseni nteresse, d as scheinbar außerhalb des unmittelbaren
Schauspiels der Hauptklas sen stand , diente dazu, das vermeintliche Kampfgeschehen zu bestätigen
-
es sicherte seinem Staat�streich den
Schein der Autonomie. D am it war es ihm möglich , seine po l i tisch e In tervention als Verw irklichung des »)AHgemeininreresses« auszugeben - eine klassische ideo1ogische Funktion des Staates -, als »Repräsen
tation« aller Klassen (weil sie keine einzelne vertrat) , »der Nation«.
N ap ol eon s Intervention �gab ( . . . ) vor, all e KJ as sen zu vereinigen durch die Wied e r belebung de s Trugbildes des n ati o nalen Ruhms« (ebd . , 338) .
Marx weist dann darauf hin, auf welche Weise und warum d i ese po
litische Lösungsform mit d em direkten Kräfteverhältnis im Zentrum
Weise, als eine Repräsenta »In Wi rklichkei t war e s die einzig
des Kampfes verknüpft war: auf indirekte
tio n , als ihre eigene Zurückstellung.
Das » Politische« und das »Ökonomische«
49
mögliche Reg i erungsform zu einer Zeit, wo die Bourgeoi sie die Fähig
keit, die Nation zu beherrschen , schon verloren und wo die Arbeiter klas s e di ese Fähig kei t noch nicht erworben hatte. « (Ebd. ) Die »Zu
rückstellung'« einer politischen Lösung, die auf dem politischen Feld al s ei ns tweili ge aber verschobene »Herrschaft« einer abwesenden Kl a s s e auftritt (einer Klasse, die nicht in ihrem eigenen Namen auftre ten konnte) , war eine Fonn , die dem unterentwickelten Stand der Klas
senverhältnisse in der kapitalistischen Produktion Frankreichs ent sprach (aber kei ne swegs »unmittelbar« ) . D enn dieses »labil e Gleic hge
wicht« war die
Bed i ngung dafür, daß der
der Gesellschaft schweben«
zugleich auch
(338)
Staat »schei nbar hoch über .
konnte - als Verkörperung, aber
Maskierung des Klassenkampfes. Und in genau dieser Form - der Fonn eines »nationalen Kriegswerkzeugs des Kapitals gegen die Arbeit« (337) - entwickelte sich der Kapitali smus in Frank reich, natürlich mit all seinen widersprüchlichen
Auswi rkungen.
Diese Ausw irkungen zei gen sich noch heute in der eigentümlichen Form des �Etatismus«, in de r sich die kapitalis tische Entwicklung in der französischen Gesellschaftsformation manifestiert hat. Deutlicher lassen s ich die mäc htigen Auswirkungen des Politi schen
auf das Öko Und ebenso deutlich zeigt sich , daß das Poli ti
nomische kaum zeigen . sche und das Ökonomische miteinander verkoppelt sind , aber nicht im
S i n ne
einer identischen Beziehung.
In d iesem Zusammenhang sollten wir erwähnen, daß Marx zu einer
Manifest zurückkehrt , die wir oben angeführt haben, und e in en Punkt klars tellt , der - im Licht des Achtzehnten Brumaire - zu gl ei ch eine notwendi ge Korrektur ist. In seiner Kritik des Gothaer Pro Stelle im
gramms geht Marx auf Lassalles Fehlinterpretation ein , alle anderen
Klassen bildeten gegenüber der Arbeiterklasse »nur eine reaktionäre
Masse« (MEW 19, 22) ( das heißt, die These von der »Vereinfachung der
Klas s en im politischen Kampf) . Er führt zur KlarsteIlung zwei «
Punkte an. Erstens wiederholt er, daß die Bou rgeoisie au fgrund ihrer
hi storis chen Rolle »als Trägerin d er großen Industrie« zu der revolutio�
nären Klasse gegenüber den feudalen Klassen wurde. Auch das Prole
tariat erhält seine revolutionäre Stellung durch seine objektive Lage. Das aber heißt nicht, daß man alle anderen Klassen auf einen Haufen . zusammenwerfen kann . Die Überreste der feudalen Kla s sen können obj ektiv reaktion är sein , aber �}sie bilden ( . . . ) nicht zusammen mit der
Bou rgeoisie nur eine reaktionäre Masse« (ebd . , 23) . Das h eißt , kurz ges.a gt: Die pol iti sche Analyse erfordert eine Theorie der komplexen
Formierung von Klassenfraktionen zu Klassenbündnissen. Diese Bündnisse und nicht eine u ndefinierb are Verschmelzun g ganzer
i I I
Ausgewählte Schriften
50
Klassen - konstituieren das Terrain des politischen Klassenkampfes. - Marx und Engel s b etonen immer wieder - auf Grundlage der The sen der Internationale - die Notwendigkeit »der politischen Bewe
gung« als Mittel zur »ökonomischen Emanzipation der Arbeiterklasse«
(Rede auf der Feier zum siebten Jahrestag der Internationale, MEW 17,
432) . Je mehr die Theorie des Staates und die der zentralen Bedeutung der Staatsmacht für die Expansion des Kapitalismus weiterentwickelt wurde, desto wichtiger wurde die Ro He de s po litischen Kampfes im
Vorfeld der » S ozia len Revolution« . Fernbach hebt zu Recht hervor,. daß M arx und Engel s keine Theorie der korporativen Formen des politi schen und ökonomischen Kampfes der
Arb ei terklas se
ausgearbeitet
haben . Und er hat recht, wenn er ihr Fehlurteil über das Wesen der Ar beiterbewegung in Großbritannien dieser theoretischen Lücke zu
schreibt ( Fernb ach 1973, 22-24) . Man muß si ch schon Lenins Polemik
gegen Martynow u nd die »Ökonomisten« zuwenden, um eine adäquate
Theoretisierung dieser Tendenz zu erhalten. Das gesamte Kapitel über
»Trade-unionismus und sozialdemokratische Politik« in Lenins Was
tun ? sqllte im Zusammenhang mit diesem Problem gelesen werden
denn die Verwirrung, der Lenin dort entgegentritt, ist heute eher noch
gewach sen (LW 5, 409-455) . Leni n demontiert überzeugend die An sicht, daß der Kampf, der auf
wird,
der Ebene des Ökonomischen geführt
das (wie Martynow erklärt hatte) »weitest anwendbare M ittel«
sei , nur weil die Formen und Ergebnisse des Klassenkampfes in letzter
Instanz durch die ökonomischen Grundlagen und Verhältnisse
be
stimmt werden. Lenin nennt diese Behauptung die »Quintessenz des
Ökonomismus«; und diese Besti mmung führt ihn zur Analyse des kor
porativen Charakters eines Kampfes, der sich auf den Kampf »für gün stige Bedingungen des Verkaufs der Arbeitskraft, für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeit« beschränkt , was
di
rekt ins Zentrum des sozialdemokratischen Reformi smu s und »Ökono
m ismus« führt - zu dem »gründlich gelehrten (und 'gründlich' oppor tunistischen) Ehepa a r Webb« und zu den englischen Gewerkschaften (ebd . , 471) . Lenins I nterventi on (und die folgende Weiterentwicklung
seiner Position im Rahmen seiner Im peri a lismustheor ie) markiert
weitaus klarer als die Marxsche den Schaden , der - von Marx und von späteren Marxisten - dadurch angeric htet wurde, daß sie den seI ben Beg riff - »das Ökonomische«
dazu
benutzten,
zwei völlig unter
schiedliche Dinge zu bezeichnen : die Produkti on sverhältnisse und
Produktivkräfte der Prod u ktio n swei se und de n Ort der Praxen und Kampfformen , deren spezifischer Gegenstand ökonomische Bezi e
hungen sind (wi e etwa A rbeitsbedi ngungen oder Lohn) .
Das >,Politische« und das »Ökonomische«
51
v Zum Schluß will ich kurz skizzieren , wie wir diese Begriffe und ihre Auswi rkungen au f d ie Kon sti tuierung von Klassen und Klassenkampf fassen könnten . »Hauptbegriff« ist der Begriff der Produktionsweise. Die »Produkti onsweise« ist zunächst die begriffliche und analytische Matrix, die es uns erlaubt, die Grundstrukturen der Verhältnisse zu denken, in denen die Menschen - unter bestimmten historischen, de terminierenden Bedingungen - ihre materiellen Lebensbedingungen produzieren und reproduzieren. Sie besteht aus »Kräften...< und »Ver hältnissen« - was allerdings nur eine zusammenfassende Formulie rung ist. Mit diesen scheinbar simplen Bestimmungen werden ver schiedene Gruppen von Verhältnissen erfaßt: Verhältnisse sowohl zwi
schen den Agenten der Produktion und ihren Werkzeugen als auch unter den Produktionsagenten selbst: die technische und gesellschaftli che A rbeitsteilung unter den sich entwickelnden kapitalistischen Be dingungen, wobei Marx dem »Gesellschaftlichen« gegenüber dem »Technischen« den Vorrang gibt. Aber die »gesellschaftlichen« Ver hältnisse sind nicht einfach : Sie verweisen sowohl auf das Eigentum an den Produktionsmitteln,. die Organisation des tatsächlichen Arbeits prozesses und auf die Macht, Menschen und Produktionsmittel auf be
stimmte Weise miteinander zu kombinieren. Unsere Zusamme nfa s sung des
13.
Kapitels des Kapital über »Ma
schinerie und große Industrie« sollte ausreichend gezeigt haben, auf
wel che verschi edenen Gruppen von Verhältnissen, in verschiedener Kombination , die griffige Formel »Kräfte und Verhältnisse« hinweist. Hinzuzufügen wäre noch das »korrespondierende Verhältnis« zwi
schen Zirkulation und Austausch , das den Kreislauf zur Reali sierung des Kapitals vervollständigt . Wenn wir sagen , der Begriff » Produk tionsweise« sei zunächst eine analytische Matrix , dann meinen wir damit nur, daß Bedingungen und Verhältnisse, Orte und Umstände näher bestimmt sein müssen , wenn wir einen Vorgang als »Produktio n unter kapitalistischen Verhältnissen« erkennen wonen . E r bezeichnet d ie zentralen Orte und Räume, auf die die Produktionsagenten und
-mittel verteilt werden und wo sie miteinander kombiniert werden müssen , damit di e kapitalistische Produktion voranschreiten kann . Er bezeichnet die ökonomische Struktur des Kapitalismus, als den zentra l en Ort de s Klassenverhältnisses, weil hier jede Position antagonisti sche Beziehungen beinhaltet . A ntagonismen, für die Marx in de r Ana
lyse im Kapital die »Personifikationen« von Kapitalist und Lohnarbei ter anführt. Die Klassenpositionen beinhalten keine Bestimmung »ganzer« Klassen als empirisch einheitlicher Gruppen von Männern
Ausgewählte Schriften
52
und Frauen ; sie verweisen vielmehr auf eine Funktion . Wie
jede
du rchdachte Theorie über die Anatomie von Klassen i n verschiedenen Phasen der kapitalistisc h en Entwicklung eindeutig ze igt , können Klas sen in bez ug auf ihre Funktion zumindest einige ihrer Positionen ver schieben , oder, anders ausgedruckt , sie können sozusagen �Funktio nen« auf beiden S ei ten des Klassenantagonismus ausüben . Dieser Punkt spiel t zum Beispiel bei der Bestimmung der neuen Mittelklassen eine große Rolle, die nicht alle. aber einige Funktionen sowohl des »we1tweiten Kapital s « als auch »des Gesamtarbeiters« (um Carchedis Begri ffe einmal zur Ill u stration zu b enutzen , Carchedi 1975) ausüben . In der tatsächlichen , konkreten Funktionsweise einer spezifi schen Produktionsweise in einer historisch konkreten Gesellschaft oder Gesellschaftsformation und in jeder spezifi schen Phase ihrer Ent wicklung ist also die Ko nstituierung von Klassen bereits auf dieser
»ökonomischen« Ebene ein kompl exer und in einigen , zum Tei l ent scheidenden Aspekten widers prüch li cher Vorgang. Die Vorstellung, wir kö nnten irgendwie du rch die Verwendung des Begriffes der »Pro duktionsweise« empirisch-konstituierte, »einheitliche Klassen« auf der
Ebene des Öko n om ischen zu Tage fördern , ist unhaltbar. Es gibt noch zwei weitere Gründe, warum das so sein muß. E rsten s erscheinen in realen , konkret-histori sehen Gese l lschaftsformationen die Produktionsweisen nicht s elbständig und in » reiner Form« . Sie sind stets mit vorangegangenen und untergeordneten Produktionsweisen und de ren korrespondierenden politischen u nd ideolo gischen Verhält nissen
-
auf komplexe Weise verknüpft, womi t jede Tendenz einer
»rei nen« Produktionsweise, eine Reihe von »reinen« Klassen zu produ zieren , durchkreuzt und überdeterminiert wird . Der zweite Grund wurde bereits angesprochen . Gesellschaftsforma tionen beste he n nicht ausschließ] ich aus miteinander verknüpften Pro
duktionsweisen, sie enthalten i m mer auch Überbauverhältnisse
das
Politische, das Juristische, das Id eol ogi s c he . Und da diese nicht bloße
Blüten der »Bas is« sind, haben sie auch eigene Auswirkungen - si e kompli zieren die Konstituierung der K1assen zusätzlich . Sie haben in zweierlei Hinsicht einen überdeterminierenden E ffekt : Zum einen
haben das Politische, das Juristische und das Ideologische Auswirkun
gen innerhalb dessen , was wir grob »das Ökonomische« nennen. In be sti mmten Phasen der kapitali stischen Entwicklung faHen das reale und
das rechtliche E ig entu m an den Prod u ktio nsmittel n zusammen . Aber
im Mono pol kap i tal is mu s fallen die beiden Funktionen zum Bei sp i el
nicht z usammen . Das Körperschaftseigentum kann juristisch ges,ehen gesellschaftlichen Gruppen »gehören« , die aber nicht die » real e«
·
Das " Politische« und das »Ökonomische«
53
Macht besitzen , die Instrumente dieses Eigentums in der Produktion einzusetzen . Zum anderen aber haben das Politische, Juristische und Ideologi sche auch ihre eigenen Auswirkungen , wie· sie auch ihre eige nen bestimmten Existenzbedingungen haben, die nicht auf »das Öko
nomische« reduzierbar sind. Wie wir zu zeigen versucht haben, sind
sie zwar aufeinander bezogene, aber » relativ autonome�< Praxen, und
damit die Orte bestimmter Formen des Klassenkampfes mit ihren eige nen Kampfzielen, die selbst wiederum relativ u nabhängig auf die »Basis« zurückwirken. Deshalb haben die Formen, in denen Klasse,
Klasseninteresse und Klassenkräfte auf jeder dieser Ebene auftreten,
keineswegs notwendig ein und dieselbe Bedeutung oder entsprechen einander. Das Beispiel der Bauernschaft, Napoleons, der Pattsituation zwischen den Hauptklassen , der Expansion von Staat und Kapital im
Achtzehn ten Bnmtaire sollte uns genügend von der Nicht-Unmittelbar keit, der Nicht-Transferierbarkeit zwischen beiden Ebenen überzeugt haben . Die Verallgemeinerbarkeit der Theorie über Klassen und Klas senkampf in ihren verschiedenen Aspekten wird von unserer Fähigkeit abhängen , die globale Auswirkung dieser komplexen, widersprüchli chen Auswirkungen zu erfassen. Das impliziert die These von der
Nicht-Homogenität der Klassen, einschließlich etwa der Nicht-Homo genität des Kapitals, einem Kürzel für die verschiedenen Kapitalfor men . Seine innere Zusammensetzung und jeweils unterschiedliche Stellung im Kreislauf führt. dazu, daß es selbst auf der ökonomischen
Ebene kein einheitliches, eindeutiges )�Interesse« verfolgt Von daher ist es höchst unwahrscheinli ch , daß es auf der politischen Bühne als
einheitliche Kraft auftritt, ganz zu schweigen davon, daß es auf der
ideologischen Ebene erscheinen könnte, wenn es sich sozusagen
»selbst dazu entschlo ssen hat« . In den vorangegangenen Kapiteln , habe ich versucht nachzuzeich
nen , wie MarK bei d en Bestimmungen dieser »)Nicht-Homogenität« an
langte und dann , wie er sie begrifflich ausfüllte. Um die prakti sche Re
l evanz dessen zu sehen, brauchen wir nur an die Zeiten in der jüngeren
europäischen Gesch i chte zu denken, in denen »das Kapital« auftrat und
seine unwiderstehliche i deologische Gewalt aus übte. indem es (um zwei Bilder aus dem Achtzehnten B ruma ire zu benutzen) sich die
. Maske des Kleinbürgertums aufsetzte bzw. sich in das Gewand des Kleinbürgertums kleidete (der Klasse, die, frei nach Marx , nichts zu . verlieren hatte als ihre moralische Rechtschaffenheit) . Diese ideologischen Verschiebungen und Maskierungen sind kei
neswegs auf die Vergangenheit beschränkt. Man könnte die ökonomi sche und politische Situation in Großbritannien seit den frühen 60er
54
Ausgewählte Schriften
Jahren als eine sich vertiefende Krise der ökonomischen Strukt u ren b egre ifen , die auf der politischen Ebene ihren »natürlichsten« Aus
druck in der Form einer Labo ur-Regi erun g annimmt
eine paradoxe
Situation , in der die in Krisenzeiten vom Kapital am m ei sten favori sierte Partei die »Partei der A rbeiterklasse« ist , Das mag a ber auch mit dem zu tun haben , was d ie se Partei tut, wenn sie an der Macht ist : Sie
hält sich fast wörtlich an die Be sch reibung, die Marx im Achtzehnten Bru11Ulire vo n der hi storischen RoUe der Sozialdemokratie gegeben
h at : Sie verlangt »demokrati sch-republikanische Institutionen als Mit te) (. , . ) , nicht um zwei E xtre me , Kapital u nd Lohnarbeit, aufzuheben ,
sondern u m ihren Gegensatz abzuschwächen und i n Harmonie zu ver wandeln« (MEW 8, 141) . Wenn die Sozialdemokratie versucht, sowohl dem Kapital zu di en e n als auch die A rbei ter ldasse zu vertreten , dann
gesch ieht das oft dadurch, daß s ie das » AHgemeininteresse« zum Prin zip ihrer :M.acht erhebt : In der Rhetorik der Sozialdemokratie erscheint d i eses Interesse d an n in d er i deo log i sc hen Personifikation »des Konsu
menten«. Auf der anderen Seite der pa rla menta ri s ch en Szene sehen
wir d ie Thatcher-Führung, wie sie s i ch auf d ie M a cht vorbereitet und einen autoritativen Massenkonsens konstitui ert, indem sie versucht, das Kapital i n d e r »ehrwürdigen Verkleidung u nd mit der erborgten Sprach e« , mit den »N amen, Parolen und Kostümen« e in e r verschwin
denden Klassenfraktion zu »vertreten« - denen der kleinen »Ladenbe
sitzer«. Das mag zwar anachronistisch anmuten, i st aber nichtsdesto we ni ger effektiv. Für 'j eden, der versucht, den roten Faden zu finden,
der diese wider streitenden Erscheinungen im Kl as se n kampf verbin
det, kann es wohl kein zwingenderes Arg ument für die Entwicklu ng
einer Theorie des Klassenkampfes geben . U nd zwar einer Theorie, der »Ei nheit« dieser wi der sprü chl i chen und verschobenen Repräsentatio nen der Klassenverhältnisse auf verschiedenen Ebenen oder in ver schiedenen Instanzen : des Ökonomischen, des Politischen , des Ideo]o
gi schen . Kurz , es geht um die Notwendigkeit einer marxistischen Theorie d er Repräs entation , der Darstellung . In dem Bemühen , auch den letzten Funken von Reduktionismus aus dem Marxismus zu verbannen , scheint Hirst die These der Nicht
Übertragbarkeit, der N ic h t - Homo genität zwischen den ökonomischen
und po 1 iti s c h en Ebenen des Klassenkampfes in ihr extremes Gegenteil
zu verkehren . Daraus folgt Hi rsts verwegene Formulierung der » not we nd ige n Nicht-Entsprechung« - ein Begriff, der sich e rheb li ch von
dem der »nicht notwendigen Entsprechung« unterscheidet. Und mir sch ein t, der Unterschied zw ischen beiden ist der zw ischen Autonomie und relativer Autonomie. » Rel ative Autonomie« s che i nt - im Hinblic k
Das ),Politische«
und das »Okonomische«
55
auf die von uns untersuchten Texte - die Richtung auszugeben , in der Marx die komplexe Einheit einer Gesellschaftsformation denkt (wobei
Komplexität und Einheit g1eichermaßen wichtig sind) . »Autonomie« oder die »notwendige Nicht-Entsprechung« dagegen, scheint mir aus dem theoretischen Rahmen des Marxismus vollständig herauszufallen. Marx gelangte - so haben die von mir untersuchten Passagen gezeigt - nicht auf irgendeine einfache. reduktionistische oder vereinheitli chende Weise zur Vorstellung der Nicht-Entsprechung. Er entwickelte die Begriffe, mit deren Hilfe wir in den historisch spezifischen Kon
stellationen die Verschiebungen denken können. Ebenso klar ist, daß
Marx - wie auch Althusser (1975) offen anerkannt hat - nach wie vor
die ökonomische Struktur als »determinierend« denkt, wenn auch nicht im reduktionistischen Sinne, und daß damit das
_ .
neue und ori
ginelle - Problem einer »Einheit« aufgeworfen wurdet die sich nicht
als eine einfache oder reduktionistische fassen läßt. Diese doppelte Be wegung ist das Thema des Achtzehnten Brumaire.
Dieses Theorem braucht die marxistische »Topographie« von Basis und Überbau . Ohne sie verliert der Marxismus seine Spezifik und wird zu etwas anderem
zu einer Theorie der absoluten Autonomie
von aUem und j edem . Im Lichte dieser fortdauernden Debatten schien es sinnvoll zu untersuchen , wie Marx selbst das Feld des Essentialis mus und der Vereinfachung verlassen hat und wie er gezwungen wurde, Begriffe zu entwickeln, die es ihm - und im Gefolge uns - ,er möglichten , die notwendig komplexe Praxis des Klassenkampfes zu begreifen.
Übersetzung: Gabriela Mischkowski
56
Antonio 'Gramscis Erneuerung des Marxismus
und ihre B edeutung für die Erforschung von »Rasse« und Ethnizität
Teil I Im folgenden möchte ich näher bestimmen., was ein Studium Gramscis zur Erforschung des Rassismus und zur Entwicldung von neuen Be griffen und Paradigme n auf di e sem Feld beitragen kann. In meinen
Augen ist Gramscis Werk keine universelle Sozialwissenschaft, mit de r man die sozialen Phänomene in Gesellschaften unterschiedlichster h i
storischer Epochen analysieren kann . Sein möglicher Nutzen i s t be schränkter,. dennoch bleibt sein Beitrag fruchtbar und wichtig. Er be weg t sich im marxistischen Paradigma , aber er hat viele Aspekte die
ses theoretischen Gedankengebäudes erneuert, weiterentwickelt und
überarbeitet , um es für di e gesellschaftlichen Realitäten des 20. Jahr
hunderts nutzbarer zu machen . Bevor wir ein inhaltliches Resümee
ziehen und die th eo reti s chen Leistungen Gramscis ei n s ,chätzen. kön
nen , müssen wir die Frage nach dem Status seines Werkes
no c h
weiter
klären .
Gramsci war nie ausschließlich ein Theoretiker. Er hat nie berufs mäßig als Wissenschaftler oder Gelehrter gearbeitet . Von Anfang bis Ende blieb er ein politischer Intellektueller und sozialistischer Aktivist
i n der politischen Szene Italiens. Seine theoretischen Arbeiten hat er
· aus diesem o rgan isch en Engagement für die Gesellschaft seiner Zeit en twic kelt .
Er wol lte nicht einem abstrakten akademischen Zweck die-
nen , sondern theoretisches Wissen für die Fundierung der politischen
Praxis bereit stellen . Alles kommt darauf an , die Ebene, auf der die Begriffe Gramscis operieren , nicht mißzuverstehen . Zuallererst sah er sich als j emanden , der im weit gesteckten Rahmen des historischen Materialismus arbeitet , wie er i n der Tradition der marxistischen Schule von Marx und Engels und in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts von Leuten wie Lenin , Rosa Luxembu rg,. Trotzki , Togliatti etc. ausgearbeitet wurde. (Ich führe diese Namen an , um
G ram sc i s Bez ug srahmen innerhalb des marxi stischen Denkens aufzu zeigen , und nicht etwa , um seine Posi ti o n
zu
diesen Pe rs onen
zu
be
stimmen . Das wäre ein weit komplexeres Unterfangen . ) Das hei ßt, alle
theoretischen Weiterentwicklu ngen , Verfeinerungen., Überarbeitun
gen , Fortschritte, weitergehenden Gedanken , neuen Begriffe und eige
nen FonnuHerungen Gramscis operieren innerhalb der weit gefaßten
57
Gramscis Erneuerung des Marxismus
Grenzen des Marxismus und müssen 50' gelesen und verstanden wer den. Dennoch war Gramsci nie ein Marxist im doktrinären, orthodo xen oder »religiösen« Sinn . Er wußte, daß der allgemeine Bezugsrah men der Marxschen Theorie ständig erweitert und den von Marx und Engels nicht vorhersehbaren neuen historischen Bedingungen und ge sellschaftlichen Entwicklungen angepaßt werden mußte. Gramscis Werk ist also weder eine »Fußnote« zu dem schon fertigen Gebäude des orthodoxen Marxismus noch eine zirkuläre, rituelle Be schwörung l ängst bekannter »Wahrheiten« . Er prakti ziert einen »offe nen« Marxismus, der viele Einsichten der marxistischen Theorie auf die neuen Fragen und Entwicklungen hin weiterentwickelt. Er bringt vor allem neue Begriffe ins Spiel, die im klassischen Marxismus ni cht enthalten waren , ohne die aber die komplexen gesellschaftlichen Phä norn en e unserer modernen Welt nicht verstanden werden könn�n. Gramscis Werk hat nicht den Status einer allgemeinen sozialwissen schaftlichen TheO'rie, wie etwa die Arbeiten solcher Gründungsväter, wie Max Weber oder Emile Durkheim. Es existiert auch nirgends in einer solchen erkennbaren, allgemeinen, zusammenhängenden Form . Der Hauptteil s ein er theoretischen Ideen findet sich verstreut in Essays . und in seinen polemischen Schriften (er war aktiver und produktiVier pol itis cher Journalist) und natürlich in der großen Sammlung von Hef ten, die er, ohne Zugang zu Bi"liO'theken oder anderen Quellen, wäh rend seiner erzwungenen Freizeit in MussO'linis Gefängni s in Thrin (1928-33) oder, nach seiner Entlassung (allerdings schon todkrank)., in . der Formia-Klinik (1934-35) geschrieben hat. 1 ..
Gramscis G edanken sind nicht nur in verschiedenen S chriften ver
streut, auch die Texte sind häufig eher fragmentarisch als durchgear beitet und »fertig« . Er schrieb O'ft unter den schlechtesten Bedingun .gen, z . B. unter dem wachsamen Auge des Gefangniszensors, ohne Bü cher, um sein Gedächtnis aufzu fris chen Unter diesen Umständen stel len die K!erkerhefte eine be merkenswerte intellektuelle Großtat d;ar. Trotzdem waren die »Kosten« die ser Produktionsweise, bei der er nie mals die Möglichkeit hatte., zu den Texten zurückzugehen, um sie nacb kritischer Reflexion abzurunden, beträchtlich . Die Hefte bestehen aus Notizen - kürzeren oder längeren -, die aber ni cht zu ei nem ausgear beitete n Diskurs o der einem kohärenten Text verwoben sind .. Manche seiner Hauptargum ente finden sich außerhalb des H aupttextes in lan gen Fußnoten Einige Passagen sind neu formuliert worden, aber ohne daß es Anhaltspunkte dafür gäbe, welche der vorhandenen VersiO'nen Gramsci für d en »definitiven« Text hielt. .
.
58
Ausgewählte Schriften
Als ob dieser »Fragmentcharakter« uns nicht mit genügend Schwie rigkeiten konfrontieren würde, erscheint Gramscis Arbeit noch in einem tieferen Sinn fragmentarisch . Er hat die Theorie immer benutzt ,
um ko n krete , historische Fälle oder politische Fragen zu beleuchten ;
er hat über umfangreiche Konzepte unter dem Gesicht spun kt nachge dacht, wie sie für konkrete, spezifische S ituationen nutzbar gemacht werden könnten . Info lgedessen erscheint Gramscis Werk manchmal zu
konkret, zu historisch-spezifisch , zu »)beschreibend« ana 1ytisch , zu zeit- und kontextgebunden , sein Bezugsrahmen zu eng begrenzt .
Gerade seine inspirierendsten Ideen und Formulierungen sind i n die ser typischen We i se kontextgebunden . Um a l lgemeineren Nutzen dar aus zu ziehen , müssen sie vorsichtig aus ihrem spezifischen , h istori schen Zusammenhang herausgenommen und mit besonderer Sorgfalt und Gedu1d in neuen Boden verpflanzt werden .
Ei n ig e Kriti ker haben behauptet, Gramscis Begriffe operierten auf
dieser Konkretionsebene, weil er weder die Zeit noch d i e Lust gehabt
hätte, sie auf ein höheres Niveau begrifflicher Allgemei nheit zu h eben - auf das erhabene Niveau , auf dem »theoretische Ideen« vermeint Hch zu wirken haben . Daher haben Althusser und Poulantzas unabhän
gig voneinander vorgeschlagen , die nicht ausreichend theoretisierten Texte Gramsci s zu ))theoreti sieren« . Diese Sichtweise sch e i nt mir Ver
feh1t. Wir müssen hie r aus epistemologischer Sicht a rgumentieren , um
zu verstehen , daß theoretische Konzeptionen auf sehr verschiedenen
Abstraktionsebenen operieren und daß dies oft beabsichtigt ist. Es kommt darauf an , die eine Abstraktionsebene nicht mit der anderen zu
verwechsel n . Wir setzen uns schwerwiegenden Fehleinschätzungen aus, wenn wir versuch en, Konzepte, die für ein höheres Abstraktions
n iveau entwickelt wurden , auf eine niedrige Konkretionsebene zu
übertragen , a] s würden sie dort automatisch dasselbe theoretis che
Re
su ltat produzieren . Im allgemejnen waren Gramscis Begriffe explizit für die »unteren« historischen Konkretionsebenen konzipiert . Er zielte
nicht auf das »Höhere« und verfehlte sein Ziel . Im Gegenteil : wir mü s sen diese h i storisch-konkrete Beschreibungsebene als Form verstehen , i n der G ramsci s ich auf den Marxismus b ezog . Wie wir eingangs gesagt haben, blieb Gramsci in dem Sinne Mar
xist, daß er seine Ideen innerhalb der ma rxistischen Theorie ent wi ckelte. Konzepte wie ))kapitalistische Produktionsweise« , »Produk
tivkräfte« und "Produktionsverhältnisse« waren sein Ausgangspunkt.
Diese Begriffe waren von Marx auf der allgemeinsten Abstraktions
ebene entwickelt worden . Das heißt, sie erlauben uns, d i e allgemei nen Prozesse zu begreifen � die die kapitalistische Produktionsweis e
Gramscis Erneuerung des Marxismus
59
- reduziert auf ihre g rundleg endsten Merkmale - aufjeder Stufe und in jedem Augenblick ihrer Entw i cklung organisieren und struktu rieren . Diese Begriffe sind »epoc ha l « , was i hre Reichweite und ihr Bezugs
system angeht Aber Gramsci wußte, daß ein Theoretiker gezwungen
ist, von der Ebene der » Produktionsweise« auf konkretere Bedeutungs ebenen herabzusteigen,. sobald er diese Begriffe auf spezifische histo
rische Gesellschaftsformationen, auf konkrete Gesellschaften, die sich
in einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus befin den, anwenden will . Dieser »Abstieg« erfordert nicht lediglich detail l i ertere historische Spezifikationen , sondern , wie Marx selbst gesagt hat , die Entwicklung neuer Begriffe und weiterer Determinationsebe nen, zusätzlich zu denen, die bloß das Ausbeutungsverhältnis von Ka pital und Arbeit betreffen. Denn dieses dient nur dazu , die Besonder heit der »kapital isti schen Produktionsweise« auf ihrem höchsten Ab straktionsniveau zu bestimmen. In der » Einleitung in die Grundrisse« von 1857, in der Marx seine Methode am genauesten ausgearbeitet hat , steHte er sich die »Produktion des Gedankenkonkretums« als eine Schrittfolge analytischer Annäheru ng e n vor, bei der in jedem Schritt
zusätzliche Bestimmungen zu den zwangsläufig s kel ettartigen und ab
strakten Begriffen hinzugefügt werden . Er war der Meinung , daß wir
das Konkrete nur in so1chen aufeinander aufbauenden Abstraktionse-:
benen denken können . Den Grund sah er darin, daß die konkrete Rea lität aus vielen »Bestimmungen und Beziehungen« (MEW 13, 631) be steht, denen sich die Abstral1:ionsebenen, in denen wir zu denken pfle gen , nur schrittweise gedanklich annähern können (vgl. zu diesen Fra gen Hall
1977) .
Wenn Gramsci das allgemeine Feld der entwickelten Marxschen Be
grifflichkeit (w ie es zum Beispiel im »Kapital« vo rl iegt) verläßt und zu spezifischen histori schen Zusammenhängen übergeht , kann er daher nach wie vor innerhalb ihres Bezugssystems arbeiten. Aber wenn er
beginnt, im einzelnen, sagen wir die italienische poli tische Situation
der 30er Jahre oder die sich verändernden , komplexer werdende.n , de mokratischen Klassengesell schaften des »Westens« nach dem Imperia lismus und dem Entsteh en der M as sendemokratie zu untersuchen ; oder wenn er die s pez ifischen Unterschiede zwischen »östli chen « und » westl ichen« Gesellschaftsformationen in Europa, oder den Politiktyp,
der den au fkommenden faschistischen Kräften etwas entgegen setzen kann , untersucht, oder wenn er d ie neuen Politikfo rmen zei gt , die der modeme kapitalistische Staat entwickelt , dann s ieht er die Notwendig
keit , die MarKSehen Be g ri ffe anzupassen, weiter zu entwickeln und sie
60
Ausgewllhlte Schriften
durch neue, eigenständige zu e rgllnzen . Erstens, weil Marx seine An strengungen darauf konzentrierte, seine Begriffe auf der höchsten Ab straktionsebene (vgl . das »Kapital«) und nicht auf der konkreten h i sto rischen Ebe ne zu entwickeln . (So gibt es z . B. keine wirkliche Analyse der besonderen Strukturen des englischen Staates im 19. Jahrhundert, obwohl es anregende Hinweise gibt.) Zweitens, weil die historischen Bedingungen , unter denen Gramsci schrieb, nicht dieselben waren,. wie die, unter denen und für die Marx und Engels geschrieben haben . (Gramsci hatte einen scharfen Sinn für die historischen Bedingungen theoretischer Produktion.) Drittens, weil Gramsci spürte, wie notwen dig theoretische Konzepte auf genau der Ebene waren , auf der die theoretische Arbeit von Marx arn unvollständigsten und skizzenhafte sten war, z . B was die Analyse spezifischer, historischer Wendepunkte oder die pol itischen und ideologischen Aspekte angeht - Dimensio nen , die der klassische Marxismus bei der Analys.e von Gesellschafts fonnationen stark vernachlässigt hat. Diese Gesichtspunkte helfen uns nicht nur, Gramsci innerhalb der marxistischen Tradition zu verorten , sondern sie machen auc h deut lich, auf welcher Ebene das Werk Gramscis positiv anzusiedeln ist . In ihm werden vor allem neue theoretische Entwürfe, Ideen und Paradig men entwickelt, die die politischen und ideologischen Aspekte von Ge sellschaftsformationen in der Periode nach 1820 betreffen. Gramsci hat niemals die entscheidenden ökonomischen Verhältnisse, die Grundlage der Gesell schaft, vergessen oder vernachlässigt. A ber zu die ser Analyseebene hat er relativ wenig E igenstä ndiges beigetragen . Er hat j edoch enorm viel beizutragen zu den darauf aufbauenden , häu fig vernachlässigten Bereichen wie Politik, Ideologie und Staat: der Charakter verschiedener Typen politischer Herrschaft, die Bedeutung der Kultur und national popularer Fragen sowie die Rolle der Zivilge sellschaft in dem sich verschiebenden Gleichgewicht unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte waren Gegenstand seiner Untersuchung. Er i st einer der ersten schöpferischen, unabhängigen, marxistischen Theoretiker der historischen Bedingu ngen, die in der zweiten Hälfte. des 20. Jahrhunderts bestimmend geworden sind. Dennoch kann Gramscis eigenständiger Beitrag, insbesondere was den Rassismus betrifft, n ich t ohne weiteres als Ganzes aus dem Kon text seiner Arbeit herausgerissen und übertragen werden . Gramsci hat nicht darüber geschrieben , was Rassismus, Ethnizität und ",Rasse« heute bedeuten und wie sie sich heute darstellen . Genausowenig hat er eine tiefgreifende Analyse der kolonialen Erfahrungen mit dem Impe rialismus vorgelegt, aus denen sich so vi e l e Erfahrungen und Verhält-
Gramscis Erneuerung des Marxismus
61
nisse entwickelt haben, die für den Rassismus in der modernen Welt charakteristisch sind . Er beschäftigt sich vor allem mit seinem Hei
matland Italien und darüber hinaus mit den Problemen des Aufbaus des Sozialismus im westlichen und östlichen Europa, mit dem Schei tern der Revolution in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Westeuropas, mit der Bedrohung durch das Aufkommen des Faschis mus in der Periode zwischen den Kriegen und mit der Rolle der Partei bei der Gewinnung von H egemonie Oberflächlich gesehen mag dies .
so erscheinen, als gehöre Grarnsci zur erlesenen Zunft der sogenann ten »westl ichen Marxisten« , wie Perry Anderson sie definiert hat,. die
zu den großen Problemen in der nicht europäischen Welt oder zur »un -
gleichen Entwicklung« zwischen den imperialistischen, herrschenden
Nationen des kapitalistischen »Zentrums« und den weltweit kolonisier
ten Ländern der Peripherie nichts Wesentliches zu sagen haben, weil
sie befangen sind in ihrer Beschäftigung mit den »entwickelteren« Ge sellschaften . . Liest man Gramsci in dieser Weise, macht man den Febler, ihn zu
bucbstabengetreu zu Jesen . Doch genau so liest ihn
-
mit einigen Ab
strichen - Anderson . Wenn Gramsci auch nicht direkt über Rassis mus schreibt , können uns seine theoretischen Entwürfe bei unseren Versuchen , die Adäquathei t bestehender theoretischer Paradigmen in diesem Bereich zu durchdenken, doch nützlich sein . Auch hatten seine eigenen Erfahrungen und sein e persönliche Entwicldung ebenso wie
seine Arbeitsschwerpunkte viel mehr mit diesen Fragen zu tun, als es
auf den ersten , oberflächlichen Blick scheinen mag. Gramsci wurde
1891 in Sardinien geboren. Sardinien stand in einer »kolonialen« Be
ziehung zum italienischen Festland. Seinen ersten Kontakt mit radika
len, sozialistischen Ideen halte er im Zusammenhang mit dem wach senden sardischen Nationalismus, der von den Truppen des italieni
�·
schen Festlandes brutal unterdrückt wurde. Obwohl er nach seinem
U rnzng nach rurin und durch sein Engagement in der Thriner Arbei
terklasse seinen frühen »Nationalismus« ablegte, verlor er doch nie
mals seine in den ersten Jahren gewonnene Anteilnahme an den Pro
. blemen der Landarbeiter und sein Interesse für die komplexe Dialektik von Klassenlage und regionalem Faktor (vgl. Nowell-Smith/ Hoare
1971) . Gramsci war sich der scharfen Trennungslinie bewußt, die den sich industri alisierenden und modernisierenden »Norden« Italiens vom l ändlichen , unterentwickelten und abhängigen Süden trennte. Er trug
sehr viel zu der als »Süditalienische Frage« bekannt gewordenen De batte bei . Es ist ziem1ich sicher, daß er bei seiner Ankunft in Thrin die
Ausgewählte Schriften
62
sogenannte »Südländer-Position« einnahm. Zeit seines Lebens blieb er an den Beziehungen der Ungleichheit und Abhängigkeit zwischen »Norden« und »Süden« interessiert . Er beobachtete die komplexen Be ziehungen zwischen Stadt und Land , Bauern und Proletariat, Klientel system und offenem Arbeitsmarkt , feudalen und industriellen gesell schaftlichen Strukturen . Er kannte das Ausmaß, in dem die von den Klassenverhältnissen diktierten Spaltungen mit den quer dazu liegen� den Beziehungen regionaler, kulturell er und nationaler Unterschiede durchsetzt waren. Als Gramsci , einer der Gründer der itaHenischen kommunistischen Partei , 1923 den Titel
Unita
für die offizie1le Parteizeitung vorschlug,
war sein A rgument: »Weil wir der Frage des Südens besondere Auf merksamkeit schenken müssen .« In den Jahren vor und nach dem Er sten Weltkrieg vertiefte er sich in jeden Aspekt des politischen Lebens der Turiner Arbeiterklasse. Dadurch erwarb er intime Kenntnisse über eine der
am
weitesten entwickelten Formationen des indu striellen »Fa
brik«-Pr91etariats i n Europa . Er war ununterbrochen innerhalb dieses fortgeschrittenen Sektors der modernen Arbeiterklasse aktiv : zuerst als politischer Journalist i n der Redaktion der Wochenzeitung der so ziali stischen Partei »I] Grido DeI Po polo« (Der Schrei des Volkes) , dann als Aktivi st während der Welle von Unruhen (den sogenannten »roten Jahren«) in Turin bei den Fabrikbesetzungen und der Organisie rung von Arbeiterräten, schließlich , bis zur Gründung der Kommuni stischen Partei Ita1 iens, als Herausgeber der Zeitschrift »Ordine Nuovo« (Die neue Ordnung) .. Darüber hinaus dachte er weiterhin über Strategien und Formen po1itischer Aktion und Organ isation nac h , die die verschiedenen Kämpfe vereinheitlichen könnten . Er verfolgte die Frage, welche Basis sich in den vielfältigen Bündnissen und Beziehun gen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten finden ließe, auf der ein spezifisch italien i scher, moderner Staat aufgebaut werden könnte. Die Beschäftigung mit Fragen der regionalen Besonderheiten,
der sozialen Bündnisse und der sozialen Fundamente des Staates sind unmittelbare Anknüpfungspunkte für Problemstellungen,
die wir
heute mit dem Stichwort »Nord-Süd«- oder » Ost-West«-Beziehung be zeichnen würden. Die frühen 20er Jahre begannen für Gramsci mit der schwierigen Aufgabe, eine Theorie neuer Parteiformen zu entwickeln und einen Entwicklungsweg für die besonderen nationalen Bedingungen Italiens zu finden , in Opposition zu dem Druck , der von der sowjeti sch domi nierten Komintern ausging. Daraus ergab sich schließlich der wichtige Beitrag, den die italienische KP zur Theoretisierung der »nationa len
Gramscis Erneuerung des Marxismus
Besonderheiten« geleistet hat. Diese
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:BeSO'nderheiten bestanden in den
sehr unterschiedlichen Bedingungen , unter denen sich die westlichen und ö stlichen Gesellschaften historisch entwickelt hatten. Bis zu sei ner Verhaftung und Einkerkerung durch die Schergen Mussolinis 1929 richtete sich Gramscis Augenmerk vorrangig auf die wachsende fa schistische Bedrohung, und sie bestimmte daher auch den Inhalt s,einer Arbeiten . (Diese und andere biographische Einzelheiten sind in der ausgezeichneten Einführung in die Prison Notebooks von Nowell Smith/ Hoare 1971 nachzulesen .) Obwohl Gramsci also nicht direkt
über das Problem des Rassismus geschrieben hat, gibt es bedeutsame re Verbindungslinien zwischen den zentralen Themen seines Werkes
und zeitgenössischen Fragestellungen als ein erster, flüchtiger Blick auf seine Schriften nahelegen würde. Diesen Verbindungslinien und ihrer Produktivität bei der Suche nach angemesseneren Begriffsbil dungen in unserem Forschungsfeld wenden wir uns j etzt zu. Ich werde
versuchen , einige der zentralen Konzeptionen Gramscis, die in diese
Richtung weisen , zu erläutern,
Teil II Ich beginne mit einem Thema , das in gewisser Weise, wenn man chro nologisch an Gramscis Werk herangeht, mehr gegen Ende s eine s Le� hens auftaucht : Mit seinem unerbittlichen Angriff auf jede Spur von ÖkonorrUsmus und Reduktionismus im klassischen Marxismus. Wenn ich von Ökonomismus spreche, meine ich nicht _ wie ich hoffentlich ..
.
schon deutlich gemacht habe -, daß man die wichtige Rolle vernach lässigen soll , die die ökonomische Grundlage einer Gesellschaftsord nung spielt, oder daß die Bedeutung, die den ökonomischen Verhält nissen bei der Formung und Strukturierung des gesamten gesellschaft lichen Lebens zukommt , unterschätzt werden sollte. Ich meine einen bestimmten theoretischen Ansatz , der dazu neigt, in den ökonomi schen Grundlagen der Gesellschaft den einzigen determinierenden
Faktor zu sehen . Alle anderen Dimensionen der Gesell schaftsforma
tion werden als reine Spiegelbilder des »Ökonomischen« auf einer an
deren Artikulationsebene gesehen , die selbst keine strukturierende Kraft hat . Um es vereinfacht zu sagen , reduziert dieser Ansatz alle phänomene einer Gesellschaftsformation auf die ökonomische Ebene und denkt alle Typen sozialer Beziehungen als direkte und unmittelba
re Entsprechungen des Ökonomischen . Das läßt die .in mancher Hin s icht problematische Engelssehe Formulierung, das Ökonomische sei »in letzter Instanz bestimmend« , auf das reduktionistische Prinzip zu
sammenschrumpfen , das Ökonomische bestimme unmittelbar in der
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Ausgewählte Schriften
ersten , mittleren und letzten Jnstanz . In diesem Sinne i st der » Ökono mismus« the o ret i s cher Reduktionismus. Er simpl ifi z ie rt die Struktu
ren einer Gesellschaftsformation , indem er ihre komplexen , horizonta len und ve rtikale n Beziehungen au f e i n en einzigen Determi nation s zu
sammenhang r ed uz i ert . Das Konzept der »Determiniertheit« selbst (das bei Marx eine sehr ko mpl exe Idee ist) wird auf eine bloß mechani
sche Funktion reduziert . Sämtliche Verm itt lungsstufen zwischen den ve rsc h iede n e n
Ebenen einer Ges e l l sch aft werden eingeebnet . G esell
schaftsformationen werden als einfache »expressive Totalität« (um mit Alth u sser zu reden) gedacht , i n der jede Artikulationsebene der ande ren entspricht u nd deren Struktur von Anfang bis Ende transp arent ist .
Ich zögere nic h t zu sagen , daß d i es eine gigantische B ana l i si e rung und
Simplifizierung des Marxschen Werks ist - genau die Art von Simpli fi zierung, die einst Marx dazu verzweifelt sagen ließ: »Wenn das Mar xismus ist, bin ich kein Marxist. « Dennoch finden sich in den Marx
sehen Schriften sicherlich A nha l tspu n kte , die in diese Richtung wei
sen . Der ökonomistische Ansatz i st der orthodoxen Version des Mar xismus sehr nahe, d ie zur Zei t der Zweiten Internationale ka noni s iert
wurde und die sogar oft noch heute für d ie rei ne Lehre des klassischen Marx ismus gehalten wird . Eine solche Theorie der Gesellschaftsfor
mation und der B ez ie hu ngen zwischen den verschiedenen Artikula
t io n se ben e n läßt (das sollte klar sein) wenig oder gar keinen Raum, um politische D i mensi one n zu denken, gesc hwei ge denn , daß damit ande
re Formen gesellschaftlicher Differe nzierung oder Wider sprü c he ge dacht werden könnten , w i e sie im Zusammenhang mit >l>Rasse«, Ethni
zität, Nati onal i tä t un d Ge schl echt ents teh en . Gramsci widersetzte sich von Anfang an diesem
Öko nom i s mus
und
po le m isierte in späteren Jahren unentwegt gegen dess en kanonische Einbindung in die klassische marxistische Tradition . Zwei B e is p i e l e
aus z wei ver schi edene n Arbeitsgebieten m ü ssen genügen, um d i esen Punkt zu iU u stri eren : In seinem Essay »Der moderne Fürst« diskutiert
Gramsci , wie man einen bestimmten his tori sch e n Zu sammenh ang an a lys i ert . An d ie Ste11 e des red uktioni sti schen Ansatzes, der die po l iti s c he n u nd ideo logi sch en Entwicklungen einfach von ihren ökonomi
sc hen Bestimmungen ablesen würde, se tzt er einen sehr v i el komple xeren und differenzierteren Anal ysetyp . Dieser geht nicht von einer einseitigen Determination aus , sondern beruht auf ei ner Analyse der
»Kräfteverhältnisse« und .zielt darauf ab, die »vers ch iedenen Momente oder
Stufen« (D326, I1583) der Entwicklung i n einem solchen Zu sam
m enh ang zu u n tersc heid en (statt sie als identisch zusammenfallen zu lassen) . Diese analytische Aufgabe spi tzt er in der Fo nnu l ie rung z u ,
I ·
Gramscis Erneuerung des Marxismus
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es gehe um »den entscheidenden Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus« (D327, 11584). Er setzt sich entschieden gegen jede Tendenz ab, den politischen und ideologischen Überbau auf die ökonomische Basis zu reduzieren . Für ihn ist das der w ichtigste
Angelpunkt im Kampf gegen den Reduktionismus. Um die Kräfte, die in einer bestimmten historischen Epoche wirksam sind , richtig zu ana lysieren und die Beziehungen zwischen ihnen zu bestimmen, muß man sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Basis und Überbau genau zurechtlegen. (D323, 11578) Er fügt hinzu , Ökonomismus sei ein in adäquater theoretischer Weg, um dieses Beziehungsgeflecht zu begrei fen. Gramsci tendiert unter anderem dahin, eine Analyse, die auf den »unmittelbaren Klasseninteressen« beruht (mit der Frage: »wer profi tiert unmittelbar davon?«), zu ersetzen durch eine vol lständigere, rei cher strukturierte Analyse »ökonomischer Klassenformationen ( . . . ) mit an den darin enthaltenen Beziehungen , « (D314 , 11593) Er sch lägt
vor, auszuschließen , daß »unmittelbar ökonomische Krisen von selbst tiefgreifende Ereignisse zur Folge haben«. (D330, 11587) Heißt das, die Ökonomie spielt keine Rolle bei der Entstehung historischer Krisen? Keineswegs. Aber ihre RoHe besteht eben darin , den »Boden zu berei ten , auf dem bestimmte Denkweisen, eine bestimmte Art, Fragen zu stellen und zu lösen gedeihen kann, von der die gesamte weitere Ent wicklung des Staatslebens abhängt« . (Ebd .) Kurz: Bevor man n icht ge zeigt hat, wie die »objektiven ökonomischen Krisen« sich konkret ent wickeln , wie sie vermittels der sich verändernden sozialen Kräftever
hältnisse zur Krise von Staat und Gesellschaft und zu ethisch-politi schen Kämpfen und politischen Ideologien werden , die die Weltan schauung der Massen beeinflussen, hat man keine angemessene Ana lyse vorgenommen , die in dem entscheidenden und unumkehrbaren »Übergang« von der Basis zum Überbau wurzelt. Die unmittelbare Unfehlbarkeit, die der ökonomische Reduktionismus mit sich bringt; ist, so Gramsci , »billig zu haben« , Sie ist theoretisch bedeutungslos und von äußerst geringer politiSCher Tragweite und prakt ischer Wirk samkeit. Im allgemeinen produziert sie weiter nichts als Moralpredig. ten und endlose Fragen nach der Rolle der Personen . (D317, 115%) Die Konzeption basiert auf der .ehernen Überzeugung, es gäbe in der Ge schichte objektive Entwicklungsgesetze, ähnlich den Naturgesetzen und auf dem Glauben an eine fatalistische Teleologie ähnlich der reli
giösen (D318, 11596). Zu dieser VerfaBserscheinung., die l aut Gramsci «
fälschlicherweise mit dem historischen Materialismus identifiziert worden ist, gibt es nur eine Alternative: »die Hegemoniefrage konkret
zu stellen« .
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Ausgewählte Schriften
Die allgemeine Stoßrichtung der Argumente in diesem Abschnitt zeigt. daß viele Schlüsselbegriffe und charakteristische theoretische Entwürfe Gramscis (z . B. Hegemonie, die Analyse der sozialen Kräfte verhältnisse) von ihm bewußt als Barriere gegen ökonomistisch-reduk tionistische Tendenzen in einigen Spielarten des Marxismus gedacht waren . In seine Kritik am »äkonomismu s « bezog er auch verwandte Tendenzen innerhalb des Marxismus ein , wie Positivismus, Empiris mus, »)Scientismus« und Objektivismus. Dies wird noch deutlicher in »Probleme des Marxismus«, einem Text, der ausdrücklich als Kritik am impliziten »Vulgärmarxismus« in Bucharins Theorie des histori schen Materialismus, Gemeinverständliches Lehrbuch der marxisti schen Soziologie (Hamburg 1921) geschrieben wurde. Bucharins Buch
wurde 1921 in Moskau veröffentlicht, hatte sehr viele Auflagen und 'wurde oft als Beispiel für den »orthodoxen« Marxismus zitiert (obwohl Lenin die Bemerkung machte, Bucharin habe von Dialektik leider keine Ahnung) . In » Kritische Bemerkungen zu einem Versuch , Sozio logie zu popularisieren« führt Gramsci einen scharfen Angriff gegen die epistemologischen Voraussetzungen von Ökonomismus und Positi vismus und die falsche Suche nach wissenschaftlichen Garantien . Sie gründeten aUe, argumentiert er, auf dem fal schen positivistischen Mo dell , demzufolge Entwicklungsgesetze der Gesell schaft und der menschlichen Geschichte nach dem Muster einer »Objektivität« funk tionieren, von der die SozialwissenschaftIer annahmen (zu Unrecht� wie wir heute wissen) , sie beherrsche die Welt der Naturwissenschaf ten . Begriffe wie »Regelmäßigkeit« , ))Gesetzmäßigkeit« , ) Notwendig keit«, »Gesetz« und »Determination�< dürfen laut Gramsci nicht al s »na turwissenschaftliche Ableitungen« gedacht werden, sondern als Aus arbeitung von Konzepten , die auf dem Boden der politischen Ökono mie gewachsen sind. Unter dem »determini.erenden Markt« sind also i n Wirklichkeit »determinierende soziale Kräfteverhältnisse innerhalb einer determinierenden Struktur des Produktionsapparates zu verste hen , wobei dieses Verhältnis garantiert wird (das heißt stabilisiert wird) durch einen bestimmten politischen, moralischen, juridischen Überbau« (D20I , Il477) . Die Ersetzung der alten durch diese neue Formulierung macht den Übergang von einer analytisch reduktiven , schwachen , positivistischen Formel zu einer komplexeren Theoretisie rung im Rahmen der Sozialwissenschaften deutl ich . » Der (als wesent liches Postulat des historischen Materialismus behauptete) Anspruch , jede Bewegung in Politik und Ideologie als unmittelbaren Ausdruck der Basis vorführen und auslegen zu können , muß als theoretischer In fantilismus zurückgewiesen und praktisch , mit Hilfe des authentischen Vermächtnisses von Marx , dem Autor so vieler konkreter, politischer
Gramscis Erneuerung des Marxismus
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und historischer Arbeiten bekämpft werden.« (DI99f. , 1871) Diese Richtungsverschiebung, die Gramsei innerhalb des marxistischen Ter rains erreichen wollte, wurde sehr selbstbewußt vollzogen und war für die Stoßrichtung seines ganzen nachfolgenden Denkens entscheidend. Ohne diesen theoretischen Ausgangspunkt kann die komplizierte Be ziehung Gramscis zur Tradition marxistischer Gelehrsamkeit nicht richtig bestimmt werden . Wenn Gramsci die Simplifizierungen des Reduktionismus zurück wies, wie versuchte er selbst eine adäquate Analyse der sozialen For mation zu entwickeln? Hier könnte uns ein kurzer Abstecher helfen, wenn wir vorsichtig vorgehen. Alth usser (der stark von Gramsci be einflußt wurde) und seine Mitarbeiter haben in »Das Kapital lesen« (1972) eine wichtige Unterscheidung gemacht zwischen dem Begriff der Produktionsweise einerseits, der die ökonomischen Grund verhält nisse bezeichnet, die eine Gesellschaft charakterisieren, aber eine ana lytische Abstraktion ist, weil keine Gesellschaft lediglich durch ihre Ökonomie funktionieren kann - und der von ihnen so genannten »Ge sellschaftsformation« an derersei ts Mit di esem Begriff wollten sie dem Gedanken zum Durchbruch verhel fen , daß· Gesellschaften notwendi gerweise komplex strukturierte Totalitäten mit unterschiedlichen Arti kulationsebenen sind (den ökonomischen, politischen , ideologischen Instanzen in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung) ; wobei jede Zu samm ens ezung eine andere Konfiguration der sozialen Kräfte er gibt und damit einen anderen gesellschaftlichen Entwicklungstyp. Als Kriteriu m für eine »Gesellschaftsformation« gaben die Autoren an , es könnten in ihr verschiedene Produktionsweisen gleichzeitig existieren . Aber obwohl das richtig ist und wichtige Konsequenzen haben kann, (besonders für die nach-kolonia1en Gesellschaften, wie wir später sehen werden), i st dies meiner Meinung nach nicht das wichtigste Un terscheidungskriterium. Betrachtet man »Gesellschaftsfonnationen« , dan n behandelt man komplex s tru k tu ri e rte Gesellschaften, die sich aus ökonomischen , politischen und ideologischen Beziehungen" zusam mensetzen, deren unterschiedliche Artikulationsebenen keineswegs einfach aufeinander verweisen, oder s ich ineinander » spiegeln« , son dern sich - um mit Althussers (1965) treffender Metapher zu sprechen überdeterminiere n . Diese kom pl exe Struktur von unterschiedlichen Artikulationsebenen , nicht bloß die Existenz von mehr als einer Pro duktionsweise, macht den Unterschied zwischen dem Begriff der » Produktionswei s e« und dem notwendigerweise konkreteren und hi sto risch spezifischen Begriff der »Gesellschaftsformation« . Nun, dieser Begriff steht für die Konzeption, auf die Gramsci s ich bezog: Etwa, wenn er sagte, das Verhältnis zwischen Basis und Über.
t
_
Ausgewählte Schriften
68
bau bzw. der Durchgang jeder organischen historischen Bewegung durch die gesamte Gesellschaftsformation , von der ökonomischen
Basis bis zur Sphäre der ethisch-politischen Verhältnisse, müss,e das Herzstück
j eder
Analyse sein .
nicht-reduktioni stischen ,
Diese Frage zu stellen und
nicht-ökonomistischen
zu lösen , hieß eine Untersu
chung durchzuführen, d i e wirklich darauf beruhte, die komplexen Be
ziehungen der Überdetermination verschiedener sozialer Praxen in
jeder GeseUschaftsformation zu begreifen . Diesem Prinzip folgte Gramsci , als er in »Der moderne Fürst« seine s pezifische Methode,
»Situationen zu analysieren« , skizzierte. Die Einzelhei ten sind vielfal
tig und können hier nicht in ihrer ganzen Vielschichtigkeit ausgeführt
werden , aber es lohnt sich , die Umrisse zu ze ichn en , und sei es nur, u m sie mit dem ökonomistischen bzw. reduktionistischen Ansatz zu vergleichen . Er hielt diese Schrift für »eine grundlegende Darstellung der Wissenschaft und Kunst der Politik« , die verstanden werden sollte als ein »Satz praktischer Regeln zur Forschung und zu r detaillierten Beob achtu ng , mit dem das Interesse an der wirklichen Realität wieder geweckt und radikalere, wirksamere politische Erkenntnisse ausgelöst
werden« könnten (D322, 11561) . Diese D ars tel 1 u ng , so fügte er hinzu ,
müsse strategischen Charakter haben. Zuallererst müsse man die Grundstruktur - die objek tiven Verhältnisse
in
einer Gesellschaft
-
oder den »Stand der Produktivkraftentwicklung« verstehen , denn diese" setzt die wesentlichen G renzen und Bed ingungen für die Art u nd Weise
menschlicher Entwicklung. Aus dieser Grundstruktur entwickeln sich einige der HaupUendenzen , die
möglicherweise
diese oder jene Ent
wicklungsrichtung begünstigen . Der Fehler des Reduktionismus be· steht nun darin , diese Tendenzen und Zwänge unmittelbar in von ihnen vollständig determinierte politische und ideologische Effekte zu über
setzen ; oder alternativ dazu , sie als abstrakte »eherne Gesetze der Not
wen di gkeit « zu be gr eifen . In Wi rkl i ch ke i t strukturieren und determi
nieren sie nur insofern , als sie das Feld abstecken , auf dem die histori
schen Kräfte sich bewegen - sie definieren den Horizont der Möglich keiten . Aber sie können weder in letzter noch in erster Instanz den In halt der poli t i s ch en und ökonomi s ch en Kämpfe vollständig definieren und noch viel wen iger das Ergebnis solcher Kämpfe objektiv fixieren
oder garantieren . Der nächste Analyseschritt besteht darin, » o rgani sche« »h isto ri s che Entwicklungen« , d ie relativ lang anhaUen und tief i n die Gesellschaft eindringen ,
von
eher »gelegentlichen, s ch nellen , fast
zu fäll igen Entwi c klungen « zu unterscheiden . In diesem Zusammen
hang erinnert uns Gramsci daran , daß eine »Krise«, wenn sie organisch
ist,. »Jahrzehnte andauern kann« . (D324 , Il579f. ) Sie ist kein statisches Phänomen , sondern gekennzeichnet durch ständige Bewegungen und
Gramscis Erneuerung des Marxismus
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Gegenbewegungen, durch Kämpfe etc. , die den Versuch verschiedener Seiten darstellen, die Krise zu überwinden oder zu lösen , und zwar in einer Weise, die ihre jeweilige Hegemonie langfristi g begünstigt . Die theoretischen Gefahren liegen, so Gramsci , darin , »Ursachen als un
mittelbar wirksam darzustellen , die in Wirklichkeit nur indi rekt wir ken, oder die unmittelbaren Ursachen für di e einzig wirksamen hal ten«. Das erste führt zu einem »exzessiven 'Ökonomismus' «, das zwei te zu einem »exzessiven 'Ideologismus' «. (D324, nS80) (Gramsci war besorgt über das besonders in Zeiten der Niederlage fatale Oszillieren
zwischen den beiden Extremen , die in Wirklichkeit nur das jeweils verkehrte Spiegelbild des anderen sind.) Er war weit davon entfernt zu glauben, irgendei n Gesetz der Notwendigkeit werde mit »gesetzesähn
licher« Sicherheit dafür sorgen , daß die ökonomischen U rsachen sich
unmittelbar i n politische Folgen verwandel n . Er insi stie rte darauf,
eine Analyse könne nur dann nützlich und »wahr« sein, wenn die ihr
zugrundeliegenden Annahmen zu einer neuen Realität würden (vgl . ebd . ) . Die Ersetzung der positivistischen Gewißheit durch die Kondi tionalfom1 i st hier entscheidend. Als nächstes hob Gramsci hervor, daß Länge und Komplexität von
Krisen nicht mechanisch vorausgesagt werden könnten, sondern sich über längere h i storis che Abschnitte, Per ioden hinweg e ntwi ckelten .
Perioden relativer »Stabilität« und Perioden schneller und umwälzen
der Veränderungen wechselten sich ab. Infolgedessen sei die Periodi sierung ein Schlüsselaspekt der Analyse. Dies entspricht dem vorher erwähnten Interesse an der historischen Spezifik. »Gerade das Studi um dieser 'Intervalle' unterschiedlicher Frequenz macht es möglich, auf der e i nen Seite die B eziehungen zwischen Basis und Überbau und
auf der anderen die zwischen organischen und ko nju nkturel len Ent
wicklungen an der Basis zu rekonstruieren . « (D326, 11582) Es geht dabei nicht darum, etwas Mechanisches oder gesetzmäßig Vorge schriebenes zu »studieren« . Nachdem er so die G ru ndlage n für eine dynamische historische
Rahmenana]yse gelegt hat, wendet er sicb den Bewegungen der histori
schen Kräfte - den KräfteverhäHnissen zu , die das aktuelle Feld poli tischer und sozialer Kämpfe und Entwicklungen ko nstituieren . Hier führt er einen wichtigen Gesichtspunkt ein : Es geht weder darum, nach dem absoluten Sieg der einen Seite über die andere,. noch nach
der totalen Einverleibung eines Teils der gesellschaftlichen Kräfte du rch den anderen zu suchen . Es m uß also nach einer bestimmten Re
lation gefragt werden , und zwar vor dem Hintergrund eines labilen Gleichgew ichts bzw. eines ständigen Prozesses des Auf- u nd Abbaus
70
Ausgewählte
Schriften
instabiler K räftegleichgewichte. Die zentrale Frage lautet: Inwiefern sind »die Kräfteverhältnisse für die eine oder für die andere Seite gün
stig . « (D326, I1582f. ; Hervorh . d . Verf. ) Die Betonung der Begriffe
»Beziehung« , »Verhältn is« und »labiles Gleichgewicht« eri nnert uns
daran , daß soziale Kräfte, die i n einer bestimmten historischen Periode unterlegen sind , nicht vom Kampfplatz verschwinden ; auch der Kampf ist u nter diesen Bedingungen nicht ausgesetzt . So ist zum Beispiel die Vorstellung eines »absoluten« und totalen Sieges der Bourgeoisie über die A rbeiterklasse, oder die einer totalen Integrati on der Arbeiterklas se in das bürgerl iche Proj ekt, Gramscis Definition von Hegemonie vöBig fremd - in gelehrten Kommentaren wird j edoch häufig das eine mit dem anderen verwechselt. Es kommt immer auf das tendenzielle Gleichgewicht de r Kräfte an .
Gramsci differenziert dann verschiedene Stadien der »Kräfteverhält nisse« . Er untersteHt keine notwendige teleologische Evolution zwi schen ihnen . Die erste Differenzierung hat mit der Einschätzung der obj ektiven Bed i ngu ngen zu tun , die den verschiedenen gesellschaftli
chen Kräften i hren Platz zuweisen. Die zweite bezieht sich auf ein po l i tisches Stad ium: auf den »Grad der Homogenität, der Selbsterkennt nis und auf den Organisationsgrad , den die gesellschaftlichen Klassen j ewei l s erreicht haben« (D327, Il583) . An dieser Stelle ist es wicht ig
festzuhalten , daß die sogenannte Einheit der Klasse nie a priori u nter
s tel1t w i rd . Es wird davon ausgegangen , daß Klassen , obwohl ihnen be
s timmte, ähnliche Existenzbedingungen gemeinsam sind , gleichzeiti g
durch gegensätzliche Interessen gespalten sind und im Zuge ihrer hi storischen Formierung segmentiert und fragmentiert wurden . Die Ein heit der Klasse schließt a l so notwendigerweise Vielfalt ein und muß erst produziert werden
als Resultat spezifischer ökonomischer, poli
tischer und ideologischer Prozesse. Sie kann sich niemals automatisch herstellen oder als » gegeben« vorausgesetzt werden . In Zusammen
hang mit d ieser radikalen Historisierung der tief im Herzen des funda mentalistischen Marxismus verankerten mechanischen Klassenkon zeption entwickelt Gramsci Marx' Unterscheidung zwischen der »Klasse an sich« und der »Klasse für sich{( weiter. Er bestimmt die un terschiedlicheI1 Stadien , die das Klassenbewußtsei n . der Organisa tionsgrad und die Einheit der Klasse unter bestimmten Bedingungen durchlaufen. Da ist das »ökonomisch korporative Stadium«, in dem bestimmte Berufsgruppen gemeinsame Grundinteressen erkennen, aber kein Bewußtsein weitergehender Klassensolidarität h aben . Dann gibt es das »klassen-korporatisti sche« Stadium, in dem sich Klassenso l i darität aufgrund gleicher Interessen entwickelt, aber nur im
ökono-
!'
Gramscis Erneuerung des Marxismus
71
mischen Bereich. Schließlich gibt es das Stadium der »Hegemonie«, das die korporativen Schranken einer rein ökonomischen Solidarität überwindet und beginnt , sich » in der Gesellschaft auszubreiten« , die Interessen anderer unterdrückter Gruppen einzubeziehen, sowohl in tell ektuelle und moralische als auch ökonomische und politische Ein
he it zu schaffen , die »Fragen zu formulieren, um die die Kämpfe ent brannt sind ( ) und so die Hegemonie einer zentralen gesellschaftli . . .
chen Gruppe über eine Reihe untergeordneter Gruppen herzustellen« (D327f. , 11584) . Dieser Prozeß, in dem die dominante Gruppe ihre In teressen mit den allgemeinen Interessen anderer Gruppen und mit dem Staatsgefiige als ganzem koordiniert, kon s tituiert die »Hegemonie«
eines bestimmten » historischen Blocks«. Nur in solchen Momenten einer »national-popularen
E i nhe it«
wird die Formierung eines,. wie
Gramsci es nennt, »kollektiven Willens« möglich . Gramsci erinnert uns jedoch daran, daß selbst dieses außergewöhnliche Maß organi scher Einheit den Ausgang der jeweiligen Kämpfe nicht garantiert.
Sie
können gewonnen oder verloren werden aufgrund bestimmter aus schlaggebender, taktischer Entscheidungen und des politisch-militäri schen Kräfteverhältnisses. Aber er besteht darauf, daß » die Politik
Vorrang vor dem militärischen Aspekt hat und daß nur sie die Mög lichkeiten für militärische Manöver und Fortschritte schafft. « (D343) Dre i Bemerkungen zu dieser Formulierung : Erstens i st »Hegemonie« ein sehr außergewöhnlicher, historisch spezifischer und vorübergehen
»Augenblick« im Leben einer Gesellschaft. Denn selten wird ein solcher Grad an Einheit erreicht, der es einer Gesellschaft ermöglicht,
der
u nter Führung einer bestimmten Formation oder Konstellation gesell schaftlich er Kräfte eine neue historische Epoche zu beginnen. Es i st unwahrschein1ich , daß solche Perioden des »Ausgleichs« ewig andau ern. Sie existieren keinesfalls automatisch weiter. Sie müssen aktiv konstruiert u nd erhalten werden . Krisen markieren den Beginn ihrer Auflösung. Zweitens müssen wir in Betracht ziehen , daß Hegemonie
sich auf viele Dimensionen und Bereiche bezieht. Sie kann nich t nur an einer Kampffront errichtet und erhalten werden (z. B. im ökonomi schen Bereich) . Hegemonie haben bedeutet, eine ganze Reihe von »ge
sellschaftlichen Positionen« gleichzeitig zu besetzen . Diese Vormacht stellung ist nicht e infach Resultat von Zwang oder Unterdrückung. Sie
ist das Ergebnis eines Prozesses) in dem ein beträchtliches Maß an Zu stimmung im Volk gewonnen wurde. Sie ist also ein Zeichen für einen
hohen Grad an sozialer und moralischer Autorität, nicht nur bei ihren
unmittelbaren Anhängern. sondern in der Gesellschaft als Ganzes.
Diese Autorität und die Anzahl u nd Vielfältigkeit der Bereiche, in
d enen d ie »Führung« übernommen wird, ermöglicht einige
Zeit lang
72
Ausgewählte Schriften
die Ausbreitung eines intellektuellen, moralischen, politischen und ökonomischen kollektiven Willens in der ganzen Gesellschaft. Drit tens,. die in einer Periode der Hegemonie »Führenden« werden nicht mehr als »herrschende Klasse« bezeichnet, wie im traditioneHen Sprachgebrauch, sondern als h istorischer Block. Aber es werden nicht ganze Klassen al s einheitliche historische Akteure unmittelbar auf die politisch-ideologische Bühne befordert, obwohl der Bezug zur »Klas se« die AnaJyseebene entscheidend bestimmt . Die »führenden Grup
pen« in einem historischen Block mögen lediglich eine Fraktion der
herrschenden ökonomischen Klasse seil1 - z.B. das Finanzkapital und nicht das industrielle Kapital ; das national e und nicht das internationa
le KapitaL Mit ihnen im »Block« verbündet werden Schichten der un tergeordneten und beherrschten Klassen sein, die aufgrund bestimmter Kon�ssionen und Kompromisse gewonnen wurden und die Teil der gesellschaftlichen Konstellation sind, aber eine untergeordnete Rolle spielen . » Breite Bündnisse« wurden geschmiedet, um diese Sektionen zu gewinnen. Sie festigen den historischen Block unter einer bestimm ten Führung und geben ihm allgemeinverbindJichen Charakter. Jede hegemoniale Formation hat daher ihre eigene, spezifische Zusammen setzung und Gestalt. Dies ist eine ganz andere Art, einen Begriff für das zu bilden, was gemeinhin sehr u ngenau und nachlässig mit dem Ausdruck »herrschende Klasse« bezeichnet wird . Gramsci
war
natür
lich nicht der Erfinder des Begriffs Hegemonie. Lenin benutzte ihn im analytischen Sinn und bezeichnete damit die Führungsposition , die das Proletariat bei den Kämpfen um die Gründung des sozialistischen Staa
tes über die Bauernschaft g ew inne n mußte. Diese Verwendungsweise ist selbst schon interessant. Beim Studium sich entwickelnder
Gesell
schaften , die nicht den »klassischen« EntwickJungsweg gegangen sind, der Marx im »Kapital« als Vorbild diente (d . h . das Beispiel
Großbri
tanniens) , i st eine der Schlüsselfragen, die nach dem Kräftegleichge wicht bzw. nach dem Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen so
zialen Klassen, die um ihre nationale Unabhängigkeit und ökonomi sche Entwicklung kämpfen . Interessant ist die relative Bedeutungslo sigkeit des industriellen Proletariats im engeren Sinne in Gesellschaf ten, mit niedrigem industriellen Entwicklungsstand; und zu untersu chen ist vor allem das Ausmaß, in dem die bäuerliche Klasse eine füh rende RoHe in den Kämpfen spielt, aus denen der Nationalstaat hervor geht und sogar in einigen Fällen (das herausragende Beispiel ist China, aber auch Cuba und Vietnam sind bemerkenswerte Beispiele) diefüh
rende revolutionäre Klasse ist. In einem ähnlichen Kontext entwickelt
Gramsci zuerst den B egriff der Hegemonie. In »Die Süditalienische Frage« von 1920 schrieb er, das Proletariat in Italien könne nur dann
73
Gramscis Erneuerung des Marxismus
zur führenden Klasse werden , »wenn es ein System von Bündnissen schafft. das es ihm erlaubt, die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung gegen den Kapi tal i smu s und den bürgerlichen Staat zu mobilisieren , d . h . in dem Maße, in dem es ihm gelingt die Zustimmung der breiten Masse der Bauern zu gewinnen .« (Gramsci 1980, 191) Dies ist schon eine theoretisch vielschichtige und reichhalt ige Formulierung. Sie be sagt, daß die soziale oder pol itische Kraft, die im Augenblick einer or ganischen Krise entscheidende Bedeutung gewinnt , nicht aus einer ho mogenen Klasse besteht , sondern vielschichtig zusammengesetzt sein wird . Sie besagt zweitens, daß ihre Stellung im Produktionsprozeß nicht automatisch die Grundlage ihrer Einheit ist, sondern daß dies e »
«.
.
durch ein System
von Bündnissen hergestellt
werden muß. Drittens :
ihre Wurzeln in der grundlegenden Klassenteilung der Gesellschaft hat werden die jewei ligen Formen ihrer politi sch en Kämpfe eine breitere soziale Basis haben - sie werden die Gesell schaft nicht nur ent lang der Klassellli nien spalten , sondern sie so polarisieren , daß auf der einen Seite des gesellschaftlichen Antagonismus eine breite Front gebildet wird, die die »Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung« umfaßt. Zum Bei sp iel wird es eine Polarisierung geben zwischen allen Volksklassen auf der einen Seite und a11 denen , die die Interessen des Kapitals und des um den Staat gruppierten Machtblocks vertreten, auf der anderen . Bei na tionalen und ethnischen Befreiungskämpfen in der modemen Welt ist das Kampffeld oft genau in d ieser kompl exen und differenzierten. Wei s e polarisiert. Die Schwierigkeit liegt darin daß dieses Feld immer noch mit einer theoreti s chen Begrifflichkeit beschrieben wird , d ie seine vielschichtige soziale Zusammensetzung mit deskriptiven , simplifizierenden Begriffen auf einen Kampf zwischen zwei scheinbar einfachen, homogenen Klassen reduziert. Im Zuge seiner theoreti schen Neuerungen setzt Gramsci darüber hinaus solche zentralen stra teg ischen Fragen auf die Tagesordnung wie die, auf welche Weise ei�e Kla sse wie die der Bauern für den nationalen Kampf gewonnen werden kann , und zwar nicht durch Zwang sondern indem man »ihre Zustim mung gew innt
obwohl eine soJche soziale und politische Kraft
,
,.
,
«.
Laufe seiner späteren Schriften hat er das Konzept der Hegemo nie noch we iter au sgedeh n t: Er löste sich davon, sie im wesentlichen als »Klassenbündnis« zu denke n . Zu nä chs t wird »Hegemonie« zu einem allgemeinen Begriff, der auf die Strategien aller Klassen ange wandt werden kann� die Fonn ierung aller führenden · historischen Blöcke kann damit analysiert werden , nicht nur die Strategie des Pro letariats . Auf diese Weise verwandelt er das Konzept in einen a llge Im
-
Ausgewählte Schriften
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meineren, analytischeren Begriff. Seine Anwen dbarkeit in dieser all gemeinen Form liegt auf d e r Hand. Eine Vielzahl konkreter histori
sche r Situationen kann bedeutend klarer erkannt werden, wenn das
Konzept weiterentwickelt wird : z . B. , wie der südafrikanische Staat durch das Interessenbündnis zwischen weißer, herrschender Klasse
und weißen Arbeitern gegen die Schwarzen aufrecht erhalten wird ; oder die wichtige Rolle, die in der südafrikanischen Politik die Versu che gespielt haben, die »Zustimmung bestimmter untergeordneter Klassen und Gruppen zu gewinnen«
z . B. die der Farb igen oder die
der in »Stämmen« lebenden Schwarzen -, um Bündnisse gegen die Masse der Schwarzen auf dem Land und in der Industrie zu schmie den ; oder der »gemischte« Kla ss e ncha rakter aller Kämpfe um nationa
le Unabhängigkeit der s ich entwickelnden , nachkolonialen Gesell
schaften .
Die zweite Weiterentwicklung liegt in der von Gramsci formulierten Unterscheidung zwischen einer Klasse, die »herrscht«, und einer Klas se, die »führt«. Herrschaft und Zwang können die Vormachtstellung
ei ner bestimmten Klasse in der Gesellschaft erhalten . Aber ihre Reich weite ist begrenzt. Sie muß sich beständig auf Zwangsmittel s tützen ,
statt auf die Gew i nn un g von Zu s timmung . Daher kann sie die aktive Beteiligung verschiedener Tei le der Gesellschaft für das historische
Projekt der Erneuerung oder Transformation des Staates nicht gewin
nen . Auf der anderen Seite hat auch »Führerschaft« Aspekte von »Zwang« . Im Vordergrund steht jedoch der Versuch , Zustimmung zu
gewinnen, untergeordnete Interessen einzubeziehen, populär zu wer den . Für Gramsei gibt es keinen Fall reinen Zwangs oder reiner Zu stimmung - es gibt nur verschiedene Zusammensetzungen beider
Ökonomie und der Verwaltung beg renz t sie schl i eßt ei ne Füh ru n g spos ition auf den Ge bieten der Kultur, der Moral, der Ethik und im Bereich des geistigen Lebens ein . Nur unter solchen Bedingungen kann ein l angfris ti ges , hi s tori sches Projekt auf die Tagesordnung gesetzt werden , wie z . B. die Gesellschaft zu modernisieren, ihre Leistungsfähigkeit auf eine höhere Stufe zu heben, oder die Grundlagen der nationalen Politik umzuwäl zen . Es hat sich gezeigt, daß Gramsci das Konzept von Hegemonie er weitert, in de m er eine Reihe von strategi schen Unterscheidungen macht, z . B. Herrschaft/ Führung, Zwang /Zustimmung, ökonomisch korporativ /moralisch und gei stig. Diese Erweiteru ng wird von e in er weiteren Unterscheidung gestützt, auf der G ramscis grundlegende hi
Aspekte. Hegemonie ist n icht nur au f das Feld der ,
storische These basiert, der zwischen »Staat und Zivilgesellschaft«. In seinem Aufsatz gleichen Namens hat er diese Differenzierung in
Gramscis Erneuerung des Marxismus
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verschiedene Richtungen ausgearbeitet. Zunächst unterschied er zwei taktischer Kam pfformen : den »Bewegungskrieg« (war of manoevre) Bewegungskrieg, bei dem sich alles auf eine Front und auf einen Au genblick des Kampfes konzentriert, wo es einen einzigen strategischen Durchbruch in das »Verteidigungssystem des Feindes« gibt, der, einmal durchgeführt� den neuen Kräften ermöglicht) ) ·einzubrechen und einen endgültigen, strategischen Sieg zu erringen«, Andererseits gibt es den »Stellungskrieg« , ein langwieriger Krieg, der entlang vieler verschie dener und sich verändernder Kampffronten geführt werden muß ; bei dem es selten einen einzelnen Durchbruch g ibt durch den der Krieg ein für allemal - blitzartig, wie Gramsci sagt - gewonnen werden kann. In diesem Stellungskrieg komme es nicht auf die »vorgeschobe nen Schützengräben (um die mili tärische Metapher beizubehalten) des Feindes an, sondern auf das ganze ökonomische System und die Orga nisation des Hinterlandes der kämpfenden Armee« (vgL 1859) , das heißt, auf die gesamte Gesellschaftsstruktur, einschließlich der Struk. turen und Institutionen der Zivilgesellschaft. Für Gramsci war »1917« v ielleicht das letzte Beispiei eines erfolgreichen »taktischen ß ewe g ungs kri eges « : es war ))der entscheidende Wendepunkt in der Ge schichte der Kunst und Wissenschaft von der Politik« (D346, 1860) . Gramsei ver knüpfte dies mit einer zweiten Unterscheidung, der zwi sehen »Ost« und »)West«. Sie sind für ihn Metaphern, die den Unter schied zwischen dem östlichen und westlichen Europa benennen, zwi schen dem Modell der russischen Revolution und den Formen des poli tischen Kampfes die dem sehr viel schwierigeren Terrain der indu strialisierten, liberalen Demokratien des »Westens« angemessen sind. Hier spricht Gramsci ein sehr wichtiges Thema an, dem viele Marxi sten l ange ausgewichen sind: Daß ähnliche politische Bedingungen, wie die, die in Rußland ein 1917 ermöglichten, »im Wes ten« ausgeblie ben sind. Das ist ein zentraler Sachverhalt, denn trotz dieser grundle genden Unterschiede (und dem daraus folgenden Ausbleiben des klas- . sischen Typs einer proletarischen Revolution im »Westen«) blieben die Marxisten von dem Gedanken einer Politik und einer Revolution nach dem Modell des »Winterpalastes« besessen. Gramsci hingegen macht eine wichtige analytische Unterscheidung zwischen dem vorrevolutio nären Rußland, mit seiner weit hinterherhinkenden Modernisierung, seinem aufgeblähten Staatsapparat und der aufgeblähten Bürokratie, seiner relativ unterentw ickelten Zivilgesellschaft und dem niedrigen Stand kapitalistischer Entwicklung einerseits und dem »Westen« ande rerseits, mit seinen Fonnen von Mas sendemokratie, seiner komplexen Zivilgesel1schaft , der Konsolidierung des Massenkonsensus durch die politische Demokratie, die dem Staat eine auf Konsens aufgebaute =
,
.
,
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Ausgewählte Schriften
Gru ndlag e verschaffte. »Im Osten war de r S taat al le s , d i e Z ivilgesell schaft befand si ch in einem gallertartigen Urspr ungsstadium . Im We
s ten gab es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Staat und Zivilge seIlschaft, und wenn der Staat wankte, zeig te sich sofort die wider
standsfähi ge Struktur der Zivilg esell scha ft. Der Staat war n u r de r vor geschobene S chützengraben , mit einem mächtige n System von Fe stungsa nlagen im Rück en : mehr oder weniger entwickel t von Staat zu Staat ( . . . ) genau desha1 b war eine genaue Erforschung des jeweiligen n atio na len Charakters nötig.« (D347, 1866) Gramsci weist nicht nur auf einen bestimmten historischen Unter schied hin. Er beschreibt ein h i sto ri sche s Übergangsstadium . Offen
s ichtHch - und das wird in »Staat u nd Zivilgesellschaft« deutlich � sieht er den »Stellungskrieg« zunehmend den » B ewegungs kr ieg « ver- . drängen , und zwar in dem Maße, in d em die Bedingungen des »We s tens « das modeme pol iti s ch e Terrain in einem Land nach dem ande
ren charakterisieren . (H ie r ist der Begri ff »der Westen« keine geogra
ph ische Bezeichnung mehr : er steht für ein neues politisches Terrain, hervorgeb racht durch neu entsteh e nde Staatsformen und Formen der Zivilgesellschaft und durch die v iel schi ch ti gen B eziehu ngen zwischen
heiden . ) In diesen »fortgeschritteneren« Gesellschaften , i n denen die »ZiviIgesellschaft ei ne sehr komplexe Struktur geworden i st, wider standsfähig gegenüber katas trop hen f6rm igen 'Einbrüchen' unmittel
bar ökonomi s che r Faktoren, ( . . . ) sind die Überbauten der Zivilgesell schaft w ie ein S ystem von S ch ütze ngräbe n in der modernen Kriegsfüh rung.« (D345, 1860) D i es em neuen Handlungsfeld entsprich t ein ande rer Typus poli ti scher St ra tegie n . » Der Beweg ung skrieg « wird auf eine taktische Funktion reduziert, er verliert seine strateg ische Bedeutung . Man geht vom »Frontalangriff« zum »Stel1ungskrieg�< über, der eine nie dagewesene »Konzentration von Hegemonie« er fo rde rt . Er ist »in tensiv, schw ierig und erfordert ein außergewöh nl i ch es Maß an G eduld
und Erfindungsreichturn« . Denn einmal gewonnen , i s t di eser Kampf endgül tig entschieden (vgl . D348, 1802) . Gramsci beg ründet d i es en
» Übergang von einer Politikform zur anderen« historisch . Er findet nach 1870 im We sten statt und ist gl eichz us etzen mit der
koloniale n
»
Expansion Europas« , dem Entstehen der mod er nen Massendemokra
t ie, einer Vervielfältigung der Organi sationsformen und der Rolle des Staates und ei ner nie dag ewes enen Vervollkommnung der Strukturen und Prozesse »ku ltu reller Hegemonie« . Was Gramsci hier hervo rhebt , ist ein Teil der Divers i fizi e run g der sozialen
Antagoni sme n , die »Dis
persion« , Dezentralisierung der Macht in Gesell schaften , deren Hege monie n ic ht mehr au ss chli eßli ch durch Zwangsinstrumente des Staates
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Gl'Q1YtScis Ern eu e rung des Marxismus
erhalten wird , sondern sich auf die Beziehungen und Institutionen der Zivilgesellschafl grundet. In diesen Gesellschaften werden die priva
ten Vere ine , die Beziehungen und Institutionen in der ZivilgeseUschaft - Schule, die Familie, Kirchen und das reli giö se Leben, sogenannte Privatbeziehungen , geschlechtsspezifische, sexuel le und ethnische Identitäten , kulturell e Organisationen - »für die Kunst der Poli tik zu 'Schützengräben' und dauerhaften Festungen der Front im Stenungs� krieg: Das Bewegungselement, das vorher den 'ganzen' Krieg aus machte, wird zum bloßen 'Teilelernent'« (D356, 11566) . Diesen Er kenntnissen liegt ei ne gründliche, theoretische Neudefinition zugrun de. Tatsächlich arbeitet Gramsci nach und nach di e für einige Versio nen des Marxismus typische, beschränkte Staatsdefirution um, die ihn auf ein von der herrschenden Klasse geprägtes und benutztes Zwangs instrument reduzieren , das nur transformiert werden kann, indem man es mit einem e inz i gen Schlag zertrümmert. Er betont nicht nur die
komplexe Formation einer modernen Zi vilgesellschaft, sondern auch die parallele Entwicklung einer komplexer werdenden Ausformung des modernen Staates. Der Staat wird nicht mehr b10ß als admi ni strati ver Zwangsapparat gesehen - er wirkt auch »erzieherisch und bil dend« . Er ist der Ausgangspunkt, von dem aus die Hegemonie über die GeseHschaft als ganzes letztendlich ausgeübt wird (obwohl er nicht der einzige Ort ist, an dem Hegemonie errichtet wird) . Der Staat ist der Ort der Verdi chtung - nicht nur weil alle Formen VOll Zwangsherr schaft notwendigerweise von diesem Apparat ausgehen,. sondern weil in seiner widersprüchlichen Struktur eine Vielfalt verschiedener Be ziehungen und Praxen si ch zu einem definitiven Regelsystem verdich
ten. Jeder Staat, so Gramsci, hat insofern eine ethi sche Funktion , als es eine seiner wichtigsten Aufgaben ist, »d ie große Masse der Bevöl ke rung auf eine bestimmte kulturelle und moralische Ebene zu heben, die den Entwicklungsbedürfnissen der Produkti vkräfte entspricht und .
(11049) .
Man beachte hier, wie Gramsci neue Dimensionen von Macht und Politi k i n den Vordergrund ruckt, neue Bereiche, in denen Kämpfe stattfinden und Antagon ismen herrschen: das Ethische, das Kulturel le, die Moral.
damit den Interessen der herrschenden Klasse«
Wie er schließlich zu den »traditionelleren« Fragen zurückkehrt - den »Entwicldungsbedürfnissen der Produktivkräfte« , den Interessen der »herrschenden Klasse« -, aber nicht umstandslos oder reduktioni stisch. Sie können nur mittelbar angegangen werden, über eine Reihe notwendiger Verschiebungen und Scbal tstellen : das he ißt, vermittelt über den »unumkehrbaren Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus« .
Ausgewählte Schriften
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In diesem Rahmen entwickelt Gramsci seine Staats konzeption Der .
modeme Staat übernimmt die Führung auf mo ral i schem und päd ago gischem Gebi et
- »er
plant , initiiert , umwirbt und straft« . Im Staat
und durch den Staat erhält der ihn beherrschende soziale Block nicht nur seine Macht, sondern er gewinnt durch Führerschaft und Autorität
die aktive Zus timm ung derje n igen über die er regiert. In sofern s pi elt !
er eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von Hegemonie. Nach die
ser Lesart ist der S taat kei n Di ng, dessen Größe abgeschätzt und das
dann gestürzt oder mit einem einzigen Schlag zerschmettert wird. Er ist eine komplexe Formation in einer modernen Gesellschaft! die zum
Brennpu nkt verschi edener Strategien und Kämpfe werden muß, weil er der Ort verschiedenster sozialer Auseinandersetzungen ist. Es sollte jetzt klar geworden sein , wie diese Differenzierungen und
die Entwicklungen im Denken Gramscis au f das G rundkonzept der »Hegemonie« zurückwirken und es b er e iche r n
.
G ramscis konkrete
Fo rm ulierungen zum Staat u nd zur Zivilgesellschaft sind von Text zu Text verschi ed en und haben eine Reihe von Mißverständnissen hervor
gebrach t. Aber die Stoßrichtung seines Denkens in bezug auf dieses Probl em steht außer Frage.
Sie zielt unmißverständlich auf die wachsende Komplexität der gegenseitigen Beziehungen zwischen Staat
und Zivi1gesellschaft in modernen Gesellschaften . Zusammenge nommen ergeben diese B ezi ehungen ein vielschichtiges »System«, das
G egenstand vielfältiger Formen politischer Strategien sein muß, die an unterschiedl ichen Fronten gleichzeitig zur Wirkung kommen m üs s en
.
Wendet man eine solche Staats theorie an, stellt sich ein Großteil der Literatur über d en sogenannten »nachkolonialen Staat« in
ei nem
völlig anderen Licht dar. Denn dort wurde oft von dem schlichten Modell
einer herrschenden ,
i nstrumentellen
Staats macht
ausge
gangen . In diesem Zusammenhang sollte Gramscis Unterscheidung zwi
schen »Ost« und »West« nicht allzu wörtlich genommen werden . Viele der sogenannten E ntw ickl u n g s l ä nd er haben schon kompl exe demo ,.
kratische politische Reg i e ru ngen das heißt, nach Gramscis Term ino ,
logie gehöre n sie zum »Westen«. In anderen hat der Staat selbst einige erzieherische Funktionen u nd Führungsaufgaben übernomme n , die in
den liberalen Demokratien des industrial i sierten Westens i n der Zivil ges ell s chaft stattfinden . Es kommt deshalb darauf an, Gramscis Diffe renzier ungen nicht wörtlich oder mechanisch anz uwenden
,
sondern
seine Einsichten zu nut zen , um die sich verändernden , kom pl exen Be ziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft in der modernen Welt
zu entwirren und zu zeigen , daß diese historische Tran sfo rmation e in e
79
Gramscis Erneuerung des Marxismus
entscheidende Verschiebung i m vorherrschenden Charakter der strate gi schen , politischen Kämpfe hervorgebracht hat, insbesondere die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und des Staates als wichtige, inte
grale Bestandteile des Kampfes. Ein erweiterter Staatsbegriff, argu mentiert Gramsci an einer Stelle, muß die ltpolitische Gesellschaft«, die »Zivilgesellschaft« und die durch Waffengewalt geschützte Hege
monie einschließen. (I 763) Er untersucht besonders, wie diese ver schiedenen Bereiche in verschiedenen Gesellschaften jeweils unter schiedlich verknüpft sind : z . B. in den liberalen, parlamentarischen Demokratien, in denen Gewaltenteilung herrscht und im Gegensatz
dazu in den faschistischen Staaten , in denen die Gewalten zentralisiert sind .
Die traditionelle Prioritätensetzung, in der die verschiedenen Typen
des Kampfes , z .B. um das Schulwesen, um Kultur oder um Sexualpoli
tik, um die Institutionen der ZivilgeseUschaft (wie Familie, traditio
nelle soziale Organ i sationen , ethnische und kulturelle Institutionen
und ähn liches) alle einem ökonomischen Kampf untergeordnet, um
den Arbeitsplatz zentriert und auf die schlichte Alternative zwischen gewerkschaftlichem Widers tand oder
Parlamentarismus reduziert
werden � diese traditionelle Prioritätensetzung wird von Gramsci Punkt für Punkt in Frage gestellt und verworfen. Die Konsequenzen für eine
neue Politiklwnzeption sind geradezu elektrisierend .
Aus den vielen interessanten Themen und Gegenständen in Gramscis
Werk, die wir behandeln könnten , greifen wir zum Schluß· die frucht
bare Arbeit über Ideologie, Kultur, die Rolle der Intellektuellen und den Charakter dessen, was er »national-popular« nennt, heraus.
Gramsci übernimmt eine Definition von Ideologie, die zunächst ziem
lich traditionell erscheint: Ideologie i st »j ede Weltanschauung , jede
Philosophie, die zu einer kulturellen Bewegung wird, zu einer 'Reli
gion' zu einem 'Glauben'. « Jede Aktivität und jeder Wille, die »implizit eine Philosophie als theoretische Prämisse enthalten«, können als Ideologie bezeichnet werden . Er fügt hinzu� »man mag von Ideologie
sprechen , wenn man den Begriff im besten Sinne verwendet, als Welt
anschauung, die sich implizit in der Kunst , im Recht, in ökonomischen
Aktivitäten und in allen individuellen und kollektiven Lebensäußenm
gen manifestiert. « (D134 , 11380) Es folgt ein Versuch, das Problem
ldar zu defi nieren , das sich in bezug auf die soziale Funktion von Ideo
logie stellt: »Das Problem besteht darin, die ideologische Einheit des
sozialen Blocks zu erhalten, der durch diese Ideologie zementiert und
vereinheitlicht
wird.« (Ebd .)
Diese Definition ist nicht so simpel
wie sie aussieht, denn sie unterstellt eine Verbindung zwischen dem
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Ausgewählte Schriften
philosophischen Kern oder der Prämisse im Zentrum der jeweiligen Ideologie oder Weltanschauung und der notwendigen Ausarbeitung
dieses Kemkonzepts zu einer pra kti sch en, im Volk verankerten Be wußtsein sfoml, die die breiten Massen beeinflußt , indem sie eine kul
turel1e Bewegung formt, eine politische Richtung, einen Glauben oder eine Religion. Gramsci befaßt sich niemals nur mit dem ph ilosophi
schen Herzstück einer Ideologie. Immer sind organische Ideologien
sein Gegenstand , das heißt Ideologien , die bestimmte, praktische For men des Alltagsbew u ßtseins aufgreifen und so »Menschenmassen or
ganisieren und das Feld schaffen,. auf dem Menschen s ich bewegen, sich ihrer Position bewußt werden , kämpfen etc . « (DI70, 1868f. ) Dies i st die Grundlage für Gramscis wichtige Unterscheidung zwi schen »P hilosoph ie « und »AHtagsbewußtsein«. Ideologie besteht a us
zwei unterschiedlichen »Stockwerken« . Die Kohärenz einer Ideologie
hängt davon ab, wie weit sie philosoph i sch au sgearbei tet. i s t . Aber diese forma l e Kohärenz kann nicht ihre historische, organische Effek
tivität garantieren. Nur dort, wo p h ilosop hisc h e Strömungen in das Massenbewußtsein einfließen , es modifizieren und transformieren, ist Ideologie effektiv, wird sie zum A Htags bewuß tsein . Das AUtagsbe wußtsein ist nicht kohärent : e s ist norm alerwe i se unzusammenhän
gend , fragmentarisch . widersprüchlich . Im Laufe der Zeit haben ko
härentere Philosophien darin Spuren hinterlassen , sich in verschiede nen »Schichten abgelagert«., ohne einen k1aren Bestand zu bilden (vgL D131, Il376) . Es präsentiert sich selbst als »traditionelle, j ahrhunderte al te Wei sheit oder Wahrheit« , aber in Wirklich keit ist es ein du rch und durch geschichtliches Produkt, »Tei l eines historischen Prozesses«
(I1378) . Warum i st das Alltagsbewußtsein so wichtig? Weil es das Ter rain ist, auf dem Begriffe und Kategorien sich bilden , auf dem das prakti sche Bewußtsein der Volksmassen konkret geformt wird. Es i st
dieses schon bestellte Feld der »Selbstverständlichkeiten« , auf dem ko härentere Ideologien und Philosophien um den Vorrang ringen müs sen . Neue Weltanschauungen müssen von diesem Feld ausgehen, u m
e s kämpfen und 6S tran sformieren , wenn s i e die Weltanschauungen der Massen fonnen und auf diese Weise historisch wirksam werden wol
len. »Jede philosophische Strömung hinterläßt eine Spur i m Alltagsbe wußtsein; das d o kumentiert ihre hi storische Wirksamkeit. Das All
tagsbewußtsein ist n icht starr und unbeweglich � sondern verändert sich
unaufhörlich , indem es sich mit wissenschaftlichen Ideen und philoso phischen Auffassunge n bereichert, die ins gewöhnlich e Alltagsleben
eingedrungen sind. Da s Alltagsbewußtsein kreiert die folklore der Zukunft, d . h . eine zeitlich u nd örtlich relativ starre Phase des
Volks-
81
Gramscis Erneuerung des Marxismus
wissens« (E326, FN5) . Daß er sich mit
die ser Struktur des Volksden
kens auseinandersetzt, unterscheidet Gramscis Ideologietheorie von an dere n . Er heb t
hervor, daß jede i r, indem sieler denkt� ein/e Philo soph / in ist , denn alles Denken, jede Handlung und jedes Sprec hen sind reflexiv, beinhalten also ein bewußte s moralisches Verhalten und stützen daher ei n e b estimmte Weltan s c hau ung (obwohl nicht jede! r die spezialisierte Funktion »einer I eines Intellektuell en« hat) ,
.
Darüber hinaus wird eine Klasse
das Wesen der Zwänge und
der
Ausbeutungsformen , denen sie unterworfen ist, immer instinktiv ver
stehen , wenn d ieses Verständnis auch eher spontan und anschaulich
ist, als daß es kohärent und phi lo s ophi sch au sgear beitet wäre. Grarnsd
ge sunden Menschenverstand« (buon senso) . Um aber diese Ko ns t rukti onen des Alltagsdenken s in eine kohärentere pol i ti s che Th eorie od er phil o soph i s che Ström ung zu verwandeln, be
bezeichnete dies als den
»
darf es immer einer weitergehenderen politischen Erziehung, einer Politi k des Kulturellen . Die Weiterentwicklung des Al l tagsdenken s ist Teil des Prozesses, i n dem ein kollektiver Wille gefo rmt wird, und er
fordert eine umfassende Organisierung der gei stigen Arbeit - sie ist ein entscheidender Teil jeder hegemonialen politischen Strategie. Die Kultur eines Volkes und sein Glaube, sei ne Überzeugun ge n - sagt
Gramsei
-
sind Kampffelder, die nicht sich selbst überlassen werden
können . Sie sind selbst »materielle Kräfte« (11595) . Um ei ne geistige
oder ethische Einheit herzustellen , ist also ein umfassender kultureHer
und
ideologischer Kampf nötig. Nur so kann Hege monie geschaffen werden : Der Kampf fi nd et zwischen den hegemo nial en Kräften« und den ih ne n entgegengesetzten Strömungen statt, »zunächst auf dem Feld der Ethik, dann auf dem der Politik s elbst (D138, 11385) Dies bezieht sich u nmittel bar auf den Typus des sozialen Kampfes, den wir mit n a tional en, antikolonialen, antirassistischen Bewegungen verbinden. Bei der Anwendung dieser Ideen greift Gramsci niemals auf ein simplifi zierendes FortschrittsmodeU zurück. Z .B. erkennt er im Falle Italiens das Fehlen e iner genuin nationalen Volkskultur, die eine gute Grundla ge fur die Fo rmierung eines kollektiven Volksw ill en s bilden könnte. In vielen Arbeiten über Kultur, popul äre Literatur u nd Religion e rkundet er das poten tielle Terrain un d die Tendenzen in der Gesellschaft und im Leben Italiens, die eine Basis für ei ne solche Entwicklung hergeben »
.«
·
könnten . So zeigt er z . B. , wie der Katholizismus es in Italien geschafft hat, zu einer genuinen »popu l aren Kraft« von u nten zu werden und eine ge Bedeutung bei der Formung der traditionellen Denkwei .e inz igarti sen der Vo lksklassen zu gewinnen . Gramsei führt dies zum Tei l zurück
auf
die gewissenhafte
Aufmerksamkeit�
die
der Katholizismus der
Ausgewählte Schriften
82
Organisation von Ideen schenkte, insbesondere auf die Sorgfalt, mit der die Beziehung zwischen dem philosophischen Denken oder der philosophischen Doktrin und dem Leben des Volkes oder dem Alltags bewußtsein sichergestellt wurde. Gramsci weist alle Vorstellungen
zu
rück , die beh au pten , Ideen und Ideologien entwickelten sich spontan
und in jede Richtung. Wie j ede andere Sphäre des kulturellen Lebens
muß auch die Religion organisiert werden . Sie hat spezifische Ent
w icklungsformen , durchläuft eigene Transformationsprozesse und kennt s pezifi sche Kampfpraxen . »Die Bezie hu ng zwi schen dem All
tagsbewußtsein und dem höheren Niveau der Philosophie« , erklärt Gramsci , »wird durch Politik« gewährleistet
(0136, 11383).
Die Ver
mittlungsstel1en in diesem Prozeß sind natürlich pädagogische und re
ligiöse I n stitut i o ne n , die Familie und Privatvereine; aber auch politi sche Parteien , die Zen tre n ideologischer und kultureller Fonnierung
sind. D ie Hauptagenten sind Intellektuelle, die eine besondere Verant wortung für die Artikulierung und Entwicklung von Kultur und Ideo
logie tragen und darauf spezialisiert sind . Sie versuchen s ich mit der bestehenden Anordnung der sozialen und intellektuellen Kräfte
(= tra
ditionelle Intellektuelle) oder mit den entstehenden Volkskräften zu verbünden und neue Denkrichtungen zu entwickeln
o rg a ni sche In
te l lektue lle) . GTamsci ze igt deutl ich die w ichti ge Funktion , die die tra
ditionellen Intellektuellen , die mit den klassischen Denkfabriken der
Gelehrten oder Kleriker zusammenarbeiteten, i m Falle Italiens spiel ten , u nd die relative Schwäche der neu entstehenden intellektuellen Sch icht. Gramscis Denken in dieser Frage enthält neue und radikale Wege, die ideologischen
Subjekte zu theoretisieren. Diese sind Gegenstand
einer ganzen Reihe gegenwärtiger Theoretisierungsversuche. Er wei st jede Vorstellung eines vorgegebenen, einheitlichen i deolo g i schen Sub
jekts zurück - z . B. die Idee eines Proletariers mit wahren revolutionä
ren Ideen oder eines Schwarzen m it garantiert anti-rassistischem Be wußtsein. Er anerkennt die Plural1tät der Individuen und Identitäten ,
aus denen das sogenannte »Subjekt« des Denkens und der Vorstellun gen zusammengesetzt ist . Dieser facettenreiche Charakter des Be wußtseins i st seiner Meinung nach kein i ndividuelles, sondern ein kol
lektives Phänomen, eine Folge der Beziehung zwischen »dem Selbst« und den ideologischen Diskursen , aus denen das kulturelle Feld der Gesell schaft zusammengesetzt ist. Er beobachtet. daß die Persönlich
keit merkwürdig zusammengesetzt ist . »Sie vereint in sich Elemente
aus der Steinzeit und Prinzipien d er modernsten, entwickelten Wissen
schaft, sowie Vorurteile aus allen vergangenen Phasen der Geschichte
Gramscis Erneuerung des Marxismus
83
( . . . ) intuitive Vorwegnahmen einer künftigen Ph ilo s ophie« (D130,
11376) . Grams ci lenkt die Aufmerksamkeit auf das widersprüchliche Bewußtsein: Die Weltanschauung, d ie sich , wie flüchtig auch immer, in Aktion manifestiert, kann im Widerspruch stehen zu derj enigen, die verbal und gedanklich von derselben Gruppe vertreten wird. Diese Konzeption eines komplexen, fragmentarischen und widersprüchli
ch en Bewußtseins ist ein bemerkenswerter Fo rtschr itt gegenüber tradi
tionellen marxistischen Theorien, die für ihre Erklärungen das Kon zept eines »fa1schen Bewußtseins« zu r Hilfe nehmen . Diese Erklärung beruht auf Selbstbetrug. Indem Gramsci erkennt, daß Fragen der Ideo
l og ie sich auf die Gesellschaft und auf Kollektive beziehen und nicht auf Individuen, betont er die Komplexität und d en interdiskursiven Charakter des ideologischen Feldes. Es gibt niemals eine einzige ein heitliche und kohärente »dominante I deologie die alles durchdringt . «,
»Viele Systeme und Strömungen philosophischen Denkens koexistie ren miteinander. « (D133, 11379) Der Gegenstand der Analyse ist daher
nicht ei n e einzelne Strömung »herrschender Gedanken«, in die alles und jede/ r absorbiert wurde, sondern die Ideologie in einem ausdiffe renzierten Terrain , die verschiedenen diskursiven Strömungen, ihre Verknüpfungspunkte und Bruchstel len , sowie die zwischen ihnen herr s chende n Machtbeziehungen . Kurz : ein komplexes Ensemble ideolo
gischer Verhältnisse oder eine d i skurs ive Formation . D ie Frage ist, wi e diese ideologischen Strömungen sich ausbreiten und warum sie in diesem Prozeß der Ausbreitung entlang bestimmter Linien stimmte Richtungen auseinanderbrechen . « (Ebd . )
und
in be
Ich glaube, aus dieser A rgume n tation läßt sich klar ableiten , daß das
ideologische Feld bei Gramsci obwoh l immer mit verschiedenen so zialen und politi s che n Positionen verknüpft - in seiner Form und �
Struktur nicht genau der Klassenstruktur der Gesellschaft entspricht oder sie widerspiegelt und auch nicht i hr Echo ist. Es kann auch nicht auf seinen ökonomischen Inhalt o der seine ökonomische Struktur re duziert werden . Ideen , so arg u m entiert
er,
haben ein Zentrum , von
dem aus sie sich formieren , ausstrahlen , sich verbreiten , Überzeu gungskraft gewinnen. Sie werden nicht in jedem individuellen Kopf »spontan geboren« . Sie sind nicht psychologisch oder moralisch zu er klären, sie haben »organ i s ch en erkenntnistheoretischen Ch arakter«
(11595) . Daraus folgt, daß Ideologien nicht dadurch umgewälzt wer den, daß eine ganze. fe rti ge Welta ns chauung durch e i ne andere ersetzt wird , sondern dadurch , daß eine schon existierende Aktivität aufge griffen u nd zur entscheidenden Kraft ge mach t w ird.« Der vielstimmi ge interdiskursive Charakter des Ideologischen w ird von Gramsci aus»
Ausgewählte Schriften
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drücklich he rvorgehoben wenn er zum Beispie l beschreibt, wie eine alte Weltanschauung nach und nach durch eine andere Denkweise er setzt von innen umge arbeitet und umgewälzt wird : »Wichtig ist die Kritik , der solch ein ide o lo gi scher Komplex u n te rwo rfe n wird. ( . . . ) Sie ermöglicht einen Prozeß der Di ffere nzie ru ng und der Veränderung des rel ativen Gewichts, das die Elemente der alten Ideologie vorher hatten; was zuvor zweitrangig und untergeordnet war, ( . . . ) wird zum Ausgangspunkt eines neuen i deologi schen und theoretischen Komple xes. In d e m Maße, in dem di e untergeordneten El emente sich gesell schaftlich entwickeln , wird sich das a lte Kollektiv in seine wider sprüchlichen Bestandteile au flös e n eie . « (Il058) Dies trifft auch auf das jeweils historisch bestimmte kulturelle Feld zu , auf dem jede »neue« philosophische und theoretische Strömung agiert und mit dem sie zurechtkommen muß. Er macht darauf aufmerksam , daß dieses Terra in eine jeweils gegebene Struktur hat und daß die Prozesse der Dekonstruktion und Rekonstruktion , durch die alte Bündnisse zwi schen sozialen Kräften und Ideen aufgelöst u nd neue Bündnisse herge stellt werden , sehr vi elschichtig sind . Di e i deol ogisc he Wende ge schieht nicht durch Ersetzung d e r al te n Ideolo gien oder die Oktfoyie ru ng ei n er neuen , so nd er n eher durch die Verknüpfung und Trennung , d urch d i e Artikulation und Desartikulation von Ideen . ,
,
Teil III Nun bleibt noch die Aufgabe, zu skizzi eren wie Stand punkt und Per spektive in Gramscis Theorie genutzt werden können , um einige der bei der Analyse von Rassismus und verwandter sozialer Phänomene benutzten Paradig men und Theorien zu verändern und umzuarbeiten . Ich betone n och mal s , daß es nicht darum geht, die Ideen Gramscis Un mittelbar auf diese Fragen zu übe rtragen Es geht vielmehr darum , die ursprüngJichen theoretischen und an alytisch en Probleme, die das Feld d efi niere n aus einer an dere n theoretischen Perspektive zu betrachten. ,
.
,
Erstens : Ich würde die Hervorhebung der historischen Spez i fik un terstreichen . Zweifel10s gibt es bestimmte al l ge mei ne Züge des Rassis mu s. Aber noch bedeutsamer sind die Formen , in denen diese allge meinen Züge durch den hi s tori sch spezifischen Kontext u nd di e jewei
lige Umwel t, in denen sie wirksam werden . modifiziert und transfor miert werden . Bei der Analyse bestimmter historischer Formen des Rassismus würden wir g u t daran tun, auf einer konkreten, hi sto ri Sch spezifizierten Ebene zu op er i eren (z .B. nicht über Rassismus a llge mein zu sp rec h en sondern über Rassismen) . Selbst wenn ich in dem ,
85
Gramscis Erneuerung des Marxismus beschränkten Rahmen bleibe, den ich nien) , würde ich
sage n ,
am
besten kenne (Großbritan
daß die Unterschiede zw ischen dem britischen
Rassismus in der »Hochzeit« seiner imperialistischen Periode und dem
Rassismus� der die gegenwärtige britische Gesellschaftsformation kennzeichnet, größer und entscheidender sind als die Gemeinsamkei ten. Heute sind w ir mit dem Thema in ei ner Periode relativen ökono
mischen Niedergangs konfrontiert, Es existiert nicht in ,einer kolonia len Situation, sondern innerhalb der einheimischen Arbeiterschaft und unter dem Akkumulationsgesetz der i nländischen Wirtschaft. Oft ist
es nicht mehr als eine Äuß,erlichkeit, die uns zu dem Fehl schluß verlei tet, Rassismus sei , nur weil er immer und überall eine zutiefst un
men sch li ch e und antisoziale Praxis ist, auch überall dasselbe - so
wohl was seine Form als auch seine Beziehungen zu anderen Struktu ren und Prozessen oder seine Folgen angeht. Ich glaube, Gramsci hilft uns, diese Homogenisierung endgü ltig zu durchbrechen .
Zweitens : In enger Verbindung zum ersten Punkt steht die große Be deutung, di e Gramsci aufgrund der historischen Erfahrungen in Italien den nationalen Besonderheiten beimaß. Sie sind für ihn ebenso w ie die
regionalen Ungleichhei ten ein wichtiger D etenninationsfaktor. Es gibt kein einheitliches »Entwicklungsgesetz«, das sich in gleicher Weise auf aBe Facetten einer sozialen Formation auswirkt . Wir m üs sen die Widersprüche und Spannungen besser verstehen Jemen, die sich aus dem u ngleichen Tem po und den unterschiedli chen Richtungen histori scher Entwicklungen ergeben . Rassismus und rassistische Praxen und Strukturen treten häufig in einigen , aber nicht in allen Sektoren einer gesellschaftlichen Formation auf; ihre Folgen dringen in andere Berei
che ein , aber unterschiedlich ; und gerade diese Unterschiedlichkeit
kann dazu führen, die widerstreitenden Gegensätz e zwischen den Sek
to ren zu vertiefen und zu verschärfen .
Drittens : Ich würde die nicht-reduktionistische Herangehensweise
an Fragen wie d ie nach dem Verhältnis zwi schen Klasse und »Rasse« unterstreichen . Diese Frage hat sich als e ines der vielschicntigsten und schwi er i gsten
th eoretischen Probleme h erausges tellt und hat oft zur
Annahme entgegengesetzter, extremer Positionen geführt: Entweder gibt man den grundlegenden Klassenbeziehungen den Vor rang und
hebt hervor, daß aUe Arbeitskräfte, auch wenn sie sich aufgrund ethni� scher und »rassischer« Merkmale un terscheiden , der gleichen Ausbeu
tung durch das Kapital unterworfen sind ; oder man betont die Bedeu
tung ethnischer und »rassischer« Kategorien und Spaltungen und läßt dabei die fundamentale Klassenstruktur der Gesellschaft außer acht. Obwohl diese Extreme wie po lare Gegensätze aussehen, sind s ie in
86
Ausgewählte Schriften
\Virklichkeit das Spiegelb i ld des j ewe il s anderen; und zwar in dem
S i nn e , daß heide sich a ufgefo rdert fühlen , ein einziges und exklusives
determinierendes Artikulationsprinzip zu behaupten - Klasse oder »Rasse« - selbst wenn sie sich nicht einig sind , welches von beiden das Markenzeichen �vorrangig« erhalten soHte. Ich glaube, die nicht redu ktioni st i sch e Weise, i n der
G ram s ei
sich den Klas sen fragen zu
wend et , und sein Verständnis der historischen Form i erung j eder Ge
sellschaftsformation sind eine Hilfe, um einen Weg in R ich tung auf
eine nicht-reduktionistiscbe Herangehensweise an »Rassen«- /KJassen fragen einzuschlagen . Hinzu kommt die Aufmerksamkeit, die Gramsei
der, wie w ir es nennen könnten , besonderen kulturellen Qualität der
Formierung der Kl assen i n jeder historisch spezifischen Gesellschaft widmet . Er mac ht n iemals den Fehler zu denken , die Homogenisie
rung_ der Arbeiterschaft könne i n i rgendeiner Gesellschaft als vollzo
gen unterstellt werden , weil das allgemeine Wertgesetz die Tendenz hat , sie im Ver l au f der kapital istisc hen Epoche zu vereinhei tl ichen . Ich
g l a ube im Gegenteil , Gramsci s ganzer Ansatz führt uns dazu , den
Wert d ieses allgemeinen Gesetzes i n seiner traditio nellen Form in
Fr age zu stellen . Denn es hat uns gerade dazu ermutigt, d i e Fo rmen Zu
ve rn ac hl äs s i gen , in denen das Wertges etz , das auf globaler und nicht au f loka l er Ebene wirkt, durch u nd gerade wegen des jeweil s spezifi
schen kulturellen Charakters der Arbeiterklasse funkti on iert , und
nicht
-
wie die klassische Theorie uns glauben machen will
indem
es diese Unterschiede im Zuge seiner epochalen historischen Tendenz , ausl öscht. \Vann immer w i r uns vom »eurozentrischen Modell« der ka
pitalistischen Entwicklung entfernen (und sogar innerhalb dieses Mo deUs) , finden wir die vielen Formen , in denen d as Kap i tal diese beson
de ren Qualitäten der Arbeitskraft konservieren, seiner Entwicklung
anp a s s en , sie ausbeuten und für sich ei nspann en kann , indem es sie in
sein Regime einbaut. Die ethnische und »rassische« Strukturierung der A rbeitskraft mag, ebenso wie ihre geschlechtsspezifische Zusammen
setzung, ein Hemmnis für die rat i o nalisti sch geplanten »globalen« Ten
de nzen des Kapitals sel n . Und doch s i nd diese U nterschiede im Zuge
der globalen Expa ns i on der kapitali sti schen Produktionswei s e beibe
h alten , sogar entwickelt und verfeinert worden . S ie d ienten als M ittel ,
d i e versc hiedenen Fraktionen der Arbeiterschaft auf unterschiedliche
Weise auszubeuten . Ihre politi schen , ökonomi schen und sozialen Fol gen i n diesem Zusammenhang waren enorm . Wir würden viel bes ser
ve rstehen , wie das kapita1istische System durch D i fferenzieru ng und
Ähnl ichkeit und Identität funktionieren kann kulturellen, sozialen , nationalen , eth n i schen und
Unterschiede statt durch wenn wir die
,
gesch lechtsspezifi schen Zusammensetzungen historisch bestimmter,
Gramscis Em.euerung des Marxismus
87
jeweils untersch iedlicher Fannen der Arbeiterklasse ernst nehmen würden. Obwohl Gramsci keine allgemeine Theorie der kapitalisti schen Produktionsweise entwickelte, weist uns seine Arbeit unmißver ständlich in diese Richtung. Darüber hinaus verweist uns seine A nalyse auf die Art und Weise, in der verschiedene Produktionsweisen innerhalb derselben gesel1schaft lichen Formation kombiniert werden können. Das führt nicht nur zu regionalen Besonderheiten und U ng1 e i chheiten sondern auch zu un terschiedlichen Formen der Einverleibung sogenannter »rückständ i ger« Sektoren in das gesellschaftliche Herrschaftssystem des Kapitalis mus : z.B. Süd italien innerhalb der italienischen Formation; der medi terrane Süden innerhalb der fortgeschritteneren »nördlichen« Sektoren des industriellen Europa ; die »Bauern-Wirtschaften«, das Hinterland der asiatischen und lateinamerikanischen Gesellschaften auf dem Weg in eine kapitalismusabhängige Entwicklung ; »kolonialeo!< Enklaven in nerhalb des sich entwickelnden, kapitalistischen Systems in den Me tropolen ; historisch früher: die Sldavenhaltergesellschaften als inte graler Teil der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation in den Metropolen : ImmigrantInnen als Arbeitskräfte auf dem inländischen Arbeitsmarkt ; »Bantustans« in den sogenannten aufgeklärten, kulti vierten , kapitalistischen Ökonomien, usw. Theoretisch muß die Auf merksamkeit auf die Art und Weise gelenkt werden, in der diese spezi fischen, jeweils unterschiedlichen Formen der Einverleibung fortwäh rend mit rassistischen, ethnisch segregierenden und ähnlichen sozialen Erscheinungen verknüpft worden sind. ,
,
Viertens : Ein weiterer wichtiger Punkt ist der nicht-homogene Cha
rakter des »)Klassensubjekts«. Herangehensweisen, die die Klasse als solche im Gegensatz zu einer »rassischeno!< Strukturierung von Arbei ter- oder Bauernklassen hervorheben, treffen ihre Aussagen unter der Voraussetzung, das »Klassensubjekt« der Ausbeutung müsse nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und ideologisch einheitlich sein,. , e infach weil die Ausbeutung durch das Kapital die gleiche ist . Wie ich gerade weiter oben ausgeführt habe, gibt es keinen vernünftigen Grund, die Art und Weise, in der Ausbeutungsmechanismen gegen über d en unterschiedlichen Sektoren der Arbeiterklasse funktionieren , als »gleich« zu qualifizieren . Auf jeden Fall unterscheidet Gramscis Ansatz zwischen den Bedingungen des Prozesses, seinen verschiede .. nen Momenten und den Zufälligkeiten des Übergangs von der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« oder von den »ökonomisch-korporati ven« zu den »hegemonialen« Momenten der gesellschaftlichen Ent wicklung. Ein vereinfachender Begriff von Einheit wird radikal und
88
Ausgewählte Schriften
entschieden i n Frage gestellt. Selbst ) Hegemonie« wird nicht mehr als
ein Zustand einfacher Einheit gedacht. sondern als ein Einigungspro
zeß, der niemals abgeschlossen ist, gegründet auf strategischen Allian zen zwischen verschiedenen Sektoren , nicht auf einer vorgegebenen Einheit . Der Charakter der Hegemonie wird durch die Grunderkennt nis bestimmt, daß es keine automatische Identität oder Entsprechung
zwischen den ökonomischen , politischen und ideologischen Praxen gibt. So kann man beginnen zu erklären , warum ethnische und »rassi sche« Differenzen als ein System ökonomischer, politischer oder ideo logischer Antagoni smen innerhalb einer Klasse konstituiert werden können , d ie im Hinblick auf de n Besitz bzw. die »Enteignung der P ro duktionsmittel� ansonsten ähnlichen Ausbeutungsformen unterworfen ist. Die »Enteignung der Produktionsmittel« i st zu einer Art magi schem Talisman geworden, der die marxistische Klassendefinition vo n
pluralistis�hen Schichtmodellen und Definitionen unterscheidet. Ihre theoretische Brauchbarkeit, wenn es darum geht, die aktuelle und kon krete Dynam ik in und zwischen den verschiedenen Sektoren und Seg
menten der Klassen zu erklären , hat diese Definition längst überlebt . Fünftens: Ich b i n schon darauf eingegangen, daß i n Gramscis Denk
modell keine Entsprechungen zwis(�hen ökononllschen , politischen und ideologischen Dimensionen u nterstellt werden. Hier möchte i ch aber die politi schen Konsequenzen dieser Nicht-Entsprechung hervor_ heben . Sie zwingt uns dazu , konkret zu studieren, wie Klassen sich ge genwärtig unter realen hi sto ri sch en Bedingungen wirklich verhalten�
statt schematisch zu konstruieren, wie sie sich idealerweise verhalten
sollten . Eine der Konsequenzen des alten »Entsprechungsmodell s« be stand darin , die Analyse der Klassen und verwandter gesellschaftli_
cher Kräfte als politische Kräfte, und das Studium des politischen Fel
des selbst zu einer automatischen, schematischen Resttätigkeit zu Ula ehen. Natürlich , wenn es eine »Entsprechung« gab und noch dazu das »Primat« des Ökonomischen vor anderen determinierenden Faktoren ,
warum sollte man seine Zeit damit verschwenden, das Terrain der Poli-
tik zu analysieren, da dieses doch nur ein verschobener Reflex der »in letzter Instanz« determinierenden Ökon omie war. Gramsci würd e s i cherlich diese Art von Reduktionismus nicht einen Moment lan g nlit
machen . Er weiß, daß er eine komplizierte Struktur, keine simple und
transparente Formation u ntersucht . Er weiß, daß Politik ihre eigene, »relativ autonome« Form hat, die in ihrer eigenen Berechtigung , mit
den ihr entsprechenden Begriffen studiert werden muß . Darüber hinaus hat Gramsci einige Schlüsselbegriffe ins Spiel gebracht, die
helfen , dieses Gebiet theoretisch zu di fferenzi e ren . Solche Begriffe
89
Gramscis Erneuerung des Marxismus
wie Hegemonie, historischer Block, Partei im weiteren Sinne, »passive Revolution«, Übergang,. traditionelle und organische Intellektuelle sowie strategi sche Allianz sind nur der Beginn einer sehr ausgeprägten
Es bleibt zu zeigen , wie das Studium strukturierten oder dominierten Situationen
und eigenständigen Begriffsreihe.
der Pol itik
in
»rassisch«
durch die konsequente Anwendung dieser neu formulierten Konzepte vorangebracht werden könnte. Sechstens: Ein ähnliches Argument könnte im Hinblick
auf
den
Staat geltend gemacht werden. Das Verhalten des Staates in bezug auf »rassische« und ethnische Klassenkämpfe ist immer ausschließlich in Kategorien von Zwang, Herrschaft und Verschwörung beschrieben worden. Gramsci bricht unwiderruflich mit allen dreien . Seine Unter scheidung zwischen Herrschaft und Führung sowie die Beschreibung der »erzieherischen« Rolle des Staates, seines »ideologischen« Charak ters , seiner Rolle bei der Entwicklung hegemonialer Strategien könnte, wie grob auch immer Gramscis ursprüngliche Formulierungen waren , sowohl die
Untersuchungen
der rassistischen Praxen des Staates als
auch die des damit zusammenhängenden Phänomens des »post-kolo nialen« Staates gründlich umwälzen . Gramscis subtile Unterscheidung von Staat und ZivHgeseUschaft - auch wenn sie innerhalb seiner eige nen Arbeit fluktuiert - ist ein extrem flexibles theoretisches Werk zeug, und sie mag Theoretiker dazu e rmutigen, den Institutionen der sogenannten Zivilgesell schaft in »rassisch« strukturierten sozialen Formationen viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken als in der Ver gangenheit.
Das
Schulwesen, kulturelle Organisationen, Familie und
Sexualleben, die Muster und Schablonen privater Vereine, Kirchen und Religionen; Institutionen der jeweiligen ethnischen Gruppen und viele andere solcher Orte spielen eine absolut zentrale Rolle dabei , verschiedene Gesellschaften in »rassisch« strukturierten Fonnen zu produzieren, zu erhalten und zu reproduzieren . Siebtens: Verfolgen wir den
gleichen
Gedanken weiter, bemerken
wir das Gewicht, das Gramsci dem kulturellen Faktor in der gesell schaftlichen Entwicklung bei mißt. Unter Kultur verstehe ich hier das . j eweilige Feld der Praxen , Repräsentationen, Sprachen und Bräuche i n jeder historisch bestimmten Gesellschaft. Ich meine die widersprüch lichen Formen des
Alltagsbewußtseins,
die im alltäglichen Leben ver
wurzelt sind und dazu beigetragen haben ,
es zu formen
.
Auch die
ganze Reihe verschiedenster Fragen, die Gramsci im Begriff des Na tional-popularen
zusammengefaßt
hat,
wü rde
ich
einbeziehen .
National-populare als den zentralen Ort, an dem eine populare Hegemonie konstituiert wird. Es ist der Haupteinsatz in
Gramsci versteht das
· 1
Ausgewählte Schriften
90
den po l i t isc hen und ideologischen Kämpfen und Praxen . Es ist eine na
tionale QueUe der Veränderung ebenso w ie eine po t ent i elle S chranke für die Entwicklung eines neuen kollektiven Willens.
Z.B.
hat
Gram s ci sehr gut begriffen, wie sich der »populare Katholizismus«
u nter den s pezi fis ch en italienischen Bedingungen als hervorragende Alternative zur Entwicklung einer säkularen »national-popularen«
Kultur konstituierte, und d aß man diesen Katholizismus in Italien ein
binden mußte und ihn nicht einfach
wegw ü n schen
konnte. 1m Gegen
satz zu v ielen anderen verstand er auch die RoHe, d ie der Faschismus
in Ital ien s pielte , i ndem er den rückständigen Charakter der national
popularen Kultur in Italien »hegemon i sierte« ., ihn in einer reaktio nären, nationalen Fo rmation wieder modern machte und ihm eine ei gene Basis und U ntersrutz ung im Volk verschaffte. Ü bertragen auf an
dere, vergleichba re Situationen, in denen »Rasse« und Ethnizität mäch tige, kulturelle, national-populare Konnotationen hatten und hab en , müßte sich Gramscis Schwerpunktsetzung als enonn erhe ll end erweisen .
Zum Schluß möchte ich die Arbeit G ram sci s auf dem Gebiet der Ideologie hervorheben. Es i st klar, daß » Ra s si smus« , wenn es auch
kein ausschließlich ideol ogi s ch es Phänomen i st, doch wesentli che i deologische Dimen sionen hat. Daher hat sich die relativ grobe , re duktion istische Vorgehensweise der materialistischen Ideo logie als ei n Hindernis für die notwendige Analysearbeit auf di e sem Gebiet erwie
sen . Besonders durch die homogeni sierende, widerspruchsfreie Kon z ept ion von Bewußtsein und I d eo logie erstanden verkürzte Anal ys en ,
d i e die me i sten Kommentatoren zutiefst hilflos gel assen haben, wenn
sie genötlgt wa ren . einen Grund für den Einfluß rassistischer Ideolo
g i en , sagen w i r, innerhalb der Arbeiterklasse anzugeben oder in Ins ti tutionen w i e den Gewerkschafte n , die, abstrakt gesehen , eigentlich
anti-rassistische Positionen hätten einnehmen müssen . Das Phänom en
des » Rassi smus i n der Arbeiterklasse« hat s ich, obwohl es keineswegS
die einzige Art von Rassi smus i s t , die erklärt werden muß, als außeroT_ dentlich analyse-resistent erwiesen .
Gramsci zeigt , daß untergeordnete Ideolog i e n unvermeidlich wider_
sprüchlich s i nd : » s teinzeitliehe Elemente und Prinz ipi en e iner ent wickelteren Wissenschaft, Vorurteile aus allen vergangenen Ph asen
der Gesch ichte
(. . .)
und Versatzstücke ei ner z u künft igen Phil oso_
phie« . Er zeigt, daß das s ogenan nte ).Selbst«, das diese ideologi sc hen
Formationen stützt , nicht aus einheitlichen , sondern aus w idersp rü ch_
lichen Subjekten und sozialen Konstruktionen besteht . Auf di ese Weise hilft er uns, eine der häufigsten , am wenigsten geklärten Er
scheinungen des Rassismus zu verstehen : die »Unterwerfung« der
Gramscis Erneuerung des Marxismus
91
Opfer des Rassismus unter die Mystifikationen gerade der rassisti schen Ideologien , die sie fesseln und definieren. Er zeigt, wie unter schiedlich und oft widersprüchlich die Elemente in verschiedenen theoretischen Diskursen integriert und miteinander verwoben sein können: aber auch die Spezifik , den Wert des ideologischen Kampfes, in dem versucht wird, die Ideen und das AHtagsbewußtsein der Massen umzuwälzen . All dies ist zentral für die Analyse rassistischer Ideolo gien und für die Bedeutung des ideologischen Kampfes gegen rassisti sche Ideologien . In a11 diesen verschiedenen Aspekten und zweifellos i n anderen , die ich hier nicht die Zeit hatte zu entwickeln , stellt sich
Gramsci bei näherer Betrachtung und trotz seiner offensichtlich »euro zentrischen« Position als einer der theoretisch fruchtbarsten, am we nigsten bekannten und am wenigsten verstandenen Quellen heraus, aus denen neue Ideen, Paradigmen und Perspektiven für aktu elle Untersu chungen »rassistisch« strukturierter gesellschaftlicher Phänomene ge wonnen werden können . Übersetzung: Nora Räthzel
Anmerkung 1
Di ese fragmentarischen S ch ri fte n , einschließlich der Kerkerhefte, befinden si ch im wesentlichen im Gramsci-Institut in Rom ,
wo
eine zusammenfussende
kritische Ausgabe seines Werkes immer noch für die Veröffentlichung vorbe
reitet wird . Während dies gesch rieben wird, sind vier Bände der geplanten achtbändigen Ausgabe von Einaudi in Thein schon als »Scritti« veröffentlicht. In englis,che r Sprache gibt es eine Reihe von Sammlungen seiner Werke u nter verschiedenen Titeln, darunter die ausgezeichnete Ausgabe der
»Selections
from ehe Prison Notebook.s«, herausgegeben von NoweH Smith und Hoare (1971) , und die zwei Bän de ausgewählte »Political Writings«, 1910-1920 (1985), herausgegeben von NoweU Smith und Forgoes. (S.H . ) In deutscher Übersetzung liegen ebenfalls einige Schriften vor. Die hier zitier� ten Passagen finden sich zum größten Teil in der Ausgabe von Riechers. Da mir
die Übersetzung meist inadäquat schi en , habe ich die entsprechenden Stellen auS der i tal i enischen Ausgabe von Einaudi direkt übersetzt. Hinter jedem Zitat
ist jeweils (soweit zu finden) die Seitenzahl in
ten
Riechers mit einem vorangestel1�
»D« und die der italienischen Ausgabe mit einem vorangestellten ))1« aufge (N.�)
ffihrt.
92
Massenkultur und Staat »( . . ,) jeder Staat
ist ethisch , i nsofern eine seiner wichtigsten Funktionen darin be
steht , die breite Masse der Bevölkerung auf ein bestimmtes kulturelles und morali
sches Niveau zu heben , das den Entwicldungsbedürfnissen der Produktivkräfte entspricht und damit den Interessen der herrschenden Klassen. Die wichtigsten Staatstätigkeiten in diesem Sinne sind die Schule als eine positive erzieherische
Funktion; in Wirklichkeit jedoch verfo1gen eine Vielzahl von anderen sogenannten privaten Initiativen und A ktivitäten dasselbe Ziel - Initiativen und Aktivitäten ,
weiche die Apparate der pol itischen und kulturellen Hegemonie der herrschenden
Klassen bil den. « (Gramsci I, 1049)
Die Probleme der Theorie des Staates, die
heften entwickelt,
Gramsci in den Kerker
sind wohlbekannt. Die Sphäre des Staates wird der
art ausgedehnt und reicht in die ti efsten Winkel der Zivilgesellschaft ,
so daß sich in einigen Formulierungen die Un ersche idung zwischen t
den beiden, S phären vö l l ig verflüchtigt . Einen höchst eins chläg igen
Anhaltspunkt l iefert eine frühere Passage in den
Kerkerheften,
wo
Gramsei den Staat definiert als »den gesamten Komplex von prakti schen und theoretischen Initiativen, durch welche die herrschende Klasse nicht nur ihre Herrs ch aft rechtfertigt, sondern die aktive Zustimmung derer zu gewinnen vermag, ü ber die sie herrscht«
1765) .
(1,
Die entscheidende Bedeutung von Gramscis We rk , das ei ne wahre
koperni kani sch e Revolution der marxistischen Staatsauffassung dar
stellt , besteht in der Betonung der pos i t i ven , produktiven Seiten de s Staates gegenüber den bloß negativen und repres s ive n Funkt ionen .
Zudem stellte Gramsci als erster Fragen der Kultur - speziell de r Massenkultur - ins Zentrum der Staatstätig keiten . Der modeme de mokratische Staat , meint Gramsci , gestaltet u nd o rgan is iert die Gesell_
schaft nicht nur im wirtschaftlichen Leben , sondern auf breiter Fro nt. »Sein Ziel ist es immer ( . . . ), die 'Zivilisation' und die Sitten der breite_
sten Volksmas sen den Notwendigkeiten ständiger Entwickl ung de s
öko nomisch en Produktionsapparats anzup assen « (I, 1565f. ) .
Der Staat ist, nach dieser Betrachtungsweise� der O rt eines perma nenten Kampfes darum , den ganzen Komplex von gesellschaftlichen
Verhältni s sen einschließlich derer der Ziv i l ge s el l sch a ft mit den Impe
rativen der Entwicklung in einer Gesellschaftsformation in Einklang zu bringen . Er stellt eine der Hauptkräfte dar, die zwischen ku lturell en Formationen und Klassenverhältnissen vermitteln , indem er diese in
besti mm te Konfigurationen b ri ngt und spezifischen hegemonialen Strategien anp aßt .
Massenkultur und Staat
93
leh will diese g ramscianische Blickrichtung auf den Staat benu tzen , um die Gelegenheiten zu beleuchten , bei denen der britische Staat je weil s en tscheidend dazu beigetragen hat, d i e Massenkultur an die
herrschende Kultur anzupassen . Eine detaillierte Geschichte der Staatsinterventionen in die Sphäre der Massenkultur kann hier nicht
geboten werden , sondern allenfalls eine Reihe von »Schnappschüssen«
verschiedener Au genblicke in der Geschichte der Bez iehu ngen StaatlMassenkultur in Großbri tanni en : die Roll e des Rechts bei der Vermittlung von Klassen-Kulturverhältnissen im 18. Jahrhundert; die
B ezi ehu nge n zwischen dem Staat und der »freien Presse« im 19. Jahr
hundert; und die jüngere Entwicklung von Rundfunk und Fern sehen unter Berücksichti gung ihrer »relativen Autonomie« gegenüber dem Staat. Wenn wir die Unte rsuch ung auf einen so la ngen historischen
Zeitabschnitt ausdehnen , müssen wir uns darüber im klare n sein, daß
weder der Staat noch die Massenkultur eine kon tinu ierlich e , bruchlose Identität aufwe isen . Die Zusammensetzung des S taates wie der Mas
s e nkultu r ändert sich ebenso wie die Beziehu ngen zwischen be iden . Ihr veränderter Zustand ist sogar teils ein Effekt veränderter Beziehun gen zwischen ihnen und der Art und Wei se , wie solche Veränderungen wiederum zu epochaleren Vers chieb u ngen der Klassen-Kultur-Ver
hältnisse beigetragen haben . D iese brachten wiederum Veränderungen
der Forme n und Mechanismen mit sich , in denen die herrschende Klasse i hre Heg emo n ie praktiz ierte.
Ich will daher insbesonder,e herausarbeiten , daß es keine einfach e historische Evolution der Mass enkul tur von einer Periode zur nächsten g ibt . Die Erforschung der Massenkultur ist du rch den deskriptiven An s atz ziemlich geschädigt worden: verfolgt wurde die innere Ent wicklu ng des Zeitvertreibs, von der B ärenjag d bis zum Sammeln von Gartenzwergen , nach der Vorstell ung e iner Entwicklungskette von
»Dingen« , aus denen mit der Zeit andere D inge »werden« , Dagegen möchte ich darauf bestehen , daß w ir auf B ruche und Diskontinuitäten
der Geschichte achten müssen: auf die Wendepunkte , an denen ein ganzes Bündel von Mu stern und Verhältnissen drastisch umgestaltet
oder tran sformiert wird. Wir müs sen versuchen , die Perioden relativer
»Stabilisierung« herauszufind en , in denen nicht nur das Inventar der Ma ssenkultur, sondern die B ez iehungen zwischen Massenkulturen und her rschenden Kulturen relativ beständig sind. Dann müs sen wir
d ie Wendepunkte herausfinden, an denen die B ezi ehungen qualitativ u mges taltet und transformiert werden : die Überga ngs mome nte .
Dadurch wird sich eine historische Periodisierung ergeben, die über das bloß Deskriptive h inausgeht und die Bewegungen in den kulturellen
94
Ausgewählte Schriften
Verhältnissen zu erfassen erlaubt , welche die Entwicklung der Mas senkultur gliedern. Diese Wendepunkte treten nicht ein, wenn sich das Inventar (der Inhalt) der Massenkultur ändert, sondern wenn s ich die kulturellen Verhältnisse zwischen Massen- und herrschenden Kulturen verschieben. Dieser Punkt wird konkreter, wenn seine Implikationen von denjenigen zweier gängiger »historischer« Methoden, Verände rungen in der Massenkultur zu betrachten , unterschieden werden. Die eine betont Entwicklung und Kontinuität und vergleicht traditionellen Dorffußball mit der modernen , vom »Fußballverband geregelten« Ver sion des Spiels. Die andere erkennt d en Wandel , sieht ihn aber ledig l ich als Wandel des Inhalts : hier werden Hahnenkampf, Bullenhetze und andere ländl iche, blutrünstige Sportarten durch den modernen Fußball ersetzt, wobei alle funktionell »gleich« erachtet werden, da sie j a alle bei d en Volksklassen ihrer Zeit populär waren. Nun hat der tra ditionel le Dorffußball gewiß Ähnlichkeit mit dem Pokal- und Liga spi el des 20. Jahrhunderts. Diese Ähnlichkeiten sagen uns allerdings historisch wenig: gerade die Unterschiede sagen etwas. Der vorindu strielle Fußbal1 war sehr wenig geregelt, nicht formalisiert, ohne allge meine Regel n (der Ball konnte getragen , geworfen, weggeri ssen oder geschossen werden; das einzige Verbot bestand darin , daß er nicht an »einen weniger belagerten Freund«, das heißt auf eine feine Art weiter gegeben werden durfte). An einem Spiel waren mitunter Hunderte von Mitwirkenden beteiligt, es fand auf nichtmarkierten Feldern oder in den Straßen statt. Jedes Spiel war lokalen Traditionen unterworfen , nicht selten endete es, w ie Malcolmson bemerkt, mit einer Verwar nung nach dem Gesetz gegen Aufruhr (1973, 40) . Das moderne Spi el ist im Gegensatz dazu i n hohem Maße geregelt und schematisiert, zen tral verwaltet und organi siert nach allgemein beachteten und a nge wandten Regeln. Die Höhepunkte des Fußballs sind national und inter national , nicht lokal , auch wenn die lokalen Bindungen stark bleiben . Das Spiel ist nun eher zum Zu sch auen als zum Mitmachen geei g net, der »Tumult« entsteht eher auf den Tribünen als auf dem Spielfeld . Diese Gegenüberstellung verweist auf qualitative Unterschiede: zwi schen einer ländlichen Gesellschaft, die durch Gewohnheit ) lokale Tra dition u nd durch den Partikularismus kleiner, unmittelbarer Gemein schaften reguliert ist, und einer städtisch-zentralisierten Gesellschaft, die von allgemein angewandten Regeln und einer legalen/rationalen Re gu lationsweise regiert wird. Es gab allerdings keine glatte Entwicklung von der einen zur anderen. Das traditionelle Spiel wurde zum Gegen stand massiver Angriffe von seiten der regierenden Klassen und Obrig keiten, Teil eines allgemeinen Angriffes auf Massenbelustigungen nut
Massenkultur und Staat
95
dem Ziel , die ärmeren Klassen zu moralisieren und sie kontrollierba rer und fleißiger zu machen . Die Trennung des Spiels vom ländlichen Gemeinschaftsleben und Raum rührte von jener Zerstörung alter Le bensweis en her und ihrer durchgreifenden Ne uorga n isation unter neuen moralischen und sozialen Vorzeichen in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. - Die zweite Methode verfolgt eine Entwicklung, sagen w i r vom Hahnenkampf
(im 18.1h. populär)
Fußball (im 20.1h. populär)
Das ist jedoch nur sinnvoll, wenn die Betätigung von den kulturellen Bedeutungen und sozialen Verhältnissen, in die sie eingebettet ist, iso l iert wird . Das Beispiel verändert sich sofort, wenn wir statt dessen auf
die verschiebungen in dem ganzen Komplex von gesellschaftlichen l-er
hältnissen schauen, nicht nur auf die Beschäftigung selbst:
Hahnenkampf Landadel
Fußball
Bourgeoisie
Dorf
Stadt
Gemeinde
Vorstadt
Gewohnheit
Recht
Gewohnheitsrechte lokale Sanktionen
Eigenturnsrechte öffentliche Ordnung
Wir betrachten hier die »Entwicklung« der Massenkultur über eine ganze Reihe wichtiger historischer Transformationen: einer Änderung zwischen gesch i chtlichen Epoch en und nicht nur von einer Freizeitbe
schäftigung zu einer anderen. Der Hahnenkampf wurde nicht nur ille
galisiert, weil die »feinen Leute« über ihn die Stirn runzelten (das taten sie immer schon) , sondern weil einige feine Leute die Mittel dazu hat ten, dem Landleben städtische Gewohnheiten und Normen aufzuzwin gen (ei nschl ießl ich der Veränderungen in Staat und Recht) ; und weil
Vornehmheit eine neue, züchtige und evangelische Bedeutung erhie1t (mit Veränderungen im religiösen und moralischen Verhalten) . Diese Ver änderungen i n der kulturellen Praxis und Ideologie sagten etwas aus über einen tiefen Wandel der Klassenverhältnisse. Teile der beiden agrari schen Hauptklassen der Gesellschaft ergingen sich in den blutigen Sportarten gerade wegen ihres blutrünstigen Charakters »feine« landadelige (arme Arbeiter und bukolischer Landadel -
Damen , die Hahnenkämpfe führen, sind nicht überliefert) , und dies in nerhalb des komplexen Gewebes althergebrachten Selbstverständnis
ses (die paternalistisch-plebejischen Verhältnisse) , das so viele Bezie bungen zwischen den ländlichen Klassen umrahmte. Wir wollen dieses »organische« Verhältnis nicht romantisieren. Da die hergebrachten
96
Ausgewählte Schriften
Normen lokal gesetzt und die Macht über ihre Ausübung loka1 verteilt
wurde, konnten s ich ein Gutsbesitzer und sein Pächter bei einem Hah
nenkampf individuell begegnen , ohne daß einer von ihnen nur für einen Moment davon ausging, er könne den enormen Abstand zwi
sch e n den l andbesitzenden und den arbeitenden Klassen überbrücken .
Die Klassen , die am modernen Fußbal l beteil igt sind , verbindet ein ganz anderes Beziehungsgewebe und ein anderes Selbstverständnis .
Das heutige Kicken ist nicht mehr in diesem Sinne lokal, auch wenn
eine starke lokale Verbundenheit bleibt. Das Spiel wird ebensosehr durch das MassenpubJikum der modernen Medien wie durch unmittel bare Beteiligung »realisiert« . Es wird , was die Kultur des unmittelba
ren Mittuns angeht, durch die städtisch-industriellen Klassen (und ihre
entsprechenden Profis) bestimmt. Die herrschenden Klassen sind
of
fenbar weithin abwesen d , wenngleich sie häufig bei der Finanzierung, Verwaltung und im Vereinsvorstand präsent s ind
.
Di�se heiden Beschäftigungen sind nur in einem oberflächlichen , bedeutungslosen und sehr allgemeinen Sinn »dieselben«. Beide waren in ein Netz von klassen-kulturellen Beziehungen eingebettet und tru gen zu dessen Erhaltung bei ; aber j ede vermittelte und stützte ein
je
weHs anderes Netz . Heide waren »populär« . »Popularität« war jedoch jeweils verschieden artikuliert. D as Verhältnis Paternalismus/Ehr
erbietung, welches die erste Beschäftigung prägt, gehört einer Kultur an, welche die Hauptklassen der agrarkapitalistischen Gesellschaft des
18. Jahrhunderts zugleich verband und trennte. Die zweite Beschäfti gung bildet sich durch die Herauslösung der Hauptklassen des fortge
schrittenen Industriekapitalismus und ihrer
Neuzusammensetzung als
»Masse« . Es sind daher die Brüche, Diskontinuitäten , Transformatio
nen , die Asymmetrie, welche in diesem Beispiel für die Geschichte der Massenkultur von Bedeutung sind : die scharf unterschiedenen Artiku
lationen des kulturellen Raumes i n den beiden Perioden . Ebensowenig wie ein Wesen , genannt »Staat« , gibt es eine »Massen
kultur« , die sich über Jahrhunderte entfaltete und dabei dieselbe blieb. In den vergangenen drei Jahrhunderten veränderte sich das Aktionsfeld
des Staates fast unmerklich. Der Staat des 18. Jahrhunderts hatte keine reguläre Polizei, kein stehendes Heer und beruhte auf einem sehr
re
striktiven Wahlrecht, das nur für Männer galt. Der Staat des 19. Jah r hunderts besaß keine Industrieunternehmen , beaufsichtigte kein allge meines Bi1dungswesen , war nicht
verant wortli ch
für d ie Wirtschafts_
politik oder für ein Netzwerk von sozialstaat lichen Leistungen . Es gibt keine stetige, ungebrochene Entwicklungslinie von »kleinen Anfän gen« zum interventionistischen Monolithen . Im Merkantilsystem, das
I
t
'
Massenkultur und Staat
97
von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts seine Blütezeit hatte, während zugleich die frühe Handelsexpansio n Großbritanniens stattfand , spielte der Staat eine d irekte Rolle in der Wirtschaft: er regu lierte den Handel, b ildete verbriefte Handelsmonopole und sicherte
vorteilhafte terms oftrade. Die pol i tische Ökonomie des Laissez-jaire, di e den Merkantilismus als Wirtschaftslehre ablöste und ihren Höhe punkt im 19. Jahrhundert erreichte, als Großbritannien die »Werkstatt
der Welt wurde, gründete in diametral entgegengesetzten Prinzipien: der Markt florierte am b esten wenn er - o hne Einmischung des Staa «
,
tes
-
seinen eigenen Regein überlassen blieb.
Die Veränderungen in der politischen Zu sammensetzung des Staates waren fast ebenso dramatisch . Im 18. Jahrhundert hatte die breite
Masse der Volksklassen fast überhaupt kein Wahlrecht. Das 19. Jahr
hundert war vom Kampf der Volksklassen um die Erweiterung des Wahlrechts beherrscht - dieser Prozeß verzögerte sich lange durch eine Reihe von »letzten« Widerständen von seiten der Mächtigen . Der Widerstand gegen das Frauenwahlrecht bildete eine der letzten (und schmutzigsten) Episoden dieses ganzen Kampfes, so daß das volle Wahlrecht für Erwachsene erst im 20. Jahrhundert (im Jahre 1928) erre icht war . Es wird oft gesagt � das 20. Jahrhundert habe die Ausdehnung des all umfassenden Staates (von der Wiege bis zur Bahre) erlebt Die RoHe des Staates kann jedoch nur verstanden werden , wenn man ihn von
dem abgrenzen kann, was er nicht ist. Der Staat ist bei des : Staat der und S taat über der Gesellschaft. Er e ntsteht aus der Ges,ellschaft, aber er reflektiert in seinen Opera tionen auch die Gesellschaft, über di e er Autorität und Herrschaft ausübt. Er ist Teil der Gesellschaft und doch von ihr geschieden Daher gibt es immer eine Trennungslinie zwi .
schen »öffentlichen« Angelegenheiten (bei denen der Staat ein legiti
mes Recht beansprucht, sich ei nzumi schen) und »privaten« Sphären (die zu den freiwilligen Vereinbarungen unter Individuen gehören , ab seits von staatlicher Regulierung) . Es ist mitunter schwer anzugeben ,
wo genau diese Linie verläuft. Sie wechselt von einer Zei tperiod e zur
nächsten oder von ei ner Gesellschaft zu r anderen. Im 19. Jahrhundert stellte die häusliche Privatheit des »Heims« für den Engländer sein (privates) castle dar, seine Frau war im »Privaten« so gefange n daß sie kein eigenes Eigentum besitzen � nicht wählen und kein öffentliches Amt bekle id en durfte. Im 20. Jahrhundert i s t die Familie zunehmend ,
zum Gegenstand wachsender Staatseingriffe geworden, so daß sie immer weiter in die »öffentliche« Sphäre hineingezogen worden i st . Im
Laissez-jaire-Kapitalismus
waren die Wirtschaft, die Erziehung und
Ausgewählte Schriften
98
die Presse Privateigentum, sie wurden privat organi si ert un d gel eitet ;
sie gehörten zur »Zivilgesellschaft« . H eu te , im entwickelten Kapitalis
mus, ist die Wirtsc ha ft weithin p riva t , auch wenn es einen bedeutenden »öffentlichen« oder staatlichen Sektor gibt; die Erziehung ist im We
sentlichen » öffen tlich« - wenngleich die public schools in Großbritan
nien immer noch privat sind! Und die Presse befindet sich in privatem Eigentum . (Könnte sie sonst »frei« sein?) Hieran können wir sehen , inwiefern das
theoretische Probl em , wel
ches Gramsds Werk hi ns ich tlich der Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft aufwirft, zugleich ein historisches Problem darstellt . Die Linie Staat/ Zivilgesellschaft ist eine der beweglichen Grenzli nien , deren Vers ch ie bungen uns sehr viel über de n sich ändernden
C h arakter des Staates sagen . So is t es Z . B. e in wichtige r Einschnitt,
wenn die Kultur kein Privileg und kein Vorrecht zur Kultivierung von Privatindividuen mehr ist und der Staat anfangt, d afür öffentliche Ver
antwortung zu übernehmen . Im Lichte dieser Überlegungen mu ß man
sich daran erinnern , daß G ramscis erweiterte Staatsbestimmung weni ger als eine Theorie von Staatsformen allgemein gedacht war ; sie sollte vielmehr speziell auf den modernen demokratischen S taat und den
Von
ihm reklamierten e rweite rten Kreis von Fu nkti on en passen , die so tief i n die Z ivilge sell schaft hineinreichen , daß die für das 19. Jahrhunden
zu verlässige
Untersch eidung
Staat/ Ziv i lgesell s chaft
ins
Wanken
gerät. Das sol1 nicht heißen , das man sich die Entwicklu ng der S taats
formen als ein s tändiges , schrittweises Vorrücken des Staates auf das
Gebiet der Zivilgesellschaft vorstel l en kann. Die Entwicklu ng der Rolle des Staates im Verhältnis zur Massenkultur vom 18. zum 20.
Jahrhundert zeugt nicht nur von einer quantitativen Zunahme der Be deutung des Staates bei der Regu li erung von Kultur, sondern auch VOn
einer Reihe qualitativer Transformationen in den Bez iehungen vOn
S taat und Kultur.
1 . Recht , Klasse und Kultur :
ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert
Die Klasse, die aus dem Sieg des Hauses Hannover im Jahre
168 8
in . erster Linie Nutzen zog, war die landed interest, der Großgru ndbe sitz Sie bestand aus Männern mit großem Landbesitz , Aristokraten oder
Bürgern, di e sich nach u nd nach al s eine »blendend erfolgreiche und selbstbewußte Kapitalistenklasse« einrichteten (Thompson 1965,. 9) .
Sie sicherten ihr jährliches Einkommen durch Re n ten und land win_
schaftliche Verbesserungen, dehnten ihre Ländereien d u rch kluge
99
Massenkultur und Staat
Heiratspolitik und Einhegu ngen aus ; s ie spekulierten im Handel auf
grund der expand ierenden Märkte im 1n- und Ausland , und sie fingen an, kleine Hausindustrien zu entwi cke ln Land, Handel und der Markt schufen eine u ng eheure Ans ammlu ng agrarkapitalistischen Reichtums von Eigentum und Macht : die materielle Basis einer Klasse - zutiefst kapi tali stisch in der Denkungsart ( . . . ) zitternd vor Habgier und pein lich genau in ihrer Beachtung der Buchfü hrung (ebd.), also die erste bürgerliche Kultur«< , die die Welt je gesehen hatte. .
. .
»
«<
»
Nach Meinung vieler HistorikerInnen war der S taat im 18. Jahrhun dert eine para si täre Fonnation; klein, kompakt, eine Abbi ldu ng des Zusammenhalts unter und der vertikalen Bande zwischen der kleinen Elite, die die politi s che N ation«< bildete. Er war, wie Namier (1929) gezeigt h at durch die Rivalität von Fraktionen gespalte n aber gefe sti gt d urch Nepotismus, Patronage, Begünstigung, Aufsti egsmöglich »
,
,
keiten , Postenjägerei und das freie Spiel von Bestechung und Korrup
tion . Die unabh äng ige Gentry auf dem Lande b lieb zu H ause . Die Großgrundbesitzer und ihr Netz von Klienten und Günstlingen be schäftigten sich eifrig damit, den Staat zu ihren Gunsten zu beeintlus· sen, wozu sie das enge Fraktionenwesen der Parteipolitik des 18. Jahr· hunderts ausnutzten . Der Staat war dahe r homogen, aber schwach. Große Bereiche des geseHschaftlichen Lebens blieben weitgehend au ßerhalb seiner Kontrol1e. Die Staatsmacht hatte sich zu lokalen Bastio nen der Gentry entwickelt, die auf ihren Landsitzen i n ihren Sprengeln h errs chte Kontrolle ausübte und zu Gericht saß. Die zentrale Kontrol le des Staates über eine unruhige u nd aufbegehrende a rbeiten de Bevöl kerung war unbeständig und unberechenbar. Die Macht wurde mal durch einen schwierigen Balanceakt von Verhandl ungen zwischen den verschi edene n Fraktionen aufrechterhalten, mal durch drakonische Maßnahmen , Kommandounternehmen in den unregi erbaren Bezirken und Au sfallen von Just izterror dazu kam der Riot Act, der Schrecken der Bürgerwehren und des Galgens. Diese einmalige und parasitäre Formation res i d i erte jedoch übe r eine erstaunliche Handelsausdeh nung , die Aufhäufung von großen Gütern und Vermögen; sie führte mit Erfol g eine expansionisti sche Politik im Ausland und , wie Anderson' (1980, 92) b emerkt sicherte für die Besitzenden im Inland ohne die Hilfe ein es stehenden Heeres oder einer regulären Polizeitruppe eine erstaunliche soziale Stabilität . Wie war das möglich? Zum Tei1 durch das Recht - »das stärkste Band der Politik«< im 18. Jahrhundert . ,
,
,
War demnach das Recht einfach ein Zweig des Staates des 18. Jahr
hunderts? Ja und nein. Einerseits ja. denn die
Gesetzes«< ihre Autorität
Herrschaft des
»
war s ch on errichtet. Die Gerichte und Richter leiteten
Ausgewählte Schriften
1 00
vom Staat und von der Krone ab. Der Staat unterstützte den »ordent l ichen legalen Prozeß« . Andererseits nein, denn das Recht stand zur
Disposition von Privatpersonen und war durch und durch von den Klassenverhältnissen der Zivilgesel1schaft des 18. J ahrhunderts ge
prägt. Das Recht war, von oben betrachtet, eine machtvolle, fürchterli
che M a sch i ne . Es war auch willkürlich , ungeregelt und nicht kodifi
ziert: ein Durcheinander von hergebrachtem Gewohnheitsrecht und
h astig verabschiedeten Verordnungen . Es war willkürlich , ohne Bezie
hung zwischen Vergehen und Urteil , und es war streng. Die allgeme ine Strafe für Kapital verbrech en war Tod durch öffentliches Erhängen . Die Richter nutzten häufig ihren weiten Ermessensspielraum - aber:> Hay
(1975)
z ufolge, auf unberechenbare Weise. Die herrschenden Ge
sellschaftsklassen hatten faktisch das Monopol auf die Ausübung lega ler Macht. Sie benutzten es, u m ihre Rechte und Besitztümer s ow ie
ihre Autorität z u verteidigen und zu erweitern. Die unabhängige Gentry hatte die Pri nz ipi en der gesetzlich garantierten Rechte eine s
frei geborenen Engländers während und nach der Englischen Revolu
tion benutzt, um gegen Hof und Krone zu kämpfen . Mit den »frei Ge
borenen« meinten sie sich selbst - denn dieser Ausdruck schloß weder Frauen , Bedienstete, noch die Masse der arbeitenden Armen ein . Die
»Herrschaft des Gesetzes« bedeutete für sie die AufrechterhaItung der
öffentlichen Ordnung, den Schutz des Eigentums und die Erhaltung der Freiheit. - ihrer Ordnung, ihres Eigentums und ihrer Freih eiten .
Sie sollten durch die Prozeduren und Zwänge des Rechts geschützt
werden , und das hatte widersprüchliche Folgen . Einers,eits
stärkte die
Herrschaft })durch das Gesetz« ihre AUlorität. Sie identifizierten sich mit dem Gesetz und eigneten sich dadurch seine Macht an . Die Furcht vor dem Gesetz, die durch den Pomp und die Zeremonien in der BeVÖl
kerung geschürt wurde, wurde auf sie übertragen . Sie nutzten die Ge richte, um Moralpredigten über die Vorzüge der hergebrachten Autori tät, die Notwendigkeit der Achtung und des Gehorsams zu halten .
Öf
fentliche Gerichtsverhandlungen und strenge Beachtung der P rozedu ren - zumindest an den höheren Gerichten - wurden als formal er Be
weis dafür angeführt, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleic h seien wenngleich dem in der Praxis zuwidergehandelt wurde. Anderer_
seits wurde es, da die Herrschaft des Gesetzes einmal als rechtmäßiges
Erbe eines frei geborenen Engländers bekräftigt worden war, immer schwieriger, seiner Ausdehnung auf die armen und machtlosen Eng_
länderInnen zu widerstehen . S elbst wenn das Gesetz in der PraXis s elten in deren Interessen wirkte, so stand es ihnen doch frei , sich »an
das Gesetz« zu wenden , Gerechtigkeit zu fordern und auf Abhilfe zu drängen . Manchmal wurden sie belohnt, nicht
oft genug
,
um
j emal s
Massenkultur und Staat
101
den Klassencharakter der Gerechtigkeit, die s i e erhalten hatten , un sichtbar werden zu lassen ,. aber doch oft genug , um die »Herrschaft des
Gesetzes« nich t bloß als leere s Wo rt erscheinen zu la s sen . Derart bil
de te das Recht, wie Thompson (1975) übe rzeugend und detailliert ge
zeigt hat, einen Rahmen, in dem die Freiheiten der grundbesitzenden Klassen und die Ungerechtigkeiten gegen die Armen verhandelt, aUB
und durchgefochten wurden. Die Rechtsausübung zeigt uns also ein Bild der massiven gesell
schaftlichen Macht der herrschenden Klassen , einer legalis ierten
Macht allerdings: die Macht ha tte ein gewisses Maß an Legit imität und Zustimmung erhalten , weil sie durch das Gesetz artikuliert wurde. Aus demselben Grund j edoch war sie dessen Grenzen unterworfen. Das Recht war daher niemals einfach und ausschließlich ein Instru
ment der Unterdrückung in den Händen der herrschenden Kla s se . In den Haltungen und in der Kultur der Massen verwurzelte sich allmäh lich eine p lebej ische Version der »Herrschaft des Gesetzes« im Gegen satz zu den überwiegend patrizischen Interpretationen . Nicht nur, daß soziale Kämpfe von sich überlappenden Auffas su ngen von Recht und Gerechtigkeit umrahmt wurden . Di e G e setzessprache und die Präze
denzfälle konnten ausgebeutet und in die Vorstellungen der Massen
über »Mißstände und Gerechtigkeit« eingearbeitet werden. Wenn die Volksklassen durch das Recht an Macht und Eigentum gebunden
waren , so konnten sie dieses auch benutzen , um Druck gegen Ma cht lInd Eigentum auszuüben . Wenn auch die Tatsache, daß Ko nflikte im
Rahmen des Gesetzes durchgesp ielt wurden, dabei half, eine ung le i che und aufständische Gesellschaft zusammenzuhalten,. galt para doxerweise : »Die Oberen wußten. daß Proteste gegen bestirrunte Übel AbhHfe provozieren und nicht d ie Obrigkeit als solche in Frage stellen sollten . Das galt allerdings nur, so lange die Betroffenen einiges Vertrauen in die Bereitschaft der Obrigkeit hatten,
an
das Gesetz und die von ihm angeblich verkörperten Ideale gebunden zu sein . Die Verhandlungen wurden natürlich zwi schen Ungleichen geführt . « (Brewer lStyks
1980, ISf. , Einleitung)
D as empfi ndlich e G1 e i chgewich t , auf dem diese Verhandlungen be ruhten , kann am Beispiel der klugen Mischung von legalen und illega len Mitteln beobachtet werden , welche die Volksklassen benutzten , um die Herrschaft des Gesetzes zu ihren Gun sten zu wenden . Wenn die
Brotpreise stiegen oder die Versorg u ng mi t Brot ausblieb, forderten die armen ArbeiterInnen von der lokalen Verwaltung Abhilfe dergestalt, daß d iese »einen Preis festsetzen« so llten . Tat sie das nicht, kam es h äu
fig zU Aufruhr und
�mult .
Das Jahrhundert wurde ständig von diesen
Brotaufständen der A rmsten der Armen unterbrochen , die dazu über-
Ausgewählte Schriften
102
gingen, »durch Aufruhr zu handeln« , wenn »-Verhandlungen nach dem
Gesetz« gesc h eitert waren (vgl. Hobsbawm/Rude 1975) . D ie s e Fälle von Aufruhr gehorchten j edoch in hohem Maße der D isziplin der Mas sen . Kornsäcke wurden aufgeschnitten , das Kom verstreu t , Butter,
Käse und Speck wurden »zu einem ge rechte n Prei s« verkauft. das
Geld
dem M üller zurückgegeben . BrotrevoHen waren äu ßerst zeremonielle
und disziplinierte Aktionen. D i e Umzüge waren mit Fahnen, Emble
men, Schmuckbändern und Sch leifen geschmückt; di e M enge wurde angeführt von ei ner Frau , die eine Glocke schlug, oder von Hörnern und Trommel n ; Brotlaibe waren mit sc hwarzem Krepp drapiert oder
mit Blut beschmiert. Die s war das »Theater« der Vol ksgerechtigkeit. Diese kulturellen Praxen e rzeugten ihre eigenen moralischen Ideen
und Ansichten von der Gesellschaft. Die l än dli c he Gesellschaft wurde noch zu ei n em bedeutenden Teil durch Gewohnheit, Tradition und un geschriebene Vorschri ften geregelt. Sobald aber Eigentum, Hande l und der freie Markt von Gütern und Arbeit dem gesellschaftJ i chen
Leben ihre M uster aufzuprägen beg annen und das ländliche Eng l and in einen voll entwickelten Agrarkapital ismus verwandelten, wurd e di e
Gesellschaft all mählich auf den Weg von der »Gewohnheit« zum »Ge setz« des Eigentums und der Marktkräfte erzogen , geprügelt , getri e
ben und gelockt. Das Recht wurde zu einem der Hauptinstrumente die ser Verwa nd lung ,
es
beinhaltete eine Verschiebung von Subsiste nz_
wirtschaft zur Verm arktu ng für den Profit, von der Gewohnh ei t ZUIIl Recht , von den »organischen Zwängen der
Gutsherrschaft und
der smar kt e Zu n ft zu den atom i sierten Zwängen des freien Arbeit s ( . . . ) ein umfassender Konflikt und eine Neubestimmung auf allen Ebenen , weil gewachsene und magische Ansichten über die G esell sch aft dem Natur_ recht Platz machten und die Ethik der Bereicherung sich auf e i ne auto ritäre, moralische Ökonomie aufpflanzte«
(Thompson 1965) .
D i e Ge
wohnheiten , Praxen und Gedanken - die Kultur der »)einfachen Leute«
- standen im Zentrum dieser historischen Transform ati on .
Die Gewohnhei ten bestimmten die, wirkliche ökonomische PraXis z . B. die Entscheidung, was ein »gerechter Preis« sei . Sie waren abe;
auch i n die Ideologie und in den Glauben eingeschrieben : die Vo rstel _ lung, es könne so etwas geben wie einen gerechten Preis ;
es
gäbe in
Ze iten des Mangels eine moralische Grenze für das Recht des MÜ l le rs
oder des Kaufmanns auf Profit auf Kosten der Ar!!len ; der Glaube e s , gäbe, w i e Thompson es nennt, eine »moralische Okonomie«, die u lll fas s ende r und zwingender sei als die reinen Gesetze des Markte s.
Diese ganze Gewohnheitskultur mußte niedergeri ssen und in ein e aUf die »Moralität« des freien Marktes gegrü ndete Kul tur u mgemOde lt
Massenkultur und Staat
103
werden . Das Recht war eines der M ittel , mit deren Hilfe eine Kultur der Gewohnheit und des Paternalismus in eine Kultur des Rechts, des Eigentums und des freien Marktes umgestaltet wurde. Diese Umfor
mung verlangte, daß die ältere plebejische Kultur aufgebrochen und verdrängt würde, damit an ihrer Stelle neue Muster, Haltungen und
Gewohnheite n geformt werden könnte n. Diese Transformation schloß
die Zerstörung der einen Kultur ein sowie die »Reformation« der Ge sellschaft, die Um-Erziehung der Menschen zu einem »neuen Typus von Zivilisation«: die Zivilisation eines voll entw ickelten Agrarkapita
lismus. Die Zersetzung dieser älteren Kultur und der Autbau von Ver haltensweis en bei den unteren Volkslclassen, die einer regulären »frei� en Arbeit«, dem Private igentum und den Gesetzen der politischen Ökonomie entsprache n , wurde zum Teil durch die Vermittlung von Recht und Staat bewirkt. D as ist gewiß nur ein
»
Sch nappschuß« von den Bezie hungen zwi
schen Recht und Massenkultur im 18. Jahrhundert . Wir können aber sehen, wie der Staat durch das Recht in die Beziehungen zw ischen Klassen und Kulturen intervenierte. Er half dabei , Verhältnisse von Macht, Autorität und Zustimmung zwischen den herrschenden (d .b .
den grun dbesi tzenden) und den beherrschten (d .h. arbeitenden) Klas;' sen zu definieren und zu fi xieren . Er vermittelte auch zwischen den Kultur en : paternalistisch/ unterwürfig ; pl ebej isch und patrizisch;. · au
toritativ-legalistische Auffassungen von »Recht« und »Gerechtigkeit« versus Auffassungen der Massen . Der Staat spielte eine erzieheri· sebe! ideologische ebenso wie eine repressive! gewalttätige Rolle. Er verwandelte Praxen - gesetzliche (von Gewohnheitsregeln zum for malen Recht) und moralische (einen »gerechten« Preis festsetzen ;
durch Aufruhr »verhandeln«) sowie ökonomische. Er war Teil einer größeren hi stori sch en Transfonnation. Er war auch ein Instrument , durch welches die Ge sell schaft an b e stimmte historische Imperative
»angepaßt« wurd.� : die Bildung einer voll entfalteten bü rgerlichen Ge sellschaft; der Ubergang von einer Natural- zu ei ne r Markt-Wirt s ch aft ; der Ü bergang zu m Agrarkapitalismus. Er formte kulturelle Ge
wohnheiten, Gedanken und Praxen um, indem er die Gewohnheiten
der Massen aufbrach und reorgani.s ierte. Er stützte gleichwohl eine spezifi sche Art von Autorität (die »Herrschaft des Gesetzes«) , die ge
sellschaftlich e Kämpfe vermittel te und u mfaßte und eine bestimmte Art von Leg itimität und Zustimmung zur Autorität eines bestimmten gesellschaftlichen Bl ocks absicherte. Für diesen g anzen Prozeß bilde ten die »Kulturen« der herrschenden und der Volksklassen einen wich� tigen Ort.
104
Ausgewählte Schriften
2. Die Freiheiten der Presse und die Stimme des Volkes Wir verschieben unsere Aufmerksamkeit in dieser zweiten Fall studie vom Recht auf einen kulturellen Apparat im d irekteren Sinne: die Presse. Wir untersuchen die Rolle des Staates bei der Herausbildung einer national-popularen Presse. Die verschiedenen KJassen der Ge sells c ha ft erhalten durch die Presseorgane eine Stimme. Das Volk und
die » Meinung des Volkes« werden durch diese Organe gegenüber dem Staat repräsentiert. D ie Organe d er öffentlichen Meinung institutiona lisieren daher ein bestimmtes Bündel von gesellschaftlichen und kultu rellen Verhältnissen. Diese Konfiguration stützt sich auf ei n ideologi sches Modell : das Modell der »freien Presse« . Für di eses Model1 i st e s
entsc heidend , daß die Pres se, im Unterschied zum Recht (d as sich VOm
Staat herleitet) , nicht zum Bereich des Staat es, sondern zu dem der Zi
vilgesellschaft gehört. Der ganze Daseinszweck der »freien Presse« in demokratischen Klassengesellschaften besteht darin , daß sie n icht
vom Staat geführt wird, weder sein Eigentum noch an ihn gebu nden
ist. Sie handelt frei und freiwil lig. Die Gesetze zu Verleumdung und die der wirtschaftlichen Rentabi lität bilden ihre einzigen Grenzen . Eben weil die Presse i m Marktsinn »frei(( ist, gilt sie als BoUwerk »des
Volkes« gegen die Macht des Staates, als Verteidigerin der Frei heiten der EngländerInnen und als unabhängige Stimme der Nation . Das war im 19. Jahrhundert ein neues kulturelles Modell, eine neue Konfigura_ tion kultureller Macht . D ieses Modell organisierte die Elemente de r Gleichung von Staat - Kultur - Klasse in ein neues »Gleichgewi cht
von Autorität und Konsens« auf der Basis einer neuen Artikulation der Beziehungen zw ischen Staat und Zivilgesellschaft .
Das lesende Publikum, der Markt und der vierte Stand Das Auftreten einer unabhängigen »öffentlichen Meinung« , von Lite raturproduktion für den Markt und einer freien Pres se hing mit detn Anwachsen der städtischen Bourgeoisie zusammen . Das Lesen breite_
te sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr rasch aus . D a s neue Lesepublikum bestand aus autodidaktischen und gottesfürchtigen ArbeiterI nnen , kleinen Geschäftsleuten , gebi l d eten Gesellen , unab�
hängigen Kaufleuten , aus Handwerkern und Büroangestellten . Frau en
lesenden Nation durch
aller Klassen stellten ei nen bedeutenden Tei l dieses neuen Publikum s. »Allgemeine Literatur geht nun durch die
alle ihre Ränge hindurch« , bemerkt Dr. Johnson im Jahre 1779 (zit . n .
Altick 1957) .
Massenkultur und Staat
105
Aber gerade die Vergrößerung der gesellschaftlichen Gruppen, die mit Handel und Manufakturwesen verbunden waren , sowie die der ihnen entsprechenden Gruppe im H a u s (die nun zunehmend von d er
männlichen Arbeitswelt getrennt war) »verschoben den Schwerpunkt des Lesepublikums soweit, daß die Mittelklassen insgesamt fürs erste in eine beherrschende Position gelangten« (Watt 1963, 49) . Wenngleich die Mittelklassen noch keine politisch geeinte Kraft dar stellten, so entdeckten sie doch durch diese erweiterte »öffentliche
Sphäre« in der Zivilgesellschaft eine bedeutende >YStimme«, eine Quel le kultureller Macht und ei n Mittel der Selbst-Identifikation als Klasse. Neue Formen und Praxen wie der Roman , die großen l iterarischen Pe riodika, die Zeitungen , Schreiben und Veröffentlichen für
Geld
,
Re
zensieren wurd en für dieses neue Publikum geschaffen und handelten von ihm : sie formten seine Erfahrung und verschafften seinen kulturel
len Idealen und Sehnsüchten Ausdruck. Die berühmten Zeitschriften der Zeit , der Tatler, der Spectator, das Gentleman 's Magazine., trugen zur Formung des sozialen Geschmacks und der Gewohnheiten von Männern nach dem Bild des bürgerlichen »Gentleman<{ bei .
Benimmbücher, Bro schüren zur religiösen Erbauung, die gebildeten Journale und die Romane dienten ebenfall s dazu , eine »private« Kultur
zu schaffen und ein häusliches Ideal zu definieren : für die Bourgeoisie
insgesamt und insbesondere für Frauen - Hüterinnen von Haus und
Herd einer »gesunden und ordentlichen« (männlichen) Person . Die Welt der Mittelschichten erhielt durch die neu geschaffenen Institutio nen freiwilliger Vereinigung (ZivilgeseUschaft) eine ganz besondere
kulturelle Prägung. Sie wurde geteilt und strukturiert in die »getrenn ten Sphären« von öffentli ch und privat, um die sich die städtische bür gerliche Kultu r gruppierte.
Die Presseorgane stellten beispielhafte Instanzen dieser nenen ge sell schaftlichen Institutionen dar; außerhalb des Staates, in der Welt der Freiwilligkeit , in der Zivilgesellschaft, entwickelt, halfen sie
dabei , die Klassen, an die sie gerichtet waren , als eine öffentliche, kul turelle Kraft zu konstituieren . Die Vermögen dieser aufsteigenden Klas se hingen von der Anwendung reiner Laissez-jaire-Grundsätze ab,
u nd sie dehnte diese neue politische Ökonomie auf die Welt des Publi zierens aus : Schreiben um des Profits statt um der Protektion willen ; Bücher zu drucken und auf dem Marktplatz zu verkaufen wie andere Waren; den privaten Geschmack eines wachsenden , kaufenden und le send en Publikums zu bedienen ; und
ein Mittel berei tzustellen , mit dem sich der zahlungskräftige kommerzielle Inserent an seine Kund s chaft wenden kan n .
Ausgewählte Schriften
1 06
Eine große, neue Form der kommerziellen Publikation war die Zei tung. D a s System staatlicher Lizenzierung von Zeitungen wurde im Jahre 1695 abgeschafft. Danach breiteten sich Zeitungen jeden Typs ,
jeder Art und Größe phänomenal aus. Um 1770 gab es in Lon do n neun Tageszeitungen . Im Jahre 1746 wurden 2500 Exemplare j eder Ausgabe
der London Daily Post gedruckt . Der Markt wurde auch von einer Un
zahl ungezeichneter täglich und dreimal die Woche erscheinender Zei tungen überflutet. Sie z i r kul ierten häufig zum halben Preis . Der Ver tri eb der Zeitungen in der Stadt wurde von einer »fluktuierenden
und
no tl eid en den Population von Straßenhändlern« unterstützt (Harris 1978, 8) . Um das Jahr 1790 wurden 4650 Exemp]are von London e r Zeitungen auf dem Postwege i m ganzen Land vertrieben . E in ähnli
ches Vertriebssystem entwickelte sich für die Provinzzeitungen .
Die se
expandierende Kulturindustrie konstituierte das » Lesepublikum« zum
ersten Ma1 als einen
Kulturmarkt
.
Sie führte die Maßstäbe des
Ver
kaufs und der Popularität, des Raubdru c ks und der »Schmierenpresse« in die Kultur ein, wo sie nun neben dem hohen Standard des literari_
schen Kanons und des literarischen Urteils existierten . Und sie verhalf den unabhängigen Mittelklassen dazu, sich als eine politische, geseU_
schaft1 iche und kulturelle Kraft zu fonnen .
Das war, nach heutigen Maßstäben, eine stark regulierte »Unabhän
gig keit « , denn in den frühen Stadien mischte sich der Staat noch s ehr ein . Lange Jahre fu ngierte der Minister als der Hauptvertreiber d er
Zei tungen in London . In den 60er Jahren des 18. Jahrh underts wurde die Ausweitu ng des Privileges der Abgeordneten , frankierte Sendun_ ge n durch die Post befördern zu lassen , für den Zeitungsvertrieb ge�
nutzt. Im Juni 1789 wurden auf diesem Weg in einer Woche 63.117 Exempl a re befordert . Im Jah re 1712 wurden die ersten Stempelgebüh_
ren ei ngeführt .. Sie waren als Mittel zur Kontrolle der Presse gedaCht und trie ben die Zeitungspreise in die Höhe. Die Zei tungsei gner wand_
ten alle möglichen Tricks an , u m die Stempelgebühren zu u mgehen ,
indem sie ihre Zeitungen als Broschüren registrieren ließen oder aUf dreimaliges Erschein en pro Woche umstellten . Neben der gestempel_ ten Presse entstanden eine Menge kleinerer, illegaler Zeitungen . In den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts jedoch wurde d iese *u nge stern_ pe l te Presse« durch einen gesetzlichen Angriff auf die Straßenhändle r - ihr einziges Distributionsmittel - und später auf die Herausg eber selbst unterminiert.
Zur seIben Zeit entfaltete das politi sche Establishment, das di e Pres
se mit der einen Hand an die Kandare nahm, Aktivitäten als Privatleu_ te, um sich m i t der anderen Hand in einflußreiche Positionen in der
r .
,
Massenkultur und Staat
107
Presse einzukaufen. In der Frühzeit der Presse kaufte der Premiermi nister Walpoie das oppositionelle London Journal auf und verwandelte e s in ein Vehikel der Regierungspropaganda ;. er gründete Free Briton und den Daily Courant, weitgehend von Regierungsangestellten ge schrieben ,
und später den Daily Gazeteer. Er gab über 50000 ! aus der
Staatskasse für Propaganda aus , zum großen reil für die Londoner Zeitungen . Da jedoch die gesamte Wirtschaft allmählich durch die all
gemei ne Anwendung der Gesetze der politischen Ökonomie des freien Marktes und der Profitmaximierung u mgewandelt wurde,. stand die Unabhängigkeit der Presse schließlich höher im Preis als ihre Zuver
lässigkeit als gefügiges Instrument. Diese Unabhängigkeit wurde als ein System aufgefaßt, durch das Meinungen , wie andere Waren , auf dem Markt außerhalb der direkten KontroUe und Oberaufsicht des
Staates zirkulierten .
In der Tat bilden in der heroischen Version des »Fortschritts«, die in der p opulären historischen Literatur bis auf den heutigen 'lag vor
herrscht, die Herausbildung der Mittelklassen als das führende soziale
Element der Gesellschaft, die Scha ffung des freien Marktes als das Grundprinzip der Wirtschaftsorganisation und die Ausbreitung einer
unabhängigen Presse als vom Staat getrennter »vierter Stand« die we
sentlichen Bestandteile der herois chen Erzählung. Diese Geschichte
erklärt , wie die staatlichen Beschränkungen beseitigt w urden und wie die Mittelklassen auf der Grundlage des freien Marktes eine nationale Presse gründeten , und wie al lein auf diese Weise die Freiheiten des
englischen Volkes erhalten bleiben konnten. Zwischen den 90er Jahren des 18. Jahrhu nde rts und den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts und
wieder während des Chartismus wurde die Überlegenheit dieses kultu rellen Modells durch eine andere Art von Presse machtvoll herausge
fordert, die eine davon verschiedene Kultur artikulierte: die Stitmne
einer anderen Klasse . Diese P resse florierte als ein Teil der radikalen
Handwerkerkultur der 90er Jahre. Sie entstand neb en den Institutionen
der ersten Industriearbeiterklasse in den Jahren bis zur Mi tte des 19.
J ahrhu nderts : die radikale Presse, die » ungestempelte«, die ) Hüterin der Armen« . Dieses alternative Netz von volksnahen Institution en
mußte, wie die ple bejische Kultur des 18. Jahrhunderts, erst aktiv zer stört werden , damit es einer ganz anderen Art von »Freiheit« überlas·
sen werden konnte, die Meinungen »des Volkes« zu organisieren . Die Herausforderung: radikale Presse und Massenkultur Die Existenz einer breiten und » literarischen« Kultur in den Vo]ksklas sen dieser Periode ist sehr unterschätzt worden . Die Radikalisierung
108
Ausgewählte Schriften
des politischen Klassenbewußtseins i n der Periode industriellen Auf
bruchs , politischer Agitation u nd revol utionärer Kriege trugen aktiv
dazu bei , diese Kultur zu verbreiten und zu entwickeln . Von Paines Rights oi Man wurden in wenigen Wochen des Jahres 1791 50000
Stück verkauft . Von Cobbetts Address to Journeymen and Labourers wurden 1826 200 000 Exemplare verkauft� von seinem Political Regi ster pro Wo c he 44. 000 Stück für zwei Pence. Von Woolers Block Dwarfgingen im Jahre 1820 12.000 Stück weg, während von der Times nicht mehr als 7.000 Stück verkauft wurden.
Diese radikale Arbeiterpresse wurde von der Obrigkeit und von den
etablierten Klassen als subversive Kraft etikettiert . Edmund Burke
nannte sie »)das g roße Instrument zur Unterwanderung von Moral , Re ligion und der menschlichen Gesellschaft selbst« (zit. n . Aspinal 1973,
1). Lord Ellenborough sagte zur Rechtfertigung des neuen Stempelge setzes von 1819 sehr deutlich , daß »dieses Gesetz nicht gegen die re
spektable Presse gerichtet ist, sondern gegen die Armenpresse« (ebd . , 46) . Diese »Armenpresse« hatte in der unruhigen Zeit zwischen den
90er Jahren des 18. Jahrhunderts und dem Refo rmgesetz vo n 1832 unter umfangreichen Störungen und Einschüchterungen zu leiden . 1799 wurde von aUen gedruckten Zeitungen verlangt, daß sie sich regi strieren l ießen . Die Presse wurde in der Periode der Six Acts schwer eingeschränkt un d wiederum durch die Gagging Bills 1819-20, die den Bereich der Stempelpflicht ausdehnten und das Gesetz gegen aufr ühre rische Raubdrucke verschärften . Trotz di eser Angriffe b rachten es Do
hertys Voke of the People und The Pioneer, Carlisles Gauntlet und Hetheringtons Po or Man 's Guardian aUe auf mehrere tausend Lese-
rInn en , die ersten beiden
sogar auf über 10000 (vgl .
Thomps on 1987 "
2. Bd . , 815) . Die Füh rer des Radikalismus in London standen
in den
90er Jahren des 18. Jahrhunderts ständig wegen unerlaubter, aufrüh re_ rischer D ru c ke vor Gericht . Wie Thompson beme r kte (und zwar ganz entgegen dem
Mythos) :
»Vielleicht in keinem andren Land der Welt war der Kampf um die Pressefreiheit
d
so hart , en ete mit einern so deutlichen Erfolg und wurde so sehr mit der Sache der Während Peterloo (aus einer paradoxen Handwerker und A rbeiter
identifIziert.
Stimmung heraus) das Recht auf öffentliche Demon strationen begründete, wurden die Rechte einer ' fre ien Presse' in einer 15 Jah re oder länger dauernden Kampagne errungen , d ie in ihrer dickköpfigen, frechen und u nbezwingbaren Dreistigkeit kei nen Vergleich kennt « (Ebd . , 816)
Diese populäre Agitation führte zur Abschaffung der »Wissensteuern� nur
so konnte eine freie Presse ex.istieren .
Die Gebüh r auf Broschüren ,
wurde 1833 abgeschafft, die auf Anzeigen im Jahr 1853. Die radikale Massenpresse hatte einen groBen Anteil am S ieg der »Meinungsfreiheit« .
Massenkultur und Staat
109
Aber nich t sie, sondern die kommerzieHe bürgerliche Presse erntete deren Fruchte. Wie kam es dazu?
Synthese, Transformation, Inkorporation Nun gewann ein neues kulturelles Modell , gewannen neue Klassen
Kultur-Verhältnisse die Oberhand. In dieser neuen Formation wurde »Freiheit« neu gefaßt Es bedeutete nicht mehr »frei von der 1Yrannei einer etablierten Obrigkeit« . Vielmehr gewann es die Bedeutung, daß Meinung ausschließlich durch die Gesetze des Marktes, der freien .
Konkurrenz , des Privateigentums und der Gewinnträchtigkeit be
stimmt würde. Ein solcher Markt ist fonnal »frei« , in dem Sinne, daß
der Staat oder das Gesetz niemanden daran hindert, eine Zeitung zu
besitzen oder herauszugeben und Ansichten und Meinungen zu veröf fentlichen - vorausgesetzt, er hat das nötige KapitaL Der Staat »greift« in diese Freiheit nur äußerlich und negativ »ein« , indem er dar
auf achtet, daß die Gesetze gegen Raubdrucke, Obszönitäten, freien Wettbewerb und so weiter nicht verletzt werden . Diese Art von forma ler »Freiheit« hat natürlich auch ihre sehr realen Grenzen. Um eine
modeme Zeitung zu besitzen , herauszugeben, zu vertreiben, zu kapi
talisieren und zu halten , i st eine gigantische Aufhäufung von Kapital nötig. Die große Mehrheit der Leute ist im Grunde nur frei, die Mei nungen zu konsumieren, die andere machen . Die neue kommerzielle Presse, die sich im Gefolge der Abschaffung der »Wissensreuer« ausbreitete, war aber in zunehmendem Maße auf die Volksklassen angewiesen: als lesendes und kaufendes Publikum , n ich t jedoch in dem Sinne, daß sie für die Sache der breiten Massen
eingetreten wäre. So baute der ») freie Markt« die Volksklassen in das
Zeitungsgeschäft ein, aber nur als notwendige ökonomische Unterstüt
zung. Zur selben Zeit und durch denselben Prozeß inkorporierte der
Markt sie politisch , kulturell und sozial in einer untergeordneten Posi tion in eine Reihe von Verhältnissen,. die durch die Pri nzipien der Inve stition und der freien Marktkon1currenz institutionalisiert waren . In nerhalb dieses klassen-kulturellen Verhältnisses bekam »Freiheit« eine
B bestimmte, aber eingeschränkte edeutung: sie bedeutete Freiheit von S taatsintervention , Freiheit zu konkurrieren und zu überleben - Frei heit für die ungehinde rte Entfaltung der Kapitalakkumulation , der pri
vate n Aneignung und der Marktkonkurrenz . . Diese Freiheit begründe� kollektives Recht darauf, seine M einu ng zu äußern , te kein po si ti ves opularen Inhalt . Diese Definition von Frei heit u nd hatte kaum radikal�p i st nicht demokratisch , sondern kommerziell.
Ausgewählte Schriften
1 10
Dieser Typus von Verhältnissen wurde ab der Mitte des
19. Jahrhun
derts in der Presse vorherrschend. Er enthielt die Keime eines kultu rellen Musters, das in den modernen Beziehungen zwischen Staat,
Klassen und öffentlicher Meinung dominant wurde. Er trieb die Auf
teilung der Gesellschaft in zwei unterschiedliche u nd pol ari sierte Arten von »Publikum« voran : das kleine »Elite«-Publikum , das nich t aufgrund seiner Anzahl, sondern wegen der strategischen Bedeutung seiner Macht und seines Einflusses wichtig war (und daher intere s sant
für Anzeigenkunden) , und das »Massenpublikum«, das den Mangel an
Einfluß durch seine rein zahlenmäßige Stärke kompensierte.
Dieses Muster wurde dann als eine kulturelle Unterscheidung zwi
schen der »hochwertigen« und der »Massen«-Presse reproduziert . Die letztere fi ng erst in dieser Periode an, ihre eigene kulturelle Form _
oder Formel �
zu
entdecken. Diese Formel stellte im Kern eine kultu
rel1e Lösung für das Problem der Macht, der Rechte und Meinungen
der Volksklassen dar - für das Problem der Demokratie. Das Problem bestand i m wesentlichen in folgendem: Wie waren die Volksklasse n im
Kreis und unter der Autorität der herrschenden Kul tur zu halten, wäh rend ihnen das formale Recht zuerkannt wurde, Meinungen zu äußern?
Zu diesem Zweck wurde eine Presse gescha ffen , welche die Inte re s
sen, den Geschmack , die Vorlieben , Sorgen und das Bildungsniveau
der Massen widerspiegelte. Das genügte, um die Identifikation u nd die Zu sti mm u ng der M assen zu gewinnen , ohne j edoch eine authentisch e »Stimme« der Interessen der Massen
zu wer:derz , die versuc ht s ei n
könnte, ihren M ei nu ngen eine unabhängige Stimme zu verleihen u nd sie so zu einer e inheitlichen gesell schaftlichen und politischen Kraft zu schmieden (wie es die chartistische Presse versucht hatte) . Die neUe
»populäre« Presse war eine Presse
über die Volksklassen und wurde von diesen gekauft, sie war aber nicht von diesen produziert oder ihrer Sache verpflichtet. Die Formel für diesen Typus von kultureller Inkor porierung leitete sich aus einer Synthese zweier älterer Modelle ab :
der Sonntagspresse und der Volksalmanache. Die Sonntagsblätte r
(»Sundays«) hatten häufig eine g rößere Verbreitung als d i e Tageszei_ tungen und verfügten über eine sozial breitere Leserschaft. Sie ware n
von kommerzieller Unternehmungen, welche die weitgehend unpol iti schen Interessen der städtischen Massenkultur widerspiegehen und
Kriminalität und Gewalt, Sex und Skandalen , Sensation und Klatsch den Vorzug gaben . Im weiteren Verlauf des Jahrhunderts gab diese
Formel das Modell für die neue kommerzielle »Massenpre sse« ab.
Denn die Erfolgsformel der Sonntagspresse stellte eine Syn these dar zwischen der alten, unpolitischen Tradition des populären Volks._
Massenkultur und
Staat
111
buches , der K riminal- und Gaunergeschichten und dem jüngeren poli tischen Radikalismu s der ungestempelten und der chartistischen
Presse: »Das steUte ein wichtiges Zwischenstadium in der Entwicklung der modemen Massenpresse dar; aber der in ihrer Ansprache an ein Massenpublikum liegende kommerziel le Druck führte auch zu einer gewissen Entwertung und Manipulation vieler Traditionen der früheren , radikalen Presse. « (Berridge 1978, 247)
Diese Formel
synthetisierte
traditionelle und radikale Aspekte: die
»Unverblümtheit« d er radikalen Tradition wurde auf einen bloßen Stil reduziert (»Der Daily . . . scheut si ch nicht, einen Spaten eine olle Schippe zu nennen«) , und die » Ausdruckskraft« der traditionellen Massenkultur trat als Sensationsmache auf (»Lesen Sie alles dar über! «) . Diese Aspekte wurden j edoch auf dem Boden kapitalistischer, kommerzieller Grundsätze und Organisat i on synthetisiert. Zusammengefaßt können wir nun sehen. wie beim
Übergang
von
der staatlichen zur Marktregulierung der Presse eine neue (und hoch wi dersprüchl iche) Konfiguration von Klas sen- und kulturellen El e
menten entstand . Diese Formation war s eh r verschieden von der ein
Jahrhundert zuvor vorherrschenden. Sie setzte sich durch eine neue
kulturelle I n stitu ti o n , die »freie« kommerzielle Presse, das heißt durch den Rückzug des Staates aus der Sphäre der Ko nkurrenz durch . Diese institutionalisierte ihrerseits ein neues Bündel von klassen
kulturellen Verhä1tnissen (das heißt gab ihnen eine »dauerhafte« , gere gel te, stabilisierte Form und band sie an bestimmte Muster) . D as Herzstück dieses Verhä ltni sses war die Ko nstitui erung der Volksldas
sen als ein ökonomisch wesentliches, aber kulturell und ideologisch
abhäng iges und untergeo rdnetes Element. Sie waren durch eine neue
Form an den Aufstieg der herrschenden Klassen gebunden oder in die sen Au fsti eg inkorpo riert : das sogenannte »Massenpresse«-Rezept.
Dieses Rezept verwandelte alte (radikale und traditionelle) Elemente , arbei tete sie um zu einer neuen Synthese. Das ist der Ursprung und die Basis der modemen Diskurse der Massenpresse und des populären,
kommerziellen Journal i smus . Die Presse wurde unter der Wi rkung
dieser Diskurse in zwei ungleiche Teile aufgespalten : die »niveauvolle« Presse und die »Massen«-Presse, von denen jede einen and eren kultu rellen Wert oder Index trägt.
»
Niveauvo ll « ist ernst ; »massenhaft« ist
unterhalten d , aber trivial . Das gesamte Te r rai n kultureller Praxen und
Verhältnisse in der heuti gen britischen Gesellschaft ist in diese sich
ausschließenden pol aris ierten , binären Gegensätze aufgeteilt. Was »populär« ist, kann n i cht »ernst« sein. »Qualität« muß Mac ht haben . Was unterhaltend ist, kann keine »Qualität« haben, usw. Auch die
1 12
Ausgewählte Schriften
LeserInnen werden als zwei verschiedene Arten von Pub1il"Um kon
struiert : intellektuelles versus Massen-Publikum. Durch diese Prozes se wurde ein neues »Gleichgewicht der Kräfte« errichtet. Die Volks
k1assen betraten den freien Markt der Meinungen unter der Führung
und Autorität (Hegemonie) bürgerlicher Meinungen ; letztere wurden i n ihrer (ideologisch) beherrsch enden Stellung durch die »Logik« des
kommerziellen Kapitals (ökonomisch) abges ich er t .
Staat, Kultur und öffentliche Autorität: das Beispiel Rundfunk Die klassen-kulturellen Verhältnisse, wie sie durch die Prinzipien der freien Presse, des freien Marktes institutionalisiert wurden , haben bis
heute überlebt. Das Prinzip, Kultur solle weitgehend
außerhalb des
Staates, nach dem System.: freie Auswahl , Marktkonkurrenz , private Profitabilität, organisiert werden, bleibt einflußreich . In Großbritannien spielt der Staat daher auch heute noch eine weitaus geringere Rolle
in
kultureHen Angelegenheiten als in a nderen europäischen GeseUschaf_ teD . O steuropäisch e - und einige westeuropäische - Länder h aben
Kultumünisterien; Großbritannien hat nur ein Bildungs- und Wissen schaftsministeri urn (Department of Education and Science) . Di e fran
zös i schen »Akademien« b est i mmen die nationalen Maßstäbe für w is
sen s ch aftli che Qualifikation in einem Maße, das die British Royal 80ciety gar nicht anstrebt. In G roß bri tann i en werden nicht, wi e in ande ren Mitglied sländern der UNESCO, reg el mäßige
Statistiken über das
Gebiet der Kuhur angefertigt als Indikatoren für die Richtung der »kul ture l l en Entwicklung« oder des »lebenslangen Lernens«. Jetzt g ibt es
einen mit Staatsgeldern finanzierten Kunstrat (Arts eoundl) und
ande
re Gremien zum Schutz des nationalen Erbes . Die Hal tungen ZUll1
Kunstrat sind a]]es andere als eindeutig . Auch wenn er vom Staat finan
z i e rt wird, werden seine Politiken im einzelnen d u rch »unabhängige
Kom itees« bestimmt - das berühmte br itis che »gemischte« System .
Gewiß hat der britische Staat ei n e umfassende Verantwortung fü r die
Bedingungen der Kultur in einem weiteren Sinne übernomme n . Er übernimmt besonders durch sein Erziehungssystem Ve rantwortu n g für die Bestimmung und Ver breitung von kulturellen Traditionen und Wer ten , für die Organisation des Wissens, für die Verteilung von dem , wa s Pierre Bourdieu »kulturelles Kapital« nennt, auf die verschiede nen Klassen ; und für d ie Bildung und Qualifizierung der inte llektuell en
Schichten
-
d i e Hüter der kul tu rell en Tradition . Der S taa t ist zu einer
aktiven Kraft in der kulturellen Reproduktion geworden.
Darüber h in aus ist das vom freien privaten Markt beherrschte Or gan i sationssystem in entscheidenden Bereichen i m 20. Jahrhun dert
Massenkultur und Staat
1 13
meistens nicht mehr das vorherrschende System gewesen , durch das
klassen-kulturelle Verhältnisse arrangiert werden (auch wenn seine
Dominanz über die Kultur in den 80er Jahren rigoros wi ederhergestellt
wird) . Es wurden neue Quellen kultureller Auto rität und neue Modelle kultureller Hegemonie entwickelt , die neue klassen-kulturelle Verh äl t
nisse begründeten und ein neues »Gleichgewicht von Autorität« ze mentierten . Sie alle wurden in den frühen und mittleren Jahrzehnten
des 20. Jahrhunderts sehr viel direkter vom und über den Staat vermit
telt. In unserer dritten Fallstudie betrachten wir eine solche Entwick lung und konzentrieren uns auf eine andere geschichtliche Übergangs
periode : das Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts.
3. Die Erhaltung der Demokratie Das ist eine Periode grundlegender historische r Umwandlung. Sie ging eine r ge s ellschaftlichen Krise mit den folgenden Hauptelementen
vora us : Erstens endete Großbritanniens industrielle und kommerzielle
Vorherrschaft mit der Industrialisierung der anderen Großmächte und der Steigerung der wirtschaftlichen Konkurrenz und der imperialisti
schen Rivalität. Zweitens zeigte sich d i e s in dem Verlust de r Fü hrung auf d em Feld der Prod uktion , als das Produkt ivitäts ni veau Großbritan
niens von Deutschland , Japan und den U SA überholt wurde. Drittens setzte dieser Zusammenbruch der früheren wirtschaftlichen Überle genhe it eine Aufspaltung und Neuzu s amme n se tzu ng der politischen Parteien , Formation en und Ph ilo sophien in Ga ng . Die pol itisch e Öko
nomie des Laissez-Jaire u nd der politische Individualismus, zentral für
die Parteien und Ideen der liberalen Reform (die vorherrschende politi
sche Philosophie der Mitte des Jahrhunderts), verloren ih re Hegemo nie, und neue pol itis che Formationen tauchten auf und veränderten die politische Szenerie völlig. Die modernen Formen industrieller Mas senproduktion traten zum ersten Mal in dieser Periode auf und ermög
Hchten neu e Formen der Arbeiterorganisation. (Allgemeine Gewerk. schaften fü r halb- und unqualifizierte Arbeit traten an die SteHe der Facharbeitergewerkschaften und der qualifizierten »Arbeiteraristokra tien « , welche die Gewerkschaft und die radikale und liberal e Politik in der vorangebenden Periode beherrscht h atten .) Schließlich brach di ese gesellschaftliche Kraft ihr Bündnis mit dem radikalen Teil der libera
len Partei und trat auf die politische Bühne al s unabhängige »Partei der Arbeit« - die Labour Party.
Gerade die Verschiebung im G leichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte, d i e man dann als »das Problem der Demokratie« bezeichnete,
Ausgewählte Schriften
1 14
verdichtete diese verschiedenen Ebenen gesell schaftlicher und ökono
mischer Krisen in einem Problem der Klassenautorität. De r Kampf
um die Auswe itung des Wahlrechts auf alle erwachsenen Männer nä.
herte sich schließlich seinem Abschluß. Und als die große Meh rhei t
der Männer in den Volksklassen als voll wahlberechtigte Bürger in die » pol itisch e Nation« einge tre ten war, erhielt die Hera u sfo rderung der Demokratie an die a1ten Klassenbündnisse und pol i ti sch en Füh ru ngs schichten einen nellen Schub : durch den neu auftretende n energi schen
und profi lierten Feminismus, der für dasse1be Recht auf Repräsenta tion für erwachsene Frauen kämpfte.
Der »Aufstieg der Demokrati e« erschütterte ältere Modelle ku1tureller
u nd Klassenmacht bis in ihre Grundfeste. Der Staat konnte nicht mehr
die Arena sein , in der die etablierten Klassen einfach von den Ansi chten und Interessen des nichtrepräsentierten
Teils der Nation »Kenntni s nah
men « und sie irgendwie unterbrachten . Der Staat war nun , wenigstens formal, voll repräsentativ geworden (ei n Mann, und wenig später, eine Person , eine Stimme) und seine Herrschaft mußte daher die Fonn der Allgemei nheit annehmen und alle seine BürgerInnen glei ch behandel n .
warf ganz neue Probleme für die Regelung politi scher, sozialer und kultureller Aufgaben auf. Die führenden gesel ls chaftli chen Klassen und deren Interessen mußten ihre beherrschende Pos it ion erhalten, jedoch Das
i rgendwie in einem Staat, der beanspruchte, die politische Macht egali siert und »demokratisiert« zu h aben . Die Frage war daher, wie Demo
kratie aufrechterhalten und , gleichzeitig, die Zustimmung der Massen
erhalten werden sollte.,. und das unter den Bedi ngungen wirtschaftlicher
Umwälzung und intensiverer internationaler Rivalität. Das verlangte nach ein em Programm gesell schaftliche n Umbaus : Gesell sch aft und Staat zu modernisieren, zu erneuern und zu restrukturiere n und dabei
di e bestehende Hierarchie von Macht und Au torität beizubehalten und d ie sem nationalen Programm die massenhafte Zustimmung zu sichern :
kurz , kein Probl em der »Demokratie«, sondern der Hegemonie! Die
und Führung durchsetzen konnte, war ein neuer Staatstyp: der allgemeine , neutrale Staat , der alle Klassen repräsentiert; de r »Repräsentativstaat« , der Staa t einzig e Kraft, d ie unter diesen Umständen Autorität
»des Volkes« , des Gemeinwohls, des *Allgemeininteresses«.; der Staat der die G esellschaft auf bestimmten Wegen steuern , antreiben und er�
ziehen kann und zugl ei ch den Anschein von Universalität und U nabhän_
gigkeit von den Klassen aufrechterhält - ein Staat, der »über den Kämpfen«, der auf keiner Seite steht. Eine derartige, grundlegende Umbildung des
schah
britischen Staates ge
tatsächlich : in typisch pragmati scher b ritischer Art , nicht alle s
Massenkultur und Staat
1 15
auf einmal; nicht alles in derselben Periode; einige Schritte zurück u nd einige vorgehend, sich selbst vorantreibend, wie Middlemas gesagt hat, du rch das langsame Anwachsen einer »kollektivistischen Nei gung« statt durch das grobe Aufzwängen einer preußisch-staatlichen Lösung (vg l . Middlemas 1980) . Wie die Demokratie erhalten werden könnte, das war auch eine kulturelle Frage: wie konnte oberhalb der widerstreitenden Klassenkulturen und -interessen eine Quelle nationa ler, kultureller Autorität geschaffen werden, wel ch e die Führung d er herrschenden klassen-kultureHen Fo rmationen stützen und sie doch mit dem »Siegel allgemeiner gesell s chaftlicher Anerkenn un g« verse hen konnte, um die Achtung und die Zustimmung anderer Klassen einzusch ließe n . Folglich ist d iese Periode stark von den verschiedensten neuen Leh
ren über Gesellschaft und Staat durchsetzt: ineinander übergreifend, e inan der ausschlachtend und sich voneinander i n lautem Streit unter scheidend. Diese sich ausbreitenden Diskurse und Ideen ware n inso fern negativ vereint, als sie das alte Terrain des liberalen Individualis
mus und des l.J1issez-[aire verließen; positiv durch i h re Zusti mmu ng zu den neuen Modellen des sozialen Kollektivismus, in deren Zentrum
eine neue Auffassung von der »·ethischen« Rolle des Staates stand. Diese neue Auffassung vom Staat wurde durch eine ganze Anzahl von Lehren a rti ku l iert : Soziali mperialismus, nationale Effizienz«, SchutzzollpoHtik, n euer« Liberalismus, Sozialdemokratismus, die Koalitionspolitik von Lloyd Geo rge , Sozialdarwinismus, ethisches Chris tentum und andere philosophische S chul en und politische Strö mungen, die zur Bildung eines neuen Kollektivismus beitrugen , ge gründet auf dem Ideal des universalen, interventioni stischen Staates. »
»
Diese Ideen wuchsen in der kulturellen Sphäre schon seit ei niger
Zeit heran . Schon im Jahre 1867 dachte Matthew Arnold, er höre im Geräusch d er während der Reformagitation ni ederprass el nd en Hyde
Park-Reden die Ankunft der Demokrat ie. Aber wie so v iel e seiner ge bi lde ten ZeitgenossInnen und N achfolge rInn en deutete er sie als Vor botin der »Anarchie«. Arnolds Hauptthema in Culture and Anarchy war die F rage, wie ein anderes Machtzentrum alternativ zur Demokra tie gebi ld et werden könnte und welchen Preis die Nation würde zahlen müssen , wenn sie die Lösung des Problem s einem direkten Kampf zw ischen Aristokratie, Mittel- und Arbeiterklassen überlassen w ürd e. Diese bräuchten in s chwie rigen Zeiten etwas, d a s über das Sclliachtge tümmel hi nauswei s e , Maßstäbe für h eraus ragen de Lei stungen und In telligenz - ein Reich des Idealen , von »Süße und Li cht«, jenseits, über und im Gegen satz zu den unmittelbaren klas sen -kulturell en Intere ssen .
AusgewtJ.hlte Schriften
1 16
Dieses Idea1 , das er »Kultur« nannte, konnte nur geschaffen werden • wenn es direkt auf eine Autorität gegründet würde, die sich von j eder Klasse abheben kon nte und nur für das »be ste Selbst« der Gesell schaft
stehen bzw. es reprä s entieren würde. Die Quelle dieser Autorität mußte der Staat sejn (vgl . A rnold 1963, 204) .
Die
rohe Gewalt des Monopols
Dieses Ideal wurde verwirk1 icht: eine Staatsaufsicht über die sich ent
wickelnden . neuen Kommunikationsmittel wu rde institution alisiert ,
durch die Meinung u nd Zustimmung reguliert wurde. In der Zeit zwischen den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts und den 20er Jahren
des
20. la h rhu ndert s wurden in rascher Folge die stehende, die beweg te
Fotografie und das Kino g ebo ren , die Kabeltelegrafie, drahtlose Tele grafie, der Phonograph , das Telefon , das Radio und schließlich das Fernsehen .
Der technische und kommerzielle Pionier von Funk und
Radio war die 1897 gegründete große internationale Marconi C o mpa ny. Sprache und Musik w u rden erstmalig im lahre 1906 ge sendet . Die s erschien zun äc h st u nbedeutend gegenüber dem kommerziellen Pote n
tial der »drahtlosen Tel egraf e« > die rasch von Marconi dominien i
wurde - ei n Ol igo pol ganz neuer Art.
Die strategische Bedeutung de s
Funks wurde erst während des Ersten Weltkr i egs offensichtlich . D amit
tauchte e i n neuer Faktor auf: die Frage der Kontrolle. Seine strategi_
sche Bedeutung machte den Funk für das militärische u nd Verteid i
gungs-Establi shment sehr interessant. Nach dem Wireless Telegraphy Act von 1904 mußten »alle Sender ode r Empfanger von Funksign al en eine Lizenz haben, deren Bestimmungen und Bedingungen von de r Post festge1egt werden« . Amateursender wurden zwischen 1914 und
1919 verboten . Das Imperial Communications Committee beschwene
sich im Jahr 1920, daß die S ender von Marconi »wichtige Send ung n
e
stören« (Briggs 1961, 48f. ) . Wenngleich die allgemeine Struktur de s Run dfunks noch c haotisch und sein ganzes Potential noch nicht er
kannt war, hatte der Staat bereits » ein Interesse« begründet .
Dann w irkten mehrere Faktoren zusammen, dieses Chaos i n eine sehr besti mmte und neue Fo rmati on umzuwandel n . Zue,rst wollte n d i e
Produzenten ihre kommerzi elle Vorherrschaft gegen die Konkurrenz
von Amateuren und kleineren Rivalen konsolidieren : dazu mußten
sie
abe r zunächst die Konkurrenz u ntereinand er der Konsolidieru ng ih re s Monopols unterordnen . Das wurde durch eine Vers chmel zung der »großen Sechs(( (Marconi , Metropolitan Vickers, General Electric
Radio Communications, Hotpoint und Western Electric) mit den »b i� e den kl ei ne n « Gesellschaften {Burndept und Siemens) e rl edi gt . Die s e
r
I
Massenkultur und Staat
1 17
Entwicklung wurde von der Regierung ausdrücklich ermutigt. So b il dete sich die kommerzielle und industrielle Basis de r British Broadca sting Company. Das war ein m achtvoller und restriktiver Zusammen schluß; ein w en i ge r höflicher Name dafür wäre Kartell . Ein zweites Element kam hinzu . Die Bed ingungen des »booms« , unter denen sich das Rad io in den Vere in igten Staaten in der ersten Zeit (1914-1929) au sbreite te sollten als furchtb are Warnun g dienen. Das am erikani sche Radio existierte in einer u ngerege lten und zügel lo sen Konkurrenz, was zu Wellensalat und Stö ru n gen« führte . Das Senden wurde zu ein em offenen Rennen , einem Kampf um das »Geschäft mit dem Radio«, ein Feld 1ukrativer Investitionen und ein Kanal für ko n ,
»
der ei nen Seite beschleunigte diese kom merzielle Ko nkurrenz »Störung und Überlagerung, ein Knäuel vo n S ign alen und die gegenseitige S törung u nd Unte rdrückun g ri vali s ie ren der Prog ramme « (ebd . , 64) . Andererseits fOrderte die ungeregelte Art des Funkmaterials einen »sorglosen« Umgang mit dem Medium es war eher ein ), Spielzeug zu r Un terhal tung von Ki ndern als ein Dien st an der Menschheit« (ebd. , 48) . kurrierende Werbung . Auf
die Regierung wandten sich i n Großbritannien ent schieden gegen das »Chaos im Äther « , das sie auf die unl izenzierte und unregulierte Art der kommerziellen Konkurrenz zu rü ckfüh rte n (also auf eben jenen Markt, der angeblich die Freiheit der Presse so gut be wahrt h atte) der kein öffentliches Interesse oder ernsthaftes gesell schaftliches Anliegen aufgezw ungen werden könnte. Da sich die kom merziell en Interessen nun ei nm al durch eine Verschmelzung heraus ge bildet hatten und der Staat mit diesem Monopol verhandel n konnte, trat er in ei ne Art kulturelle Partnerschaft m it diesem ein Im Januar 1923 ertei lte die Post der vereinigten British Broadcasting Company im Januar 1923 eine exklusive Lizenz, »Nachrichten, Information Kon zerte, Vorträge, Bildungsprogramme, Reden, Wetternachrichten, Theater-Unterhaltung und j egli che andere Sendungen ( . . . ) im Rahmen und im U m fang der besagte n Lizenz zu s en den ( . . . )« (ebd. , 127) . Dieses kü n stli che U ngeheuer wu rd e zur Basis de s öffentlichen Run dfunks in Großbritann ien : eine »Sendeautorität, ei n nur notdürftig verkleidetes In strument des privaten U ntern ehmertum s , das doch merkwürdige Ähnlichkeit mit einem offiziell abge segn eten Monopol hatte« (Boy le 1972, 128) . Al s erster Spitzenmanager der C ompany wurde lW.C. Reith ernan n t , der ihr kulturell es Geschick leiten sollte. Die
Post und
,
,
.
,
.
war eine Kulturinstitution ganz neuen Typs. Die Regelung durch »reine Marktkräfte«, durch offene und ungehi nderte Konk.ur� renz, die zu r »Befreiu ng « der Presse g edient hatte, war nicht m eh r Die BBC
' I
!
118
Ausgewählte
Sch riften
geeignet, um i n einer auf e in technisches Medium von so enormer ge sellschaftlicher und politis cher Macht gestützten Massendemokratie einen n eue n Ort kultu relle r Autorität zu erhalten. Da b rauchte ma..ll eben eine neue Art von Partnerschaft zwischen Monopolkapital,
Volk
und Staat . Eine dera rtige Institution brauchte auch eine neue »Philoso
phie« . Die lieferte in e rste r Linie Reith . Hochherzig und geme i ns innig
wie Amold, wenn auch mora li sc h str eng er u nd se lb stgerechter , war Re ith davon überzeugt, daß - angesichts des »Chaos« rivalisie render Parteien, Krä fte und Doktrinen in ei ner Demokratie - die Gesell schaft eine feste morali sc he Führung , Achtung vor den traditionellen Werten und vor ei nem »bes se re n Selbst« brauche. Die Zustimmung u nd das Vertrauen der Leute müssen für ein e Autorität gewonnen wer den , die öffentli chen Geschmack und Werte nicht nur über das Medi um des freien Marktes widerspiegelt, sondern die den öffentl ich e n Ge
schmack erzieht, führt, formt und auf »höh ere Werte« l enkt . Rei th er l egte dem Rundfunk ein hohes, strenges, idealistisches und traditiona_ listisches ethisches Regi me auf. So eine Aufgabe, eine Berufung�
konnte aber seiner Mei nung nach n icht ohne die volle Autorität des Staates erfüllt werden . Nu r der Staat konnte den Rundfunk mi t der Le g itimität kultureller Führung ausstatten . Reith war, in di esem Si nn e"
wenn auch keineswegs ein »Kollektivist« , so doch eine neue Art von i n
tellektuellem Wächter
ein organischer Intellektueller des Staates .
Das neue Instrument kultureller Erziehung brauchte, seiner Auffas_ sung nach , ein Ideal vom Dienst an der Öffentli ch ke it , einen Geist mo
ralischer Ve rpfl ic htu ng und ges ic herte Finanzen . All d ies war unmög_ l i ch ohne das, was er die »rohe Gewalt des Monopols« nannte (B r iggs 1961 , 238). Und so führte der Mann , d er zum C h efma nager eines li
zenz i erten Monopols ernannt worden war, vor dem Crawford COITUnit_ tee Argu mente an, die dieses von der No twe ndi gkei t überzeugte, die )}Company« in eine »Corporation� zu verwandeln: eine öffentliche Be
hörde mit Reith al s ihrem ersten Generaldirektor! Die Formel für d ie se neue Art kultureller In stituti o n wurde von Reith fein füh lig wie gewöhn_ lich, aber präzise fo rmu liert : »eine öffentliche D iens tlei stung , nicht nUr ihrer Ausführung, so ndern auch ihrer Verfassung nach - aber geWiß
kein Staatsministerium« (Reith 1949, 102). Diese fei nsinnige Ve ro rtun g - im Staat, vom Staat Autorität beziehend, aber nicht staatlich - ist Sei t jeher die Gr und lage der kulturellen Arb eit der BBC, die Begründun ihrer »Abhängigkeit« wie ihrer »Unabhängigkeit« .
g
Das gesamte Schwe rgewich t der BBC lag, wie b eim Staat, deSsen Entwicklu ng sie gewissermaßen spiegelte, auf »Zentralisiemng « .
B r ei te und Vielfalt, die i n der Presse durch freie und u ngeregelte
Massenkultur und Staat
1 19
Konkurrenz erreich t w u rd en , mu ß ten irge ndw ie al s Strategie in der vermi sc hten Programmpolitik ein er korporativen Institution angelegt werden. Die Rundfunldeu te , ihre kulturellen Hüter, sollten die öffent licbe Verantwortung übernehmen, die Kultur des gesamten Volkes als eine organische nationale Ku ltu r darstellen und zug leich traditionelle Werte und Maßstäbe verteidigen und den Massengeschmack zu seinem »besseren Selbst« erziehen . Für diese Kon zep tion nationaler Kultur petitk stand eher der S taat selbst Modell (der alle Interessen in s ich
ausbalancieren und interessenunabhängig handeln soll)
als der Markt.
Ein Instrument der Natiortalkultur In der Zeit zwischen ihrem Ausbau als »öffentli ches Dienstleistungs sy stern« und dem Zweiten Weltkrieg wurde die BBC zu einer nationalen, kulturellen I nstitution. Zwei Wörter, die sich in dieser Periode mit der BBC verban den , liefern einen Schlüssel zum Vers tändni s dieser kultu relle n Vormachtstellung. Die BBC wurde als »Autorität« betrachtet.
Und sie war ei ne »)Körperschaft« . Beide Wörter müssen buchstäbl i ch und in ihrem metaphorischen Sinn verstanden werden . Die BBC war bu chstäblich autorisiert worden, das heißt, sie haUe die Lizenz, sich über d en Rundfunk an die Nation zu wenden. Bildlich gesprochen jedoch baute sie eine M ach tstellu n g (d.h. Autorität) gegen
über ihrem Publikum auf. Ihre Maßstäbe, die sp ez ifische Zusammen stellung von Programmen , die gültigen Sprechweis en , der musikali sche Gesch mac k, Bildung und die Auswahl von Un terhaltu ng , ihr »Rundfunkverhalten« (eine Zeitla ng trugen alle Nachrichtensprec h er von Re ith Abendanzug und schwarzen Schlips, obwohl s i e ja nicht ge
sehen wurden) setzten die autoritativen Maßstäbe, nach denen der öf
fentliche Rundfunk selb st beurteil t wurde.. Und die BBC war b uchstäblich eine »Körperschaft« : s ie ve rein igte in einer Institution alle Elemente, die für Aufbau und Erhaltung eines na
tionalen Rundfunkmediums als n otwe nd ig erachtet wurden . Bildlich gesprochen aber inkorporierte sie alle Publikumsgruppen der Nation, das h eißt , sie faßte sie zu einer organischen , we nn auch in sich viel schich tigen Einhe it zusammen : regionale., lokale, metropol itane Grup pen; sie vereinigte auch alle Geschmacksrichtungen und Interessen in
der Nation. Die BBC war integrativ in dem Sinn , daß s ie für an diese Klassen un d Arten von Publikum einen Platz schuf. Sie a rrangi erte und organisierte sie jedoch in einer bestimmten Hie rarchie. Der
Schwerpunkt lag auf den gebi lde ten , toleranten , ernsten, kultivierten, gemeinsinnigen , s elbstlo se n Mittelklassen - Arnolds Tugendwächter. Sie entwarf aber auch einen annehmbaren, wenngleich untergeordneten
Ausgewählte Sch riften
1 20
Platz für die vielen regionalen und der Arbeiterklasse angehörenden
Hörerschaften und fügte sie dadurch in die nationale Hörerschaft ein (vg l . dazu Cardiff/ Scannell 1982, 44) . Auf dies e Wei se identifizierte sich die BBC m it einer bestimmten D arstellu ng der Na tion , sie war ein nationales (kein regionales) Medium für eine nationale Hörerschaft.
In ihren Programmen und Politiken richtet sich di e BBC an die von ihr
konstruierte N ati o n , indem sie die viel en e ngl i sc he n Stimmen in ihrer
»Stimme« ve rsöh n te. Die gan ze Skala von
»
natio n ale n Stimmen«
wurde der Nation durch das Medium der Schallwellen zUfÜckgespi e
gelt. Und doch - die Standardstimme, der akzeptierte Akzent , die üb
liche Aussprach e und der To n fal l der ) BBC-Stimme« , setzte i hne n i hre
Schranken und wies ihnen ihren Ort zu . Das war natürlich weder » Cockney« noch ) Scouse« , nicht einmal das echte »Oxbridge« . E s war
eine sy n theti sche Spi elart der gebildeten Mittelklassensprache aus d en
an London g renzenden Grafschaften. Eben diese Stimme las die Nach richten , leitete die Programme ein, beschrieb die Symph o n i en , inter viewte offizielle Sprech erI nnen , machte die Ansagen , fü l lte die LÜk.
ken zwis chen den Programmen : Sie war der Zement , der den Rund
funk zusammenhielt . In den anderen Programmbereichen der BBC, i n ihrer mehr pol itischen , weniger kulturel1en Rolle, s p i elte sich in vi el er
Hinsicht derselbe Prozeß ab. Auch hier stellte sich die BBC al s di e Stimm e der Nation dar, nicht als die des Staates, der Regierung ode r
gar » des Volkes « . Eine Schlüsselepisode bei dies er Verwa n dlung in eine nati onale Institution war der Generals trei k . Während des Gen e ralstreiIcs
1926 war das Land e ntlang der Klassenl in ie n und politiSch en
Gräben tief gespalten . Das Kabinett Baldwln dachte, von Chu rch i U an getri eb en , erns thaft daran , die BBC unter sein Kommando zu stelle n :J
wie es das mit der Presse getan hatte. Reith focht hart darum, die »U n-
abhängigkeit« der BBC zu erhalten , wenngleich er mit der Reg i erungs_
seite sympathisierte. Zum er sten Mal w u rde in diesem Moment die vOn
den Prinzipien und Praktiken der » Unparteilichkeit und Ausgeglichen _ heit« gesc hü tzte Autonomie der EBe geg enüber dem Staat mit NaCh_
druck verkündet und verteidigt. In ei n em vertraulichen Schreiben an das l eitende Personal faßte Reith , als der Streik beendet war, das emp_
findl iche Gl eich gewicht , auf dem diese Autonomie beruht, in Merk_ sätze. Indem »wir« unabhängig blieben , argum entierte Reith, »bewahr_
ten u nd erhi el ten w i r das Wohlwollen und sogar die Zuneigu ng der Leute ; ( . . . ) vertraute man uns, daß w i r j ederzeit das Rechte tun; ( . . . )
wir waren eine nationale Institution und sogar ein nationale r Wen . «
» Auf der a nderen Seite« , fuhr Reith fort, >:.da die BBC eine national e Einrichtung war und da die Regi e rung i n dieser Krise für das Vo lk han_ delte ( . . . ) war die BBC in dieser Krise auch für die Regierung«.
Briggs
12 1
Massenkultur und Staat
bemerkt, diese vers c hlungene Grundsatzaussage »macht den Wunsch der BBC deutlich , 'authenti sch e, u npartei liche Nachrichten' zu über mitteln und zugl eich in jeder Bedeutung des Wortes 'eine Organ i s.ation
im Rahmen der Verfassun g' zu bleiben« (Briggs 1961, 365f.). Der komplizierte Balanceakt, durch den die BBC zu gle ich im Staat blei bt und doch von ihm - von der Regi erung wie vorn Volke - unabhängig bleibt, ist in diesen doppeldeutigen Formulierungen gut bezeugt . Das i st , sehr knapp skizziert, die Geschichte, wie sich die BB C eine Identität al s nationale, kulturelle Institution schu f, wie sie zur selben Zeit dazu d iente, die klturellen Maßstäbe u nd Werte oder he rrschen u
den Klas senkul turen aufrechtzuerhalten , i ndem sie diese in einer e in zigen »Stimme« o rgani s i erte und di e anderen Klassen- und reg ional e n », Stimmen« i n ihren o rga ni sc he n , korporativen Rahmen integrierte. Wie die BBC dann nicht nu r einfach eine >�nationale« , son dern eine
Volksinstitution wurde und zeitweise mi t dem Schicksal und Glück des ganzen britischen Volkes i denti fiziert wurde, das ist die Ge schichte des großen Aufschwungs, den die BBC in den Jahren des Zweiten Welt krieg s nahm , a ls sie viele der Dinge symbolisieren sollte, für die Eng- .
länder zu kämpfen glaubten .
Rundfunk - der »Schattenstaat« Sobald alle rdings der Geist »nationaler Ei nheit« ange sichts des Feindes abebbte, wurde das Modell, nach dem die BBC gegründet worden war
und das sie über drei Jahrzehn te ausgebil det hatte, auf die Probe ge
stellt . Mit den neuen Experimenten im Fernsehen tauchte der Reiz
eines neuen und höchst lukrativen, zu m Radio altern ativen Mediums
erstmalig i n den friihen SOer Jahren auf. Die Fragen nach dem am be
sten geeigneten Moden kultureller Füh rung kamen wieder auf. Die
Thtsache, daß man sich 1954 für einen ITV Kanal (d . h . einen kommer
nicht für eine zweite BBC (d. h . eine öffentliche entsc h ied , zeigt, daß die &egulierung und Ordnung der Kul
zieHen Se nder) und
Behörde) tur du rch den freien Markt in Ges e ll sch a ften wie G roß.britannien auch
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine lebendige Alternative zur staatlichen »Inkorporierung« bleibt Die Bevorzugung des Marktes gegenüber der staatlichen Reg uli e rung hat sich ja seit den 50er Jahren eher noch verstärkt. Das zei gt wiederum, daß die führenden Gesell schaftsldassen
z w isch e n
mindestens zwei verschiedenen und konkur
rierenden, kulturellen und ökon omi schen }>Modellen« gespalten bl ei
ben; freier Markt oder Staalsunterstützung . Das erinnert un s auch
daran, daß
der Staat zwar das notwend ige Zentrum ist t durch den
. die vielen Konfliktlinien der
Politik
zusammengezogen und zu einem
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1 22
Ausgewählte Schriften .
kohärenteren H and l u ngsimpul s der Regierung verknüpft werden , daß
ab er die »Einheit« des Staates ni emal s voll s tänd ig ist. Der Staat bleibt w ide rsprüchl i c h , angetri eb e n du rch konfl i g i erende Pers pektiven und
poli ti sche Interessen ; diese reflektieren häufig die wi rklichen Uneinig kei ten zwischen und in den vers ch i edenen Teil en der h er r sch enden Kl as s e .
Die konservative Partei war zum B eis pi el über die Frage tief gespal ten, ob der zwei te Kanal als eine »öffentliche Dien stleistu ng oder als »marktorientierter kommerzieller« Sender aufgebau t werden sollte. Selwy n Lloyd u nter s ch rieb in Opp ositi o n zu den eher »paternali sti_ seh en M itgliedern s e i n er Partei (z . B . Lord Hail s h am) ei n M i nd erhe i tengutachten an das Beveridge Committee, von dem das Marktpri nzip bevorzugt wurde. A l s der Television Act von 1953, der zur Ei nrich tu ng «
«
_
des ITV Senders führte, s chli eßlich verabschiedet wurde, trug eine pressure group von konservativen Hinterbänklern im Bündnis mit den-
, selben kommerziellen Interessen, die in den ersten Tagen der BBC darum gekämpft hatten, diese zu kol o ni si ere n , den Sieg davon (Her stelle r von Ausrü s tungen , Werbeagenturen,. große Investoren U8W�).
D er zweite Kan al wurde nicht durch eine staatliche Lizenz, sondern
durch Verkauf von Werbezeiten solide finanziert . Er muß te sich daher d er Logik de s Marktes u nterwerfen . Das bedeutete eine exp li z i te Au s ri chtung auf ein M ass en pubHku m und sei ne Konsumtionsform du rch Progranune, die den herrschenden Publikumsgeschmack unmi ttelbar ansprechen . So wettei fer ten in Großbritannien in der
ersten Zeit nach
dem Beginn der Radio- und Fernsehära zwei Arten von kulturel l en Einr i c htu ngen miteinander um die kul turelle Führung, d ie
auf zWei
konk u rrierenden kulturellen Modellen gründeten und die Ver hältni sse
zwischen den Klassen und Kulturen auf zwei kontrasti erende Wei s en orchestrierten - die »patemali stische« BBC und der »populisti sche « ITV.
Di e Wi r ku n ge n des W ettbewerb s waren jedoch komplex. Di e BBC
mußte in ihrem Kampf um die M ehrh eit des Publikums populisti scher
werden , be s ch ei dene r, mehr auf Konkurrenz bedacht sein. Aber der ITV verbrei t erte und variierte auch mit der Zeit seine Produkti o n , pro duzierte auf öffentliche Kr iti k hin einen größe ren Anteil von »wertVOl_ lem« MateriaL So kam es, daß die b eiden Kanäle mehr Gemeins amkei _ ten als Unterschiede haben .
Andererseits kann diese »friedliche Koexistenz« Cd . h . sc harfe
Kon-.
kurrenz) zwischen diesen beiden Elementen des Duopol s , das seith er das Fernsehe n im Lande beherrscht hat, lei cht mi ßverstanden werde n wa s die Ei nm i schung des Staates in die Kultur angeht . Denn das
ITV
Massenkultur und
1 23
Staat
(wie der neue vierte Kanal) ist nicht und war niemals eine reine Instanz des kommerziellen Modells, wie es die Presse des 19. Jahrhunderts
war. Wenngleich ITV unabhängig organisiert und finanziert war, hatte
ihm der Staat durch die Bestimmungen der Gründungsakte ( i m Prin zip) und durch die ihm vorgesetzte Aufsichts»behörde« , der Indepen den t Broadcasting Authority (IBA) , viele Maßstäbe, Kri terien und An forderungen des öffentlichen Sektors aufgezwungen . Vom ITV wird erwartet, daß es auf seine Weise »der Nation dient« und einem Ideal öf fentlicher Dienstleistung genügt. Es muß auch bestimmte festgelegte Programmkriterien und -maßstäbe erfüllen; einer breiten Skala von
Publikumsinteressen und -ges chmack dienen ; es muß sich also an die Nation wenden . Seine Arbeit wird durch die mA koordiniert . Seine Anträge auf Sendcrechte müssen (auch wenn die Einzelheiten privat
b leiben) bestimmten Anforderungen genügen , und im Bereich von Nachrichten und politi schen Sendungen sind die Anforderungen an »Ausgewogenheit, Neutralität, Unparteilichkeit« - die Bedingungen, nach denen das Fernsehen zugleich »unabhängig{( und doch ))im Rah
men der Verfassung{( bleiben darf - weitgehend dieselben wie die in
der Praxis der BBC herrschenden. Sie sind sogar in dem [1V Act klarer und formaler gefaßt als in der Charter der BBC (vgl. Kumar 1977) . Das Fernsehen ist also mit vielen sichtbaren und unsichtbaren Fäden, direkt und indirekt , mit dem Staat verbunden . Die Rundfunk leute und die allgemeinen Strateg ien der Sender bleiben zwar in ihrer täglich en Arbeit ziemlich unabhängig , sind aber innerhalb des staatli chen Bereichs und der Staatsgewalt organisiert. Die Definitionen poli tischer Wirklichkeit, die innerhalb des Staates als »legitim« angesehen werden , bilden zugleich die Grenzen , in denen sich die Medienversion der Wirklichkeit bewegt. Die Sendeanstalten werden nicht direkt eine
Regierungsmeinung reproduzieren ; sie sind nicht in diesem Sinne das
bloße Sprachrohr der regierenden Partei . Aber w ie der Staat nicht den
einen U nternehmer gegenüber dem anderen bevorzugt , sondern das System� des privaten Unternehmertums
als
ganzes
aufrechterhält,
so
wirft kein Sender illegal sein Gewicht in die Waagschale der einen
oder anderen politischen Partei ; er achtet und pflegt aber den ganzen ideologischen Rah men , die Grundstruktur gesellschaftlicher Verhält
nisse, die bestehende Verfügung über Reichtum� Macht, Einfluß, Pre stige - auf deren Fundamenten er sch1ießHch selbst ruht. Wenn Rund
funk und Fernsehen irgendeine dieser Fragen behandeln, si nd ihre
Ausgangspunkte, ihre Parameter und Bezugsrahmen dieselben wie
diej enigen , die der Staat für die Gesellschaft gesetzt hat. Die für den Staat neuralgisch en Punkte (Nordirland , Streiks, Gewerkschaftsmachl,
Ausgewählte Sch riften
1 24
atomare Strategie, Inflation, linke Vorstöße in den politischen Partei en) werden früher oder später auch zu neuralgischen Punkten vo n
Rundfunk und Fernsehen . Die Anstalten orientieren sich ständig an
den Verschiebungen und Trends in der etablierten po1itische n Kul tur und passen sich ihnen an . Wenn ein kontroverses Problem erörtert werden soll, wird jeder Mensch vom Rundfunk oder vom Fernsehen
mit einem gewissen Instinkt fürs Überleben die herrschende Defini tion des Problems als Ausgangspunkt nehmen . Wenn die
Nation
ge
spalten i st, wenn bestimmte Probleme die Parteien und Klassen zer reißen , dann bildet der vom Staat repräsentierte letzte Rest von Ko n
sens den ei nzige n Ruhepunkt oder die letzte Autorität, die für Rund funk und Fernsehen ein gewisses Element von Legitimität bewa hrt .
Allgemein scheint es so, daß sich BBC und ITV in diesem neue n Modell - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - bewegen , sich nach dem Vorbild des Staates modellieren und dessen Praxen zu repro
duzieren suchen . In Zeiten relativer Ruhe oder nationaler Einheit Ver sorgt der allgemeine Konsens (der nach der liberal-demokratischen
Theorie vom Staat repräsentiert werden soll) Rundfunk und Fernsehen mit seiner Autorität , Legitimität und mit praktischer Orientierung . In
Zeiten des Streits und sozialer oder politischer Spaltungen umschi ffen wie die Beatn_ die Rundfunkleute d i e Gräben im Konsens, indem sie -
ten - eine »über den Kämpfen schwebende« Position der Unparteilic h_ keit und Neutralität einnehmen . Dieses Bündel von grundlegenden Parallelen zwischen den Sende_ ansta1ten und dem Staat (besonders stark in den Bereichen NaChrich_
ten , aktuelle Ereigni sse und politischer Kommentar) kann man in der aktuellen Praxis einzelner Programme verfolgen . Aktuelle (poli ti sChe) Fernsehprogramme weisen der Form nach auf nichts so deutli ch hin
wie gerade auf die Quelle ihres Zusammenhalts : den Staat. Sie sin d S o organisiert, als sei die BBC wirklich eine Art von »Schattenstaat« : d as Studio - ein M ikrokosmos des Parlaments; die FernsehmitarbeiterIn _ nen - niemand anders als die »Sprecherinnen des hohen Hauses« selbst; und die »FachkommentatorInnen« - die Entsprechungen Z u den höheren Beamten und Staatssekretären mit ihren neutralen Schri ft_ sätzen
-
selbstlose Wächter des »öffentli chen Interesses« (vgJ .
auch S. 126ff. in diesem Band) .
dazu
Massenkultur und Staat
1 25
4. Schlußfolgerungen Ich habe zu zeigen versucht, wie kulturelle Institutionen und Praxen ein bestimmtes Muster von Verhältnissen zwischen den Kulturen und Klassen in der Gesellschaft institutionalisieren (einrichten , fixieren ,
bewahren , stabilisieren). Diese Konfigurationen versch ieben sich par
i Ci
allel zu viel weitreichenderen »epochalen« Verschiebungen und histo rischen Übergängen. Sie sind aber nicht einfach Neuanordnungen eines bestehenden Musters . Sie führen zur Errichtung neuer »Kräfte verhältnisse« zwischen den Klassen und den Kulturen. Sie modellieren den Charakter kultureller Führung in der Gesellschaft neu und geben ihr eine neue Gestalt . Sie mobilisieren Zustimmung und tragen dazu bei, die Unterstützung der Massen für verschiedene Typen von klas sen-kultureller Macht zu gewinnen und zu bewahren. Der Umbau die ser Verhältnisse spielt in d en Prozessen eine zentrale Rolle, durch die Hegemonie in bestimmten , h istorischen Perioden gewonnen oder nicht
"
gewonnen wird . Ich habe g ezeigt , wie in jedem der drei betrachteten Fälle ein anderes Modell kulture l 1 er Autorität ausgeformt worden i st; wie dies Modell für eine gewisse Zeit eine Art von Vorherrschaft er l angt hat und dadurch (wiederum für eine gewisse Zeit) die kul turel le
Führung einer bestimmten sozialen Kraft oder eines Bündnisses sozia ler Kräfte absicherte , indem sie die beherrschten Klassen in der U nter ordnung po sitionierte und festhielt . Ich habe auch den Druck skizziert, der zur Auflösung eines jeden dieser Modelle und zu seiner Ablösung durch ein anderes Moden führte.
Es g ibt offensichtlich keinen linearen Fortschritt beim Übergang von
einem Modell zum anderen in bezug auf die Rolle des Staates. Selbst im Rundfunk- und Fernsehmodell des 20. Jahrhunderts wurden die Be ziehungen zwischen Staat und Kultur unterschiedlich organisiert, und
e s gibt sogar d eutliche Belege dafür - stärker zunehmend unter dem Thatcherismus -, daß sich die herrschenden Klassen darüber uneinig sind, wie diese Beziehungen organisiert werden sollten . Gleichwohl ist
die allgemein e Tendenz (der wichtigste Punkt in Gramsc i s erweitertem
'
Staatsbegriff) nicht zu leugnen : die Hegemonie in Massendemokratien m uß sich zunehmend auf di e erweiterte kulturelle Rolle des Staates stützen .
Übersetzung: Wie land Elfferding
'· ,1
die Radio- und Fernsehgesellschaften zusammen) sehr dicht
konzen_
triert . Nicht nur »Nachrichten« und »Information« , sondern auch Bi l der und ein Gefühl für das, was w i chti g u nd » bedeutend« i st was die Nation heute beschäftigt -, bindet die britische Gesellscha ft
Süd e n bis Norden täglich zusammen . Durch die Auswahl
ber ichtet u nd was gezeigt
dessen,
wird , bestimmen die Med ien mit ,
Von
Was;
welche
und im nationalen Maßstab. Wenn w i r
Themen täglich auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt werd en ,
sie tun dies im großen und ganzen
daß di e Medien dazu beitragen, die Gesellschaft zu » i ntegrie ren« , meinen wir d a m i t nur, daß sie das Wissen von und den Kontakt zwischen verschiedenen wechselnden Gruppen i n der Gesellsc h aft er höhen . Früher brauchte es Wochen , bis »Nachri chten« aus London ab seits l iegende Regi onen erreichten , und vieHeicht Monate, bis ein e päpstliche Bulle der Katho1 ischen Kirche in Rom die engli sehe Provinz erreichte. Aus der Tat sache daß· die Leute heutzutage miteinander und mit dem Landeszentru m »in Kontakt« stehen , folgt nicht not wendigerweise, daß sie au ch stärker miteinander » üb ereinstimm en« sagen ,
_
,
_
-
...
besser zu sagen , Sle erwen:em uno Iormen unser generelles. soziales Wissen - unsere B i lder von der Welt« über Ereignis se in un se re r »
-
Ge sellschaft und an a nde ren Orten . Noch einmal , »soziologisch« betrachtet , überbrücken die Massen medien eine Reihe von entscheidenden Rissen in unserer Gesellschaft.
Die Art »sozialen Wis sens« , das die Medien vermitteln, verbindet,
rob gefaßt , zwei getrennte Gruppen in der Gesellschaft. Erstens über g brückt es die Distanz zwischen den »Mächtigen« und den »Machtlo sen«. Die Masse des Medienpublikums setzt sich aus ein fachen Bür
gern zu sammen, die in ihrem Alltag kaum Zugang zur oder Informa
tionen über die große Politik
und Strategie oder über Entscheidungen
und Ereignisse haben , die wahrscheinlich früher oder später ihr Leben unmittelb ar betreffen werden. Zweitens überbrückt es die Distanz zwi
schen denjenigen , die »wissend« sind - den »Informierten« - , und denen, die hinsichtlich der Funktionsweise von Mach t »unwissend«
haben von diesen als zwei offensichtlich verschiedenen Gruppen gesprochen . Doch man wi rd sehen , daß sie sich oftmals sind. Wir
128
Ausgewählte Schriften
überschneiden . Diej enigen , die jeden Tag nationale Entscheidungen
treffen, wissen tendenziell auch
be sser
Bescheid - aus viel fält ige n
Gründen. Diejenigen , die dies nicht tun , mögen eine hohe Bildung be
sitzen , aber sie haben kaum Zugang zu d er Art von privilegiertem Wis
sen , das wir hier meinen . Anders au sgedrückt : Die M assenmedien funktionieren und werden geformt durch
die Art und Wei se,
und Wissen i n der Gesel lschaft (ungleich) verteilt s i nd .
wie Macht
In diesem Artikel b esch ä ftigen wir u n s besonders m i t » Nachrichten «
(im weiten Sinne) über bedeutende n ationale und internationale Ereig
nis s e �
Erei gn i s s e
von pol itischer, ökonomischer oder sozialer Be
deutung. Ein we se ntliche r Teil der M edi en zeit und der beträchtl ichen
technischen , sozialen und fi nanziellen Mittel werd en in unseren Me diensystemen in diesen Berei ch des »pr aktischen sozialen Wissens« in vestiert. Aber was sind » Nachr ichten« - wer sagt, daß das , was
wir
bekommen, »die Nachrich ten « sind? Wir können diese Frage auf zwei
e rl ei Weise angehen : Erstens durch eine allgemeine Definition ; Z Wei tens im Hinblick auf die Praxis derj enigen , die Informatio nen und
Wissen zu Nac h r ichten verarbeiten . Zur Verdeutli chu ng können w ir uns einen »stabilen Zustand« der Welt vorstellen, in der sich von einern auf den anderen Tag absolut nichts ände rt . Das Leben geht weite r
wie
zuvor. Im strengen Sinne gäbe es nichts »Neues�� zu berichten . Man er zählt si ch , daß zu r Zeit von Lord Reith , al s BBC-Nachrichtensprech er
S chli ps erschienen � ein An sager tatsächlich eines Ab ends a uftrat und sagte: »Es g ibt heute keine NaCh_ noch im Smoking und mit schwarzem
ri chten . « Der Punkt ist, daß »Nachrichten«, wörtlich genommen , In forma tion darüber sind , wie sich die Dinge geändert haben , seit wir zuletzt eine Bilanz des We1tgeschehens zogen .
Gewöhnl ich , ni Cht
immer, ändern sie si c h zum Schlechteren . De swegen gibt es so wenig »gute Nachrichten« und deswegen sin d �>schlechte Nachrichten «
fast
immer »Nachrichten« , Diese Nachrichten üb er Verände run gen und
n eue
Entwicklungen können natürlich
men . Sie
können über etwas
verschied e
ne
Formen a nn eh_
berichten , das wie ein BUtz aus hei terem
Himmel kam - völJig unerwartet : ein Erdbeben i n
Süd italien
Und
seine Folgen . Sie können uns über eine Richtungsänderung in ei nelll
Prozeß be rich ten , den wir schon kennen: die Wiede raufnahme von
Kampfhandl ungen im Nahen Osten oder ein e Wende in der Wi rt
schaftspolitik der Regi e rung. Sie können über etwas berichten ,
das
zwar an anderen Orten alltäglich , für uns aber »Nachricht« ist: WUßten .
Sie,
daß in Kambodscha immer noch M illionen verhunge� �? Wußte n Sie, da ß Tausende von PalästinenserInnen immer noch in Ubergang S�
lagern leben? Was immer es auch ist , die Nachricht kommt zu
un s al s
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
129
etwas U nerwartetes, etwas Ungewöhnliches und Unvorhersehbares.
Sie durchbricht die gewohnte Erwartung, die wir im Hinterkopf haben,
daß »die Dinge einfach weitergehen werden wie bisher« . In diesem S inne können uns die Nachrichten auf Veränderungen i n der Welt vor
bereiten - fast immer jedoch »überraschen« sie uns bis zu einem ge wissen Grad (und beunruhigen uns deswegen vielleicht, weil sich die
Welt entgegen unseren Erwartungen und Hoffnungen als immer weni ger stabil, vorhersagbar und sicher erweist) .
Diese allgemeine Definition hilft, die Praxis der Nachrichtenleute
und Iournalistlnnen und den »Nachrichten-Wert« eines Ereignisses zu
erklären , nach dem sie entscheiden, worüber sie berichten und wor
:j
.. j
, \
, :j
i
über nicht. Wenn Nachrichten an Veränderungen geknüpft sind , dann werden die größten , dramatischsten, unerwartetsten . weitreichendsten
Veränderungen auch die wichtigsten »Nachrichten« sein. Natur- und von Menschen verursachte Katastrophen , Konflikte, die in offene Ge
walt ausbrechen , dramatische .Änderungen i n der Politik und bei den
Machthabern ! der dramatische Auf- und Abstieg bedeutender Persön lichkeiten und Regierungen , entscheidende Durchbrüche, unerwartete
Beschlüsse oder Kompromisse - aU diese Er,eignisse tendieren dazu,
ganz »von selbst« den Weg an die Spitze der Nachrichten-Liste zu fin den . Auf dem festen Hintergrund einer Welt im »stabilen Zustand«
werden Katastrophen, Konflikte, Kontroversen und plötzliche U m
schwünge immer einen hohen »Nachrichten-Wert« haben . Es h at kei
nen Zweck, den NachrichtensprecherInnen die Schuld zu geben, weil
das,. was sie uns berichten , den gleichmäßigen Verlauf unseres Lebens
stört. Dramatische Richtungsumschwünge stellen das Hauptkriterium
für den »Nachrichten-Wert« dar, aber es ist nicht das einzige. Die
Nachrichten
sind auch
ethnozentrisch: Eine Katastrophe in fremden
Ländern, die Großbritannien nicht betrifft, wird niedriger rangieren,
weil sie für uns weniger wichtig ist (j edenfalls den Nachrichtenredak
teurInnen zufolge) als eine kleine Katastrophe, die dieses Land direkt
betrifft. Sie kennen bestimmt den Witz über die Nachrichtenmeldung,
die besagte: »Tausende starben bei Erdbebenkatastrophe. Dre i Englän der verletzt. « Darin liegt mehr als etn Körnchen Wahrheit. Auch sind Nachrichten stark an Macht oder an mächtigen und prominenten Leu ten und Persönlichkeiten orientiert. Auf Macht kommt es natürlich an,
da eine bedeutende Entscheidung, von 20 Leuten im Kabinettsraum ge troffen, Folgen für die gesamte Bevölkerung haben kann. Die Nach richten sind also fasziniert von Macht
-
und von Leuten ,. die Macht
ausüben, einschließlich der Art von Macht, die prominente Persön
lichkeiten wie SportlerInnen und UnterhaltungskünstlerInnen haben .
.!
I
l 30
Ausgewählte Schriften
Ein Teil der Nachrichten haben einen mehr »feierlichen« Charakter _ auch wenn kein dramatischer Umschwung der Ereignisse zu verzeich nen ist. Nationale Ereignisse, wie die Parlamentseröffnung - Rituale, -
die die Offentlichkeit mit dem symbolischen Leben der Mächtigen Und
der Nation verbinden - haben immer einen Anspruch auf einen Pl atz in den Nachrichten , obwohl sie nichts Ungewöhnliches beinhalten
Aber
und regelmäßig jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit stattfinden .
Nachrichtengruppe i st die,
welche Katastrophe n , Kon fl i kte, Kontroversen, Wandel , dramati sche Umschwünge und Gewalt
die wichtigste umfaßt.
Über diesen Prozeß der »Versorgung mit sozialem Wissen« in un se
rer Gesellschaft gibt es eine Reihe von Fiktionen . Zwei davon will
ich
kurz betrachten . Die erste Fiktion ist die, daß die Information ihrem Wesen nach sachlich ist oder weitgehend auf Tatsachen beruht . Da
ganz besonders das Fernsehen nicht nur Informationen über, sondern
tatsächlich »lebende« Bilder von Ereignissen in der Welt übermi tteln
passi ert relativ »reines« , nicht
kann, denkt man im allgemeinen, es zeige, »was tatsächlich es öffne »ein Fenster zur Welt« und bringe uns
«
,
durch Meinung verunreinigtes Wissen . Dies könnten wir als naturali_
meint zur Zirkulation von Information
stische Auffassung von Fernsehinformation bezeichnen . Daher
man, sie trage zum »freien Fluß« bzw.
in unserer Gesellschaft bei . Diese Vorstellung vom »freien Fluß« Wie derum wird untermauert und gestützt durch die wesentlichen Ein
schränkungen, denen Fernseh- und RundfunksprecherInnen in unSe_ rem System unterliegen , damit gesichert ist, daß sie »die Fakten« niCht illegitimerweise durch ihre eigene Meinung verunrei nigen. Diese E in schränkungen sind in den A nforderu ngen enthalten , die Art von
Infor_
mationen im Fernsehen müßte »objektiv«, »ausgewogen« und »unpar_
teiisch« sein.
»Objektivität« heißt,
die FernsehjournalistInnen müs se
n
das berichten , was sie als »Fakten des FaUes« herausgefunden haben bzw. was sie dafür halten , ohne diese mit ihren persönlichen
Ansichten
zu vermischen. »Ausgewogen« bedeutet, daß,. wenn es zwei S ei ten 2':U einer Frage gibt oder zwei wesentliche Meinungen dazu, so muß he i den gleichermaßen Gehör verschafft werden . »Unparteiisch« heißt je
doch : selbst wenn jede Seite in einem Streit eine sehr festgefaßte An sicht vertritt, dürfen die Berichterstatterinnen nicht zwischen heid urteilen oder ihre persönliche Ansicht darüber äußern, welche
en
Seite
recht hat. Diese geltenden Fiktionen und Praxen sollen Rundfunk Und Fernsehen, die mächtige Instrumente sind, daran hindern , illegitilll er_ weise Entscheidungen zu beeinflussen, di e eigent li ch Regierungen
Politikerlnnen oder das Volk entscheiden sollten . Sie zw i ngen
di�
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
131
BerichterstatterInnen, ihr einflußreiches »Recht zu berichten« nicht auszunutzen . Da die tägliche Verantwortung für die Sendungen bei den Angestell ten der Rundfunk- und Femsehgesellschaften und -anstalten liegt, die
i l ,
nicht (außer den jeweiligen Vorstandsmitgliedern) politisch ernannt sind oder im Sold der Regierung stehen , sollen diese Einschränkungen zwei Dinge sicherstellen : erstens, daß Rundfunk und Fernsehen unab
hängig vom politischen System sind; zweitens, daß Rundfunk und
Fernsehen dem Volk al s unabhängige Informationsquelle dienen kön
nen und (wie die Presse) als eine Art »vierter Stand« funktionieren. In der Praxis sind diese Beziehungen natürlich ausgedehnten und kompli zierten Verhandlungen unterworfen . Aber im großen und ganzen nimmt man an , alle diese
Faktoren zusammen würden sicherstellen,
' "
daß Rundfunk und Fernsehen eine » freie, unabhängige und zuverlässi ge«
Quelle praktischen sozialen Wissens sind.
Die Gegner dieser Meinung sind in der Minderheit, aber sie wird in
einigen Bereichen stark vertreten und hat in den letzten jahren an Ge
wicht gewonnen . Sie zeigt die zahlreichen Möglichkeiten auf, die Be richterstatterInnen haben , zu entscheiden, au szu wählen , zu präsentie
fen und zu v e rmittel n Sie verweist auf die häufige Wiederholung herr .
schender Meinungen, die im Fernsehen in einem günstigen Licht prä sentiert werden, wogegen alternative oder Minderheitsansichten selten dargestellt werden. Sie weist auf die finanzielle Abhängigkeit von Rund funk und Fernsehen von der Regierung und auf die engen Bezie hungen zwischen BerichterstatterInnen und ihren mächtigen Informa
tionsquellen hin . Und sie behauptet, Fernsehen und Rundfunk seien alles andere als unabhängig und häufig vielleicht systematisch »vorein genommen« in i hre n Präsentationen . Im fol genden will ich d ie Implikationen dieser beiden Ansichten »frei und unabhängig« kontra )�voreingenommen« - genauer untersu
chen und eine Alternative aufzeigen . Ich möchte den Streitpunkt an
d ieser SteHe kurz zusammenfassen : leh meine, es gibt mehrere über zeugen de Gründe dafür, warum das Bild »frei und unabhängig« in adäquat ist, um die Funktionsweise von Rundfunk und Fernsehen und das, was sie machen , zu verstehen - obwohl es nicht völlig falsch ist.
Ich b ehaupte weiterhin , die einfache Vorstellung von der »Voreinge
nommenheit
«
.. den BerichterstatterInnen die illegitime Äußerung
ihrer eigenen Meinungen oder das »Kippen« der Ausgewogenheit vor� zuwerfen - i st auch inadäquat, obwohl wiederum nicht völlig falsch.
Statt dessen will ich heide Ansichten ersetzen durch eine Sicht de s kommunikativen Prozesses als eines notwendigerweise strukturierten
: ,! ,)
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·1
1 32
Ausgewählte Schriften
Prozesses. H iermit meine ich , daß die Art
Kommunikation , wie i c h sie beschrieben habe, innerhalb bestimmter Strukturen stattfindet
der
und von diesen d ahe r stark beeinflußt , geformt und bestimmt w ird . Zweitens meine ich damit, daß Rundfunk und Fernsehen nicht eine
Sache (»frei« oder
»voreingenommen«) ,
Prozeß sind , der über eine bestimmte Zeit hinweg stattfindet, bestimmte Beziehungs_
sondern ein
muster der darin involv ierten Gruppen be i nhaltet , davon abhängt, welche Wei se soziale Praxen miteinander verknüpft
sind
und
auf
der be
stimmte vorhersagbare und erkennbare Resultate besitzt. Diese ResUl tate sind nicht zufällig . Wenn wir die Strukturen, die Bez iehungen , die Praxen , die Ideen oder Ideologien , die sie beeinflussen, d ie Bedi ngun_ gen, unter denen sie funktionieren , die anderen Teile der Gesellschaft , zu denen sie in Beziehung stehen, begreifen , dann können w ir die Mu-
ster identifizieren
und d am it diesen Typus von Kommunikati on als einen sozialen Prozeß besser verstehen . Deswegen ne nne ich die Ver sorgung mit sozialem Wissen durch Rundfunk und Fernsehen ei nen -
strukturierten Prozeß. Ich wiU nun eine Reihe von Aspekten d a rstell en um diese Behauptung zu untennauern .
"
Beginnen wir mit dem »freien Fluß« von Infonnationen -
Rundfunk und Fernsehen als » offener Kreislauf« . Es ist wahr, daß Runkfunk Und Fernsehen oft darüber berichten� was Leu te tun und sagen und daß diesen die »Nachrichten« durch die Medien wieder zurückgespielt -
werden, ebenso w ie sie zu Massen von a nderen Leuten gelangen . Je
doch in keiner Hinsicht können Rundfunk- und Fernsehanstalten Und das Volk, das Publikum, in diesem zirkul ären Austausch gleiche Part ner sein Die Sender verwalten und monopolisieren ni cht nur di e Mit lei (tec hn i sc he sozia]e, finanzielle ) , um Informationen zu finden und .
,
zu übermitteln. Sie müssen immer auch selektieren . Es gibt Millio nen
von
wichtigen
Ereignissen in der Welt, die j ede Minute passieren .
Es
gibt nur eine halbe Stunde Nachrichten und vi el l ei cht zehn Haupt_ punkte
dabei . Nicht
nur, welc h e r
Punkt in
welcher
Rei henfolge son_ dern auch welcher Aspekt eines Ereignisses berichtet werden soU , l iegt i n der Vera ntwortung der BerichterstatterInnen . Jeder Beri cht von ,
JournalistInnen , der von der Arbeit vor Ort zurückkommt , ist ei ne Auswahl aus »allem, was pas sie rt ist«. ReporterInnen oder Ka meral e _ u te haben jeweils ein oder zwei Aspekte für die Berichterstattung ausge_
D avon wiederum müssen die Nachrichtenredakteurinne n U nd -redakteure, wenn es hochkommt,. ein paar Sekunden, die gezeigt Wer� den sollen , auswählen . Einzelne Berichte müssen bearbeitet und für
sucht.
die Nachrichtensendung zurechtgeschniuen werden . Länge, der Art und dem Format der
Sie müss en d er Programme angepaßt werd n e .
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
133
Kommentar und begleitende B ilder oder Informationen müssen in eine
Re ihenfolge gebracht werden . Übergänge müssen zwischen den ein
I
zelnen Berichten hergestellt werden . In gew isser Weise stimmt es, daß
!
I
I
die »Nachrichten« von den Leuten wieder zu ihnen zurückfließen. Ric htiger aber ist, daß es die BerichterstatterInnen sind, die den Kom munikationskreislauf ini ti ieren und strukturieren ; was s ie nicht einge ben , wird auch nicht zirkulieren. Dieser Prozeß der »Initiierung« von Kommunikation ist festges chrieben und beinhaltet weitreichende edi torische Eingriffe . viele Verfahren des Fonnens und der Auswahl, wel che nicht nur auf den vorhandenen , zur Verfügung stehenden techni schen Mitteln basieren , sond ern auf Urteilen - z . B. auf Vorstellungen davon, was »bedeutend« . »wichtig« und »dramatisch« ist, was einen »Nachrichtenwert« hat und was nicht . Was zuerst ein naturalistischer Prozeß zu sein schien (die Welt zu zeigen, wie sie ist) , offenbart sich nun als eine sehr komplexe soziale Praxis - die Praxi s des Nachrich
tenmachens
�
des Produzierens von Information. Was zuerst ein per
fekter Kreis zu sein schien, kann jetzt als ein Kreislauf gesehen wer den, der zwischen ungleich gewichteten Elementen hergestellt wurde. BerichterstatterInnen kommunizieren ; das Publikum »empfangt« ihre Kommunikation . »Freier Fluß« ist in Wirklichkeit strukturierter Fluß. Sehen wir un s diese Praxen des Produzierens und d e s Empfangens von Information etwas genauer an. Ein Ereignis hat stattgefunden: eine Regierung ist gestürzt worden. Doch wie soll dieses »Faktum« gezeigt
werden? Es kann ni cht alles gezeig t werden - teilweise, weil es mögli cherweise schon über viele Monate in Vorbere itung war, teilweise, weil währenddessen möglicherweise gerade keine ReporterInnen vor
Ort waren , teil weise. w eil man niemals alles filmen kann und zum Teil, weil zu wenig Zeit i st , alles zu zeigen, auch wenn man alles gefilmt
hätte. Daher werden sehr wenige gefilmte Sequenzen :oder Aufnahmen mit höchstens ein paar Minuten Reportage oder Kommentar in der Nachrichtensendung »)rur« das Ereignis »stehen« müssen: einige Feu
erstöße auS einem Gewehr, dazu eine Aufnahme von Panzern, die auf den Hof des »Regierungspalastes« rollen und dazu ein Kommentar. Dies ist natürlich ein genaues Bild davon, »wie es passiert ist« , in dem S inne, daß die Bilder nicht gefälscht sind und die ReporterInnen vor Ort uns so genau wie möglich schildern, »was passiert ist« . Aber im
weiteren Sinne muß alles von Bedeutung ausgelassen werden - alle Dinge, die zum Umsturz führten, die damit verknüpften, komplexen Faktoren, die verschiedenen Fraktionen , die eine Rolle spielen, die Resultate innerhalb der nächsten paar Tage, d ie langfristigen Folgen für das globale Machtgefüge und die Auswirkungen auf unser Leben .
, 1
1 34
Ausgewtihlte Schriften .
Und was gezeigt wird, muß gewissermaßen das »repräsentieren «, was tat säc hlich passiert ist, aber nicht gesehen werden kann . Fernsehen kann daher das, was in der Welt passiert, nicht »widerspiegeln« oder »reflektieren« . Es muß Ereignisse in Geschichten übersetzen
in Worte und Bilder. Später am Abend könnten die Geschehnisse in einer aktueHen Dokumentation ausführlicher, über einen längeren Zeitraum -
untersucht werden (doch selbst dann b leiben die Darstellungen not
wendigerweise selektiv u n d parteiisch) . Was zu Anfang berichtet
wurde, wird m ög licherwei se noch ei n mal gezeigt werden und wird die »Fakten-Grundlage« z . B.
für eine Studiodiskussion zwischen verschie
denen ExpertInnen bilden . Fernsehen kann al so nicht umfassend
gen au sein - nicht weil JournalistInnen »voreingenommen« sind , s on dern weil es objektiv unmöglich ist. Sie müssen die Welt repräsentie
ren . Sie übers etzen komplexe historische E rei gn i sse in
»
Han dl ungs _
szenarien«. Sie müssen unter Verwendung einer i mpliz i e rten Erklä
rungslogik ein Ereignis mit dem anderen verbinden . Rund funk und Fernsehen sind per definitionem mit dem vielschichtigen Geschäft be faßt, Ereignisse i n der Welt nach etwas au s s ehen zu lassen. Sie produ
zieren Bedeutungen über die Welt. Dies ist eine soziale, keine natürli
che Praxis, die Praxis der Bedeutungsproduktion .
Doch Ereignisse in der Welt s i nd bekanntermaßen zweideuti g . Sie bedeuten ni ch t von sich aus irgend etwas. Sicherl ich , di e s owj eti sc hen
Panzer sind in Kabul - und die Kamera zeigt sie uns. Aber was b edeu
tet die »Invasion in Afghanistan«? Sowjetisches Eindringen oder das Resultat verdeckter amerikaniseher Einmi schu ng? Ein Fortschritt od er
Rücksc h ri tt? Expans ionistisch oder defensiv? Populär oder unpopulär
in Afghanistan - und bei wem und bei wie vielen? Was die Zu
schauerinnen betrifft, so spielt es keine RoHe, was sie über die SOwjeti _
sche Invasion denken . Man kann sicher sein : sogar wenn dieselben ak
tuellen Bilder übermittelt werden, wird das Ereign i s auf dem B ild schirm in Moskau � Washingto n , London und Karats chi verschied en dargestellt werden und j eweils etwas anderes bedeuten . Sehr wenige
»Tatsachen« - besonders über Konflikte und kontroverse Ereig niss e _ erreichen uns j emal s in Form von »reiner Information«. Wi r würd en
nichts mit i hnen anzufangen wissen, wenn das der Fall wäre. Ihnen wird ständig Sinn gegeben durch die Einbettung in einen
sinnvollen
erkltirenden Kontext. Auch wenn die BerichterstatterInnen keine »Mei � nung« äußern - und sicherHch nicht ihre eigene Ansicht -� so mÜSSen sie doch einen Interpretationsrahmen benutzen , ande rn falls würden die Worte und Bilder keinen Sinn ergeben . und d i e
Nach ri chten WÜr_
den nichts für uns bedeuten . Nachrichten zu produzieren bedeute t. die
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,
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
135
Realität zu interpretieren . Dingen einen Sinn zu geben , ist per defini tionem ein Interpretationsprozeß. Ob sie es wissen oder nicht (oder ob sie wollen oder nicht) , BerichterstatterInnen interpretieren ständig die Welt für uns, deuten die Ereignisse, die sie dokumentieren, definieren Realität . Dies hat wenig oder nichts mit offener oder bewußter Vorein genommenheit zu tun . Aber gleichzeitig tfifft es auch zu, daß diese In
'J
terpretationsschemata um so mächtiger sind , j e unbewußter die Inter pretationsvorgänge sind, je mehr wir ihre Existenz leugnen, je weniger wir darüber nachdenken , woher sie kommen . Sie formen und deuten weiterhin die Realität - aber sie tun dies unbemerkt und werden zur »Selbstv:erständlichkeit« und arbeiten deswegen, wie man sagt, »hinter dem Rücken der Leute«. Wir können nun den »Fluß« des Kommunikationskreislaufs auf ziemlich unterschiedliche Weise betrachten. BerichterstatterInnen de finieren , was Nachrichten sind , wählen Nachrichten aus, ordnen, redi gieren und formen sie, übersetzen Ereignisse in ihre repräsentativen Bilder, transponieren Geschehnisse in eine 1imitierte Anzahl von Wor ten und Bildern , um daraus eine »Geschichte« zu machen , und benut zen Interpretationsschemata , um uns die soziale Realität zu erklären . Wir nennen dies den Kodierungsprozeß : Nachrichten sind nicht »Reali tät« , sondern Repräsentanten von Realität , kodiert in Botschaften und Bedeutungen . Es wird jedoch oft angenommen , diese kodierte Realitd t
gelange auf durchsichtige und unvermittelte Weise zu den Zuschaue rInnen. Die einzigen Unterbrechungen im Kommunikationskreislauf werden als umständebedingt (sieht das Publikum zu?) und technikbe dingt angesehen (können die Leute eigentlich verstehen , was sie sehen und hören? Ist der Schnitt zu abrupt und anspruchsvoll? Ist die Sprache zu komplex?) . In der Tat, genauso wie die Kodierung von Realität eine soziale Praxis ist (oder eine Reihe von Praxen) , so auch »der Empfang der Botschaft« . Das Publikum oder der Empfanger muß auch einen In terpretationsrahmen entwickeln , damit die »Botschaft ankommt« und die »Bedeutung begriffen w ird«. Auch dies ist keine natürliche, son dern eine soziale Praxis. Sender und Empfänger müssen eine gemein same Sprache sprechen: Die Nachrichten in Chinesisch würden bei
ITN (Independent Television Network) wenig Sinn ergeben .. Sender und Empfänger müssen das gleiche perzeptorische System teilen , das dem Empf4:inger erlaubt, d ie durch elektronische Impulse übertragenen
Zei len und Punkte auf einem flachen Bildschirm zu »dekodieren« als »Repräsentation« einer erkennbaren Gruppe von Objekten und Men schen in der Welt: die »dunkle Masse« ist ein sowjetischer Panzer.
Aber zweifellos muß das Pub1ikum auch bis zu einem gewissen Grad
,
.1
Ausgewählte
1 36
Schriften
den Interpr etations rahme n oder die Kodes, die die BerichterstatterIn
nen benutzen , sowie eine ganze Menge von verfügbarem allge meinen
sozialen Wissen teilen. Wenn jemand nicht weiß, was das Wort »Infla tion« bedeutet , oder daß es dazu eine Regierungspolitik gibt, welchen
Sinn ergäben für diej enige ! denj enigen ein paar Punkte u nd Zeilen auf
dem Bildschirm zusammen mit einem Kommentar, der lautet : »Es hat
d ie s en Monat einen starken An stieg der Inflation gegeb en «(? Der Satz
»Sowjetische Panzer rollten heute in Afghanistan ein« wird wenig
oder
nichts bedeuten ohne einen Sinn dafür, daß dies die Machtbalance zwi
schen Ost und West beeinträchtigt. Die BerichterstatterInnen werden einen großen Teil dieser Art von Kontextwissen voraussetzen m üs sen - sie können nicht jedesmal zu den Anfängen der modernen interna
tionalen Beziehungen zurückgehen, wenn es eine neue Wende i n den Ereignissen g ibt . Sie müssen dieses Wissen beim PubHkum vorau s set
zen , und das Publikum w ird es haben müssen , um dem, was gezeigt w ird u nd zu hören ist, eine Bedeutung zu geben . B ed eu tung ist abhän gig von gemeins amen Sys temen , gemei n samen Kodes, gemeinsamem
Wissen und einem gemeinsamen Interpretationsrahmen zwi sche n
Kommunikator und Empfänger. Andernfalls wird keine Info rmation
nach B gel angen - und es wird keinen Kreislauf geben . Wenn A " kl )J lcrt«, d ann muß B (das Publiku m) }}dekodieren«, Beides ist eine soz iale Praxis. Beides erford ert einen breiten Hintergrund gemeinsa Vt l n
A
mer Voraus setzungen .
Bei den meisten Nachrichten
gibt es solche gemeinsamen Perspekti_
ven . Hier können wir den Begriff des Konsenses als deskriptiven Ter
minu s einführen . D ie Berichterstattung geht beim Publikum wie selbstverständlich von einem konsensuellen H intergru nd w i ssen und B ezu g s rah men aus. Doch wir müssen uns hüten, diese Bedeutung des
auf die weitere Bedeutung von })Konsen s« i:l u s z uJ�hnen - als wäre Zustimmung m itgemeint . Ich kann wohl s ehr Bcgn tT.;; n i cht vorschnell
genau verstehen , was di e Premierrninisterin in den Neu n -U hr- Nach_
richten sagt.
Ich s timme
dem nur zufallig n icht zu .
Es
gibt einen U n � terschied zwischen dem Verstehen der wörtlichen Bede utung vo n Wor� ten und Bildern (der denotativen Bedeutung) und entweder dem Ver
oder,
wichtig er noch , dem Übereinstim men mit der i nterpre�
dne genaue
ist
stehen
tierten Bed eutung (der konnotativen Bedeutung) . Es ist nicht ei nfach
Tren n lini e zwischen diesen beiden zu ziehen, aber e s ei n e nütz1iche U n ters cheidung . U nd man ka nn sehen, daß es e inen »Konsens« über die wörtliche Be deutung geben kann , während g l eich_
zeitig eine Divergenz oder ein Konflikt über die Interpretation be steht . Dies ist besonders d a der Fall , wo über
Konflikte
oder Kontroversel1
137
Die strukturierte Vennittlung von Ereignissen
berichtet wird (geradezu der Kern von Nachrichten) , vor allem, wenn es sicb um einen Konflikt oder eine Kontroverse über wichtige Angelegen heiten handelt, die die Nation nicht nur berühren, sondern auch spalten . Denn in solchen Fällen gibt es üblicherweise unter den verschiedenen Gruppen im Publikum keinen großen »Konsens« im zweiten Sinne. Damit ist unmittelbar das berührt, was man die »Objektivität« der
Beri cbterstatterI nnen nennen kann . Wo sie einen generellen Konsens über eine Angelegenheit oder ein Ereignis voraussetzen können
beide , die BerichterstatterInnen und die große Mehrheit der Nation, sind übereingekommen , die Angelegenheit in dieser Weise zu deu ten - , ist »Objekti v i tät« gesichert. Dies kann bei auswärtigen Angele
_
genheiten der Fan sein
-
ist es aber nicht immer. Würde irgend je
mand einem BBC-Ansager einen Mangel an »Obj ektivität« vorgewo r fen hab�n , wenn er im Jahre
1940 einen deutschen Bomber,. durch
Flak-Feu er abgeschossen , als ein »Feindflugzeug« bezei chnet hätte?
Aber j e näher man dem e igenen Lebensbereicb kommt und je mehr es
sich dabei um Konfl ikte und Kontroversen handelt; desto weniger kön
nen BerichterstatterInnen einen »Konsens« voraussetzen . Dies i s t ihr
Dilemma - und wieder hat es wenig mit })Voreingenommenheit« an sich zu tun. Streikende ArbeiterInnen als »militant« zu bezeichnen. .
wird von der Regierung (die Lohnforderungen niedrig
zu
halten ver
sucht) und von den Arbeitgebern (die die Produktion in Gang und pro
fitabel zu halten versuchen) begrüßt werden - und es lnag von einer Mehrheit des Publikums (die von Streikmaßnahmen neg ativ betroffen
ist) gebilligt werden . Aus genau demselben Grund wird dies von der i n den Streik verwickelten Gewerkschaft als )Noreingenornmenheit« an
ge sehen werden und bei den ArbeiterInnen tiefe Empörung hervorru
fen (d ie vielleicht nur widerwillig in Streik gegangen sind und glau
ben , einen guten Grund dafür zu haben) . Die BerichterstatterInnen
müssen dabei unwilikürlich in die Schußlinie geraten . Konflikte und Kontroversen sind das tägliche Brot von Rundfunk und Fernsehen. Gleichzeitig sind sie aber auch der BerichterstatterInnen tödlichste Feinde, weil sie die Praxis der Bedeurungsproduktion als das offenle gen . was sie ist. Sie untenninieren die Fiktion von der »reinen Tatsa che« und der »vollkommenen Objektivität« , weil sie zeigen , daß diese
Objektivität auf bestimmten B ed i ngungen beruht (z .B. auf der Exi
stenz von Konsens über eine Ange1egenheit) . Wenn diese B edil1g ungen nicht erfüllt werden , wird d er eingeschränkte, problematische Charak ter der »Objektivität« von Rundfunk u nd Fernsehen si chtb ar.
Objektivität ist ei n anderer (höflicherer oder zweckmäßigerer) Name für Konsens. Die Berichterstattung kann »obj ektiv « sein� vor�
Ausgewählte Schriften
138
ausgesetzt der Konsens hält . Zerbricht er, ist die Objektivität in Schwierigkeiten . Es fol gt weiterhin, daß Rundfunk und Fernsehen zur
Wahrung der » Objektivi tä t ständig dazu genötigt sind , eine konsen «
suelle Position einzunehmen , Konsens zu finden (sogar wenn er nicht existiert) und , wenn erst einmal Streit losgebrochen ist, Konsens ZU
produzieren. Wenn die BerichterstatterInnen annehmen können, die Mehrheit glaube, al l e Streikenden seien »militant«, könne n sie diese
interpretierende Kategorie ungestraft benutzen; aber bei v ie l en ande
ren Angel egenheiten ist es ex trem schwi erig festzustellen , wo rin der
Konsens tatsächlich besteht. Bei
kontroversen Fragen verschiebt er
sich ständig. Er wird von vielen Faktoren beeinflußt . In solchen Fällen
werden BerichterstatterInnen unweigerlich vor die heikle Aufgabe ge
stellt , abzuschätzen und zu beurteilen , wohin sich die »M einu ngsba_
lance« bewegt - oder
in welchem zulä ssigen Rahmen . In Zeiten w ie in den 70er Jahren als die öffentliche Meinung krasse Sprünge vo llzog , ,
ist dies eine komplizierte Angelegenheit . Die BerichterstatterI nnen
entscheiden auch darüber, wer eine Meinung am besten vertritt , che Ansichten von Rechts wegen dargestellt werden müssen u nd
wel wel
so marginal sind , daß sie ausgelassen werden können. D iese AU f gabe der Erforschung des Konsenses wifd noch dadurch erschwert daß Konfliktsituationen oftmals einen Kampf darüber b ei nhalte n wel-
che
�
,
che �>Definitionen der Situatio n« sich durchsetzen werden . Ei n i ge den zwangsläufig mehr als andere davon profitieren, wo die
wer
Ansied_
lung des Konsenses vermutet wird . Einen Streik als »militant« od er das
Aufstellen von Streikposten allein als »Gewa1t« zu definieren, hil ft Und befriedigt unwei gerlic h Reg ierung und Arbe itgebern und nicht Strei kenden und Streikposten. Wiederum hat dies wenig oder Voreinge nomm enheit« zu tun .
nichts Illit
»
Wichtiger noch , solche »Definitionen der Situatio n« sind
von
ent
scheidender Bedeutung. Wenn sie die Oberhand gewinnen und zum Konsens werden , können sie zum Beispiel die Bereitschaft der Leute erhöhen eine geg en die S treikenden gerichtete antigewerkschaftliChe Gesetzgebung zu unterstützen . Wie Leute Situationen definieren , ha t Auswirkungen darauf, was sie tun und welche Politik sie zu u nters tüt zen bereit sind . Definitionen werden daher zu Faktoren für die Art Un d Weise der Kon fliktlös ung Sie beeinflussen das Gleichgewicht sozial e r ,
,
_
.
Katnpf
K räfte . Aber dies ist ein entscheidendes Moment in jedem
denn es beein flußt
die Fähigkeit der einen oder anderen Seite rur ,
,
di�
eigene Politik öffentliche U ntersrutzung zu beanspruchen und drunit
das »nationale Interes se«
zu
repr äsentieren . Indem sie eine b e stinunte
Definition a] s »bestehenden Konsens« voraussetzen, tragen Bericht_
r, Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
139
sie erst recht dazu zu machen (eine Art »self fulfill ing prophecy «) . Wennjeder Streik der gewerkschaftl ichen Mili tanz« zugeschrieben wird,. wird dies zur v rhe rrsche nden , selbstver
erstatterInnen dazu bei,
» o
ständlichen Definition werden. Sie wird sozusagen konsensualisiert _ .
ein Prozeß, kein Ding, und zudem einer, bei dem Rundfunk und Fern sehen eine festgelegte Rolle spielen . Durch die »Gestaltung des Kon
senses« werden Rundfunk und Fernsehen dazu beigetragen haben, Zu stimmung herzustellen. So kann als s ch on feststehende Tatsache zu sarnmengefaßt werden: »Die große M ehrhei t des britischen Volkes ist gegen Streiks und gewerks chaftl iche Militanz . . . « Die umstrittene An nahme ist zur anerkannten Weisheit geworden . GegnerInnen dieser S ich t müssen jetzt ihre Sach e gegen den Hintergrund einer offenbar uni versel len Übereinkunft (Konsens) vertreten, daß »Streiken« »mili ta nt sein« bedeutet (wobei »mil itant« = schlecht , »ge mäßigt« = gut ist) . Ich habe dieses Beispiel gewählt , weil die Mediensprache in den 70er Jahren hinsichtlich der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital geradezu durchdrungen war von der Verwendung dieser beiden offen s ichtlich deskri ptiven , j edoc h hoch emotionalen , politisch aufgelade nen Begriffe - dem Gegensatz zwischen »Militanten« und »Gemäßig ten« . Die Medi en entwickeln ein - objektiv - quasi selbstverständli ches Interesse an »der M i tte« , an Mäßigung. In diesem Sinne können wir sagen, daß die Medien nicht nur den Konsens in irgendeme r Ange l egenheit widerspiegeln , sondern auf v ielfache Art dazu beitragen, Kon sen s zu konstrui eren , zu formen und zu beeinflussen. Das ist eine bittere Tatsache, mit der BerichterstatterInnen leben müssen. Kehren wir für einen M oment zurück zur Beziehung zwischen Mit teilen und Empfangen, »Kodieren« und »Dekodieren«: Es kann jetzt festgehalten werden, daß die »Übermi ttlung« sozialen Wissens nicht wie ein offener Kanal funktioniert, in dem Tatsachen oder Ereignisse »für sich selbst« s p rechen , durch den die ei nfache , unproblematische · Bedeutung der Ereignisse übertragen wird, um am anderen Ende in genau derse lben Wei se empfangen zu werden . Statt dessen müssen Be richterstatterInnen Ereig niss e i n terpretieren , den Erklärungsrahmen oder Kontext auswählen, in den diese gestellt werden sollen, die Be deutu ng , die ihnen sinnvoll ersch ei nt , b evorzugen oder »vor-ziehen« und so eine Bedeutung kodieren. Wie die BerichterstatterInnen hat auch das Publikum seine eigenen (sehr verschiedenen) Positionen, l ebt in (verschiedenen) Beziehungen u nd Situationen , hat sei ne eigene (wiederum j eweils verschiedene) Bez iehung zur Macht � zur Informa tion und zu deren Quellen und bri ngt sein eigenes Interpretationssy stem zum Tragen , um eine Bedeutung zu verstehen oder die Botschaft
Ausgcwtihlte Schriften
1 40 zu dekodieren . Statt »perfekter
Übermittlung
«
oder »freiern Fluß« kön
nen wir drei typische Positionen feststellen , die ein Publikum wahlwei se zur angebotenen Bedeutung einnehmen kann . Das Publikum kann
die Bedeutung
,
mit der Ereignisse vorgeprägt un d kodie rt wurden � an
erkennen . In diesem Falle richtet es seinen Interpretationsrahmen am Send er aus und dekodiert innerhalb der herrschenden, bevorzugten
oder »hegemon ialen « Definition der Ereignisse . Oder es kann di e an gebotene allgemeine Bedeutung annehmen, aber Ausnahmen machen ,
die diese B edeutung modifizieren, wenn es die Ereignisse zu seiner ei genen S i tuation in Beziehu ng setzt . Ein Beispiel hierfür wäre, wenn
ein Publikum zwar die herrschende Definition teilt , »Streiks ruinieren
die Nation«, dies aber auf seine Situation in folgender Form anwende te: » Wir j edoch sind schlecht bezahlt und wären berechtigt, für bessere Löhne zu streiken«. Hier i st die herrschende Definition mit
der eige
nen Situation vermittelt worden. Drittens mag die herrschende Defini tion zwar genau verstanden , doch in entgegenge setzter Richtung gele
sen oder dekodiert worden sein. Streikende könnten die D efinition gut und gern fo lge ndermaßen lesen : » Sie müssen das natürlich sagen - es
paßt in ihr Konz,ept . Ich bin nicht der Meinun g , daß Streiks ,
sondern
schl echtes Management oder geringe Investitionen die Ursache un se
rer ökonomischen
Übel sind . « Hier dekodiert das Publikum oppositio_
nell . Die BerichterstatterInnen können nicht garantieren, daß das Pu blikum Ereignisse innerhalb des hegemonialen Rahmens dekodi eren wird ! auch wenn sie den Kommunikationskreislauf ini tiieren
und des
wegen als erste die M öglichkeit haben, »den Vorgängen in der Welt Be deutung zu geben« . Es gib t daher keine »perfekte« Kommunikation 11
keine reine Transparenz zwischen Quelle und Empfänger. Das Vollkommen transparente Medium wäre das vollkommen zensierte oder eines, in dem die einzigen vorhandenen Ideen, die der Welt Bedeutung
geben würden, die dominanten oder »herrschenden« Ideen wären . Da Ereig nisse mehr als eine Bedeutung haben können und
Gruppen d ie
Ereignisse verschieden , j e nach ihren Interessen oder gesellsc h aftli
_
chen Positionen deuten und Konflikte die Gesellschaft z wangs läufig
genau darüber spalten, welche Definition der sozialen Realität s i ch durchsetzen wird oder soll , werden Massenkommunikationssysteme
in uns erer Art von Gesellschaft immer das b1 eiben , was Enzensbergel" »undichte Systeme« nennt. Aber j etzt müssen wir fragen , woher d er Interpretationsrahmen und die »Defin itionen von Situationen « kormnen , welche die Berichterstat_
terInnen entwickeln . Dies ist eine komplexere Frage als es zuerst den Anschein haben mag. Die Medien sind gehalten, sowohl »ausgewogen"'«
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
141
als auch objektiv zu sein. Dies garantiert, daß hinsichtlich jedes Kon flikts oder jeder Kontroverse mehr als eine Ansicht dargestellt werden wird . In diesem Sinne ist die Kommunikation öffentlicher Angelegen heiten sehr stark nach dem Modell des »Zweiparteien-Systems« struk turiert. Es gibt immer mindestens zwei Seiten , zwei Ansichten - mit
MedienvertreterInnen als neutralen und u npartei ischen Vorsitzenden
oder »SprecherInnen«, di e die Debatte leiten, in der Mitte. Dies ver hind ert , daß sich eine einzelne, monolithische Ansicht durchsetzt, und ga rantiert ein gewi sses Maß an Plura1ismus un d Verschiedenheit. Wir
müssen jedoch weite r untersuchen , wie »Ausgewogenheit« und »Un parteilichkeit« tatsächlich in der Praxis funktionieren .
D a die BerichterstatterInnen immer, um in den Worten einer wichti
gen Richtlinie zu sprechen , die letzten sein sollten , wenn überhaupt, die eine Meinung äußern , müssen die Ansichten zu einem Konflikt, die dargestellt werden , von auß.erhalb der Medien kommen. Bei politi
schen Ereignissen werden di es die An s ichten der Pressesprecher der beiden großen politischen Parteien sein, und diese werden zitiert wer den (verbal od er visuell) - oft Wort für Wort vor laufender Kamera gewissermaßen als Zeugen für die Objektivität der BerichterstatterIn nen. Es ist der »Arbeitsminister«, nicht etwa BBC oder ITN, der fest s tellt : »Streikposten sind nicht typisc h ,. sie sind in der Tat sehr un typisch für die Art, wie der durchschnittliche britische Arbeiter oder
Gewerkschafter d enkt . « Ebenso wird im Tarifstreit sowohl den Arbeit gebern als auch den Gewerkschaftsmitgliedem Zeit eingeräumt wer den, ihre Definition dessen, was vor sich geht, anzubieten . Dies wahrt in der Tat die Unparteilichkeit der BerichterstatterInnen. Gleichzeitig bedeutet es, daß die etablierten Stimmen der mächtigen korporativen Gruppen gewöhnlich , rechtmäßig, die erste Möglichkeit haben wer den, und zwar ausführlich, eine Konfliktsituation zu definieren . Die Mächtigen erha1ten die primäre Definitionsmacht bei diesen Konflik ten. Sie haben Zugang zum Thema, sie stellen die Regeln der Debatte auf, sie legen fest , was für die Art und Weise, wie das Thema behan
delt werden wird , »relevant« und was » irrelevant« ist. So können sie bei schwierigen ökonomischen Bedingungen einen Streik als »Bedrohung
für eine schon schwache Wirtschaft« definieren. Dies wird zur »bevor zugten� Definition (Konsens) . Andere, die (wie wir zeigen werden) notwend igerweise später kommen, müssen die Angelegenheit in diesen Begriffen diskutieren . Es w ird ihnen äußerst schwer fallen, die
Diskussi onsthem en »niedriger Lohn« oder »Vergleichbarkeit« als gleichermaßen plausible Arten , den Streik zu diskutieren, einzu führen . Die primäre Definition eines Themas gewinnt enorme Glaub-
Ausgewählte Schriften
1 42
w ürd i gkeit und Autorität und ist nur schwer zu ve rschi eben .
- Natür
lich werden auch andere Ansichten dargestellt werden . Aber sie wer
den darauf hinauslaufen, den Sachverhalt im Bezugsrahmen der primä
ren Definition zu verhandeln . Es ist viel schwerer� ein bestehendes Be
zugssystem zu durchbrechen und eine ebenso glaubwürdige Alternati
ve dagegenzu setzen . Um ein anderes B eis p i el zu n eh m en : Wenn die
vorher rschen de Definition der Probleme,. die Schwarze in dieser Ge
sellschaft haben , lautet: ) Die U rsache des Problem s lieg t darin, daß es
hier zu v ie le von ihnen gibt«, dann wird die aner kannte alternative An
sicht wahrscheinlich diese sein : »Die Zahlen sind nicht so hoch wie von öffentl ichen Quellen a ngegeben « , Man kann sehen � daß diese An sichten sich unterscheiden. Man kann aber genauso sehen , daß sie auc h übereinstimmen, nämlich insofern, als sie unter derselben Prä
misse bzw. Annahme funktionieren - daß es sich um ein Problem der
Znhl handelt (zu viele
VS.
weniger als angenommen) . Rassenprobleme
'werden so als Zahlenprobleme defi niert . Ist diese Definition erst ein
mal eingeführt, werden Hunderte von Sendungen u nendli ch e Variatio
nen dieses Themas spielen , ohne einmal die zugrunde liegende Ann ah
me oder die verwendete Logi k , d i e d arau s fo lgt , anzuzweifel n . Es wäre eine äußerst lange und geschickt gefüh rte Kam pagne notw endig , das zweifelhafte Zahlenspiel zu verdrängen und durch
Erklärungssystem zu e rs etzen
ein alternatives
wi e Z . B. : »Das grundl egende Pro blem ist nicht eines der Zahlen, so ndern es besteht in der Fei nds eli g_ _ .
keit von Weißen gegenüber Schwarzen. «
Solche radikalen Verschi ebu ngen gibt es nur vereinzelt . Und wenn sie vorkommen , dann zumeist de swegen ,. weil die Bedi n gu nge n inne r
halb der Elite selbst sich verschoben haben oder weil die Ge sellSchaft
ei ndeutig in gleiche Teile gespalten ist . In den 70er Jahren he rrschte die Auffassun g vor, die »Einkommenspolitik« sei die Lösung für unse
re ökonomischen Schwierigkeiten . Da dies vom Staat a l s »iID na tiona_ len Interesse« definiert wurde, wurde es übernommen und diente als
Bereich durch die »Not
Grundli nie der Medienberichterstattung über einen großen ökonomischer Probleme. Jetzt, da dieses Allheilmittel
wendigkeit zur Kontrolle der Geldversorgung« ersetzt word en ist , dient dies als unausgesprochene Prämisse der Medienberichte rstat_
tu ng. Eine Interviewerin wü rd e als einwandfrei unparteiisch beurtei lt
werden, wenn sie eine Frage unter der Prä mi s se formulieren Würde » Da
Sie selbstverständlich nicht die von der Regierung vorg egebenen
Geldmengengrenzen übersch reiten können
. « Doch d ies konunt daher, weil der N eokeynesianismus, dem sich auf verschiedene We ise heide, sowohl die Labour- al s auch die Regierungen der Konservativen ..
Die strukturiene Vermittlung von Ereignissen
143
Frau Thatchers Zeit, verschrieben hatten, durch eine neue, mone tarische Orthodoxie ersetzt worden ist. Systemverschiebungen inner halb der M achtebene werden schnell zur Grundlinie der »Realität« in den Medien , denn es ist Teil ihrer Aufgabe, sol chen Verschiebungen gegenüber sensibel zu sein . Fü r Quellen außerhalb des Machtgefüges ist es extrem schwer die Diskussionsbedingungen zu durchbrechen oder zu ändern . Obwohl es daher zutrifft , daß sich eine einzelne, mo nolithische Definition fast nie unangefochten du rchsetzt - die Deutun gen in den Medien sind in diesem Sinne »plural« -, ist die Bandbreite der zulässigen Definitionen systematisch begrenzt (d. h . nicht »plurali stisch«) . Die Medien stehen nicht »im Lohn« einer bestimmten Partei oder Gruppe - und die BerichterstatterInnen wachen eifersüchtig über diese Unabhängigkeit. Dies widerspricht nicht der Tatsache, daß die Medien sich im Kräftefeld der Mächtigen orientieren und daß sie ihre Definitionen systematisch darauf hin zurechtbiegen, wie die Macht kräfte in der Gesellschaft die politische Realität definieren. vor
,
.
Dies ist eine Frage der Struktur, nicht des Personals. Es legt in der Tat die Unzul änglichkeiten des Ko nzepts von der »Voreingenommen heit offen . Voreingeno mmenhei t muß in versteckter oder verdeckter Weise funktionieren. Aber die Ausrichtung der Medien innerhalb des Machtapparates ist eine Frage der Position von Rundfunk und Fernse hen (und nicht der Voreingenommenheit der Berichterstatterlnnen) und funktioniert recht offen und unverde,ckt. Per definitionem sind es di e Mächtigen, die Ereignisse deuten � das mei nen wir, wenn wir sie die »Mächtigen(( nennen. Da ihnen öffentlich die Verantwortung für d ie Führung der Geschäfte aufgetragen i st sind sie die anerkannten, legitimen, autoritativen Quellen der Nachrichten. Da ihre Entschei dungen und Handlungen sich auf die gesamte Bevölkerung und die Zu kunft der Nation auswirken werden, könnte keine verantwortungsbe wußte Sendeanstalt sie regelmäßig ignorieren . Und da Rundfunk und Fernsehen selbst nich(bei der Beeinflussung von Meinungen ertappt werden dürfen, sondern anerkannte Externe zitieren müssen, müssen sie sich in der Tat aufdiese verlassen, um die Diskussionsbedingungen festzulegen. Andernfalls könnten sie leicht (wie auch schon gesche hen) in Verdacht geraten, den Prozeß der öffentlichen und politischen Rechenschaftslegung zu usurpieren . Die Definitionen der Situation legen zwangsläufig die Bedingungen fest, unter denen Probleme disku tiert und entschieden werden. Daran ist nichts »Verstecktes« oder Ve r de cktes «
»
«
,
-
.
Die Medien sind jedoch nicht lediglich die Bauchredner der Macht, weil man von ihnen verlangt, die offiziellen und alternativen Ansichten
Ausgewählte
1 44
Schriften
»auszubalancieren«. Aber so wie Rundfunk und Fernsehen zuerst den Konsens definieren müssen, um s ich auf ihn berufen und mit ihm ar beiten zu können,. so müssen sie auch definieren, was »Ausgewogen heit« ist. Wiederum kommt es auf die Analogie zum parlamentari schen S ystem an . Diejenigen, die ein einzuforderndes »Recht auf Ant wort« haben, werden vorzugsweise aus »den Reihen der anderen offi ziellen Seite, der Opposition«, innerhalb des Machtapparates ausge wählt werden. Den »Ausgleich« zu einer Regierungsmeinung bildet die Meinung der »Opposition« . Den »Ausgleich« zu einer Arbeitgeberan sicht b ild et die eines Gewerkschaftsführers. So wird in der Diskussion »Pluralismus« sichergestellt. Aber es wird auch systematisch die Band breite begrenzt, innerhalb derer sich »Ausgewogenheit« bewegen darf. Obwohl Behauptung und Gegenbehauptung eine lebhafte, manchmal scharfe, demokratische Debatte garantieren , ist es oftmals auch ein Gespräch zwischen Gruppen, die viele grundlegende Bezugspunkte . gemeinsam haben Der heutige Arbeitsminister des Schattenkabinetts wird die Industrieprobleme von m orgen erben . Beide, der Fina nzmin i ster und sein »Schatten«, h aben mit monetaristischen Lösungen her umgewerkelt Beide Arbeitsminister glauben an die Notwendigkeit, »die Macht der Gewerkschaften einzuschränken« , obwohl sie s i ch hin sichtlich der Mittel un d des Maßes unterscheiden. Doch simplifizieren wir nicht das Problem ! Diskussion und nicht die monolithische Dar stellung einer einzelnen Ansicht prägen das britische Fernsehe n in bezug auf »Tagesereignisse«. Daher mangelt es der einfachen Ver schwörungs theorie an Glaubwürdigkeit. Aber überschätzen wir den »Pluralismus« ni cht Die Bandbreite, innerhalb derer sich die Disku s sion bewegen kann, bevor sie hart an die Grenzen stößt, durch die au ßerhalb des Konsenses liegende Ansichten als » extremi s tisch , »unver antwortlich«, »partikularistisch« oder »irrational« defini ert we rden i st äuße rs t schmal, und die Grenzen sind systematisch strukturiert, nicht zufiil lig. .
.
«
,
Wenn die Medien diese zulässigen Grenzen überschreiten, geraten sie in schwieriges Fahrwasser. Wenn sie zu sehr in die Breite gehen wird man ihnen vorwerfen , extremistischen Ansichten oder Minderheitsmeinungen Glaubwürdigkeit zu verleihen. In jedem Falle kenn en sie die anerkannten Quellen gut , doch jenseits des ko rp orat ive n Krei ses von Macht und Einfluß ist die Meinungsbewegung weitgehend Un erforschtes Gebiet. Bei kontroversen Fragen , z.B. hinsichtlich Polizei_ gewalt, haben der Innenminister, sein »Schauen« , der P01izeipräsi dent und der Polizisten-Verband rechtm äßig Zugang zu dem Gegenstand. Das Nationale Bürgerrechtskomitee kann, oder kann auch nicht , Ulll ,
Die strukturierte Venniu.lung von Ereignissen eine Meinungsäußerung gebeten werden
-
14 5
es wird aber klar als eine
minoritäre »pressure group« gekennzeichnet werden. Die Hackord� Dung innerhalb des Machtsystems ist genau definiert. Wie sollten die BerichterstatterInnen wissen, wer außerhalb dieser Ordnung zählt?
Wann ist die »alternative ökonomische Strategie« des linken Flügels von Labour glaubwürdig genug, um als Alternative zur ökonomischen Politik der Konservativen und von Labour anerkannt zu werden? Wann
ist die Bewegung für nukleare Abrüstung genügend »legitimiert« , um ihre Ansichten als glaubwürdige Alternative denen des Verteidigungs ministers gegenüberzustellen? Dies sind Fragen , die einer sehr subti
len Beu rteilu n g bedürfen, und wie BerichterstatterInnen sie lösen , wird dazu beitragen, »Ausgewogenheit« nicht etwa w iderzuspiegeln ,. sondern sie zu konstruieren . Alternative Gesichtspunkte werden manchmal im Namen e in er Pressure-Group »eingefügt« , nicht durch
deren e igen e Aussage, sondern über die Fragenden oder Interviewe rInnen. Man wird oftmals Sir Robin Day zu einem Minister sagen hören : »N atürlich, einige Leute würden sagen . . . « Doch in solchen Fällen spielen die Medien eine vermittelnde Rolle. Diejenigen, deren Ansichten »eingefügt« sind , werden in die Diskussion eintreten, wenn
auch auf indirekte Weise. Diejenigen, die auf den sensiblen politischen Sei s mographen der BerichterstatterInnen keinen Ausschlag verursa chen, bleiben außen vor. Wie »Objektivität« und »Unparteilichkeit« , so ist auch »Au sgewogenhei t« nicht eine Tatsache, sondern ein Prozeß .
Sie i st das Resultat einer sozialen Praxis. Diese findet innerhalb eines ganz bestimmten Machtsystems bzw. einer Machtstruktur statt . Die Konzep te )�Ausg ewogenh eit« und »Konsens« sind daher eng mit
einander verwoben . »Konsens« impliziert nicht eine einzelne, einheit
liche Position , der s ich die gesamte Gesellschaft verschrieben hat . Er bildet den grundSätzlichen gemeinsamen Boden - die zugrunde lie genden Werte und Prämissen -, auf dem d ie heiden Positionen sich bewegen , die i m Detail scharf d ive rgi e ren können . »Konsens« ist be
dingt durch strukturierte U nein igkeit - all diese gemei n s amen Prä missen, die es ermöglichen, daß »Hinz und Kunz übereinkommen, mitei nander zu streiten«. »Ausgewogenheit« wird daher durch Konsens
eingera hmt . Labour und die Konservativen sind sich in bezug auf die richtige Wirts ch a ftspo l iti k zutiefst u nein ig . Aber beide heißen das Zweiparteien -System gut . Der l!
dieses Konsenses bewegen sich bezeichnenderweise Rundfunk und Fernsehen. Eine revolutionäre Gruppe, die das Zweiparreien-System
Ausgewdhlte Schriften
1 46
zu überwinden sucht, bildet kein Element in einer »ausgewogenen
Diskussion, da sie den Konsens über den g rund legend en Charakter des
p oli ti sc hen Systems nicht teilt. Gruppen , die nicht so »weit außerhalb
s tehen , die aber auch nicht »zum Zentrum des Systems« gehören , be
finden sich am Rande des Konsenses - und von daher am Rande der in den Medien gewöhnlich praktizierten »Ausgewogenheit« . Im großen und ganzen sind die Medien gewi ssenhaft und fair, unpar
teiisch und »ausgewogen« innerhalb des Bezugssystems des Kons enses,
so wie wir (und sie) ihn defi n i ert haben . So sind sie im g roßen un d gan zen auch nicht für
die Regierungs
-
oder Oppositionspartei »ei ngenom
men« . Sie sind aber »eingenommen« für das System und für die »)Defi�
Andem Art »Partei im Exil« zu werden
ni ti onen der politischen Realität« , die das System definiert. falls würden sie Gefahr laufen , eine
_
J1lit eigener mächtiger Stinune! Rundfunk und Fernsehen können sich nicht darauf festlegen , ob die Wirtschaftspolitik von A oder von B die
Räder der Industrie in Gang halten wird . Aber sie sind darauf fes tge
l egt , »die Produktion in Gang zu halten« , da sowohl A wie auch B dies als »im nationalen Interesse« definieren. Was j eweils g laubw ürdig als
» nationales Interesse« definiert und behau ptet werden kann , wi rd ZUr Grundlage , von der aus die BerichterstatterInnen a rbeiten müssen . Ein
früheres verdientes Mitglied des Verwaltungsrates von BBC, Sir Charles
eurran , fonnulierte den Punkt einmal auf treffende Weise : »Ja , wir sind vorei ngenomm en - vo reingenommen für die p arl amentari Sche Demokratie. « Und denkt man einmal darüber nach - könnte die Situa
t ion denn anders s ein? Könnte eine Se ndean stalt lange in Großbritan_ nien überl eben , wenn sie »fiir eine Einparteien-Diktatur ei ngenom_ men« wäre? Könnte sie überhaupt glaubhaft entstehen oder überleben?
Di es heißt nicht, daß di e Grenzen , innerhalb derer » Ausgewogenheit«
zur Zeit funkt ioniert , nicht er we itert oder ausgedehnt werden könnten .
Aber der »Konsens«-Charakter von Rundfunk und Fernsehen entsteht nicht aus »Voreingenommenheit« im übli chen Sinn, sondern is t eine strukturelle B edi ngung , von der das gesamte Rundfunk- u nd Fe mseh_
unternehmen abhängt . Wir haben die A nalogi e des »Parlaments« benutzt , aber tatsäc hlich wäre es besser. uns das Funktionieren von Rundfunk und Fernsehen in
Ana logie zum Staat zu denken . Sie müssen, wie der Staat, auf dem Boden d es » nationalen Interesses« stehen . Sie müssen Offensichtl iCh außerhalb von und über dem Spiel der Parteiinteressen stehen . Si e müssen widerstrei te nde Interessen ausg leichen . Ihr Personal muß, Wi e das des Staates. »neutral« , aber dem »System als Ganzes« verpflichtet
se in . Die Parallelen sind sogar noch enger. Denn da Rund funk und
Die strukturierte Vennittlung von Ereignissen
147
Fernsehen nicht zu einem »Staat im Staate« werden dürfen, müssen sie
ihre »Definition der politischen Realität«
vom Staat übernehmen.
Was
der Staat als » legitim « definiert, ist »der Bezugspunkt für die Form
aller im Fernsehen gezeigten Realität«. Natürlich besitzen Rundfunk und Fernsehen andere, ausglei chende Verantwortlichkeiten, welche
diese Wiedergabe weniger monolithisch machen. Denn sie müssen
auch Konflikte behandeln (auch wenn dies den Mächtigen Unannehm lichkeiten bereitet) , über Trends berichten, die »schlechte Nachrich
ten« für den Staat sind, bis zu einem gewi ssen Grad Meinungsverschie
denheiten in der Gesellschaft wiedergeben, offizielle Ansichten in
Frage stellen und untersuchen und die offizielle Politik auf ihre Kohä
renz und i nneren Widersprüche hin überprüfen . Dies trägt dazu bei ,
Rundfunk und Fernsehen »offen« zu haIten, und schafft oft ein Klima des »Kalten Krieges« zwischen BerichterstatterInnen und PolitikerIn nen . Dies wiederum erweitert die Möglichkeiten der Medien , »Kon
sens« wied erzugeben und zu konstruieren, aber es verschiebt nicht
ihre grunds ätzliche Aus richtung . Was als » leg itime Opposition« defi niert wird, besitzt rechtmäßigen Zugang zur Diskussion im Fernsehen.
Was am Rande der staatlichen Definition von Konsens liegt, w ird für
den Fernsehdiskurs marginal sei n . Was die U nversehrtheit des Staates bedroht - besonders wenn es mit Mitteln der Gewalt geschieht - , kann beim Fernsehen nicht gezeigt werden , es sei denn nach ausdruck li eh er Erlaubnis (z .B. Interviews mit IRA-Sprechern) . Der Staat defi
niert letztendlich das Terrain, auf dem di e Repräsentationen der We1t im Fernsehen konstruiert werden. Bedeutet dies, daß Fernsehen einfach - wie einige Leute behauptet haben :"- ein »ideologischer A pparat« des Staates ist? In einigen Län dern trifft das tatsächlich zu .
Aber in Großbritannien wird die Bezie
hung zwischen Rundfunk und Fernsehen und dem Staat - wie die der
Justiz - durch die klassische Doktrin der »Gewaltenteilung« geregelt .
Andernfall s könnten sie ihre geforderte Funktion nicht erfüllen , s o
wohl »unparteiische Wissensquelle« als auch »Teil des Systems« zu
sei n . Curran machte die treffende Beobachtung, daß die »BBC die Po sition einer quasi-j uristischen Unparteilichkeit hat« . Trotz wi rkli cher
Unterschiede in Organisation und Finanzierung gi l t dies auch für den ITV-Kompl ex , wo es um politische Kontroversen und Ausgewogenheit
geht. Dies heiß t nicht, ,:" ie eurran behauptet ,. daß Rundfunk und Fern sehen völlig autonom smd und nur äußerem Einfluß und Druck unter liegen . Aber sie sind formal unabhängig - relativ autonom . Während
des Gen eralstreiks (1926), in der Frühzeit der BBC, argumentierte Lord Rei th überzeugend, es wäre im besten Interesse der Regierung,
148
Ausgewdhlte
Schriften
die BBC nicht unter ihre Befehlsgewalt zu stellen, wie Churchill es
wünschte, sondern sie als unabhängige Informationsquelle zu belas
sen . Er stellte an den Rundfunk eine doppelte Anforderung : Er soUte »seine Position im Lande selbst bestimmen« und »in der Krise für die Regierung« s ein. Er schaffte die Quadratur des Kreises bei diesem of
fensichtlichen Widerspruch durch eine subtile und delikate Formulie rung : »Da die BBC eine nationale Institution war und da die Regierung
in dieser Kris e für das Volk handelte, war die BBC in dieser Krise auch
für die Regierung. «
Wir haben somit behauptet, daß keine der dominanten Erklärungen
»unabhängig und unparteiisch« oder »voreingenommen« - adäquat ist,. denn sie können das determinierte Verhältn is nicht fassen, in dem
Rundfunk und Fernsehen in unserer Gesellschaft stehen . Nur das Kon
.z,ept der determinierten Struktur erlaubt uns dies.
In diesem Artikel haben wir die ideologische RoHe der Medien erör
tert. Es i st schwer, diesen Begriff genau zu definieren , aber wir haben
ihn auf recht einfache Wei se benutzt. Unter »Ideologie« verstehe n wir
keine hoch systematischen und kohärenten »Philosophien« der GeseU
schaft, sondern die Summe der verfügbaren Wege, die gesellschaftli_ che Wirklichkeit zu interpretieren, definieren, verstehen und zu erklä ren . In jeder Gesellschaft wird die Bandbreite der verfügbaren Ideo lo gien begrenzt sein . Darüber hinaus sind diese »praktischen AnSchau_ ungen« keine vereinzelten Ideen, sondern zu ErkJärungsketten ver knüpft. Sie sind nicht »frei fließend« , sondern determiniert, in be
stimmter Weise strukturiert,. geformt und i n der Gesellschaft verteilt. Obwohl sie einerseits genau die »Ideen in den Köpfen der Leute« dar über sind , was die Gesellschaft ist und wie sie funktioniert, entstehen
diese » Ideen« andererseits aus der Art und Weise, wie die Gesellschaft organisiert ist, sie sind historisch geformt; sie werden durch komplexe soziale Organisationen und unter Verwendung fortgeschrittener tech
nischer Mittel vermittelt und verbreitet.
Darüber hinaus haben sie praktische Auswirkungen , weil es di e Ideen sind, die das Handeln sozialer Gruppen und Klassen organisie_ ren, die Einfluß darauf haben, wie diese Gruppen Realität definie ren wie sie widerstreitende gesellschaftliche Interessen wahrn ehmen
und
daher auch darauf, was Leute tun, wen sie unterstützen und für welche Politik sie sich einsetzen . Ideologien dringen in die soziale und mate riene Organisation der Gesellschaft ein und beeinflu ssen prakti sch e Resultate. Sie sind oder können materiell wirksam werden . Es is t daher von großer Bedeutung., welche Ideen oder »Ideologien« GlaUb würdigkeit gewinnen und ständig benutzt werden , um Probleme �u ..
Die strukturierte
Vermittlung von Ereignissen
1 49
definieren und zu verstehen, welche uns als adäquate Führer durch diese Probleme dienen oder als Landkarte der sozialen Welt und damit konsensuell werden . Die quasi-monopolistische Position von Rund
funk und Fernsehen g ibt ihnen in unserer Gesellschaft eine große kul
turelle Macht darüber, welche Ideen ständig zirkulieren , welche als »legitim« definiert und welche als »irrelevant« oder » marginal« klassi fiziert werden . Dies ist eine Frage ideologischer Macht - und Institu tionen wie Rundfunk und Fernsehen und die Presse, die über die Mittel zur »Definition der Realität« verfügen , spielen zwangsläufig eine ideo logische Rolle, wie lästig diese Tatsache den Berichterstattern auch ist.
Wir haben versucht zu zeigen, warum unser Rundfunk- und Fernseh
system
per definitionem nicht eine einzelne, einfache, monolithische
Gruppe von »herrschenden Ideen« über die soziale Welt verbreiten kann . Aber w ir haben auch gezeigt , warum das Machen von Sendun gen selbst eine ideologische Praxis ist und sein muß, und warum es bei
den Definitionen der Situationen , die Rundfunk und Fernsehen kon struieren� systemati sch die Tendenz gibt , die vorherrschenden sozia len , politischen und ökonomischen Anordnungen, von denen sie selbst ein bestimmender Teil sind, zu begünstige n . Obersetzung : Gottfried Polage
1 50
Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien In diesem Artikel geht es mir um zwei zusammenhängende Probleme.
Zum einen handelt es sich u m die Art und Weise, wie die M edien _ zum Teil vorsätzlich, zum Teil unbewußt - die Frage der Rasse defi
nieren und konstruieren , mit dem Effekt der Reproduktion rassisti scher Ideologien . Zum anderen geht es um die komplizierten Fragen von Strategie und Taktik, die dann entstehen , we�n die Linke in
die
Konstruktionsweise von »Rasse« in den Medien einzugreifen versucht , um die selbstverständl ichen Annahmen , auf denen ein Großteil der Med ienpraxi s fußt, zu dekonstruieren. Wir müssen beide Fragen in ihrem Zusammenhang denken: die oft komplexen und su bti len Weisen , i n denen die Ideologien des Rassis mus in unserer Ku ltur aufrechterhalten werden , u nd die genauso kom
plizierte Frage, was ihnen im praktisch-ideologischen Kampf entge genzusetzen ist. Beides zusammen bildet die Grundlage für eine um.. fas sendere antirassi stische Strategie, i n der wie ich hier zeigen will die Vernachlässigung der ideologischen Dimensionen gefährlic h ist.
Eine Art rassistischen Alltagsbewußtseins durchdringt aus sehr viel fältigen Gründen unsere Gesellschaft. Die Medien arbeiten viel mi t
Wir H il fe
d iesem AHtagsbewußtsein , sie benutzen es als ihre Ausgangsba s i s . müssen Wege und Mittel finden , und zwar dringend, mit deren
wir ein antirassi stisches Alltagsbewußtsein konstruieren kön nen -- in Ergänzung der ebenso dringenden und notwendigen politis chen AUf-
gabe, den offen organisierten Rassisten und ultrarechten Organisatio_ nen den Weg zur Macht zu verbauen. Diese Aufgabe der Popul ari sie_
'
rung antirass istischer Ansichten ist bzw. muß Teil eines breiteren , de mokratischen Kampfes sein , bei dem es nicht so sehr um die rechtsex_
tremi stischen »Hardliner« geht oder gar um die kleine Zahl bereits En
gagierter und
Überzeugter
,
sondern um aUe Aspekte des gesunden
Menschenverstandes in der gesamten Bevölkerung - vor allem in der arbeitenden Bevölkerung, denn sie wird letztendl ich der Grun dpfeil er im Kampf um den Aufbau eines antirassistischen Volksblocks s ein.
Das Thema Rassismus und die Medien berührt unmittelbar di e Frage der »Ideologie«, da die Medien überwiegend in der Sphäre de r
Prod uktion und Transformation von Ideologien operieren. Eine Inter_ vention in die Konstruktion von »Rasse« in den Medien ist daher eine
Intervention in das ideologische Kampffel d . Was die L iteratu r zUm
Ideologiebegriff angeht , so ist da in den letzten Jahren viel trübes Was_ ser den Fluß heruntergeflossen ; hier ist jedoch nicht der Ort, sich
damit theoretisch auseinanderzusetzen .. Ich verwende den Begri ff, ulll
.
Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien
151
mich auf solche Bilder, Konzepte und Prämissen z u beziehen, durch die wir bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens darstellen ,
interpretieren , verstehen und ihnen einen Sinn geben . Sprache und Ideologie sind nicht das gleiche - der gleich e l inguisti sche Begriff (z.B. »Demokratie« oder »Freiheit«) kann innerhalb verschiedener ideol ogisch er Diskurse verwandt werden . Andererseits ist Sprache das wichtigste Medium , in dem die verschiedenen ideologischen Diskurse au sgearbe itet we rden .
Um d as folgende verständli ch zu machen, müsse n noch drei wichti ge Dinge über Ideolog i e gesa gt werden . Erstens, Ideologien b estehen nicht aus i sol ierten und voneinander getrennten Begriffen , sondern aus
der A rtiku lation verschiedener Elemente zu einem bestimmten Satz oder einer bestimmten Kette von Bedeutungen . In der liberalen Ideolo gie ist »Freiheit« mit Individualismus und freier Marktwirtschaft ver
knüpft , in der sozialistischen Ideologie ist »Freiheit« mit dem Kollekti ven verknüpft. Sie i st abhängig von gleichen Lebensbedingungen und
steht nicht im Gegensatz zu ihnen wie in der libera len Ideologie. Der gleiche Begriff wird in der Logik verschiedener ideologischer Diskur se untersch iedlich positioniert . Eine Mög lichkeit de s ideolo gis ch en Kampfes und der Transformation von Ideo1ogien besteht darin, die ein
zelnen Elemente anders zu arti kuH eren und dabei eine andere Bedeu
tung zu prod uzieren - die Kette, in der sie gegenwärtig ihren festen
Ort haben , auseinanderzubrechen (»demokratisch« = der » freie« We
s.ten) und eine neue Artikulation festzuschreiben (»demokratisch « Vertiefung der demokratischen Inhalte des politischen Lebens) . Na
=
türlich ist das »Auseinanderbrechen der Kette« nicht auf den Kopf be schrä nkt - es findet im Rahmen einer gesellschaftlichen Praxis und im politis chen Kampf statt . Zweitens, ideol ogisc he Aussagen werden
von
Individu en getroffen
aber Ideo1ogien entstammen nicht einem individuellen Bewußtsein oder indiv iduellen Absichten. Vielmehr formulieren wir unsere Ab
_
sichten innerhalb von Ideologien. Sie waren vor d en einzelnen Indivi
duen da und bUden einen Teil der determinierenden gesellschaftlichen Formen und Verhältnisse, in die die Individuen hinein geb oren werden.
Wir müssen »durch« die Ideologien hindurch
s preche n , die i n unserer
Gesellschaft wirksam sind, und mit deren Hilfe wir uns au f die gesell
schaftl ichen Verhältnisse und unseren Platz darin »einen Reim machen« .
Von daher ist die Transformation von Ideologien kein individueller, son dern ein kollektiver Vorgang bzw. eine kollektive Praxis. Diese Prozesse wirken überwiegend unbewu.ßt, sie folgen kaum bewußten Ziel setzunge n . Es sind die Ideologien , die versch iedene gesellsch aftliche
Ausgewdhue Schrij1en
1 52
Bewußtseinsformen produz ieren , und nicht umgekehrt. Sie sind dann
am wi rks ams ten , wenn uns nicht bewußt ist, daß der Art, wie w ir eine Auss age formulieren und zusammenbauen, id eologi sch e Prämissen
zugrundel i egen , und wenn es so aussieht, als seien unsere Formulie
rungen nur schlichte B e s ch rei b ungen dessen, w ie die D inge sind .
»Kleine Jungen spielen gerne
Spiele, kleine M ädch en aber s ind süß und niedlich« basiert anreinern ganzen Satz ideologischer Prämis rau he
sen, obwohl diese Aussage ein Aphorismus zu sein scheint, der auf der Natur selbst gründet, nicht darauf, wie Männlichkeit und Weibl i chkeit
historisch und kulturell geseUschaftlich kon stru iert werden . Ideolo
gien haben die Ten denz , hinter der selbstverständl ichen, »)naturalisier
ten« Welt des »gesunden Menschenverstandes« au s dem Bl i ckfeld zu geraten.
Drittens , die Funktionsweise von Ideologien beruht auf der >�Lei ( ind ivi duel len oder kollektiven) Subjekten stu ng« , ihren
Identifikations- und Wissenspositionen zu bauen , die es ihnen ermög_ lichen , ideologische Wahrh e ite n als authentische, originäre Wahrhei
te n zu »äuß ern « . Nicht, weil sie tatsächlich unserer innersten , authenti_
schen , einma li gen Erfahrung entstammen , sondern weil w ir uns in de n Positionen gespi egelt sehen , die im M ittel pu n kt der Diskurse stehe n .. ,
und von denen aus die von uns formu l i erten Außeru ngen » S inn ergeben« . D i e gl ei ch en Subjekte (d . h . ökonom i sch e Klassen oder ethni .. sehe Gruppen) können daher in verschiedenen Ideologien verschi eden
kons truiert werden . Wenn Mrs . Thateher sagt : »Wir können
es
uns
nicht lei sten , uns selbst höhere Löhne zu zahlen , ohne sie durch eine höhere Produktivität zu verdienen« � dann versucht sie im Zentrum i hres Diskurses eine Identifikation für ArbeiterInnen zu konstruieren
,
die sich selbst nicht mehr als in Opposition oder als in e i nem antagoni_
stischen Gegensatz zum Kapi tal stehend sehen , sondern zu nehmend
im Rahmen einer Interessenidentität von Arbeitern und Kapital . Aber au ch dieser Vorgang ist n icht nur eine Frage des Kopfes. Entlas sun ge n sind ein wirksames materielles M ittel ; »Kopf u nd Herz« zu beein_ flussen .
Die Wi rkungsweise von Ideolog ien besteht also in der Transforma _ tio n von Diskursen (der Desartikulation und Reartiku1ation ideolog i _
scher Elemente) und der Transformation (dem Auseinandernehmen
un d Neuzusammensetzen) der handelnden Subjekte. Es sp i el t ei n e Rolle, wie wir uns selbst und uns e re sozialen Beziehungen »sehen1.
:
chen
Kampfes . Dieser Ort existiert nicht unabhängig und iso li en vOn
Die Konstruktion von »&sse« in den Medien
1 53
anderen Beziehungen, denn Vorstellungen u nd Ideen schwimmen nicht frei in den Köpfen der Menschen herum . Die i deol ogisc he Konstruk tion schwarzer Menschen als ein »Bevölkerungsproblem« und die re striktive Polizeipraxis in schwarzen Gemeinden forcieren und u nter mauern sich gegenseitig. Ideologie ist auch eine Praxis. Sie hat eine ei gene spezi fische Funktionswei se. Und sie wird in spezifischen Anord
,
i
I
i
nungen entwickelt, produziert und reproduziert - insbesondere in den ideologischen Apparaten, die gesellschaftliche Bedeutungen »produ zieren« un d in der Gesellschaft verbreiten , in Apparaten wie den M e
dien. Sie ist daher ein Ort besonderer Kämpfe, die nicht einfach auf an
dere Kampfebenen reduziert oder ihnen e i nverlei bt werden können z .B. auf den ökonomischen Kampf, den man manchmal für d ie deter minierende und alles regelnde Instanz h ält . Hier geht es u m das, was -
einmal die »ideologischen gesellschaftlichen Verhältnisse« ge nannt hat, um Verhältnisse, die ihre eigene Zeit und Besonderheit
Lenin
haben . Die Ideologie hat ihren Ort in spezi fi s chen Praxen. Von daher
stellt der ideologi sche Kampf, wie j ede a ndere Form des Kampfes, ei ne Intervention in ein bestehendes Feld von Praxen und Institutionen dar _
Praxen und Institutionen, die d i e dominanten Diskurse der gesell
schaftlichen Sinngebung aufrechterhalten. In der klassischen Definition wird »Ideologie« tendenzi ell al s eine abhängige »)Sphäre« betrachtet, d i e einfach das, was anderenorts ge z . B. in der Produktionsweise - » i deenfo rmig « reflektiert, schieht -
ohne selb st determinierend zu sein oder eine eigenständige Wirksam kei t zu besitzen. Diese Konzeption von Ideologie ist reduktionistisch und ökonomistisch. Natürlich ist die Bildung und Verhreitung von Ide
v o logien determinierenden Bed ingungen unterworfen, on denen einige außerhalb des Bere ichs d er I deologie selbst liegen . Rupert Murdoch und Trafalgar Hause kommandieren durch ihre Zeitungen The Times,
Sunday Times und Express die Ressourcen der institutionalisierten ideologischen Macht in einem Ausmaß" das für keine Fraktion der Linken gegenwärtig erreichbar wäre.. Aber Ideologi e n nehmen nicht auf ewi g den Platz ein, der ihnen von »der Ökonomie« zugewiesen wurde - ihre einzelnen Elemente besitzen , wie Laclau (1981) argu
mentiert hat, »keine notwendige Klassenzugehörigkeit« . So gehört
z.B. »Demokratie« sowohl zu r Ideologie der herrschenden Klasse und meint damit das westliche System einer parlamentarischen Regie
rongsfo rm als au ch zu d en Ideologien der Linken, in denen damit die gegen den herrschenden Block geric htete »Volksmacht« gemeint i s t Natürlich stehen bzw. wurden hi storisch bestimmte ideol og i sc he .
Diskurse in einen eindeutigen Zusammenhang mit einer bestimmten
154
Ausgewählte Schriften
Klassenlage ges tell t , obwohl auch die Köpfe kleiner Geschäftsleute nic ht unbedingt ausschließlich mit »)Mittelstandsideen« gefüllt sind .
(Ein kleiner Geschäftsmann kann sich leichter mit den I nter es s en eines
unabhängigen, selbständigen Kleinkapitalisten identifizieren a l s etwa ein Fließbandarbeiter bei British Leyland. ) Diese »Spuren« , wie Gramsci es nannte, und historischen Verbindungslinie n - das Feld vergangener A rtikulation - erweisen sich als erstaunlich widerständig
gegenüber Veränderungen u nd Transformationen; so ist es anges i c hts der Geschichte de s britischen Impe rial i sm u s außerordentlich schwer,
die Vo rs te llung vom » briti sch en Volk« von ihren nationalistischen Kon notationen zu lösen .
Neue Formen des ideologischen Kampfes können alte » Spu ren « wie de rbeleben .- so wie der Thatcherismus d ie liberale politische Ökono mie wiederbelebt hat. Aber selbst in solchen gut abges ich erten Fällen
sind Transformationen möglich (»das Volk« als Verkörperung nicht »)der un ter der herrschenden Klasse geei nten N ation« , sondern das ge
wöhnliche Volk gegen die herrschende Klasse - kein g le i ches und ei
nigendes Verh ä ltnis , sonder n ein antagoni s ti sches) . Darau s fol gt , es
daß
kei ne feststehende, gegebene und notwendige Form ideologischen
Bewußtseins gibt, die ausschließlich durch di e K J assenlag e diktiert wird . Ein Drittel der britischen Arbeiterklasse betrachtete sich, geht
man nach se i nem Wahl verhalten , regelmäßig als »re c h tmäßi g d en en
untergeordne t , die von Natur aus dazu geboren sind , über andere zu herrs c hen « .
Bei der letzten Wah l von 1979 war es Mrs. Thatcher ei ndeutig gelun
gen , ei nen Teil der qualifi zierten und organisierten Arbeiter dazu zu
b ringen , ihren Widerstand gegen Einkommenspol itik, Lohnkontrolle und die Forderung nach »Wiederaufnahme der Verha ndl ungen « mit
Thatchers eigenem , ganz anders gearteten Konzept der »Regulierung
der Loh nhöh e durch den freien M arkt« gleichzusetzen . So wen ig wi e die Arbeiterklasse für reaktionäre oder sozialdemokrati sche Vor s tel
lunge n u nzugänglich ist, s o wenig verschließt sie sich von vo rn herei n
rassistischen Vo rs tel l u nge n . Die gesamte Ges ch i ch te des Labour-So zialismus und -Reformismus widerlegt die idealistische Hoffnung (die auf einem Ö konomi smus beruht) , d aß die ökonomische Lage der Ar
bei terklasse sie unausweichlich zu einer ausschließlich fortschri ttl i
ch en , antirassistischen oder revolutionären Denkweise füh n. Im Ge gen te i l . Gerade in den letzten bei den Jah rzeh nten konnten wir beob
achten. wie ei nde ut i g rassistische Vorstellungen und Praxen nich t nur Teile der Arbeiterklasse durchdringen , sondern zunehmend in die Orga
nisationen und Institutionen der Arbeiterbewegung selbst eind ri ngen .
1I
I
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Die
Konstruktion von »Rasse« in den Medien
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Sehen . wir uns alsö di e Apparate, die die Id eo l og ien he rvorbringen
und zi rkulieren lassen, einmal näher an . In der modemen Gesellschaft sind die verschiedenen Medien bes onde rs wichtige Orte der Produk tion ' Reproduktion und Transformation von Ideologien. Ideo log ien werden natürlich an viel en Orten der Gesellschaft produzi er t, und nich t nur i m Kopf. D ie Arbeitslosigkeit ist, wie die Thatcher Regi e -
rung nur al lzu gut weiß, neben anderen Dingen auch ein enorm wirksa�
mes i d eo logi sche s Instrument, um die Arbeiter dazu zu bekehren oder
zu zwingen, ihre Loh nforderunge n zu mäß igen . Aber Institutionen
wie die Medien haben h ier eine zentrale Bedeutung, da s ie definitions gemäß Teil der vorherrschenden
ideologischen Produktio ns mittel
sind. Genauer gesagt sind es ihre »Produkte« , die Repräsentationen der Gesellschaft, Bilder, Beschreibungen , Erklärungen und Rahmen , die erklären , wie d ie Welt aussieht und warum sie so funktioniert, wie
sie dem S agen und Zeigen nach funktioniert. Und unter den v ielen ide ologis c hen Produkten befindet sich eben auch die von den Medien konstruierte Definition des sen , was »Rasse« ist, welche Bedeutung die Bilderwelt der »Rasse« trägt und was unter dem »Rassenproblem« zu
ver stehen ist. Die Medien tragen dazu bei, die Wel t im Rahmen der Ka
tegorien von »>Rasse« zu klassifizieren . Die Medien sind nicht nur eine machtvolle Quelle von Vorstell ungen über » Rasse«. Sie sind auch einer der Orte , an dem diese Vorstellungen
art iku liert , transformiert, aus- und umgearbei tet werden . Wir haben von »Vorstellungen« und »Id eol ogi en« im Plural gesprochen , denn es
wäre falsc h und i rreführen d , würden w i r die Medien als etwas betrach ten , das sich einheitlich einer einzi gen rassistischen Weltanschau ung verschworen hat. Innerhalb der Medienwelt wirken li beral e und huma
ne Vorstellungen - z . B. unter vielen FernsehjournalistInnen und bei Zeitungen wie dem Guardian - neben dem expliziteren Rassismus an
derer Journal istInne n und Zeitungen wie dem Express und der MaU. Die S cheide lini e zwischen letzteren und der extremen Rechten ist al lerdings in gewisser H insi cht , z . B. in der Politik der gezielten Rück füh rung von Schwarzen in ihre Heimatländer, sehr dünn. Es wäre e infach u nd bequem , fungierten sämtliche Medien schlicht als Sprach rohr einer einheitlichen un d rassistischen Weltanschauung
der »herrschenden Klasse« . Aber es gibt weder solche einheitlich ver schworenen Medien noch eine einheitlich rassistische ».herrschende Kl ass e « , Ich bestehe nicht auf Komplexität um ihrer selbst will en .
Wenn aber Kritiker der Medien von einem vereinfachten oder reduk
tion i s ti sch en Verständnis ihrer Wi rkun gswei sen ausgehen, machen sie sich z wang släufig unglaubwürdig und schwächen ihre eigene S ach e, da
Ausgewählte Schriften
1 56
die Theorien und Kritiken nicht mehr mit der Wirklichkeit überein
stimmen . Darüber hinaus haben diese Unterschiede und kompl exen Zusammenhänge
reale Auswirkungen , die i n jede ernsthafte politische
Einschätzung über eine mögliche Abwehr oder Richtungsänderung
dieser Tendenzen Eingang finden müssen. Wir wissen z . B. , daß die
Sendeanstalten keine solche staatliche »Unabhängigkeit und Autono mie« besitzen , wie es die offizielle Version will. Aber wenn wir ver säumen, danach zu fragen , warum »Unabhängigkeit« und »relative Au tonomie« für die Funktionswei se der Medien so wichtig sind , und sie statt dessen einfach auf das reduzieren, was wir für ihre wesensmäßige
Natur halten - auf reine Instrumente rassistischer Ideologie oder der Ideologie der herrschenden Klasse -, dann werden w i r u nfähig s e in , ihre Glaubwürdigkeit und Legitimationsgrundlage auseinanderzu neh men, die sie nämlich tatsächlich besitzen, und zwar genau deswegen , weil die »Autonomie« kein reines Betrugsmanöver ist. (VgL S. 126ff. in diesem Band) Außerdem führt es uns zu einer vereindeutigten WeIt
si ch t , in der der Staat nicht als eine notwendig widersprüchliche For mation begriffen wird, sondern als ein einfaches, l eicht durchschauba
res Instrument. Diese Sichtweise mag dem ultraradikalen Bewußtsein schmeichel n , aber sie läßt keinen Raum für den Begriff des Klassen kampfes, und sie bestimmt kein praktisches Terrain , auf dem solche Kämpfe geführt werden könnten . (Wieso sie so lange als »Marx i smus,«
gelten konnte, bleibt schleierhaft . ) Wir müssen uns also mit den kom plexen Wegen befassen, au f denen » Rasse« und Rassismus in den Me dien konstruiert werden , um überhaupt in der Lage zu sein , eine Ver änderung herbeizuführen.
Ein anderer wichtiger Unterschied liegt zwischen dem, was wir »offe
nen« oder ) expliziten« und »impliziten« Rassismus nennen könnten . Mit explizitem Rassismus meine ich die vielen Fälle einer offenen und bevor
zugten Berichterstattung über Argumente und Positionen oder Wortfüh
rer, die eine offen rassistische Politik oder Sichtweise verbreiten . Derlei FäHe gibt es viele; sie haben sich in den letzten Jahren gehäuft; mehr
noch in der Presse, die zum offenen Anhänger extremisti scher, rechter
Pos itionen geworden ist, als im Fernsehen, wo die Regeln von »Ausge
wogenheit«, »Unparteilichkeit« und » Neutralität« gelten. Mit implizitem. Rassismu s meine ich jene scheinbar naturalisierte Repräsentation von Ereignissen im Zusammenhang mit »Rasse« - ob in Fonn von »Ta tsa chen« oder »Fiktion« -, in die rassistische Prämissen und Behauptun_ gen als ein Satz unhinterfragter Vorannahmen eingehen. Diese ennögli
ehen die Formulierung rassistischer Aussagen, oh ne daß die ras sistischen Behauptungen ; die ihnen zugrunde liegen, je ins Bewußtsein drängen .
Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien
1 57
Wir können beide Arten des Rassismus - verschieden kombiniert in den britischen Medien antreffen . Natürlich ist der unverhüllte Rassismus trotz seiner mangelnden Salonfahigkeit politisch gefähr
_
lich. Die offene Parteinahme von Teilen der Massenpresse ist eine
ernstzunehmende Entwicklung. Nicht nur, daß sie offen rassistische
Politik und Ideen verbreiten und sie in die anschauliche populistische
Umgangs sprache übersetzen (in den Sensationsblättern mit ihrer gro
ßen Leserschaft in der Arbeiterklasse) . Die bloße Tatsache, daß solche
Dinge jetzt offen au sgesprochen und verteidigt werden können, ge
nügt,
um ihre öffentliche Äußerung zu legitimieren und erhöht die öf
fentliche Toleranzschwelle gegenüber dem Rassismus. Der Rassismus wird »akzeptabel.: - und nicht allzu 1ange danach » wahr«; er wird zum ge su nden Menschenverstand ; zu dem,. was jeder weiß und was alge l
mein gesagt wird . Aber der i mplizite Rassismus ist verbreiteter und i n vieler Hinsicht heimtückischer, denn er ist weitgehend unsichtbar, -
sogar für die, die die Welt in seinen Begr iffen formulieren .
Beispielhaft für diesen Typ rassistischer Ideologie ist j ene Art von
Fernsehsendung, die irgendein »Problem« der Rassenbeziehungen be handelt. Sie wird wahrscheinlich von einem aufrichtigen liberalen
Fernsehmoderator gestaltet, der hofft , damit in der Welt etwas Gutes für die »Rassenbeziehungen« zu tun, und der bei der Befragung von Menschen , die für die Sendung interviewt werden , eine sorgfältige
Ausgewogenheit und Neutralität bewahrt. Die Sendung endet dann mit
einer Moralpredigt;. verschwänden nur die »Extremisten« auf beiden
S eiten, dann könnten die »nonnalen Schwarzen und Weißen« besser
lernen . miteinander ein harmonisches Leben zu führen . Aber jedes
Wort und jedes Bild derartiger Sendungen ist von einem unbewußten Ras sis mus durchsetzt, denn sie fußen sämtlich auf der ungenannten
und unerkannten Annahme, daß die Schwarzen die
blems s ind
.
Quelle
des Pro
Im Grunde genommen basiert dieses ganze »Pro
blem«-Femsehen über »Rasse« und Einwanderung auf solchen rassisti
schen Prämissen . Das war unsere Kritik in der CARM-Sendung 1t
Ain 't
Half Raeist, Mum ,
u nd sie traf die Moderatoren bis ins Mark
ihrer Berufsehre. Die Kritik untergrabe ihre berufliche Legitimation,
da sie zu verstehen gebe, sie seien parteiisch gewesen, wo sie hätten
au sgewogen und unparteiisch sein sollen. Sie sei ein Affront gegen den
liberalen Konsens und das in Rundfunk und Fernsehen vorherrschende liberale S elbstverständnis. Beide Reaktionen beruhen auf dem grund
sätzlichen Mißverständnis, daß sich Rassismus und liberale Überzeu gung per definitionem gegenseitig ausschlössen - wohingegen die
beiden innerhalb des impliziten Rassismus recht gut miteinander klar
Ausgewählte
158
Schriften
kommen . Und sie basieren auf der Annahme, daß dem Fernsehdiskurs nur dann Rassismus nachgewiesen werden kann, wenn einzelne Mode
ratoren bewuHt und vorsätzlich rassistisch sind . Tatsächlich aber hängt ei n ideologischer Diskurs nicht von den bewußten Intentionen derjeni gen ab, die i nnerhalb dieses Diskurses Aussagen formulieren. Wie wird nun »Rasse� und ihr ))Prob1em« im britischen Fernsehen
konstruiert? Das ist eine komplizierte Th e mati k , und ich kann an die ser StelJe nur kurz ihre Dimensionen beschreiben . Ich bezie he mich dabei auf einige der Themen, die in den heiden Sendungen , an de nen
ich beteiligt war, au sgea rbei tet wurden . Wie wir in The
Whites ofTheir
Eyes zu zeigen versuchten , verfügen die Medien über ein rei chh altiges
Vokabular und eine reiche Syntax über »Rasse« . Der Ra ssismus hat
eine l ange und bedeutsame Geschichte in der b rj ti s chen Kultur. Er wurze l t in den Verh äl tni ssen von Sklaverei , kolonialer E rob eru ng ,
ökonomischer Ausbeutung und Imperialismus, die die Beziehungen der europäischen »Rassen« zu den »Eingeborenen« der koloniali sierten
und ausgebeuteten Periph eri e prägten .
Drei Merkmale bestimm ten die diskursive Machtkoordination der Diskurse� in denen diese B ez i ehungen historisch konstruiert wurd en .
1 . Ihre Bilder und Themen wurden um das fixierte Verhältnis von U n terwerfu ng und Herrschaft po l a ri si e rt . 2. Ihre Kl ischees gruppi erte n sich um die Pole na tü rl ich »überlegener
ger« Arten . 3. B eides wurde aus der »Sprache« der Gesch i ch te in die Sprache der Natur verschoben . Natürliche phys ische Kennzeichen und Rassenmer kmale wurden zu unveränderlichen Zeichen der Minder wertigkei t . Die untergeordnete Stellung ethnischer
Gruppen und Klas
sen ersch ie n nicht al s Resultat spezifisch historischer Verhältn i s se
(Sk l avenhandel • europäische Koloni sation , aktive Unterentwi cklung
der »unterentwickelten<� Gesellschaft) , sondern a]s gegebene Eigen
schaften einer mi nde rwer ti gen Abstammung. Verhältnisse, die durch
ökonomi sche, sozial e , politische und militärische Herrschaft abgeSi chert waren , wurden in eine von der Natur zugewiesene Standesord_ Dung transformiert und »naturalisiert« . So schrieb Edward Long, ein sch arfs in ni ger engl i s ch er Kenner Jamaikas zur Zeit der Sklaverei in
seine r Geschichte Jamaikas von 1774 - ganz so , wie Zeitgenossen Eli sabeth I . über die »Great Chain of Bein g« ge sprochen haben kön nten
- von »Drei S tu fen des Menschen (der [siel] Weiße, Mu latte, Schwar_ ze) , di e voneinander abhängen und in einer besti mmten Stu fen fOlge
einzuordnen sind , in der die Weißen die höchste Stufe ejnnehmen� . Was wir in unserer S en du ng u , a . beschreiben wol lten , war das
gessene« Ausmaß, i n dem
zur
» ve r Zeit der Sklaverei und des Imperial ismus
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Die Konstruktion von »,Rasse« in den Medien
159
die Massenliteratur mit diesen verfestigten Negativattributen der kolo nisierten Rassen durchsetzt war. Diese zugeschriebenen Eigenschaften finden wir in Tagebüchern und Berichten, Notizbüchern, ethnographi s cben Protokollen und Kommentaren von Reisenden , Forschern, Mis
sionaren und Verwaltungsbeamten in Afrika, Indien, dem Fernen
Osten und in Nord- und Südamerika. Und noch etwas ist wichtig: Das
»abwesende«, aber alles beherrschende »weiße Auge« , der ungenannte Standort, von dem aus a11 diese »Beobachtungen« gemacht werden und von dem aus sie allein einen Sinn ergeben. Es ist die Geschichte der Sklaverei und der Eroberung, geschrieben , betrachtet, dargestellt und fotografiert von den Siegern. Sie kann von keinem anderen Standpunkt aus gelesen und mit Sinn versehen werden. Das »weiße Auge« befindet sich stets außerhalb des Rahmens _ aber es sieht und ordnet alles, was da rin ist. ..
Einige der vielsagendsten Szenen, mit denen wir arbeiteten, stamm ten aus frühen Filmen über die Britischen Raj in Indien - heute die Quelle endloser Radio-»Rerniniszenzen« u nd historischer Parade· stücke im Fernsehen . Die Annahme lässiger Überlegenheit struktu riert j edes Bild - sogar die Anordnung im BHdfeld : im Vordergrund das kolo niale Leben (Tea-time auf der Plantage) , im Hintergrund die eingeborenen Träger. In den späteren Stadien der Hochzeit des Impe
rial ismus wuchert dieser Diskurs durch die neuen Medien der Massen kultur und Massenpresse - Zeitungen und Journal e, Karikaturen , Zeichnungen , Werbung und Unterhaltungsroman . Gegenwärtige Kriti ker imperialistischer Literatur sind der Meinung, daß wir, wenn wir unser Vers tä ndnis der Belletristik des 19. Jahrhunderts über den einen Zweig der »gehobenen Literatur« auf die Massenliteratur ausdehnen , neben dem bürgerlichen Roman einen zweiten mächtigen Strang engli scher literarischer Imagination finden würden: die männlich be
herrschte Welt imperialer Abenteuer.
Ich erinnere mich an einen Di
plomanden, der über die Konstruktion von »Rasse« in der Massenlite· tatur und Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts arbeitete und völlig ver zweifelt zu mir kam : der Rassismus war dermaßen allgegenwärtig und zugleich dermaßen unbewußt
-
einfach selbstverständlich -, daß, es
unmöglich war, ihn irgendwie in den Griff zu kriegen . In dieser Zeit wurde die Vorstellung VOll Abenteuer gleichbedeutend mit der Demon
stration moralischer, sozialer und physischer Herrschaft des Kolonisa tors über den Kolonisierten. Später marschierte dieser Begriff von »Abenteuer« - eine der Hauptkategorien moderner Unterhaltung schnurstracks in
die Kriminal-
_ ..
über die Druckseiten
und Spionageliteratur, in die Kinder-
Ausgewählte Schriften
160
bücher, die großen Hol1ywood-»Schinken« und Comics . Und dort gibt es ihn noch, period isch wiederkehrend, bis heute. Viele dieser älteren .
Fassungen sind d urch die Zeit etwas abgeschliffen. Sie s ind uns scheinbar fremd geworden durch unser überlegenes Wissen und unse
ren Liberalismus . Aber dennoch erscheinen sie immer wieder erneut
auf dem Bildschirm , besonders in Form »alter S trei fen « (einige dieser »alten S trei fen« werden natürlich nach wie vor produziert) . Wir kön
nen ihre ständig wiederkehrende Resonanz besser fassen, wenn w ir ei
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nige der Grundb i l der in der »Grammatik der Rasse« identifizieren . Da gibt es z . B die vertraute Sklavenfigur: zuverlässig und auf eine
ei nfach e , kindliche Weise liebend - die h i ngebungsvol le »Mammy« mit den rol lenden Augen oder den treuen Feldarbeiter oder Hausdie ner, der »seinem« Herrn zugetan und ergeben ist. Der bekannteste Hol
lywood-»Schinken«
(Jbm
Winde verweht) enthält von beiden reichhal
tige Varianten . Die Figur des Sklaven ist kei neswegs beschränkt auf Filme und Sendungen über Sklaverei. Manche »Rothäute« und viele
Asiaten sind i n dieser Ve rkleidung auf de r Leinwand erschienen. Eine tiefe und unbewußte Ambivalenz du rchzieht diese Klischees. Sind die »Sklaven« auch treu und kind lich , so sind sie zugleich unzuverl ässig
und unberechenbar
-
imstande, » unangenehm« zu werden und verrä
terische Komp l otte zu schmieden, verschlossen, argli stig und mörde risch, sobald ihr Herr oder ihre Herrin sich umdreht; und auf uner klärliche Weise neigen sie dazu, bei der geringsten Gelegenhe it in den
Busch zu ver sc hw in den . Die Weißen können sich nie sicher sein , ob dieser kindische Einfaltspinsel -»Sambo« - nicht hinter vorgehalte
ner Hand die weißen Manieren seines Herrn verspottet, selbst d ann , wenn er sich bemüht, die weiße Kultiviertheit nachzuäffen .
Ein anderes GrundbiJd ist das des »Eingeborenen« . Die gute Seite dieser Figur wird als eine Art p rimiti ver Adel und als ei nfache Würde
gezei gt. Die schlechte Seite als Betrug und Arglist und darüber hi naus als Wildheit und Barbarei . Bis heute wimmelt es in der Massenkultur
von zahllosen wilden und ruhelosen »Eingeborenen « , und die
Tonauf
nahmen wiederholen beharrlich den dröhnenden Laut nächtlicher
Tromm el n , die Andeutung primitiver Riten und Ku l te . Kan ni bal en ,
herumwirbelnde Derwische,
prächtig herausgeputzte indiani sche
Stammesangehörige drohen beständig die Leinwand zu übe rfluten .
Man sieht sie jeden Augenblick aus der Dunkelheit auftauchen , um di e
schöne H eIdi n
zu
enthaupten, die Kinder zu kidnappen , das Lager nie
derzubrennen ; sie drohen, d en unschuldigen Forscher oder den Kolo nia1verwalter und seine Gattin zu kochen und aufzufressen . Sol che
»Eingeborenen« bewegen sich stets als eine anonyme gemeinschaftliche
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Die Konstruktion von »Rasse( in den Medien
161
Masse - i n Stämmen oder Horden . Ihr Gegenstück ist stets die Figur des einzelnen Weißen, der - ganz allein »da draußen«
_ ..
seinem
Schicksal die Stirn bietet oder im »Herz der Finsternis« (Joseph Con rad, 1902, Vorlage für »Apocaly pse Now«) die Bürde auf sich nimmt (R. Kipling, The White Mans Burden) , unter Beschuß Gelassenheit
und eine unerschütterliche Autorität demonstriert - er bändigt die re bellischen Eingeborenen oder erstickt den drohenden Aufstand mit einem einzigen Blick sei ner stahlblauen Augen. Die dritte Variante ist die des »Clowns« oder »Entertainers«. Sie fängt sowohl den »angeborenen« Humor als auch die körperlich e
Geschmeidigkeit des professionellen Unterhaltungskünstlers ein , der für »die anderen« eine Show abzieht . Wenn wir seine phys ische und
rhythmische Anmut bewundern , die offene Ausdruckskraft :und Emo tionalität des »Entertainers«, oder w enn uns die Du mmheit des
»Clowns« aus der Fassung bringt, ist niemals ganz klar, ob wir mit ihm
oder über ihn lachen. Was man bei all diesen Bildern feststeHt, ist ihre tiefe Ambivalenz die doppelte Vision des weißen Auges, durch das sie betrachtet wer. den . Der primitive Adel des alternden Stammesangehörigen oder Häuptlings und die rhythmische Anmut der Eingeborenen enthalten
sowohl die Sehnsucht des Zivili sierten nach einer für immer verloren gegangenen U nsch u ld als auch die Gefahr der Zivilisation , überrannt
oder unterwandert zu werden durch die Rückkehr der Barbarei , die stets dicht unter der Oberfläche lauert, oder durch eine rohe Sexuali
tät , die »auszubrechen« droht. Gute wie böse Seiten sind beides Aspek te eines Primitivismus. In diesen Bildern wird Primitivismus definiert durch die solchen Menschen anhaftende Naturnähe. Ist nun aU dies,. wie' wir manchmal annehmen, so weit entfernt von der Repräsentation von »Rasse« ; wie sie u nsere Bildschirme heute füllt? Die spezifischen Versi onen mögen verblichen sei n . Aber ihre
Spuren können wir noch immer in umgearbeiteter Form in vielen neu eren und moderni sierten Bildern finden . Und auch wenn sie eine ande re Bedeutung zu tragen sc hei nen , sind sie oft nach wie vor da , wohlauf und quicklebendig, als Guerilla-Armee und Freiheitskämpfer in Ango la, Zimbabwe oder im namibischen »Busch{( . Schwarze sind immer
noch die angsteinflößendsten , gewieftest.en und blendendsten Schieber (und Polizisten) der New Yorker »Bullen«-Serien. Sie sind leichtfüßi
ge, Unsinn qu atschende Untermenschen, die Verbindung Starsky und
Hutch zum drogen-durchtränkten Ghetto. Die hinterlistigen Schurken
und ihre bulligen Schlägertypen in der Vlelt von James Bond und s einer NachkotnJIienschaft werden gewöhnlich immer noch von »irgendwo
Ausgewählte Schriften
1 62
da draußen« i n Jamaica rekrutiert,. wo die Barbarei noch andauert.
Das
sexuell verfügbare »)Sklavenmädchen« lebt und gedeiht, es schweb t dahin in exotisc hen Fernsehfilmen oder auf Taschenbuch -Umschlä gen, obwohl sie j etzt , i n ein g li t zerndes G ewand geh üll t und von einem
Chor au s Weißen umrahmt , im Zentrum beso ndere r B ewu n de rung steht. Primitiv ismus, Barbarei , Tücke u nd Unzuverlässigkeit - alles
»dicht unter der Oberfläche« - können noch immer an den Gesichtern
schwarzer Politiker in der ganzen Welt , die hei mlich die Unterwe r fun g
der »Zivilisation« planen , abgel e sen werden : So w u rde z . B. Robert M ugabe - b i s zu dem Zeitpunkt, an dem er sowohl einen Krieg als auch eine Wahl gewann und,. zumindest zeitweise, der beste (weil poli ti sch glaubwürdigste) Freund wurde - von Großbritannien auf diesem
l etzten Außenposte n des Edwardischen Traums belassen . Die
weiße Version des »Otd
Coontry« ist immer noch ein h äufige s
Thema nostalgischer Dokumentafsendungen: ) OId Rhodesia « , dessen
ma n ja erwarten konnte, im Nebengebäude Ve rrat ausbr ü teten und s i c h hei mli ch hi nwegs tahl en , um sich mit der ZAPU im Busch zu verei n igen . . . Stammesmänner im g rü nen Khaki . S chwarze Stegreifkomiker bes tätigen immer noch ihre zwiespältig e Aufnahme in den britischen Unterha] tungssektor: sie sind di e e rs ten , die einen rassistischen Witz erzählen . Kein Staatsbesuch d er Queen im Commonwealth i st vol1 s tändig ohne eine Truppe hin - und herwoge nde r Körper oder ohne ei n e beri tten e , hul d i gende Gruppe von Stammes m änn ern . Schwarze können s ich ja s o gut b ewegen , so rhythmisch , so verläßl iche D iener, wie
und kehren in den
natürlich . Und die A bhängi gen , die keinen Tag ohne den Schutz
das Wi ssen ihrer weißen Herren auskommen könnten , h ungernde n Opfern de.r Dritten Welt wieder, wo sie p a ssiv auf die An
unseres Mit leids. Sie werd en nicht a] s die Objekte s tändi ger Au sbeutung und Ab hän gigkeit oder der weltweiten Verteilung von Arbeit und Reichtum dargestellt . Sie sind Opfe r de s Schic ksals .
kunft von Te chno log i e und Hilfe
warten,
als Gegenstand
Diese neueren , au fpoli erten und modernisierten Bilder scheinen die
alte Welt von »Sambo« hinter sich gelassen zu haben. Ja, viele von ihnen sind Brennpunkt versteckter, verbotener, genüßlicher abe r tabui sierter B ewunderung . Viele bes i tzen aktivere und tatkräftigere Eigen sch aften --.: z . B. einige der schwarzen Athleten und natürlich die Enter
tai ner. Aber die Konnotati onen u nd Echos, die sie auslösen, hallen VOn sehr we i t her w i der. Sie formen nach wie vor das Bild der Weißen von
den Schwarzen - auch wenn der weiße Abenteurer ni c ht als Sanders ofthe River (Koloni al film der 30er Jahre ) den Dschungelfluß entlang_
segelt , sondern als Stanley oder Livingstone in einem historischen
Die Konstruktion von »Rasse« in den .Medien
1 63
Film; und auch wenn das , was gezeigt werden soll , nicht mehr die Bru talität, sondern die Heiterkeit des afrikanischen Dorflebens ist: die Sit
ten
eines alten Volkes, »unverändert bis in die moderne Zeit hinein«
(oder
rs
ande
ausgedruckt: in unseren anthropologischen Augen sind
sie immer noch konserviert in ökonomischer Rückständigkeit, einge
fro ren in der Geschichte durch ihnen unbekannte Kräfte, die - wie es sc heint - auf der Leinwand nicht zeigbar sind) . »Abenteuer« ist die eine Form, in der wir »Rasse« begegnen , ohne dem Rassismus der eingesetzten Perspektiven ins Auge sehen zu müs
sen . Eine weitere, noch komplexere Form ist die »Unterhaltung« . Im
Fernsehen wird schar f getrennt zwischen »ernsthaften« , i nformative n
Sendungen, die wir uns ansehen , weil es gut für uns ist, und der »Un
terhaltung«, die wir uns ansehen , wei l es Spaß macht. Und die reinste Form von Vergnügen in Unterhaltungssendungen ist die Komödie. Die Komödie ist per definitionem eine freigegebene Zone, l osgelö st von allem Ernst. Alles ist »netter, sauberer Spaß« . Im Reich von Spaß und
Vergnügen ist es verboten, ernsthafte Fragen zu stellen, weil es so puri�
tanisch klingt und den Spaß verdirbt. Dennoch ist »Rasse« eines d er wichtigsten Themen in Situationskomödien . Sie werden auf ordentli
cher »antirassistischer« Grundlage verteidigt: Das Auftreten von Schwarzen neben Weißen in Situationskomödien, so wird argumen tiert, trägt dazu bei , ihre Anwesenheit in der britischen Gesellschaft natürlich und normal zu machen. Und ohne Zweifel funktioniert das
auch so in ein igen Fällen. Aber wenn man die Anlässe der Scherze ge
nauer untersucht, wird man - so wie wir in unseren zwei Sendungen _
oftmals feststellen , daß diese Komödien Schwarze nicht einfach ein
bezi ehen : es geht dort um »Rasse« . Die gleichen alten Kategorien rassi stisch definierter Charaktere und Eigenschaften und die gleichen Ver hältnisse von
Über-
und Unterlegenheit bilden den
Angelpunkt , um
den sich die Witze dann drehen, die Spannungspunkte, die die Situa tion in den Situationskomädien herbeirufen und verändern. Aber die
Komik-Schublade, in der sie stecken , schützt und bewahrt den Zu schauer davor, seinen unbewußten Ra ssi smus einzugestehen Sie pro .
voziert Dementis.
Das gilt noch viel mehr für die Stegreifkomiker im Fernsehen, deren Repertoire in den l etzten Jahren zu ungefähr gleichen Teilen von sexi
stischen und rassistischen Witzen beherrscht wird. Manchmal hört ID.a n, wiederum zu ihrer Verteidigung, daß dies ein Zeichen für die Akzeptanz der Schwarzen sein müsse. Aber es könnte auch einfach sein , daß Rassismus normaler geworden ist
schwer zu sagen . Man
sagt auch , daß die besten Erzähler antijüdischer Witze selbst Juden
Ausgewählte Schriften
1 64
seien, genauso wie Schwarze auch d ie besten, gegen sich ge rich teten »weißen« Witze erzählen. Aber diese Argumentation tut so, als ob Witze in einem Vakuum existierten > völli g lo sgel ö st vo n d en Zusam men hänge n und Situatio n en , in denen sie erzäh lt werden . Jüdische
Witze . die Juden unter s i ch erzählen, sind Bestandteil des Selbstbe
wußtseins der Gemeinschaft. Ihre Wirkung wird kaum dadurch er
zielt, daß sie über die »Rasse« herzi ehen , denn sowohl Erzähler a l s
auch Zuhöre r geh ör en unter den glei ch en Bedingungen zur seIben
»
Rasse « . Werden rassi s ti sche Witze jed och über die Rassenschranke
hinaus erzählt und unter B edi ngungen , i n denen Verhältnisse »ras
sisch« begründeter Minderwertigkeit und Überlegenheit vorherr
schen , dann ve rti efen sie d ie
Unterschiede
und reproduzi e ren die Uil
g le i ch en Bezi eh u ngen . Denn in dieser S i tu ation basiert d i e Pointe auf dem Vorhandensein von Ras si smu s . So reproduzieren sie die Katego rien und Verhältnisse des Rassismus, indem sie sie durch das Lachen normalisieren . Die erklärtermaße n guten Absichten der Witze-Erzäh
ler sind h ier keine Lösung des Probl em s , denn die Witze-Erzähler haben keine Kontrolle über die Umstände - Umstände eines andau
ernden Rassismus -, in denen ihr Witz-Diskurs gelesen und gehört
wird . Die Zei t mag kommen � wo Schwarze und Weiße s i ch gegen s e iti g Witze über sich erzählen können , ohne die rassistischen Katego r ien der We l t , in der sie erzählt werden , zu rep roduzieren . In Großb ritan nien ist die Zelt dafür mit Sicherhei t noch nicht reif. Zwei wei tere Schauplätze, die wir in heiden S endungen zu beschrei ben versuchten , beziehen sich auf d i e »ernstere« Fernsehp rOdUktion
Nachri chten und aktuelle Berichterstattung. Hier w ird »Rasse« al s
_
Pro
blem ko nstrui e rt und als Anlaß für Konflikte und Disku ssionen . Es gab durchaus gute Beispiele fü r Sen dungen , in denen die Schwarzen nicht au ssch li eßlich als Ursprung des »Problems« auftauchten, und in denen
ihnen nicht ausschließlich die aggressive Urheberschaft zur Last ge legt
wurde. Aber im al l g emei nen tendieren die Sen du ngen in di esem Be� reich dazu , die Schwarzen
Existenz (ihre »Zahl«)
-
insbesondere die bl oße Tatsache ihrer
al s den Auslöser eines Problems für die
weiße Gesellschaft En gla nd s zu betrachten . Sie er sc h einen als Geset zesbrecher m i t verbrecherischer Veranlagung, die »Scherereien« m a chen, als koll ektiver U rheber gesell schaftlicher Ruhe störu ng . Jedesmal , wenn schwarze Gemeinden auf rassistische PrOvo kat io
nen (wi e in Southall) oder auf Schikane und Provokation sei tens der
Pol izei (wie in
B ri stol )
reag i erten . ging en die Medien tendenziell
davon aus, daß das » Recht« auf der Seite d e s Gesetzes stand , und sie sprachen von »Krawall« und »Rassenkriegsführung<� und nährten damit
I
J
D'ie Konstruktion
von »Rasse« in den Medien
1 65
die bestehenden Klischees und Vorurteile. Die die Auseinandersetzun gen herbeiführenden Umstände sind gewöhnlich abwesend: so
-
um
nur zwei aktuelle Beispiele zu nennen - die skandalöse und provozie rende Demonstration der
National
Front durch eine der größten
schwarzen Bezirke, durch Southall , und die unzähligen Polizeirazzien
im letzten Zufluchtsort schwarzer Jugendlicher, die Bristol explodie ren ließen . Diese Zusammenhänge fehlen entweder völlig oder werden so spät in den Prozeß der Sinngebung einbezogen, daß sie die vorherr schenden Definitionen dieser Ereignisse nicht verdrängen können. So sind sie ein weiteres Zeugnis der ze rstörerischen Natur der schwarzen und asiatischen Völker an sich .
Die Analyse der Berichterstattung über Southall zeigt, wie rasch die Med ien, Fernsehen wie Presse, durch die offiziellen Polizeierklärun gen mit der autoritativen Definition des Ereignisses versorgt wurden.
Jene ordneten, was ein- und ausgeblendet wird, und formten die Be richterstattu ng der Medien und ihre Erklärung der Vorfälle. Indem sie sich nach den autoritativen Quellen richteten , reproduzierten die Me
dien eine Darstellung des Ereignisses, die - mit einigen wichtigen Ausnahmen
den Kampf zwischen Rassismus und Antiras sismus
übersetzte in a) einen Kampf zwischen Asiaten und Pol izei und b) einen
Kampf zwi schen zweierlei Arten des Extremismus: den sogenannten
rechten und linken »Faschismus« .
Das führte dazu , daß die beiden zentralen Probleme der Southall Affare he runterges pielt wurden: die Stärke und wachsende legitima
tion der extremen Rechten und ihre dreiste provozierende, gegen die Schwarzen gerichtete Politik der Straße einerseits , und der Rassismus
und die Brutalität andererseits . Beide Themen mußten dem Programm der Medien durch militanten und organisierten Protest aufgezwungen werden . Die meisten Presseberichte waren so sehr mit der Aus
schmückung grauenerregender Details über »umherziehende Horden fa rbi ger Jugendlicher« , die junge Weiße » mit einem Brotmesser« j age n , beschäftigt, daß sie versäumten , den Tod des von der »Special
Patrole Group« erschlagenen australischen Lehrers, Blair Peach , auch nur zu erwähnen .
Ein gutes Beispiel dafür, wie die wirklichen Ursachen der Rassen auseinandersetzung durch den von den Medien gesetzten Rahmen ver
s chluckt und transformiert werden können , ist die Southall-Bericht erstattung von Nationwide (allabendliche Regional-Berichterstattung) einen Tag nach den dortigen Ereignissen. Diese Sendung wurde von zwei i neinander verschränkten Erklärungsrahmen beherrscht. Im er
/'
sten wird die Auseinandersetzung ' verschwörerisch als links-außen
1 66
AusgewtJ..hlte Schriften
gegen rechts-außen
-
Anti-Nazi League gegen National Front
-
ab
gebi1det . pas i st die klassische Fern sehlogi k , bei der sich die Medien m it dem gemämgten. konsensuellen, neutralen Durchschnittsbetrach ter identifizieren und im Kontrast dazu den Extremismus beider Seiten
h erau ss treichen und dann miteinander gleichsetzen . In dieser spezifi sche n Üb u ng in
sch i s mu s als
schlecht,
»
Au sgewogen he it« werden Faschismus und Antifa
Gleiches
prä sen tiert - beide sind gl e icherm aßen
den n die Mitte bewahrt unter allen Umstä nden das Wohl
aller. Dieser Bal a n ceakt eröffnete Martin Webster von der National Front di e M ögl i ch kei t , auf dem Bildschirm zu erscheinen, um das Ter
rai n der Diskussion mitzubestimmen: »Nun« , sagte er, »wir sollten uns
über d ie Trotzkisten, Ultrakommunisten der verschiedensten Sorten , über hysterische Marxisten und andere dazu pa s se nde linke Spinn er
unterhalten .« Ein ordentlicher Rundumschl ag also. Dann, nach einer
überleitenden Passage - » Southal1 , ein Tag später« - Übergang zum zweiten Erklärungsrahmen ; krawallmachende As iaten vs . Pol ize i . »Ich habe gestern abend ebenfalls Fernsehen gesehen « , äußerte Mr. Jardine,
der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, »und ich habe mit Sicherheit kei ne Pol izisten Stei ne werfe n sehen
. . .
Also kommen Sie mir nicht
damit. « Die Stärke des o rgani s i erten , pol i t i sche n Rassismus u nd die Umstände, die
ihn h erau fbeschwore n , waren für Nationwide als eine mögliche alternative Problemstellung schlichtweg u!1s i chtbar. Im CARM -P rogranml 1t Ain 't
HalfRacist, Mum vers uchten
wir die
Wi rku ngsweise des impliziten Rassismus in einer anderen S end ung zu beschreiben : i n der »Großen Debatte« der BBC über Einwanderung .
Wir brauchten hier gar nicht erst mit irgend we lc h en vorgefaßte n Mei
nungen anzufangen , am w eni gsten mit Spekul ation über die persönli
chen Ansich ten der betei li gten Moderator,?n über »Rasse«. Es genügte ,
sich das Prog ramm mit einem bestimmten Fragenkamlog im Kopf an
zus ehe n : Hier gibt es ein Problem , das definiert wird als »das Einwa n derungsproblem« . Was ist das? Wie wird es durch die S e ndun g defi ni e rt und konstruiert? Welcher Logik fol gt die Definition? Und von was 1eitet sich diese Logik selbst ab? Ich denke, die Antworten sind klar. Das Einwanderungsproblem be s teh t dari n ,. daß »es hier zu v iel e
Schwarze gibt« , um es klar auszudrücken . Defi n iert wird
es durch die
Zahl der Schwarzen u nd mit der Frage, was man dagegen tun kan n . Die Logik des Arguments lautet:
Schwarze = zu viele davon = schi c kt sie nach Hause« . Das ist eine rassistische Logik . Und sie stamm t aus e iner Argumentationskette, deren Vertreter Enoch )}
E inwa nderung
=
PoweH war. Der Powellismu s war die Tage s ordnung t an die sich die
Med i en hielten. Jedesmal (und das geschah weitaus öfter als die
fünf
Die Konstruktion von »Rasse« . in den Medien
1 67
oder sechs Male, die wir in unserer S endung dokumentiert
haben), wenn der Moderator versuchte, die Grundlinie der S endung vorzuge ben , auf die s ich die anderen beziehen sollten, verwies er au f die Sicht weise von Mr. Powell . Und jedesmal, wenn einer von d ieser »Logik« abwich und die zugrundeliegenden Prämissen h interfragte , wurde er wieder mit einem »wie Mr. Powell sagen würde« zurückgeholt.
Daraus folgt mit Sicherheit nicht (und mir ist nichts bekannt, was dies n ahelegen würde), daß Rob i n Day sich dieser Linie versch riebe n hätte oder mit Mr. Powell über irgend etwas in bezug auf »Rasse« über
e instimmen würde. Ich weiß absolut nichts über seine Ansichten von »Rasse« und Immigration. Wir h abe n auch keinerlei Urteile über seine
Ansichten gef,iUt, da sie für uns ere Argumentation keine Rolle spi el
ten . Wenn d i e Medien auf eine systemat isch rassistische Weise operie
aktiven Rassisten betrieben und organisiert werden ; das wäre ein Fehler i n den Katego rien . Es käme der B ehaup tu ng gl eich , man kö nn e den Charakter des kapi tali stisc hen Staates durch den Austausch seines Personals verän dern. Dagegen haben sowohl die Medien als auch der Staat eine Struk tur, einen Kompl ex von Praxen , d ie nicht auf die dar in angestellten In dividuen reduzierbar sind. Das, was die Funktionswei se der Medien definiert , ist das Resultat einer Reihe ko mplexer� oftmal s widersp rüch licher gesell schaftlic her Bezi ehungen und nicht d ie persönl ichen Mei nungen der Medienangehörige n. Wichtig ist nicht daß diese ein e ras ausge hend von einer vermeintlich si s ti s c he Ideol og ie produz ieren ei nzi gen und einheitlichen Weltanschauung -, wichtig ist vielmehr; daß sie so wirksam durch einen spezi fi schen Komplex ideologisch er ren , dann nicht deshalb, weil sie ausschließlich von
,
-
Diskurse gebunden , »ausgesprochen« werden . Die Macht dieses Dis
kurses l iegt in seiner Lei s tu ng , eine Vielzahl von Ind ividuen zu b ind en _ Rassisten , Antirassisten, Liberale, Ra dikale, Konservative, Anar chisten , Nichtwisser und s chweigende M ehrh eitler.
Dennoch stimmte das, was wir über den Diskurs des Prob lem -Fe rn sehens gesagt haben, und zwar nachweisbar, trotz der verletzten Ge fühle einzelner Individuen . Die Prämisse, auf der die »Große Einwan de rungsdebatte ( au fbau te u nd die aufgestel lte Argumentationskette waren rassistisch. Die Beweise dafür liegen in dem, was gesagt und wie es formuliert wurde . Wenn das Thema eingeführt wird mit »die Zahl der Schwarzen ist zu hoch« oder »sie vermehren sich zu schnell« , dann ist die Opposition daran gebund en oder genötigt, damit zu ant� worten , daß »die Anzahl nicht so hoch ist, wie sie angegeben wird«. Dies e Sichtweise richtet sich gegen die beiden ersten, bleibt aber in d ers elben Logik gefang en - in der Logik d es »Zahlenspiels«. Liberale, �
,
Ausgewählte Schriften
1 68
Antirassisten , ja zornige Revolutionäre können sich so »frei« in dieser Debatte äußern - und sind tatsächlich auch oft dazu gezwungen, um die Sache nicht durch Passivität zu verlieren. Allerdings, die Bedin gungen der Diskussion zu verändern, die Annahmen und Ausgangs pu nkte in Frage zu stellen, die Logik zu brechen - das ist eine gänz lich andere, la n g",,:ieri gere und schwierigere Aufgabe. Ein Moment des Kampfes liegt darin, die D i su ssion um »Rasse« an einer anderen Stell e zu beginnen . Das aber setzt voraus, daß das sicht bar gemacht wird , was gewöhnlich unsichtbar ist: die Annahmen , auf denen die jetzigen Praxen beruhen . Man muß bloßlegen,. was man aus einandernehmen will . Natürlich ist das nicht die einzige Interventions möglichkeit - und ein Problem der Strategie-Diskussion in der Lin ken besteht in eben dieser ihrer Inflexibilität: in der Annahme, daß es nur einen Schlüssel zu r Tür gibt. Das war auf jeden Fall der wichti gste (wenn auch n icht einzige) Grund dafür, warum die Gruppe , die die letzte Passung der CARM-Sendung vorbereitete, sich dafür entschie den hat, kein absolutes, alles umfassendes Resümee über den Stand der antirassistischen Sache - in fünfundzwanzig Minuten anzustreben , s on d ern sich statt dessen an das vorgegebene Terrain zu halten (wir su chen uns das Kampffeld n icht selbst aus) und sich ein sehr spezifi sches Ziel zu setzen . Ku rz eine Sendung über Medien und Rassismus zu machen , in den Medien. gegen d i e Medien . k
,
Das ist einer der zentralen Kri tikpunkte an der CARM-Sendung: Sie habe sich zu sehr mit der Entlarvung der Medien befaßt und nicht gene reU die Sache des Antirassismus vertreten. Über diesen Punkt kann es was auch der Fall ist � grundsätzlich geteilte Meinungen geb en AI, lerdings haben es die Kri ti ker wie ich fürchte, vorgezogen, diese Unter schiede nicht auf die grundsätzliche Problematik politischer Einschät zung zurückzuführen, sondern auf )}mangelndes Zutrauen« unsererseits (vgl. Z.B. Gardner und Henry) . Ich war der Ansicht, daß die begre nzte Mögl ichkeit die Open Door bot, mit al1 den Problemen (außerhal b der Hauptsendezeit, niedrjges Budget,. wenig Studiozeit, begrenzter Zugang zur Ausrüstung etc.) arn be sten zu nutzen war, indem wir ein bestimmtes die Medien ein einziges Mal gegen die herr Ziel im Auge behielten schende Praxis der Medien selbst zu .lesen und damit ei n iges über ihre normale Funktionsweise zum Vorschein zu bringen . Das bedeu tet , die zu behandelnden Themen einzuschränken , eher Schmalspur zu fahren als ein Sperrfeuer über Geschichte und Ursachen des Rassismus im all gemeinen loszulassen . Viell eicht war das falsch Wenn, dann lag d as aber nicht unbedingt daran, daß wir unsere »linken« Nerven verloren hätten worin so scheint mir der größte und geläufigste Vorwurf liegt. -
.
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Die Konstruktion von »Rasse«
in den Medien
1 69
Eine weitere K r itik bezieht sich auf den Adressatenkreis. So kritisie
re n z .B. Gardner und Henry an der CARM-Gruppe, daß sie sich an das » allgemeine Publikum« wandte , was ih rer Meinung nach der Übernah me de s traditionellen Medienstandpunktes gleichkommt, der im Publi kum eine undifferenzierte, passive Masse sieht. Sie hätten es vorgezo gen , wenn die S endung �die schwarze, l inke und anti rassistische Bewe gung mit Instrumenten und Wissen über die Funktionsweise des Fern
seh -Ras si smus ausgestattet hätte« (G ardnel' / Henry 1979,
275) . Auch
hier hande l t es s ich um eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit.
Die andere Sich twei se - die meinige - geht davon au s , daß s chwarze , linke und
antirassistische
Gruppen ,
schen Kampf engagieren, zu
die
sich bereits im antirassisti
den letzten gehören,
die darüber aufge
klärt werden müssen, wie der Fernseh-Rassismus funktioniert -
schon gar nicht in einer fünfundzwanzigminutigen Sendung auf einem öffentlich-rechtlichen Kanal . Die o rgani sierten Aktivisten sind für diese Zwecke im Besitz we itaus blem ist die
pure Tatsache
effektiverer, inte rner Kanäle.
Ihr Pro
eines zunehmend rassistischen Alltagsbe
wußtseins und d er feh lende »Zugang« zu den Mitteln, mit de ren Hilfe sie sich mit d ies em verbreiteten Bewußtseinstyp auseinandersetzen könnten . Ich fürchte allerdings, daß der Kampf
auf dieser Ebene der
popularisierung ein e ganz anders geartete politische Aufgabe d arstellt al s die Bestätigu ng der bereits bes tätigten Ansichten der bereits Über zeugten.
Da heißt es, um das schmudd elige und verworrene Mittelfeld
zu kämpfen - das Feld , auf dem Powellismus, Thatcherismus und die
National Front in den le tzten Jahren so ungeheuer viel Vorsprung ge won nen haben . Wollen wir in dem l ang wi eri gen Stellungskrieg an
Boden gewi nnen , dann muß nich t nur das »Mittelfeld�( Gegenstand des
Kampfes werden,
sondern das libera l e
Bewußtsein se1bsL Denn der
»liberale Konsens« ist der Dreh- und Angelpu nkt dessen, was i ch den »impl iziten Rassismus<{ nenne. Er ist es, der den aktiven und organi sierten Rassismus aufre chterh äl t . Das war also zumindest eines der Ziele, die wir an g epei lt hatten . Und da unsere Anal yse uns sagte� daß
wir da s Alltagsdenken nicht i nnerhalb eines Abends austauschen kön
nen , versuchten w ir bewußt abzuwägen , was die Sendung realisti
scherweise erreichen konnte und was nicht. » Pe s sim ismu s der Intelli genz , Optim i smu s des Willens« - nichts wäre schl i m mer für die
als die Verwechslung e i nes winzigen Scharmützels mit der Ent s cheidu ngs s ch l a cht .
Linke
Eine dritte Hauptkritik war, d ie Sendung reproduzi ere Standard
formen der
vorherrschenden Fernsehpraxis. S ie ve rsuche
gewisser
maßen, die Profis auf ihrem eigenen Gebjet zu schlagen , statt j enen
1 70
Ausgewählte Schriften
Rahmen bewußt zu durchbrechen . Diese Kritik beruht auf einer we
s e ntlich komplexeren , wenn auch meist nicht genannten These, daß die Wirksamkeit der id eologischen Disku rse weniger i n de ren I nhalten
u nd Pr ämi ss e n l iegt als in den Formen . Deshalb bestehe die Hauptauf
gabe dari n , »die Formen des Fernseh-Diskurses zu dekonstruieren« :
»Wi r woHten eine offensive, anstoßerregende Sendung mach en« , argu
mentierten Gardner u nd Henry. Das ist eine komplizierte und umstrit tene Frage, auf alle Fälle kein s i mples Entweder/ Oder, w ie die Thes e
behauptet . Ich selbst war der Ansicht, wir hätt en in Rich tung »Dekon struktion« weitergehe n soll en al s di e materieU en B es c h rä n kungen der
Programmgestaltung mögl ic herwei se zugelassen hätten.
Die Frage der Form hängt mit politischen Op ti on en zusammen
-
und zwar mit solchen, für die es keine simplen Lösungen gibt, mit denen wir aber Tag für Tag konfrontiert werden. Man fin det heute in
j edem linken Buchladen die phantasievoll ges ty lten , s ti lbewußten , rah menbrechenden, avantgardistischen »kleinen Zeitschriften« der Lin
ken , die an jedem Punkt die »herrschenden Ideo l og i en« ihrer Form nach brechen - und unbarmhe rzig au f ein kle ines , bü rge rli ch es , pro
gres si ves Publikum beschränkt sind . Man findet dort auch die traditio nell en tworfene , antik anmu tende krude Äs th etik der Zeitschriften au s
der Arbeiterbewegung (Tribune, Morning Star, Socialist Challenge zum Bei spi el) - ebenfal1s unbarmherzig auf ein ebe n so kleines und
bereits überzeugtes Publikum beschränkt. Keine von beiden scheint die außerordentlich schwere Frag e einer wirklich revolutionären Fo rm
und eines wir klich revolutionären Inhaltes gelöst zu haben oder das Problem der po l itischen Wirksamkeit , wom i t ich den Du rc hb ruch zu
einem Massenpublikum m ei ne. Wäre d i e gesellschaftliche A rbe it stei
lung doch nur durch ein paar neue typograph ische oder stilistische
Kunstgriffe a bzus cha ffen !
.
Aber es wäre natürlich nicht richtig, am Ende bei einer Verte i d i gu ng des Getanen stehenzubleiben ; das wäre eine simple s pi egel b il dli ch e
Umkehrung der vorgebrachte n Kritik. Wir wußten, wir hatten eine äu
ß,erst sel te ne Chance - eine C hance. die die Linke sich nicht leisten konnte zu vergebe n . Wir waren uns darüber im kl aren , daß das Pro
gramm hätte besser sein können, erfolgreicher, einschließlich de r er folgreicheren Umsetzung der Ideen, die wir wieder über Bord warfen
bzw. werfen mußten . An das ist w i rkl ic h diskutierbar und zu ReCht Gegenstand von Krit ik . Mir geht es allerdings um eine a nd ere Lehre ,
die ich aus dieser ganzen Geschichte ziehen m öc h te . Es g eht m ir u m das Ausmaß der Unfahigkeit auf seiten der Linken , sich den wahre n
Probl em e n der Strategie und Tak ti k eines mas s enhaft gefüh rten anti ...
Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien
171
ras sistis chen Kampfes zu stellen und s ie konstruktiv durchzudiskutie ren. Um ehrlich zu sein , unser gemeinsames Wissen reicht nicht aus,
um die Rückseite einer Briefmarke zu füllen . Und dennoch tun wir in
unseren Diskussionen über taktische Fragen und in unseren poli ti
schen E i ns ch ätzungen weiterhin so, als seien die Antworten bereits komplett in einer Art N eua usgabe von Lenins �s tun ? ni edergelegt
Wir treffen politische Einschätzungen , indem wir die eigene Position
verabsolutieren und denen , die grundsätzlich anderer Überzeugung s ind , mangelndes Zutrauen unterstellen . . Auf diese Wei se halten wir unersch ütterlich an sektiererischer Selbstgerechtigkeit und Zersplitterung fest . Irgend wie scheint es unsere linke Reputation aufzuwerten, wenn wir die Diskussion so führen, als gäbe es irgendeine Theorie des politi schen Kampfes, eingraviert in tönerne Tafeln , die umstandslos in die eine »wahre« Strategie umsetzbar wäre. Die Tatsache, daß wir weiter hin strategische Schlüsselgefechte verlieren und tatsächlich bereits ent scheidend an Boden verloren haben, bringt unsere absolute Sicherheit · darüber, daß wir die »richtige Linie« verfolgen � auch nicht einen Mo ment lang ins Schwanken. Wie ich sehe, ahnen wir gerade erst, wie ein massenfahiger, anti rassistischer Kampf zu führen wäre oder wie der Zug d es rassis tischen Alltagsbewußtseins, der heute das Denken der Masse n beherrsc ht , umzuleiten wäre. Diese Lektion sollten wir besser zi e mlich schnell lernen . Wir haben keinen Grund zur Selbstzufrieden heit
_ ...
nicht, wenn wir sehen , wie rassistische Parolen auf den Fuß
bal1feldern ertönen, und wenn wir hören, wie rassistische Parolen den Gesang der Arbeiterjugendlichen auf den Tribünen umformen und in fizieren. Angesichts dieses Kampfes um die Köpfe und Herzen der Massen hieße es, auf den Gewinn des dramatischen Vorgefechtes zu setzen und dabei das Risiko einzugehen, den Krieg zu verlieren, wenn wir nur an einer Front kämpfen , mit nur einer Waffenart, nur eine Stra tegie anwenden und alles auf eine Taktik setzen .
Übersetzung : Gabriela Mischkowski
172
Der Thatcherismus und die Theoretiker Dieser Beitrag stellt in mehrfacher H insicht eine )� Zu sammenfas sung «
dar. Erstens faßt er i m Verlauf der Argumentation verschiedene Posi
tionen der jüngeren Ideologi edebatte zusammen, ohne die einzelnen Argumente und Gegenargumente weiter auszuführen . Zweitens stellt er eine )}Zusammenfassung« meiner ei genen vorläufigen Position zu
einer Reihe von Diskussionspunkten in dieser Debatte dar. In den ver gangenen Jahren sin d wir von einer wahren Flut von Theoretisierungen
des Ideo1ogischen überschwemmt word en . Ein Groß teil davon kam in
Fo rm ausgefeilter Dekonstruktionen der klassischen marxistischen
Ideologietheorie daher. Mein Be itrag geht von dieser Periode verstärk ter theoretisch e r Auseinandersetzungen aus und reflektiert sie. Diese Phase intensiver Th eoreti s i erung hat a11erdings auch Widerspnlch her
vorgerufen - eine harsche Kri tik
an
der Über-Abstraktion und am
Theoretizismus, die das theoretische Denken etwa seit dem Vordrin gen des Struktural ismus zu Beginn der
70er
Jahre geprägt haben .
Außerdem wird uns vorgeworfen , durch die Beschäftigung mit Theo
r i e um ihrer selbst willen die Probleme der konkreten historisch en Ana]yse aus den Augen verl oren zu haben .
Edward Thompsons Buch The Poverty of Theory, das in seinem Ex
trem ismus d en Gegenstand� den es kri tisiert (den J\lthusserianismus) ,
widerspiegelt, ist
nur
das
]etzte�
anges eh e nste Bei s piel dieses Gegen
schlages. Obwohl ich 171e Poverty of Theory e inerseits für ein unbeson nenes und una u sgewogenes Werk halte, das mit brillanter, aber unge
hobelter Polemik und Karikatu r arbeitet, wo sorgfiHüge Argumenta;". tion und ernstzunehmend e Belege angebracht gewesen wären � hatte es andererseits d urchaus seine Berecht igung . Es ist mögJic h - und i st
auch ausgieb ig versucht worden -, eine spitztindige theoretisch e Kon struktion auf di e andere zu setzen (und zwischenzeitlich an Wort s pie len zu drechseln , gewöhnl ich mit Wörtern, die bereits dem Franzö si
s chen entlehnt sind , so daß das Ganze in einer fürchterlich entstellten Sprache endet) , ohne jemals den Boden zu berühren , das heißt , o hne
je auf einen einzigen konkreten Fal1 oder ei n ei nzi ge s historisches Bei spi el Bezug zu nehmen .
Darum habe ich in die sem Be i trag - statt einmal m ehr zu theoreti
sieren - versucht, einige d er wichtigsten Positionen, die aus der Ideo
l ogiede batte he rvo rgegan gen sind , in zusammenfassender Form auf die Analyse eines konkreten politischen Problems an zuwende n . Ge nauer gesagt, auf die gegenwärtige politische Konstellation in Großbri_ tannien , die durch das Auftauchen der Neuen Rechten gekenfizeichnet
. Der
i 73
1hatche rismus und die Theoretiker
i st: du rch
den Aufstieg zur Macht - zunächst in der konservativen
Partei , dann in zwei aufeinanderfolgenden Regierungen - von Mrs. Thatcher und der politischen Ph ilo sophie, für die sie steht. Die Frage,
die ich steHe, i st einfach . Der Zweck des Theoretisierens besteht nicht darin , un sere intellektuelle oder akademische Reputation zu erhöhen , sondern darin, uns Möglichkeiten zu eröffnen , die historische Welt und ihre Prozesse zu erfassen, zu verstehen und zu erklären , um Au f .
schlüsse für unsere eigene Praxis zu gewinnen und sie gegebenenfalls zu ändern . Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, welche der ver
schi edenen Positionen der Id eol o giedebatte am umfassendsten und treffendsten ist, und welche die größte Erklärungskraft hat, um den Aufstieg der Neuen Rechten und der politischen Konstellation, die
diese mit sich gebrac ht hat, begreifbar zu machen. Diese Frage kann zwar im Rahmen eines Beitrags nicht im Detail beantwortet w erden ,
aber man kann, indem man das Problem summarisch behandel t eine Art »Probe aufs Exempel« machen, was ich hier versuche. ,
Zu nächs t möchte
ich die p litisch e Konstellation in ihren frühen, o
lei cht erkennbaren Aspekten kurz ski zzieren . Die politische Situation der Na chkrieg szelt wurde in Großbritannien durch ein »Übereinkom men« be sti mmt , zu dem
man i n den 40er Jahren gefunden hatte. Es ent
wickelte sich praktisch eine neue Art von ungeschriebenem Sozialver
trag, durch den ein Verg lei ch oder »historischer Komprorniß « zwi
schen den verschiedenen konfligierenden gesellschaftlichen Interes� sengruppen geschlossen w urde Die Rechte ließ sich - indem s ie ihre reaktionären und stärker »marktwirtschaftlich« orientierten Kräfte an den Rand drängte - auf den Sozialstaat , die Erzi ehung i n Gesamt schulen , die keynesi anische Wirtschaftspolitik u nd das Bekenntnis zur Vollbeschäftigung als Rahmenbedingungen für einen friedlichen Kom p rom iß zwischen Kapital und Arbeit ein . Im Gegenzug akzeptierte es die Linke, im Rahm en eines modi fizierten Kapitalismus und des strate gischen E influßbereichs des westlichen Blocks zu arbeiten Trotz zahl .
.
reicher Unterschiede in den Schwerpunktsetzungen und einer Reih e von h arten politischen und w irtsch aftl i chen Kämpfen , die die politi
sche Landschaft von Zeit zu Zeit erschütterten , war die Situation ins gesamt durch ei nen grundlegenden Konsens bzw. den im we s entlichen
reformistisch und sozialdemokratisch geprägten Komprom iß über die grundsätzl ichen sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen ge
kennzeichnet, in denen die Kon flikte - für den Augenblick -- »beige
legt« oder unterdrückt wurden .
Es gibt heutzutage sehr unterschiedliche Regierungsfo rmen , die i n
einer sol chen historischen Kompromißsituation funktionieren und sie
Ausgewählte Schriften
174
beherrschen können . Aufgrund einer Reihe struktureller Faktoren , auf die hier nicht näher eingegangen werden kann , gelang es gewi s sen Va r i ante n der Sozialdemokratie (im wesentl i ch en in Form von reformisti schen Labou r-Regie ru nge n) , d.ie britische Gesel1schaftsformation
-
mit kurzen Unterbrechungen - in den 60er und 70er Jahren zu domi nieren . Dem war eine Phase der ))Restauration« vorausgegangen , die dazu diente, den fundamentalen kapita l i s t isc hen Grundsätzen unte r Federführung von Harold MacMi 1 1ans Konservativen in den » üppigen 50er Jahren« zu ihrem Recht zu verhelfen
innerhalb des durch d i e
weltweite US-amerikanische Vormachtstellung und die zunehmende
a tl anti sc h e Ori entierung gesteckten Rahmens. Mit » dominieren« meine ich , daß Labour zum ersten Mal in der britischen Geschichte als alternative regi eru ngsfäh ige Me h rheitsp a rtei erschien , und nicht als
. kurzzeitige Zw ische n l ös u ng . Reformistische Ziele und Strateg ien be stimmten d i e po l iti sch en Zi el vorgabe n , obwohl die Umsetzung d ies er
Ziele in die Realität nur stell enweise gelang. Vor al lem aber waren es die Sozialdemokraten , nicht di e Konservativen , die am besten geeignet schienen,
die n euen korporatistischen
Vereinbarungen
(»starker
Staat/ starkes Kapital«) zustande zu bringen , die damals zu r G rund lage von Wi rtsch afts polit i k und ökonomischer Planung wurden. Darüber
h i naus konnte die S oz ialde mokra tie die a rb eitenden Massen über die
Gewerkschaften für d i e korporatistischen Händel einspannen und sie
- durch deren Festhal te n an der historischen Allianz zwischen Labour und Gewerkschaften - gleichzeitig disziplinieren . In den frühen 60er
Jahren ma chte Harold Wilson einen beherzten Versuch , die Hegemo
nie der Sozialdemokratie zu festigen, indem er verschiedene Sektoren
der Gesellschaft in e iner breiten Allianz oder einem historischen Block zusammenfaßte : einem Block aus »Hand- und KopfarbeiterIn nen« (eine schwer vorstellbare Al1 ianz, die s i ch vom gelernten Maschi nisten bis zum zukunftsorientierten Management einer Firma er
strecken sollte) , den er mit dem »heißen Eisen« der neuen Tech no l og i e und dem korporatistischen Staat verk n ü pfe n wollte. H ät te dieser Ver
such Er fol g gehabt , wären damit die historischen Weichen für eine
l an ge , beständige Periode eines » Reformkapitalismus« unter sozialde mokratischer Führung ge stel l t wo rden .
Die Grundvoraussetzungen für eine solche S tab i li s ie rung waren j edoch nicht gegeben . Die britische Wi rtschaft und die gesamte in
dustrielle Struktur waren zu schwach , zu sehr an ihre wel tum greifende
Rolle als Fin an z m ach t gebunden , zu u nmodern, »rückständig« und
mit zu wenig Kapital au sg estattet , um die enormen Profite zu erziel . en ,
die notwendig sind , um einerseits die Kapitalakkumulation und d ie
Der Thatcherismus und die Theoretiker ProfitabiIität sicherz ustellen ,
1 75
und andererseits genügend für die Finan
zierung des Sozia]staats, für hohe Löhne und verbesserte Lebensbe dingungen der weniger Wohlhabenden abzuschöpfen - die einzigen Voraussetzungen, unter denen der historische Kompromiß hätte funk tionieren können. Als sich die weltweite öko nomische Rezession ver schärfte, begann sich Großbritannien
eines der ältesten und jetzt
eines der schwächsten Glieder in der kapitalistischen Kette - unter
dem Druck konfligierender Anspruche. die die Basis früherer Über
einkünfte aushöhlten, zu polarisieren. Die Labour Party, genötigt, das
system , das sie niemals zu transfonnieren versucht hatte, in einer Kri sensituation zu verteidigen , sah sich mehr und mehr in die Rolle ge drängt , die eigene Arbeiterklasse zu disziplinieren. Die inneren Wi derspruche, die dem »historischen Kompromiß« von Anfang an inne wohnten , kamen allmählich zum Vorschein . Zunächst in den sozialen und pol iti schen Umwälzungen der 60er Jahre, dann in den gegenkultu rellen Bewegungen im Gefolge des Vietnamkrieges, schließlich (wäh
rend der konservativen Zwischenregierung von Edward Heath) in den
Arbeitskonflikten und der Militanz der frühen 70er Jahre. Der sozial
demokrati sch geprägte Konsens, der der politischen Szene Großbritan niens bis zu diesem Zeitpunkt eine gewisse Stabilität verliehen hatte,
begann sich aufzulös en , seine Legitimität begann zu schwinden . So
wohl in den Kembereichen des ökonomischen Lebens - Löhne, Pro
duktion , Streiks, Arbeitskonflikte, gewerkschaftliche Militanz usw. -
als auch in den »emporkommenden« Kampfplätzen des sozialen Le bens - Kriminalität, Permissivität, Rassismus, moralische und sozia
le Werte, traditionelle Geschlechterrollen und Moral - stürzte die Ge sellschaft in eine Krise. Eine Phase der Hegemonie war beendet; die
Gesellschaft trat in j ene Ära von Auseinandersetzungen , Krisen und Unruhen ein , die häufig mit der Formierung eines neuen hegemonia len Stadiums einhergeht. Dies war die Zeit der Neuen Rechten. Sie entstand natürlich keines
wegs aus dem Nichts . Seit die liberale Partei um die Jahrhundertwende
a ls alternative Regi erungspartei von der politischen Bühne verschwun den war und Labour ihren Platz eingenommen hatte, verla gerten sich
viele traditionelle Elemente der Ideologie des »freien Marktes« von ihrer angestammten Heimat bei den Liberalen zu den Konservativen . Hier fanden sie im grunds ätzlichen Bekenntnis zur freie n Marktw irt schaft , in einer Ethik des Besitzindividualismus und des harten Kon
kurrenzkampfes id eologischen Unterschlupf. Diese Elemente verban
den sich mit der traditionsbewußteren , paternalistischen, organischen Fraktion der Tories und bildeten die höchst widersprüchliche Fonnation,
Ausgewählte Schriften
1 76
die den modemen Konservatismus kennzeichnet. Aber während der · Zeit des Nachkriegskompromisses wurden diese neo�liberalen Ele mente bewußt an den Rand der Partei gedrängt. An der kurzen Leine gehalten , war es ihren Verfechtern auf Parteitagen erlaubt, ihre rück ständigen sozialen Doktrinen zu äußern (die »Hängt-sie-auf-und peitscht-sie-aus{{-Brigad e) u nd einen harten ökonomischen Individua li smus sowie d a s kle in bürgerl i che Ethos des Konkurrenzkampfes gegen das ihrer Ansicht nach zu wohlerzogene Tory-Junke11um zu ver
treten . Die entscheidenderen Kräfte aber, die die politische Richtung der Partei in den ersten Nachkriegsjahren bes ti mmten , waren diejen i
gen, die versuchten , den Konservatismus an Lebensfo rmen anzupas
sen , zu denen staatl iche Fürsorge , breitgestreute soziale Unterstüt
zu ng , begrenzte staatliche Interventionen in den freien Markt , keyne sianische Nachfrageregulierung, Verhandjungen mit den Gewerk
schaften, korporatistische Managementstrategien u nd die Verknüp fung »starker
Staat/ starkes
Kapital « g ehörte n .
Es stimmt, daß es in den schwierigen J ah re n der Heath-Regierung (1970-1974) , als d.ie Zeichen der Krise immer deutlicher wurden , eini
ge bedeutsame Kursänderungen gab, die die Konservativen po liti sch näher in die neo-liberale Ec.ke rückten . Recht und Ordnung, die Not
wendigke it der sozialen Disziplinierung zunehmender anarchi scher
Elemente in der Gesell s chaft , ein virulenter Rassismus, der sich gegen
die schwarze Einwanderer richtete - diese unberechenbaren Bestand teile e i nes populistischen Programms standen bei den Wahlen 1970
stark i m Vordergrund , dicht gefolgt von dem Bekenntni s zu wirtschaft
Hchem Wachstum i n einem stärker wettbewerbsorientierten Klima. Eine Zeitlang - unter Heath - waren die Brücken für Verhan dlu ngen
mit den Gewerkschaften abgebrochen , und der Korporatismus war be
graben. Statt de s se n suchte die Regierung die direkte Konfrontation
mit militanten ArbeiterInnen und den Gewerkschaften , um den schlei chenden Staatskapitalismus, der in der bri tischen Industrie Normalität geworden war, zu unterbinden und erneut einen stärker marktwirt- . schafts- und wettbewerbsorientierten Wirtschafts stil durchzusetzen .
Die Periode begann mit einem ausufernden Wohnungsbauprog ramrn� dem Aus-dem-Boden-sch ießen n euer Banken von windigem und zwei felhaftem Charakter u nd landesweiten Bankrott.en infolge der »Umrü
stung« der Industrie für den stärker wettbewerbsorientierten M arkt der
Europäischen Gemeinschaft . S ie endete mit einer 3-Tage-Woche in der
fronU!len Rücktd tt ge
britischen Industrie und damit, daß die Regierung i n einem Zusammenstoß mi t der Bergarbeitergewerkschaft zum
zwungen wurde. Viele hab en di e dam a lige Popu larität vo n Enoch
177
- Der Thatcherismus und die Theoretiker powell , der Themen
wie »Rasse«, Nation und freier Markt in den Mit-
. telpunkt stellte� sowie den Geist der ersten Jahre der Heath-Regierung (die Betonung von Recht und Ordnung und des ökonomischen Wettbe werbs)
rückblickend als anschauliche Vorwegnahme oder Probe des
Thatcherismus interpretiert . Aber als
der Thatcherismus schließlich an die Macht kam, richtete
er sich gegen den »)schleichenden Korporatismus« aller vorangegange
gegen den von Mr. Heath. An sei n er Spi tze standen berühmte »Überläu fer « - Sir Keith Joseph, der Ch efide ologe nen Reg i erungen , auch
der Neuen Rechten , und Mrs. Thatcher selbst -, die unter Heath Mi� nisterInnen waren , die aber j etzt - Saulus wandelt sich zum Paulus
Trend zu einem, wie sie es nannten, »Staatssozialismus« weit von sich wies en , dcn s ie als (quasi inhärenten) Bestandtei l einer von der Sozialdemokratie dominierten politischen Konstellation ansahen, wel chen An str i ch sich die j eweiiige Reg i erung auch geben mochte. Öf fentlich trat J oseph erstmals im Vorfeld der Kämpfe um d ie Partei spitze . als führender Ideo l oge einer innerparteilichen Revoluti o n in Erschei nung - mit einer Reihe vo n Reden , in denen die »neue Ph i losophie dargelegt wurde. Joseph bl eibt einer der wichtigsten organischen In teUektuel 1en des Thatcherismus, aber er verschreckte weite TeHe der Wähler s chaft durch sein anmaßendes Auftreten und seine fehlende Bürgernähe Nach seinem Rücktritt, nicht a ls yordenker des thatcheri st i sc hen Blocks, aber als im Blickpunkt der Offentli chkeit stehender Parteivorsitzender, ruckte Mrs. Thatcher als die bekannte Persönlich keit in den Vordergrund , de r es am besten g el ang das Hohel i ed des Mo netari s m u s und das Evangelium des freien Marktes in das schlichte den
«
»
«
.
,
Vokabu lar eines s teuerzahlenden Tory-Haushaltsvorstandes zu über s etzen . Der Thatc heris m us hat
also zunächst die konservative Partei erobert
und transformiert, bevor er sich daranmachte, das ganze Land zu er
obern und u mzu gestal ten . \Vir werden auf das, was Gramsci das »orga
das »Element der Partei« - nennen würd e ni sa tori sch e Element« sp äter noch zu rüc kkomnlen . An dieser Stelle genügt es zu sagen, daß der Thatcherismus, obwohl er d em traditio nellen Toryismus viel ver dankt und wesentliche Elemente davon integriert hat, eine grundle -
gend andere politische
,
und ideologische Kraft darstellt, radikal ver
schieden von den älteren Versionen des Konservatismus, die die Partei
in den Nachkriegsjahren bestimmt haben - oder anders ausgedruckt:
er ist eine rad ikal andere und neuartige Komb i nat ion von verschiede nen Elementen des
Konservatismus. Der Thatcherismus gelangte an
die Macht, i ndem er zunäcnst gegen die »alte Garde« - die Gral shüter
Ausgewählte Schriften
178
der Partei - und die alten paternalistischen Doktrinen antrat und sie bezwang . Seine erste historische Mission bestand nicht darin, zu len ken und umzustoßen , sondern darin, den sozialdemokratischen, kor poratisti schen Konsens zu bekämpfen und aufzulösen, der die politi sche Szene seit Kriegsende bestimmt hatte, sowie das Alltagsbewußt
sein zu desintegrieren und die Selbstverständlichkeit der britischen
Nachkriegsübereinkunft in Frage zu stellen . Seine zweite Mission be
stand darin , die in der britischen Gesel lschaft vorherrschenden Trends an allen Fronten umzukehren . Poli tisch geseh en hieß dies , den Trend zu
staatlich subventionierter Wohlfahrt aufzuheben, die öffentlichen
Ausgaben zu senken , den staatlichen Sektor zugunsten privater Unter
nehmen zu beschneiden , die Gesetze des freien Marktes und die marktwirtschaftlichen Kräfte wieder herzustellen , die Flut staatlicher Interventionen zurückzudrängen , die Profitabilität zu untermauern , Löhne und Gehälter u nter Kontrolle zu ha1ten und die Macht, die die Arbeiterklasse mittels der Gewerkschaften im ökonomischen und poli tischen Leben gewonnen hatte, zu brechen .
Was uns hier vor all em interessiert, ist die Wende, die der Thatch e rismus im Bereich de s geseHschaftlichen Denkens oder im Ideologie
bereich anstrebte. Seine Aufgabe bestand in diesem Fan darin, die
»anti-kapitalistische Woge« einzudämmen , die seiner Ansicht nach im Laufe der 60er Jahre Auftrieb bekommen hatte. Das damalige Lebens
gefiihl läßt sich so zusammenfassen : Jeder intelligente junge Mensch hätte sich geschämt, ins Geschäftsleben einzutreten. Darüber hinaus
mußte der Thatcherismus das gesamte , auf wachs ender staatlicher Un
terstützung basierende Muster sozialer Erwartungshaltungen aufbre chen. Im prophetischen Titel einer vom
Centre Jor Policy Studies her
ausgegebenen Broschüre hieß das : »die Anziehungskraft des Sozial staates brechen«. Es ging darum , einen alternativen ideologischen Block, charakterisiert durch neo-liberale, marktwirtschaftliche und besitzindividualistische Züge, wieder aufzubauen . Die den keynesia nischen Sozialstaat tragenden Ideologien mußten transformiert und der Machtblock, der mittlerweile an keynesianische Rezepte zur Behand lung ökonomischer Krisen gewöhn t war, muHte aufgebro chen werden. Das bedeutete auch, die wachsende Macht und Verhandlungsstärke d er
Arbeiterschaft zu brechen , das politische Gleichgewicht umzustürzen und die Vorrechte von Management, Kapital und Kontrolle wiederher zusteIlen . Das wurde nicht auf bloß »ökonomistischer« Ebene erreicht. Das Ziel bestand darin , das gesellschaftliche Leben insgesamt neu zu
ordnen durch eine Rückkehr zu den »alten Werten« - den Philoso
phien von Tradition, Englischtum, Respektabilität, Patriarchalismus,
1 79
Der Thatcherismus und die Theoretiker
Famili e und Nation. Das eigentlich Neue am Thatcherismus war vor allem die Art und Weise" wie er die neuen Lehren des freien Marktes mit einigen traditio nelle n Schwerpun kten de s orga n ischen Toryismus
verband. Dieses widersprüchliche Ideengebäude, mit dem es dem Thatcherismus in seiner Aufstiegsphase gelang, den Eindruck ideolo gischer Geschlossenheit zu erwecken , kommt am besten in dem para
doxen Slogan zum Ausdruck, den der po litische Theoretiker Andrew
Gimble prägte: » Freier Markt und starker Staat« .
Bevor sei n e magi s che Aura der Unbezwinglichkeit zu sc hw i nden be
gann , machte der Thatcherismus enorme Fortschritte, ohne allerdings ZU irgendeinem Zeitpunkt dieses historischen Unternehmens allumfas senden Er folg zu haben oder eine hegemoniale Stellung zu gewinnen . Diese Einschätzung könnte angefochten werden und wurde auch wie de rholt angegriffen . A1 s ich den ziemli ch unerwarteten Wahlsieg des
Tbatcherismus 1979 vo raussagte, formulierte ich diese Behauptung zu näch st vorsichtig. Aber im Laufe der Zeit ist sie eher bestärkt und be
stätigt als w i derleg t worden . Natürlich hat der Thatcherismus vom
Wahlergebnis her nie die absolute Mehrheit gewonnen. Bedeutend we niger als die Mehrheit der britischen Wähler Innen unterstützen die Re gierung. Der Wahlsieg von
Episode und
1983 wurde zweifellos durch die Falkland
die S paltung in den Reihen der Opposition , zwischen La
bOUf u nd der neu gebildeten Allianz von Liberalen und Sozialdemo kraten , künstl ich in die Höhe getrieben . Sehr schnel l . unmittelbar nach ihrem zweiten bedeutenden Sieg an den Wahl urne n 1983, geriet Mrs. Tbatcher fortwährend in Schwier igkeiten., als sich einige der län gerfri s tigen strategischen Mißerfolge (z . B. die anhaltend hohe Zahl
von über 3 Minionen Erwerbslosen) mit zahlreichen taktischen Miß
griffen und Fehlern verbanden . Keine Regierung ist perfekt: keine Po liti kerin , kein Politiker währt in einer parlamentarisch en Demokratie ew i g . Wenn man andererseits die Phase der p oli tische n Auseinanderset zungen betrachtet vom erfolgreic hen Kampf um die Führung der Partei bis heute -, so ist der Thatcherismus qualitativ zweifelsohne
zur führenden politischen und ideologischen Kraft geworden. Selbst '
.
als di e Regierung vom Pech verfolgt war, ist es Labour gerade einmal u gelungen , bei den zweifelhaften Mein n gs umfragen zum Wählerver halten mit den Ko n servativen gleichzuzieh en - eine Position , die
nicht ausreicht, die überwältigende parlamentarische Mehrhei t des Thatcherismus umzustürzen .
Aber auch das ist ein zu grober quantitativer Maßstab. Tatsache ist.
i,
daß es dem Thatcherismus gelungen ist,
einen Großteil der historischen
Ausgewählte Schriften
1 80
Nachkriegstrends umzukehren . Er hat damit begonnen , d ie Bedingu n
iebenen »Sozialvertrages«, in denen sich die gesell schaftlichen Kräfte nach dem Krieg »häuslich eingerichtet« hatten,
gen des
u n ge s c h r
auszuhöhlen und abzutragen . E r hat die Währung verändert , i n der po litisch ged acht und argumentiert wird . Wo vorher sozi ale Bedürfnis se
ihre eigenen Ansprüche g egenü ber den Gesetzen des Marktes geltend machen konnten , bestimmen j etzt Themen wie » Lei stung, die ihr Geld wert ist« , das Recht , über privates Vermögen nach eig�nem Gutdünken zu verfügen , und die Gleichsetzung von »Freiheit« und »freiem Ma rkt« nicht nur die poEtischen Auseinandersetzungen i m Parlament, in der Presse, den Zeitschriften und Politikkreisen , sondern auch das alltägli che Denken und Handel n . Es hat ein bemerkenswerter Wertewandel stattgefund en : die Aura, die a l le s , was mi t »staatlicher Wohl fahrt« zu
tun hatte, umgab, haftet
jetzt
allem »Privaten« oder Privatisierbaren
an . Die Gese11 schaft insgesamt erlebt einen größeren id eolog i schen Umschwung. Daß der Thatcherismus n i cht a lles, was i h m hinderli ch war, aus dem Weg geräumt hat, und daß es viele bedeutsame Wider standspunkte oder -n i sch e n gibt (z . B. das staatliche Gesundheitswe
sen) , steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß der Thatche ri s
mus - nicht im Sinne eines totalen Sieg e s, sondern vielmehr im Sinne der Beherrschung eines labilen Glei c h gewich ts - es in weniger als einem Jahrzehnt nicht nur geschafft hat, »der Sache eine neue Wen dung(( zu g eben , sondern begonnen hat , die gesell schaftliche Ordnung umzubauen . Ei n Zeichen fü r d iesen ideologischen Erfolg ist das gelungen e Ein dringen in die soziale Basis von Labour. Beträchtliche Teile der gelern ten und angelernten IndustriearbeiterInnen, ein bedeutender Prozent satz der organisierten Gewerkschafterinnen, weite Teile de r städti
schen A rbeiterschaft , vor allem i n den weniger stark entindustrialisier ten Teilen des L ande s , sow ie ein Großtei] der Erwerbslosen - um nur eini ge soziale Kategorien anzuführen - sind bei den letzten Wahlen »zum Thatcherismu s übergelaufen�( und haben ihre t rad i ti onelle Loya lität gegenüber Labou r aufgegeben . Einige dieser Wählerwanderun_ gen sind sicherlich temporärer Art und werden sich wieder umkehren .
Aber angesi chts der brenzl igen Lage in dem Jahrzehnt , i n dem Groß britannien die weltweite Rezession des Kapitalismus mit voHer Wucht
zu spüren beka m, hat der Thatcherismus in den genannten Teilen der Bevölkerung deutlich an Boden gewonnen . Er war angetreten , eine po
puli stische politische Kraft zu werden
-
und das ist ihm in eindrucks
vo]]er Weise gelungen . Er hat die breite Zustimmung wichtiger Teil e d er beherrschten Klassen gewonnen, er versteht es, sich als eine Kraft
181
Der Thatcherismus und die Theoretiker
darzustellen, die »auf Seiten des Volkes« steht, und übernimmt die ton angebende oder » führende« Rolle in der Gesellschaft durch die Kombi nation einer von oben auferlegten sozialen Diszipl i n - ein eisernes Reg ime in Eisernen Zeiten« - und einer popuJ i stischen Mobilisie rung von unten: eine Kombination, die ich an anderer Stelle (1985) als autoritären Popul i s mu s« bezeichnet habe. Ein Großt eil der g esell schaftlichen Trends und Tendenzen, di e es u ns erer M ei nung nach dem briti s chen Kapitalismus der N achkriegszei t ermöglichte n zu überleben (starker Staat/ starkes Kapital , ko rporati sti sche Managementstrategien sowie die anderen korporatistischen Züge, mit denen in spätkapitalisti schen Ökonomien das freie Spiel der Marktkräfte schei nb ar be schränkt wird) ! werden entweder aufehoben oder neu kombi niert. »
.
»
g
Natü rlich kann Ideol ogie nicht im freien Raum funktionieren; eine Interpretation der i deolog isch en Ebene darf nicht mit einer Analyse
der G esamtko nstel l ation verwechselt werden. Vieles von dem, was in der th atch er i stis chen Ideologie angelegt ist, i s t in der sogenannten »re
alen Wel t« nicht verwirklicht worden. Die Inflationsrate ist zwar g e senkt und die öffentlichen Ausgaben sind gekürzt worden, aber es ist nicht gelungen, die Wirtschaft neu zu beleben , di e Arbei ts lo si gkei t ab zubauen oder die Gel dzu fuhr wirksam zu drosseln. Obwohl sie vom Unternehmertum lautstark artikul iert wurden , sind die klei nbürgerli chen Wertvorstellungen w i e Leis tung , die Heiligkeit der S teuern , die traditionell e Frauenrol1e und Familie bislang kaum in den Niederun gen der materiellen Realität wirksam geword en Kleine Unternehmen verschwinden ebenso schnell wie sie gegründet werden wieder von der Bildfläche. Für di e wirtschaftliche A rena gilt nicht, daß der »Moneta rismus funktioniert({, sondern daß. es »keine A lternative« zu ih m gibt - ein nüchternes, stoisches, langwieriges, langdauernde s Glücksspiel um Wählerstimmen Dennoch: die ideologische Effektiv ität, mit der es dem Tha tcherismus gelungen ist, dem politischen Denken und Han. deIn neue Konturen zu geben , ist bemerkenswert; und dies nicht nur in brisanten Ausnahmesituationen, wie z . B. auf dem Höhepunkt des Falkland-Abenteuers. Für unsere Argumentation von besonderem In teresse i st die Fäh i gkeit des Thatcherismus, vor allem in j,enen B erei chen der Gesellschaft Popularität zu gewinnen, deren Interessen zu vertreten niemand ernsthaft vom Thatcherismus behaupten würde.
.
.
�
im Hinb1ick auf die verschie Dieser Aspekt des Phänomens bedarf am meisten der Erklärung denen Ideologietheorien -
.
Wi e unzureichend sie auch sei n mag, dies muß als Beschreibung de s . zu erkl ären den Phänomens genügen . Natürlich ist d i ese Darstellung �
wie verkürzt auch immer - theoretisch keinesfalls »unschuldig« . Bereits
1 82
Ausgewählte Schriften
die Situationsbeschreibung wird durch eine Reihe von Konzepten vor strukturiert und gesteuert: eine theoretisch neutrale Darstellung gibt es
nicht. Dies unterstreicht nur das Ausmaß, in dem sogen annte konkrete historische oder empirische Arbeiten i mmer schon von be stimmten
Theorien geprägt s i nd . Trotzdem gibt es gewisse Punkte , die von allen Darstellungen zumindest als für alle theoretischen Perspektiven in ähnlicher Weise problematisch und erklärungsbedürftig angesehen wü rden . (Die Leserinnen , die die Gramsciani schen Gedanken , die in meine Interpretation eingefl ossen sind, erkannt haben , gewinnen kei n en Prei s . )
Trotz obiger E i ns ch rän kung meine ich, man kann mit e in i ger Be rech tigu n g sagen, daß die Konstellation , die ich gerade beschrieben
habe,. durch die sogenannte »klassische Lesart« der marxistischen Ide ol ogietheor ie , wie wi r sie in der oder i n Anlehnung an die
Deutsche
Ideologie von Marx und Engel s finden , nur zum Teil und in unzurei chender Weise erklärt w i rd . Während wi r nach dieser Theorie eine weitestgehende Übereinstimmung von oder Korrespondenz zwisch en »herrschender Klasse« und »herrschenden Ideen« erwarten würden ,
stoß.·en wir statt dessen auf gravierende Unterschiede in der ideo l ogischen Ausrichtung innerhalb d e r sogenannten herrschenden Klassen, ohne eine gen aue oder konsi stente Symmetrie, was die Verte il ung die ser Ideologieformationen auf die Klassen angeht . Wir sind i n der Tat dazu aufgefordert, von einem in te rn en Wettstreit zwischen einem »herrschenden Ideengebäude« u nd einem anderen sow i e von der teil
wei sen Verdrängung des einen durch das andere
zu
sprechen . Die Idee
e in er internen Fraktioni erung des ideolog i sch e n Universums der h e rr schenden Klassen oder die Vorstellung, daß Ideen i n einen Prozeß har
ter Polemik und Auseinandersetzungen eintreten müssen, um zur nor mativ-n ormali si erten Struktur von Konzepten zu werden , mit tels derer
eine Klasse »spontan« und authentisch ihre Beziehungen zu r We lt denkt und » lebt« , s ind ebenfal1 s Vorstellungen , die dem kJassischen
Marxismus fremd sind, zumindest i n seiner abstrakteren und allge meineren Form . (Die konkrete Analyse ideologischer St rukturen im
Achtzehnten Brumaire steht auf einem ganz anderen Blatt . (Vg l . S. llff. i n diesem Band) Der konventionelle Ansatz geht davon aus , daß d ie h er rsc hen d en Ideen einer Kl asse der g esell schaftlichen S tellung dieser Klasse zuzuschreiben bzw. in ihre Kl a sse n pos iti o n geradezu ei nge schrieben sind . Daß diese Ideen jedoch dominant s ind , wird d ie sem
A nsatz z ufolge durch etwas anderes garantiert: d urch den Klassencha_ rakter der Ideen selbst . Daß diese Ideen in einem spezi fis chen und kon t i ngenten (d . h . offenen , nicht voll ständig dete rm i n i erten ) Pro zeß
1 83
Der Thatcherismus und die Theoretiker .
des ideologischen Kampfes aktiv »die Oberhand gewinnen« müssen, liegt dieser Vorstellung fern.
In der »klassischen« Sichtweise würde der Thatcherismus sich nicht wesentlich von den traditionellen , »herrschenden Ideen« der Konser vativen unterscheiden . Aber wir haben bereits
festgestellt,
daß der
Thatcherismus sehr wohl eine eigenständige, spezifische und neuartige Kombinat io n ideologischer Elemente darstellt, die sich
von anderen
Kombinationen, in denen die Dominanz der herrschenden Klassen Engla nd s geschichtlich zum Ausdruck kam, untersch eidet Der That cherismus ist das Ergebnis einer vollständigen Neuordnung bestimm .
te r diskursiver Schlüsselelemente der Rechten - zum Teil das Ergeb nis der Auflösung einer vormals gefestigten Formation. Darüber h i naus ging er aus einem langen ideologischen Kampf innerhalb des h errschenden Blocks hervor. Normalerweise würden wir erwartent
daß
sich die Bourgeoisie
als einheitliche Klasse,
der »ihre« Ideologie
immer schon mitgegeben ist, »geschlossen« ihren Weg durch
die Ge
schichte bahnt und dabei (in Poulantzas denkwürdigen Worten) den
Monetarismu s sozusagen » wie ein Nummernschild auf dem Rücken« träg t . S tatt dessen haben wir es hier mit einer bedeutenden Verschie
Denkens zu tun . Statt mit einem geschlossenen , einheitlichen »Klassen standpunkt«, der sich im permanenten Kampf mit dem »Klas sen standpu nkt« einer oppositionellen Klasse befindet, sehen wir uns genötigt, eine Ideologie zu erklären, die vor allem im diskursiven Be reich tätig ist, dort erfo lgreich in das Territorium der beherrschten Klassen eingedrungen ist, es i n Stücke zerlegt und damit einen Bruch
bung des
in deren traditionellen Diskursen (Labourismus, Reformismus, Key nesianismus und Sozialstaatlichkeit) herbeigeführt hat. Nur durch die Besetzung und cherismus zu
Beherrschung des diskursiven Raums konnte der That einer führenden i deol og ische n Kraft werde n .
Historisch gesehen ist der l etztgenannte Punkt natürlich ni cht neu . In diesem Jahrhundert hat ein Viertel bis ein Drittel der britischen Ar
beiters chaft (wie man sie auch definieren mag) traditionell konservativ gewäh lt . Von daher ist die w i chtigste Zeit für die Rekonstruktion des
modernen Konservatismus vor dem Emporkommen des Thatcheris mus die Zeitspanne zwischen den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhun derts u nd den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Damals war der Konservatismus gezwungen, sich angesichts der
Entwicklung
einer
Massendemokratie, dem Verschwinden der Liberalen und ihrer Erset zung durch Labourt als politische Massenideologie zu rekonstituieren, . die in der Lage ist, bei Wahlen eine Mehrheit zu gewinnen. Ei nige der ideologischen
Elemente die der Thatcherismus heute ,
umfonnt, sind
Ausgewählte Schriften
1 84
eben jene, die damals zum modernen Konservatismus zusammenge flossen sind : Nation vor Klasse, die
organische Einheit des englischen
Volkes, die Gleichsetzung von »englischem G enius« und Traditionalis mus, d ie paternalistischen Pflichten , die die Privilegierten den Unter privilegierten gegenüber haben , die GeseHschaft als geregelte
Hierar
chie konstitutioneller »Kräfte«, ete. Auf diese Weise - vom Aufgreifen
imperialen Gedankens bei Disraeli , Chamberlain und Saintsbury in den 1880er und 1890er Jahren bis zur >,großen Normal isierung« in
des
der Baldwin-Ära der 1920er und 1930er Jahre - gelang es dem Kon servatismus,
trotz aller Widerstände, eine starke Hegemonie über
wichtige Sektoren der Volksklassen (popula r classes) zu erringen, die er in der Folgezeit nie mehr verlor. Von daher stellt der Thatcherismus für die klassische marxistische Ideologietheorie nur ein altbekanntes Problem der historischen Analyse
in neuer, herausfordernder Form
dar.
klassischen Marxismus besteht der traditionelle Ausweg� wenn er sich mit dieser Tatsache konfronti ert sieht, im Rückgriff auf Für den
die Formel »fal sches Bewußtsein« , Die Vol kskIassen - so der Gedan
ke
-
sind von den herrschenden Klassen mit Hilfe ihres, wie es in
de r
Deutschen Ideologie heißt� »Monopols über die gei stigen Produktions mittel « ideologisch hinters Licht geführt worden. Entgegen ihren wirk lichen materi eI1en Interessen und ihrer gesenschaftlichen Position (KlassensteJ1ung) sind die Massen also vorübergehend verführt wor den , ihr Verhältnis zu den wirklichen
materiellen Lebensbedingungen
in den Kategorien einer aufgezwungenen , aber »falschen« illusionären Struktur zu ] eben . Ausgehend von dieser Prämisse würde die Linke traditionell erwarten , daß das Spinngewebe der Illusionen zerreißt, so
die » rea]en materiellen Faktoren�( wieder voll wirksam werden : dann spiegelt sich die »Realität« unmittelbar in den Köpfen der Massen wider, und es fallt ihnen wie Schuppen von den Augen . Und die Eule der Minerva - die große Lösung , die im Kommunistischen Manifest versprochen wird , wenn die Vergesellschaftung der Arbeit zunehmend die Bedingungen für Massensolidarität und Aufklärung geschaffen h at - schwingt sich endlich auf (wenn auch mit ISO-jähriger Verspätung) .
bald
Diese »Erklärung« muß sich dann mit
der überraschenden Tatsache
auseinandersetzen 7 daß die Arbeitslosigkeit sehr viel später als vora us
gesagt ins Bewußtsein der Massen drang. Die Erwerbslosen , den en man am ehesten zugetraut hätte, den Sch1eier der Illusion zu zerreißen ,
vor keineswegs automatisch sch arenwei se z�m Labourismus übe r , geschweige denn zum Sozialismus. Insgesamt sind die Lehren , die man aus der Arbeitslosigkeit ziehen kan n , weniger lau fen nach wie
., .
I I
Der Thatch erismus und die Theoretiker
1 85
monolithisch und vorhersagbar, weniger durch materielle Faktoren be stimmt und v ielfältiger als angenommen . Derselbe Tatbestand kann je nach ideologischer Perspektive - unterschiedlich »verstanden« oder
erklärt werden . Massenarbeitslosigkeit kann als skandalöse Anklage an das System interpretiert werden ; oder als ein Zeichen für die zu g ru ndeliegende Schwäche der britischen Wirtschaft, an der Regierun
gen allein - linke wie rechte - relativ wenig ändern können ; oder als akzeptabel " weil »es keine Alternative gibt« , die nicht noch verheeren
dere Folgen für die Wirtschaft hätte; oder sogar - im Rahmen der
sozio-masochistischen Si chtweise , die manchmal ein besonders ausge prägter Zug der » britisch e n« Ideologie zu sein scheint - als ein not we ndiges Leiden , das gewährleistet , daß die Medizin schließlich doch
wirken wird , weil sie so sehr wehtut (das Großbritannien-ist-am-be
s ten- wenn -es-mit-dem-Rücken-an-der-Wand-steht- Syndrom) ! Die Lo giken ideologischer Schlußfolgerungen sind vielschichtiger, der auto matische Zusammenhang zwischen materiellen und ideologischen
Faktoren i st weniger eindeutig, als die klassische Theorie uns glauben . machen will .
' . eine der kleinen lokalen Ist dies bloß eine historische Verirrung Schwie.rigkeiten des klassischen Marxismus? Weit gefehlt. In 'dem Ab
g rund , d er sich hier zwischen theoretischer Vorhersage und historisch empirischer Realität auftut, zeigt sich im Kern das ganze D ilem ma der kla s s i schen marxistischen Theorie, heutzutage als Richtschnur des po
liti schen Handelns zu dienen: Z.B. ihr Mangel an adäquater Erklä rungskraft , was die konkrete empirische Entwicklung des Bewußtseins und der Praxis der Arbeiterklasse in einer hochkapitalistischen Welt
a ngebt - eine Kluft, die weder durch Lukacs' Unterscheidung zwi schen »obj ektivem« und empirischem Bewußtsein noch durch die klas si scheren Konzepte des »falschen Bewußtseins« überzeugend über
brückt worden ist. Die Theorie des »falschen Bewußtseins« ist - zu Recht - einer harschen epistemologischen Kritik unterzogen worden .
Sie geht von einer »empiristischen« Beziehung zwischen Subjekt und Wis�en au s : nämlich davon, daß »di e reale Welt« ihre Bedeutungen und Interessen unmittelbar und unaus1öschlich in unser Bewußtsein ein prägt . Wir mü ssen nur hinschauen, um ihre »Wahrheiten« zu ent
decken ; und wenn wir sie nicht sehen können, dann darum , weil es einen »)Nebel der Unwissenheit« gibt , der die eindi mensi onale einfa che Wahrheit »des Realen« vor uns versteckt. Diese Lehre enthält -
abgesehen von einer sehr rudimentären Form des psychologischen Sensualismu s ; durch die sie
im Namen des Materialismus gelegent »
«
li ch aufgemöbelt wurde - nicht die geringste Erkenntnis über die
. .,
:iI , I
I' "JI
i", l',
Ausgewählte Schriften
1 86
realen Mechanismen , durch die materielle Faktoren immer wieder das
i hnen eingeschriebene Wissen reproduzieren , oder (was noch bedau erlicher i st) über d i e Mechani smen , die die Transparenz des Realen verdunkeln könnten , wenn ein falsches Bewußtsein vo rherrscht . Ich möchte zwei etwas stärker
»
po l iti s c h « o rientie rte Kri tikpunkte
anschl ießen . Eine Theorie, die davon ausgehen muß, daß eine Unzahl normal er Menschen , nicht klüge r oder dümmer als Sie oder ich , sich ganz einfach d erart gründlich und sy s tematisc h über ihre eigentl ichen Interessen täuschen läßt, steht auf recht wackel ig en Füßen . Noch we nige r kann die S i chtweise akzeptiert werden, daß ))wir«
die Privile
gierten - irgendwie ohne eine Spur von Illusi onen sind und folg l i ch
die Wahrheit und das Wesen einer S ituation unmittelbar durchschauen können , während »sie�
-
die Massen - sich von der Gesc h ichte hin
ters Licht führen l assen . Aber es ist eine Tats ache, daß es zwar ge
nügend Leute gibt , die jederzeit d ie These vom »falschen Bewußtsein<�
als Erklä ru ng für das illusionäre Verhalten anderer heranziehe n , aber n u r sehr weni ge , d i e j e ma l s zugeben würden , daß sie se1 bst mit »fal sc hem Bewußtsein« leben ! Es scheint eine Situation
zu
sein (ähnlich
wie das Korrumpiertwerden durch Pornographie) , in der sich immer nur »die anderen« befinden . Da s riecht zu offensichtl ich nach einer SeJbstrechtfertigungsstrategie, u m es als ernst zu nehm end e Erklärung für ein historisches Massenphänomen schlucken zu können . Dies ist jedoch noch lange kein Gru nd dafür - wie die Dekonstruk tivisten uns gl auben machen wollen - einige Erkenntnisse des »ldas s i sehen marxistischen« Erklärungsmodells vol lständi g über Bord zu werfen . Es besteht ein Gefalle i n der gesell schaftlichen Verteilung von Wi ssen . Und da die gesellschaftlichen Institutionen , die am unmittel barsten an sei ner Entstehung und Verm ittlung betei l igt sind - die Tria
de Fami1 i e /Schule/Med i en -, in den Klassenverhältnissen wurzeln und durch sie strukturiert werden , muß die Ve rtei l ung der verfügbaren
Co des , mit denen man die Bedeutung von Ereignissen dekodieren oder a us ein a ndern ehmen kann, ebenso w ie die Sp rach e , d i e wir benutze n , um Interessen zu formul ieren, zwang sl äu fig die ungl eiche n Machtver-
h ältnisse widerspi eg el n , die i m Bereich der sy mbol i sch en Produktion
genauso bestehen wie in anderen Bereichen . D ie »herrschenden« oder dominierenden Weltanschauungen b estimmen nicht unmitte lba r den
g ei stigen Gehalt der Illusionen , die wahrscheinlich in den Köpfen der b eh errschten Klassen stecken. Aber der Kreis herrschender Ideen
häuft
tatsächlich g enügend symbolisch Macht an,
um die Welt für an
dere zu konz ipi e ren u nd zu kla s si fizieren . Seine Klassifikationen ge
winne n nicht nur die beschränkende Herrschaftsgewalt über andere
Der Thatcherismus und die Theoretiker
1 87
Denkweisen, sondern auch die dumpfe Autorität über Gewohnheiten
und Instinkte. Die »herrschenden Ideen« bestimmen den Horizont des� sen, was als selbstverständlich hingenommen wird : Für jeden denkba ren Zweck halten sie eine Erklärung bereit , was die Welt ist und wie sie
funktioniert . Sie können andere Vorstellungen von der sozialen Welt
dominieren, indem sie die Grenzen dessen , was als rational , vernünf
tig, glaubhaft , realis tisch sag- und denkbar gilt, festlegen
innerhalb
des uns zur Verfügung stehenden Vokabulars für Motive und Handlun
gen. Ihre Dominanz l iegt eben in ihrer Macht, die Gedanken und
Überlegungen
anderer gesellschaftlicher Gruppen innerhalb der von
ihnen festgelegten Grenzen, des von ihnen gesteckten »Rahmens« zu h alten . Das »Monopol über die geistigen Produktionsmittel« - oder über die kulturellen Apparate, um einen modemen Ausdruck zu ge
brauchen - ist natürlich für die mit der Zeit gegenüber anderen , weni
ger kohärenten und umfassenden ZustandSbeschreibungen der Welt gewonnene Dominanz im Bereich des Symbolischen nicht unerheb l ich . Sie müssen andere Vorstellungen nicht buchstäblich durch Illu sionen ersetzen , um eine hegemoniale Stellung über sie zu gewinnen. Ideologien als organische Einheiten mögen nicht an ihre entsprechen-
. de Klasse gebunden sein, das heißt aber nicht, daß die gesellschaftli che Produktion und Transformation von Ideologie außerhalb der struk turierenden Kraftfelder von Macht und Klasse oder unabhängig von ihnen stattfinden könnte . Es folgt daraus auch nicht, daß Interessen - einschließlich der ma teriellen Interessen (welche es auch sein mögen) - keinen Anteil
d a ran haben , das Spiel der Ideen zu bestinunen , innerhalb dessen ver schiedene Gruppen die Welt zu verstehen, ihre eigene Rolle und ihre
Bündnisse darin zu bestimmen suchen . Nicht nUf, daß Interessen kein objektives Merkmal der Stellung sind , die uns innerhalb der Struktur des s ozialen Systems zugewiesen ist (und an der dann griffbereit die e ntsprechenden Bewußtseinsformen hängen) , sie sind darüber hinaus
h i s to rischen Veränderungen unterworfen (Marx selbst sprach von »Deuen Bedürfnissen«) . Auch ist Klasse nicht die einzige Determinante des gesellschaftlichen Interesses (weitere s ind z . B. Geschlecht oder
» Ras se«) . Was aber noch wichtiger ist, Interessen werden selbst in ideologi schen Prozessen und durch sie konstruiert, konstituiert. Dar
über hinaus haben gesell schaftliche Kollektive mehr als nur ein Bündel
von Interessen ; Interessen können widersprüchlich sein und sind es auch häufig, sie können sich soga r gegen seitig ausschließen . Arbeiter in einern sozialen System haben sowohl das Interesse, voranzukom
men, ihre Position zu verbessern , Vorteile innerhalb des Systems zu
Ausgewählte Schriften
188
erringen , als auch das Interesse, ihren Platz darin nicht zu verlieren. Sie werden durch das kapitalistische System au sgebeu te t und s in d
gleich
vo n
zu
diesem System abhängig. Von daher könn en die Verbin�
dungslinien und Interdependenzen zwischen
Kap ital und Arbeit den
Solidaritäts- und Wi ders ta nd slin i en zuwiderlaufen und sie durchkreu zen oder unterbrechen . Es gibt kein Gesetz , das vorschreibt, welChe Seite siegen wird . (Marx hat diese in der Tat widersprüchliche Basis des Klassenbewußtseins besser verstanden als spätere Marxisten mit ihrer Neigung, das rei ne, entkörperlichte Wesen eines revolutionären Proletariers als Vertre te r ihrer eigenen tri efende n moralischen Em pörung zu konstruieren . Vgl . S. l1ff. in d i esem Ba nd )
Man kann desh alb be i de Vors tel l u n gen vertreten : die Vo rs te l lung �
daß ma te riell e Interessen dazu b eitrage n , Ideen zu strukturieren , und
die Vor steUun g , daß die gesellschaftl iche Stellung tendenziell die Richtung des gesellschaftlich en Denkens beeinflußt, ohne d amit
gleichzeitig zu b eh aupten , materielle Faktoren würden die Ideologie
eindeutig bestimmen oder ein Klassenstandpunkt sei eine Garantie dafür, daß eine Klasse i mmer die angemessene Bewußtseinsform
haben werde. Wir w i s sen heute, daß es keine einheitliehe Logik gibt, nach der man vom einen auf das andere s chlußfolgern oder das eine aus dem anderen ab leite n könnte. Die »Logiken« unterschiedlicher Ideolo
g i egebäu d e bleiben mehrstimmig . Sie sind nicht unbegrenzt offen , aber gru nd s ätzli ch plural .
Ein etwas mod i fiz i erter Stan d punk t wäre dann zu sagen , Klassenin teresse, Klassenstandpunkt und materiel 1 e Faktoren seien n otwen dige
Ausgan gspunkte für die Analyse jeder i deolog is chen Formation ; aber sie reichen nicht aus (weil sie zu unbestimmt s i nd), die wirkliche emp ir i sche Anordnung und Bewegung von Ideen in real en , histori schen Gesellschaften zu erklären. Wir müssen a lso akzeptieren , daß
neben der revolutionären pol iti sch en Tradition Großbritanniens
(die
aus b esti mmten historischen Gründen i mmer verg l ei ch s we i s e schwach
war) die reformistische Trad itio n immer auf festen Füßen stand , einge bettet in eine l ange Tradition der hi storischen Evolution und des sozia len Kompromisses; artikuliert durch eine Reihe von In sti tutione n , die in der Kultur der beherrsc hten Klassen tief verwurzelt. sind ; und i n der Lage, unter bestimmten historischen Bedingun gen (die die britische Geschichte b i s heute noch weitgeh end bestimmen) die Welt für die ar bei tenden Menschen genauso überzeugend und »plausibel« zu entwer fen und bestimmte Handlungen und deren U nterstü tzungen zu erklären
wie andere verfügbare Traditi onen . D ies ist n icht nur eine Frage der
Ideolog i e . Die S trukture n , die eine reformistische Definition der Welt
1 89
De r Thatcherismus und die Theoretiker
untermauern , entsp,ringen einer Strukturi erung der gesellschaftlichen Spaltungen na ch dem »Wir l Sie«-Schema, das sowohl den korporativen
Sinn für die Klassenzugehörigkeit als auch die klassenübergreifenden
Bündnisse näh rt,. die z . B. miteinander i m Widerspru ch stehende Klas
sen und gesellschaftliche Gruppen in der g rößeren , symbolischen Ein
beit der N atio n vereinigen . Wir müssen in diesem Zusammenhang ver
sfjehen , wie di e Wahrnehmungen und Vorstellungen der beh errschten
Kl a ss en unter jeweils verschiedenen konkreten Bedingungen in glei
chermaßen überzeugender und einleuchtender Weise einmal in einem
»reformistischen« , ein mal in e i nem ))revolutionären« Diskurs organi siert werden können . Beide stellen Wege dar,. nicht »falsche« , sondern wirkliche oder (für die epistemologisch Genauen) wirklichkeitsnahe
Interessen und Erfahrungen diskursiv zu strukturieren . Die gleichen widersprüchlichen Elemente zwingen s ie unter j eweils alternative Lo
giken mit alternativen Schlußfolgerungen . Un d was in dies,em Zusam
menhang für den »Reformismus« gilt - unter bestimmten historischen Bedingungen eine ebenso genuine Ideologie der A rbeiterklas s e zu sei n
wie die revolutionäre Logik -, kann und muß auch für den Thatcheris mus gesagt und gezeigt werd en . Die wichtigste F rage , die man an eine »organis c h e « Ideologie stel len muß, der es - wie unerwartet auch
i mm er - gelungen ist, bedeutende Tei l e der Massen einzubinden und sie für poJiti sche Aktio nen zu mo b i l is ieren , ist n i cht , wasjalsch an ihr ist, sondern was wahr an ihr ist.. Mit »wahr« meine ich nicht allgemein
gültig wie ein Gesetz des Universums,
sondern »einleuchtend« , was
Wissenschaftlichkeit einmal beiseite gelassen wöh n l ic h durc haus genügt .
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der Id eo logie ge
Die überzeugendste Kritik an ein ige n kla s s i sch en A n nahmen der ma rxis ti sch en Ideologietheorie, wie wir sie i n der Deu.tschen Ideolo
gie finden., liefert das Werk Althussers, vor allem der fruchtbare Auf satz » Ideo log ie u nd ideolog is ch e Staatsapparate« , der in der heutigen Debatte als das klassische Paradi gma einer alternativen Theoretisie
rung g il t . Wie steHt sich das Phänomen des Thatcherismus aus althus se r ianischer Sich t d ar? Einige von Althussers Schlüsselerkenntnissen sind bestätigt worden . Z . B . die Annahme, daß sich Id eo l ogie immer in konkreten Praxen u nd
Ritu alen ausdrückt und mittels spezifischer Apparate funktioniert . Wi r haben von der umfassenden i d eologi s ch en Wend e gesp rochen , die der T hatcherismus bewerkstell igt hat . · Wir haben aber bisher ver s.äumt , im einzelnen aufzuzei gen ., inwieweit dies der Art und Weise zu verdanken i s t , wie diese neuen Konzeption e n durch d ie Praxen der staatl ichen Reguli erung j n den Staatsapparaten konkret umgesetzt
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Ausgewählte Schriften
1 90
w urden : im Erziehungswesen, i m Ausbildungsbereich , in der Fami
lie npol i tik i n den Verwaltungsapparaten des Staates und der Kommu ,
nen s ow i e , in noch stärkerem Maße, i n den spezi fi sc h ideologischen
App arate n Wir können hier nicht im Detail auf diesen Punkt einge .
hen. Es i st j edoc h z . B. äußerst wich tig die RoU e der sogenannten »pri ,
vaten« Apparate zu beachten , wie die des Institute for Economic AI fairs, das in der » fi ns teren Zeit« der 50er Jahre gegründet wurde, um die Sache der Marktwirtschaft und des Neo-Liberalismus voranzutrei ben. Das IEA hat viele thatche ri s c h e Vorstellungen i n Umlauf ge bracht , lange bevor sie m odern wurden oder unmi ttelbar an i rge nde ine
politische Partei oder Frakti on gebunden waren . Es kan n heute mit Fug und Recht behaupten, eine führende RoHe beim Aufbau d er neuen
Orth odoxi e gespiel t und »anhand der Nachkriegszeit dem onstri e rt zu
haben , daß Marktanal ysen für das Verständnis und die Lösu ng wirt schaftlicher Aufgaben und Prob lem e un abdi ngb ar sind . « (The Emerging Consensus, IEA , London , 1981) Diese Insti tuti o n fühlte sich nicht nur der Aufgabe verpflichtet, »}den Wahrheiten der kl assi schen politi s chen Ö konomie« zu ihrem Recht zu verhelfen , sondern auch der ph iloso phi sch en Sicht Adam Smiths, demzufolge es »die natürliche Ve ran lagung des Men sch e n i st, 'auf den Märkten Ha ndel und Wandel zu treiben' « . Ei n an d eres Beispi el ist die bemerkenswerte Art und Wei s e in der der Thatcheri smus die Massenpresse und die Sensations blätter allmählich kolonisiert hat (was die Mas senpresse ang eht, hat G roßb rita n n ien die bestversorgte Leserschaft der Welt) . Die Haup t ,
s pi tzenreiter - The Sun f Th e Mail und The Express
nommen)
-
überbieten sich gegenseitig i n ih rer
(The Mirror ausge Verh errl i chu ng des
Thatcherismus, i h re r lebhaften Identifikation mit der neuen Philoso phie und mit Mrs. Thatch er als deren Symbolfigur.
I n der Ze i t di e von den A nh änge rn der freien Marktwirtschaft als ,
die » fi n st e re Zeit« der keynesianischen Sozialdemokratie angesehen w i rd üb ten d ie zum Ant i Key nes i ani sm us bekehrten InteH ektuellen ihre Vorh errscha ft über die ser iöse und sachkundige, aber auch über die öffentliche Meinung der Massen mit Hilfe d i eser Apparate und Agenturen aus. Damit standen i hne n S a mm elpunkte zur Verfügung ,
-
und Zentren , von denen aus sie alternative marktwirtschaftliehe Und monetaristische theoretische IdeoJo g ien konzentriert verbreiten konn ten , indem sie s ie nach und nach aufj ed es praktische Problem anwand
ten In der Propagandaphase zw i sc hen der Übernahme des Parteivor .
s itze s durch Mrs. Thatcher und dem Wahl sieg 1979 so nd ierte n diese O rgani s ati onen d as Terrain, waren sie die »Schützengräben und Be fest ig un gsanl agen « d i e vorgeschobenen Außen posten i nm i tten der ,
191
Der Thatcherismus und die Theoretiker
Zivilgesellschaft, von denen aus die Gegenoffensive auf den herr
sch en den Konsens gefüh rt wurde. Sie waren auch die Bas i s für die strategische Umgruppierung der staatlichen Intelligenz und der Aka dem iker im Finanzministerium , in den Lehrerzimmem , den Denkfa
briken und Managemen ts chulen , von denen aus der Angriff auf die be stehende Hegemonie innerhalb des Machtblocks gestartet wurde. Sie waren die SchlüsselsteIlen in dieser Phase des Prozesses ist die Massenpresse von s t rategi scher Bedeutung . . . , an denen Doktrin und
Philosophie in Prax i s und Politik übersetzt w urden und in die populäre Sprache der praktischen Errungenschaften. Sie trugen dazu bei, das »Unerträgliche« denkbar zu machen.
Dies alles bedeutet eine zunehmende Vorherrschaft über die Appa rate der gesellschaftlichen Meinungsbildung auf jewei ls unterschiedli chen strategischen Ebenen.. Genau an diesem Punkt aber gerät die alt husserianische Theorie In Schwierigkeiten . Denn Al thusser würde ar
gumentieren , dies alles seien »ideologische Staatsapparate« ,. ungeach- .
tet der für ihn rein formalen Frage, ob sie zum Staat gehören oder nic ht . Sie sind »staatlich« aufgrund ihrer Funktion : der dem Staat zu ge schri ebenen Funktion, die »Reproduktio n der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse� in der und durch die Ideologie zu gewährlei
sten . D emgegenüber i s t das auffalligste Merkmal des Thatcherismus
eben seine Fähigkeit, in der Zivilgesellschaft selbst zu kämpfen und Raum zu gewinnen: die »Schützengräben und Befestigungsanlagen«
der Zivilgesellschaft als .Mittel zu benutzen ,. sich eine beträchtliche
ideologi sc he und intellektuel1e Autorität außerhalb der eigentlichen Sphäre des Staates zu verschaffen .
�
nd dies tatsächlich vor und als . notwendige Voraussetzung - der Ubemahme der fonnalen Macht im Staat, sowie als Teil eines internen Wettstreits gegen wichtige Elemen �
te in nerh alb des Machtblocks. (Denn die »Herzen und Köpfe«, die das
IEA
erobern wollte, waren nicht nur al1gemein in den unterrichteten Kfeisen der Öffentlichkeit zu find en , es g in g insbesondere um Staats
bedienstete i n Schlüsselpositionen , die - wie sie es sahen -:- durch fal sche keynesianische Patentrezepte zermürbt waren.
Ist dies nur Wortklauberei? Ich denke nicht. Trotz augenscheinlicher
Ähnlichkei ten i n der Ausdrucksweise (die zum Teil darauf zurückzu führen ist, daß sowohl Althussers als auch mein Denken in dieser Frage von Gramsci beeinflußt wurde und ihn reflektiert) , werden zwei grun dsätzl i ch verschiedene Prozesse beschrieben, Der erste (Althus sers Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1977) betrifft den Ein
satz bestehender Apparate. um die schon bestehe nde herrschende Ideologi e zu reproduzieren;. der zweite , meiner. betri fft den Kampf
Ausgewählte Schriften
1 92
und die Auseinandersetzungen um den Raum, in dem eine ideo1ogi
sche Heg emonie konstruiert werden kann . Tatsache ist, daß eine Po si tion id eol ogi s cher Autorität und Führung (intel lektu el le r und morali
scher Vorherrschaft) , die dadurch gewonnen wird, daß m a n sich di e
Kraft- und Meinungsfelder im scheinbar » freien Raum« der Zivilge
sellschaft zunutze macht, eine bemerkenswerte Bestä nd ig ke i t, Tiefe
und
Widerstandskraft be s itzt ,
weil die U nterstützu ng , die sie bei den
Menschen gewinnt, n i cht erzwungen ist
(was
der Fall sein könnte,
wenn der Staat direkt bete i lig t wäre) , sondern als »freiwi11ige und spontane« masse n hafte Z u s timmung zur Ma ch t erscheint . Die Unter
schiede berühren darum in meinen Augen die Kernfrage - das Pro
blem , die ma s senh a fte Zustimmung, auf d ie der Thatcherismus stößt ,
zu erklären .
Althusser w ird durch sei nen Funktionalismus dazu verleitet, eine
d ie
In tegratio n überbewertende Da rstel l ung der ideologischen
Repro
d u kti on zu geb en und die U ntersc heidung zwischen Staat und Zivilge
seIlschaft über den Haufen zu werfen, als ob sie kei nerlei reale oder
zweckmä ßige Funktion hätte . Hingegen deutet alles darauf hin, daß wir uns
den Prozeß, durch den die h errsc h ende Ideo1ogie s ich selbst re
pro d u z iert , als in sich widersprüchlich und umkämpft vorstelle n müs
s e n . Tatsächlich trägt der Begriff »Reproduktion« mi t seinen starken
funktionali stischen Assoziationen völlig falsche Konnotationen. Man
muß sich diesen Prozeß als kon ti nuierl i che Produktion und Transfor
mation von Ideologie vo rstel l en : das heißt, als Verdichtu ngen , die der Thatch e r i s m u s bis zu einem gewissen Grad herbei führen , bewerkstel
l igen , realisieren konnte. Dieser letztere A nsatz erlaubt uns deshalb
keineswegs, Staat und Zivilgesellschaft gleichzusetzen . Im Gegenteil :
er zwingt uns dazu , d ie Tren n u ng aufrechtzuerhalten und die beiden
nicht m iteinander zu vermischen, da die ZivilgeseH schaft die Zentral
steH e für die Herstel l u ng von Konsens ist. Be ka nn tl i ch hat Althu sser
die fal sche Gewichtung später (1977 ) zugegeben : »die Konsensllseffek
te der herrschenden Ideologie« können »nicht als einfache Gegeben heit« betrachtet we rd en , »als ein System genau definierter Organe , das automatisch die gewaltsame Herrschaft dieser g leichen Kla sse verdop
peln würde bzw. durch das klare politische Bewußtsein d ie ser Kl asse
zu bestimmten , durch seine Funktion definierten Zwecken installiert
worden wäre. « ) Und auch d iese Id eologie , mit der es der B ou rgeoi s ie
gelingt, ihre H egemon ie ( . . . ) zu errichten , konstituiert sich nicht nUr
durch einen externen Kampf einen internen Kam pf,
(. . .)
sondern auch und zugle ich durch
um d ie Widersprüche der bürgerlichen
Klassenfraktionen zu überwinden und die Einheit der Bourgeoisie als
Der Thatcherismus und die Theoretiker
193
herrsch ender Klasse herzustellen . « Diese Einheit der herrschenden Kla s se ist immer »unabgeschlossen« und stets »wiederaufzunehmen« . (154 f. , Hervorh . i . Or ig. ) Hiermit wird der Funktionalismus der ur sprünglichen Aussage bis zu einem gewissen Grad zurückgenommen
(obwoh l der Unterschied Staatl Zivilgesellschaft nich t adäquat gefaßt wird). D ie schädl ichen theoreti schen Auswirkunge n jedoch, die seine stärker funktionalistisch geprägte Theo retisierung der » Reproduktion «
eine s von der herrschenden Klasse bestimmten Konsenses auf die Hau ptargumentation im ursprünglichen Aufsatz über die ideologi� sehen Staatsapparate hatte und auf diejenigen , die seinen Ausführun
gen zu genau gefolgt sind, können dadurch rückwi rkend nicht behoben werden .
Althussers Aufsatz enthält natürlich nicht nur einen, sondern zwei
(verwandte , aber deutl ich unterschiedene) Versuche, den »Materialis
mu S« von Ideologie zu sichern, ohne reduktionistisch . zu sein. Es ist
der zweite Ansatz, der zum Schauplatz einer sehr umfassenden Rekon
struktion klas s i scher marxistischer Theorien wurde. Das ist die von ·Lacan entlehnte Vorstellung, Ideologie sei »materiell«, weil sie in der und durch die Produktion von Subjekten wirksam werde. Diese F rage
von Id eologie und der Produktion von Subjekten hat sich entwickelt im . Gefolge von Althussers Zerstörung des Konzepts eines ganzheitlichen,
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si nn stiftenden individuellen Subjekts, des Subj ekts , das in den traditio nellen Ideologie-Konzepten Ursprung und Autor der ideologi schen
Diskurse ist S eine Berufung auf Lacan ist der Versuch (mittels dessen
Re-Interpretation der psychoanalytischen Tradition unter Berücksich tigung des S trukturalismus und Saussures) , die Lücke zu füllen, die
du rch die strukturalistische Entthronung des verkündenden »Ich« ent s tanden war. Nun muß sich jeder, der wirklich an der Produktion von Ideologie und an i deologi schen Mechanismen interessiert ist, mit der Frage nach der Produktion von Subj ekten und nach den unbewußten Kategorien .
die bestimmte Formen von Subjektivität entstehen lassen, auseinan dersetzen . Es liegt auf der Hand, daß die Diskurse der Neuen Re,chten
gerade auf die
Produktion neuer
Subj ektpositionen und die Transfor- . matio n von S ubj ek.ti v ität abzielten . Natürlich könnte es in j edem von
uns ei n »essentielles« thatcheristisches Subjekt geben, das im Verbor lummert und darum kämpft, ans Tageslicht zu kommen. ge nen sch Wahrscheinlicher ist aber daß es dem Thatcherismus gelunge n ist, neue Subj ektpositionen zu schaffen aus deren Sicht seine Diskurse über die Wel t einen Sinn ergeben ; oder daß er sich bestehende, schon fet1ige Anrufungen aneignete. Diese sind durch einen Prozeß entstanden, ,
,
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194
Ausgewählte Schriften
der für den ideologischen Mechanismus selbst von entscheidender Be deutung ist: ältere Positionen sind durch neue blockiert und teilweise verdrängt worden, oder es sind
neue
Diskurse entstanden, die wirkli
che Identifikationsmöglichkeiten bieten. In vielen Fällen mögen sol
che »Anrufungen« bereits »die Richtigen« erreichen . In anderen Fällen sind wir jedoch genötigt - statt nach dem immer schon reaktionären Subj ekt der Arbeiterklasse (als Gegenstück zu den immer schon revo.;. lutionären ArbeiterInnen) zu suchen -, uns mit der Fähigkeit der neuen politischen Diskurse zu befassen, sich in den und durch die frag
mentierten , notwendigerweise widersprüchlichen Strukturen gerann
ter Subjektivitäten zu artikulieren . Wir müssen uns damit auseinander setzen , wie sie auf dem Boden eines bereits geformten Alltagsbewußt seins arbeiten, den Pecheux und Henry das »Präkonstruierte« nennen ,
und wie sie s o bereits geformte Subjekte durch Anrufung i n neue d is kursive Beziehungen einordnen . Ich habe hier nicht genügend Platz zur Verfügung, um im Detail auf zuzeigen, wie diese diskursive Rekon struktion von Subjektpositionen faktisch vor sich geht, aber es
kann gezei g t 'werden .
Der gesamte that
cheristische Diskurs zum Beispiel verbindet ideologische Elemente so
zu einer diskurs iven Kette, daß die Logik oder Einheit des Diskurses
nur dann gewährleistet ist, wenn das angesprochene S ubjekt eine Reihe bestimmter Positionen einnimmt. Der Diskurs kann nur problemlos
gelesen oder gesprochen werden , wenn er von einer »imaginären Posi
tion« des Wissens aus verkündet wird, von einem selbstsicheren , ei
gennützig,en , wirtschaftlich unabhängigen Steuerzahler: dem besitzen d en Privatmann (sie) ; oder vom »aufrichtigen Patrioten« ; oder von einem Subjekt, das leidenschaftlich an der individuellen Freiheit hängt
und sich leidenschaftlich gegen staatliche Angriffe auf diese Freiheit wehrt; oder von der ehrbaren Hausfrau , oder dem gebürtigen Briten.
Darüber hinaus - durch den Prozeß, den Laclau als »verdichtete Kon� notation« beschrieben hat - bedingen diese i maginären Positionen in
der Fülle ihres Wissens einander und verweisen in einer Kette zusam menhängender Anrufungen konnotierend aufeinander. Diese Anru
fu ngen konstituieren das Imaginäre, die Bedingung für die sogenannte
Einheit des Diskurses und für die Einheit von Sprecher und Gespro
chenem; und sie verknüpfen einen Artikulationsraum mit dem ande ren : der freiheitsliebende Bürger ist auch die besorgte Mutter, die ehr
bare Hausfrau, die sparsame Verwalterin des Haushaltsgelde s, der ge diegene englische Bürger, »stolz darauf, britisch zu sein«. Auf diese
Weise formulieren die Diskurse des Thatcherismus ständig neue Subj ektivitäten für die Positionen, die sie mit Hilfe von Anrufungen
__
Der Thatcherismus und die Theoretiker
1 95
konstruieren. Die Frage ist nicht, ob dieser Prozeß der Anrufung für die ideologischen Effekte zentral ist, sondern vielmehr, wie wir diesen Prozeß zu verstehen haben. Nach der Lacanschen Re-Interpretation von Freud , bei der Althusser Anleihen gemacht hat und die seither die Hauptquelle nachfolgender Theoretisierungen war, werden diese Posi tionierungen im wesentlichen durch das Resultat einiger psychoanaly ti scher Primärvorgänge i m Säuglingsalter und der frühen Kindheit festgelegt - den Ödipuskomplex, den primären Narzißmus, die Spie in den inzwischen berühmten Formulie gelstufe ete. Diese stellen rungen der Diskurstheorie - gleichzeitig die primären Mechanismen der Verdrängung dar, die dann zur Grundlage aller anscheinend »stabi len« subjektiven Identifikationen werden. Sie sind die imaginären Orte des Wissens in einem scheinbar empirisch verifizierbaren Verhältnis zur Welt. Sie sind die Mechanismen, durch die man in die Sprache se1bst und damit in die Kultur eintritt: und, da diese verschiedenen Aspekte der Formierung von Subjektivitäten als identisch oder struk turen ähnlich angesehen werden (sie sind ja in denselben psychoanaly tischen Prozessen vollendet worden) , sind sie letztendlich auch der Eintritt in eine beginnende Komplizenschaft mit dem Gesetz des Pa triarchats, des Vaters oder mit Althussers SUBJEKT. Diese psycho analytischen Prozesse dienen dann als Matrix für ständig wechselnde, immer widersprüchliche Verortungen oder Orientierungen in Sprache und Bedeutung, und damit auch in der Ideologie selbst. Alle nachfol genden diskursiven Operationen spielen sich in diese.m subjektiven Raum ab, der natürlich nicht länger einheitlich ist, sondern, aufgrund der fragmentierenden Effekte der Verdrängung, ein Ort ständiger Ver sch iebungen ist . Das entscheidende Ergebnis dieser unbewußten Prozesse ist die Ausbildung einer sexuellen Identität (Freud) . Und da die kindliche Se xualität eine Schlüsselrolle für die Konstituierung von Subjektivität spielt, kann kaum Zweifel an der entscheidenden Bedeutung obiger prozesse rur die Anrufung als Geschlechtswesen bestehen. Dieser Faktor hat nicht nur an sich schon eine wichtige soziale und ideologi sche Bedeutung, er wird auch noch in eine Vielzahl anderer Bereiche e ingeschrieben oder übertragen, einschließlich des politischen natür.. lieh . Patriarchale Positionen spielen als verdichtete Artikulations punkte eine absolut zentrale Rolle für das, was sowohl in den Diskur sen der Mittelschicht, des Kleinbürgertums, als auch der Arbeiterklas se al s »respektabel« g il t - ein anscheinend »unpolitischer« Umstand, der dann dazu führt, eine ganze Reihe anderer Diskurse für die Rechte zu stabil isieren und zu sichern . Daraus folgt jedoch nicht, daß der
Ausgewählte Schriften
196 gesamte Prozeß der diskursiven
Pos i tionierung aus j enen primären Po.
sitioni erungen »abgelesen« werden oder zum großen Teil als einfache Wiederholung des Systems verstanden werden kann, zu dem der Zu gang durch d a s u rsprüng l iche Resultat der ödip alen Identifikation für
immer versiegelt wäre. Der Eint ritt in Sprache als solcher - und damit in Ku ltur fId eolo gie - beginnt im Stadiu m der Konstituierung von Subjektivität. Aber es besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen
der Fähig kei t , Sprache als solche zu benutzen, und der Aneign u ng von bestimmten Sprachen und der Bi ldung imaginärer Identitäten in diesen Sprachen und ihre n j ewei ligen ideologischen und diskursiven Univer
sen . Der Thatche ri smu s stellt uns vor das Problem zu verstehen , wie bereits positionierte Subjekte erfol greich aus ihren »Verhaftungen« ge
löst und durch ein n eues Di skursbünde l e r folgrei ch re -p sitioni ert o
werden können. Genau dies ist eine historisch spezifi s che Anwen
dungsebene der anrufenden (interpeHativen) Aspekte von Ideo l ogie ,
die in den überh i sto ris ch en , spekulativen Verallgemeinerungen des Lacanianismus nicht adäquat au fgegri ffen oder erklärt werden .
Die Lacan sche Psychoa nalyse hat an schei nend vor allem dazu ge
dient zu erklären, wie es überhaupt dazu kommt, daß wir zu Su bj ekten geformt werden , und wie wir in Sprache, Bedeutung und Repräse nta tionen eintreten . Wir sehen uns dem Problem gegenüb er, die zi emli ch
anders gelagerte Fragestellung zu beantworten , wie Subjekte dazu ver an l aßt werden können , i h r Verhältnis zur Welt i n einem ganz anderen Sin nz u sammenhang oder in anderen Repräsentationssystemen als bis
her auszudrucken . Das Abstraktionsniveau , auf dem diese Theorie operiert, ist (auch wenn sie stimmen s ollte) mit der Natur des Objekts,
das sie erklären soll , weitgehend unvereinbar. Wir haben die ganze Zeit von Ideologie gesprochen; aber bekannt
lich ist in v ie le n Bereichen das Ideologi eprobl em durch die Analyse der Vie lfiiltigkei t diskursiver Praxen und Formationen an sich ersetzt worden . Dies hängt unmittelbar mit dem Einfluß Foucaults zusam
men . Eine gründliche Einschätzung der Stärken und Schwächen von
Foucau]ts Werk ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich , aber wir
können bestimmte Hinweise geben . Aus dem , was bisher gesagt worden
ist, wird ersich tlich, daß wir die durch die Analyse des Diskursiven er zielten Fortschritte keineswegs zurückweisen. Es gibt keine soziale Pra
xis, die außerh alb der Sphäre des »Semiotischen« existiert
- das heißt
außerhalb der Praxen und der Produktion von Bedeutung. Hierdurch wurden notwendigerweise die Dichotomien der klassi schen marxisti sche n Ideologietheorien -
materien! ideell,
Basi s / Überbau
- radikal
verändert , ebenso die der Ideologie zuges ch riebene abhängige Position
De r Thatcherismus und die Theoretiker
1 97
im Ensemble sozialer Praxen . Von daher sind die in diesem Beitrag vertretenen Standpunkte durchaus mit der allgemeinen Betonung des Diskursiven vereinbar,
wie sie beispielsweise in Foucau]ts Die
A rchäologie des Wissens (19862) enthalten ist (wenn auch nicht unbe dingt mit den spezifischen epi stemologi s chen Positionen oder anderen
Formulierungen) . Die Archäologie des Wissens, ein Text voller inter
es san ter Wendungen, wurde von späteren »wahren Foucault-Anhän g ern« mit einem symptomatischen Schweigen belegt. Was könnten die
wahren Jünger beispielsweise heute mit Foucaults Feststellung anfan gen , daß diskursive Beziehungen sich »zunächst von den Bezi ehungen , die man »primä re« nennen könnte und die, unab häng ig von jedem Diskurs (. . . ) zwischen Institutionen, Techniken, Gesellschafts
formen usw. beschrieben werden können (unterscheiden) . Man weiß schließlich ,
daß es zw ischen der bürgerlichen Familie und dem Funktionieren der In stanzen und gerichtlichen Kategorien im 19. Jahrhundert Beziehungen gibt, die man für sicb analysieren kann . « (21986, 69)
Diese »anderen Beziehungen« sind seitdem voll ständig vo n j ener groß
artigen nicht-essentiellen Essenz absorbiert worden, von jener letzten Ki e rkegaards chen Spur in Foucaults Ep istemolog ie, dem KÖRPER. Wenn man die tiefgründigen epi stemol ogischen Fragen für den Mo
ment einmal beiseite läßt (Foucaults damal ige Position schien der » rea li stischen« philosophischen Position , der ich selbst anhänge, näher zu sein als dem ausgesprochenen Neo-Kantianismus, in den sie später
hi ne i n gezogen wurde) , beleben und bereichern v iel e der von Foucault über die Funktionsweise des Diskursiven gewonnenen Einsichten un se r Verständnis davon, wie ideol ogi s che Formationen arbeiten,
sel bst dort, wo Foucault das Konzept von Ideologi e ausdrücklich ab lehnt . Diskursive Formationen (oder ideologische Formationen, die nach diskursiven Gesetzmäßigkeiten funktionieren) »formulieren« ihre eigenen Wissensobjekte und ihre eigenen Subjekte; sie haben ihr eige n e s Repertoire an Begriffen , werden von ihren eigenen »Logiken« ge
trieben, arbeiten ihre ei ge nen Ausdrucksformen aus, konstituieren ei gene Verfahren , um zu erkennen, was innerhalb ihres eigenen Gel rungsbereichs »wahr« ist, und auszuschließen, was
»falsch« ist.. Sie
schaffen durch ihre Gesetzmäßigkeiten einen »Raum«, in dem be stimmte Aussagen gemacht werden können; s tändig blockiert, ver
s ch iebt oder ordnet eine Konstellation die andere neu . Dies steht im Einklang mit Foucaults Projekt: zu erklären , warum »eine bestimmte Aussage statt ei ner anderen gemacht wurde « . Daraus folgt nicht, daß soziale Praxen nur »Diskurse« sind. Das
hieße , eine pol emi sch e Behauptung (z .B. das Soziale existiert inner halb des Semiotischen , das Ideolog ische ist von Bedeutung und hat
1 98
Ausge'Wählte Schriften
reale Auswirkungen) in eine Erklärung zu verkehren - wodurch aber die Erklärung von einer Einseitigkeit in die andere gestürzt würde. Ich stelle fest, daß eben dieser Einwand se1bst von denen akzeptiert wird, die sich zum Ziel gesetzt haben - wie Gary Wickham in einem kürz lich erschienenen Artikel in Economy and Society -, über Foucault »hinauszugehen« oder ihn noch zu übertreffen . Ich stimme daher mit
Wickham überein , wenn er schreibt : »Ich ziehe es vor, von 'Praxen' zu reden [statt von Diskursen] , weil der Begriff weniger an die Realitäts
seite der Unterscheidung Wi ssen/Realität gebunden zu sei n · scheint,
als der Begriff 'Diskurs' an die Wissensseite. « »Mit Praxen«, fügt er
hinzu , »meine ich mehr als nur auf Institutionen beschränkte Handlun gen, und ich meine mehr als Dinge, die außerhalb des Wissens liegen. « (»Mehr a]s« bedeutet vermutlich , daß er jene Dinge auch ei nbezieht .)
»Mit Praxen meine ich in diesem Zusammenhang alltägliche Anord nungen von Techniken und Diskursen« - eine Gewichtung, die mir besser gefliJlt. Auf der Suche nach einer nicht-essentialistischen Darstellung ist die »notwendige Nicht-Korrespondenz« diskursiver Praxen so ins Extrem getrieben worden, daß es schwieriger i st, sie einzubeziehen und zu be
rücksichtigen. Der reale theoretische Nutzen , der aus der Erkenntnis der Differenz , der Pluralität von Diskursen, des nicht-essentialisti sehen , mehrdeutigen Charakters von Ideologie gezogen worden i st, droht verloren zu gehen , wenn man den Bogen überspannt und sein Heil in absoluter Mannigfaltigkeit sucht. In Foucaults j üngerem Werk finden sich wertvolle Erkenntnisse über bestimmte diskursive Forma tionen (wobei seine Arbeit über den Archipel der Disziplin in
Überwa
chen und Strafen meines Erachtens die unzulässigen historischen Ver allgemeinerungen der modischeren Bände über Sexual ität bei weitem i n den Schatten stellt) . Aber sein Werk scheint manchmal aus aufge setzten und äußerlichen Gründen Huldigung hervorzurufen . Seine spezifischen Gegenstände - Recht, Medizin, Psychiatrie, Sexualität - haben die »Rückkehr zum Konkreten« bestärkt, ohne den Ansprü. chen jener alten und ziemlich unmodernen Wissensform gerecht wer den zu müssen, die man früher schlicht Geschichte nannte. Für viel e scheint Foucaults Werk beständig vor Radikalität z u glänzen. Ein ziemlich trügerischer Glanz . der lediglich darauf beruht , daß es die magischen Begriffe »Macht«, »Widerstand« und »Plebejer« enthält .
. Sehen wir von solchen Wunderlichkeiten ab, wie z . B. daß das Ver
hältnis Wissen/ Macht al s etwas beschrieben wird , was den Ideologie bereich nicht tangiert, während gerade dies die Fragestellung der Ideo logie ist, so müssen wir doch festhalten , daß der Preis für den Nutzen
Der Thatcherismus
und die
Theoretiker
199
eine radikale AufllJsung des Begriffs der Macht ist . Dies geschieht oft dadurch, daß· man Foucault sozusagen durch Derridas Brille liest. die Sache noch verwirrender zu mach en , scheint Foucault sich manchmal selbst so zu lesen ! ) Es ist eine Sache, von den Schaltstellen und Relai s zu reden, du rch die eine diskursive Praxis in eine andere
(Um
eingreift: Der Thatc herismus erfordert gerade eine solche Analyse . Etwas ganz anderes ist es, wenn diskursi ve Praxen sich ständig auf ver
schiedenen Gleisen bewegen, wie Züge in der Nacht auf dem Weg zu einer unendlichen Vielzahl von Bestimmungsorten . Eine aufsteigende
Analyse der Macht - »au s gehend von ihren w inzig kleinen .Mechanis men« , ihrer » Mikrophysik« - ist schön und gut. Sie unterminiert unse ren H ang , Macht als ein »von oben« oktroyiertes System von Zwangs maßnahmen zu behandel n . Aber da s tiefgrei fende und s chw ierige Pro blem der Beziehu ngen zwischen den horizontalen Mächten in der Zi vil gesell schaft und den sozialen Bez iehungen , und vertikalen Mächten im Staat und in den politischen Verhältnissen (das w ir weiter oben » Zu st immu ng zur Macht« genannt haben) , wird dadurch, daß man Macht »überall« hinverteilt, ni cht angegangen, sondern umgangen. Auf diese Weise werden die Techniken und Strategien der Macht bei Foucault zwar in höchstem Maße spezifizi ert , aber dafür bekommt man ein Machtkonzept , das sehr allgemein und essentialistisch ist (»Der KÖRPER« und »Widerstand« sind andere so lch er sche inkonkreten nicht-essentiellen Essenzen in Foucaults Diskurs) . Faktisch ist das ein sehr D urheim sches Machtkonzept - jene abstrakte Gewalt oder j enes »kollektive Gewissen« in der Gesellschaft, das uns alle fesselt � oder vielmehr: durch das wir uns unentwegt gegenseitig fesseln. Und es führt wie bei Durkheim zu einem sehr allgemeinen Konzept von »sozialer Kontrolle« nur daß· es jetzt modernisiert als »Disziplin« au ftritt , die gänzlich ohne Bezug zu i rgendeinem Verdichtungs- oder Artikulationszentrum wie dem Staat zu sein scheint (Foucault ist in diesem Punkt höchst unbestimmt , seine Jünger aber n icht) . ,
k
Wie unsere Analyse des Thatcherismus deutlich zeigt , können dis kursive Machtverhältnisse nicht ausschließlich auf dem Terrain des
Staates konstituiert werden . Sie durchziehen den gesamten GeseU sch aftskörper ; und die Mächte, die im Staat konzentri ert sind , können diej enigen , die über eine Vielzahl von Praxen in der Gesellschaft ver
streut sind , zu keiner Zeit vollständig kontrollieren. Nichtsdestoweni· ger ist der Moment, in dem die Macht auf den Staat übergeht und sich
dort zu einem bestimmten Ordnungssystem verdichtet , ein entschei dender historischer Au genblick , der eine eigene Phase darstellt. Na
türlich entfaltet der Diskurs dann keine unumschränkte Einheit. »Staat«
Ausgewählte Schriften
200 i s t - eben soweni g wie »Partei«
-
ein endgültige s Stadium, wie in der
klassischen politischen Theorie angenommen. Der Thatcherismus als diskursive Formation besteht weiterhin aus einer Pluralität von D i s kursen - über die Fami lie, die
Ökonom ie
,
nationale Identität, Moral,
Kriminalität, Gesetz� Frauen und die menschliche Natur. Aber gerade aus d iese r Vielfältigkeit ist eine gew isse Einheit konstituiert worden.
Und es gibt verschiedene umstrittene Elemente, durch die das so kon stituierte Reich der Wahrheit wiederum an bestimmte politische Posi tionen gebunden worden ist. Solange diese Fragen der Artikulation gegen den Hang zur Zerstreuung - nicht ebenfalls gestellt werden , wird das » S pi el der Diskurse« lediglich zu einem abgehobenen Spiel für fortgeschrittene akademische Dekonstruktivisten, zu einer Sache des i ntellektuellen Zeitvertreibs, bei dem ein komplexer Diskurs n ach d em anderen enträtselt wird . Um es konkreter zu sagen: die besonde ren Mittel , mi t denen es dem Thatcherismus gelungen ist, ein in sich widersprüchl iches Gefüge zusammenzusetzen , bestehend aus den Lo
giken des M arkts und des Besitzindividuali smus auf der einen und den Logiken eines organischen Kon servatismus auf der anderen Seite, sind für eine Analyse Foucau1tscher Art höchst empfänglich; vorausgesetzt
wir verstehen , daß es die derart gebildete und bewahrte widersprüchli ch e Einheit ist, die »herr scht« - und nicht al1ein die Ordn ung der Viel
falt. Um es au f einen kurzen Nenner zu bringen : Das Problem mit Foucault ist , daß er eine Konzeption von Differenz hat, ohne einen Be griff von Artikulation zu h aben ; oder anders ausgedrückt, eine Kon zeption von Macht ohne eine Konzeption von Hegemonie. Die Frage der Hegemonie führt uns natürlich zu Gramsci. Wieder um i st es nicht möglich, Gramsci im Rahmen dieses B eitrags umfas send zu behandeln , aber es können einige Hinweise gegeben werden ) warum Gramscis »Hegemonie«-Konzept bei der Lösung der Aufgabe , die wir uns gestellt haben - der histori schen Analyse -, anderen Kon zepten überl eg en ist. Hegemonie eröffn et Wege, das Emporkommen
des Thatcheri smus i n Begriffen eines Kampfes um die Vorh e rrschaft
über eine gesamte gesellschaftliche Fo rma ti on zu denken, als Kampf um »Führungs«positionen in verschi edenen Bereichen des gesell schaftlichen Lebens gleichzeitig, als Kampf um die beherrschende Stellung auf breiter strategischer Front. M it dem Hegemoniekonzept läßt sich analysieren, wie ein Herrschaftssystem in die Autorität ein es führenden Machtblocks übergeht, der nicht nur in der Lage i st , sich seine eigene Basis mit Hilfe von Bündnissen zwischen verschiedenen
Sektoren und gesellschaftlichen Kräften zu organi sieren, sondern der zudem
im Laufe dieses Prozesses die breite Zustirmnung entscheidender
201
Der Thatcherismus und die Theoretiker
Teile der beherrschten Klassen gewinnt . Die Vo rteil e dieses Konzepts
liegen vor allem in der Direktheit, mit der es das zentrale Problem an· geht : die Zustimmung der Massen. (Solche Abwege wie »falsches Be wußtsein« sind nicht nötig.)
Ein anderer Vorteil ist die Kritik am »Essentialismus«, die implizit i n allen Formulierungen Gramscis enthalten i st. Hegemonie wird kon
struiert durch eine komplexe Serie von Kämpfen oder durch Prozesse d es Kampfes Sie ist nicht »gegeben«, weder in der bestehenden GeB seIl schaftsstruktur noch in der gegebenen Klassenstruktur einer Pro .
duktionsweise. Sie kann nicht ein für allemal errichtet werden, weil das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte, auf dem sie beruht,
einer fortgesetzten Evolution und Entwicklung unterworfen ist, je nachdem , wie ei ne Anzahl von Kämpfen geführt wi rd . Hegemonie, einmal erreicht , muß ständig und unablässig erneuert, neu inszeniert werden. Daraus folgt, daß die »gesellschaftliche Reproduktion« als ein
fortdauernder und widersprüchlicher Prozeß gedacht werden muß. Also das genaue Gegenteil einer funktionalen E rrungen schaft Im Mit .
telpunkt steht die Vorstellung, daß es verschiedene Formen und Inten sitä tsgrade de s Kampfes gibt . Es sind die verschiedenen Ergebnisse
di eser Kämpfe, nicht die Wiedereinschreibung des bereits Existieren »labile Gleichgewicht«, auf das sich die den »an seinen Platz«, die das r Autorität eines sozialen Blocks grundet, bestimmen . Sie bestimmen
auch, welches seine schwachen oder instabilen Punkte sind , die Punk te, die weiter entfaltet und entwickelt werden müssen. Bezeichnender weise geht Gramscis Analyse einer Konstellation nicht von der Be
schwörung der gegebenen »Gesetze der ökonomischen Entwicklung« a us, sondern von den »augenblicklichen Kräfteverhältnissen« . Auch dieses Verhältnis ist nicht »ein für allemal« vorher festgelegt: Gramsci argumentierte, man müsse »verschiedene Momente oder Ebenen«,
»unterschiedlich häufig auftretende Intervalle« unterscheiden, viel leicht sogar (das Beispiel ist die Französische Revolution) »verschiede n e Revolutionen innerhalb eines sich entfaltenden Prozesses. Das Er ringen von Hegemonie hat niemals nur ein Gesicht, sondern nur eine vorherrschende Tendenz : es ist immer »Dekons truktion und Rekon struktion« (letzteres ist » schon im Moment der Destruktion in volle�
Gang«) oder, wie Gramsci an anderer Stelle sagt, ration« (D
»Revolution/ Restau
318, I 1596) .
Die Beobachtung, daß ein Herrschaftssystem sich zu einer umfas senderen , gesellschaftlichen Autorität ausweitet, führte Gramsci daher
zu einer Kritik des »äkonomismus« . Für Gramsci kann »Hegemonie«
nicht »rein ideologisch« sein, da sie die Herrschaft eines bestimmten
Ausgewtihite Schriften
202
sozialen Blocks in einem entscheidenden Kernbereich ökonomi scher Aktivität« als Grundlage erfordert. Darum erwiesen all diej enigen , die
Gramscis »Hegemonie�-Konzept mit der näheren Bestimmung, es sei »ideologisch«, »aufpolierten«, dem weitgesteckten Horizont seines Denkens einen schlechten Dienst. Gramsei ist äußerst hellhörig für die ethischen , moralischen, intel1ektuellen , ideologischen und kulturellen Dimensionen des Kampfes um Hegemonie. Aber Hegemonie als Kon zept ist nicht nur ethisch oder kulturell . Die »kulturalistische« Ausle gung von Gramsci hat großen Schaden angerichtet. Andererseits kann für Gramsci Hegemonie nicht nur » ökonomisch« sein, weder in ers,te r, noch i n letzter Instanz . Denn sie beinhaltet und überschreitet per defi nitionem »die korporativen Grenzen der re in ökonomischen Klasse«. Sie muß »zum Anziehungspunkt für andere untergeordnete Gruppen werden« und
auf diese Weise »die Oberhand gewinnen und sich in der
Gesell schaft verbrei ten « . Dabei wird nicht nur die Einheit von ökono mischen und politischen Zielen , sondern au ch intellektuelle und mora lische Einheit hergestellt, werden »alle Frage n , um die der
Kampf
tobt«, nicht auf einer korporativen , sondern einer »univer salen« Ebene gestellt u nd dadurch »die Hegemonie einer zentralen gesellschaftli chen Gruppe über eine Reihe anderer,. untergeordneter Gruppen er zeugt ( . . . ) Die treibende K raft einer universalen Expansion, der Ent faltung aller 'nationalen' Energien . « (Gramsci , D 327
f. , I 1583) Dies
setzt Grarnsci mit dem »Übergang von der Basis in die Sphäre des
komp1exen Überbaus« gleich - in seinen Augen ein analytisch irrever sibler Prozeß.
Gramsci schrieb natürlich in verschlüsselter Form über die histori schen Aufgaben der revolutionären Partei, der kommunistischen und der Arbeiterbewegung. (Man achte in diesem Zusamme nhang jedoch auf die ständige Bewegung zur nationalen oder »universalen« Ebene. ) Aber seine Analyse bietet auch einen ausgesprochen guten Ansatz punkt für die Analyse des Thatcherismus. Heutzutage gibt es nichts (mit Sicherheit nichts aus d en Reihen der Linken), was sich nur annä
hernd vergleichen ließe mit Gramscis Beschreibung der Art und Weise, wie in einer Krise »die politischen Kräfte , die darum kämpfen , die bestehen de Struktur aufrechtzuerhalten und zu verteid igen, ( . . . ) unablässige nachhaltige Anstrengungen unternehmen, ( . . . ) die Erfül lung bestimmter h istori sch er Aufgaben zu ein em Gebot der Stunde zu machen « . Der Prozeß der Auseinande rsetzungen und der Kämpfe »ent
wickelt sich in einer Reihe ideologischer, religiöser, philosophischer und juristischer Polerniken t deren Wirksamkeit danach beurteilt wer den kann, wie überzeugend sie wirken und die vorher exist ierende
Der Thatcherismus
und die
203
Theoretiker
Disposition geseUschaftIicher
Kräfte
nicht. (Gramsci , D 324, I 1580)
versch ieben« . Präziser geht es
Weniger bekannt als die Aufsätze, aus denen die obigen Passagen stammen, aber genauso nützlich für unsere Untersuchung, ist Gramscis Theoretisierung des Verhältnisses zwi schen den allgemeineren Pro
zes sen des Kampfes, in dem Hegemoni e konstruiert wird , und den ideologischen Prozessen . Gramsci benutzt den Begriff »Ideologie« in
ei nem heutzutage klassisch anmutenden Sinne: als »Systeme von Ideen« . Aber in einem weitgefaßten Kontext: »Wenn man dem Begriff eine höhere Bedeutung verleihlt im Sinne einer Wel tans chauung die imp lizit enthalten ist und sich manifestiert in der Kunst , im Recht, in ökonomischen Aktivitäten und in allen individuellen und kollektiven Lebensäußerungen. « (D 328, I 1380) Und ihn interessieren die histori scben Funktionen von Ideologie: die Rolle, die sie dabei gespielt hat, »die ideologische Einheit eines gesamten sozialen Blocks zu bewah ren«; Indi viduen und Gruppen mit ihren j eweil igen »Weltanschau ungen zu versorgen, die ihre Handlungen beeinflussen und modifizie ,
«
ren; vor allem aber die Rolle, die sie dabei spielt, »die Menschenmas sen zu organisieren und das Feld zu schaffen , auf dem Menschen sich
bewegen , sich ihrer Lage bewußt werden , kämpfen, etc . « (D 170, I 868). Die RoHe »organischer Ideologien«
-
derjenigen , die danach
trachten, sich über die gesamte Gesellschaft auszubreiten und eine neue Form des nationalen Volkswillens zur Bewältigung einer gewalti gen geschichtlichen Aufgabe zu schaffen - besteht darin, in das ge
wöhnJiche, widersprüchliche, flüchtige Alltagsbewußtsein zu i nterve nieren; in das »praktische Bewußts ein der Massen, in die gegebene «
Anordnung ihres geistigen Lebens einzugreifen , diese zu erneuern und dem Leben eine etwas systematischere Richtung zu geben. Das All tagsbewußtsein ist selbst Ausdruck der
»
popularen Ideologie«, eine
spontane Weltanschauung , in der sich Spuren früherer Denksysteme finden, die sich im alltäglichen »Denken« niedergeschlagen haben .
D as Alltagsbewußtsein
-
die gegebene Grundlage und die Anordnun
gen innerhalb einer Kultur, das komplexe Ergebnis vorausgegangener Kämpfe, vorangegangener Formen von Hegemonie und früherer »labi
ler Gleichgewichte« - wird nun selbst zum Objekt organi scher Ideologien, die ihre eigene Schicht organischer Intellektueller heraus gebildet und ihre Zeit als »Partei« durchgemacht haben, und die nun versuchen, das Alltagsbewußtsein neu zu formen und zu transfor »
«
mi eren . Die ideologischen Prozesse werden von Gramsci untersch iedl ich be
g riffen . Als »erzieherische Aufgabe« ; als »kultureller Kampf,. um die
Ausgewählte Schriften
204
Mentalität des Volkes zu verändern«; sogar als »Kampf opponierender politischer 'Hegemonien',. zunächst auf dem Felde der Ethik, danach auf dem Feld der eigentl ichen Politik« (D 320 ff. I 1375 fL). Im direk ten Gegensatz zu der monistischen Vorstellung einer »herrschenden Ideo]ogie« , d ie immer schon �n Ort und Stelle i st , fragt Gramsci , »wie es kommt, daß zu aBen Zeiten mehrere Systeme und Strömungen des philosophischen Denkens koexistieren und wie diese Strömungen ent stehen, sich ausbreiten , und warum sie in diesem Ausbreitungsprozeß entlang bestimmter Linien auseinanderbrechen und in bestimmte Richtungen streben« (D 133, I 1379). Das ideologische Feld wird hier als ein Feld einander widersprechender, sich teilweise deckender oder überschneidender »Strömungen« oder Formationen gedacht. Die Kernfrage - Foucaults Frage, aber in einer sehr un-Foucaultschen Formulierung ist die nach i hrer Spaltung : Was bestimmt ihre Ver breitungsrichtung, ihre F1uktuation, ihre S truktur, ihre Differenzie rung, ihre Re-artikulation? Um e s nochmals zu betonen: dies ist das genaue Gegenteil der Vorstell u ng von einheitlichen Klassenstandpunk ten, die den bereits fertigen einheitlichen Klassenstandpunkten einer anderen Hauptgruppe gegenüberstehen. Indem er auf diesen letzten Überrest des Essentialismus verzichtet, bekräftigt Gramsci : �
-
»Wichtig ist die Kritik, der solch ein ideologi scher Komplex durch die ersten Re präsentanten der neuen historischen Phase unterzogen wird. Das ermöglicht einen
Prozeß de r Differenzierung und Veränderung de s relativen Gewichts, das die Ele
mente der alten Ideologie vorher hatten. Was zuvor zweitrangig und untergeordnet
war, wird jetzt zentral , es wird zu m Kern e ines neuen ideologischen und theoreti
schen Komplexes. In dem Maße, in dem die untergeordneten Elemente sich gesel l schaftlich entwickeln , wi rd sich der alte koUektive Willen in seine w idersprüchli
chen Bestandteile auflösen
. ..
(1971, 195)
Kernform enthält diese Überlegung Laclaus gesamte spätere Aus fuhrungen zu Artikulationl Desartikulation .
In
Gramsci ist auch nicht blind gegenüber dem Problemfeld, auf das moderne Theoretiker mit ihrer Frage nach dem »Subjekt« verweisen, obwohl er nicht jene Begriffe benutzt. Aber er begreift die widersprüch lichen Formationen des Bewußtseins - z.B. den Bruch , der zwischen der » logisch nachvollziehbaren« Weltsicht eines Menschen und der Weltsicht besteht, die »implizit in seiner Handlungsweise« zum Aus druck kommt. Gramsci geht es um den »gesellschaftlichen « Charakter von Subjektivität - »der Mensch muß als historischer Block verstan den werden«. Ebenso muß das fragmentarische Wesen von Subjektivi tät begriffen werden und die »zusammenhanglose und nücht ige« Natur des Alltagsbewußtseins, die »schichtfOrmigen Ablagerungen« in dei popularen Philosophie, der »eigenartig zusammengesetzte Charakter
Der
Thatcherismus und die
205
Theoretiker
der Persönlichkeit , in der sich »Elemente aus der Steinzeit und Prinzi pien einer entwickelten Wissenschaft, sowie lokale Vorurteile aus allen Phasen der Geschichte und zugleich intuitive Vorwegnahmen einer künftigen Philosophie« finden (D 139, I 1376) . Jedes Individuum,
sagt Gramsci , »ist die Synthese nicht nur der bestehenden Verhältnis
se, sondern der Geschichte dieser Verhältnisse. Er I sie i st die Summe
alles Vergangenen . «
auch ohne weitere Anband dieser ausgewähl ten Verweise sollte sys tematischere Belege - erstens deutlich gewQrden sein , wie weit
Gramsei von den traditionellen und klassischen Versionen der marxi
stischen Ideologiekonzeptionen entfernt i st . ZWf;itens, in wie starkem Maße er - wiewohl in einer Sprache, die noch nicht durch »Anleihen« beim Strukturalismus, der Diskurs- oder linguistischen Theorie oder auch der Psychoanalyse umgebaut (rekonstruiert) worden ist - viele der theoretischen Fortschritte, die diese späteren Entwicklungen ge bracht haben , vorwegnimmt. Und drittens, wie originell einige seiner Konzeptionen sind : i n den anderen Th eor ie n , mit denen wir uns be s chäftigt haben, findet sich absolut nichts,
was
mit G ramsc is fruchtba
rem »Hegemonie«-Konzept vergleichbar wäre. Verglichen damit er scheinen Foucaults Konzeptionen von »Macht« und »Widerstand« als magere, unterernährte Abstraktionen. Und schließlich, viertens, wie es Gramsci gelingt, einerseits eine neuartige Theoretisierung von Ide ologie zu entwickeln , indem er sie in den weiter gefaßten Rahmen hi storischer und politischer Prozesse stellt, und doch beizubehalten , was anderen alternativen Theoretisierungen völlig fehlt. Ich meine damit die letztendlich e Bezugnahme, nicht auf die Terminologie und den
doktrinären Inhalt des klassischen Marxismus, sondern auf die Proble matik des Marxismus, die Gramscis gesamten Diskurs und sein ganzes
Denken strukturiert : die Verbundenheit mit dem Projekt der soziali sti
scben Transformation , das den Marxismus als lebendige Theorie - als
offenen Prozeß kritischen Denkens,. ohne Garantien - von den vielen anderen akademisch abgeschlossenen Diskursen unterscheidet, die ge ge nwärtig um die Vorherrsch aft in der intellektuellen Welt kämpfen . Ich höre darum mit einem Paradoxon auf. Eine Theorie, die primär dazu entwickelt wurde, kapitalistische Gesellschaftsformationen zu
analysieren,
um
strategische Lehren für di e sozialistische Bewegung
daraus zu ziehen , stellt sich paradoxerweise als die Theorie heraus, die u n s arn meisten darüber zu sagen hat, wie man die Analyse einer der
historisch reaktionärsten und ruckwärtsgewandtesten, nach Hegemo ni e strebenden Formationen, die die britische Gesells·chaft in diesem
Jahrhundert gesehen hat, in Angriff nehmen kann . Dies ist vielleicht
206
Ausgewählte Schriften
ein nicht ganz so trostloser Abschluß, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn bis heute i st es gerade die Unfähigkeit des Marw xismus, sein eigenes Denken so zu erneuern, daß er hinreichend erklä ren kann , wie sich der moderne Kapitalismus am Leben erhält und seine hegemoniale Stellung in den industrialisierten Gesellschaften be hauptet, die wir als Mangel empfi nden . Den Thatcherismu s zu verste hen könnte der P rei s sein , den wir für einen wirklichen theoretischen Fortschritt innerhalb der marxi stischen Problema tik zahlen müssen. Zumindest Gramsci hätte einiges Vergnügen an der Unvorhersehbar keit dieser nächsten (letzten?) d ialektischen Wendung gefunden .
Übersetzung: Birgit Ermlich
207
Neuorientierung der Linken Mit Neuorientierung meine ich eine grundlegende Umgruppierung
von Menschen und ldeen � in deren Verlauf die Linke langsam und schmerzvoll die Fähigkeit erlangt , ihrer eigenen Krise ins Gesicht zu sehen . Wozu braucht die Linke eine solche Neuorientierung, und i st
das, was sie kriegt, auch das, was sie braucht? Über einiges läßt sich mit Bestimmtheit schon jetzt etwas s agen - darüber, worum
es nicht
geht. Es ging nie darum, durch einen opportunistischen Schritt zur Mitte rasch an Popularität bei Meinungsumfragen zu gewinnen oder alles dem nächsten Wah1sieg unterzuordnen. Es ging prinzipiell nie um eine größere Loyalität gegenüber der Labour-Führung oder darum,
sich »um sie zu scharen«
weshalb das auch kein Maßstab für eine
Neuorientierung sein kann.. Diese Art Loyalität ist nichts Neues. Sie hat
in der Vergangenheit eine Reihe von Labour-Führungen der ver
schiedensten politischen Zusammensetzungen giestärkt, ohne daß es zu e iner grundSätzlichen Neubestimmung gekommen wäre oder irgend welche neuen Strategien zur Veränderung hätten erzwungen werden
können . Im Gegenteil, Loyalität hieß meistens. die Reihen taktisch zu schließen , erzeugte eine durch den Wahlkampf verursachte Woge des
opportunismus und zähmte die Linken in e!nen engstirnigen parla
mentarischen »Realismus« . Worum es bei diesem Prozeß der Neu orientierung auch immer gehen mag, darum nich t.
Die wichtigsten Fragen s ind : Welche neuen politischen Positionen werden abgesteckt? Greift dieser Prozeß die Grundprobleme der Krise d er Linken auf] Worin liegt in a11 dem die Erneuerung in bezug auf Re
l evanz, Inhalt , Perspektive und Sprache der Linken? Bleiben diese Fra
gen unberücksichtigt, dann könnten allerlei Kurzschlüsse gezogen
oder
es könnte an den falschen Punkten halt gemacht werden. Die
Neuorientierung ist kein Ereignis, sondern ein ProreS, der stets neu au szuhandel n i st . Wollte man die Umstrukturierung ausschließlich or
ganisatorisch definieren, dann könnte man leicht zu der Auffassung gelangen, das Ganze sei vollbracht, sobald nur einige Extremisten das
Feld geräumt haben oder einige neue Bündnisse geschloss,en wurden .
Falsch ist auch der Glaube, es ginge eigentlich nur darum , die »dogma tische Linke« zu verdammen , und das sei's dann.
Die dogmatische Linke Der Neuorientierungsprozeß ist also nur der Weg zu einem weiterrei
c h end en Ziel . Der Versuch , die »dogmatische Linke« zu isolieren, darf nicht einfach heißen , diese oder jene Gruppierung loszuwerden,. deren
208
Altsgewählte Schriften
politische Position (zu Themen wie etwa Verstaatlichung, sozialer Wohnungsbau, Staat, Sowjetunion , Polen) wir zufälligerweise nicht teilen . Derlei Differenzen - die Folge unterschiedlicher Traditionen, Perspektiven und Gruppierungen - wird es in absehbarer Zeit ver mutlich auch weiterhin geben. Überhaupt scheint doch die ganze Idee einer »monolithischen Linken( ein Widerspruch in sich zu sein, der im Gegensatz zu a11 unseren heutigen Erfahrungen steht. Der »linke Dogmatismus« ist eher ein ganz spezifischer, eigenartiger politischer Stil ,. ein Bündel von Haltungen, eine politisch-kulturelle Tradition, die sich durch alle heutigen organisatorischen Fraktionen der Linken zieht - darum geht es. Es geht um die »dogmatische Linke« als Gralshüterin linken Bewußtseins, als po1itischem Garanten, als Lackmuspapier der Orthodoxie; hier steckt das Problem. Und hier liegt auch der Grund dafür, warum sich die Neuorientierung als ein eher langwieriger Prozeß mit allen möglichen Sackgassen herausstellt, und warum er immerzu im Sande verläuft: Injedem von uns steckt ein Stück eines »dogmatischen Linken«, das vo r unserem Bewußtsein Grenzposten steht, bestimmte wesentliche, aber unbequeme Tatsachen aus unserem Gedächtnis streicht, bestimmte Fragen für indiskutabel erklärt, keinerlei Seitensprünge erlaubt und dazu beiträgt, bestimmte automatische und unhinterfragte Reflexe beizubehalten. Bei diesem Prozeß der Neuorientierung kann es sich also, um das klar zu sagen , nicht um eine rituelle Säuberungsaktion gegenüber der »dogmati schen Linken« handeln . Es geht um den »linken Dogmatis mus« als Bremsklotz in einem langen , schweren , aber notwendigen Prozeß. Die Erneuerung des sozialistischen Projektes und die Entste hung neuer strategischer Perspektiven der Linken haben mittlerweile Stück für Stück - und als Voraussetzung für ihre eigene Durchsetzung - viele der politischen Positionen und Haltungen der »dogmatischen Linken« abgebaut . Diese politische Tatsache hat das Band zwischen »Umdenken« und »Umgruppierung« geknüpft.
Obsolet und ausgedient Ein in diesem Sinne »linker Dogmatismus« läßt sich ebenso im Ökono mismus der Labourbewegung finden (im Glauben, die ökonomi sche Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse sei automatisch der Garant für eine bestimmte politische und ideologische Position) wie auch in der blin� den Unterstützung des sowjetischen Sozialismusmodells. die sich bei den lautstärkeren Teilen des Morning Stars (Wochenzeitung der KP) findet. »Linker Dogmatismus« zeigt sich auch in der Tendenz, auf eine
Neuorientierung der Linken
209
Analyse der neuen Klassenkonstellationen zu verz ichten und sich statt dessen rituell i m Glauben an eine »Klassenpolitik«
-
was immer das
se i n mag - zu bestätigen; eine Tendenz, die sich in Tei le n der leiden schaftlichsten und loyal s te n Anhängerschaft von Labour findet. Den ken u nd Strateg ie der Gewerkschaften werden n ach wie vor durch das Beke n ntn is zu den Progr.ammen, Forderungen und Organisationsfor men bestimmt, die in Zeiten einer Gewerks chaftspoJitik entstanden sind , deren Form durch die Erfahr u ng en des weißen, organisierten ,
männlichen Facharbeiters der Schwerindustrie geprägt war - obwohl sich die tatsächliche Zusammensetzung der gewerkschaftlichen Mit gliederschaft s c ho n lange verändert hat. Man findet den »linken Dog
mati smus« in dem, was ich nicht anders als den untheoret i s chen »Neo trotzkismus« nennen kann , wie er sich i n einigen unbedachten Reak tionen der u nabh äng ige n Li nken nieder schlägt . So z um Beispiel i m
FaUe der Sehnsucht nach einer (nicht definierten) »Klassenpolitik«,
wie sie vor kurzem aus Teilen der feministischen Bewegung geäuß,ert w u rde, obwohl gerade dieser Begr iff ei ndeutig dazu benutzt worden
is t, die politische Relevanz weiblicher Erfah ru ngen und feministischen Kampfes anz ugreife n . Der Prozeß der Neuor ienti erung hatte unerwar
teterweise zur Folge, daß verschiedene solche r bizarrer Konvergenzen ans Tag e sli cht gebracht wurden.
Was ist an der Haltung und den Positi onen - oder dem Moden der »dog matischen Linken« , wie ich sie definiert habe -, die die Linke ge formt haben, falsch? Vor allem hat uns dieses Modell über Jahre hin weg auf ei ne Theoriebildung festgel egt , in deren Zentrum nicht meh r die exakte Be schrei bung heutiger gesellschaftlicher, ökonomischer
u nd ku ltu reH e r Realitäten steht . Zweitens hat es uns auf ein Modell der Gesellschaftsveränderung fixiert, das der heutigen ge sellschaftl ic hen Zu s a mmen setzu ng de r Kl as senkräfte und sozial en Beweg unge n , die zur Herbeifiihrung von Veränderungen oder zur Demokratisierung un serer Ge sellschaft notwe ndig sind , in keinster Weise gerecht wird .
Drittens ist es nicht mehr d azu in der Lage, die Erfahrungen der Mehr
heit und die Stimmung derJenigen K räfte im Volk, die d ie Linke gewin n en muß, zu pol iti sieren und weiterzuentwickeln . Viertens w ird Klas se als ein automati scher Mechanismus vers ta nden , durch den die öko
nomisch e Kla s senlage unmittelbar auf die politische und ideol ogische Bühne transferiert we rden kann. Marx' fruchtb a re Unterscheid ung zwischen einer Klasse »an sich« u nd einer, die genügend politische,
kulturelle und s trateg i s c he Einheit entwickelt hat, um eine tragende g e schich tlich e Kraft zu werden
»flir sich�( zu sei n -, ist diesem
Mode)) völl ig fremd , obwohl der »Marxismus« als . eine Art m ag ische
210
Ausgewählte Schriften
Beschwörungsformel von seinen Vertretern beständig im Munde ge
führt w i rd .
Große, alte Sache - brandneue Zeiten D ieses Modell i st eng mit einer Pol i ti k der großen Geste verbunden : ] jeber heroi sch untergehen als gewinnen . Es erpreßt aBe zu dem Spiel chen : .,>Wer i s t der Linkste im ganzen Land?«, das oft genug der Haupt-,
wenn nicht der einzige Gegenstand linker Versammlungen ist. Die
damit verbundene Soziali smusvorstel l u ng trägt zutiefst staatliche Züge -
im Stil e des Fabianismus oder im Stile der Sowjets . Die »dogmati
sche Linke« hat niemals ernsthaft den Schaden in Rechnung gesteHt , den die Erfahrung des rea] existierenden Sozialismus der Linken ein
gebracht hat . Sie ist absolut unfäh ig, eine überzeugende Utopie einer egal itären , offeneren , vieWiltigeren , freiheitlicheren , demokratische ren , selbstbestimmteren Art von Sozial ismus zu entwickel n, die in den
realen h istorischen Tendenzen der heutigen Welt gründet .
»dogmatischer Linken« gemein t .
Das ist mit .
Und m i t »Umdenken« ist d i e notwen dige Destruktion dieser Posi tio
nen u nd Haltungen gemeint. Die Umgrupp ierung der ahen Formen und Kräfte in einen neuen h istorischen Block, verbunden mit diesem Prozeß des Umdenkens, das ist die Hauptaufgabe der »Neuorientie
rung« . Das schl ießt eine Neuformulierung der Sprache des Soziali s
mus mit ein . Neuorientierung heißt, die Strukturen der Linken für
einen tiefgreifenden Prozeß der Demokrati sierung zu öffnen . Es heißt U mgestaltung der Politik der Arbeiterbewegung vor dem Hintergrund des feministischen Kampfes - die »Feminisierung« der Linken , deren
Kopfnicken in Richtung Fem i nismus bislang nur opportunistische Züge trägt. Es bedeutet gleichzeitig, die feministische Bewegung un
mittelbar auf das Feld des Kampfes fjj r eine allgemeine geseUschaftli
ehe, ökonomische und ku1turelle Veränderung zu ziehen � die »Sozia
l i sierung« des Feminismus. Neuorientierung heißt A nerkennung der Tatsache, daß Politik und Gesellschaft in G roßbritannien ein für alle mal du rch das eth nische Moment geprägt sind . Es heißt Neukonstruk
tion der politischen Verbindungen zwischen ParlamentsvertreterInnen
und Wählerschaft, zwischen alten und neuen Klassenkräften, zwi
schen gelernten und arbeitslosen Arbeitskräften, zwischen den alten enteigneten und den neuen sozialen Bewegungen , kurz , zwischen der
großen , alten Sache und den brandneuen Zeiten . . .
21 1
Neuorientierung der Linken
Die Dislokation des Sozialismus All d ies e Probleme müssen in einem größeren Zusammenhang gese hen w erd e n . Sie verwe i s en auf eine g rundsätzliche D i slokation sowohl
des S ozi a li sm u s als auch der Linken in der heutigen Gesellschaft. D iese Dislokation mag zwar in Großbritannien als besonders weit fort ge s chritten g el ten , sie ist aber kei neswegs auf Großbritannien be schränkt Sie hat eindeu t ig internationale Ausmaße. M an braucht sich nur anzusehen, wie langsam aber sicher rund um den Globus di e Poli
tik und das Denken der Neuen Rechten eine kontinuierliche Wiederbe lebung erfährt , die den alten keynesi ani schen und sozialstaatlich orien tierten Konsens zerstört; die weltweiten M arktkräfte sind ein wei teres Mal - vo n l i nken Regierungen , die aufgrund völlig anderer Vorausset zu ngen zur Macht gelang t waren kannt worden .
-
als Maßstab des Handeins aner
Das hängt zum Teil mit der erneuerten politischen Lebenskraft und dem erneuerten Selbstbewußtsein der Neuen Rechten zusammen ,
sowie mit deren erfolgreicher Verschiebung des Kräfteve rhä ltnis se s i n
ei nigen Gesell schaften . Aber das hängt auch mit etwas anderem zu: s ammen , mit etwas weniger klar Definierbarem . D i e Neue Rechte er scheint heutzutage als diejenige historische Kraft, die i n der Lage ist,
sich die widersprüchlichen ,. neuen Strömu ngen draußen in der WeIt nutzbar zu machen . Es i st eben die Rechte, die vol l er Zuvers i cht den
Weg für einen mit neuer Energie gel adenen kapitalistischen Weltmarkt e rba rmungslos freischaufelt,. die ganz »natürlich« d i e S prache der
neuen Computermänner spricht, der Marketing-Wunderknaben � der knal lha rten Geschäftemacher. Die hi stori s che Initiative Hegt derzeit nicht in unserer Hand . Die Linke l enkt u nd formt d i ese Kräfte nich t , si e w i rd vielmehr selbst tagtäglich von ihnen geformt . Was hat diese tiefgreifende, hi stor i.s che Wende ausgelöst? Warum
haben so viele Li nke das Gefühl, nicht nur für einige Zeit die taktische In itiat ive verloren zu haben , sondern ihre eigene Sprache bricht ihnen
über dem Kopf zu samm en? Vermutlich hat j ed e und jeder in der Lin
ken ihren oder seinen Lieblingsgrund dafür. Es könnte sich a lle rdings
lohnen , eine Darlegung dieser Grunde zu rislderen, ni cht nur weil das die Diskussion anregen würde, sondern auch weil wir damit , da wir j a
j etzt noch nicht genau wissen, was wir denken, e i n ige Schr itte voran kom me n könnten, indem wir klären, worüber wir nachdenken sollten . Gerade jetzt brauchen wir eine begrenzte Zahl strategischer Fragen , über die w i r eine breite Debatte in der Linken initiieren sollten . Und Deb atte ist hier keine höfliche U msch reibung für »politische Pro g ra mme « .
Ausgewählte Schriften
212
Solche Debatten sind eher - wie Peter Glotz, der in Westdeutsch land eine ähnliche Diskussion angeregt hat, kürzlich schrieb
-
»kol
lektive Lernprozesse« . Eine Voraussetzung für einen derartigen Lern prozeß besteht darin, sich endlich kl arzumachen , daß diese strategi schen Themen nicht unbedingt der Linken »gehören«. S ie sind nicht »unser« Eigentum . Ein solches strategisches Thema i st zum Beispiel
})Demokratie« . Dieses Thema ist nicht nur mi tnichten unser exkluslves »Eigentum«, wir haben seine Kraft als eine revolutionäre Idee über Jahre hinweg sogar gnadenlos auß.er acht gelassen. Weder die Linke noch die Rechte lebt jeweils in einem geschlossenen Universum . Sie
'
müssen um Ideen streiten und sich mit den Realitäten auseinanderset zen, die unser aller Leben heute bestimmen . Natürlich sollte die Linke zu diesen Ideen etwas G rundsätzliches zu sagen haben, eine grund sätzlich andere Perspektive als die Rechte anzubieten haben. Aber wir leben nicht in einer völlig anderen Welt , die Linke kann sich auf d ieser Welt keine Insel schaffen . Unsere Kritiker haben manchmal recht, wenn sie konstatieren , »Realismus« sei oftmals nur ein Deckname dafür nachzugeben, sich anzupassen, weH es angeblich »keine Alternative gibt« . A ndererseits aber brauchte die Linke noch nie so dringend wie jetzt eine gesunde, ordentliche Portion »Real ismus«, wie er zu jeder marxistischen Per spektive gehört; sie braucht ein Wissen über die determinierenden
Grenzen, die unausweichlichen Tendenzen und Richtungen , die die wirkliche Wel t setzt Die britische Wirtschaft - ob kapitalistisch oder wird durch noch so viele Gebete nicht von heute auf morgen aufblühen . Keine Regierung sei sie links oder rechts -
sozialistisch
_ .
-
kann die strukturelle Arbeitslosigkeit in Großbritannien über Nacht entscheidend verringern. Die notwendigen Grenzen poli tischer oder ökonomischer Strategien werden nicht einfach von dem - aHerdings sehr wichtigen
-
politischen »Wil1en« gesetzt. Sie liegen in der, wie
Marx es auf seine altmodische Wei se formuliert hatte, »wirklichen Be wegung der Geschich te« , die eine außerordentlich harte Lehrmeisterin ist.
Die neue industrielle Revolution Die erste Hauptursache für die Dislokation der Linken hängt damit zu sammen, daß sie es versäumt hat, s ich auf dem Boden der neuen i ndu striellen Revolution zu bewegen und ihre Argumente für den Sozialis mus auf dem Terrain dieser neuen Phase der ökonomischen Entwi ck1ung im Westen zu verorten. Natürlich hat diese epochale Entwicklung keine planmäßige oder rationale Gestalt , aber wir soHten daruber keinen
213
Neuorientierung der Linken
Augenblick die Tatsache aus dem Au g e verlieren , daß sich in ihrem
Kielwasser alles verändert - auf die übliche ungleichmäßige und wi dersprüchliche Wei se. Die marxistische Vorstellung eines Sozialismus gründ ete sich nicht zufäll i g auf einer früheren Einsicht in die histori schen Tendenzen der kapitalistischen Entw i cklung ,
weshalb ihr
Schlüsselwerk auch den Namen Kapital trug, und nicht »Sozialismus � .
Niemand kann behaupten , Marx hätte ein Sozialismuskonzept ausge a rbei tet, das schlicht darauf hinausgelaufen wäre, die Parameter des Industriekapitalismus in dem Stadium zu akzeptieren , in dem Marx ihn damals analysierte. Ein heutiger Sozialismus hat keine Chance, sich den Richtlinien der gesellschaftlichen und ökono m i schen Organi sationsformen zu entziehen, die heute die fortgeschrittenen Produk
tionszentren in der modernen Welt beherrschen .
Das Unvermögen der Linken , diese neuen Realitäten in ihre eigene Zukunftsperspektive zu integrieren , ist das Resultat einer Reihe mit
einander verbundener Entwicldungen. Die neuen Technolog i,en for men mit großer Geschwindigkeit Qualifikationen und soziale Identitä
ren neu , gruppieren die A rbei terscha ft um und zerstören die alten Ar beitsmuster. Aber von d i es en alten Formen der materiellen Arbeit ist
die gesellschaftliche und politische D iszipli n der Arbeiterklasse und der Arbeiter bewegu ng in der Vergangenheit im wesentlichen abhängig gewesen . Außerdem hat die ka pital istisch e Produktion neue Formen
angenommen , und zwar sowohl auf der Ebene der multinationalen Konzerne, die durch die integrierenden Mechanismen der revolutio n ierenden Informationstechnologie die Arbeitsprozesse quer über den Globus zwischen einer fragmentierten Arbeiterschaft koordinieren , als auch auf der Ebene der nationalen Produktion, wo d ie auf Fließ
han darbeit beruhende Massenproduktion - typisch für den Entwick lungszeitraum, in dem das klassische Modell einer sozialistischen Zu kunft gezeichnet wurde - durch das, was Robin Mnrray den nenen
Antrieb zur »flexi blen Spezialisierung« nannte, rasch abgelöst wird. Das gesamte Bild der sozialistisch en Produktion wurde von dem mo dernen Fließprozeß der Fordschen Fabrik beherrscht, die zum Gegen
stand einer revolutionären Iko no gr aphie sowie ein er Industriesoziolo� gie wurde, die die sozi �l is tische Ästhetik zur Zeit der Rus sischen Re volution prägte. Diese Asthetik mag zwar unsere revolutionären Sinne a nsp rechen , aber von denen , die wirklich in i rgendein em zukünftigen Produktionsprozeß arbeiten (was auf jeden Fall ein abnehmender Teil der gesamten Arbeitskraft sein wird) , werden immer weniger an derar tigen Arbeitsplätzen und unter dieser Art
von
Fabrikregime arbeiten .
Daher haben sich alle ökonomischen Programme und Forderungen,
Ausgewählte Schriften
214 II
die d i esen Typus von i ndustrieller Wirtschaftsorganisation im Zen
trum haben, überlebt . Und mi t ihnen fall t auch die alte sozialistische
Vorstellungswelt.
Gl e ichzei ti g wird der Weltmarkt durch eine neue Dynamik umge staltet . Er fli eßt j etzt d i rekt i n die Produktions- und Di stributionskrei s läufe d er nationalen Wirtschaft ei n , bringt ihren Rhythmus durchein and er, unterläuft die klassischen k eyn esi ani schen Kontroll strategien
und macht damit aUe Vo rs tellu ngen über den »Soziali smus in einem
Land« , dem sich d er Hauptstrom des linken Denkens in Großbritan nien i nstinktiv verschrieben hat , zunehmend obs olet . Welche Hoff
nung hat ein » sozial i stisches Großbritannien«, das den Fo lgen dieser
weltweiten ökonomischen Revolution entfl ie h t - ein Großbritannien ,
das, wie die Di nge nun einmal l i egen , am äußersten Ran d e Westeuro pas ho ckt und im Zentrum einer weltweit vernetzten Fi nanzw i rtschaft steckt -, wenn nicht einmal die autarken Strukturen der o steu ropä i schen
Ö kon omi en au sreich end »g eschl ossen waren , um s ich vor dem «
Wind der Veränderungen schützen zu können?
Natürlich entwickelt sich d i e neue i ndust r i elle Revolution auf ga nz
und gar u n symm et ri s c he und verdrehte Weise. Die weltwei te Exp an sion der kapital i s t i schen Produktion hat in e rster Linie Rezession, In dustrieabbau und A rb ei tsl o sigkeit im e ige nen La nd produzier t . Aber
mit ei ner Poli t ik der Umv ertei l ung des Reichtums - die sich auf den ' vorhandenen ökonomischen Kuchen -beschränkt - ist es nicht mehr getan . Produktionsbereiche, d ie im Zen trum der gesamten Geschichte der Arb ei terb ewegung en g esta nden haben , sind für immer dahin. Was in Zukunft bleibt, ist die n eu e internationa1e Arbeitsteilung. Der ratio
nale Kern , der der Pri vatisierungstendenz zugrundeliegt, ist die kapi talistische Produktion in kleineren, verstreuten Produktionseinheiten - die D eze ntra lisieru n g von Teilprozes sen und ihre Zerleg u ng i n un
a bh ängig e Spezialeinheiten . Damit wi rd jedes soziali sti sch e Produk tionskonzept klarkommen mü sse n . p ies e D ezentral is i eru n g bietet die
Grund lage für eine feinere Ko n troll e über Angebot u nd Na ch frage in Übereinstimmung mi t den mo dern en Märkten und für größere, flex i blere Wahlmöglichkeiten , was n ich t nur »kapitalisti sche« Tugen den sind . Natürlich werden all diese El emente s ch eibchenweise ei ng eführt und mit dem erklärten Ziel , die Rechte der Arbei tersch a ft sowie die Arbeiterorgani sationen zu schwächen , die A rbei terschaft zu zersplit
tern, die Tätig kei ten zu d equal ifi zi eren und neue Kriteri en für Markt wert und Nutzen zu etab]jeren . Das sozialistische Denken wi rd diese
Elemente nach gänzli ch anderen M aß stäben für gesellschaftliche Prio ri täten verändern müssen . Aber ob es uns nun gerant oder nicht , der
Neuorientierung der Linken
215
Sozialismus wird von nun an in dieser Welt leben müssen oder unter gehen .
Die Neubildung der Klasse Der zweite,
mit dem obigen eng verbundene Faktor, der zu dieser hi storischen Dislokation des Sozialismus und der Linken beiträgt, ist die Umstrukturierung der Arbeiterklasse in der modernen Industriegesell schaft - die NeubiJdung des Trägers der historischen Veränderungen im sozialistischen Szenario. Es war schon schlimm genug, als diese Klasse es, entgegen allen klassischen Vorhersagen , versäumte, die ihr historisch zugeschriebene Rolle zu erfüllen - was kein bloßer Zufall war. Das lag an vielen Dingen, mit Sicherheit auch an einer zu mecha nistischen Auffassung von Klasse, die nicht erkannte, wie sehr der ka pitalistische Arbeitsprozeß die Arbeiterschaft spaltete, fragmentierte und segmentierte, und zwar zur gleichen Zeit, in der er die Vorausset zungen für ihre politische Vereinigung schuf. Aber jetzt haben wir es nicht lediglich mit dem Fehlen eines abgesicherten revolutionären Sze narios zu tun, sondern mit einer tatsächlichen Neuzusammensetzung der Klasse selbst. Auch dieser Prozeß der Umbildung und Umstruktu� rierung der Arbeiterklasse verläuft weder gleichmäßig noch einheit lieh . Aber die Organisation der Arbeit unterliegt Stück für Stück einem Veränderungsprozeß : Er besteht in der Ausdifferenzierung der Tätigkeitsarten, aus denen ))die Arbeit« jetzt besteht, aus den neuen ge sellschaftlichen Spaltungen, die daraus hervorgehen, aus den neuen gesel1schaftlichen Orten, an denen die Ausbeutung jetzt stattfindet. Die alten Unterscheidungen zwischen »produktiver« und »unprodukti ver« Arbeit oder zwischen Produktion und Reproduktion, die im Zen trum des Sozialismus selbst die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung mit äußerster Wirksamkeit etabliert haben, brechen mehr und mehr zusammen. Diese Fakto,ren verändern die Inhalte des Sozialismus, indem sie die Kultur derjenigen, die eines Tages vielleicht den Sozia lismus »machen«, neu definieren . Die gesamte materielle Basis des So zialismus wird langsam aber unerbittlich transformiert. In der Ära fle xibler und Teilzeitarbeit, in der Frauen und Schwarze einen wachsen den Anteil der Erwerbstätigen bilden, in der die Arbeit im Dienstlei stungssektor die Arbeit im sogenannten »produktiven Sektor« rasch überholt, in der die Frauen in den dequalifizierten Bereichen der mo dernen Technologie vorherrschen und zwar mit einem derartigen Übergewicht der Arbeitskraft in halb-staatlichen Unternehmen auf Jokal�r oder nationaler Ebene; in dieser Ära verliert das ganze Bild des männlichen Proletariats - der »Vorhut der produktiven Klasse« -
Ausgewählte Schriften
216
jeglichen Sinn , es sei denn als historische Erinnerung. Es geh t daher um mehr als nur um den Zusammenbruch der traditionellen Träger der
Gesellschaftsveränderung. Es geht um die Erosion von Arbeitskultu ren, von ökonomischen Organisat io nen , gesellschaftlichen und ge schlechtsspezifischen Identitäten, in denen die Linke früher wie selbstverständlich verwurzelt war. Deshalb muß die F rage gestellt wer
den , auf welc h en neuen, realen Formen des gesellschaftlichen Lebens
die sozialistische Zukunftsvorstellung sich heute gründen kann. Die Antwort liegt keineswegs auf der Hand.
Der real existierende Sozialismus Der
dritte Faktor dieses historischen Prozesses der Dislokation hängt
mit der krisenhaften Auflösung der Modelle zusammen, die auf den Formen des »real existierenden S ozi al i s m us«
in der heutigen Wel t ba
sieren . Man braucht n icht viele Worte darüber zu verlieren, daß sich das Modell des Sowjet-Sozialismus nicht als reale Alternative für d ie Linke erwiesen hat, und man braucht, um das zu vertreten, nicht unbe dingt in einen Antikommunismus zu verfallen. Nichtsdestotrotz ist überhaupt nicht selbstverständlich , daß die Linke diese historische Tatsache auch wirklich akzeptiert und im Lichte dieser Erfahrung ihre
eigene Vorstellung von einem demokratischeren Modell radikal neu denkt . Schl ießlich hat sie überhaupt keinen Anlaß, sich leichten Her zens überlegen zu fühlen . Zwischen den Regimen in Oste u ropa und den Modellen der Sozialdemokratie, mi t denen sich die westliche Linke größtenteils zufrieden gibt, liegt eine Welt von Unterschieden . Und dennoch , trotz all dieser Unterschiede, die offen und klar ausge sprochen werden müssen , gibt es auch eine Reihe überraschender Ähnlichkeiten, die es zu bekämpfen gU t . In heiden Systemen hat der Sozialismus eine »staatliche« Form ange nommen . In beiden Systemen wurden die Dinge den Massen aufge zwungen oder von oben »gegeben«
�
dabei fand aber kein Prozeß der
Politisierung oder Ennächtigung der Massen statt. Der Sozialismus mußte dafür, daß in der Sowjetunion die Partei zum Stellvertreter der Massen wurde, einen unglaublich hohen Preis bezahlen . Aber wir sollten darüber nicht vergessen , daß auch im technokratischen sozial demokrat is chen Gesellschaftsmodell die Menschen keineswegs die Subjekte, sondern die Objekte der politischen Praxis sind . Der Impuls zum Sozialstaat mag zwar menschlich gewesen sein (obwohl das nicht
das einzige Motiv war, das hinter seiner Einrichtung in allen fo rtge schrittenen kapitalistischen Gesellschaften der Nachkriegszeit stand) �
217
Neuo rientierung der Linken
aber es kann kei n Zweifel darüber bestehen, daß die Ei n rich tung einer
m ildtätigen Wohlfahrtsbürokratie di e Macht der M a s sen höchst effek tiv abgeb aut hat .
Bei all ihren g rund s ätzlich en Unterschieden haben beide Systeme
den Zu sammenh ang zwischen Sozialismus und Ausweitung ge sell
s cha ftl ich e r Frei h ei ten vern ac hl äs sigt - wobei sie fal schlicherweise d azu tendierten , dem Begriff Freiheit eine ausschließlich » l ib erale « Herkunft zuzuschreiben. Wir fan gen ge rade erst an , den Etati smu s ei n System , in dem der Staat so weit expandiert, bis er mit der gesam ten Gesell schaft zusammenfällt - als eine hi stori s che Tendenz zu er fassen, die heiden , den »real existierenden« sozialistischen und den ka pitalistischen Klassendemokratien gem ei n s am ist, u nd wir erkennen, daß diese Tendenz eine Deform ierun g d e r u rsprü ng li chen , emanzipa tori s chen sozialistischen Idee in bei den Systemen dars tell t
,.
.
Die Finanzkrise Beim vierten, pote n ti ell ex.pl osiven Punkt handelt es sich um das, wa s manchmal die »Finanzkrise des Sozialstaates« genannt wird . Die That eh er Regieru ng hat das Ausmaß dieser Krise im ei genen Interesse ab sich tl ich übertrieben, aber sie hat sie nicht erfunden . Natürlich würde d ie Linke liebend gerne die Kü rzungen sofort wieder rückgängig ma chen und den Sozialstaat weiter ausbauen . Und je kompl exe r die For men der ge sellsch aftl ichen und industriellen Organisation werden j e älter die Durchschnittsbevölkerung, j e größer das Ausmaß der gesell schaftlichen Bedürfnisse, um die wir uns kümmern müssen, desto grö ßer wird das Ausmaß der beab s ich t igten Expansion des Staates. Ein au s gedeh n ter Sozialstaat, der dem Ausmaß und der Tiefe der gesell schaftlichen Probleme des modernen industriellen Lebens entspricht, mag nicht jen seit s unserer Möglichkeiten l iegen Aber es ist glei cher maßen unvorstellbar, wie er a ngesichts des pote nzierten Bevöl ker ngs wachstums oh ne ein reale s u nd abge si ch ertes Wirtschaftswachstum ge tragen werden kann. Dieses Prob lem betrifft übrigens nicht nur die westlichen kapitalistischen Sozialstaaten. Mit den sinkenden Wachs tu msraten in den »real existierenden sozialistischen« Staaten wird ,es langsam auch in di esen Ländern spürbar. Natürlich be steht d i e Aufga � be der Linken darin , die ge s ells ch aftli c hen Bedürfnisse über das Lei stungsp rinzi p zu stellen . A ber die Zei ten i n denen der Sozialismus sich auf der Vorstellung von unendlich s teigenden gesellschaftlichen Bedürfnissen und unerschöpflichen Ressourcen gründ en konnte, s ind vorbei - falls es sie jemals gegeben hat. Wenn die gesellschaftlichen Wünsche und Bedürfnisse der Menschen mit ihrem Geld befriedi gt -
,
.
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218
Ausgewählte Schriften
werden sollen , dann ist es nicht » rein kapital isti sch« zu fragen , wie hoch die Kos ten sind , wo und wann es Zwänge zur Ausgabenbeschrän
kung gibt und wie man zu kollektiveren, öffentlichen Formen der Prio ritätensetzung und Entscheidungsfindung kommt, die ja in der »real existierenden Welt« bestehen müssen . Eine Welt , in der unzählige Menschen täglich an Hunger sterben , »schuldet« Großbritannien kei nen Sozialstaat. Sich er i s t die technokratische Sprache der Effektivität und »des Leistungsprinzips�< , die durch die Vorstandsetagen aller gro ßen Institutionen in Großbritannien fegt, explizit darauf gerichtet, den freien Markt und d i e privatisierte Gier zu preisen . Andererseits hat mic h bislang noch niemand von den Vor zügen einer Ineffektivität und
Verschwendung » zum Nutzen des Sozialismus« überzeugen können . Aber viele Menschen scheinen noch immer in einem vergangenen Zeitalter zu leben , das heißt vor dem Erwachen des ökologischen Be wußtseins über die Begrenztheit der Ressourcen auf dem Planeten
Erde.
Die patriarchalische Linke Der fünfte und letzte Punkt, den ich hier anführen möchte, betrifft den Feminismus und die Sexualpolitik. Die Fo rderun ge n der Frauenbewe
gung zu Fragen wie Abtreibung und Verhütung , gesetzliche Recht.e,
gleichen Lohn fü r gleiche Arbeit, Arbeitsorganisation und Schutz vor Gewalt in der Ehe beginnen langsam aber sicher die traditionelle Rolle
der Frau aufzulösen - und nicht nur für Frauen, die sich in der femini stischen Bewegung engagieren . Man kann kaum verstehen, wie eine L inke, deren Ziel explizit die »Umgestaltung der Gesellschaft« ist, sich so hartnäckig von dieser neuen gesellschaftlichen, revolutionären Kraft abkapseln konnte. D as wachsende Selbstbewußtsein der Frauen fangt gerade erst an, die Gesamtheit unseres gesellschaftlichen Den kens zu transformieren . Aber der Zusammenhang, um den es mir hier geht, ist n och ein an derer. Ich meine den vom Feminismus und der Revolution in der Se xualpolitik angeführten kompromimosen Angriff auf den Patriarcha lismus. Diese Entwicklung führt deshalb nicht zu einer uneinge schränkten Stärkung der Linken, sonde rn ist ebenso ein Element ihrer Dislokation, weil die patriarchalische Ku ltu r nirgendwo so tief veran kert ist wie in der Linken selbst. Die Linke hat stets dazu tendiert, »das
Politische« sehr eng zu definieren . Wenn man sagt, die britische Linke könne in der Verteidigung ihrer korporativen Interessen stark sein, sei
aber nicht »hegemoni al«, dann verweist das genau auf d iese Unfl:ihig keit zu verstehen, daß der Kampf für die »Umgestaltung der Ges ell -
2 19
Neuorientierung der Linken
schaft« als ein Stellungskrieg ausgefochten werden muß, der an ver schiedenen Fronten zugleich stattfindet . In diesem Kampf wird die Zu sammengehörigkeit von Dingen sichtbar, die in unserem vorherr schenden Alltagsbewußtsein getrennt vorkommen. So die Ansicht,
moralische, soziale, familiale, sexuelle und kulturelle Fragen hätten allesamt nichts mit dem »sozial istischen Kampf« zu tun
-
eine An
sicht, die durch und durch von einer männlichen Weltanschauung ge prägt ist. Man stellt sich irgendwie vor, die Linke würde ein freieres, emanzipierteres Leben hervorbringen, während zugleich die Formen des Familienlebens und des Sexuallebens, in denen unsere Machtin stinkte zuerst geformt und reguliert werden, unberührt bleiben . Der Sozialismus würde - per Revolution oder Abstimmung - eingeführt, während gleichzeitig die Gesellschaft irgendwie u nverändert bleibt. Die Zeitbombe, die Feminismus, Schwulen- und Lesbenbewegung und die aHgemeine Sexualpolitik dem »Patriarchali smus« der traditio nellen Linken vor die Füße gelegt haben, i st die Frage nach den mögli chen Formen des gesellschaftlichen Lebens in jeder vorstellbaren so ziali stischen Gesellschaft. D i e bittere Wahrheit ist , daß die Linke oft von den gleichen gesellschaftlichen und kulturellen Formen stabi lisiert und zusammengehalten wurde, die ihre Unterwerfung garantierten. Der Patriarchalismus, die nicht kritisierten Formen der modernen Fa milie, die Muster geschlechtsspezifischer Herrschaft , die Disziplinie rung der Lust, die Verstä rkung eines gesellschaftlich konformen Ver haltens - das sind einige der Schlüsselformen, mit denen die politi sche Bewegung der Linken es geschafft hat, in ihrem kulturell en Kern zutiefst konservativ und traditionen zu bleiben. In den Köpfen unserer ruhmreichsten, radikalsten »street fighter« verbirgt sich immer noch der kleine »Familienvater«, Die Linke kann ihre eigene Kultur nicht von heute auf morgen um wälzen . Allerdings ist es vollkommen undenkbar, sie könnte, ohne selbst ei ne Kulturrevolution irgendeiner Art zu durchlaufen, jemals . wieder eine historisch hegemoniale Kraft werden . Wenn es bei dem Prozeß der Neuorientierung überhaupt um i rgend etwas geht, dann darum, sich diesen strategischen Fragen zu stellen. Di e hier angeführten sind dabei nur ein Teil des Problems. Es ließen sich noch weitere hinzufügen. Alle zusammen stellen eine gru ndsätzli che Herausforderung dar. Kein kurzfristiges Programm bietet hier eine
Lösung. Der Prozeß des Umdenkens und der Erneuerung wird , ange sichts der Probleme, vor denen wir stehen, v iel Zeit in Anspruch nehmen .
Übersetzung:
Birgit Ermlich
Ausgewählte
222
Schriften
ziemlich ähnl iche Dinge zu sagen scheinen . Nur schlagen sie genau an diesem Punkt fleißig Kapital gegen uns heraus, indem sie die weitver breitete Unzufriedenheit über die Formen staatlicher Unterstützung
als Antrieb nutzen für einen Kreuzzug, den sie im Zeichen der Zurück drängung, eines »-roll-back« des Staates gegen die Linken , führen . Und wo stehen wir, wenn wir ehrlich s ind , in d ieser Frage? Sind wir für ein »roll-back des Staates« - mitsamt dem Sozial staat? Sind wir für oder
gegen d i e Ver wal tu ng der ganzen Gesellschaft durch den Staat? Nicht zum ersten Mal packt hier der Thatcherismus die Linke im Sprung wie wir auf wackligen Beinen von einer unklaren Position zur nächsten h üpfen
.
Vielleicht hilft es uns zu wissen , w i e wir in dieses Dilemma geraten s i nd? Das ist für sich allein schon ein weitgestecktes Thema. Ich schla ge vor, hier nur v ier Aspekte zu betrachten . Erstens, wie kam es zu d ie ser engen Liaison der britischen Linken mit einer Konzeption des So zialismus als Staatsverwa1tung, dem Kern dessen, was ich »Etatismus« oder » etatistische« Sozial i sm uskonzeption nennen möchte? Zweitens möchte ich einige der Gründe dafür skizzieren, weshalb sich die Aus dehnung des Staates, für die so viele der Linken so schwer arbeiteten, i n der P rax i s als eine sehr widersprüchBche Erfahrung entpuppte. Drittens möchte ich mich mit der Verwirrung auseinandersetzen, die der »Liberalismus« der Rechten bei den Linken gestiftet hat - damit, wie der Thatcherisrnus die Erfahrung des sozial staatlichen Etatismus ausgenutzt und zum Vorteil der Neuen Rechten umgemünzt h at. Zu l etzt möchte ich einige Veränderungen in den sozialen und ökonomi
schen Verhältnissen von heute betrachten, die spontaneistische Ha ] tun gen i n der Linken hervorgerufen haben
-
was ich das Aufkommen
eines l i nken , libertären Denkens nenne . Als Schlußfolgerung kann ich nur grob einige Richtungen anzeigen , in die unser Denken weiterent wi ckel t werden muß.
Die Geschichte Wie i s t es dazu gekommen , daß sich die britische Linke so tief in eine etatisti sche Sozialismuskonzeption verrannt hat? Schließlich war es entgegen der Meinung viel er - nicht immer so. Der Staat spielte i m frühen sozialistischen Denken nicht diese zentrale, alles durchdrin gende Rol1e. Marx und Engels sahen die Rolle des kapitalistischen S taates darin , für eine bestimmte Ausbeutungsform eine umfassende soziale und politische Ordnung zu entwickeln , und sie sprachen , kurz aber energisch, von der Notwendigkeit, ihn in der bestehenden Form
zu zerstören. Aber ihr Denken über die zukünftige Rolle des Staates im
Der Staat
-
der alte M:rwalter des Sozialismus
223
Übergang zum Sozialismus war ziemlich skizzenhaft. Andere radikale Denkströmungen im britischen Sozialismus waren, wenn überhaupt,. tendenziell eher anti-staatlich als pro staatl i ch orientiert. Selbst in der -
entscheidenden Periode zwischen dem Wiederaufleben des Sozialis
mus in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bis in die 20er Jahre . dieses Jahrhunderts und während des Entstehens der
Labour Party in
ihrer modernen konstitutionellen Form als die Mehrheitspartei , die die arbei tenden Klassen politisch repräsentiert , mußte eine etatistisch orientierte Richtung des Sozialismus innerhalb des Labourismus und der Arbeiterbewegung mit vi elen anderen Strömungen kämpfen } ein schließl ich natürlich der starken syndikalistischen Strömungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Und später mit dem ethischen Marxismus der Independent Labour Party mit ihrer tiefsitzenden Abneigung gegenüber der von oben nach unten gerichteten etatistischen Orientie rung d er Labour Party. Einer der vielen Streiche, welche die retro s pektive Konstruktion einer l inken Tradition den Sozialisten gespielt hat, besteht darin , den Tri u mph des Labourismus über diese anderen sozial istischen Strömungen - Resultat eines massiven , politischen
Kampfes, in dem die herrschenden Klassen eine Schlüsselrolle spielten - als einen natürlichen und unvermeidlichen Vorgang der Erbfolge er scheinen zu lassen . Doch genau in diesem kritischen Zeitabschnitt - zwischen den
18 80em und den 1920ern .. . , als die Parameter britischer Politik für di e folgenden 50 Jahre erstmals festgelegt wurden , schlug der Etatismus in der britischen politischen Kultur Wurzeln . Damals lief das, was wir heute »Etatismus« nennen, unter dem Titel »Kollektivismus«. Für un sere Analyse ist die Tatsache entscheidend, daß es viele Kollektivismen gab. »Kollektivismus« war eine höchst widersprüchliche Formation � die sich aus verschiedenen Strängen zusammensetzte. Die Rechte, das Zentrum und die Linke traten auf unterschiedliche Weise dafür ein (wenn wir der Einfachheit halber diese einigermaßen anachronisti schen Etiketten noch benutzen können) . Der Kollektivi smus wurde von großen Teilen der Rechten und von Teilen der führenden Klassen als die Antwort auf den niedergehenden Stern Großbritanniens angese
hen . Das Land brauche - so g l aubten die neuen KollektivistInnen ein Programm zur »nationalen Erneuerung«. Dies könne nur i n die Wege geleitet werden , wenn die überholten Losungen des Laissez1aire
endgültig aufgegeben würden und der Staat verstärkt die Rolle o rgani
scher Führerschaft in der Gesellschaft übernähme. Für ein solches Projekt könne. so glaubten sie, unter den beherrschten Klassen die Un
ters tützung eines »populistischen« Blocks gewonnen werden, voraus-
Ausgewählte Schriften
224
gesetzt , d iese Klassen würden durch staatliche Pensionen und andere Zuwendungen vom bismarckschen Typ »weichgeklopft« werden . Das war sowohl das Programm der » sozialimperialistischen« Schulen als auch derjenigen , die »national e Leistungsfahigkeit« propagierten und die damit verbundene höchst autoritäre, popuHstische Politik. Und ob gleich sie i hr Programm nicht im einzelnen ausführten , hatten sie gro ßen Einfluß darauf� daß das br it ische Kapital die Fahne wechselte: vom
laissez-jaire
zu einem bestinunten Typus d es kapitalistischen
Staatsinterventionismus.
Etatismus gleich Sozialismus Es ist h ier nicht genug Platz, sich mit den Verbindungen zwischen dem Kollektivismus und dem »Zentrum« zu befassen . Aber es ist ein ent
scheidendes Kettenglied in der Geschichte, erinnert man si ch daran, daß es ebenfalls die Frage des »Staates« war, wodurch sich der »alte«
Liberalismus in den »neuen« Liberali smus verwandelte, und daß der neue Liberalismus zu seiner Zeit der Wegbereiter eines Denkens war,
das hinter der frühen Einrichtung des Sozialstaates (während der libe ralen Regierung von ]906-1911) stand ; und daß er in unserer Zeit tat sächlich die politische Kraft ist , die in der brit i sch en Politik jenen Raum schuf, den wir heute >.Sozialdemokratie« nennen
w ürde n
.
Für unsere Zwecke entscheidend aber ist das wes entlich fabianisch inspirierte Vordringen des Kollektivismus in der Arbeiterbewegung und der Labour Party. Der Fabianismus· gewann damals seine Vor machtstellung als die Ph ilosophie des Sozialismus . Der Kollektivis mus wurde, offen gesagt, zu dem , was die Webbs und ihre vielen
Nachfolger für Soziali smus hielten . Das heißt: fortschrittliche Gesetz gebung, soziale Wohlfahrt, maß vo l l umverteil ende Gerechtigkeit mi t
tels des Staates, durchgesetzt von einer politischen Elite, die im Namen der arbeitenden Klassen (von denen man erwartete, daß sie »ihre Re gi erung« ins Amt wählte, die aber natürlich zu wenig Sachverstand be saßen , um i n ihrem eigenen Namen zu regieren) Gesetze erläßt. Das resultierte schließlich
in einem gigantischen Staatskomplex , der
immer mehr Bereiche der Gesellschaft im Interesse sozialer Effizienz verwaltet , in dem d ie Fachleute und Bürokraten eine »wohlmeinende Diktatur« ausüben , die den vieJzähligen und komplexen Bedürfnissen der Gesellschaft di en en soll. In diesem entscheidenden Zeitraum I wurde die etatistische Sozialismuskonzeption als vorherrschende Tendenz im Labourismus und in der britischen Linken festgeschrieben .
.
Der Staat
-
225
der alte JJerwalter des Sozialismus
Wir h aben hier nicht den Platz, den langen, qualvollen Weg zu skiz...
zieren , der vom Aufkommen dieser Ko nzepti on in den 20er Jahren zu der stark verwandelten Realität des modernen Staates und des
ter ventioni smus nach
�taatsin
1945 führte. Es genügt zu sagen, daß er keines
wegs geradli nig verlief. Nichtsdestotrotz wurde der Sozialstaat nach
1945 auf jenen früheren G rund l agen erbaut, und mit Recht wird er als
die krönende Errungens chaft der Labo ur-Regi erung nach dem Krieg
betrachtet , als Höhepunkt des populären »Kriegs-Radikali s mu s « und fortgeschrittenste
Errungenschaft
der reformistischen Tradition der
britischen Sozialdemokratie.
Die Logik dieser Entwicklung ist nicht schwer zu verstehen, auch wenn wir heu tzutage vielleicht nicht ganz damit einverstanden sind .
D ie Argumentation ging etwa so: Der Kapitalismu s hat einen inneren Zwang, eine eigene Logik - die Logik des Privateigentum s , der Kapi talakkumulation, des Besitzindividualismus und des freien M arktes.
Diese Logik »arbeitet�( - in dem Sinn, daß s ie die moderne, kapitali
s tische Welt hervorbringt - natürlich mit ihren zwangsläufigen »Ko
sten«: Ausbeutung, Amlut, (soziale) Unsicherheit für die Massen, Klassenungleichheit und die vielen u nvermeidlich en Opfer ihre r »Er
Alternative : die »Logik des Marktes« .zu brechen und eine Gesellschaft nach einer al-:
folge« . Die Linke, s o schien es, hatte nur die e in e
ternativen Logik - einer sozialistischen - aufzubauen . Doch um dies
zu tun , brauchte sie ein alternatives Machtzentrum, einen Kapital und
Markt entgegengesetzten S amm elpunkt . Diese Gegenkraft war der Staat. Mit diesem konnte man entweder in die
»
Logik des Marktes«
eingrei fen , seine Ausw ü chse modifizieren, s eine Extreme abschwä chen , dem System andere Ziele einpflanzen (z .B. Bedürfni s se statt Profit) und der »natürlichen« , ungleichen D istributionsweise von Gü
tern und ReSOUfcen im Kapitalismus eine Umverteilungslogik auf zwingen: das war die reformistische Alternative. Oder es mußte di,e hinter dem kapitali stisch en
Markt gebro chen ,
»
Staat wirken de Macht von Kapital und zersc hl agen und die entscheidenden gesellschaft «
lichen Abläufe »sozialisiert« oder in die öffentli ch e Hand übergeben werden , indem sie zunehmend vom Staat übernommen werden
wür
den: das war der revolutionäre Weg. Kl ar ist, beide Wege führen, in
unterschi edlichem Maße, zu massiven Eingri ffen in die Markt»logik« durch Erweiterung der Rolle
des Staates.
Ausgewählte Schriften
226
Die zwei großen Blöcke Ich denke, d iese grob gezei ch nete polit i sche Landschaft , au fgeteilt in zwei große, sich gegenüberliegende »Kontinente«
-
der Domäne des
Kapitals und d es Marktes gege n über j ener d er Logik gesellsch aftlicher Bedürfnisse, durchgesetzt m it Hilfe des Staates
-,
war der Boden , auf
dem die allermeisten von uns begannen. politisch zu denken . Es ist kaum übertrieben , wenn man sagt , daß dies die bei den gru ndl egen den Formationen in der britischen pol i ti s c h e n Kultur geblieben sind
-
in
gewi sse r Wei se s ind s i e umfassender a l s die traditionelle Einteilung in l inks und rechts. Sie haben dazu beigetragen , die Parameter abzu
stecken , innerhalb derer s ich d i e britische Politik seit der lahrhundert wende bewegt hat. Ein wesen tl ic hes Stück des » historischen Kompro misses« z w i s c hen den Klassen , der in der Zwischenkriegszeit ge schlossen wu rde , bestand im neu en Gleichgewicht , das sich zwischen
).Staat« und }.Zivilgesellschaft« etabl iert hatte. Von dieser zentralen Grenzziehung « i st die Stabilität Groß britanni ens als kapitali stischer
»
Demokratie v ielfach a bhän g i g gewesen . Die Grenzverschiebung vom frei en Spiel der Marktkräfte hin zum Pol staatlich verm i t telter Refor men war in ein ig en Bereichen konstitutiv für die » Revo luti o n « d es keynes iani s ch en Sozial staates und für die gesellschaftliche Überein
kun ft nach 1945. Der neue Konsensus dauerte i m G runde bis zum Auf kommen des Thatcherismus in der Mitte der 70er Ja h re . D ieser »Grenzziehung( hat sich d ie Neue Rechte entgegengestellt . Einmal mehr war die Wi ede reinsetzu n g des Prinzips des freien Marktes in seine frühere VormachtsteHung Dreh- und Angelpunkt der Poli tik, die entscheidende Trennlinie zwischen rec1:lts und links. Das ist der Grund , weshalb die Frage nach der Haltung der Linken gegenüber
dem Staat heute von so t iefgre i fend er Bedeutung ist.
All das hört sich an, als hätte sich das G l e ic h gewich t der Kräfte i n die s er Frage stets i n d i e reformistische Richtung verschoben . Warum war d ann diese Entwi ckl ung des Staates für die· Linke so problema tisch? Ei n Grund i st , daß sich der Staat weiterhin au sgedeh nt und ent faltet hat, sozusagen voran ge tr i eben sowohl durch d ie Rechte al s auch
durch die Linke. Immer noch sprechen wir vom
)}
kapitali s ti sch en
Staat«. Aber i n Wi rk l ic hkei t verhalten wi r uns nicht mehr so, als hätte er einen einfachen mo noli thi s c hen Klassencharakter. Die Linke hat , trotz ihrer Rhetorik , ebenso ihren An tei l am Staat: in For m des Sozial staats, der den Bedürftigen Hilfe gewährt; den Bedürfn issen der Ge sell schaft dient; Gelder an die weniger gut Gestellten verteilt; (soziale) I .
I r[: \. ,
Ei nri chtungen zur Verfügung steHt
�
und alles auf der Basis allgemei
ner Zugän glich keit und weniger nach den Marktbedingungen der
Der Staat - der alte l1e rwa lte r des Sozialismus
227
»oZahlungsfahigkeit« . Der NHS (National Health Service) ist das klas sische Beispiel . Trotz Abhängigkeit vom privaten Sektor und Eingrif fen von seiten der Privatmdl izin, w i rd der NHS immer noch 8.;ls etwas betrachtet und erfahren, das die Logik durchbrochen hat , die Gesund heit und medizinische Hilfe an Reichtum und private Zahlungsfähig keit knüpft, und an ihre Stelle die Idee medizinischen Bedarfs setzte, der durch allgemeine Versorgung befriedigt wird . Die Geschichte der Kämpfe Nye Bevans für die Einrichtung des NHS z,eigt nicht nUf, w i e erbi ttert sich die Marktkräfte dem Ei ngr iff i n ihr Territorium wider
setzten, sondern auch, w i e u nmöglich der NHS ohne ein alternatives Zentrum gewesen wäre, das imstande war, ein grundsätzlich andersar tiges Versorgungssystem aufzubauen - den Staat. Wie könnte jemand, der den materiellen Unterschied begriffen hat, den dies im Leben zahlloser einfacher Leute bedeutet , diese Errungen schaft als der Logik des Sozial ismus entgegengesetzt betrachten? Wir
woUen � m it Recht - mehr davon sehen, nicht weniger: wir woUen ,
daß mehr Aspekte des Lebens nach einem ähnlichen Prinzip organi siert werden. Die Abteilung für soziale Angelegenheiten des Zentrums
für Politische Studien , Thatchers »think tank« , schlug in ihrer
Bro
schüre vor, den Sozialstaat nicht einfach aus pragmatischen Kosten
grü nden zurückzustutzen , sondern seinen »Bann zu brechen« . Und
diese Burschen - Sir Keith Josephs Stoßtruppen , die sich als eine un abhängige Forschungseinrichtung maskieren - w issen , was sie tun:
Die zentrale Stellung des Staates für die Linke ist- nicht auf das Gebiet von Wohlfahrt und sozialer Unterstützung beschränkt. Wir dachten
bisher eher, daß die Nationalisierungsmaßnahmen der 40er und 50er
Jahre und die keynesianischen Interventionen in wirtschaftliche · Ab:.. läufe, die in den 60er und 70er Jahren rapide zunahmen, nicht deshalb scheiterten, weil sie zu weit, sondern well sie nicht weit genug gingen. Die Linke hat im Grunde i mmer noch eine positive Sichtweise der
Rolle des Staates beim sozialistischen Aufbau .
Die Zwei schneidigkeit des Staates Die Dinge liegen nicht ganz so einfach. Nur wenige Bereiche des So zialstaates ergeben ein so klares positives Bild wie der NHS. Auch hat sich in der Nachkriegsgesellschaft nicht nur die soziale Seite des Staa
tes (welfare) ausgeweitet . Paranel haben wir auch die Ausdehnung des Kriegs- Staates (warfare state) und seiner repressiven , »polizeilichen« Aspekte erlebt: Staat als Zwangsgewalt, die die Gesellschaftsordnung verteidigt, von der Norm abweichendes Verhalten bestraft, i h re Über
wachungstätigkeit auf die Zivilgesellschaft ausdehnt , die Bürger aufs
Ausgewählte Schriften
228
strengste diszipliniert und die zunehmend und fern aller Verhältnismä� ßigkeit im Geheimen operiert . Der »Orwell-Staat« blüht und gedeiht neben dem Sozialstaat, nicht nur in den sozialistischen Demokratien OsteUfopas, sondern auch in westeuropäischen KJassendemokratien . Der Staat , der Almosen verteilt, beschnüffelt auch jene, die sie erhal ten . D azu kommt Umfang und Ausmaß seiner administrativen Seite
mit ihrer bürokratischen Verfahrensweisc. Leute, denen der Staat )}ctwas Gutes tut« , erfahren dies in Wirklichkeit als eine Praxis, die sie »auf ihren Platz verweist« : sie erleben ) Sachverständige« , d ie es immer besser wissen , oder Staatsbeamte, die gegenüber der Vielfalt wirkli cher Bedürfnisse auf der anderen Seite des Schalters abgestumpft scheinen . Das Gefühl sitzt tief, daß die Funktionsweise des Sozial� staats die Leute in vielen Fällen zu passi ven , gierigen, abhängigen Klienten stempelt, statt sie als Menschen zu behandeln, die einem
Staat gegen üb er, der
ihr Staat sein soll und der sie gegen die Logik des
Marktes vertritt, ih re Rechte einfordern . Dann gibt es das Bewußtsei n, daß Sozialstaaten in kapitalistischen
Systemen allgemein verbreitet sind, und zwar mit einem Ausmaß an Unterstützungen , das das unsrige schon lange übertroffen hat; und mit Funktionen , die dem Kap i tal nicht nur von der Arbeiterklasse abge
rungen wurden , sondern die für das Überleben des Kapitals notwendig sind . Staatlich finanzierte Weiterbildung i st schließlich sowohl eine
alte radikale Forderung als auch eine gegen die Idee des Bildungs marktes erzwungene Reform, und sie entspricht auch der qualifizier ten Ausbildung, den ein modernes, kapitalistisches System braucht. Die sozialstaatl ich-reformistischen und die reproduktiven Aspekte des Staates sind immer schwi eriger zu unterscheiden. So wie sich die staatlichen Funktionen vervielfachen, werden auch mehr von uns an Stellen arbeiten , die mit dem Staat zu tun haben . Die sich verändernde Zusammensetzung der Arbeiterklasse und das sich verändernde Kon fliktmuster in der Industrie haben sich zunehmend auf diese umkämpf ten Orte innerhalb des Staates verlagert . Sogar da sind wir uns des dop pel-seitigen Charakters unserer Arbeit bewußt. Das Schlagwort, das un se r Dilemma
arn
genauesten ausdrückt und diese widersprüchliche
Realität treffend kennzeichnet , heißt: »Im Staat und gegen den Staat« . Eine steigende Anzahl von uns ist in der Regel beides.
Die »libertäre« Strömung der Neuen Rechten · Das führt uns zur l ibertären Strömu ng in der Neuen Rechten Denn der .
Thatcheri smus schlug Kapital genau aus dieser widersprüchlichen Er fah rung mit dem Staat . Er verwurzelte sich in der weit verbreiteten
Der Staat - der alte Venvalter des Sozialismus
229
Unzufriedenheit und lenkte sie um in eine Breitseite gegen das P r i nzip
'
der Woh1fahrt als solches. D ie Neue Rechte spannt sie für ihre Zwecke ein und verwandelt das Mißfallen an den bürokrati schen Zügen des Etatismu s in einen G roßa ng ri ff gegen die »steigende Flut des Sozial i s
mus« und den »Kindermädchen-Staat« . Auf dieser negativen Grundla
ge baute sie das neue positive Evangelium des Marktes als den univer seHen Lieferanten von Gütern und des Guten ; sie gab das wild e Kürzen
öffentlicher Ausgaben als Testamen t der Tugend aus ; veranlaßte die Reprivatisierungen u nd erhob das Kriegsgeheul der Frei heit und ver kündete ihre Identität mit dem freien Markt. Die Neue Rechte stellte
sich als einzige Partei dar, die sich dem Ausufern des Staates und sei nem Eindringen noch in die letzten Winkel des Lebens wid ers etzt . Das' war einer der entscheidenden Wege, auf denen der Thatcherismus in das Territorium der trad itionel l en Linken vo rdrang , ihre Basis desor
gan isi erte und sich selbst »populär « machte . Für die Linke b esteht das Problem darin , daß die Unzufriedenheit
mit dem Staat real und authentisch genug i st - auch wenn der Th at cherismus sie dann »beschreibt« und »erklärt«� wie es ihm paßt. Der
Thatcheri smus hat diese U nzu friedenheit nicht erfunden
-
auch wenn
seine Lösungen fur das Problem fiktiv sind . Des weiteren deckte er einen Schwach-, einen Kritikpunkt des bestehenden Systems auf, den die Linke zu wenig be ach tet hatte: den
zutiefst undemokratischen Cha
rakter eines staatsverwalteten Sozialismus. D ies offenbarte, und das ist das Beunruhigendste daran , daß die Linke und die Neue Rechte in die ser Frage ein Stück .desselben Bodens mi te i nander teilen! Das war besonders beunruh igend , weil die Li n ke glaubte, daß die
Ideo logi e in sich gegenseitig ausschließenden Ideenblöcken dahermar schiert, wobei jeder Block einer zugehörigen Klasse oder polit i s chen
Pos i ti o n zuges chr i eb en wird . Es ist deshalb äußerst seltsam , d ie Linke dabei zu ertappen , wie sie Kritik am Etatismus mit dem »Klassen fei nd « teilt - selbst wenn die zwei Seiten , gemessen an den aus der Kri tik gezogenen Schl ußfolgerungen, radikal auseinanderstreben . Na
türlich liegt das Problem hier in der Tatsache, daß Ideologie nicht nach
der Blocklogik funktioniert . Die Idee der Frei heit , auf der die gesamte anti-staatliche Phi lo sophi e gründete, ist kei n exkl u sives Eigentum der Rechten . Sie nahmen eine bestimmte Version auf, verknüpften sie mit anderen reaktionären Ideen zu einer ganzen »Philosophie�� und schlos sen sie zusammen mit dem Programm und den Kräften der Rechten. Sie stellten eine Äquivalenz und Abh än gigkei t zwi schen der Idee der Fre ihei t und der » Freihe it des Marktes« her - und brachten sie damit zwangsl äu fig in Opposition zur
Idee
der Gl eichhe it . Aber Freiheit
230
Ausgewählte Schriften
oder Libertät - im erweiterten Sinn von gesellschaftlicher Emanzipa tion - ist schon immer ein Schlüssel moment in der Philosophie der Linken gewesen . In dieser Ideenkette hängt Emanzipation mit Gleich heit der Lebensbedingungen zusammen . Die Gleichsetzung mit Markt und Besitzin d ividualismus begrenzt sie. Die Linke braucht deshalb dringend eine Neuaneignung des Freiheitsbegriffs; sie muß ihm i m Zusammenhang mit einer Vertiefung d e s demokratischen Lebens ins gesamt seine wi rkliche Bedeutung verleihen. Das Problem ist, daß
diese sozialistische Auffassung von Freiheit n icht kompatibel ist - sie wird vielmehr von ihr tiefgreifend u nterminiert - mit der Idee eines Staates, der alles ü bernimmt, der das ganze gesellschaftliche Leben � alle popularen Energien , alle demokratischen Initiativen absorbiert , und der die Gesel1schafi - wie wohlmeinend auch immer
-
anstelle
des Volkes regiert.
Wahlmöglichkeit Über �>Emanzipation« können wir uns vieHeicht alle einigen . Das Wort 1äßt tiefe Saiten in uns erklingen und bewirkt eine starke emotionale Resonanz - was die Neue Rechte richtig erkannte. Aber wie steht's mit einem anderen , verzwickteren Aspekt von Frei heit : der Wah lmög lichkeit? Ich bin nicht sicher, daß diese im Denken der Linken bis jetzt eine zentrale RoHe gespielt hat. Und doch : Am weitesten verbreitet unter den ganz normal en , arbeitenden Leuten ist das im Grunde richti ge »Bild« eines real-existierenden Sozialismus, das bestimmt i st durch einen tristen Mangel an Vielfalt, die Allgegenwart geplanter Eintönig keit, die Abwesenheit von Wahlmöglichkeiten und Abwechslung. Unser Sozialismusbegriff ist von Vorstellungen des Mangels be stimmt . Das Problem dabei ist, daß der Kapitalismus und der freie Markt in der Frage der Auswahlmöglichkeit bisher die Trümpfe in der Hand zu h aben scheinen . Aber ist die Idee der Wahlmöglichkeiten, di e der gesamten Kritik am Etatismus zugrundelieg l , notwendig eine reak tionäre, kapl talistische Idee der Rechten? Ich habe den Verdacht, daß dies zum Teil ein Generationsproblem
ist. Jüngere Leute legen im sozialen , kulture1len und im alltäglichen Wirtschaftsleben großen Wert auf Auswahlmöglichkeit und Viemdt. Und sie betrachten sowohl die großen Kapitalgesellschaften als auch den großen Staat als prinzipielle Feinde der Vielfalt . Sie wissen ,
was
thatcheristische Wirtschaftsfachleute nicht zu w issen scheinen , daß das Warenhaus des Großkapitals mit seinen sorgfälti g kalkulierten Marketing- und Finanzierungsstrategien nicht der Ort ist, an dem die Wahlmöglichkeiten der Mehrheit vermehrt werden . Und sie verbinden
-
Der Staat
�
de r alte verwalter des Sozialismus
23 1
sie nicht selbstverständlich mit den gle i chermaßen korp oratistischen ,
»bürokratischen« Verfahrensweisen des Staates. Aber sie haben, mag
das für die Linke auch bedauerlich sein, tatsächlich ein Ausmaß an Wahlmöglichkeiten an j enen Orten gefunde n , die w ir nur M arktni
schen nennen können . A m schmalen Rand des Marktes, wo die großen
Bataillone und der tödliche Wettbewerb n icht völlig dominieren , haben
kleine Initiativen manchmal eine Chance, kann etwas Unternehmer geist Öffnungen schaffen oder ein neues Bedürfnis erkennen, sogar ein neues soziales B edü rfni s , und bis zu einem gewissen Grade experi
mentieren , um es zu befr ie dig en . Ich wi1l gew iß kein rosiges Bild von dem bestehenden Ausmaß an Offenheit malen :
alle
�
Märkte sind vor
allem durch Ungleichheit eingeschränkt. Aber di e meisten der i nnova tiven Trends im Alltagsl.eben , mit denen sich jüngere Leute spontan identifizieren - in der Musik, in der Kleidung, Stilen, den Di ngen , die sie lesen und denen sie zuhören, der Umgebung, in der sie s ich
wohl fühlen -, werden auf e i ner - man kann es nicht anders nennen -
»handwerklich-kapitalistischen« Basis verwirklicht. Diese Dinge
sind in ständiger Gefahr, du rch staatliche Regulierung um ihre Exi
stenz geb rac ht oder von den großen , kommerziellen Anbietern ge schröpft zu werden .
Libertäre Strömungen in der Linken Nichtsdestoweniger ist die alltägliche Erfahrung kul turel ler Vielfalt mit einer bestimmten Vorstellung vom Markt oder, besser, mit einer
bestimmten Er fah ru ng mit dem Markt identifiziert worden . U nd das
is t keineswegs auf unpolitische Leute be schrän kt . Wo wäre die Linke
heute kulturell ohne Initiativen wie City Limits (Londoner alternative
Programm- und Stadtzeitung) und tausend a ndere kleine, »unabhängi ge« Publ ikationen; oder wie Gay Sweatshop und Hunderte anderer
kleiner Theate rgru ppe n ; oder Vi rag o , History Workshop, Readers and
Writers Cooperati ve und Co mpendiu m und Cen trepris e und Comedia
u sw. Junge Leute, ob links oder rechts, erwarten nicht, die neuen Klän
ge ihrer Zeit auf BBC oder ITV zu hören, aber s i e können sie bei den
U nabhä ng i gen « um »Channel Four« erwischen , bei Radio Laser oder sogar, Gott steh uns bei , bei dem gefürchteten , erzkommerzi'ellen »Pi
»
ratensender« Radio C arol i ne . Viele sind rad ikale Initiativen , die in pre
kärer Lage an den Rändern des kapitali stischen Marktes arbeiten .
Aber selbst wenn man diese Randbereiche verl äß t , zieht es die jünge
ren Leute der Linken � die Nach-1968er, instinktiv zu solchen lokalen
oder »Graswurzel«-Initiativen , wo die Leute durch ihre unmittelbare Selbsttätigkeit davon übe rzeugt werden können , die Kämpfe gegen die
, I , ;
Ausgewählte Schriften
232
bürokratischen Formen der Unterstützung durch den Staat zu verstär
ken oder neue Kampfformen zu entwickeln. Der »libertären« Strö mung in der Rechten en ts pricht , g l aube ich , eine s tetige und unaufhalt same, eine l angsam anwachsende, aber starke »libertäre« Strömung in der Linken - die auf ihre Weise viele der weiter verbreiteten sozialen und ökonomischen Trends in der Gesellschaft sp iegelt und das tägliche Leben und
alltägl i che
Haltungen transformiert, einschließlich derer
der jüngeren Generati on en in
der Linken .
Läuft di e s alles auf die versteckte Aufforderung h in aus , ein weiteres Bündel >,alter« s ozi a H sti scher Ideen aufzugeben, sich zu rü ckzu le hnen und den freien Markt lieben zu lernen? Ganz und gar nicht. Aber es ist
ei ne Aufforderung, u n sere Gedanken zu
öffnen und unsere Vorstellun
gen zu befruchten , indem wir die widersprüchliche Realität der, wie Marx sie in seiner sch lich ten
Art zu
nennen pflegte, »wirklichen Ge
schichte« direkt auf u n s einwirken lassen . Zum einen wissen w ir, daß
da s S ys tem Lebens gelockert worden ist, a nge
überall im real-existierenden Sozialismus in Ost-Eu ro pa
rigider ökonomi scher Planung des
fangen bei Sta h lwerken bis hin zu Hutnadel n , Die erste - doch nicht
unbedingt endgü l tige - Form , die dieser Vo rgang angenommen hat , ist die Rückkehr zu » M echanismen des
zial istischer Pl an u ng . Das ist
frei en M arktes« im Rahmen so kein Problem , das man linken Wirt
schaftsfachleuten und Osteuropa-Experten überlassen sollte, da Bild und Realität des real-existierenden Soz ial ismus alle SoziaH s tlnnen
an
geht u nd im Kampf der Rechten gegen die Anziehungskraft des Sozia
lismus im Westen e in e der Trump fkarten gewesen ist. Die zweite Lek tion, die wi r lernen könnten, ist m it dieser Neub ewe rtung einer ganzen historischen Er fah ru ng verbunden; wenn auch nicht in unmittelbar or ganisatorischer Hinsicht. Es geht einfach u m die
n euen Impulses,
Überprüfu ng
dieses
der von den Wahlmöglichkeiten ausgeht , um den
neuen Ge ist von Pl u ra l i smus und Vielfalt, der im entwickelten Kapita lismus zu e i ne r solchen treibenden Kraft für die Ma s s en g eworden
ist
und der in unserem Denken über den Sozialismus einen zent ral en Platz einnebmen muß, wenn wir jemals eine große Anzahl von Menschen davon ü b erzeu g en
wollen , daß der Sozialismus eine bessere » Leben s weise(( ist als di e , die sie mit ihrem ganzen Auf und Ab bereits kennen . Warum sollten sich die sich abp lagen den Massen im Kapi tali s m us j e für eine Alternative ein setzen, die ihnen weniger bi etet a l s sie geg en wärtig bekommen können?
233
Der Staat - der alte Verwalter des Sozialismus
Kein Platz für Naivität sein . Obwohl der Staat eine widersprüchliche K.raft ist, hat er die negative,
Wir können
es uns nicht leisten, in der Frage des Staates naiv zu
systematische Tendenz, die vielen Kraft- und Machtlinien in der Gesell schaft zu s ammenzuziehen und sie in ein bestimmtes »System von Herr
schaft« umzuwandeln . In diesem Sinne organisiert und orchestriert der Staat tatsächlich weiterhin den Raum für Kapitalakkumulation, und er erhält ei ne bestimmte. ausbeuterische Gesellschaftsordnung. Das ist keine neutrale Funktion
-
auch wenn es nicht seine einzige ist. Aber in;..
sofern das seine Rolle i st, muß der Staat demontiert und durch eine an dere Staatskonzeption ersetzt werden. Ich denke, hier können wir ler
nen, daß wir bis jetzt eine völlig u nangemes sene Vorstellung davon haben, wie ein sozialistischer Staat radikal anders als der bestehende funktionieren könnte. - Wir können es uns auch nicht leisten , in der Frage des Marktes naiv zu sein. Er ist der Hauptmechanismus der Aus beutung in der kapital i stischen Gesellschaftsordnung, wenn er im Zu
sammenhang mit Privateigentum u nd kapitalistischen Wirtschaftsfor-
.
men funktioniert. Ich bin .zuwenig Fachökonom, um zu wissen, ob man che Aspekte des Marktes mit sozialistischen Wirtschaftsformen verbun
den werden können, aber ich bin sicher, daß wir diesen Gedanken ein gehender untersuchen müssen . Aufj eden Fan bin ich sicher, daß der So
zialismus ohne eine Konzeption von Öffentlichkeit nicht exi stiere n kann .
Wir tun gut daran , den »öffentlichen Sektor«, wie wenig er auch eine
Machtübertragung an die Machtlosen darstellt, als eine Arena zu be trachten , die im Gegensatz zur Logik des Kapita ls angelegt wurde. »Öf fentliches Gesundheitswesen« unterscheidet sich wirklich vom Konzept einer privaten Medizin, weil es das ganze Umfeld von Gesundheit um faßt,
was mehr ist als die Summe einzelner gesunder Körper
-
es i st ei n
soziales Konzept von G esundheit als Bedürfnis, ais Recht. Das »öffentli
che Verkehrswesen« ist nicht einfach eine praktische Alternative zum Privatverkehr, da es das Prinzip eines gleichen Zugangs zu den Fortbe wegungsmitteln verkörpert
-
Mobilität in der eigenen Umwelt als öf
fentlich anerkanntes Recht. Die Idee eines »öffentlichen Raums « be zeichnet e i nen nicht durch Rechte des Privateigentums eingeschränkten Raum für gemeinsame Betätigungen, öffentlicher Raum als soziales
Gut. Das Adjektiv öffentlich repräsentiert in jedem dieser Fälle einen Fortschritt gegenüber den Schranken des Besitzindividualismus, des li�
beralen Denkens selbst . Was diese Konzeption von Öffentlichem und
Gesellschaftlichem angeht, liegt der Sozialismus immer noch vom . Und das Öffentliche kann nur mit Hilfe staatlichen HandeI ns aus dem Markt, aus der Logik des Kapitals, herausgeschnitten werden .
Ausgefllählte Schr(ften
234
Der Staat und die Gesell schaft Andererseits kann »das Ö ffentl i che« m i t dem Staat n icht identisch sei n . Wen n d i e Log i k von Kap i ia1 , E ige n t u m und Markt einmal d urchbro chen i st , bes t i mm t s i ch d er Fortschri tt in R i chtu ng Sozialismus du rch d ie Vielfal t gese l l s chaft l i cher Formen, in denen das Vol k i nitiati v w i rd , Kon trolle w i edergew i n nt , Macht aus d e m S taat
in
die Gesell
schaft verl agert w i rd . W i r kön nen u n s e i n e »Partn erschaft« zwi schen Staat u nd GeseUsch aft vo rste l 1 en , solange d i e Initiative ständig auf d ie Gese l l s chaft ü be rgeht , sol ange das Monopol ü ber d i e Verwaltung d es gesell schaf1 l i chen Leben s nicht i n einer Sackgasse bei der StaatseJ ite endet , sol ange der Staat selbst i n popul aren Kräften wu rzelt , von i h ne n ständig Energ i e bez i eht und aktiv vorangetri eben w ird . Einer der Gründe , weshalb manche der im Umfe l d des G Le (G reater London Counc i I
=
S tad trat von Groß-Lon don) entw i c kelten Dinge, fü r d i e
Linke s o au fregen d , so vorbil dl ich s i n d , l i egt genau dari n , d a ß m an h i er LI n d da einen Sch i m mer d avon bekom m t , wie es aussieh t , wenn der Staat auf l o kaler Ebene d i e Art und We ise transformiert, i n d er er d i e G e s el l s chaft p o l i t i s ch »reprä senti ert�( ; wenn e r sich mehr darau f s tützt , Ivfachl. fU{f d i e Wah l kre i se zu übertragen , statt sie zu m o nopo l i s i eren . \Vi r bekommen e i n e Ahnung davo n , w i e e i n n e u es Prinzip, das s i c h h au ptsii c h l i c h a u f den Werkzeugcharakter des Staates s tüt zt , Rau m schaffe n kann fü r e i n e Vie lzah l verschi edene r Formen , sozialer Bewegu ngen u nd Initiati ven in der Z ivi lgesel l schaft . S taatliche Ver wa l tung der Gesell s ch aft i m Namen des Sozialismus, das i st nicht meh r vertretbar oder tole r i erbar. Der P l u rali smus ist i n
diesem
Sinne
n icht bl oß zeitwei l iger Gast der soziali sti schen Szene. Er i st gekom men . um zu b l e i ben . Wir könnten das a l l es auch auf andere A rt ausdrü cken , wenn w ir u n s d a ran erinnern , daß Marx , wenn e r sich a u f den Sozia lismus b ezog, von der
sozialen
Revo l u t i o n s p rach (z . B. tvtEW
16, 204) .
Die Demo
krat i s ierung der Gesel lsc haft ist genauso wichtig wie d er Abbau der
s taat l i chen Bürokrat ien . In der Tat ist die woh l w ich tigste Lektio n vo n a ll e n , d aß d i e Auswe itu ng der Demokra t i e im Zen trum des h eu tigen sozial isti schen Denkens stehen m u ß . Demokratie ist natü rl ich kei ne formale A ngelegen heit von Wah l kampf, oder Verfassungspol i t i k . S ie
besteht i n der wi rkl i chen Übertragung von Mach t an d i e Machtlosen , d e r Ermächtigung d e r Au sgesehlossenen . Der Staa t. kann das n i cht fü r
d i e Machtlosen tun , obgl ei c h er ermög l i chen kan n , daß es geschieht. Sie müssen es fü r s i c h sel b s t tun , indem sie die Forme n finden , in denen s ie die Kon t ro l le ü ber e i n e zunehm end komp1exe Gesel ls chaft überneh men kön nen . Gewiß ge h t das n i cht auf e inen S ch l ag , durch
Der Staat -der alte Verwalter des Sozialismus eine Zentralinstanz - durch einfaches »Zers,chlagen des
Staates«~
wie' es die sozialistische Strö,mung gern hätte, die auf den Staat fixiert ist. Das muß auf vielfaltigen Schauplätzen des gesellschaftlichen Lebens .~ stattfinden, an vielen verschiedenen Fronten, einschließlich natürlich im Staat selbst, dessen Tendenz, Macht zu konzentrieren, genllu das ist, was ihn zum Hindernis für den Sozialismus macht. Gramsci entwickelte die umwälzende Idee, daß Hegemonie nicht nur durch den Staat konstituiert ist, sondern in den vielfachen Zentren der ZivilgeseHschaft. Daraus folgt, daß ein alternatives Konzept des Sozialismus diesen Kampf umfassen muß, um die Macht in allen Bereichen gesellschaftlicher Tätigkeit zu demokratisieren - im privaten wie im öffentlichen Leben, in den persönlichen wie in den Zwangsbeziehungen, Familie und Nachbarschaft, im Kinderhort und im Einkaufszentrum ebenso wie auf dem öffentlichen Amt oder an der Produktionsstätte. . Wenn der Kampf für den Sozialismus in den modernen Gesellschaften. ein Stellungskrieg ist, dann muß unsere Sozialismuskonzeptiondie einer Gesellschaft von Stellungen sein ~ von verschiedenen Plätzen, von denen aus wir alle mit der Rekonstruktion einer Gesellschaftbe':' , ginnen können. für die der Staat nur noch der anachronistische Ver~ walter ist. i
in
Übersetzung: Thomas J%ber
236
Anmerkung
zur
Textauswahl
Die für diesen Band ausgewählten Texte sind zum einen ein Überblick über die theoretischen Arbeitsgebiete Stuart Halls : Marxismus, Me
dien, Ideologie, Politik, Kultur, Rassismus. Dabei greifen die einzel nen Bereiche ineinander, zum Beispiel Politik in Ideologie, Kultur in Medien. Rassismus wird in allen Bereichen untersucht. Immer geht es dabei um Lebenspraxen , wird nach den Formen gefragt, in denen es dem jeweils berrschenden Block gelingt, die Zustimmung der Bevöl kerungsmehrheit zu gewinnen. Mit Gramsci, für Hall der frucbtbarste marxistische Theoretiker der neueren Zeit, geht es um die Frage der Hegemonie mit dem Blick auf die Eingriffsmöglichkeiten für eine so zialistische, marxistische Politik. Zum anderen zeigt die
Textauswahl
Hall als einen Theoretiker, der
auf verschiedenen Abstraktionsebenen arbeitet. Dazu gehört (und im folgenden beziehe ich mich auf die Reihenfolge der Aufsätze dieses Bandes) die Ausarbeitung der Marxschen Theorie, ihre Weiterent wicklung, um sie für neue Fragestellungen, etwa der Theorie der Eth. nizität und des Rassismus fruchtbar zu machen. In einer historischen Ana1yse zum Zusammenhang von Massenkultur und Staat legt er die Grundlagen für aktuelle Medienanalysen, die sowohl die allgemeine Funktionsweise der Medien in hochindustrialisierten kapitalistischen Demokratien analysieren, als auch spezifische Mechanismen, zum Beispiel die, mit denen »Rasse« konstituiert wird . Die neueren theore tischen Entwicklungen auf dem Feld des Marxismus werden auf ihre Brauchbarkeit für die Analyse neuer politischer Formationen , wie der des Thatcherismus, geprüft. Schließlich zeigen die letzten heiden Texte Hall als einen der seltenen Wissenschaftler, die es verstehen, theoretische Einsichten für die Analyse und Entwicklung politischer Strategien nutzbar zu machen, und zwar in einer Art, die sie über ihren Anlaß hinaus nützlich sein läßt für marxistische Politik und Theorie, welche so von den praktischen Erfordernissen her erneuert werden. Die Herausgabe dieses Bandes wäre ohne die Mitarbeit der Überset zerInnen und ohne die Lektüre der Manuskripte durch Peter Jehle, An drea Krug, Thomas Laugstien und Thomas Weber nicht möglich ge wesen.
Nora Rdthzel
Drucknachweise Das Politische und das Ökonomische in der Marxschen Klassentheorie. Eogl. : Tbe ,..Politicaloc and The ..Economic« in Marx's Theory ofClasses. ln: S. Hall, (Cd.): Class and Class Structure. London 1977 Gramscis Erneuerung des Marxismus und ihre Bedeutung für die Erforschung von' »Rasse« und EtbIlizität. EngI.: Oramscis Relevance for tbe Study of'Race and Ethnicity. In : Journal of Communication Inquiry, 19� 10. 2, summer, 5-27: Massenkultur und Staat . Engl . : Popular Culture and the State. In: lbny Bennet, CoHn Mercerand and Janet WooUacott: Populare Culture and Social Relations. Milton Keynes, Philadelphia 1986
'
' "
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Caretaker. In: Marxism Thday. November 1984
Folgende Arbeiten
wm
Stuart Hall sind bisher im Argument erschienen:
In der Zeitschrift: Rasse - Klasse - Ideologie. In: Das Argument 122, 1980 Die Konstruktion Von Rasse in den Medien. In: Das Argument 134, 1982
Labour, Sozialdemokratie. Sozialismus - Interview mit Stuart HaU. In: Das Argument 135, 1982 Autoritärer Populismus. In: Das Argument 152. 1985 In Argument-Sonderbänden: Ideologie und Wissens:soziologie. Ein historischer Abriß. In: Theorien über Ideo-
.
logie. Argument-Sonderband 40, 1979 Ideologie und Ökonomie - Marxismus ohne Gewähr. In : Die CaJ.)lera Obscura der Ideologie. Argument�Sonderband 70, 1984
I '
'
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