Avalons böse Schwestern
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 152 von Jason Dark, erschienen am 30.11.1993, Titelbild: Ol...
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Avalons böse Schwestern
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 152 von Jason Dark, erschienen am 30.11.1993, Titelbild: Oliviero Berni
Sie waren zu dritt, und sie hießen Yodana, Damana und Rogetta. Vor mehr als tausend Jahren hatte jede von ihnen einen Ritter der legendären Tafelrunde des Königs Artus geliebt… Das hatte dem mächtigen Zauberer Merlin, dem Hüter Avalons nicht gefallen. Er hatte die drei Frauen verflucht und sie in eine andere Dimension geschickt. Mit höllischer Hilfe lösten sie den Fluch und kehrten zurück. Sie brachten Liebe, Lust und Tod...
An diesem Abend war der Farmer Burton Ives besonders gern auf sein Feld gegangen, denn die heiße, grelle Sonne des Tages war verschwunden, die Luft hatte sich abgekühlt. Daß es der letzte Gang seines Lebens werden sollte, ahnte er nicht. Er hatte seinen Traktor abgestellt und schlenderte langsam auf sein Ziel zu. Die Sonne hatte sich tief gesenkt. Der Himmel über ihm war eine großartige Landschaft aus verschiedenfarbigen Lichtern und Schatten, die sich verwischten, als wollten sie dieser Welt eine ferne Botschaft bringen. Das Feld war in den letzten Tagen abgeerntet worden. Die Heuballen standen wie Figuren in der flachen Gegend. Um diese Zeit warfen sie bereits Schatten und wirkten wie drohende Gespenster. Ein kühler Windhauch strich in das Gesicht des Farmers. Er ließ den dreiundvierzigjährigen Mann frösteln. Unwillkürlich zog Ives die Lederweste enger um seinen Körper. Danach beschleunigte er seine Schritte und blieb dort stehen, wo der große Heuwagen auf ihn wartete. Auch die Gabeln mit den breiten Zinken lagen bereit. Er würde damit die Ballen auf den Wagen schleudern. Eine wahre Knochenarbeit. Einen Helfer hatte er an diesem Abend nicht. Sein zwanzigjähriger Sohn lag mit gebrochenem Arm im Krankenhaus, und Edda, seine Frau, mußte sich um die Kühe kümmern. Ives fluchte vor sich hin. Es war schon ein bescheidenes Leben, das er führte. Da konnte er es seinem Sohn nicht verübeln, daß sich dieser nach einem anderen Job umgesehen hatte. Ein zweiter Windstoß blies ihm diese Gedanken aus dem Kopf. Die rechte Hand, die bereits den Griff der Heugabel umklammert hielt, erstarrte. Ives wunderte sich. Okay, es hatte sich abgekühlt, aber dieser kalte Hauch war nicht mehr natürlich. Da schien sich der Himmel geöffnet zu haben, um ihn aus einer anderen Welt hervorzuschicken. Irgendwo auf dem Feld rumorte es. Ives fuhr herum. Nichts war zu sehen. Verdammt noch mal! schoß es ihm durch den Kopf. Es lag kein Gewitter in der Luft, in der Umgebung war niemand zu sehen, der sich für dieses Rumoren hätte verantwortlich zeigen können, warum also war das Geräusch aufgeklungen? Er ging drei Schritte zur Seite, um einen besseren Überblick zu bekommen. Staub wallte vor ihm hoch! Es war eine große Wolke, und er wußte nicht mal, wo sie ihren Anfang genommen hatte. Jedenfalls war sie da und bewegte sich träge und auf der Stelle kreisend über einer bestimmten Stelle seines Ackers. Der Farmer ließ die Wolke nicht aus den Augen, und er fragte sich, ob sie
überhaupt aus Staub bestand, denn der sah anders aus, nicht so hell und flimmernd. Das mußte etwas anderes sein! Burton Ives war fasziniert und ängstlich zugleich. Aus Zeitgründen auf der einen und aus Überzeugung auf der anderen Seite war er ein Mensch, der sich um rätselhafte Phänome nicht kümmerte, in diesem Fall aber jagten wilde Gedanken durch seinen Kopf. Er hatte von den unheimlichen Phänomenen gehört, die es auf manchen Feldern gegeben hatte. Da waren plötzlich Ringe und Kreise wie aus dem Nichts entstanden. Es hatte wilde Spekulationen und Vermutungen gegeben, doch ganz aufgeklärt worden waren die Fälle nicht. Erlebte er hier ein ähnliches Phänomen? Der Wind und der staubige Kreisel erschienen ja nicht von ungefähr, das hatte schon etwas zu bedeuten. Er hörte nichts. Kein Brausen, kein Heulen. Nur die tanzende Spirale bewegte sich auf dem Boden, beobachtet von einem Himmel, der aussah wie ein großer Flickenteppich. Plötzlich konnte er sich wieder bewegen. Der erste Schock war vergangen. Mit einer wild entschlossenen Geste riß er die Heugabel aus dem Boden. Er hatte plötzlich das Gefühl, sich wehren zu müssen, und wenn, dann wollte er die > Waffe< nehmen, mit der er am besten umgehen konnte. Gleichzeitig kam er sich lächerlich vor. Wie sollte er mit einer Heugabel gegen eine Staubspirale angehen? Dennoch, vielleicht war sie mehr, auch keine Windhose, denn sie bewegte sich nicht weiter. Etwas Unheimliches und Unerklärliches tanzte auf der Stelle. Sehr schnell sogar, auch heulend und jammernd, als würde jemand im Unsichtbaren hocken und auf einer brüchigen Knochenflöte blasen. Das war nicht seine Welt, das hatte er noch nicht erlebt. Am besten wäre es für ihn gewesen, so rasch wie möglich zu seinem Traktor zu laufen und zu verschwinden. Seltsamerweise wollte ihm dies nicht gelingen. Die Faszination der unerklärlichen Staubwolke war auch für ihn zu groß. Sie zog ihn an, er bewegte sich Schritt für Schritt auf sie zu und hörte, als er in die Nähe kam, das leise Jammern. Das Geräusch hatte sich verändert. Da blies niemand mehr auf einer Knochenflöte, ihm kam es vor wie der Klang einer Stimme. Und die gehörte zudem noch zu einem Menschen, der sich irgendwo verborgen hielt und unter schweren Qualen zu leiden hatte. Die Furcht bedrückte den Farmer. Mit jedem Schritt schwitzte er stärker. Er hatte die Heugabel angehoben, und die Zinken nach vorn gerichtet, als wollte er jeden Moment auf einen Angreifer stoßen.
Ein schneller Blick in den Himmel zeigte ihm, daß sich dort nichts verändert hatte. Aber vor ihm. Er hörte noch einen saugenden Laut, und plötzlich glaubte er, den Verstand zu verlieren. Die Staubsäule war verschwunden. Statt dessen stand dort jemand anderer. Eine Frau! *** Der Farmer Burton Ives begriff die Welt nicht mehr. Er konnte nicht wissen, woher diese Person kam, sie wirkte wie vom Himmel gefallen, obwohl sie eher aussah, als wäre sie aus der tiefsten Hölle gekommen, denn sie war einfach eine scheußliche Person. Eine wilde, schwarze Haarmähne umwehte ein bleiches Gesicht. Das Haar floß dabei nach hinten, so daß er die Gesichtszüge ziemlich genau erkennen konnte. Sie waren nicht nur bleich und kreidig, sondern auch noch knochig, als wäre die Haut dünner geworden. Zudem hatte das Gesicht einen etwas affenartigen Ausdruck, auch vergleichbar mit einer gewissen Stupidität. Das mochte auch daran liegen, daß der Mund ungewöhnlich verkrampft offen stand, die Augenlider nach unten gezogen waren, so daß die Person Mühe haben mußte, überhaupt etwas zu sehen. Sie war mit dünnen Gardinenstoff >bekleidet<, einem Hauch von Nichts. Den rechten Arm hielt sie zur Seite hin ausgestreckt. Die Hand umklammerte eine Waffe. Eine Lanze, die mit einer dunklen Maske bestückt war. Burton Ives atmete schneller. Den ersten Schock hatte er überwunden, aber noch immer konnte er sich nicht auf die unheimliche Besucherin einstellen, die ihren Kopf sehr langsam drehte wie jemand, der herausfinden wollte, wo er sich befand. Sie war eine Fremde in einer fremden Umgebung. Aber sie war nicht grundlos erschienen, davon ging Burton Ives einfach aus. Ihr Kommen mußte einen Sinn haben. Noch tat sie ihm nichts. Der Mann spürte allerdings die Feindschaft, die ihm von dieser Person entgegenstrahlte, und dieses Gefühl verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. Angst wühlte ihn auf. Sie wollte etwas von ihm, das merkte er, aber sie traute sich noch nicht. Aus weiterhin halb geschlossenen Augen blickte sie sich um, als suchte sie etwas Bestimmtes. Dann schüttelte sie den Kopf, sie hatte es also nicht gefunden, und sie gab sich einen Ruck, bevor sie auf den Farmer zuging. Ives wußte nicht, was er tun sollte. Dieses böse Gesicht widerte ihn an, er merkte, daß sich in seinem Magen etwas tat. Dort setzte sich ein dicker Klumpen fest. Die Furcht war für ihn nicht mehr nachvollziehbar. Er hatte sich schon oft in brenzligen Situationen befunden, doch so etwas wie hier war ihm noch nie untergekommen.
Was wollte die Person? Ihn töten? Noch hielt sie die Waffe normal, die Spitze wies nach oben. Dann ging sie den nächsten Schritt, und er hatte den Eindruck, als würde sie den Boden kaum berühren. Sie schwebte kurzerhand über ihn hinweg, sie war da wie ein Engel… Sie blieb stehen. Burton Ives faßte sich ein Herz. Zwar schoß ihm immer wieder durch den Kopf, daß ihm dies keiner glauben würde, aber er versuchte es trotzdem, sie anzusprechen. Es war zu spät. Sie fragte ihn. Aus ihrem Mund drang nur mehr ein Gezische!, und der Farmer mußte sich schon sehr anstrengen, um sie überhaupt verstehen zu können. Außerdem redete sie ihn in einer Sprache an, die in dieser Zeit nicht mehr gesprochen wurde. Sie wiederholte immer den einen Satz, in eine Frage hineingepackt, deren Antwort ihr viel bedeuten mußte. »Wo ist mein Geliebter?« Der Farmer begriff die Welt nicht mehr. Er schüttelte den Kopf. Was hatte sie gesagt? Dann wieder. »Wo ist mein Geliebter…?« Ives holte Luft und schluckte verlegen. Er mußte sich die Kehle freiräuspern, dann erst schaffte er es, eine Antwort zu formulieren. »Ich… ich kenne deinen Geliebten nicht…« Die Person senkte ihre Waffe. Ives verstand die Drohgebärde sehr wohl, und er wollte sie ablenken, indem er vorsichtig fragte: »Sag mir doch, wer du bist.« »Damara…« Hatte sich der Name tatsächlich so angehört? Er wußte es nicht, denn einen derartigen Namen kannte er nicht. Überhaupt war alles so verrückt, als wäre hier auf dem Feld einer dieser Filme gedreht worden, wo mit vielen Tricks gearbeit wurde. »Wie?« fragte er und kam sich dabei ziemlich dumm vor. »Wo ist mein Geliebter?« »Ich kenne ihn nicht, verdammt!« »Du bist es nicht?« »Nein!« Die Frau hatte die Antwort gehört, nickte, und einen Moment später befand sich der Mann in Lebensgefahr. Alles war plötzlich anders geworden, obwohl sich die Szenerie nicht verändert hatte. Aber die Frau war einen Schritt nach vorn getreten, und die Spitze der Lanze befand sich in einer gefährlichen Reichweite. Ihm stockte der Atem. »Du nicht!« hörte er. Dann stieß die Frau zu. Sein Leben verdankte Burton Ives einem Glücksfall. Auch er hatte seine Heugabel in die Höhe gerissen. Metall klirrte auf Metall.
Die Spitze und der Helm verhakten sich für einen Moment an den Zinken. Damit hatte Damara nicht gerechnet. Auch nicht mit der Reaktion des Mannes, der es gewohnt war, mit einer Heugabel umzugehen. Er riß nicht nur sie in die Höhe. Die heftige Bewegung drängte auch die verdammte Lanze nach oben, und mit einer heftigen Bewegung schleuderte er sie zur Seite. Die Heugabel kam frei. Sofort sprang der Farmer zurück. Er hatte einen Anfangserfolg errungen, er wollte ihn nicht mehr aufs Spiel setzen. Das einzige, was ihm jetzt noch blieb, war die Flucht. Auf dem Absatz warf er sich herum. Er steckte voller Panik, rannte gegen einen Heustapel, riß ihn um, hetzte weiter und warf einen Blick über seine Schulter. Sie folgte ihm. Dabei bewegte sie sich breitbeinig, so hätte auch ein Roboter gehen können, und die Gefahr war für den Farmer noch nicht vorbei. Bis zu seinem Haus hatte er es noch ziemlich weit. Das Feld hier lag abseits, er hatte es gepachtet. Er hetzte auf den Traktor zu. Burton Ives hatte sich bisher keine Gedanken über die Beschaffenheit des Bodens gemacht, er war immer langsam gegangen, war nie gerannt, jetzt aber mußte er es tun, zudem war er noch von der Heugabel behindert. Mehr als einmal stolperte er, und mehr als einmal hatte er Glück, daß er sich noch auf den Beinen halten konnte. Er verlor seinen Hut. Die offene Weste klatschte immer wieder gegen seinen Körper. Der Traktor stand im letzten Licht der Sonne. Es war ein Zufall, daß die Strahlen gegen ihn fielen und das dunkle Gefährt miteinem rötlichen Schleier Übergossen. So wurde der Traktor auch äußerlich für den Farmer zu einem Hoffnungsträger. Er beeilte sich. Schaute nicht mehr zurück. Die Person war gekommen, das reichte ihm. Sie würde vielleicht sogar zu seinem Haus laufen, um die Familie zu bedrohen, deshalb mußte Vorsorge für eine Flucht getroffen werden. Es waren alles Gedankenfragmente, die ihm durch den Kopf schössen. Am Ende dieser Fragmente stand nur ein Wort – FLUCHT. Er rutschte aus. Wie ein angeschossenes Tier taumelte der Farmer nach vorn und prallte gegen seinen Traktor. Der Schlag war hart. Er spürte ihn auch an der Stirn, denn er war mit dem Kopf gegen eine Verstrebung geprallt. Für einen Moment verlor er die Übersicht. Die Knie waren ihm weich geworden. Er wußte nicht, ob er es noch schaffen konnte, aber er wollte sehen, wie weit die Person gekommen war. Sie hatte aufgeholt.
Die Frau lief etwas schwankend, als hätten ihre Beine den richtigen Gehrhythmus noch nicht gefunden. An ihrem Gesicht hatte sich nichts verändert. Vielleicht war der Mund noch stärker verzerrt gewesen, ansonsten war es gleich geblieben. Sie war böse. Sie kam stampfend. Er hörte keinen Atem und stellte zu spät fest, daß er sich noch immer an seinen Traktor klammerte, als könnte ihn dieser vor dem Bösen beschützen. Ich muß weg! Es war die einzige Chance, die ihm blieb. Burton Ives schleuderte die Heugabel zur Seite. Er kletterte auf den Traktor, sah vor sich schon den Sattel und vernahm gleichzeitig hinter sich ein sehr böses Geräusch. Er hatte am Rücken keine Augen, konnte sich jedoch vorstellen, was es bedeutete. Ives war kein Profi. Anstatt sich zur Seite zu werfen, drehte er sich um. So sah er gerade noch die Lanze, die mit einer mörderischen Geschwindigkeit auf ihn zuraste. Den Mund konnte er noch aufreißen, der Schrei aber blieb in seiner Kehle stecken. Ein dumpfer Aufschlag. Die Brust brannte in einem höllischen Feuer. Er hatte den Blick gesenkt, das Blut quoll dick hervor und in pumpenden Stößen. Mit dem Rücken zum Traktor sackte der Mann zusammen. Der Tod gewährte ihm einen kurzen Aufschub. Als letzten Eindruck in seinem Leben nahm er das Gesicht dieser fürchterlichen Person wahr, die stehengeblieben war und sich über ihn gebeugt hatte. Jetzt hielt sie den Mund offen. Aus ihm hervor ragte eine schwarzblaue Zunge, vergleichbar mit einer Schlange. Das ist der Eingang zur Hölle, dachte er noch, dann erwischte ihn der Tod… *** Ich hatte meinen Wagen auf der Landstraße abgestellt und war den Rest der Strecke zu Fuß gegangen. Es war ein schmaler Weg, mehr ein Pfad, der wie ein graues Lineal die Landschaft durchschnitt und direkt auf mein Ziel zuführte. Eine Baumgruppe aus hohen Pappeln umstand es, so daß ich das Wasser noch nicht sehen, dafür riechen konnte. Durch die Bäume verborgen lag der kleine Teich, an dem ich eine bestimmte Person treffen sollte, die seit langer Zeit verschollen war. Nadine Berger! Die ehemalige Schauspielerin, die ehemalige Wölfin, die jetzt in Avalon ihr Glück gefunden hatte.
Avalon – die Insel der Apfel, wie sie genannt worden war. Geschichtsund sagenträchtig, in Verbindung gebracht mit Merlin, dem großen Zauberer. All das wurde über Avalon erzählt, all das schoß mir durch den Kopf, und ich erinnerte mich daran, das ich schon selbst in Avalon gewesen war und den Dunklen Gral dort gelassen hatte, um meinen Partner Suko freizukaufen. Suko und den nicht mehr blinden Abbé Bloch, denn Avalons Zauberkraft hatte ihm das Augenlicht zurückgegeben. Damals hatte ich mich wie ein Verlierer gefühlt und wieder einmal gelernt, daß ein Leben aus einer Reihe von Kompromissen besteht. Nun, ich hatte mich daran gewöhnt, ohne den Gral zu leben, und ich hatte auch wenig über Avalon gehört. Andere Fälle hatten meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, nun aber hatte mir Nadine Berger eine Nachricht zukommen lassen. Sie wollte mich eben an einem bestimmten Punkt treffen. Weshalb sie sich gerade diesen Teich ausgesucht hatte, wußte ich nicht. Jedenfalls lag er in einer einsamen Gegend im Südwesten des Landes, und hier konnte ich eigentlich sicher sein, von keinem Fremden beobachtet zu werden. Je mehr ich mich der Bauminsel näherte, um so stärker wuchs der Weg zu. Das hohe, fettig wirkende Unkraut bildete beinahe schon eine dichte Mauer, der Boden war weich geworden, Feuchtigkeit hatte sich in ihm gesammelt wie in einem Reservoir. Im letzten Licht der Dämmerung entdeckte ich die Mückenschwärme, die nahe des Wassers ihre bizarren Tänze aufführten. Sie hatten sich zusammengefunden und bildeten zwischen den Stämmen der Pappeln dichte Wolken. Dabei tanzten sie auch vor dem Unterholz, das ich durchqueren mußte, um den Rand des Teiches zu erreichen. Meine Tritte störten die Stille. Einiges brach unter dem Druck der Schuhsohlen zusammen, dann hatte ich es geschafft, die gespenstisch anmutende Landschaft zu durchbrechen, rutschte eine kleine Böschung hinab und kam dicht vor dem Ufer des Teichs zur Ruhe. Ich blieb auf der weichen Erde stehen, gedeckt durch einen Kreis hoher Bäume, und vor mir den runden Teich, der auf mich den Anschein eines großen öligen Auges machte. Bei Tageslicht spiegelten sich sicherlich die ufernahen Zweige der Bäume, um diese Zeit aber war alles grau und verwaschen, und auf der Oberfläche konnte ich nicht einmal den Himmel erkennen, der düster und gewaltig über mir lag. Gestirne zeigten sich nicht. Auch der Mond hielt sich versteckt. Die Luft am Wasser war feucht und schwül. Würde Nadine Berger kommen? Ich wußte es nicht. Sie hatte es nur geschafft, mich auf telepathischen Wege hier an den kleinen Teich zu bestellen, und ich zerbrach mir auch jetzt noch den Kopf darüber, welcher Grund wohl vorliegen könnte.
Ich wußte nichts, aber ich kombinierte, ich vermutete und war auch zu einem Entschluß gekommen. Es mußte mit der Insel Avalon zusammenhängen. Vielleicht auch mit Atlantis und gleichzeitig mit dieser Welt und Zeit, in der ich lebte. Es war durchaus möglich, daß sich Nadine in gewissen Schwierigkeiten befand, aus denen ich ihr hervorhelfen sollte. Nur konnte ich mir das wiederum nicht vorstellen. Allein deshalb, weil sich Avalon mir gegenüber immer als stärker erwiesen hatte. Es hatte mich geleitet, ich war dabei von meinem eigenen Willen entsorgt worden. Zudem wunderte ich mich über diesen Treffpunkt. Akzeptabel wäre Glastonbury gewesen, das englische Jerusalem, gleichzeitig ein Ort, der praktisch das Tor zu dieser unsichtbaren Insel bildete, aber das spielte wohl in diesem Fall keine Rolle. Die Schräglage der Böschung wurde mir auf die Dauer unbequem. Ich wollte es mir gemütlich machen und setzte mich deshalb hin. Eine genaue Zeit hatte mir Nadine nicht angegeben, ich sollte nur bei Einbruch der Dunkelheit auf sie warten. Das tat ich. Ich war allein, ich konnte meine Gedanken auf Wanderschaft gehen lassen, doch ich hatte die innerliche Ruhe nicht gefunden und kam mir auch nach weiteren Minuten der Warterei noch immer wie ein Fremdkörper vor. Ich war in diesen Kreislauf nicht eingebettet, obwohl der Teich lebte. Nur beim ersten Hinsehen lag die Wasserfläche ruhig wie ein Spiegel. Schaute man genauer hin, dann waren auch die Insekten zu sehen, die winzigen Wellen der Wasserläufer. Die Frösche hatten sich aus ihren Verstecken getraut, um nach Beute zu schnappen. Hin und wieder pitschte und klatschte es. Im Unterholz ertönte manchmal ein Rascheln, das mich nicht weiter störte, weil es hier von lebenden Tieren verursacht wurde. Ich wartete also ab. An eine Lüge konnte ich nicht glauben. Das traute ich Nadine Berger einfach nicht zu. Wenn ich recht darüber nachdachte, wunderte es mich noch immer, daß sie sich Avalon als neue Heimat ausgesucht hatte. Man mußte wohl ihr Schicksal gehabt haben, um dies alles begreifen zu können. Die Nacht war ziemlich warm. Zudem wehte kaum ein Lüftchen, ich kam mir vor wie eingekesselt und spürte auch die Schweißperlen, die in Bahnen an meinem Gesicht entlang nach unten rannen. Alles war anders, dichter, auf das Wesentliche reduziert. Dieser Teich mit den Bäumen hätte auch in einer anderen Welt liegen können, und nichts hätte sich verändert. Zudem war ich abgeschnitten von jeglichem Verkehrslärm. Mich umgab – von den üblichen Geräuschen abgesehen – ein nahezu bedrückendes
Schweigen. Eine kompackte Stille, auch irgendwie lauernd, als sollte sie jeden Augenblick durchbrochen werden. Da sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich auf der Oberfläche des Teichs ein schwaches Muster. Die Zweige und Äste der Pappeln spiegelten sich darin. Für mich wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn sich diese Fläche plötzlich aus der Tiefe her geöffnet hätte und Nadine Berger erschienen wäre. Sie aber hielt sich zurück. Kein Geist tauchte aus dem Wasser auf, kein Gesicht zeigte sich märchenhaft schimmernd auf der Oberfläche, die gesamte Szenerie blieb gleich, und dennoch fühlte ich mich aus dem Unsichtbaren hervor beobachtet. Zahlreiche Augen, dunkel wie die Nacht und versteckt im Unterholz oder in den Büschen, schauten mich an. Blicke bohrten sich von verschiedenen Seiten her gegen meinen Körper. Manchmal huschten auch längliche Schatten dicht unter der Oberfläche entlang. Es waren hungrige Fische, die aus der Tiefe des Teichs an die Oberfläche stiegen, wo sie hin und wieder nach einem Insekt schnappten. Mein Blick glitt zur gegenüberliegenden Seite. Sie war dunkel. Verschiedene Schwarz- und Grautöne flossen ineinander und bildeten ein regelrechtes Spinnennetz, hinter dem sich kein noch so schwacher Umriß eines Gesichts verbarg. Nadine blieb vorerst unsichtbar. Ich hatte nicht mal mit Suko über meinen nächtlichen Ausflug gesprochen. Nadine hatte gewollt, daß wir allein blieben. Sie schien immer noch an das Band zu glauben, das wir einmal vor langer Zeit umfaßt gehalten hatten. Sie war einmal meine Geliebte gewesen, dann aber hatte man sie mir weggenommen. Der Götterwolf Fenries hatte sie in eine Wölfin mit der Seele eines Menschen verwandelt, und sehr lange hatte sie bei den Conollys gewohnt, wobei sie eine Beschützerin für deren Sohn Johnny gewesen war. Das alles lag hinter uns. Es war Zeit vergangen, es hatte sich einiges geändert, auch ich war beruflich in neue Dimensionen vorgestoßen. Mir waren die Kreaturen der Finsternis begegnet, ich hatte ziemlichen Ärger mit den Urdämonen erlebt, und zahlreiche Spuren hatten auch auf Luzifer hingewiesen. Sie kam noch immer nicht. Allmählich gefiel mir meine sitzende Position auch nicht. Ich streckte die Beine aus, damit sie nicht einschliefen, bewegte die Zehen in den Schuhen und dachte bereits darüber nach, wieviel Zeit ich der guten Nadine noch geben sollte. Die ganze Nacht über würde ich nicht warten, das stand fest. Mitternacht war erst in zwei Stunden, bis dahin konnte noch viel geschehen.
Normalerweise wäre ich auch um den Teich herumgegangen, doch Nadine hatte mich darum gebeten, an einer bestimmten Stelle zu warten. Und so hoffte ich, daß sie bald erscheinen würde. Auch die Vögel schliefen. Sie hielten sich im dicht belaubten Geäst der Bäume verborgen. Hin und wieder ein leises Rascheln der Blätter. Das Summen der Insekten, das Pitschen des Wassers – und plötzlich war Nadine Berger da. Ich hatte sie nicht kommen sehen. Sie war lautlos gegangen und selbst die Richtung hatte ich nicht erkannt. Sie stand einfach da und hielt sich an der gegenüberliegenden Seite des Teiches auf, wie eine in die Luft gezeichnete Gestalt. Sie stand so nahe am Rand des Wassers, daß ihre Zehen sicherlich von der trüben Flüssigkeit gekitzelt wurden, aber sie schaute nicht hin, sondern blickte über den Teich hinweg, um mich anzusehen. Ich stand langsam auf. Zuvor hatte ich mir zurechtgelegt, was ich ihr sagen wollte, alles war vergessen, ich konnte sie nur anschauen und wurde gleichzeitig von Erinnerungen durchwühlt. Über den Teich hinweg schauten wir uns an. Lächelte sie, blieb sie ernst? Es war nicht zu sehen. Zudem traute ich mich nicht, meine Leuchte hervorzuholen und den Strahl über die Wasserfläche zu schicken. Ich wollte und mußte abwarten. Trotz der Dunkelheit sah ich sie sehr gut. Das mußte an dem aus ihrem Inneren hervorstömenden Leuchten liegen, das ihren Körper wie ein Schild umgab. Sie trug zudem ein helles Kleid oder Gewand, und das rötlichbraune Haar umgab ihren Kopf wie eine Flut. Wir waren stumm, wir blieben stumm. Daß einer von uns den Anfang machen mußte, stand fest, und so überwand ich als erster die Barriere und redete mit ihr. »Hallo, Nadine… wie… wie geht es dir?« Nach kurzem Zögern hob sie den rechten Arm zum Gruß. Ich glaubte auch, auf ihrem im Schatten liegenden Gesicht ein Lächeln zu sehen, war mir aber nicht sicher. »Du bist gekommen, John…« Ich hob die Arme etwas an, streckte sie und drehte ihr meine Handflächen zu. »Ja, ich bin gekommen. Du hast es doch so gewollt. Du hast mich gebeten, ich habe gehorcht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich auf diese Begegnung sehr gefreut. Ich möchte wissen, wie es dir ergangen ist, ich habe auch innerlich eine gewisse Sehnsucht nach dir verspürt, obwohl gewisse Zeiten schon lange zurückliegen.« »Da hast du recht, John. Bevor du mich fragst, will ich dir sagen, daß es mir gutgeht.« »Das freut mich.«
»Avalon ist wunderbar. Ich habe dort einige Freunde gefunden, und auch dein Gral ist in diesem Reich sicher.« Diesmal schwieg ich, nickte aber so sauer, als hätte ich gerade ein Stück Stacheldraht verschluckt. Sie hatte den Dunklen Gral erwähnt, und das wiederum hatte mir einen harten Stich gegeben. Nun ja, durch den Tausch damals hatte ich Leben praktisch gerettet, aber den Gral woanders zu wissen, tat mir schon leid, obgleich ich ihn wenig eingesetzt hatte.* »Ja, ich hatte es mir gedacht, Nadine.« Meine Stimme klang etwas kratzig, die Worte schwebten über das Wasser. »Auch Merlin ist zu einem Freund geworden.« »Schön und…« »Du solltest dich nicht grämen. Die Zeit in Avalon hat mich gelehrt, daß alles ein Schicksal ist, ein Kreislauf, der das gesamte Geschehen der Welt umfaßt, von seinen Anfängen bis zu seinem Ende in einigen Milliarden Jahren, wenn die Sonne ihre Energie verloren hat, die Erde erkaltet und wieder zu dem wird, was sie einmal gewesen ist. Bis dahin gibt es viel zu tun. Jeder Mensch ist vom Schöpfer in ein bestimmtes Zimmer gestellt worden, das ich als sein Leben betrachte. Er hat dafür zu sorgen, daß dieses Zimmer stets aufgeräumt bleibt. Läßt er es vergammeln, ist es nicht würdig, darin zu leben. Räumt er es auf, sorgt er dafür, wird ihn irgendwann die Belohnung erreichen, die er verdient. So ist das Schicksal, das gewisse Bögen schlägt.« »Ich habe es ja akzeptiert. Nur als du dich bei mir gemeldet hast, kehrten die Erinnerungen zurück, und ich muß sagen, daß sie bisher nicht verschwunden sind.« »Ja, das ist sehr menschlich. Ich kann dich verstehen, John. Es war auch schön mit dir, und du hast mich ja in Avalon gefunden, und ich hatte dir damals versprochen, daß der Kontakt zwischen uns nicht abreißen wird. Ich habe das Versprechen gehalten. Das Band besteht noch, an dem wir uns aufeinander zubewegen können. Du siehst auch, daß es mir gutgeht, und dies wird so bleiben.« »Ich müßte mich freuen, daß es dir wieder gutgeht.« »Wenn ich dir noch etwas bedeute, dann ja. Unsere Probleme sind andere als die eurigen. Wir haben keine Zeiteinteilung wie ihr normalen Menschen. Bei uns fließen die Zeiten ineinander. Es ist unwichtig, ob wir in der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart leben. Nur das Jetzt interessiert uns und das Wohl der Bewohner Avalons.« »Könnte es sein, daß dieses Wohl gestört ist?« fragte ich über den Teich hinweg.
* Siehe John Sinclair Nr. 784: >Avalons Geistergräber<
Nadine Berger hob die Arme. Mit den Händen strich sie ihre Haarflut an beiden Seiten zurück. »Was hat dich auf diese Idee gebracht, John Sinclair?« »Dein Erscheinen.« »Das ist sehr ungenau.« »Ich weiß, Nadine. Ich hatte den Eindruck, als sollte ich dir bei gewissen Problemen helfen, die auf dich oder auf euch zugekommen sind. Ist das so?« Sie nickte. »Ja, du hast recht. Es gibt Probleme, die uns nicht direkt etwas angehen, die aber euch betreffen.« »Meinst du mich speziell?« »Nein, das nicht, John. Es geht um Menschen allgemein, die sich in Gefahr befinden.« »Und diese Gefahr geht von Avalon aus?« Nadine Berger wiegte den Kopf. »So direkt möchte ich das nicht bejahen, ich kann es jedoch nicht leugnen.« »Dann wäre es am besten, wenn du mich aufklärst, damit ich mich der Gefahr stellen kann.« »Ja, das ist gut.« »Bitte, fang an.« Sie begann mit einer Frage. »Du kennst den Hüter Avalons, den Hüter der Geistergräber, du kennst den, der noch über König Artus steht.« »Merlin!« »Ja, Merlin, der weise Zauberer, der schon vor urlanger Zeit erkannt hat, daß es nicht nur Gutes auf der Welt gibt. Das Böse lauert überall. So war es auch damals, als das passierte, was bis in deine Zeit Wirkung zeigt.« »Wie sieht die Gefahr aus?« »Sie hat drei Namen.« Da Nadine eine Pause einlegte, stellte ich die nächste Frage. »Wieso drei Namen?« »Yodana, Damana und Rogetta!« Sie hatte die drei Namen ausgesprochen und mich damit überrascht, denn mit keinem der drei konnte ich etwas anfangen. Jeder war für mich eine unbekannte Größe. Sie merkte meine Verlegenheit, lächelte zuerst, dann lachte sie leise über den Teich hinweg. »Ich weiß, daß ich dich jetzt verunsichert habe, doch ich will dir einen Teil deiner Sicherheit zurückgeben. Diese drei Namen – es sind Frauen – hätten für dich wohl nie eine Bedeutung gehabt, wenn sich nicht etwas verändert hätte.« »Was denn?« »Bitte sei nicht so ungeduldig, John, ich werde es dir schon erklären. Du mußt dich an die Ritter der Tafelrunde erinnern, die für König Artus gekämpft haben.« »Ja, ich weiß Bescheid.«
»Sie haben vor langen Jahren gelebt. Sie waren Legende, sie sind Legende, sie kamen nach Avalon in das gelobte Land. Sie waren schon immer umschwärmt, und auch auf der Insel existierten Probleme zwischen Männern und Frauen. Es gab drei Frauen, die unbedingt an die Ritter der Tafelrunde heranwollten. Drei Frauen, deren Namen ich dir gesagt habe. Sie haben alles versucht, um deren Gunst zu erlangen, aber die Ritter wollten es nicht. Sie stemmten sich gegen sie, sie verachteten diese Frauen, die sie trotzdem nicht losließen. Schließlich, als es ihnen zuviel wurde, baten sie Merlin um Hilfe. Der große Zauberer erbat sich Bedenkzeit. Dann griff er durch. Er verfluchte die drei bösen Schwestern Avalons, er vertrieb sie und sorgte dafür, daß sie keine Ruhe mehr hatten. Bald waren sie zwischen Leben und Tod innerhalb der Zeiten verschollen. Sie balancierten auf einem schmalen Grat, denn sie mußten erleben, daß der Fluch sehr wirksam war und es ihnen nicht gelang, irgendwo einzugreifen. Sie blieben die Gefangenen der Merlinschen Magie, aber auch sie hielt keine Ewigkeit.« »Jetzt sind sie zurück, wie?« Nadine Berger nickte. »Ja, sie haben es geschafft, die Sperre zu durchbrechen. Sie sind wieder zurück, und sie haben ihre eigentliche Aufgabe nicht aus dem Sinn verloren. Sie werden sich weiterhin auf die Suche machen.« »Nach den Rittern?« »Das nehme ich an.« »In dieser Welt?« »Ja, es ist alles möglich. Es kann alles sein. Niemand weiß es genau, und sie kennen sich nicht aus, denn sie werden noch immer nach den Gesetzen handeln, die zu ihrer Zeit Bestand hatten. Und sie haben sich stets über Recht und Unrecht hinweggesetzt, das solltest du auch wissen.« »Ich denke, daß sie dies nicht vergessen haben.« »Es stimmt, John. Wir müssen davon ausgehen. Sie werden einzig und allein ihren Weg gehen.« Ich schüttelte den Kopf. »Haben diese drei Personen denn nicht begriffen?« »Sie konnten es nicht.« »Dann wissen sie also nichts über Veränderungen dieser Welt. Oder irre ich mich?« »Sie sind ahnungslos. Sie denken noch immer, sie würden so leben wie damals.« Das alles gefiel mir nicht so recht. Hier lief einiges krumm. Natürlich glaubte ich Nadine. Da waren also drei Frauen erschienen, um sich ihre Geliebten zu suchen. Sie hatten in der Vergangenheit gelebt, sie waren dann durch einen Zeitsprung in meine Gegenwart hineingelangt, und sie
würden sicherlich auch das Grauen bringen, sonst hätte Nadine mich nicht gewarnt. »Aber die Ritter existieren nicht mehr«, sagte ich. Meine Stimme hörte sich lahm an. Ich wußte einfach nichts mehr hinzuzufügen. »Das wissen sie nicht, John. Sie werden sich deshalb auf die Suche machen, und sie sind gefährlich. Sie haben den Fluch überlebt, sie werden auch an dieser Welt nicht scheitern. Ich weiß leider nicht, wie sie sich verändert haben, gehe aber davon aus, daß diese Zeit der Verbannung Spuren bei ihnen hinterlassen hat, und ich glaube auch nicht, daß du auf Menschlichkeit und Gnade hoffen kannst. Sie werden jedes Hindernis aus dem Weg räumen, und sie werden auch nicht vor einem Mord zurückschrecken, das steht fest. Sie sind es leider gewohnt, sich gegen die Gewalt einzusetzen, die ihnen im Wege stehen. Sie wissen nichts von dir, aber du weißt von ihnen. Du solltest deshalb versuchen, sie zu stoppen.« Ich verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Das habe ich jetzt gehört, Nadine. Nur frage ich dich, wie ich es schaffen soll, sie zu stoppen. Muß ich sie verfolgen?« »So wird es aussehen.« »Bleiben sie zusammen?« »Ich glaube es nicht. Sie werden sich wohl verteilen und einzeln auf die Suche nach ihren ehemaligen Geliebten machen. Dann werden sie erkennen müssen, daß sie die Ritter der Tafelrunde nicht mehr finden. Daß sich dieses Land sehr verändert hat und die Menschen nicht mehr in Burgen oder kleinen Dorfgemeinschaften zusammenleben. Es wird für dich eine schwere Aufgabe werden…« »Darf ich dich unterbrechen, Nadine.« »Du hast es schon getan.« »Klar, ich weiß. Es will mir einfach nicht in den Sinn, daß sie sich jetzt in dieser Zeit befinden sollen. Warum werden sie nicht nach Avalon zurückgeholt?« »Das geht nicht. Merlin hat sie verflucht. Er hat den Bann über sie gesprochen. Die Insel Avalon ist für sie tabu. Aus diesem Grunde werden sie in deiner Welt bleiben. Ob sie bereits hier sind, weiß ich nicht. Ich wollte dich nur gewarnt haben, denn der Fluch ist mittlerweile durchbrochen worden.« »Ja, das weiß ich jetzt.« »Dann kann ich dir nur alles Gute und viel, viel Glück wünschen. Ich bin sicher, daß du sie treffen wirst, denn in einer Zeit wie dieser müssen sie einfach auffallen. Sie können sich nicht verändert haben und sind noch immer so wie damals.« »Danke für den Ratschlag. Ich werde versuchen, mein Bestes zu geben. Auch Suko und Bill werden mir helfen.« Ich räusperte mich, weil ich vor einer Frage stand, die persönlich war, die ich aber unbedingt loswerden
wollte. »Interessiert es dich denn, wie es den Conollys geht, besonders Johnny.« »Gut, denke ich.« »Da hast du recht, aber sie haben dich nicht vergessen. Sehr oft sprechen wir über dich. Sie würden dich gern wiedersehen und haben viele Fragen. Aber auch, um sich bei dir zu bedanken, denn du hast ihnen oftmals einen Gefallen erwiesen…« Während meiner Worte hatte Nadine den Kopf gesenkt. »Ich weiß es, John«, flüsterte sie, »aber ich habe mich für einen bestimmten Weg entschlossen, den kann ich nicht mehr verlassen. Das solltest du akzeptieren, darum bitte ich dich.« »Ich schon. Ob die Conollys es schaffen werden, kann ich dir nicht sagen. Ich werde sie von dir grüßen und ihnen sagen, daß du dich wohl fühlst.« »Darum möchte ich dich bitten.« Sie hob den rechten, dann den linken Arm und streckte sie mir dann entgegen, als wollte sie meine Hände berühren. Doch zwischen uns lag die Wasserfläche, so blieb es beim Versuch. »Soll ich zu dir kommen? Ich laufe schnell um den Teich herum. Es wird nicht lange dauern…« »Auf Wiedersehen, John… bis bald… irgendwann einmal.« Ihre geflüsterten Worte flössen über den Teich hinweg zu mir hin und bedrückten mich. Ein Abschied bedrückt mich immer. Sie ging zurück. Einen Schritt, den zweiten, auch den dritten, und beim vierten war sie verschwunden. Aufgelöst, eingetaucht in das Element Luft. Ich aber blieb am Teichufer stehen. Sehr nachdenklich war ich geworden. Erst jetzt, wo ich über die Begegnung richtig nachdachte, kam mir die gesamte Tragweite zu Bewußtsein. Es war gut, daß ich gewarnt worden war, doch die Probleme blieben. Wo konnte ich den Hebel ansetzen, um diese drei Frauen zu finden? Avalons böse Schwestern, auch das hatte es gegeben, und ich dachte über die Namen nach. Sie waren nicht einfach, aber ich hatte sie behalten. Yodana, Damara und auch Rogetta… Seltsame Namen, mit denen ich nichts anzufangen wußte. Ebenso seltsam wie die drei Frauen. Avalons böse Schwestern. Ich hatte kein gutes Gefühl, wenn ich an sie dachte. Sie kamen aus einer Welt, in der es wenige Gesetze gegeben hatte. Vieles – beinahe alles war anders geworden. Das mußten sie akzeptieren, aber sie würden es nicht akzeptieren.
Sie würden suchen, weitermachen. Sie würden mit Menschen zusammentreffen und vielleicht auch töten. Der Gedanke daran gefiel mir gar nicht. In meinem Innern mischten sich Angst, Wut und Sorge und ich befürchtete, zu spät zu kommen. Sehr nachdenklich ging ich wieder zurück zu meinem Rover. Die mich umgebende Landschaft schwieg. Sie kam mir so vor wie vor tausend Jahren. Vielleicht war sie damals stärker bewaldet gewesen, aber großartig verändert hatte sie sich bestimmt nicht. Suchen und finden. Eine schwere Aufgabe lag vor mir. Ich hoffte, daß ich sie schaffte. Im Gegensatz zu ihrer Zeit hatte meine einen großen Vorteil. Hier existierte die Technik, damit auch die Kommunikation, und sie würde ich in Anspruch nehmen. Wenn Avalons böse Schwestern erschienen, egal wo, hinterließen sie Spuren. Die blieben nicht unentdeckt. Gleich am nächsten Morgen würde ich mit den Recherchen beginnen. Mit diesem Gedanken öffnete ich die Wagentür, stieg aber noch nicht ein, sondern schaute zurück. Ich sah das Pappelwäldchen, in dem der Teich verborgen lag. Wehmut durchströmte mich, auf dem Rücken hatte sich ein Schauer festgesetzt. Zwischen und über den dicht belaubten Bäumen glaubte ich, ein Frauengesicht schimmern zu sehen. Als wäre Nadine Berger mein Schutzengel, der auf mich achten wollte. Es war und blieb ein Wunschtraum, eine Einbildung. Mit diesem Gedanken stieg ich in den Rover, startete und machte mich auf den Weg zurück nach London. *** Clint Walker betrieb ein Bordell auf dem platten Land, wobei der Ausdruck platt nicht stimmte, denn das Haus lag eingebettet in die sanfte Hügellandschaft Mittelenglands. Es war heimelig, eine kleine Oase. Der nächste Ort lag zehn Meilen entfernt. Deshalb hatte er auch für einen Parkplatz gesorgt, der sich an die Rückseite des Hauses anschloß. Natürlich lief dieser Club nicht unter der Rubrik Bordell oder Puff. Nein, heuzutage war man vornehmer, da mußte der Begriff Club herhalten oder auch mal Sauna und Entspannungsclub. Mit diesen Attributen hatte Walker in den entsprechenden Gazetten inseriert und auch Erfolg gehabt. Nicht sofort, er hatte schon Geld investieren müssen, doch nach einem knappen halben Jahr hatte sich die Werbung bezahlt gemacht. Zusätzlich noch hatte die Mundpropaganda für den entsprechenden Betrieb gesorgt, und jetzt, nach mehr als einem Jahr, konnte sich der Besitzer die Hände reiben, denn er schrieb schwarze Zahlen.
Für seine Diskretion war der Club bekannt. Geschäftsleute kannten ihn, Fernfahrer und Messegäste erschienen hier, denn der Besitzer verstand es, die Preise zu variieren, so daß die Geschäfte noch besser liefen. An diesem Abend – allmählich löste die Dämmerung den Tag ab – stand er vor seinem Haus und betrachtete die untergehende Sonne. Walker hatte die Hände in den Taschen einer weißen Anzughose vergraben. Unter dem Jackett trug er ein dünnes, pflaumenblaues Hemd, dessen oberste Knöpfe offenstanden. Er gab sich locker, ein Grinsen lag auf seinem etwas breiten Gesicht, das auf einige Frauen sehr anziehend wirkte, vielleicht auch wegen der Narben auf der Stirn. Er wirkte männlich. Clint Walker schaute nach Norden. Meilen entfernt lagen die großen Städte wie Manchester, Worrington und Bolton so wie einige andere. Und wer von dort kam, brauchte zudem nicht mehr nach Hause zu fahren, denn im Haus gab es genügend Hotelzimmer, wo der Kunde übernachten konnte. Dabei blieb es ihm freigestellt, ob er sich ein Mädchen mitnahm oder allein in sein Bett kroch. Er drehte sich um. Ein Lächeln huschte dabei über seine Lippen. Es vertiefte sich noch mehr, als er gegen die Front seines Clubs schaute, und wieder einmal dachte er daran, wie gelungen dieses Gebäude doch war. Die sanften begrünten und bewaldeten Hügel waren wie erstarrte Wellen, die gleichzeitig einen Schutzwall bildeten, und darüber freuten sich auch die Kunden. Sie wollten ja unentdeckt bleiben. Das Haus selbst erinnerte in keiner Weise an ein Bordell. Es brannte nicht einmal eine rote Laterne oder Lampe an der Tür. Es war ein Fachwerkhaus mit Butzenscheiben, einer zweiflügeligen Tür und einem Klopfer neben der Klingel. In der ersten Etage, direkt unter dem breiten Dach befanden sich die Hotelzimmer. Sie waren nicht besonders groß, aber für gewisse Dinge sehr praktisch eingerichtet. In jedem Zimmer gab es eine gutbestückte Bar, von deren Inhalt sehr oft Gebrauch gemacht wurde. Die Mädchen wohnten ebenfalls im Haus. Allerdings unter dem Dach, wo die Zimmer winzig waren. Klagen hatte es nie gegeben, denn sie waren am Umsatz beteiligt. Clint Walker war stolz darauf, daß es in seinem Club noch nie zu größeren Gewalttätigkeiten gekommen war. Es hatte auch noch kein Gast einen Schlaganfall oder eine Herzattacke erlitten, alles lief normal und glatt über die Bühne. Und so gehörte Clint Walker zu den zufriedenen Menschen. Er dachte sogar darüber nach, an der Südküste ein zweites Etablissement zu eröffnen, die Clubs waren einfach >in<.
Den Vorplatz umgab eine Rosenhecke. Die Rosen blühten zu dieser Jahreszeit schon voll, und sie verstömten einen betörenden Duft, der die Nachtluft zu einem Erlebnis machte. Er brauchte weder zu klopfen, noch zu klingeln, als er das Haus betrat. Ein simpler Schlüssel tat es auch. Walker schloß die Tür auf, drückte sie mit dem Ellbogen nach innen und fand sich in einer Duftkomposition wieder, die mit der Natur nichts zu tun hatte. Es roch angenehm nach parfümgeschwängerter Luft. Rechts ging es zur Bar. Dort lernte man sich kennen. Eine Holztreppe führte in den Keller. Hier lagen die Saunen, die beiden Pools, und dort war die zweite Bar untergebracht worden. Er hörte die Stimmen der Kunden und das Lachen der Mädchen über die Treppe hochschallen, drehte sich dann nach links, wo neben einer viereckigen Blumenbank ein Mann saß, der die Deckung ausnutzte, kaum gesehen wurde, aber selbst alles überblicken konnte. Der Mann hatte sich bei Walkers Eintritt erhoben. Er war groß, hatte einen Igelschnitt, trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln. Die Muskeln quollen wie runde Hügel aus den Ausschnitten hervor. »Alles in Ordnung, Clive?« »Immer, Chef.« Walker schaute in das bedrückt wirkende Gesicht des Leibwächters und Rausschmeißers. »Das gefällt dir wohl nicht so ganz – oder?« »Wie man’s nimmt. Ein wenig Action wäre schon gut, finde ich. Oder denke ich da falsch.« »In meinem Sinne ja.« Walker wechselte das Thema. »Wie viele Gäste sind da?« »Sieben.« »Das geht.« »Es ist noch früh am Abend, Chef.« »Da hast du recht, Clive.« Er räusperte sich. »Ich gehe mal nach unten in den Saunabereich.« An der Treppe blieb er stehen und schaute sich um. »Wer ist dort?« »Sind nur drei.« »Wir werden sehen.« Walker verschwand. Clive hockte sich wieder nieder und hob das Magazin auf, das er unter den Stuhl gelegt hatte. Es war eine Waffenzeitschrift, und Clive bekam große Augen, wenn er die Beschreibungen der einzelnen Waffen las. Mittlerweile hatte Clint Walker die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen. Ein Teppich dämpfte die Tritte. Lampen mit Schirmen verbreiteten einen heimeligen Schein. Aquarelle, deren Motive an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen, schmückten die Wände, und am Ende der Treppe führte eine offene Tür in die Kellerbar. Sie wirkte wie ein
Trockenpool, denn die Wände waren mit blauen Wellen bemalt, auf denen Schiffe fuhren, die die Umrisse von nackten Frauenkörpern hatten. Der Fernseher in der Ecke war ausgeschaltet. Über Video liefen Pornos, um die Gäste anzuturnen. An diesem Abend jedoch hielt sich niemand vor der Bar auf. Maggie war allein. Sie war die Barfrau, das Urgestein. Obwohl erst dreißig, wirkte sie viel älter. Eine sehr füllige Blondine, die alles im Griff hatte und allein durch ihr Aussehen Respekt einflößte. Sie trug heute enges, schwarzes Leder. Der Ausschnitt war zu klein für ihren Atombusen, der hinausdrängte. Maggie arbeitete hin und wieder auch als Domina, an diesem Abend wurde sie nicht gebraucht, und deshalb blieb sie hinter der Bar. Die Hocker waren mit rotem Leder bezogen, und auf einem von ihnen ließ sich Clint Walker nieder. »Wie immer, Chef?« »Ja, gib mir einen Wodka mit einem Schuß Zitrone.« »Okay.« Die Bar war nicht düster, aber sie strahlte die Atmosphäre aus, die man sich bei so einem Haus vorstellte. Das Licht fiel als Schleier in unterschiedlichen Rottönen aus den Schirmen hervor und verteilte sich nicht allein über der Theke. Auch die Wände und Sitzgruppen waren in diese Farblandschaft eingetaucht. Hier tankten Kunden und Mädchen Atmosphäre, um sich auf die Spiele in der Sauna oder im Pool vorzubereiten. Maggie servierte den Wodka. Es war ein Dreifacher. Die frisch hineingeträufelte Zitrone hatte Schlieren in der hellen Flüssigkeit hinterlassen. »Nimm dir auch einen.« »Danke, Chef.« Maggie entschied sich für einen Whisky. Beide prosteten sich zu. »Probleme?« fragte Walker, nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte. »Nein, eigentlich nicht.« »Aber?« »Kathy hat einen Koller gekriegt.« »Wie das?« »Sie muß früher einmal Stoff genommen oder an der Nadel gehangen haben. Sie hatte wohl Entzugserscheinungen und wollte plötzlich einen Schuß.« »Hat sie getobt?« »Nein, sie ist weinend zusammengebrochen.« Walker nickte, obwohl ihm dieser Zwischenfall überhaupt nicht behagte. »Was hast du mit ihr getan? Sie auf ihr Zimmer geschickt?«
Mit gerunzelter Stirn schaute Maggie in das Whiskyglas. »Das hatte ich erst vor, hatte es ihr auch angeboten, aber sie wollte pardout nicht. Da würde sie verrückt werden, hat sie gesagt.« Walker nickte nachdenklich. »Und wie hast du reagiert?« »Na ja, was sollte ich tun? Du weißt doch, daß ich die Beichtmutter für die Mädchen bin. Ich habe sie hier unten behalten. Da war sie zufrieden.« »Sie ist nicht mit einem Kunden zusammen?« erkundigte sich Clint Walker scharf. »Nein, wo denkst du hin! Sie hat sich in den Wäscheraum zurückgezogen.« »Das ist gut«, erklärte Walker nickend. Der Wäscheraum enthielt all die Handtücher und Bademäntel, die verteilt wurden, wenn Kunden kamen. Alle zwei Tage kam ein Wagen der Wäscherei und schleppte die benutzte Wäsche mit. Ohne das Glas geleert zu haben, klopfte der Chef mit dem Knöchel auf den Handlauf. »Ich werde mal nach ihr schauen.« Er rutschte vom Hocker und hörte, wie ihn Maggie ansprach. »Clint?« »Was ist denn?« »Sei etwas lieb.« Er runzelte nur die Stirn und hob die Brauen. »Ich bin immer lieb, Maggie. Das weißt du doch.« »Ansichtssache.« »Ha.« Lachend ging er weg. Maggie konnte sich diesen Umgang mit ihrem Chef erlauben. Schließlich war sie die dienstälteste Mitarbeiterin in seinem Dunstkreis. So manches Mal hatte sie sich schützend vor die Mädchen gestellt, die sich anschließend ihr gegenüber sehr dankbar erwiesen hatten, denn jede wußte, daß Maggie eigentlich Frauen liebte. Von der Bar aus zweigten mehrere Türen ab. Die schmälste mit der Aufschrift privat führte in den Wäscheraum. Clint Walker war leicht sauer. Er mochte es nicht, wenn seine Mädchen durchdrehten. Er wollte alles perfekt haben. Okay, Kathy hatte mal gefixt, doch als er sie angestellt hatte, war sie clean gewesen. Er hatte sie direkt von der Uni geholt, wo Kathy keine Perspektiven mehr gesehen hatte. Als er die Tür leise öffnete, nahm er den Geruch der Wäsche war. Der Raum war dunkel, Kathy mußte in der Finsternis hocken, aber er hörte sie nicht. Sie weinte nicht, sie sprach auch nicht. Walker schaltete das Licht ein. Kurz nur huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Kathy lag da und schlief. Sie sah aus wie hingegossen. Mehrere Hand- und Badetücher hatte sie zu einem provisorischen Bett zusammengebaut und sich darauf gelegt. Sie lag zwischen zwei zur Hälfte mit Wäsche gefüllten Regalen.
Ihr roter Morgenmantel war verrutscht. Darunter trug sie nur mehr einen hauchdünnen Slip. Sie hatte nichts gehört. Walker ging auf leisen Sohlen weiter und blieb dicht neben ihr stehen. Er schaute auf ihren knabenhaften Körper und mußte daran denken, daß Kathy schon fünfundzwanzig war. Sie sah um einiges jünger aus und war bei manchen Gästen sehr begehrt. Er tippte sie an. Erschreckt fuhr Kathy in die Höhe. Sie schaute sich mit einem verwunderten Blick um, wußte im ersten Moment nicht, wo sie sich aufhielt, bis sie Walkers Gesicht erkannte und noch mehr erschrak. »Gut geschlafen?« Ein Schauer rann über Kathys Gestalt. Sie raffte ihren Bademantel vor dem Körper zusammen, nicht etwa weil sie sich schämte, sondern weil sie plötzlich fror. »Ja, ich bin plötzlich…«, sie hob die Schultern. »Ich konnte auch nichts dazu.« »Brauchst du eine Pause?« »W… weiß nicht.« Kathy wagte nicht, ihren Chef anzusehen. Sie kannte ihn. Der konnte noch so nett und freundlich tun, einen Moment später aber explodierte er, und das war nie angenehm. »Maggie erzählte mir von deinen Problemen.« Sie hob die Schulter und blickte dabei auf den Holzboden. »Das ist nicht so schlimm.« »Tatsächlich nicht?« »Ja, ich…« Er faßte das dunkle Haar und zog ihren Kopf hoch. Kathy verzog das Gesicht, der erste Schmerz hatte sie erfaßt wie ein Schuß aus der Säureflasche. »Ich will, daß du mich anschaust, wenn ich mit dir rede, Kathy. Ist das klar?« Vergeblich versuchte sie zu nicken. »Ja«, preßte sie hervor. »Das… das ist klar.« »Wunderbar, dann sind wir uns einig.« Er ging einen Schritt zurück, um Kathy anzuschauen. »Du wolltest einen Schuß, wie?« Sie preßte die Lippen zusammen. Er schlug ihr gegen die Wange. Nicht sehr hart, aber es klatschte, und eine Rötung blieb zurück. »Du sollst doch antworten, wenn ich mit dir rede. Wolltest du einen Schuß haben?« »Ich habe daran gedacht«, stieß sie hervor. »Warum?« »Keine Ahnung.« »Du bist doch clean.« Kathy wickelte den Mantel noch enger um ihren Körper. »Ja, das stimmt, aber es kam so über mich. Auf einmal spürte ich die Gier wieder. Ich
kann es selbst nicht fassen.« Sie schüttelte den Kopf, senkte das Gesicht, strich die Haare zurück und starrte auf ihre nackten Füße, deren Zehennägel in einem kräftigen Rot lackiert waren. Sie kamen ihr vor wie erstarrte Blutflecken. »Das ist schlecht, Süße.« Kathy hatte erst nicken wollen, nun aber redete sie. Man konnte nie wissen, wie dieser Mensch auf eine stumme Antwort reagierte. »Ja, ja, das stimmt, aber…« »Aber gibt es bei mir nicht, das weißt du genau. Ich will, daß sich meine Mädchen unter Kontrolle haben.« Er schrie plötzlich. »Schau mich an, wenn ich mit dir rede.« Er hatte bereits den Fuß zum Tritt gehoben, der schwang wieder zurück, als Kathy ihm ins Gesicht blickte. »Meine Girls dürfen nicht ausflippen. Wer ausflippt, bringt zu leicht die Bullen auf den Plan. Die schnüffeln überall, begreifst du das? Ich will nicht, daß mein Geschäft kaputtgeht. Es ist gut gelaufen, Süße, und es soll so bleiben. Ich bin heute sehr menschlich. Du kannst in dein Zimmer gehen und dich ausruhen. Wenn dich ein Gast zufällig hier finden sollte, ist das schlecht für unser Image. Deshalb verzieh dich. Alles soll so bleiben wie bisher.« Kathy schaute zu Walker hoch. »Danke«, flüsterte sie. »Ich… ich werde mich bemühen.« Clint grinste breit. Er zog Kathy hoch. Dann legte er zwei Finger unter ihr Kinn. »Wenn ich beim nächstenmal was höre, geht es nicht so glatt ab. Du kannst deinen guten Willen beweisen, indem du die Hand- und Badetücher einräumst. Klar?« »Natürlich, gern.« Sie drehte sich um und fing mit ihrer Arbeit an. Walker warf ihr noch einen kalten Blick zu, dann erst drehte er sich um und ging zur Tür. Seine Hand lag bereits auf der Alu-Klinke, als er die Stimme des Mädchens hörte. »Da ist noch etwas, Chef.« Er verdrehte die Augen. »Was denn?« »Ein… ein Geräusch. Ich habe es gerade wieder gehört. Es klingt so komisch.« Walker drehte sich um. »Wenn du mich verarschen willst, dann werde ich mich…« »Nein, nein, da war etwas.« Sie stand zitternd neben ihrem provisorischen Bett, ein Badetuch hielt sie in der Hand. Mit der freien Linken deutete sie schräg gegen den Holzboden. »Da unten habe ich etwas gehört, Chef, ehrlich.« »Da ist nichts. Auch kein Keller.« »Aber es hat geknirscht und…« »Hör auf, Süße, ich…« Beide hörten plötzlich die Schreie. Keiner von ihnen hatte die Laute ausgestoßen. Sie waren woanders hergekommen, und zwar aus dem Pool-Bereich.
Walker fluchte, schnellte herum und riß die Tür auf. Ein nackter Mann mit dickem Bauch kam ihm schreiend entgegen. Sein Gesicht war nur zur Hälfte sichtbar. An der anderen Seite lief das Blut aus einer dicken Kopfwunde. Die Tür stand offen. Drei schreiende nackte Mädchen drückten sich gegen die Wand. Sie alle hatten den Pool verlassen. Zwei andere Kunden lagen auf dem Boden. Als Walker hinschaute, krochen sie auf allen vieren schnell weg. Der Chef sprang mit einem Satz über die Schwelle. Er schaute in den Pool, dessen Wasser aufgewühlt und schmutzig geworden war. Von unten her hatte eine gewaltige Kraft die Fliesen auf dem Boden aufgebrochen. Diese Kraft stand rechts neben dem Pool. Sie war halbnackt, hatte einen schwellenden Körper, hatte knallrotes Haar, trug Eisenschmuck an Schenkeln und Armen und war mit einer Lanze bewaffnet, an deren Spitze Blut klebte. Clint Walker starrte die Frau an, als hätte er noch nie in seinem Leben ein weibliches Wesen gesehen… *** Sie sagte nichts, sie reagierte nicht, sie stand einfach nur da und wartete ab. Walker schaute sie an. Als Mann und auch beruflich war er durch Himmel und Hölle gegangen, er war up und er war down gewesen, aber er war nie so tief gefallen, als daß er sich nicht hätte aus dem Sumpf herausziehen können. Mit jedem Gegner war er fertig geworden, aber nicht mit diesem hier, nicht mit dieser Frau. Die war so kalt, die war ihm über, die wirkte sogar auf ihn, als wäre sie aus einer anderen Welt gekommen. Die ist härter als ich, dachte er. Verdammt, die ist härter. Er ärgerte sich, daß er seinen Revolver nicht bei sich trug. Der lag in seinem Büro, die Ersatzwaffe in seinem Zimmer unter dem Dach. So konnte er sich nur auf seine Fäuste verlassen, und das gegen eine Person, die eine spitze Lanze trug und sie schon eingesetzt hatte, denn Walker war der Mann mit dem blutigen Kopf entgegengetaumelt. Clint Walker schielte nach links. Dort befand sich der Pool mit dem beschmutzten Wasser. Diese Person hatte den Grund aufgewühlt, aber wie war das möglich gewesen? Verfügte sie etwa über die Kräfte eines Riesen? Schwach sah sie nicht aus. Clint Walker erinnerte sie an eine Person, die zu den Stars im FitnessCenter gehörte. Sehr kräftig, aber trotzdem weiblich. Über ihre Brüste
spannten sich nur zwei breite Streifen, die aussahen wie Hosenträger, und der Stoff endete in einem Body. Trotz dieses Aussehens hatte er das Gefühl, als wäre sie aus einer Zeit gekommen, die mit heutigen Maßstäben nicht gemessen werden konnte. Sie hatte die hellrote Haarflut so zurückgekämmt, daß ihr gesamtes Gesicht zu sehen war. Sie schaute Walker an. Der stöhnte auf. Für seine Mädchen und die nackten Kerle hatte er keinen Blick. Sollten sie jammern, er wollte so schnell wie möglich aus diesem Bereich verschwinden, zudem dachte er an seinen Leibwächter Clive, der oben hockte und immer ein Schießeisen bei sich trug. Er mußte diese unheimliche Person aus dem Pool-Bereich und in den Bereich des Eingangs locken. Er ging zurück und streckte dabei seine Arme vor. »Okay, wer immer du bist, Lady, es ist alles klar. Hier unten brauchst du nicht zu bleiben. Ich werde mit dir nach oben gehen, und dort können wir zusammen an der Bar einen heben. Willst du das?« Sie gab ihm keine Antwort. »Also ja…?« Sie schwieg. »He, hast du einen Namen?« Die rothaarige Frau drückte ihre Augenbrauen zusammen. Sie schien sich zu ärgern. »Rogetta«, sagte sie dann. »Ich bin Rogetta.« Walker ärgerte sich über den Tonfall. »Ja, ja, schon gut. Ich habe verstanden, aber ich kann nicht alle kennen. Wenn du bei mir arbeiten willst«, er grinste, »ich mache dir einen guten Preis.« Während seiner schnellen Rede war er immer weiter zurückgegangen und spürte nun, daß er die Tür erreicht hatte. Sie stand noch offen. Der nächste Schritt brachte ihn in den Vorraum. Er ging zur Treppe, aber so, daß er die Unbekannte im Blick hatte. »Komm mir nach, wir gehen nach oben.« Endlich setzte sie sich in Bewegung. Für die Mädchen und deren Kunden hatte sie keinen Blick. Sie bewegte sich geschmeidig. Walker sah, daß ihre Füße in Riemenschuhen steckten, die aus sehr weichem Leder gefertigt waren. Als er an der Treppe stand und winkte, hatte sie soeben den Pool-Bereich verlassen. Sie kam ihm nach. Walkers Herz schlug vor Aufregung schneller. Sein Atem fuhr scharf in die Nase hinein und ebenso scharf wieder aus ihr hervor. Das klappte, das sah alles sehr gut aus. Er mußte nur die Nerven bewahren und ihr Clive entgegenschicken. Der gierte doch nach einem Kampf, den sollte er auch bekommen.
Clint lief seitlich die Treppe hoch. Er schaute mal nach oben, dann wieder nach unten. Auf dem Teppich konnte er sich leichtfüßig bewegen, und die Rothaarige folgte ihm noch immer. Sie würde ins Verderben laufen… Aus seinem Mund drang ein leiser, aber verstimmter Pfiff. Der alarmierte Clive. Walker wußte, daß sich sein Aufpasser jetzt von seinem Stuhl erhob und schon zur Waffe griff. Er wartete noch, bis die Rothaarige die Treppe betreten hatte, dann lief er weiter, und im Flur wäre er beinahe mit Clive zusammengeprallt. Der war einige Schritte vorgelaufen. Zeit, um lange Erklärungen abzugeben, hatte Walker nicht. Er mußte sich kurz fassen und alles Wichtige in wenigen Sätzen sagen. »Hör zu, du wirst schießen müssen.« »Wer kommt?« »Eine Frau.« »Was?« »Sie ist bewaffnet, du wirst schießen.« Walker zog sich zurück. Er konnte in die Bar hineinschauen. Dort sah er Maggie, die sich um den Verletzten kümmerte. Sie hatte dem Mann ein Handtuch besorgt, das er um seine Hüften gewickelt hatte. Maggie wollte ihn fragen, doch Walker winkte ab. Er bewegte sich auf einen Platz zu, von dem aus er einen guten Überblick hatte und auch das Ende der Treppe sehen konnte. Er sah sie bereits. Als wäre nichts geschehen, kam sie die Stufen hoch. Wenn sie so weiterging, würde sie genau gegen die Mündung der Luger laufen, die Clive gezogen hatte. Verdammt, sie mußte die Waffe sehen, aber sie reagierte nicht. Auch Clive hatte dieser Anblick zu Eis werden lassen und ihm buchstäblich die Luft geraubt. Er konnte ihn nicht nachvollziehen. »Chef, was ist…?« »Stell keine Fragen, du Idiot, mach sie fertig!« Clive ging einen Schritt zurück, denn die Rothaarige ließ sich nicht beirren. »Soll ich schießen?« »Auch das!« Clive hob die Waffe. Er wollte sie nicht töten, nur verletzen und zielte deshalb eine Sekunde zu lang. Rogetta war schneller. Das heißt, ihre Lanze bewegte sich wie ein Blitzstrahl nach vorn, und sie traf. Der Leibwächter brüllte das Haus zusammen, als er den unbeschreibbaren Schmerz in seiner Körpermitte spürte. Die Wucht drückte ihn hoch und zurück. Mit einer nahezu lässigen Bewegung zerrte die Rothaarige die Lanze aus dem Körper des Mannes, der trotzdem noch taumelte und beide Hände auf die Wunde preßte. Mit zitternden Knien bewegte er sich rückwärts auf die Blumenbank zu, wo er nicht stoppen konnte und in das große Gewächs hineinfiel.
Die Blumen knickten weg, und sogar härtere Gewächse brachen mit knackenden Geräuschen. Dann lag er still, und eigentlich schauten nur seine Beine noch hervor. Clint Walker war die Luft weggeblieben. Er konnte nicht mehr atmen, er war fast am Ende, der Schweiß strömte aus allen Poren, hinter sich hörte er Maggie wimmern, auch sie hatte zugesehen, doch die Rothaarige kümmerte sich um keinen von ihnen. Mit einer nahezu unwilligen Bewegung schüttelte sie den Kopf, bewegte sich dann vor und ging auf die Haustür zu. Sie kannte den Weg, sie wußte plötzlich Bescheid, obwohl sie so fremd war, und sie zerrte die Tür hart auf. Dann ging sie. Clint Walker starrte ihr nach. Er bekam Mund und Augen nicht mehr zu. Was er in den letzten Minuten mit- und durchgemacht hatte, war der echte Wahnsinn. Darum kümmerte sich die Fremde nicht. Sie hatte längst das Freie erreicht und wurde allmählich von der Dunkelheit verschluckt… *** Ich hatte die Namen der drei Frauen auf einen Zettel geschrieben, las sie murmelnd vor, wartete auf eine Eingebung und hörte, wie sich Suko räusperte. Er saß mir gegenüber im Büro. Ich blickte hoch. Zwei skeptische Augen schauten mich an. »Und du bist dir noch immer sicher, nicht geträumt zu haben?« »Rede keinen Blech!« »Warum bist du so empfindlich?« »So etwas träumt man nicht. Außerdem hast du es nicht so gemeint, wie du es gefragt hast. Du weißt schon, was mir widerfahren ist. Ich habe Nadine Berger getroffen, ich habe auch von ihr die entsprechenden Informationen erhalten. Von ihr weiß ich die drei Namen der Frauen, die einmal zu den Geliebten derjenigen gehörten, die sich Ritter der Tafelrunde nannten.« Mein Freund und Kollege schüttelte den Kopf. »Nicht ganz, John, das kannst du nicht behaupten.« »Warum nicht?« »Die schienen es wohl nicht geschafft zu haben. Sie wollten in den erlauchten Kreis eindringen. Ich erinnere dich an Avalons Geistergräber. Daß sie die Ritter mit ihren Reizen nicht umgarnen konnte, hat sie natürlich sauer gemacht und geärgert. Zudem gerieten sie in den Dunstkreis des Zauberers Merlin. Er hat den Fluch über sie gesprochen, er hat dafür gesorgt, daß sie verschwanden und auch verschollen blieben. Stimmt alles so, wie ich es dir bisher dargelegt habe?«
»Keinen Einspruch.« »Jetzt brauchen wir nur drei Frauen finden.« »Wie schön. Wenn es mehr nicht ist.« Ich schaute wieder auf den Zettel, ohne daß mir allerdings die berühmte Erleuchtung gekommen wäre. Es waren für mich fremde Namen. Sollte es dazu kommen, daß mir diese drei Frauen einmal gegenüberstanden, würden auch sie für mich fremd sein. Das war alles sehr kompliziert. Ich wußte jetzt schon, daß wir Schwierigkeiten bekommen würden, sie zu finden, auch wenn ich die Kollegen eingeschaltet hatte. Von einem Mega-Computer möchte ich nicht sprechen, aber wir hatten tatsächlich beim Yard einen Höchststand an Informationen. Bedingt dadurch, daß dieser Computer mit zahlreichen anderen innerhalb des Königsreichs vernetzt war. Informationen zahlreicher Ereignisse wurden von den einzelnen Dienststellen weitergeleitet. Natürlich war nicht jeder kleiner Polizeiposten mit einem Computer ausgestattet worden, da haperte es besonders auf dem Land, in den größeren Orten allerdings war für eine entsprechende Ausrüstung gesorgt worden, und die hatte sich schon mehr als bezahlt gemacht. Leider wußten wir zuwenig. Wir kannten die Frauen nur vom Namen her. Wie sahen sie aus? Würden sie in dieser Welt hier auffallen? Hatten sie sich zu damals, als der Fluch ausgesprochen war, verändert oder nicht? Das waren naturlich Fragen, auf die wir keine Antworten wußten, und so waren gewisse Dienststellen angewiesen worden, Ereignisse aufzunehmen und zu melden, die außergewöhnlich waren. Dies schloß natürlich Verbrechen mit ein. »Der Fehler liegt an Nadine Berger«, resümierte Suko. »Diese Person trägt ein gerüttelt Maß an Schuld.« »Ach ja…?« Er nickte mir entgegen. »Sie hätte dir mehr Informationen geben können. So hat sie dich nur neugierig und heiß gemacht und sich dann diskret zurückgezogen. Du kannst zu ihr stehen, wie du willst, John, ich finde es nicht gut.« Ich nahm Nadine trotzdem in Schutz. »Vielleicht hat sie es nicht anders gekonnt. Wir können doch nicht davon ausgehen, daß sie über alles Bescheid wußte.« »Warum nicht?« »Mit Verlaub, mein Lieber, so lange hält sich Nadine in Avalon nicht auf.« »Man hat sie akzeptiert. Demnach will man ihr auch etwas mitteilen, denke ich.« »Zuwenig.« Die Tür zum Büro wurde aufgestoßen. Glenda kam. Sie hatte frischen Kaffee gekocht und balancierte das Tablett auf einer Hand. »So, meine
Lieben, ich denke mal, daß ihr eine kleine Anregung gut gebrauchen könnt.« Sie stellte das Tablett ab. »Habt ihr schon eine Spur gefunden?« »Leider nicht.« »Du auch nicht, Suko?« »Warum fragst du mich? John ist doch derjenige, der heiß gemacht wurde.« Wir hatten Glenda eingeweiht. Wahrscheinlich war es ihr im Vorzimmer zu langweilig, deshalb holte sie sich den Besucherstuhl heran und setzte sich zu uns. Ich hatte mittlerweile die Tassen gefüllt. Nachdenklich schauten wir auf die braune Brühe, dann aus dem Fenster. Der Himmel klarte sich allmählich auf. Die Wolken hatten sich verzogen, es war windiger geworden. Jetzt sollte allen Menschen optisch klargemacht werden, daß sich der Sommer nicht verdrängen ließ. Das sah ich auch Glendas Kleidung an. Sie trug ein locker fallendes Kleid, dessen Stoff mit einem Muster aus Frühlingsblumen bedruckt war. Das Kleid hatte eine fast bis zum Saum reichende Knopfleiste. Auch die einfachen weißen Schuhe paßten dazu. »Ist was, John?« »Warum?« »Weil du mich so angesehen hast.« Ich griente. »Irgendwie kommst du mir vor wie eine wandelnde Wiese. Aber nett, wirklich. Das steht dir.« »Danke.« »Wollen wir nicht lieber zur Sache kommen?« erkundigte sich Suko. Er ärgerte sich. Schon den halben Morgen über war er ziemlich muffig gewesen und hatte mich mit seinen bissigen Kommentaren traktiert. Wahrscheinlich war er sauer darüber, von mir nicht mitgenommen worden zu sein. »Zu welcher Sache denn?« fragte Glenda. »Es geht um drei Frauen.« »Wie heißen sie noch mal?« »Frag John.« Ich las ihr die Namen vor. »Yodana, Damara, Rogetta. So, und jetzt bin ich gespannt, ob du damit etwas anfangen kannst.« »Nein, kann ich nicht.« »Danke.« »Wofür?« »Daß du ebenso schlau bist wie wir.« »Macht nichts. Habt ihr euer Lexikon auf zwei Beinen schon gefragt? Sarah Goldwyn?« »Nein.« »Würde ich aber.« »Wir vertrauen diesmal mehr auf die Fahndungsmethoden. Sie sind bestimmt sicherer.«
»Wenn du meinst. Aber Sarah kennt sich ja aus, was Legende angeht. Man sollte sie zumindest in Betracht ziehen. Soviel ich weiß, hat Nadine Berger von drei Frauen gesprochen. Drei Frauen, die erscheinen werden, weil Merlins Fluch nicht gewirkt hat.« »Du hast es erfaßt«, sagte ich. »Was wollen diese drei Frauen?« »Ihre Geliebten suchen, die es nicht mehr gibt. Wenigstens nicht so, wie sie es sich vorstellen.« »Und wo werden sie das tun?« Ich zeigte mit dem Finger auf sie. »Genau das ist unser Problem, meine liebe Glenda.« »Nimm deinen Finger weg. Ich weiß Bescheid. Ist doch einfach. Ihr müßt nur den Ort finden, wo das geschieht. Sie werden sich bestimmt treffen und gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll. Oder liege ich mit meiner Vermutung da so verkehrt?« »Sicherlich nicht.« »Dann braucht ihr den Ort oder Platz nur zu finden. Das ist alles. Einfach – oder?« »Klar.« Ich nickte. »Könntest du uns trotzdem sagen, wo wir sie finden werden?« Glenda Perkins schüttelte den Kopf. Dabei lächelte sie. »Bin ich Polizist, oder seid ihr es?« »Du kannst ja wechseln«, schlug Suko vor. »Wie nett. Und wer kocht euch dann den Kaffee?« »Ist ein Argument, um auf der anderen Seite zu bleiben.« Wir tranken unseren Kaffee und taten so, als würden wir nachdenken. Tatsächlich aber drehten wir uns gedanklich im Kreis. Wir wußten einfach zu wenig über die drei Frauen aus der tiefen Vergangenheit. Waren sie Hexen gewesen, hatten sie über andere magische Kräfte verfügt? Hatten sie den Druiden nahegestanden? Hatten sie überhaupt etwas von Avalon gewußt? Jedenfalls mußten sie etwas getan haben, daß den Zauberer Merlin dazu veranlaßt hatte, sie zu verfluchen. Sie mußten sich also ziemlich unbeliebt gemacht haben. Drei Ritter hatten schwach werden sollen. Möglicherweise waren sie schwach geworden, und ihr Anführer, König Artus, hatte sich an Merlin gewandt, denn seine Mitstreiter brauchte er schließlich. »Ich gehe nach wie vor davon aus, daß diese drei Frauen ein gemeinsames Ziel haben«, erklärte Glenda. »Mein Gott, ihr sitzt hier herum wie trübe Tassen.« Sie schlug auf den Tisch. »Dann überlegt doch, welches Ziel das sein könnte.« »Ich habe drei Ziele«, sagte Suko. »Welche?« »Frühstück, Lunch und Dinner.«
»Ha, ha, ja – das ist lustig.« Glenda verzog das Gesicht, als würde sie auf einer Zitrone kauen. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Während Glenda Perkins an diesem Tag voller Aktivitäten steckte, sah es bei Suko und mir anders aus. Uns beide hatte eine gewisse >Wirdschon-irgendwie-klappen-Stimmung< erfaßt. Wir schäumten vor Aktivität leider nicht über. »Ihr könnt euch doch nicht nur auf die Kollegen in der Fahndung verlassen.« »Das haben wir auch bemerkt«, erwiderte ich sarkastisch. »Dann tut was.« Ich sah sie an. Glenda saß wie eine steife Figur auf dem Stuhl, die jeden Augenblick in die Höhe schnellen konnte. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, ihre Augen blitzten, und sie fragte uns beide, was das gemeinsame Ziel sein könnte. »Das steht doch fest, Glenda«, stöhnte Suko. »Diese drei Frauen sind gekommen, um ihre Geliebten zu suchen.« »Soll das alles sein?« »Was gibt es denn sonst noch?« »Nun ja, das ist ein Ziel. Wäre es nicht möglich, daß da mehrere zusammenkommen?« »Welche, bitte?« »Es ist doch durchaus drin, daß sich die drei zusammentun. Sie brauchen ja nicht nur an einer Stelle wieder zurückgekehrt sein. Vielleicht sind sie an verschiedenen aufgetaucht und haben sich dann vorgenommen, sich zu treffen.« »An einem bestimmten Punkt?« »Ja, Suko, genau.« »Wo wäre das?« fragte ich. »Darüber muß nachgedacht werden.« Ich winkte mit beiden Händen ab. »Nachgedacht werden ist gut gesagt. Da gibt es unzählige.« »Irrtum, Geisterjäger. Das glaube ich nicht. Nein, nein, ich bin fest davon überzeugt, daß diese drei Personen genau wissen, wo es langgeht. Sie waren verflucht, was aber nicht bedeutet, daß man sie dumm gemacht hat.« Ich wurde etwas wacher. »Sag uns mal, worauf du hinauswillst, liebe Glenda.« »Keine Sorge, ich bin schon dabei. Sie suchen ihre Geliebten. Davon gehen wir aus.« »Erfaßt.« »Laß deinen Spott, John, ich komme noch zum Punkt. Diese drei Männer haben sie irrsinnig geliebt. Es gab keine Möglichkeit, an sie heranzukommen, man hat sie verflucht, und es gibt sie wohl heute noch, sonst hätte Nadine nicht von einer Rückkehr gesprochen.« Glenda
mußte Luft holen, bevor sie weitersprach. »Ich bin von euch zwar nicht in alles eingeweiht worden, aber ich weiß, daß die ehemaligen Geliebten dieser drei Frauen noch existieren.« »Die Ritter der Tafelrunde?« hakte ich noch einmal nach. »Genau die. Denke an Avalons Geistergräber.« »Stimmt.« Glenda lächelte. »Jetzt ist es nur mehr ein kleiner Sprung, um den trennenden Graben zu überqueren. Avalons Geistergräber. Dort können Sie die Ritter finden. Wahrscheinlich ist ihnen das auch bekannt. Sie müssen nur noch einen Weg finden, um nach Avalon zu gelangen. Dann ist das Problem gelöst.« Ich schluckte, Suko schluckte ebenfalls, und Glendas Blicke wechselten zwischen uns hin und her. »Was sagst du, John?« »Die Theorie ist nicht schlecht.« Suko nickte. »Meine ich auch.« »Soll ich weitersprechen?« Ich lächelte Glenda zu. »Wenn es dir nichts ausmacht, wir hören dir gern zu.« »Weiß ich. Jeder Mann ist froh, wenn ihm Arbeit abgenommen wird. Im Prinzip seid ihr ja faul. Ich habe heute meinen sozialen Tag und werde euch deshalb unterstützen. Nehmen wir an, meine Theorie stimmt. Jetzt suchen unsere drei Frauen nach der Möglichkeit, auf die geheimnisvolle Insel zu gelangen. Alles klar?« »Ja«, murmelte ich, »das ist klar, das ist sogar wunderbar.« In meinem Kopf regten sich gewisse Gedanken, die sich allmählich zu einem Block zusammenformten, wobei der Nebel, der ihn noch verhüllte, allmählich wich. Glenda war in ihrem Element. Sie hatte einen roten Kopf bekommen und saß da wie auf heißen Kohlen. »Darf ich weitersprechen?« »Wir warten darauf.« »Es ist doch nichts leichter als das. Sie müssen nur den Weg nach Avalon finden.« Sie fixierte mich. »Muß ich dich noch fragen, John, wie man das bewerkstelligt?« »Im Prinzip nicht, aber es ist nicht so einfach.« »Für dich vielleicht, aber für die drei…« »Was meinst du?« fragte Suko. Glenda drehte sich in seine Richtung. »Da gibt es nur eine Antwort. Glastonbury.« Wir schwiegen. Suko war erstaunt, während ich still in mich hineinlächelte. Ich hatte diese Antwort erwartet, und ich hätte sie auch selbst geben können, doch ich wollte Glenda nicht die Schau stehlen. Sie hatte nachgedacht und sich sehr viel Mühe gegeben. Im Gegensatz zu ihr waren wir betriebsblind gewesen, denn Glastonbury hätte uns
auch einfallen können. Allerdings gab ich mir eine Entschuldigung. Ich wußte nicht, ob sie tatsächlich über diesen alten Ort nicht weit von Stonehenge gelegen, informiert waren. Es konnte auch andere Möglichkeiten in Frage kommen. Daß sie woanders suchten. Möglicherweise an Orten, die ihnen mehr gelegen kamen, an denen sich die Ritter damals aufgehalten hatten. Aber es war schon toll, wie Glenda nachgedacht hatte. Sie trank ihre Tasse leer. »Das macht nur der Kaffee«, kommentierte sie. »Er hat meine kleinen, grauen Zellen angeregt. Da konnte ich einfach nicht anders denken.« Ich nickte ihr zu. »Dann werdet ihr die Möglichkeit in Betracht ziehen?« »Nicht nur das«, sagte ich, »wir müssen hinfahren und werden uns dort mal wieder umschauen.« »Wann?« »Heute.« »Finde ich gut.« Eine Schweigepause entstand, die durch Suko unterbrochen wurde. »Wir sollten auf jeden Fall Glenda mit einbeziehen.« »Mach einen Vorschlag.« »Sie kann hier die Stellung halten und praktisch die Verbindungsfrau zwischen uns spielen.« »Aha, der Notnagel.« »Nein, wirst echt gebraucht. Sollte sich nämlich herausstellen, daß wir uns geirrt haben, mußt du uns Bescheid geben. Nicht mehr und nicht weniger.« »Glaubt ihr denn noch an eine andere Möglichkeit?« »Ja.« »An welche?« »Wenn die Kollegen von der Fahndung etwas anderes herausfinden sollten…« Ich winkte ab und unterbrach ihn. »Wenn, mein Lieber, wird das dauern, denke ich. So schnell schießen die auch nicht. Du darfst nicht vergessen, daß wir sie mit verdammt wenig Informationen gefüttert haben. Das gleicht einem Griff ins Leere, um zu versuchen, noch ein paar Luftmoleküle zu schnappen. Ich denke, daß wir in Glastonbury unsere größten Chancen haben.« Suko war einverstanden. Er sah aus, als würde er sehr intensiv überlegen, was er auch zugab. »Stell dir vor, John, es klappt nicht. Sie wird nicht nach Avalon hineingelassen. Du weißt doch, daß sie durch das Glastonbury-Tor gehen muß. Nicht jeder kommt dort hindurch, wie wir beide wissen.« »Um so besser, dann haben wir sie in dieser Welt und auch in unserer Zeit.«
Er hob die Schultern. »Okay, ich habe nichts dagegen einzuwenden. Macht, was ihr für richtig haltet.« »Das werde ich auch.« Nach dieser Antwort griff ich zum Hörer und wählte die Nummer der Fahndung. Diesmal jubelte keiner, die Stimme des Chefs dort unten klang belegt, als ich ihm die erste Frage gestellt hatte. »Nein, wir haben noch nichts.« »Genauer.« »Kann ich Ihnen sagen, Mister Sinclair. Die Spuren, falls es sie überhaupt gibt, sind im Sand verlaufen oder fortgeweht worden. Wir haben uns zwar bemüht, sind jedoch um keinen Schritt vorangekommen. Leider kann ich Ihnen nichts anderes mitteilen.« »Das hatte ich mir gedacht.« »Was werden Sie tun?« »Nun ja, wir haben nachgedacht und machen uns selbst auf die Suche. Es ist möglich, daß wir einen Erfolg erringen. Dennoch sollten Sie, wenn es geht, weiterforschen. Sie können sich dann an Miss Glenda Perkins wenden. Sie hält hier oben die Stellung, solange wir außer Haus sind. Akzeptieren Sie das?« »Immer doch.« »Gut, dann drücken wir uns die Daumen.« Das war erledigt, und ich konnte mich wieder anderen Problemen zuwenden. Suko steckte bereits voller Tatendrang. Er hatte seinen Platz verlassen, und die Jacke und Mantel geholt. »Ist der Tank voll?« fragte er noch. »Sollen wir nicht lieber mit deinem BMW fahren?« Mein Freund verdrehte die Augen. »Ja, ist okay. Ich weiß ja, daß du immer gern mit einem echten Auto fahren willst.« »Danke für deine Gnade.« Wir verabschiedeten uns von Glenda, die noch versprach, unseren Chef, Sir James Powell, einzuweihen. Das Büro war mir plötzlich zu eng geworden. Ich wollte raus, ich sah wieder Land, wenn auch nur einen schwachen Streifen am Horizont. Jedenfalls war es besser, wenn wir losfuhren, als innerhalb dieser vier Wände trübe Gedanken zu wälzen, bei denen kein Ergebnis herauskam. Es war noch Zeit genug. Erst Mittag. Auch wenn wir zu fahren hatten, diese Strecke würden wir bis zum Einbruch der Dunkelheit längst geschafft haben. Und Newcomer waren wir auch nicht, denn in Glastonbury hatte ich schon manch unheimliches und auch unerklärliches Erlebnis gehabt… ***
Sie waren zu dritt, und sie nannten sich Geschöpfe der Nacht. Zwei junge Männer und eine junge Frau, beinahe noch ein Mädchen mit ihren neunzehn Jahren. Sie liebten nicht nur die Dunkelheit, sie liebten auch besondere Orte, wo das Unheimliche lauerte. Sie trugen nur Schwarz, aber sie nannten sich nicht Grufties. Im Gegensatz zu diesen lehnten sie Friedhöfe ab. Die Geschöpfe der Nacht fuhren nur bestimmte Ziele an, über die sie sich zuvor sehr genau informiert hatten. Es gab genügend Bücher über unheimliche Orte und Plätze, die über das ganze Land verteilt waren. Autoren hatten von Geistererscheinungen geschrieben, über Spukhäuser berichtet, über alte Ruinen, verfluchte Orte, Burgen, Schlösser, in denen Geister wohnten und umherspukten, weil sie verflucht worden waren und ihre Seelen keine Ruhe fanden. Genau diese Orte liebten sie, und es machte ihnen besonderen Spaß, die Nächte dort zu verbringen. So waren sie auf der Insel schon viel herumgekommen. Sie gingen chronologisch vor, und sie hatten auch einige Erscheinungen gehabt – oder war es Einbildung gewesen? Genau konnten sie das nicht sagen, aber jeder von ihnen hatte den Kick gespürt, diesen Adrenalinstoß, der plötzlich auftrat und so schnell nicht verschwand. Je öfter sie losfuhren, umso stärker entwickelte sich das Gefühl der Spannung und der Erwartung in ihnen. Schon bei der Vorbereitung ihrer Reisen fieberten sie dem Ziel entgegen. Sie hießen Iris Slater, Corky Finnegan und Randy Wonder. Zu Beginn ihrer Touren, vor knapp zwei Jahren, waren sie noch mit Motorrädern unterwegs gewesen. Das hatte sich geändert. Sie waren auf ihren Feuerstühlen zu sehr aufgefallen, und das wollten sie auf keinen Fall, denn manche Orte waren nicht so einsam, wie sie sich das vorgestellt hatten. Da war zweimal sogar die Polizei erschienen, weil einigen Einheimischen die Motorräder verdächtig vorgekommen waren. Iris war an der Reihe gewesen, um das neue Ziel auszusuchen. Darin wechselten sie sich gegenseitig ab, und das Mädchen hatte dasselbe Mitbestimmungsrecht wie die beiden jungen Männer. Iris und Randy waren ein Paar, Corky machte das nichts aus. Er und Randy kannten sich aus der Schulzeit und hatten so manche Geschichte gemeinsam zurechtgesponnen. Iris hatte also den neuen Ort festgelegt und war begeistert gewesen. »Das ist es, da werden wir es erleben. Dieses Wanforth House steht schon seit langer Zeit leer. Man sagt ihm unheimliche Kräfte nach.« »Welcher Art?« wollte Randy wissen. Das Mädchen hob die Schultern. Es war blond, ziemlich klein, aber ungemein agil. In ihrem Gesicht wollte sich nie eine Sommerbräune festsetzen, dafür zahlreiche Sommersprossen. »Na ja, mehr legendenhaft, wenn ihr versteht.«
Die Jungen schüttelten die Köpfe. Iris stöhnte auf. »Genau kann ich das auch nicht sagen, aber es soll eine Verbindung bis hinein in die Zeit von König Artus und den Rittern der Tafelrunde gegeben haben. Angeblich hat dort mal eine sehr reiche Frau gelebt, eine Adelige, aber das ist nicht bewiesen.« Corky, der Spindeldürre, kratzte sich am Ohr. »Was hat die Frau denn getan?« »Keine Ahnung.« »Dann ist es uninteressant.« »Nein, eben nicht.« Iris wiedersprach heftig. »Sie ist plötzlich verschwunden. Und genau da beginnen die Legenden. Es heißt nämlich, daß sie verflucht wurde.« »Von wem?« fragte Randy. »Keine Ahnung. Jedenfalls las ich, daß dieses alte Haus noch von ihrem Geist erfüllt sein soll.« Sie beschlossen, dem Vorschlag zuzustimmen und machten auch die Abfahrtszeit aus. Mit ihrem alten Ford kamen sie nicht so schnell voran. Sie mußten froh sein, wenn er nicht zusammenbrach und das Gepäck noch faßte, das sie auf jeder Reise mitnahmen. Sie erreichten ihr Ziel am Abend. Die Dämmerung hatte das Tageslicht noch nicht vertrieben, aber die Ruhe der sogenannten blauen Stunde lag über dem alten Gemäuer, das sich in der klaren Luft deutlich abhob. Sie hatten den Wagen verlassen, standen nebeneinander und schauten auf die Ruine. »Was sagt ihr?« fragte Iris nach einer Weile. Corky schwieg. Er hob nur die Schultern. Ein Zeichen, daß er mit dem neuen Ziel nicht zurechtkam. Iris blickte nach rechts und hoch zu ihrem Freund. Der blonde Randy stand unbeweglich. Mit seinem langen Haar, daß er diesmal nicht im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden hatte, wirkte er fast wie ein Engel, der zum Karneval schwarze Kleidung angezogen hatte. »Das ist alles so eine Sache, es könnte ja sein.« »Was könnte sein?« »Daß der Geist hier noch herumirrt.« »Dann finden wir ihn auch!« erklärte Iris. Sie steckte voller Optimismus. »Soll ich schon anfangen und auspacken?« »Wir helfen dir, Corky.« Im Kofferraum lag alles, was sie brauchten. Nicht nur Schlafsäcke und Proviant, auch technisches Gerät: ein Recorder, eine Videokamera, die auf Batterie lief, verschiedene Mikrofone, denn es konnte immerhin sein, daß sich ein Geist akustisch wie auch optisch meldete, und dann wollten sie bereit sein.
In den Nächten blieben sie wach, was sehr oft mehr als mühevoll war, besonders in den ersten Morgenstunden, wo sich die Geister bekanntlich am liebsten zeigten. So weit waren sie noch nicht. Ein Abend und eine Nacht lagen vor ihnen. Gemeinsam luden sie aus. Randy Wonder kümmerte sich um die technischen Geräte. Sie gehörten ihm. Er liebte diesen elektronischen Kram und hütete ihn wie seinen Augapfel. Iris ließ sich Zeit. Während die beiden Freunde zwischen den Mauern der Ruine verschwanden, ließ sie ihre Blicke über die Mauern von Wanforth House hinweggleiten. Iris spürte den Schauer, und das wunderte sie. Er trat nicht oft auf, das lag nicht daran, daß sie schon Profis waren, aber so intensiv hatte sie ihn seit langem nicht erlebt. Er kam ihr vor wie eine Warnung. Als würde etwas zwischen den Mauern von Wangforth House lauern, das irgendwann freikam und nur darauf gewartet hatte, bestimmte Gäste empfangen zu können. Ihre beiden Freunde waren verschwunden. Allein blieb Iris zurück. Sie wischte ihre Handflächen am Stoff der dunklen Jeanshose trocken. Sie lauschte in die Natur hinein. Es wehte ein leichter Wind, der sie umsäuselte. Er brachte den frischen Sommergeruch mit, doch auch er konnte sie nicht über gewisse Ahnungen hinwegtrösten, die sie beim Anblick der Ruine überkommen hatte. Über ihr lag ein hoher Himmel, der allmählich zuwuchs. Die Düsternis schob sich heran. Sie griff mit ihren langen Armen zu, und bald würde der Himmel fraglos das gleiche Bild bieten wie die Mauern von Wanforth House. Das Gepäck stand neben ihr. Iris bückte sich und nahm mit der rechten Hand die Tasche hoch, mit der linken den Schlafsack. Sie schritt auf die Ruine zu. Mit jedem Yard, den sie näher an sie herankam, wuchs ihre Besorgnis. Sie hatte einfach das Gefühl, als wären die Mauern dabei, sie zu erdrücken. Am liebsten wäre sie zurückgegangen, als sich diesem unheimlichen Platz weiter zu nähern. In ihrem Mund spürte sie eine Trockenheit, als wäre aller Speichel verschwunden. In der Kehle kratzte es. Wenn sie Atem holte, mußte sie hüsteln. Die Luft erschien ihr drückend und zum Atmen nicht mehr geeignet zu sein. Corky und Randy verhielten sich ruhig. Iris kannte das Spiel. Beide Freunde würden den Lagerplatz vorbereiten. Dabei brauchten sie nicht viel zu sagen. Sie betrat das Innere der Ruine durch eine Lücke und stellte fest, daß Teile des Dachs noch vorhanden waren. Sollte es regnen, würde es ihnen Schutz bieten.
Ansonsten waren die Zwischenwände eingebrochen oder standen nur als Fragmente. Corky grinste ihr zu. Er hatte bereits seinen Schlafplatz vorbereitet. Der Schlafsack war offen, die Dosen mit dem Proviant standen neben den Flaschen, denn trinken mußten sie auch. Eine Flasche Whisky war immer dabei, ansonsten hielten sie sich an Wasser. »Du siehst nicht gut aus«, stellte er fest. Sie nickte und ließ ihr Gepäck fallen. »Stimmt haargenau, Corky, ich fühle mich auch nicht besonders.« »Ehrlich?« »Ja. Warum fragst du nach?« Er hob unbehaglich die Schultern. »Mir ergeht es ebenso. Ist schon komisch. Am liebsten möchte ich wieder verschwinden. Aber sag Randy nichts davon«, flüsterte er und kam auf sie zu. »Er findet es nämlich irre toll hier.« »Warum?« »Keine Ahnung. Er ist der Meinung, daß hier einiges passieren wird.« »Wo steckt er denn?« »Er sucht die Räume ab.« Iris lachte. »Räume ist gut.« »Na ja, die Stellen eben, wo er seinen elektronischen Kram am besten aufbauen kann.« »Das ist was anderes.« Randy kehrte zurück. Er rieb seine Hände, und er lachte dabei. »Das ist super, Freunde, hier sind wir genau richtig. Gratuliere, daß du den Ort gefunden hast, Iris.« Sie lächelte nicht einmal, als sie das Kompliment hörte, denn die Begeisterung konnte sie nicht teilen. Randy merkte es nicht. Er schnappte seine beiden Alukoffer und verschwand damit. An bestimmten Stellen baute er die elektronischen Lauschapparate auf, immer an solchen, die einen guten Überblick zuließen und wo der Winkel besonders günstig war. Iris rollte ihren Schlafsack aus. Corky blieb neben ihr stehen. Während der Arbeit fragte sie: »Was haben wir denn zu essen?« »Ich habe kalten Braten besorgt.« »Das ist gut.« Randy montierte noch immer an seinen Geräten herum, sprach des öfteren mit sich selbst und kümmerte sich ansonsten nicht um seine beiden Freunde. Iris schaute zum Himmel hoch, das war kein Problem, denn wo sie ihre Schlafstelle eingerichtet hatte, existierte kein Dach. Die Luft war innerhalb dieser Ruine belastet. Sie roch nach Staub und Moder. Randy kehrte zurück. Er nahm seine Freundin in die Arme. »Toll, Iris, du bist super. Das ist genau der Ort!«
Sie schob den wesentlich größeren jungen Mann von sich. »Wieso ist das der richtige Ort?« »Hier sitzt es, ich spür’ es.« »Was spürst du?« Randy schaute sich um, drehte sich dabei auf der Stelle, und sein Mund blieb dabei offen. »Ich weiß es nicht genau, wirklich nicht. Aber es kann etwas hier sein, das uns eine irre Überrschung bereitet. Glaubt mir.« »Ein Geist?« fragte Corky. »Möglich.« Er zeigte seine Hände. »Ich spüre es in den Fingerspitzen. Das sind die Vibrationen. Das alles weist darauf hin, daß wir diesmal das Erlebnis haben.« »Meinst du?« »Immer.« »Iris und ich fühlen uns nicht wohl.« Randy drehte sich um. »Stimmt das?« Iris nickte. »Warum denn? Das ist doch hier toll. Wir wollen etwas erleben, deshalb haben wir uns auch zusammengefunden.« »Schon, Randy, aber ich habe Angst. Es ist wie ein Druck«, sprach sie schnell weiter. »Wie eine große Felsplatte, die sich bildete, als ich die Ruine sah. Jetzt liegt sie auf meinem Kopf und auf dem Körper. Sie drückt sogar gegen meine Seele.« Das wollte ihr Randy nicht abnehmen. »Sag mal ehrlich, bildest du dir das nicht ein?« »Nein, wie kommst du darauf?« »Ich meine nur.« »Hör zu, Randy.« Sie ging einen Schritt auf ihren Freund zu. »Es ist alles anders, das kann ich dir versprechen. Es ist nicht mehr so wie sonst, das mußt du begreifen. Wir haben eine Veränderung, die ich fühlen kann. Sie schwebt über meinem Körper, sie dringt durch meine Haut in das Innere ein, und sie ist dabei, mich fertigzumachen. Kannst du das denn nicht begreifen?« Randy Wonder schüttelte den Kopf. »Dann frag Corky.« Der brauchte nicht erst gefragt werden, denn er nickte heftig. »Ja, sie hat recht, sie hat wirklich recht. Du glaubst nicht, wie sehr mich das ärgert…« »Wieso ärgert?« »Hast recht, ängstigt.« Randy wurde wütend. »Scheiße«, sagte er und kickte einen Stein weg, der mit einem hellen ping gegen die Mauer prallte. »Wir haben bisher alles gemeinsam durchgezogen. Das hier hörte sich an, als wolltet ihr verschwinden.« »Am liebsten schon«, murmelte Iris.
Er fuhr wieder herum. »Dann hau doch ab, verdammt! Laß mich hier. Pack dir Corky, setzt euch in den Wagen, fahrt eine Meile weg und holt mich am anderen Morgen wieder. Ist das ein Vorschlag?« Iris und Corky schauten sich an. Der junge Mann hob unbehaglich die Schultern, denn er steckte voller Zweifel und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Iris aber ging den leichteren Weg. Sie wußte, daß sie den Bogen überspannt hatte. Außerdem war Randy ihr Freund, und ihn wollte sie nicht allein lassen. Sie hatten einiges zusammen erlebt, das schweißte zusammen, deshalb kam sie auch mit einem Friedensangebot. »Es ist schon gut, Randy, ich wollte dir nur unsere Gefühle darlegen.« »Für Corky brauchst du nicht zu sprechen.« »Aber für mich.« »Gut, das hast du jetzt. Noch mal meine Frage. Willst du bleiben oder nicht?« »Ich bleibe.« »Und du, Corky?« Er fühlte sich in der Klemme. Corky rieb zuerst seine Hände, anschließend den Nasenrücken. »Ich glaube, daß ich mich lieber zurückziehe.« »Dann mach es jetzt, bevor du hier störst.« Randy Wonder griff in die Tasche und warf ihm den Autoschlüssel zu. »Setz dich in die Karre und verschwinde.« »Bist du nicht sauer?« »Nur wenn du bleibst!« knirschte Randy. Corky schaute unschlüssig auf den Schlüssel. »Also gut, dann… dann gehe ich jetzt.« »Ja, bis morgen dann.« Corky zog sich zurück. Er schlich davon wie ein geprügelter Hund. Den Kopf hatte er eingezogen und starrte zu Boden. Sehr bald war er nicht mehr zu sehen. Die Zurückgebliebenen hörten das Orgeln des Anlassers, kurze Zeit später war auch das Motorengeräusch verklungen, und Stille breitete sich aus. Randy atmete tief durch. »So, wir sind allein, endlich allein, möchte ich sagen.« »Und weiter?« »Nichts weiter, meine Liebe. Wir werden alles so machen, wie wir es uns vorgenommen haben.« Sie nickte. Wenig später spürte Iris den Druck seiner Hand auf ihrer Schulter. »Du hast noch immer Angst, nicht wahr?« »Ja, stimmt.« »Sollte hier wirklich etwas sein, werden wir es schon packen. Wir bekommen es, wir nehmen seine Geräusche auf, wir fotografieren das
Wesen, und dann werden wir der staunenden Welt den Beweis aus dem Geisterreich präsentieren.« »Meinst du?« »Und ob.« »Ich bin mir nicht sicher, ob ein Geist oder wer immer hier auch hausen mag, das mit sich machen läßt. Ich glaube noch immer daran, daß die Bewohner einer anderen Welt stärker sind als wir. Daran wird sich überhaupt nichts ändern. Wir können nur hoffen, daß das Wesen, das hier lebt, Menschen gegenüber positiv eingestimmt ist.« Randy war erstaunt. »Du redest so, als wärst du dir hundertprozentig sicher.« Iris Slater hob nur die Schultern… *** Etwas mehr als zwei Stunden waren vergangen. Die Natur hatte sich verändert, als wäre ein Film dabei, langsam vor den Augen der beiden Menschen entlangzuziehen. Sie lagen in ihren Schlafsäcken und schauten mit weit geöffneten Augen zum Himmel. Iris kam es so vor, als würden dort ständig neue Klappen geöffnet, die immer wieder einen Funken Licht hindurchließen, denn so und nicht anders nahm sie den Eindruck der hervorlugenden Gestirne wahr. Es war nicht die ideale Geisternacht, denn der Vollmond fehlte. Aber der blasse Klumpen am Himmel reichte ebenfalls aus, um sein bleiches Licht auf die Erde zu schicken und sie Mauern der Ruine leicht anzumalen. Sie lagen da und warteten. Worauf eigentlich, fragten sie sich. Keiner von ihnen konnte eine Antwort geben. Eines jedenfalls stand fest. Schlaf würden sie nicht finden, dazu waren beide innerlich zu aufgeregt. Außerdem lauerten sie mit angespannten Nerven darauf, daß etwas passierte. Randy war ab und zu aus seinem Schlafsack gekrochen, um die Geräte zu kontrollieren. Bei jeder Rückkehr machte er einen zufriedenen Eindruck. Iris Slater kümmerte sich nicht um diese Probleme. Sie lag auf dem Rücken und hing ihren Gedanken nach, die im Laufe der Zeit an Düsternis und Bedrückung zugenommen hatten. Iris hatte natürlich nachgedacht, was auf sie zukommen könnte, doch eine Antwort hatte sie nicht gefunden. Es gab keine Anhaltspunkte, und in den alten Berichten hatte sie zu wenig gelesen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, schien es so zu sein, daß die Legenden nicht vollständig gewesen waren, als hätte der Schreiber Furcht vor gewissen Folgerungen gehabt.
Randy war wieder einmal unterwegs. Sie hörte ihn zwar, doch sie fühlte sich allein, wo er nicht neben ihr lag. Wenn sie hingriff, spürte sie nur den Stoff des Schlafsacks. Er quoll irgendwie kalt in die Lücken zwischen ihren Fingern, als hätte sie bereits einen Geist angefaßt, und ihr schauderte. Geister… Oft genug hatten sie darauf gewartet und keine entdeckt. Jetzt, wo eine derartige Entdeckung möglicherweise bevorstand, fürchtete sie sich plötzlich davor, daß alles nicht so laufen würde, wie sie es sich gedacht hatte. Es machte einfach keinen Spaß, sich mit Geistern abzugeben. Sie waren zu gefährlich, sie lebten in einer anderen Welt und wollten… Ein Schatten fiel über sie. Iris erschrak, der leise Schrei drang aus ihrem Mund und mischte sich in das Lachen hinein. Randy kniete neben ihr. »So schreckhaft?« fragte er. »Heute schon.« »Aber es ist nichts passiert.« »Das schon. Nur wird noch etwas passieren«, erwiderte sie leise. »Ich glaube fest daran.« Er strich über ihr Gesicht. Das Lächeln zeigte Iris, daß Randy sie nicht ernst nahm. »Du schwitzt ja!« stellte er fest. »Richtig.« »So warm ist es nicht.« »Das macht die Furcht.« Diesmal lächelte er. »Auch wenn ich bei dir bin.« »Ja, auch dann.« »Hast du so wenig Vertrauen zu mir?« Sie schüttelte den Kopf. »Das hat damit nichts zu tun«, erwiderte Iris. »Es ist eben das Unsichtbare, die Gefahr, die über uns schwebt. Die andere Seite lauert. Irgendwann wird sie zuschlagen.« Randy schaute auf seine Uhr. »Hast du schon eine Ahnung, wann das passieren wird?« Ruckartig richtete sich Iris auf. »Jetzt nimmst du mich nicht ernst, Randy.« »Wir müssen noch zehn Minuten abwarten, dann beginnt die Geisterstunde. Vielleicht haben wir Glück und entdecken diejenige Person, die hier spuken soll.« »Glück?« höhnte das Mädchen. »Nein, das nenne ich nicht Glück. Spürst du nicht, wie kalt es zwischen diesen alten Mauern geworden ist? Und das ist nicht die Kälte der Nacht, sage ich dir. Es ist etwas anderes, es sind die Vorboten des Unheimlichen. Ich bin längst nicht so optimistisch wie du. Hier wird bestimmt etwas passieren.«
Randy hatte sich zur Seite gedreht und den Arm ausgestreckt. Als er wieder seine Freundin anschaute, hielt er in der linken Hand die Flasche Whisky. »Was willst du denn damit?« Er entkorkte die Flasche. »Das hilft gegen die Kälte. Hier, nimm einen Schluck.« »Nein, ich will nicht.« »Er tut aber gut.« »Bitte, Randy.« »Okay, wenn du nicht willst, dann zittere und friere weiter. Ich will aber keine Beschwerden hören, verstehst du?« »Sicher.« Randy setzte die Mündung der Flasche an seine Lippen und trank einen großen Schluck Whisky. Als er die Flasche absetzte und sie wieder verkorkte, schüttelte er sich. »Puh, das tat gut.« »Ach ja?« »Immer.« Iris sagte. »Übrigens, wir haben Mitternacht.« Randy warf beide Arme hoch. Er ballte die Hände zu Fäusten, streckte sie, die Arme zuckten vor und zurück, als er mit lauter Stimme rief: »Mitternacht – wie wunderbar. Kommt her ihr Geister, laßt euch blicken, laßt euch umarmen. Es ist eine wunderbare Zeit, ich Hebe sie. Mitternacht ist so herrlich…« »Sei ruhig, bitte.« Randy lachte nur, dann sank er zusammen und ließ sich rücklings auf seinen Schlafsack fallen. »Ich denke schon, daß der Geist meinen Willkommensgruß gehört hat. Oder meinst du nicht?« »Eher nicht.« »Ach, du bist einfach zu negativ heute. Du wirst…« Er sprach den Satz nicht mehr zu Ende. Beide hörten plötzlich die zischenden und knackenden Geräusche. Dazwischen ein Platzen, und plötzlich klirrte Glas. Dann wurde es schlagartig still. Randy und Iris lagen auf den Schlafsäcken und wagten nicht, sich zu rühren. Sie ließen auch eine gewisse Zeit verstreichen, bevor einer von ihnen die Sprache wiederfand. Ausgerechnet Iris Slater, die dabei nach Randys Hand tastete. »Kannst du mir erklären, was das zu bedeuten hatte?« Er blieb rücklings liegen und starrte gegen den Himmel. »Ich denke darüber nach.« »Das hatte mit der Ruine nichts zu tun.« »Stimmt.« »Womit dann?«
»Es hörte sich in dieser Umgebung fremd an. Ich denke da an eine gewisse Technik.« »Meinst du deine Geräte?« »Hör ja auf!« zischelte er und richtete sich auf. Er lauschte, doch kein fremder Laut durchbrach die jetzt auch ihm bedrückend vorkommende Stille. »Tu was!« zischelte Iris. »Was denn?« »Sieh wenigstens nach, was geschehen ist.« Der junge Mann nickte. Er bewegte sich auch, nur längst nicht mehr so flott wie sonst. Alles an ihm wirkte wie gezirkelt, er streckte den Arm vorsichtig aus, als er sich mit der linken Hand auf dem staubigen Untergrund abstützte. Dann erhob er sich. »Ich sehe mal nach«, hauchte er Iris zu. Sie schwieg, zog die Beine aus ihrem Schlafsack hervor und wunderte sich darüber, daß auch sie sich so langsam bewegte. Die Spannung zwischen den Ruinen hatte sich bis ins Unermeßliche gesteigert, sie war wie eine Zange, die ihre Backen um die Gestalt der jungen Frau gelegt hatte und sich langsam nach innen bewegte. Im Schneidersitz blieb sie hocken, allerdings so gedreht, daß sie in die Richtung schauen konnte, in die ihr Freund verschwunden war. Er kam nicht zurück. Daß sie seine Tritte hörte, beruhigte Iris keinesfalls. Sie hoffte nur, daß er etwas herausfand und diese ungewöhnlichen Geräusche eine natürlich Erklärung hatten. Daran glauben konnte sie nicht… Wieder verstrich Zeit. Die Angst in ihr wuchs. Warum meldete sich Randy nicht? Er war schon relativ lange fort – oder täuschte sie die Zeit? Er hätte eigentlich etwas entdecken müssen und… Sie hörte das Stöhnen! Diesmal hatte das Geräusch kein Geist abgegeben. Es hatte sich auch nicht technisch angehört, so stöhnte nur jemand, den sie sehr gut kannte, ihr Randy. Iris stand auf. Sie schwankte etwas, das Blut stieg ihr in den Kopf. Die Lippen waren trocken, hastig strich sie mit der Zunge drüber. Das Geräusch wiederholte sich nicht, auch dann nicht, als sie ihren Körper drehte, weil sie genau sehen wollte, wann ihr Freund wieder zurückkam. Er hatte seine Geräte hinter einer Wand aufgebaut und war durch deren Loch in der Mitte verschwunden. »Randy .?« Selten hatte ihre Stimme so gezittert wie in diesem schrecklichen Augenblick. Er gab keine Antwort.
O Gott, das ist… Iris schluckte. Sie preßte eine Hand gegen den Mund, um Schreie zu unterdrücken, und als sie unsicher klingende Tritte hörte, sank die Hand wieder nach unten. Ein Schatten erschien, durchlief das Loch in der Mauer, drehte sich um, und Iris sah einen schreckensbleichen Randy Wonder vor sich stehen. Einen jungen Mann mit aschfahler Haut und weit aufgerissenen Augen, der den Kopf schüttelte, aber nichts mehr sagen konnte, weil er einfach zu sprachlos war. »Was ist denn?« Erließ sich gegen Iris sinken. »Er ist da… er ist da?« »Wer – sag schon!« »Der Geist.« Iris wunderte sich, daß sie nicht losschrie oder auf der Stelle trampelte. Statt dessen schloß sie die Augen, zählte bis zehn, und hoffte, daß diese alte Regel half. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Vielleicht zitterte ihr Freund noch ein wenig stärker, auch konnte er seinen Blick nicht von dem Durchlaß in der Mauer lösen. Dort kam jemand, und Iris war nicht einmal überrascht darüber, weil sie damit gerechnet hatte. Ein Geist? Nein, so sahen keine Geister aus, obwohl diese Gestalt von einem fahlen Schein begleitet wurde. Es war eine Frau, eine schöne und besonders gekleidete Frau, die so vornehm wirkte wie eine Adelige. Und diese Person kam auf die beiden jungen Leute zu, ohne daß ein Laut zu hören war… *** Iris verging nicht vor Angst. Sie wußte, daß ihr eine entscheidende Begegnung bevorstand, und irgendwie hatte sie auch davon gewußt und sie sogar herbeigesehnt. Ein fein geschnittenes Gesicht wurde von dem langen Blondhaar flutartig umwoben. Der tiefe Ausschnitt des Kleides ließ einen Teil ihrer Brüste frei. Sicherlich war das hellrote Kleid mit dem Reifrock schulterlos, das konnte Iris nur ahnen, denn die Frau trug noch ein hellviolettes Cape um die Schultern. Sie hatte die Arme ausgebreitet, als wollte sie die beiden jungen Leute willkommen heißen, und Iris war es, die an Randy eine Frage stellte. »Wer ist sie?« »Ich weiß es nicht.« »Woher kam sie denn?«
Randy verzog das Gesicht. »Sie war pötzlich da, ja, sie stand neben und vor mir. Es war verrückt, ich kriege das nicht mehr zusammen, aber ich habe die Kälte gespürt, trotzdem…« »Ein Geist ist sie nicht.« »Nein, nein…« »Was dann?« Randy umklammerte Iris’ Arm in Höhe des Ellbogens. »Halte mich nicht für verrückt, aber ich habe schon an einen Zombie gedacht, an eine lebende Tote.« »Du bist verrückt!« »Kann sein, kann nicht sein. Ich glaube aber, daß sie so etwas ist, Iris.« »Hat sie denn im Grab gelegen? Betimmt nicht, dann sähe sie anders aus.« Es war müßig, daß sie miteinander sprachen, denn die geheimnisvolle Frau hatte sie gehört. Sie drehte ihnen ihr bleiches Gesicht zu, das so feine mädchenhafte Züge aufwies. Und als sie sprach, hörte es sich an wie das Flüstern des Windes in einem dicht belaubten Gesträuch. »Ich bin Yodana…« Beide schafften es nicht, eine Antwort zu geben. Die Stimme dieser Person hatte sie überrascht, denn mit einer Antwort hätten sie nicht gerechnet. Ihr Wissen über Geister war damit über den Haufen geworfen worden. Denn auf eine solche Weise nahmen die Geschöpfe aus dem Totenreich keinen Kontakt mit den Menschen auf. Sie verfügten über andere Gaben, Telekräfte, die sie einsetzten, um den Kontakt herzustellen. Diese Person mußte etwas anderes sein, das sich trotz allem von den Menschen absetzte. Iris und Randy schauten sich an. Jeder wartete auf eine Erklärung des anderen, doch keiner von ihnen konnte eine Erklärung abgeben. Sie schauderten nur, wobei sie gleichzeitig die Aura spürten, die von dieser außergewöhnlichen Gestalt ausging. Es war einfach anders als sonst, denn die Frau strahlte eine Kälte aus, die tief in ihre Herzen eindrang und sie völlig in ihren Bann zog. Die Furcht drückte, machte sie nervös. Besonders den jungen Mann, der es jetzt bereute, sich auf derartige Experimente mit dem Übersinnlichen eingelassen zu haben. Es war bisher für sie ein schauriger Spaß gewesen, das hatte sich nun radikal geändert. Was sie nun erlebten, entbehrte jeder Erklärung, da hatte tatsächlich eine andere Welt eingegriffen und ihnen einen Besuch abgestattet. Sie warteten ab. Irgend etwas mußte die Frau ja von ihnen wollen. Beide wurden nicht enttäuscht, denn sie wandte sich Randy Wonder zu. Er hätte sich am liebsten verkrochen, als er den klaren Blick ihrer Augen auf sich gerichtet sah. Seine Lippen zuckten. Es sah so aus, als wollte er
etwas sagen, nur blieben ihm die Worte im Hals stecken. Dafür sprach die Unbekannte. »Ich suche meinen Geliebten«, flüsterte sie. »Ich möchte, daß ich ihn wiedersehe, versteht ihr…?« Sie verstanden kaum etwas, denn diese Person redete in einem sehr alten Englisch. Sie schien aus einer Zeit zu stammen, die Hunderte von Jahren zurücklag. »Laß uns gehen!« wisperte Iris. »Schnell weg von hier. Ich spüre, daß es gefährlich wird.« »Wieso denn?« »Bitte verlaß dich auf mich.« Randy schüttelte den Kopf. Er wollte nicht mehr gehen. Seine Angst war davongeflogen wie ein schneller Vogel. Ein anderes Gefühl hielt ihn umklammert. Er konnte es schlecht beschreiben, es war mehr ein überirdischer Zauber, der ihn von Kopf bis Fuß berührte und ihn einfach nicht losließ. Er verstärkte sich noch, als Yodana ihre Lippen zu einem sehr breiten Lächeln verzog. »Ich werde zu ihr gehen…« Iris Slater erschrak, als sie die Worte hörte. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Nein, du bleibst.« »Du kannst mich nicht halten.« Sie umklammerte sein Handgelenk mit hartem Griff. »Nein, bitte, ich kann das nicht zulassen. Sie wird dich vernichten, sie wird dich in das Verderben zerren.« »Sie wird nichts tun!« widersprach er. »Was macht dich so sicher?« Randy wollte seine Arme aus ihrem Griff befreien, Iris aber ließ nicht los. Ihr schmales Gesicht war von Furcht entstellt. Schlimme Vorahnungen durchtosten sie. Die junge Frau dachte daran, daß es bald vorbei sein konnte. Ein Mensch und ein Nichtmensch paßten einfach nicht zusammen. Für Iris war diese Person kein Geist und auch kein Mensch. Sie lag irgendwo dazwischen. Er drehte sich zu ihr herum. »Willst du mich jetzt loslassen?« fauchte er sie an. »Ich darf das doch nicht!« wimmerte sie. »Ich kann dich nicht laufenlassen. Ich liebe dich doch, Randy – wirklich…« Er nickte nur. Hatte sie einen Erfolg errungen? Nein, denn plötzlich schlug er zu. So schnell, daß Iris ihren Kopf nicht mehr zur Seite drehen konnte. Die flache Hand traf sie an der Wange. Sie hörte das Klatschen, ihr Kopf schien zu platzen, und sie merkte auch, daß ihre Hand Randy losließ und sie zur Seite taumelte. Jetzt war er frei.
Randy kümmerte sich nicht um Iris. Seine Augen leuchteten, als er den ersten Schritt auf die schöne Yodana zuging. »Du bist eine Zauberin«, flüsterte er. »Du bist eine Zauberin der Liebe…« »Ja, komm nur, komm nur in meine Arme – Geliebter…« Das letzte Wort hatte auch Iris verstanden. Es war scharf wie eine glühende Nadel in ihr Hirn eingedrungen. Ihr Randy war von dieser Person als Geliebter bezeichnet worden, etwas, das es einfach nicht geben konnte. Das war unmöglich, sie konnte es nicht fassen, sich auf keinen Fall damit abfinden, aber sie merkte erst jetzt, daß sie selbst auf dem Erdboden hockte und eine Hand gegen die linke Wange gepreßt hielt, deren Fleisch brannte, als würde Feuer darüber hinwegstreichen. Sie konnte nichts tun. Nur aufstehen und sehen, was passierte. Randy hatte Yodana erreicht. Er strahlte. Sein Haar geriet bereits in die weiche Aura der fremden Person hinein. Es begann zu leuchten, als würde der Mond darauf scheinen. Sie faßte ihn an. »Randy, nicht…«, wimmerte Iris. Er hörte nicht. Der Bann der anderen war zu stark. Und wieder sprach Yodana ihn mit dem Wort Geliebter an, bevor sie ihn in die Arme schloß. Beide Hände legte sie um seine Gestalt. Auf seinem Rücken falteten sie sich zusammen, und sie preßte ihn hart gegen ihren wogenden Busen. Randy senkte den Kopf, er vergrub sein Gesicht in das Blondhaar, als wollte er dessen Duft aufnehmen. Iris Slater stand daneben und weinte. Sie kam sich plötzlich so nutzlos vor, als hätte man sie einfach abgeschoben und zur Seite geschleudert. »Bitte… bitte…« Randy stöhnte, er fühlte sich in den Armen dieser Fremden wohl. Er bewegte sich, als wollte er jede Stelle ihres Körpers auskosten. Iris Slater schaute zu. Die Szene widerte sie an. Sie hatte etwas Obszönes an sich, über das die Frau nicht hinwegkam. Allein die Bewegungen stufte sie als widerlich und provozierend ihr gegenüber ein, doch vergeblich streckte sie den Arm aus, um Randy zurückzuholen. Es war eine Geste der reinen Verzweiflung, denn in dieser Nacht war für Iris Slater eine Welt zusammengebrochen. Dann hörte sie den Schrei! Es war ein furchtbarer Laut. Obgleich von einem Menschen, dieser Yodana ausgestoßen, hörte er sich an, als wäre er aus der Kehle eines Tieres gedrungen. Auch Randy Wonder hatte ihn gehört. Plötzlich erstarrte er in den Armen der Fremden. Iris konnte sehen, wie er sich verwandelte. Er war nicht mehr er selbst, dieser Schrei hatte ihn aus der höchsten Glückseligkeit herausgerissen und in die tiefe Angst geschleudert.
»Du bist nicht mein Geliebter! Du bist es nicht…« Schrille Worte hallten durch die Stille. Sie wurde von ihnen regelrecht zerfetzt. Einen Moment später passierte es dann. Yodana wuchtete Randy herum, und plötzlich stand sie in einem hellen Feuer. So grell, daß Iris gezwungen war, die Augen zu schließen, weil sie das Gefühl hatte, zu verbrennen. Aber sie hörte das Zischen, und genau dieses Geräusch alarmierte sie. So riß sie dann die Hand hoch, preßte die gespreizten Finger gegen ihr Gesicht und schaute durch die Lücken dorthin, wo die beiden standen. Sie sah nur mehr Yodana. Auch nicht so wie sonst. Sie war zu einem wilden Wesen geworden, zu einer mit grellem Licht getauften Furie. Die Arme hatte sie vom Körper abgespreizt, die Hände ebenfalls, den Blick hielt sie gesenkt, und sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick von dem bleichen Licht aufgefressen. Iris schaute zur Seite. Da sah sie Randy. Er >klebte< an der Mauer, und was Iris dann mitbekam, rüttelte an den Grundfesten ihres Verstandes. War das Randy, oder war es ein grelles Skelett? Es mußte ein Skelett sein, denn Haut und Knochen leuchteten, als wären sie von innen her durch ein weißes Flammenwerk verbrannt worden. Er trug nicht einmal Fetzen seiner Kleidung am Leib, alles war durch das fremde Lichtfeuer verbrannt. Randy war kein Mensch mehr. Er war ein Skelett. Weiße Knochen, kein Gesicht, keine Haut, und dann wurde aus den Knochen Pulver. Es gab nichts mehr, was die Gelenke zusammengehalten hätte. Randy konnte nicht stehen, er sank zusammen als Haufen hellglühender Asche. Iris Slater konnte es nicht fassen. Aber sie war relativ cool. In dieser wahnsinnigen Streßsituation meldete sich ihr Überlebenswille, und sie wunderte sich sogar, daß sie noch normal denken konnte, trotz des erlebten Grauens. Yodana gab ein Geräusch von sich, daß nichts Menschliches mehr an sich hatte. Es quoll aus ihrem Mund und war von einem weißen Schleim begleitet, der dem Boden entgegentropfte. Sie wollte das zweite Opfer. Du mußt weg! Du mußt weg! Die innere Stimme war nicht mehr zu überhören. Iris durfte jetzt nicht mehr an ihren Freund Randy denken, den es nicht mehr gab. Sie mußte so schnell wie möglich diesen Ort des Grauens verlassen. Sie ging zurück.
Es klappte, und als Yodana den Kopf hob, da hatte sie schon mehrere Schritte zurückgelegt. Das merkte auch die Arme. Sie stierte Iris an! In diesem Augenblick reagierte sie genau richtig. Auf dem Absatz warf sie sich herum, und mit den folgenden Sprüngen hatte sie Mauerwerk zwischen sich und die Erscheinung gebracht. Weg – nur weg! Sie floh, sie rannte. Sie schrie und weinte dabei. Sie merkte nicht, wohin sie lief, und ihre schrillen Laute hallten wie das Gebrüll lebender Toter durch die Dunkelheit. Yodana aber kümmerte sich nicht mehr um sie. Die Fremde war bereits vergessen. Sie machte sich auf die Suche nach ihrem Geliebten. Eine schöne und blasse Frau durchwanderte wenig später die Dunkelheit und kam mit jedem Schritt ihrem eigentlichen Ziel näher… *** Wir waren wieder in Glastonbury, und ich spürte sofort die andere Atmosphäre, die diesen Ort so einmalig, aber auch so unheimlich zugleich machte. Hier war alles anders. Glastonbury konnte als Grenzstation zwischen dem Jetzt und dem Niemandsland oder Geisterreich angesehen werden. Wer sensibel war, merkte dies augenblicklich, und es gab viele Menschen, die nach Glastonbury wanderten, um zu meditieren, weil sie hofften, daß ihnen anschließend ein Blick in die andere Welt gestattet wurde. Suko und ich waren ausgestiegen. Wir hatten nahe des Pfarrhauses geparkt, denn Ingles, der Pfarrer, war ein alter Bekannter von mir. Noch wußte er nicht Bescheid, daß wir kamen. Er würde große Augen bekommen, wenn er uns entdeckte. Schon beim Schließen der Tür hatte Suko die Nase gerümpft. »Es riecht«, sagte er nur. Ich hob die Schultern. »Torf, verbrannter Torf. Er wird hier noch immer abgebaut.« »Klar, ich erinnere mich.« In der Luft lag ein ständiger Nebel. Wie ein feines Gespinst breitete er sich aus und bedeckte die braunen Dächer der Häuser sowie auch die Bäume, Sträucher und den dunkel wirkenden Rasen. Ständig roch es nach altem Wasser, nach Vergänglichkeit, denn der Sumpf war nicht weit entfernt. In ihn hinein führten Schienen, auf denen kleine Loren fuhren. Hier bauten die Menschen den Torf noch mit den eigenen Händen ab, Bagger waren in Glastonbury nicht zu sehen. Wahrscheinlich befanden sich die meisten Bewohner im Torf, deshalb hatte Glastonbury auch wie leergefegt gewirkt. Selbst die Kirche mit dem
alten Turm sah so aus, als wäre sie aus der Vergangenheit vergessen worden. Als Suko die Tür des Pfarrhauses betrachtete, lächelte er. »Dein Freund wird Augen machen.« »Das kannst du sagen.« »Aber mitnehmen willst du ihn nicht?« »Wohin?« »Zum Tor nach Aibon.« Ich schüttelte den Kopf. »Es wird auch für mich verschlossen sein, denke ich. Der Dunkle Gral befindet sich nicht mehr in meinem Besitz, und ob Nadine noch einmal erscheint, um uns den Weg in das andere Reich zu ebnen, ist fraglich.« »Wenn Gefahr droht, sollte sie uns eigentlich nicht im Stich lassen, meine ich.« »Recht hast du. Aber lehre du mich die Regeln der Nebelinsel kennen. Ich bin überfragt.« Wir hatten natürlich versucht, das große Steintor auf dem Grabhügel zu Gesicht zu bekommen. Das war heute nicht möglich, denn die dünnen Dunstschleier hielten es umwickelt wie Garn. Wir waren auch an den Ruinen der alten Abtei von Glastonbury vorbeigefahren, ohne etwas entdeckt zu haben. Nur die bedrückende Stille dieser einmaligen Landschaft hatte uns umgeben. Es war früher Abend. Suko hatte mächtig auf die Tube gedrückt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde noch Zeit vergehen. Ich hoffte, daß wir sie nutzen konnten. Die kleinen Fenster des Pfarrhauses waren von innen durch Gardinen verhängt. Hineinschauen konnten wir nicht. Man hatte uns bereits gesehen, denn ehe ich an die Tür klopfen konnte, wurde sie bereits geöffnet, allerdings nur so weit wie es die Kette zuließ. Durch den Spalt schaute mir ein Gesicht entgegen. Es gehörte nicht dem Pfarrer, sondern einer Frau in den älteren Jahren. Ich schätzte sie auf sechzig und darüber. Sie trug auch im Haus ein Kopftuch oder hatte gerade ausgehen wollen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Die Begrüßung klang nicht eben freundlich, was mich nicht daran hinderte, die alte Dame anzulächeln. »Wir hätten gern den Pfarrer gespochen.« »Nein, nicht für Fremde.« »Pardon, wir sind nicht fremd.« »Gehen Sie.« »Pfarrer Ingles kennt uns. Mein Name ist John Sinclair.« Dann stellte ich Suko vor. Mit keinem Augenzwinkern gab die Frau zu erkennen, daß sie schon von uns gehört hatte. Sie wollte sich zurückziehen und die Tür zudrücken, ich
aber stemmte meine Hand dagegen. »Bitte, Lady, es ist wichtig. Es geht vielleicht um Leben und Tod.« »Wir wollen euch nicht.« »Wir sind Polizisten. Sagen Sie dem Pfarrer meinen Namen. Er wird Ihnen dann das Richtige antworten.« So störrisch sich die Frau auch zu Beginn gezeigt hatte, jetzt geriet sie ins Grübeln. »Kommt ihr aus der großen Stadt?« »Aus London.« Sie nickte. »Ja, er hat mir von Leuten aus London mal berichtet. Warten Sie hier, ich werde ihn fragen. Er muß leider das Bett hüten. Fieber, Schüttelfrost und ein Schock.« Nach diesen Worten schob sie die Tür zu, und ich wich zurück. »Hast du die Antwort verstanden, Suko?« »Sicher, und sie gefällt mir gar nicht. Fieber, Schüttelfrost, kann man das als eine Sommergrippe ansehen?« »Im Prinzip schon, doch ich bin mißtrauisch, wenn ich hier etwas Außergewöhnliches erlebe. Glastonbury hat seine Geheimnisse. Nun frage ich dich, weshalb sollte der Pferrer zusätzlich noch einen Schock erlitten haben?« Suko breitete die Arme aus. »Ich weiß es nicht. Er könnte etwas gesehen haben.« »Drei Frauen?« »Du wagst dich weit vor.« »Hier immer«, erwiderte ich und drehte mich um, weil ich gehört hatte, daß sich die Tür zum zweitenmal öffnete. Jetzt wurde sie von keiner Kette gehalten. »Sie können kommen.« Die Frau zeigte sich jetzt ganz. Sie trug einen langen Rock, eine ebenfalls lange, blaue Strickjacke und klobige Schuhe. Die Kleidung paßte zu ihr, ebenso wie das Kopftuch. Ich blieb vor ihr stehen. »Was ist mit dem Pfarrer?« Um in mein Gesicht zu schauen, mußte sie an mir hochsehen. »Es geht ihm schlecht.« »Eine Krankheit?« »Wir wissen es nicht.« »Was hat er gesagt, als er unsere Namen hörte.« Zum erstenmal sah ich die alte Frau lächeln. Es war nur mehr ein Zucken ihrer Lippen, mehr nicht, aber es reichte aus. »Er kam mir plötzlich vor, als wollte er wieder gesund werden. Der Pfarrer wirkte so erleichtert, als wäre eine schwere Last von ihm genommen worden. Er meinte sogar, daß der Himmel seine Gebete erhört hätte.« »Dann lassen Sie uns mal zu ihm.« »Warten Sie, ich gehe vor.« Wir ließen die Frau einige Schritte weit kommen, bevor ich Suko meine Vermutung ins Ohr flüsterte. »Die Krankheit des Pfarrers hat bestimmt
etwas mit unserem Fall zu tun. Hier scheint einiges schiefgelaufen zu sein, denke ich.« »Könnten die denn schon hier sein?« »Möglich. Jedenfalls scheinen wir mal wieder eine gute Nase gehabt zu haben.« »Ja, das stimmt.« Wir hatten den düsteren Flur verlassen, in dem es nach Kräutern, aber auch nach Weihrauch roch. Vor einer ebenfalls dunklen Tür war die Frau stehengeblieben, sie klopfte an, streckte den Kopf in das Zimmer, flüsterte etwas und winkte uns dann zu. Sie machte Platz, damit wir den Raum betreten konnten. Obwohl wir uns bemühten, leise zu gehen, ächzten die Bodendielen unter dem Druck der Tritte. Der Pfarrer lag in seinem Bett. Es stand in Höhe des Fensters, vor dem jedoch eine Gardine hing. Da die vor dem Haus wachsenden Bäume sowieso einen Teil des Lichts nahmen, konnte sich im Zimmer das Halbdunkel ausbreiten. Sehr gut war der Geistliche nicht zu erkennen. Nur sein Gesicht wirkte wie ein blasser Heck, und als wir näher kamen, sahen wir, daß seine Haut doch grau geworden war. Aber er lächelte und deutete mit Zitterhand auf zwei Stühle. »Nehmt sie euch bitte.« Das taten wir und setzten uns neben sein Bett. Er schaute wieder gegen die Decke. Schnaufend atmete er aus. Das Zimmer war noch mit sehr alten Möbeln eingerichtet, so reichte der kantige Kleiderschrank fast bis an die Decke. In einer Ecke schimmerte ein Waschbecken. »Es lohnt sich, wenn man Vertrauen zu unserem Herrgott hat«, flüsterte er zur Begrüßung. »Ja, das lohnt sich immer«, sagte ich. »Aber wir sind überrascht, Sie hier krank liegen zu sehen.« Er hustete flach, bevor er lachte und dabei seinen Kopf bewegte. »Krank, sagen Sie? Nein, so kann man es nicht sagen. Ich bin eigentlich nicht krank, ich bin deprimiert. Ich habe erlebt, daß das Böse sich aufgemacht hat, unseren Ort zu umschließen, und das ist schlimm, sehr schlimm, glaubt mir.« »Wer kam?« »Die Schlange!« Suko und ich schauten uns überrascht an. »Wie bitte?« fragte ich leise. »Die Schlange?« »Ja, das Untier. Das Zerrbild des Grauens. Sie wühlte sich aus der Erde hervor, sie hat es geschafft, und sie wird sich auch hineinschlängeln wollen auf die Nebelinsel. Ich habe es im Gefühl, denn die Schlange ist da.« »Sie haben das Tier gesehen?«
Der Pfarrer griff nach meiner Hand. Seine war kalt. Mir war, als würde Fett auf meiner Haut liegen. »Sie ist kein Tier, John Sinclair. Sie ist ein Monster. Riesig, gewaltig. Sie ist das Urbild des Bösen, und sie hat das Böse mitgebracht oder zumindest angekündigt.« »Ich denke, daß wir deshalb gekommen sind.« »Ja.« Er nickte im Liegen. »Nur ihr könnt die Schlange besiegen, glaube ich.« »Das wollen wir auch. Aber uns kommt es auf andere Personen an, wenn du verstehst. Drei Frauen. Sie heißen Yodana, Damana und Rogetta. Sie werden von uns gejagt, von der Schlange haben wir zum erstenmal durch Sie gehört.« Der Pfarrer schluckte. »Die Namen«, flüsterte er dann. »Eigentlich sind sie längst vergessen, man hatte sie verflucht, aber sie existieren. Sie und die Schlange stehen miteinander in Verbindung.« »Wieso?« »Sie liebten das Monster. In der Legende heißt es, sie wären auf ihm geritten, um sich ihre Männer zu holen. Sie haben den Tod und das Verderben mitgebracht, sehr lange fanden sie nicht die richtigen Partner, denn sie wollten nur hochstehende Persönlichkeiten haben. Dann entschieden sie sich für die Ritter.« »Die der Tafelrunde?« »So ist es. Aber der König merkte, was sich hinter ihren Gesichtern verbarg, und auch der große Zauberer Merlin spürte, wie böse diese drei Frauen waren. Sie dienen der Schlange, und damit haben sie auch die Macht, glaubt mir.« »Um nach Avalon zu gelangen?« »Vielleicht.« »Wen haben Sie gesehen, Pfarrer Ingles?« Er lächelte mich an. »Nicht die drei Frauen, von denen du gesprochen hast, aber genug, um einen Schock und die entsprechende Angst zu bekommen. Ich war da und spürte die Anwesenheit der Schlange. Noch hat sie gelauert, aber wer kann schon sagen, ob sie sich noch immer verborgen hält. Vielleicht ist sie schon längst da und hat den Fluch ebenso überwunden wie die drei bösen Frauen.« »Können Sie uns genau sagen, wo Sie die Schlange gesehen haben?« fragte Suko. »Es war hier«, flüsterte der Pfarrer. »Im Ort?« Er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Nein, nicht direkt. Sie… das heißt, ich spürte sie auf dem alten Gelände der Abtei. Dort hat sie ihre Heimat gefunden. Dort wird sie ihre Unsichtbarkeit verlassen und zurück in diese Welt kehren.« Suko schaute mich an.
Ich wußte, was er fragen wollte und kam ihm deshalb mit der Antwort zuvor. »Den Ort kenne ich. Ich habe allerdings nie direkt mit der alten Abtei zu tun gehabt. Für mich ist das Tor nach Avalon immer wichtiger gewesen.« Pfarrer Ingles bewegte sich im Bett. Er preßte die Lippen hart zusammen, als er sich hochstemmte und in einer sitzenden Haltung blieb. Die konnte er sich erlauben, denn das Kopfende des Betts stützte ihn. »Ihr müßt hin. Ich bin zu schwach. Aber ihr könnt es schaffen, die Schlange zu stoppen.« Der Geistliche hustete. »Tut uns allen den Gefallen.« Das würden wir sowieso. Ich wollte nur wissen, wie sich die Bewohner verhielten, ob sie etwas bemerkt hatten, ob sie wußten, welche Gefahren ihnen drohen konnten. Ingles schaute mich an. »Ich weiß es nicht. Gesprochen habe ich mit niemandem darüber. Aber es wird sich dort etwas tun, das könnt ihr mir glauben.« »Sind viele Besucher im Ort?« »Nein.« »Dann sollten wir gehen«, sagte Suko. Er erhob sich vor mir und nickte dem Pfarrer zu. Ich reichte Ingles die Hand. Er hielt meine länger fest. »Ihr werdet es schaffen.« »Wir versuchen es«, erwiderte ich augenzwinkernd. Suko hatte bereits die Tür geöffnet und wartete im Flur auf mich. Er sah sehr nachdenklich aus, als er sagte: »Dieser Pfarrer ist gut informiert.« »Stimmt.« »Woher?« Ich schloß leise die Tür. »Er hat sich eben mit der Geschichte dieses Ortes und seiner Umgebung beschäftigt, und er gehört zu den Menschen, die die Augen offenhalten. Er denkt nicht nur einseitig. Er weiß, daß es Avalon gibt, und er kennt auch manche Zusammenhänge. Viele Menschen hier wissen um das düstere Geheimnis. Man nennt Glastonbury nicht grundlos das englische Jerusalem. Hier befindet sich so etwas wie eine Wallfahrtsstätte für Menschen, die sich auf dem esoterischen Trip befinden. Oft sitzen sie hier und meditieren, das ist ähnlich wie in Stonehenge. Nur ist Glastonbury nicht so berühmt geworden, zudem ist Stonehenge nicht allzu weit von hier entfernt. Die Einwohner hier sind froh, wenn sie in Ruhe gelassen werden.« »Wäre ich auch, wenn ich hier leben müßte.« Wir waren auf die Haustür zugegangen, wo die alte Frau auf uns wartete. Ihr Gesicht zeigte einen besorgten Ausdruck. Bevor sie eine Frage stellen konnte, erklärte ich ihr, daß alles in Ordnung war. »Dann wird der Pfarrer gesund?«
Ich lächelte. »Wissen Sie, er ist nicht richtig krank. Sie können ihn nicht als einen Kranken bezeichnen. Er ist nur im Moment ein wenig überarbeitet und braucht Ruhe.« »Die kann er haben.« »Ja, sorgen Sie dafür, Madame.« »Wo gehen Sie jetzt hin?« »Wir schauen uns ein wenig um.« Sie schien Vertrauen zu uns gefaßt zu haben, was ihre nächste Frage bewies. »Der Pfarrer hat mich in einiges eingeweiht, Sie bestimmt auch.« Sehr schnell sprach sie weiter. »Er hat von der bösen Schlange gesprochen, die hier herrschen will. Werden Sie die Schlange stoppen?« »Wir haben sie nicht einmal gesehen, meine Liebe.« »Der Pfarrer hat sich bestimmt nicht geirrt. Er war an der alten Abtei.« »Genau dort werden wir uns auch umschauen.« »Gott sei mit Ihnen.« Wir warteten, bis sich die Frau zurückgezogen hatte und verließen erst dann das Haus. »Müssen wir den Wagen nehmen?« fragte Suko. »Es ist besser.« »Dann fahr du. Ich kenne mich hier nicht so aus.« Er warf mir den Schlüssel zu, den ich auffing. Nichts hatte sich seit unserer Ankunft verändert. Noch immer trieben Nebelschwaden durch Glastonbury. Sie brachten den scharfen Geruch mit, aber auch den von allmählich verfaulenden Pflanzen und altem Wasser. Wir stiegen ein. »Wie alt ist die Abtei?« fragte Suko. Ich überlegte kurz. »Ziemlich alt. Romanik, aber sie ist zerstört. Ein Teil der Außenmauern steht noch, aber das wirst du gleich selbst zu sehen bekommen.« »Darauf warte ich.« *** Sie hatten sich nicht gesehen, aber sie wußten, daß sie existent waren. Auf ungewöhnliche Art und Weise waren die drei Frauen miteinander verbunden, denn sie teilten das gleiche Schicksal. Sie waren Verfluchte, Ausgestoßene, Avalons böse Schwestern oder böse Bräute, und sie hatten es geschafft, den Fluch zu überwinden. Es war nicht bis in alle Ewigkeiten ausgesprochen worden, jetzt waren sie wieder da und hatten eine Welt verlassen, die im Nirgendwo lag. Zwischen Zonen und Zeiten, eingefangen im Mahlstrom einer uralten Legende und Magie. Yodana, Damana und auch Rogetta wußten voneinander. Sie hatten sich noch nicht gesehen, aber es gab den Strom der Informationen
zwischen ihnen. Und es kümmerte sie nicht, wie weit die Entfernungen waren. Er lief auf einer völlig anderen Wellenlänge, um ihre Gehirne zu erreichen. Auf telepathischem Weg befruchteten sie sich gegenseitig. Sie gaben sich Informationen, so wußte die eine immer, wo die beiden anderen sich aufhielten. Sie beschrieben sich gegenseitig die Landschaften und Gegenden, die sie durchschritten, und sie »unterhielten« sich auch über die Veränderungen, die in den langen Jahrhunderten in ihrer Welt entstanden waren. Wenn eben möglich, umgingen sie diese, so daß sie immer von der Einsamkeit der Landschaft verschluckt wurden. Und so kamen sie ihrem gemeinsamen Ziel näher und näher. Glastonbury hieß der Ort, und in seiner Nähe würden sie das mächtige Tor finden, den Weg auf die Nebelinsel Avalon. Dort wollten sie hin, denn nur dort konnten sie die Zeit wieder zurückdrehen. Eine jede dachte an ihren Geliebten. Sie warteten darauf, den Rittern gegenüberzustehen, um sie noch einmal zu bitten, mit ihnen zu gehen. Sie waren wild, sie waren bereit, den Kampf aufzunehmen, und sie würden sich so leicht nicht mehr vertreiben lassen. Sie hatten lange genug in der Verbannung existiert, jetzt war die Zeit reif, sie wieder zu verlassen. Und sie hatten gelernt. Sie waren tatsächlich stärker geworden. Nichts erinnerte an damals, denn sie hatten tatsächlich das Böse kennengelernt und es auch fest in den Griff bekommen. Die monströse Schlange hatte sie des öfteren besucht. Sie war in die Welt ihrer Verbannung hineingekrochen, und sie hatten erlebt, daß der Teufel in einer Tiergestalt erscheinen konnte. Die Kraft der Schlange! Über sie hatten sie des öfteren nachgedacht und waren zu dem Ergebnis gelangt, daß sie sich nur darauf verlassen konnten. Die Schlange war wichtig, sie gab ihnen Schutz, sie sorgte für die große böse Macht, auf die sie sich verlassen konnten. Und mit der Kraft der Schlange hatten sie sich auf den Weg gemacht. Diese Kraft hatte ihnen Flügel gegeben, sie konnten sich schnell bewegen, und sie hielten immer wieder den Kontakt miteinander, so daß sie zur selben Zeit am Ziel eintreffen würden. Glastonbury ahnte nichts. Der Ort lag unter dem immerwährenden Dunst, ohne sich seiner Geschichte bewußt zu sein. Er hatte sich damit abgefunden, Mittelpunkt zu sein, aber sämtliche Geheimnisse und Rätsel konnten nicht gelöst werden. Sie erreichten Glastonbury noch vor Einbruch der Dämmerung. Yodana, die Blonde mit dem roten Kleid, kam aus dem Norden.
Damana, die Häßliche unter ihnen, erreichte Glastonbury aus südlicher Richtung. Rogetta traf aus dem Osten ein. Verhangen wirkten die Mauern der alten Abtei. Die noch stehenden Außenwände schimmerten bleich wie Gebein. Hohe Fensteröffnungen sahen aus wie riesige, verfremdete Augen. Um die Abtei herum bedeckten Steine den Boden. Manche von ihnen glichen schon Felsblöcken, als hätten Riesen damit gespielt und sie vergessen. Der grasbedeckte Boden der klösterlichen Umgebung schimmerte in einem saftigen Grün. Wasser gab es genug. Der Boden wirkte wie ein immenser Speicher, zudem befand sich die alte Abtei inmitten einer sumpfigen Gegend, und selbst in heißen Sommern blieb die Feuchtigkeit. Deshalb trieben auch sehr oft die blassen Dunstschwaden durch den Ort und dessen Umgebung. Yodana erreichte den Ort als erste. Sie bewegte sich an den flachen Ruinen vorbei, auf das Hauptgebäude zu, dessen Außenmauern zumindest an der Westseite noch vorhanden waren. Auch Reste eines Kirchturms ragten in die Höhe. Er sah erbarmungswürdig aus. Die Spitze wirkte, als wäre sie an verschiedenen Stellen ungleichmäßig abgeschlagen worden. Ein Lächeln glitt über Yodanas Lippen. Sie spürte so etwas wie ein heimatliches Gefühl, aber sie merkte auch, daß ihre Kräfte zugenommen hatten. Wie ein nie versiegender Strom glitten sie durch ihren Körper, so daß sich Yodana fühlte, als könnte sie jeden Augenblick davonfliegen. Ja, sie war stark, viel stärker als früher, als der Zauberer Merlin sie und die beiden anderen verbannt hatte. Zur großen Ruine der Abtei führte eine grüne Grasböschung hoch. Die Reste selbst standen auf sehr hartem Gestein. Durch das größte Fenster – es war vielleicht mal ein Tor gewesen – schritt sie in die Ruine hinein. In der Mitte blieb Yodana stehen. Sie nahm die Eindrücke auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Obwohl vieles zerstört war und der Wind durch die großen Öffnungen pfeifen konnte, spürte sie doch ein Gefühl der Heimat. Sie hatte das Ziel endlich erreicht, sie sah den Dunst an wie die Boten aus dem Geisterreich, die sie beschützen wollten. Es war ein gutes Gefühl, endlich an dem Ort zu stehen, von dem sie so lange geträumt hatte. Fehlten noch die anderen. Sie würden nicht mehr lange auf sich warten lassen, denn Yodana spürte ihre Gedanken bereits wie kleine, scharfe Stiche in ihrem Hirn. Sie waren nicht mehr weit entfernt, sie grüßten bereits und freuten sich ebenfalls auf das große Ziel. Yodana wartete in der Mitte. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie konnte wieder fühlen, in ihrem Körper steckte die Erregung. Am liebsten hätte
sie sich in die Lüfte erhoben und wäre über die Abtei hinweggeflogen. Gedanken durchwirbelten ihren Kopf, die nicht mehr lange als solche existent blieben, denn aus ihnen wurden Stimmen, und sie hörte, wie ihr Name gerufen wurde. Yodana drehte sich um. An zwei verschiedenen Eingängen hielten sich Damana und Rogetta auf. Sie bewegten sich nicht und schauten zum Mittelpunkt hin, wo Yodana sie anlächelte. Die rothaarige Rogetta strömte noch immer eine kaum beschreibbare Wildheit aus. Sie hielt ihre Waffe wie ein Speer in der Hand, jeden Augenblick bereit, ihn auf einen Feind zu schleudern. Den aber gab es nicht. Sie waren unter sich, und Damana, die häßliche Person unter den dreien, schlich vor. Das Gesicht hatte den maskenhaften Ausdruck noch immer nicht verloren. Die Augen standen weit offen und waren starr. Sie glotzten Yodana kalt an, während aus ihrem Mund zischende Laute drangen. Das dichte Haar sah aus, als würde es aus schwarzen Hammen bestehen, die irgendwann einmal vergessen hatten zu lodern und deshalb erstarrt waren. Die Brüste unter dem dünnen Stoff sahen aus wie halbrunde schwere Steine, und als sie über die Lippen leckte, war die Zunge nicht mehr als ein grauer Lappen. Yodana winkte ihnen zu. Nicht daß sie direkt zu einer Anführerin gewählt worden wäre, aber die beiden anderen hatten sie als eine solche akzeptiert. Deshalb zögerten sie auch nicht, sich ihr zu nähern und dicht neben ihr stehenzubleiben. Sie waren bereit, den Kreis zu bilden. Dabei mußten sie sich gegenseitig anfassen, um die Kraft tanken zu können, die nötig war. »Ich bin wieder da«, sagte Rogetta. Dabei grinste sie kalt und böse, als hätte sie vor, jemand zu quälen. »Ich habe den Weg auch gefunden«, erklärte Damana. Ihre Stimme war dunkel. Manchmal hörte sie sich an, als würde sie geradewegs aus einer Gruft kommen. »Wir haben es gewußt, Schwestern«, erklärte Yodana. »Wir haben es immer gewußt. Dieser Fluch konnte nicht ewig sein. Auch ein Zauberer wie Merlin ist nicht stärker als unser Beschützer. Wir haben mit dem Teufel Kontakt bekommen, wir gehen davon aus, daß wir ihn lieben, wir haben es ihm bewiesen, und er hat uns versprochen, uns auf dem Weg nach Avalon zur Seite zu stehen. Wir werden uns dort unsere Männer holen, und wir werden sie ihm zum Dank für seine Hilfe weihen. So hat unser Plan ausgesehen. Seid ihr bereit, ihn zu erfüllen? Wollt ihr euch endlich dankbar dafür zeigen, daß er euch seine Kraft gegeben hat?« »Ich will es«, sagte die rothaarige Rogetta. »Ich auch!« erklärte Damana. »Dann gebt mir eure Hände!«
Die Frauen wußten Bescheid. Damana und Rogetta rammten ihre Lanzen in den Boden. Vor ihnen blieben sie stehen und waren sehr bald Mittelpunkt eines Kreises, den die drei Frauen gebildet hatten. So warteten sie ab. Sie taten noch nichts, denn sie genossen es zunächst, sich gegenseitig wieder berühren zu können. Für sie war damit der Fluch endgültig gebrochen. »Wie lautete damals unser Schwur?« fragte Yodana. Die Antwort erfolgte prompt. Damana und Rogetta gaben sie synchron. »Keine Feindschaft zwischen uns.« Die Sprecherin lächelte. »Ihr habt ihn behalten, das läßt uns alle hoffen.« »Wir lieben die Schlange!« sagte Damana. »Sie wird erscheinen.« »Sie wird das Tor zu Avalon öffnen!« fügte Rogetta hinzu. Es war genug gesagt worden. Vorbereitungen brauchten nicht mehr getroffen zu werden. Die drei Bräute hofften auf das Böse, auf die Unterstützung der Hölle, und sie schlossen gemeinsam die Augen, um sich nur darauf konzentrieren zu können. Niemand sollte sie ablenken. Was sie vorhatten, war unbeschreiblich, es übertraf den Verstand eines normalen Menschen. Sie würden hier in Glastonbury eine Hölle entfachen, und so etwas konnte auch nur an einem Ort wie diesem geschehen, wo verschiedene Welten im Unsichtbaren aufeinandergeprallt waren. Sie konzentrierten sich. Ihre Gedanken drehten sich um die Vergangenheit. Sie hielten die Augen geschlossen. Alles in ihrem Kopf drehte sich einzig und allein um das Böse. Obwohl sie nicht darüber sprachen, merkten sie, daß ihnen der Teufel Gehör schenkte. Es war noch ein Geist, ein schwimmendes Etwas im Bereich der Gedanken, doch er erklärte ihnen, daß er eine Gestalt annehmen würde, um sie zu beschützen. Er sprach von einer Urgestalt, die im Paradies schon die Menschen verführt hatte. Er würde als Schlange kommen, als Ungeheuer, als mordgierige verschlingende Bestie, und er würde jeden Gegner vernichten, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie zitterten. Das Versprechen des Teufels hatte sie durcheinandergebracht. Keine von ihnen hätte reden können, denn in ihnen steckte eine derartig starke Erwartung, daß ihnen die Kehlen regelrecht zugeschnürt wurden. Noch zeigte sich die Schlange nicht, aber sie befand sich auf dem Weg zu ihnen. Sie kam näher und näher. Sie war letztendlich bereit, den Kreis zu durchbrechen, den sie gebildet hatte. Sie lebte in den tiefsten Tiefen der Hölle, in ihrer eigentlichen Heimat, aber sie würde hervorschnellen und sich in einer Welt umschauen, die für sie nicht gemacht war, die erst erobert werden mußte.
Ein Beobachter hätte nur mehr drei Frauen sehen können, die sich an den Händen hielten, denn nichts war von einer Botschaft des Bösen zu sehen oder zu spüren. Aber der Boden zitterte plötzlich. Jede der drei bemerkte es zur selben Zeit. Unter ihren Füßen tat sich etwas, da rumorte es, da bildete sich etwas hervor, als wären Gedanken dabei, Gestalt anzunehmen. Die Schlange wuchs zusammen… Sie bewegte sich unter ihnen auf ein bestimmtes Ziel zu. Sie spürten, daß sie das Ziel bildeten, und die Schlange würde sich endlich befreien können. Sie war bereit, das Tor nach Avalon aufzubrechen, um eine Bastion zu erstürmen, die ihr bisher verwehrt geblieben war. Aber der Teufel wollte das Böse überall hintransportieren. Es war nichts, vor dem er Halt machte. Der Boden unter ihren Füßen schwankte. Auch sie konnten nicht mehr normal und ruhig stehenbleiben. Sie waren gezwungen, die Schwankungen auszugleichen, sie vibrierten und zitterten mit, und sie hörten tief unter sich ein dumpf und wummernd klingendes Rumoren, als wäre dort etwas aufgebrochen worden, das über die Jahrhunderte hinweg Widerstand geleistet hatte. Die Schlange kam. Der Boden brach. Drei Frauen schrien auf. Ihr Hände lösten sich voneinander. Sie selbst bekamen die Schläge mit, die sie nicht mehr ausgleichen konnten. Sie kippten nach hinten weg, rutschten aus und fielen zu Boden. Die beiden im Boden steckenden Lanzen wurden dabei wie überlange Zündhölzer in die Luft geschleudert. Sie klirrten gegen die Mauern und blieben davor liegen. Ein bösartig klingendes Zischen durchwehte den Innenhof und tanzte zwischen den drei Frauen. Yodana war die erste, die sich aus ihrer liegenden Stellung erhob und auf die Beine kam. Sie schaute hin. Ihre Augen weiteten sich. Aus der Erde, umhüllt vom Rauch, schaute der mächtige Kopf einer Riesenschlange hervor. Ein Maul, das so groß war, um Felsbrocken verschlucken zu können und mit Zähnen bestückt, die selbst hartes Material zermalmten. Das war der Teufel, und er hatte sein Versprechen gehalten. Auch die anderen beiden Frauen erhoben sich, waren vom Anblick der Schlange schockiert und begeistert zugleich. Ihnen würde sie nichts tun, auch wenn sie jetzt einen Feuerstrahl ausspie, der mehr an einen Drachen erinnerte. In ihren Augen tanzte ein böses Licht, das farblich nicht einzuordnen war, denn es schwankte permanent zwischen einem kräftigen Rot und einem fahlen Gelb.
Nahezu wütend bewegte die Schlange ihren mächtigen Kopf, während sie ihren gewaltigen Körper aus dem Erdreich schob. Glatt und sicher klappte das. Was die drei Frauen dann zu sehen bekamen, raubte ihnen abermals den Atem. Es war ein Riesenkörper, er wollte gar nicht aufhören. An der unteren Seite bestand er aus dunkelgrünen Schuppen, die sich allerdings zu Knoten zusammengedreht hatten. Auf der Oberseite begann dicht hinter dem häßlichen Schädel ein Drachenkamm mit dreieckigen Zinken, deren Spitzen in die Höhe standen. Das war die Schlange, das war der Teufel, das war der Tod! Für die drei Frauen aber bedeutete es den Sieg! *** »Anna…?« Die alte Frau hörte die Stimme des Pfarrers dünn aus seinem Krankenzimmer klingen. Sie war auf dem Weg in die Küche gewesen und hätte nicht sagen können, daß sie sich gut fühlte, denn der Besuch der beiden Fremden hatte sie schon aufgewühlt. Aber Pfarrer Ingles hatte ihnen vertraut, und darauf konnte sie bauen. Sie hätte sich gern für eine Weile an den Küchentisch gesetzt und nachgedacht, doch nach dem zweiten Ruf blieb sie stehen, verdrehte die Augen und trat so heftig auf, daß der Pfarrer sie hören mußte und sie sich eine Antwort ersparen konnte. Mit müden Schritten ging sie auf die Tür des Krankenzimmers zu. Zuerst klopfte sie an, dann betrat sie den Raum und war von der relativen Helligkeit überrascht. Der Geistliche saß im Bett. Er lehnte mit Kopf und Rücken an der Wand am Oberende, hatte die Gardinen vom Fenster weggezogen, um nach draußen schauen zu können. Viel sah er nicht, nur einen Ausschnitt des Geländes vor dem Haus. Anna war froh, ihren Schützling in dieser Haltung zu finden. Sie hatte sich bereits Sorgen gemacht und sich auch Schreckliches vorgestellt. Der Klang seiner Stimme nämlich hatte ihr ganz und gar nicht gefallen. Sie trat an das Bett. Anna blieb stehen. Der Geistliche kümmerte sich nicht um sie. Er schaute stur aus dem Fenster, als gäbe es dort etwas Besonderes zu sehen. Obwohl es wahrhaftig nicht kalt war, trug er im Bett noch eine dünne Strickjacke, und er zitterte wie jemand, der fror. Seine Lippen bewegten sich. Anna kannte das. Oft sprach der Pfarrer ein stummes Gebet, so schien es auch jetzt zu sein. Sie räusperte sich.
Es geschah nichts. Ingles ließ sich nicht stören. Erst als Anna ihn an der Schulter berührte, zuckte er zusammen und drehte mühselig den Kopf. Er blickte sie an. »Hier bin ich.« »Danke, daß du gekommen bist, Anna.« Die Frau mit den tiefen Falten in der grauen Haut lächelte dünn. »Das ist doch selbstverständlich. Ich habe Ihren Ruf gehört. Womit kann ich Ihnen helfen?« Ingles überlegte eine Weile. »Nein«, sagte er dann. »Du kannst mir wohl nicht helfen. Keiner kann es möglicherweise.« »Warum sollte ich dann kommen?« »Eine gute Frage.« Er senkte den Blick und schaute auf seine Hände, die außerhalb des Lakens lagen. »Eine sehr gute Frage. Ich werde versuchen, sie dir zu beantworten.« »Ich möchte mich setzen.« »Bitte, gern.« Während Anna sich einen Stuhl heranholte, überlegte Ingles, wie er ihr das Problem verständlich machen sollte. Es war nicht einfach, weil seine Sorgen sich nicht konkret erfassen ließen. Sie waren einfach zu abstrakt und ungewöhnlich, und Anna, eine einfache Frau aus dem Volke, würde sie wohl kaum begreifen. Trotzdem brauchte er jemand, mit dem er reden konnte, denn sollte er nicht überleben, was er befürchtete, kam möglicherweise Anna davon und konnte seine Gedanken weitertragen. Er fing mit einer Frage an. »Die beiden Freunde aus London sind ja wohl gefahren, nicht wahr?« Anna nickte. »Das ist schlimm«, murmelte Ingles nach einem tiefen Atemzug. »Das ist sehr schlimm. Ich hätte sie gern in meiner Nähe gehabt, aber sie wollten unbedingt zum alten Kloster.« »Sie hätten es Ihnen sagen können.« »Natürlich, das hätte ich auch. Aber vor einigen Minuten oder einer Viertelstunde sah diese Welt noch anders aus. Zumindest für mich. Da hatte ich zwar über dieselben Dinge nachgedacht, sie aber trotz allem anders gesehen. Es hat sich etwas verändert. Beide werden ihr Ziel, die alte Abtei, zu spät erreichen, Anna, verstehst du das?« »Nein, noch nicht.« Der Pfarrer nickte vor sich hin. »Sie wollten das Böse stoppen, aber sie werden zu spät kommen. Es ist einfach zu mächtig. Es hat sich aufgemacht, um ein Ziel in einer bestimmten Zeit zu erreichen, und das ist ihm auch gelungen.« »Wer ist das Böse?« Ingles hob die Schultern. »Man kann es nicht fassen. Es lauert überall, und die Menschen haben ihm einen Namen gegeben, als sie es konkretisierten. Das Böse ist der Teufel, ist die Hölle, und beide können
in verschiedenen Gestalten auftreten. Sie sind austauschbar, sie wechseln, aber sie bleiben im Prinzip gleich. Ich habe längst gespürt, daß es auch von Glastonbury Besitz ergreifen wird. Es geht um drei Frauen, Anna, die einmal vor langer, langer Zeit gelebt haben, verflucht wurden, jetzt zurückgekehrt sind und sich mit dem Bösen während ihrer Zeit der Verbannung verbündet haben. Alles ist anders, alles ist so schlimm geworden, denn ich kann mir vorstellen, daß diese Welt plötzlich zusammenbricht, und dann wird sie uns begraben.« Anna hatte zwar zugehört, aber die Hälfte der Worte nicht begriffen. »Was sollen wir tun?« »Wir können nichts tun.« »Aber Sie sind Pfarrer.« Ingles mußte über diese Bemerkung lachen. »Ja, das bin ich in der Tat. Doch ich bin alt geworden, dabei hat es einmal eine Zeit gegeben, in der ich stolz darauf war, Pfarrer zu sein. Das ist vorbei, denn ich habe es nicht aufhalten können.« »Die alten Zeiten werden zurückkehren.« Ingles schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät, glaube es mir, Anna, es ist zu spät.« »Das will ich nicht sagen.« Sie wußte, daß der Geistliche Trost brauchte. Anna war beileibe keine Intellektuelle, aber sie hatte einen gesunden Menschenverstand und die Erfahrung eines mehr als siebzigjährigen Lebens. Das zählte oft mehr. »Schon immer haben finstere Mächte versucht, die Kirche zu zerstören. Schon zu allen Zeiten hat es das Böse gegeben, aber es hat nie als Sieger dagestanden.« »Das stimmt«, gab ihr der Pfarrer recht. »Aber nichts ist endgültig und ewig…« »Auch nicht der Herrgott?« Die Frage zwang dem Geistlichen ein Lächeln auf. »Wenn wir darüber reden, geraten wir zu stark in die Philosophie hinein, liebe Anna. Bleiben wir bei den Tatsachen.« »Und die sehen schlimm aus?« »Leider ja.« »Was ist es genau?« Ingles schaute wieder aus dem Fenster. »Ich hatte Hoffnung, als die beiden Männer aus London kamen, doch dieses Gefühl ist in mir leider verschwunden. Es gibt sie nicht mehr, denn ich weiß, ja, ich habe es gespürt, daß die Schlange diesen Ort erreicht hat.« Anna erschrak. Sie zitterte auf ihrem Stuhl. »Die… die Schlange?« hauchte sie. »Ja, sie…« »Ich kenne sie nicht. Ich…« »Doch, du kennst sie. Die Schlange ist das Urbild des Bösen. Schon im Paradies hat sie die Eva verführt, und sie hat den Weg hierher gefunden.
Drei böse Frauen sind aus ihrer Verbannung zurückgekehrt. Sie haben die Grenze nur durch die Mithilfe der Schlange aufbrechen können, und sie haben sich ihr verschworen. Die Schlange wird ihnen zur Seite stehen, und sie wird sie noch stärker machen. Ich habe Angst, schreckliche Angst, sie wächst immer weiter.« Das sah Anna, denn der Pfarrer hatte wieder seinen Kopf gedreht und schaute sie an. Sein Gesicht war so bleich geworden, die Augen groß und dunkel. In ihnen spiegelte sich genau das wider, über das er vorhin mit ihr gesprochen hatte. »Was können wir denn tun?« Er griff nach ihrer Hand. Anna spürte die Kälte seiner Haut. Beinahe wie die einer Toten. Sie bemerkte auch das Zittern seiner Finger. »Gar nichts, fürchte ich.« Das wollte Anna nicht so hinnehmen. »Da gibt es noch die beiden Männer aus London. Sie…« »Sind zu spät, Anna, zu spät. Sie haben die Erweckung des Monsters nicht verhindern können.« Anna nickte. »Was geschieht jetzt?« Der Pfarrer zog seine kalte Hand zurück. »Ich weiß es nicht genau, aber wenn das Böse frei ist, wird es versuchen, Böses zu tun, das ist wohl klar.« »Ja, ich begreife es.« Sie wischte über ihr Gesicht. Dann zerrte sie das Kopftuch ab. Unsicher blickte sie zum Fenster hin. Hinter der Scheibe rührte sich nichts. Nur die Blätter der alten Buche bewegten sich im leichten Wind, wobei dünner Dunst durch das Geäst trieb. »Es wird sehr schlimm werden, Anna, und wir werden es kaum stoppen können. Ich befürchte, daß in Glastonbury zahlreiche Menschen sterben werden, denn die Rache dieser drei Frauen wird fürchterlich sein. Im Verein mit der Schlange werden sie alles vergessen, das mußt du mir glauben.« »Trotzdem müssen wir etwas tun!« Anna beharrte auf ihrem Standpunkt. Noch vor Minuten hatte sie sich unwohl gefühlt. Das war jetzt vorbei. Sie hatte den Eindruck, als wäre durch ihren Körper ein Kraftstrom gelaufen, der sie wieder aufgerichtet hatte. So etwas wie die Energie der Jugend war zurückgekehrt. Der Pfarrer hatte beinahe aufgegeben, nur wollte sie das nicht hinnehmen. Sie stand auf. »Herr Pfarrer, wenn wir nichts tun können, gibt es trotzdem noch eine Möglichkeit. Lassen Sie uns in die Kirche gehen und gemeinsam beten.« Er lächelte Anna an. »Was du da gesagt hast, habe ich mir gewünscht, es jedoch nicht zu hoffen gewagt. Ja, du hast so recht. Wir müssen etwas tun, deshalb möchte ich dich bitten, an meiner Seite zu bleiben. Ich werde auch nicht mehr in meinem Bett liegenbleiben. Bitte, tu mir einen Gefallen und hol mir die Kleidung aus dem Schrank.«
»Gern.« Sie machte sich schon auf den Weg. »Aber welche? Ihre Soutane?« »Ja, die.« Die Türen des Kleiderschrankes quietschten, als sie geöffnet wurden. Anna kannte sich aus. Sie brauchte kein Licht und fand auch im dunklen Schrank zielsicher diejenigen Dinge, die sie dem Geistlichen reichen wollte. Die Hose, ein Hemd, die Soutane, an der auch ein Rosenkranz befestigt war. Sie ließ die Perlen über die Haut ihrer rechten Handfläche gleiten und hatte den Eindruck, kleine Eiskörner zu spüren, die zentimeterweise weiterwanderten. »Geh währenddessen hinaus«, bat der Geistliche, bevor er die Bettdecke zurückschlug. Anna verschwand. Leise schloß sie die Tür hinter sich. Im Halbdunkel des Flurs blieb sie stehen. Alle Gegenstände wirkten bei diesem Licht anders als sonst. Selbst das große Kreuz an der Wand war zu einem bedrohlichen Schatten geworden, und die Kommode wirkte wie ein Untier, das sich in die Hocke gedrückt hatte, um einen Moment später wieder in die Höhe zu springen. Die Fläche des alten Spiegels neben den auf Holz angebrachten Garderobenhaken zeigte einen sehr matten Glanz. Es war schwer, sich bei diesen Lichtverhältnissen darin wieder zu erkennen. Hatte der Pfarrer mit seinen Befürchtungen recht, oder hatte er sich alles zusammengesponnen? Am liebsten wäre Anna die zweite Möglichkeit gewesen, nur konnte sie daran nicht so recht glauben, denn die beiden Männer aus London waren ja nicht grundlos hier in Glastonbury erschienen. An diesen Befürchtungen mußte wohl etwas Wahres daran sein. Zudem lebten sie in einem Ort, der sowieso von Geheimnissen und Rätseln durchweht wurde und selbst nicht in diese Zeit hineinpaßte, sondern besser in der Vergangenheit seinen Platz gehabt hätte. »Anna…« Diesmal öffnete die Frau schnell die Tür. Pfarrer Ingles hatte sich bereits umgezogen. Als die Frau das Zimmer betrat, strich er die letzten Falten seiner Soutane glatt. »Ist alles in Ordnung?« »Bisher ja.« »Sollen wir etwas tun? Und wenn, bleibt es dann dabei, was wir abgemacht haben?« »Du denkst an die Kirche.« »So ist es.« »Es kann nicht schaden, Anna, wir werden ihr einen Besuch abstatten. Vielleicht schafft das Gebet endlich die Klarheit, die wir bekommen müssen.« Er drehte sich um und warf einen letzten Blick auf das
Fenster. Anna stand hinter ihm. Sie war selbst innerlich verunsichert und in Gedanken versunken. Aber ihr fiel trotzdem auf, daß sich die Haltung des Pfarrers straffte. Er stand unbeweglich! Er war so anders, denn so konnte sich kein normaler Mensch verhalten, falls es nicht irgendeinen Grund dafür gab. Der Pfarrer wirkte zudem so, als wäre er für gewisse Dinge nicht ansprechbar, und sein Blick blieb nach wie vor starr auf das Fenster gerichtet. Dort mußte er etwas sehen… Anna war nicht die Mutigste. Jetzt aber wuchs sie über sich selbst hinaus, als sie langsam vorging, um dem Pfarrer zur Seite zu stehen. Und das nicht nur im wörtlichen Sinne, denn sie stoppte an seiner rechten Seite. Anna war ziemlich klein. Zwar konnte sie durch die Scheibe schauen, aber nicht alles überblicken, was sich vor der Tür ereignete. Sie mußte sich schon auf die Zehenspitzen stellen, noch besser wäre ein Stuhl gewesen. Bevor sie sich für diese Möglichkeit entschied, hörte sie das Flüstern des Pfarrers. Seine Worte waren nur schwer zu verstehen, aber sie hatten Gewicht. »Sie… sie… ist gekommen. Sie hat die Tiefe der Hölle verlassen. Die Schlange ist da…« Anna schrak zusammen. Die Schlange also. Sie hatte ihren Weg gefunden, aber sie selbst konnte sie nicht sehen, deshalb kletterte sie auf einen Stuhl. Jetzt war die Sicht gut. Einen Moment später bereute sie den Entschluß. Was sie sah, war furchtbar, und sie mußte dem Pfarrer recht geben. Das Böse hatte sich manifestiert. Genau dort, wo die alte Buche stand, sah sie etwas, das sie an einen zweiten, grün eingefärbten Stamm erinnerte. Nur bewegte sich dieser Stamm, und er bestand auch nicht aus Holz, sondern war der Körper einer Riesenschlange, aus deren Maul feuriger Dampf zischte. Der Drache war gekommen, um die ganze Welt zu vernichten! *** Ich hatte etwas übertrieben oder auch angegeben, denn beim ersten Versuch fand ich die alte Abtei nicht. Dafür gerieten wir etwas außerhalb des Ortes und konnten in die weite Moorlandschaft hineinschauen, in der Torf gestochen wurde. Wir sahen auch die langen Schienenstränge und die flachen, barackenähnlichen Bauten, in denen die mächtigen Torfballen lagerten und auch trockneten.
Auch zu dieser Zeit arbeiteten die Menschen noch. Sie nutzten eben das gute Wetter aus. Über ihnen schwebte der ewige Dunst wie ein nie reißen wollendes Netz. Suko hatte nicht viel gesagt, jetzt aber warf er mir einen bezeichnenden Blick zu. »Ja, ja, ich weiß, ich habe mich verfahren.« »Wie schön. Wie geht es weiter?« »Zurück.« Ich legte den entsprechenden Gang ein und drehte den BMW, dessen Reifen über den weichen und an vielen Stellen feuchten Boden schmatzten. Eine scharfe Kurve, das andere Einschwenken, dann hatte ich wieder die normale Richtung erreicht. Ich dachte noch einmal nach und kam zu dem Entschluß, daß wir nicht mehr durch das Dorf fahren mußten. Wir konnten es umrunden. Eine normale Straße gab es da nicht. Wir schaukelten über einen Feldweg, sahen Obstgärten, die vielen Sommerblumen blühten, und wir bekamen einen freien Blick dorthin, wo das mächtige Tor auf dem Hügel stand. Wegen des Dunstes zeichnete es sich nicht zu klar ab, aber wir sahen, daß es leer war. Die in den Hügel eingegrabene Treppe war menschenleer, und das mächtige Bauwerk hob sich mit seiner Sandsteinfarbe sehr deutlich vor dem satten Grün des Bodens ab. »Dort sind sie noch nicht angekommen«, murmelte Suko. »Oder schon hindurch.« »Glaubst du das?« Ich hob die Schultern. »In diesem Fall weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. Ich habe sogar das Gefühl, einem Dreier-Phantom nachzurennen.« »Weshalb?« »Weil wir bisher keine dieser drei Frauen zu Gesicht bekommen haben. Das ist schon außergewöhnlich.« »Denke ich auch.« »Mir wäre es am liebsten, dieser Fall würde sich als Seifenblase entpuppen, als großer Bluff.« »Warum?« »Ich kann es dir nicht sagen.« Suko schwieg, zeigte aber aus dem linken Fenster und meinte damit ein Bauwerk. Es sah nicht so aus wie das Tor zu Avalon, und es war auch kein Bauwerk im eigentlichen Sinne, sondern eine ziemlich mächtige Ruine, die auf der grünen Wiese ihren Platz gefunden hatte und da ziemlich frei stand, weil keine Schatten irgendwelcher Bäume gegen sie fielen. »Das ist die ehemalige Abtei von Glastonbury«, sagte ich. »Ich dachte es mir.«
Um sie zu erreichen, drehte ich das Lenkrad nach links, dabei kamen wir vom eigentlichen Weg ab, doch ein BMW mußte auch über ein Stück Gelände fahren können. Die Mauern schimmerten hell, als wären sie vor kurzer Zeit noch mit einem Bleichmittel behandelt worden. Wo einmal die Fenster in der noch vorhandenen Außenmauer gewesen waren, befanden sich nun mächtige Löcher, die als Eingänge dienten. In der Nähe dieses großen Restes lagen ebenfalls Steine auf dem Boden. Wahrscheinlich hatten sie früher einmal die Nebengebäude gebildet, jetzt waren sie nur mehr bleiche Haufen unterschiedlicher Höhe. Allerdings sahen wir auch Formationen, die wie mit dem Lineal gezogen mehrere verschieden große Grundrisse bildeten und sich von der grünen Farbe des Untergrunds abhoben. »Fahr so dicht ran wie möglich.« »Das hatte ich auch vor.« Es war nicht sehr einfach, weil ich doch immer Hindernissen ausweichen mußte, die sich uns einfach in den Weg stellten. Meist waren es größere Steine. Über allem lag ein Himmel, der leider keine blaue Farbe aufzuweisen hatte, sondern grau und schraffiert wirkte. Ein Himmel wie Schiefer, auf dem die Wolken nur schwerlich auszumachen waren. Ich ließ den Wagen in der Nähe der Ruine ausrollen, wo uns auch keine Hindernisse störten. Als wir ausstiegen, umgab uns eine Stille, die mir nicht gefiel. Auch Suko zog ein bedenkliches Gesicht. »Darf ich fragen, was du hast, Alter?« Er ging um den Wagen herum. »So genau kann ich es dir nicht sagen, aber ich habe eher den Eindruck, daß wir zu spät gekommen sind. Die waren schon hier.« Er suchte in den folgenden Sekunden, ohne jedoch Spuren zu entdecken. Ich deutete auf die große Ruine. »Wenn es überhaupt einen Ort gibt, wo sie sich getroffen haben, dann dort. Dort sind sie zwar nicht sicher, aber trotzdem geschützt vor neugierigen Blicken.« Er nickte mir zu. »Okay, schauen wir uns um. Allmählich bin ich es nämlich leid, immer hinterherzurennen.« Uns drohte keine sichtbare Gefahr, deshalb näherten wir uns so zielstrebig wie möglich dem Bau. Die Luft roch noch immer. Sie war auch leicht nebelverhangen, aber das gehörte eben hierher. Es war egal, durch welches Loch in der Mauer wir eintraten. Eines fiel uns beiden doch auf. Wir befanden uns noch nicht im Innern, als der kühle Hauch gegen uns wehte. »Das ist nicht normal«, sagte Suko, dabei voraussetzend, daß ich das gleiche dachte wie er. Wir nahmen verschiedene Eingänge und trafen uns im Hauptbau der alten Abtei wieder.
Obwohl sie zum größten Teil zerstört war, wunderten wir uns schon über die Ausmaße. Sie stand seit Jahrhunderten leer, sie war verfallen, so hatte die Natur wieder zu ihrem Recht kommen können, und sie hatte es sich auch genommen. Der Untergrund war mit dichtem Gras und höher wachsendem Unkraut bedeckt. Dazwischen lagen die Steinbrocken wie hellschimmernde Inseln. Die Wände zeigten an den Innenseiten große Risse, hin und wieder auch breite Spalten, in denen sich kleinere Tiere hervorragend verstecken konnten. Nichts aber bewegte sich zwischen diesen Mauern, uns einmal ausgenommen. Wir hatten auch darauf verzichtet, die Waffen zu ziehen, denn beide dachten wir daran, daß alles vorbei war. Zu spät gekommen. Suko hatte sich von mir entfernt. Er war auf die Südseite zugegangen, wo die alten Mauern nicht mehr so hoch waren und schräg abliefen. An ihrem oberen Rand waren sie teilweise zusammengebrochen, die Reste lagen neben ihnen. Suko blieb stehen. Dann rief er mich. Ich drehte mich um und sah ihn heftig winken. »John, komm her, hier ist es.« Ich eilte zu ihm, stolperte unterwegs, fluchte und hielt mich auf den Beinen. Suko stand relativ entspannt vor seiner Entdeckung. Er hatte die Arme angewinkelt und seine Hände als Fäuste in die Seiten gestemmt. Den Kopf hielt er etwas gesenkt, um das genau betrachten zu können, was sich vor seinen Füßen ausbreitete. Es war ein Loch in der Erde, ein mächtiges Loch sogar. An den Rändern nicht glatt, sondern aufgerissen und ziemlich gezackt, so daß der Vergleich mit einer Spiegelscherbe zutraf. »Was sagst du, John?« Ich hob die Schultern. »Hat hier jemand gegraben?« Mein Freund schüttelte den Kopf. »Danach sieht es nicht aus. Das Gegenteil ist der Fall, denke ich mal. Es muß jemand aus der Erde hervorgekommen sein. Er hat sich regelrecht in die Höhe gewühlt. Wer immer das auch war, ein Mensch kann es bestimmt nicht gewesen sein. Auch nicht zwei oder drei.« Ich beugte mich nach vorn. Die Hände legte ich flach auf die Oberschenkel. Sehr genau besah ich mir die Öffnung und kam letztendlich zu dem Entschluß, daß sich Suko nicht geirrt hatte. Diese trichterförmige Öffnung sah tatsächlich so aus, als wäre sie von unten her geschaffen worden. Nur hatte ich keine Erklärung. Ich richtete mich wieder auf, schaute Suko an, der ebenso ratlos wirkte wie ich. »Nichts?« fragte er. »So ist es.«
»Frage. Was könnte es denn sein?« »Ich kann dir sagen, was es nicht ist. Ich glaube nicht, daß die drei Frauen aus der Tiefe der Erde an die Oberfläche gekrochen sind. Nein, das muß eine andere Bedeutung haben.« »Wer könnte es dann gewesen sein?« »Im Raten war ich nie gut, aber erinnere dich mal an die Worte des Pfarrers. Er hat das Böse gespürt, aber er hat es nicht so direkt mit den drei Frauen in Verbindung gebracht, wie wir es taten. Er dachte da an etwas anderes.« »Das Böse, die Schlange, John.« Er verengte seine Augen. »Oder soll ich sagen, der Teufel?« »Nein, die Schlange reicht.« »Sie kam aus der Erde. Sie hat sich immer versteckt gehalten. Sie ist einmal in den Staub getreten worden, als der Erzengel Michael sie besiegte, sie war dazu verflucht, sich nur am Boden kriechend bewegen zu können, und sie hat sich die entsprechenden Verstecke gesucht, auch in der Erde.« »Alles richtig.« »Was stört dich trotzdem?« Ich strich über mein Kinn, weil ich Zeit brauchte, die beste Formulierung zu finden. »Mich stört, das gebe ich gern zu, eigentlich die Verbindung der Schlange zu den drei Frauen.« »Komisch ausgedrückt.« »Okay, ja. Ich sage es anders. Was hat die Schlange, das Böse, mit den dreien zu tun? Schon damals, als sie verflucht wurden? Oder erst später, als sie in der Verbannung existierten und nach einer Chance suchten, ihr zu entkommen.« »Ich tippe eher auf die letzte Möglichkeit. Sie werden sich einen Verbündeten gesucht haben. Meinetwegen den Teufel, und er kam ihnen in der Gestalt der Schlange doch sehr entgegen. Er will zeigen, daß das Urböse existiert und daß es möglicherweise durch ihn wieder mächtig geworden ist. Daß es auch andere Verbindungen eingehen kann, über die wir sonst nie nachgedacht haben.« »Asmodis als Schlange«, murmelte ich. »Ist das so unwahrscheinlich?« »Nein, wie wir ihn kennen, nimmt er jede Gestalt an. Es gefällt mir nur nicht, daß er sich einmischt. Er wird die verdammten Furien noch stärker gemacht haben.« »Irgendwann einmal möchte ich sie auch zu Gesicht bekommen«, sagte Suko. »Bisher theoretisieren wir nur mehr herum. Ich bin allmählich sauer geworden.« »Okay, laß uns gehen.« Ich drehte mich um und ging bereits voraus. Hinter mir hörte ich Sukos hastige Tritte. »Wo willst du denn hin, Alter? Das hat sich zielstrebig angehört.«
Ich verließ durch das Fensterloch in der Wand die Abtei. »Die Schlange suchen und damit auch die drei Weiber.« »Hast du eine Idee?« Nein, die hatte ich nicht. Oder keine gute. Es war mehr Spekulation. »Wohin werden sie sich wenden?« »Avalon – das Tor.« »Eben.« Suko öffnete bereits die Wagentür. Er setzte sich jetzt auf den Fahrersitz. »Rein mit dir, die Strecke habe ich mir gemerkt. Das packen wir schon.« Wenig später hatte er Gas gegeben. Diesmal fuhren wir schneller. Unterwegs begegneten uns einige Arbeiter, die aus dem Torf kamen. Sie sprangen erschreckt zur Seite, als wir dicht an ihnen vorbeifuhren. Im Rückspiegel sah ich, wie sie hinter uns herschimpften. Suko stoppte heftig. Ich wurde nach vom in den Gurt gedrückt, löste ihn und stieg aus. Es war ein idealer Platz. Nah und doch fern sahen wir den Hügel mit dem mächtigen Tor auf seiner flachen Kuppe. Wir sahen auch die breiten Stufen, doch niemand bewegte sich darüber hinweg, ausgenommen einige dunkle Vögel, die in der Luft ihre Kreise zogen. »Leer«, flüsterte Suko, »verdammt!« Ich schwieg. »Sind sie schon weg, John? Haben sie es geschafft, die Grenze zu überwinden?« »Keine Ahnung.« »Aber du müßtest es eigentlich wissen. Und du weißt auch, daß es nicht so einfach ist.« »Eben, nicht einfach.« Wir standen ratlos nebeneinander. Wir fühlten uns genarrt, von den Mächten des Bösen wie auf den Arm genommen. Ich kam nicht mehr zurecht, denn mir fehlte genau der Punkt, wo ich den Hebel ansetzen mußte. Ich kannte die Pläne nicht. Wenn sie Avalon nicht erreicht hatten, dann mußten sie sich noch irgendwo in dieser Gegend aufhalten. Davon ließ ich mich nicht abbringen. »Es kann noch nicht sehr lange her sein«, sagte Suko. »Vielleicht sind sie noch auf dem Weg.« »Ja, das denke ich auch.« »Deshalb sollten wir nachschauen.« »Wo, bitte?« »Im Ort selbst?« Mir rann ein Schauer über den Rücken. Diese Möglichkeit war nicht auszuschließen, und ich konnte einfach nicht lächeln, wenn ich daran
dachte, daß die Schlange und die drei gefährlichen Frauen mit Menschen zusammentrafen… *** Die Schlange war gekommen, und sie waren unterwegs. Yodana, Damana und Rogetta spürten plötzlich, wie wohl sie sich fühlten, unter dem Schutz des Bösen zu stehen. Er war wie ein Motor, der sie antrieb und dabei den Haß noch stärker in ihnen aufflammen ließ. Es war einfach ein gutes Gefühl, zu wissen, so gut wie unbesiegbar zu sein, und sie wollten es auch beweisen. Die Schlange konnte nicht normal sprechen, sie schaffte es dennoch, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, denn sie meldete sich auf dem Weg der Telepathie, und ihre Worte drangen in die Hirne der drei Frauen ein. Sie überdeckten dort deren eigene Gedanken, und das Böse führte sie fortan einem neuen Ziel entgegen. »Avalon läuft uns nicht weg. Wir sollten einen Versuch starten. Es gibt hier Menschen, die nicht auf unserer Seite stehen. Die noch immer beten, die in die Kirche gehen, die auch einen Pfarrer haben, der zu ihnen predigt. Wir sollten ihn, sein Haus und anschließend auch seine Kirche zerstören.« Die Worte träufelten wie Gift in das Bewußtsein der drei bösen Frauen. Und sie fielen auf fruchtbaren Boden, denn keine von ihnen machte Anstalten, sich dagegen zu wehren. Sie waren einverstanden. Noch standen sie in einem kleinen Waldstück, in dem sich Niedrighölzer ausgebreitet hatten. Zwischen den Zweigen hatten Spinnen ihre Netze gewoben und warteten auf frische Beute. Auch die drei Frauen kamen sich vor wie Spinnen, die ihre Netze ausgeworfen hatten, aber noch hatten sie die Beute nicht entdeckt. Sie standen zusammen. Die grüne, häßliche Riesenschlange mit dem großen Maul hatte ihren Körper zusammengeringelt und umgab die drei Frauen wie ein Schutzwall. Den Kopf leicht angehoben, die Kiefer geöffnet, aus dem sie einen zischenden Strahl hervorblies. Es klang wie ein Befehl. Die drei bösen Frauen nahmen ihn auch so auf. Sie gingen auf das Dorf zu. Und vor ihnen kroch wie ein Führer die Riesenschlange über den Boden… ***
Der Pfarrer und Anna, zwei völlig normale Menschen, standen zusammen und begriffen die Welt nicht mehr. Was Ingles befürchtet hatte, war tatsächlich eingetreten. Die schrecklichen Phantasien und Theorien waren zu einer grausamen Wahrheit geworden, das Böse hatte sein Reich verlassen, um einzudringen in die Welt der Menschen, wo es dann einen Vernichtungsfeldzug beginnen konnte. Anna stand noch immer auf dem Stuhl. Sie hatte die Schlange gesehen, und sie bemerkte auch, wie sich das monströse Tier vorbewegte und Kurs auf das Pfarrhaus nahm. Aber sie sah noch mehr. Aus dem Hintergrund erschienen drei Gestalten – Frauen… Seltsame Personen mit unterschiedlichen Haarfarben. Eine Blonde im weiten Kleid, eine Rothaarige halbnackt, und ein schwarzhaariges Geschöpf, das aussah, als würde es eine Maske tragen, denn so häßlich konnte kaum das Gesicht eines Menschen sein. Es waren die Freundinnen der Schlange, sie dienten ihr, sie waren die Bösen, die Gestalten, die auf dieser Welt nichts zu suchen hatten und besser ins Reich der Toten gehörten. Näher und näher kamen sie. Dabei waren ihre Blicke auf das Fenster gerichtet, und Anna wußte jetzt, wie sie das Haus betreten würden. Sie fing an zu zittern, sie wollte schreien und hatte zugleich den Eindruck, als würden ihre Füße von der Stuhlfläche abheben. Da half es auch nichts, daß sie sich noch an der Schulter des Pfarrers abstützte. Anna konnte nicht mehr auf dieser kleinen Fläche bleiben. Die Angst steigerte sich zur Panik. Ohne daß sie es eigentlich wollte, trat sie einen Schritt nach vorn. Zu weit, denn da war die Kante. Mit dem rechten Fuß rutschte sie ab. Eine siebzigjährige Frau kann nicht so schnell reagieren wie eine die erst dreißig Jahre zählte. Anna fiel, jetzt schrie sie auf, und dieser Laut vermischte sich mit dem Aufprall. Hart war sie auf den Boden gestürzt und hatte sich dabei die rechte Kniescheibe geprellt. Ein heftiger Schmerz durchzuckte das Bein, und sie merkte, daß der Schwung sie weitertrieb und sie auf den Bauch fiel. Anna schlug mit dem Kinn auf. Durch ihren Kopf zuckten die Stiche, sie stöhnte, versuchte trotzdem, sich aufzuraffen, aber das rechte Knie machte nicht mehr mit. Anna sank wieder zusammen. Jetzt erst handelte der Pfarrer. Auch Ingles war durch den Anblick geschockt gewesen, obwohl er ihn irgendwie erwartet hatte. Er konnte nicht genau sagen, wie das geschehen war, aber seine Ahnungen hatten ihn zuvor gewarnt. Er sah die Schlange und auch die drei Frauen.
Das war die Hölle! »Bitte…« Das klagend gerufene Wort der alten Frau riß Ingles aus seiner Erstarrung. Erst jetzt bemerkte er, daß Anna am Boden lag, er bekam einen heißen Schreck und schaute zu, wie sich die Frau zur Seite drehte und dabei auf ihr Knie deutete. »Ich kann nicht mehr hoch.« »Warte, ich helfe dir.« Er bückte sich und streckte dabei seine Hand aus. In seinem Innern drückte sich die Aufregung zusammen und verwandelte sich in einen wahren Fiebersturm, der ihn durchtoste. Er merkte, daß er zu schwach sein würde, um das Grauen zu stoppen, aber wollte Anna und sich retten. Es war zumindest einen Versuch wert. Beide Hände krallte er in ihre rechte Schulter. Dann zerrte er den Körper hoch und wunderte sich dabei, wie schwer die Frau war. Er taumelte dabei zurück und hütete sich davor, auch nur mit einem Blick das Fenster zu streifen. Noch war es ruhig… Anna half ihm mit. Sie stützte sich mit der linken Hand ab, kam dann hoch, wollte stehen, knickte mit dem rechten Bein ein und faßte sofort nach dem Pfarrer, um sich bei ihm abstützen zu können. Sie klammerte sich fest, atmete saugend die Luft ein und spürte den Druck der Tränen hinter ihren Augen. »Weg hier…« »Ich kann nicht laufen.« »Du mußt es versuchen. Ich halte dich fest.« Anna nickte. Der Pfarrer gab sein Bestes. Auch er war nicht besonders kräftig, doch er schaffte es, die Frau neben und halb hinter sich herzuschleifen. Wenn sie die Tür erreichten, konnten sie im Flur verschwinden und in einer anderen Richtung durchqueren, denn dann würden sie an die Hintertür des Pfarrhauses gelangen. Er ging langsam, aber er biß die Zähne zusammen. Anna trat nur mit dem linken Bein auf. Wenn sie das rechte belastete, hatte sie das Gefühl, ihr Knie würde explodieren. Da zersplitterte die Fensterscheibe. Es war im Prinzip ein normales Geräusch, den beiden allerdings kam es vor, als wäre damit das Tor zur Hölle geöffnet worden, um all die schrecklichen Wesen zu entlassen, die sonst im Feuer des Bösen schmorten und darauf lauerten, die Welt der Lebenden betreten zu können. Anna quittierte das Klirren der Scheibe mit einem Schrei. Der Pfarrer aber drehte sich um, er bekam noch mit, wie die rothaarige Furie ihre Lanze zurückzog, mit der sie das Glas durchbrochen hatte. Zugleich sah er noch etwas anderes.
Die verfluchte Höllenschlange hatte sich aufgerichtet wie nach den Flötentönen eines Beschwörers, und sie pendelte mit dem Kopf von einer Seite zur anderen, während aus ihrem Maul ein gefährlich klingendes Knurren drang, vermischt mit einem zischenden Feuerstrom, der wieder von dichten Rauchwolken begleitet wurde. Pfarrer Ingles wußte nicht, was er tun sollte. Und doch wuchs der Mann in dieser Situation über sich selbst hinaus. Er dachte plötzlich an seinen Rosenkranz, dem er immer vertraut hatte. Die Perlenschnur war an seiner Soutane befestigt. Er nahm sich nicht die Zeit, sie normal zu lösen, er riß den Kranz kurzerhand ab, sprach ein schnelles Gebet, ließ Anna liegen und lief todesmutig auf die Höllenschlange zu. Sie war dabei, sich auch noch mit ihrem Oberkörper in das Zimmer zu drängen, das wollte der Geistliche nicht zulassen. Noch einen Schritt lief er. Dann hob er den Arm, und als der Kopf mit dem offenen Maul nach vorn zuckte, schleuderte er seinen geweihten Rosenkranz tief in den Schlund hinein. »Ersticke daran, Satan! Ersticke!« Die Schlange schloß ihr Maul. In diesem Moment konnte der Mann in die Augen der Bestie schauen. Sie wurden plötzlich trübe, und mit einem Ruck zog sich die Schlange zurück. Ihr Kopf peitschte in die Höhe. Wieder riß sie dabei die beiden Kiefer auseinander, so daß der Pfarrer in diesen Schlund hineinblicken konnte. Feuer tobte in ihm, begleitet von grellen Blitzen. Es war ein anderes Feuer, als die Schlange es ausgespien hatte, denn dieses wirkte hell und zerstörend. Der Rosenkranz hatte sich in dem Gebiß der Schlange verhakt. Bevor sie wieder ihr Maul schloß und sich zurückzog, entdeckte der Geistliche eine Fratze in dem Maul. Dreieckig und widerlich, mit bösen Augen und einer zuckenden, gespaltenen Zunge. Dann war sie weg. Sofort drehte sich der Pfarrer herum. Anna lag auf dem Boden. Sie hatte sich halb aufgerichtet und zugeschaut, wie der Rosenkranz im Schlund der Schlange verschwunden war. »Ist sie jetzt tot?« »Ich hoffe es, komm!« Ingles mußte wieder helfen, sie auf die Beine zu zerren. Anna riß sich zusammen, doch sie schaffte es einfach nicht, normal zu gehen. Ihr Knie schmerzte zu stark. Von den drei Frauen sahen sie nichts. Der Geistliche riß hastig die Tür zum Flur auf, schaute noch einmal zurück, doch er fand die nahe Umgebung hinter dem Fenster leer. Weshalb ihn das beunruhigte, wußte er selbst nicht. Jedenfalls mußten sie weg, und er wollte mit Anna auch nicht den normalen Vordereingang
benutzen, sondern die Hintertür nehmen, denn sie führte in den Garten. Von dort aus würden sie ein Gelände erreichen, in dem sie sich verstecken konnten oder aber direkt zur Kirche laufen, denn sie würde ihnen Schutz bieten. Er zerrte die alte Frau weiter. Er machte ihr durch seine Worte Mut oder versuchte es zumindest. »Keine Sorge, wir schaffen es. Wir werden fliehen! Wir haben die Schlange und damit den Teufel besiegt, und wir werden auch die anderen schaffen.« Sie nickte. Ihr Gesicht war verzerrt. Es gelang ihr einmal, einen Blick auf ihr Knie zu werfen, und sie erschrak, als sie sah, wie stark die Kniescheibe angeschwollen war. Weiter, nur nicht aufhalten lassen. An der linken Seite machte der Flur einen Knick. Der Mann schaltete kein Licht ein, er fand sich auch im Dunkeln zurecht. An einer alten Truhe zerrte er die Frau entlang, er passierte die gerahmten Bilder, in denen die Fotos seiner letzten drei Vorgänger steckten, er sah dann die Hintertür wie einen düsteren Schatten inmitten der schlechten Beleuchtung. Nur noch wenige Schritte, dann war er da. »Ich kann nicht mehr!« keuchte Anna. »Du mußt!« Sie weinte. Es war dem Pfarrer egal. Auf sie Rücksicht zu nehmen, wäre falsch gewesen. Zum Greifen nahe lag die Tür vor ihnen. Der Geistliche brauchte nur seine Hand auszustrecken und sie nach innen zu ziehen. Damit war dann alles klar. Er kam nicht dazu. Eine andere Kraft hämmerte sie von außen her auf. So kraftvoll, daß Ingles seinen Kopf nicht mehr richtig zur Seite drehen konnte und er von der Kante gerammt wurde. Er taumelte zurück, ließ Anna los, die zu Boden fiel, und er sah noch, daß eine Frau auf der Schwelle stand. Es war die häßliche Damana! *** Wir saßen im Wagen und sprachen kein Wort. Suko, der ansonsten soviel um die Schonung seines Fahrzeugs gab, prügelte den BMW voran und jagte ihn über das Gelände hinweg, in dem es keinen Weg, keine Straße und keinen Pfad gab. Dafür Bodenwellen, manchmal Unterholz, aus dem kleine Bäume hervorwuchsen, die mit ihren Gestrüpparmen versuchten, nach unserem Fahrzeug zu greifen.
Sogar einen Graben »überflogen« wir. Dann landeten wir federnd auf einem schmalen Weg, und Suko zerrte das Lenkrad nach rechts, denn wir mußten in die Richtung fahren, in der das Pfarrhaus und auch die Kirche lagen. An ihrem Turm konnten wir uns orientieren. Der Weg führte uns nicht durch die Mitte des Ortes. Wir nahmen schmalere Straßen. Da sich Suko auf das Fahren konzentrieren mußte, hatte ich Zeit, aus dem Fenster zu schauen. Es war alles normal. Nichts wies darauf hin, daß die drei Frauen und auch die Schlange bereits die Kontrolle über Glastonbury bekommen hatten. »Jetzt nach links!« »Ich weiß.« Suko kurbelte am Lenkrad. Die Reifen wimmerten auf, als er die Kurve nahm. Der BMW schleuderte nicht, er lag wie ein rollendes Brett auf der Straße. Vor uns lag der freie Platz. Zwei Laubbäume reckten sich in den Himmel. Auf den ersten Blick sah alles normal aus, nicht auf den zweiten. Zwischen den Bäumen und nicht weit von einem zerstörten Fenster entfernt, ringelte, zuckte und peitschte etwas über den Boden. Es war ein lebender Gegenstand, momentan aber nicht zu erkennen, doch Sekunden später schon identifizierten wir ihn als Schlange. »Das ist sie!« Suko gab noch einmal Gas. Kurz danach bremste er plötzlich. Ich wurde zurück, dann nach vorn geschleudert, hämmerte gegen das Gurtschloß und war endlich frei. Wir fielen mehr aus dem Wagen, als daß wir sprangen. Wir zogen unsere Waffen. Um die Schlange zu erreichen, brauchten wir nur wenige Schritte zu gehen. Genau in diesem Moment schien sie einen neuen Energiestoß erhalten zu haben, denn sie schnellte mit dem vorderen Ende in die Höhe. Es sah aus, als würde sich ein breites Stück Gummiband aus einem Kreis lösen. Der Schädel war noch vorhanden, das Maul ebenfalls, die Schlange hatte es auch aufgerissen, aber in seinem Innern tobte ein Feuer, das nicht von ihr stammte. Es loderte, es knisterte, es brannte den Rachen aus, und aus den Augen quollen Rauchwolken, die widerlich stanken. Ich ließ die Beretta verschwinden. Suko hielt schon die Peitsche bereit, doch ich war schneller, denn ich hatte mein Kreuz. Damit ging ich gegen die Kreatur der Hölle an! Ob es der Satan in Verkleidung war, wußte ich nicht, aber ich konnte den Kräften meines Talismans durchaus vertrauen. Den rechten Fuß setzte ich dicht hinter den Schädel der Schlange und schaffte es, den Körper zu Boden zu drücken. Der Kopf schnellte trotzdem hoch, das Maul auch. Aber da war mein Kreuz.
Ich preßte es auf die Haut der Schlange, ungefähr zwischen die Augen, und ich brauchte es nicht einmal zu aktivieren. Die Kräfte des Lichts waren stärker, als das in der Schlange versinnbildlichte Böse. So etwas wie ein irrer, böser Schrei drang aus dem Maul des Monstertiers, und ich sprang zurück, weil sich der Schädel so hektisch wie die Rotorblätter eines Hubschraubers bewegte. Die Schlange starb. Suko und ich schauten zu, wie dieses widerliche Monstertier zerplatzte. Es war kaum zu fassen, daß sie einmal normal gelebt hatte. Wenn auch angetrieben durch eine teuflische Magie, denn sie wirkte auf uns wie ein Riesentier aus dem Kaufhaus. Sie sank zusammen. Verbrannt, schwarz, grau und. braun schimmernd. Nicht mehr als ein Klumpen. Wir gingen beide davon aus, daß sich Asmodis’ Geist aus diesem Körper zurückgezogen hatte. Eine Legende hatten wir zerstört. Noch gab es Avalons böse Schwestern. Und es gab die zerbrochene Scheibe, die darauf hinwies, daß sich der Pfarrer und die alte Frau in höchster Lebensgefahr befanden. Wir machten uns nicht erst die Mühe, die Eingangstür einzutreten, sondern kletterten durch das zerstörte Fenster in das Zimmer… *** Das Entsetzen fror Anna und den Pfarrer ein. Sie konnten nicht mehr fliehen! Deshalb auch dieser wahnsinnige Schock! Damana war bewaffnet. Sie hielt den Speer mit dem Aufsatz waagerecht, so daß die mit einer Maske verzierte Spitze geradewegs auf den Pfarrer und die Frau wies. Es war nicht die Waffe, die beide so störten, ihr Entsetzen galt dem Aussehen dieser Person. Aus der Nähe sah sie noch schlimmer aus, denn das war kein Gesicht mehr, es war nur noch ein bleiches Etwas aus schief zusammengenähter Haut. Der Mund stand offen, die Augen waren nur mehr starre Glotzer, und das schwarze Haar war wie eine bewegungslose Hut zurückgekämmt. Wie ein Roboter, schoß es dem Geistlichen durch den Kopf. Ein Geschöpf ohne Seele, eine Furie, der im Moment der Motor abgedreht worden war. Der Mund des Pfarrers bewegte sich. Er wollte der anderen Person etwas sagen, aber nur ein sehr rauhes Flüstern drang über seine Lippen. Worte waren nicht zu verstehen, zudem mischte sich das heisere Flüstern noch mit schmatzenden Speichelgeräuschen. Er wich zurück. Als er sich umschaute, sah er Anna noch immer am Boden liegen. Sie versuchte jedoch, aus der Gefahrenzone zu kriechen,
was ihr nur mühsam gelang, denn immer wieder rutschte sie mit dem verletzten Knie über den Boden. Die Frau gab ein unwilliges Knurren von sich. Es schien ihr nicht zu gefallen, daß jemand versuchte, die Flucht zu ergreifen. Deshalb ging sie auch vor. Sie kümmerte sich nicht um den Pfarrer, stieß ihn zur Seite, und Ingles prallte gegen die Wand. »Bitte nicht, bitte nicht…« Anna bat um ihr Leben. Sie hatte alles aus ihrer anderen Perspektive gesehen, und sie ahnte, daß sie Gnade nicht erwarten konnte. Damana ging schneller. Der Speer in ihrer Hand bewegte sich. Die Spitze sank nach unten, und plötzlich wies sie auf den Kopf der Frau. »Neiiinnn… neinnn…« Ihr Wimmern hätte eher einen Stein erweicht, als diese gräßliche Person. Sie und ihre Schwestern wollten den Sieg. Sie waren stärker, die Menschen mußten vor ihnen kuschen. Aufhalten konnte sie nichts. Anna hatte zwar versucht, sich aufzurichten, es war ihr nicht mehr gelungen. Sie lag flach auf dem Rücken, sah die Frau über sich und auch die Spitze der Lanze, die auf ihr Gesicht zielte. Ein kurzer Stoß, und es war um sie geschehen. In diesem Augenblick griff der Pfarrer ein. Auch er hatte die schreckliche Lage erkannt und seine Angst überwunden. Hier half ihnen der Herrgott nicht, sie mußten selbst etwas tun. Viel Kraft steckte in seinem alten Körper nicht mehr. Die wenige jedoch raffte er zusammen, als er sich abstieß und sich auf die Person zuwarf. Er hatte nur ihren Rücken gesehen, und gegen ihn prallte er. Gleichzeitig wischte er die Gestalt zur Seite, so daß sie tiefer in den Gang stolperte, sich dabei kreisend bewegte, und mit der Spitze des Speers über die Wände kratzte. Der Pfarrer wunderte sich darüber, an was er in diesen Sekunden alles dachte. Er hätte sich eigentlich auf die schreckliche Person konzentrieren müssen, in Erinnerung geblieben war ihm die Berührung des Körpers. Ein erster Kontakt, den er nie vergessen würde, denn nie hatte er eine derartige Haut berührt. Es war keine Haut, das mußte ein anderes Material sein. Wie kaltes, klumpiges Fett hatte sie sich angefühlt, einfach widerlich für ihn. Damana hatte sich schnell gefangen. Ihre starren Glotzaugen nahmen das Bild auf, das sich ihr bot. Der Pfarrer versuchte, die liegende Frau anzuheben, und Anna quälte sich sehr, um dem Mann die nötige Unterstützung zu geben. Sie selbst stützte sich noch an der Wand ab, weil sie in die Höhe kommen wollte. Ingles hätte längst fliehen können, das wollte er nicht. Ohne Anna würde er… Seine Gedanken brachen ab.
In seinem Rücken hatte er das scharfe Geräusch gehört. Er drehte den Kopf und sah die Frau. Doch hinter ihr bewegten sich zwei Schatten. Sein Atem stockte. Ein Trugbild, ein Wunschtraum, der nur als Halluzination zu erkennen war? Nein, die beiden Männer waren echt. John Sinclair und der Chinese! Wir hatten Furcht davor gehabt, nicht mehr zur rechten Zeit einzutreffen, doch diese Furcht war unbegründet gewesen. Im Zimmer war nichts zu sehen gewesen, bestimmte Geräusche hatten uns in den Flur getrieben, und hier sahen wir die gräßliche Furie, den Pfarrer und die alte Frau, die am Boden lag und leise vor sich hinwimmerte. Wir starrten auf den Rücken der Person, die bewaffnet war, aber ihren Speer nicht schleuderte. Den Grund konnten wir nur erraten. Wahrscheinlich hatte sie uns gehört und war eben durch unser Kommen von der eigentlichen Aufgabe abgelenkt worden. Wir hatten unsere Waffen gezogen. Zwei Mündungen richteten sich auf den Rücken der Person. Noch schössen wir nicht, denn wir wollten sie von vorn sehen. Der Pfarrer und auch Anna verhielten sich ausgezeichnet. Beide rissen sich zusammen, sie drehten nicht durch, aber Ingles zumindest hatte uns gesehen. Er lächelte zuckend. Genau diese Bewegung war auch von der Frau verfolgt worden. Sie hatte ihr nicht gefallen können. Die Lanze sank nach unten, sie durfte sie bei der Drehung nicht behindern, und die erfolgte sehr schnell. Plötzlich starrten wir sie an und sie uns. In diesem Flur herrschten wahrlich nicht die besten Lichtverhältnisse. Sehr detalliert sahen wir die Frau nicht, aber was wir zu Gesicht bekamen, das reichte. Es war kein normaler Mensch der vor uns stand, dieses Wesen konnte als eine Mischung zwischen Mensch und Monstrum angesehen werden. Das Gesicht erinnerte mich beinahe an das eines Fisches. Die Gestalt glotzte uns an, und ihr Mund stand offen, als wollte sie nach Luft schnappen. »Wer bist du?« Sie reagierte nicht auf meine Frage, aber in den Augen loderte eine gewisse Bösartigkeit, sie und der Haß auf alles Lebende hatten sich gesammelt und mit einem irren Schrei auf den Lippen explodierte die Person förmlich. Ihre Lanze wurde zu einem tödlichen Gegenstand. Es war schwer für uns, in der Enge des Flurs auszuweichen, und so blieb uns nur die Chance einer schnellen Kugel.
Sicherheitshalber ließen wir uns auf die Knie fallen. Da hatten die beiden Kugeln die Waffen schon verlassen, und sie schlugen in den blassen Körper ein, während die Waffe über unserem Kopf hinwegtrudelte und irgendwo im Hintergrund zu Boden schlug. Zwei Löcher hatten die Kugeln im Körper der Frau hinterlassen. Da war die bleiche Haut regelrecht aufgerissen worden, so wie bei einem Menschen, aber trotzdem anders. Große Löcher mit gezackten Rändern. Kein Blut, dafür eine wäßrige Flüssigkeit, die schwerfällig aus den Wunden sickerte und dabei über die Ränder hinwegquoll. Sie war kein Mensch mehr, und sie reagierte auch nicht wie ein Mensch. Zwar brach sie in die Knie, doch nicht ein Laut drang aus dem noch immer weit geöffneten Mund. Starb sie lautlos? Sie kniete jetzt breitbeinig, damit sie auch den nötigen Halt fand. Und dann geschah etwas Furchtbares. Die Frau oder das Wesen zerstörte sich selbst. Es riß sich auseinander, es rammte seine Finger in den weichen Körper, in das Gesicht, in die Augen, den Mund, die Nase. Sie war von einer wilden Zerstörungswut gepackt, die auf unsere Kugeln zurückzuführen war. Das geweihte Silber mußte den einen Mechanismus in Gang gesetzt und den anderen zerstört haben, und ihre Hände wirkten dabei wie Peitschenhiebe. Sie hörten einfach nicht auf. Kein Tropfen Blut spritzte. Sie war auch nicht ausgetrocknet. Eine andere Flüsssigkeit durchlief das faulige Muskelgewebe, die Adern und noch einiges mehr. Zudem breitete sich ein widerlicher Gestank aus, der kaum zu beschreiben war. Kein Leichengeruch wie bei einem Ghoul, mehr ein scharfes Brennen ohne den nötigen Rauch. Wir wollten nicht hinschauen, waren auch nicht untätig geblieben. Suko hatte sich sofort um die alte Frau gekümmert. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht bemerkt, wie Suko sie auf seine Arme gehoben hatte, auf denen sie noch immer lag. Sie erinnerte dabei an ein kleines Kind, das sich bei seinem Beschützer wohl fühlte. Er war schon aus meiner Nähe verschwunden und hielt sich in dem Zimmer mit dem zerstörten Fenster auf. Ich kümmerte mich um Ingles. Der Pfarrer stand noch immer unter Schock. Wahrscheinlich begriff er nicht, was da passiert war. Er reagierte auch nicht auf meine Ansprache. Deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu holen. Ich zerrte ihn an dem vorbei, was einmal diese Person gewesen war und nun nichts mehr mit einem Menschen zu tun hatte.
Der Geistliche folgte mir wie ein kleines Kind. Ich hielt ihn an der Hand gefaßt. Bevor der Flur den Knick machte, schaute ich noch einmal zurück. Sie lag noch immer am Boden. Sie dampfte, sie war ein widerlicher Klumpen, und etwas schockte mich zutiefst und grub sich auch in mein Gedächtnis ein. Aus dem Klumpen hervor schauten zwei Hände. Das heißt, ich sah eigentlich nur die nach oben gerichteten Finger, die Gelenke waren in der Masse verschwunden. Ich umrundete die Ecke. Als wir das Zimmer betraten, wartete Suko schon auf uns. Er war sehr wachsam und hatte die Beretta nicht aus der Hand gelegt, denn schließlich waren die Frauen zu dritt gewesen. Entdecken konnten wir die beiden anderen nicht. Suko hatte Anna auf das Bett des Pfarrers gelegt. »Was ist mit ihr?« fragte ich. »Sie hat sich am Knie verletzt und wird Mühe haben, auch nur zwei, drei Schritte normal zu laufen.« »Sonst nichts?« »Nein«. Suko warf dem Pfarrer einen schnellen Blick zu. Ich verstand das Zeichen und schaute ebenfalls hin. Der Mann stand neben mir, noch immer durch mich gehalten. Ich spürte seine Hand unter der meinen. Auch das leichte Zittern blieb mir nicht verborgen. Ingles schien nicht mitbekommen zu haben, daß es keine direkte Gefahr mehr für ihn gab. Er schwieg, atmete schnell und schnappend. Wie ein kleines Kind führte ich ihn zur Seite und sorgte dafür, daß er sich auf einen Stuhl setzte, wobei ich beruhigend auf ihn einsprach und zum erstenmal von ihm eine Reaktion erfuhr. »Die Schlange ist hier bei uns gewesen. Der Teufel hat es versucht. Das Böse kam…« »Er ist vernichtet, glauben Sie mir.« »Ich habe meinen Rosenkranz geopfert. Ich habe ihn der Schlange ins Maul geworfen…« Mir wurde einiges klar. Deshalb war sie schon geschwächt gewesen, als wir trafen. Ansonsten hätten sie uns bestimmt einen härteren Widerstand entgegengesetzt. »Okay«, flüsterte ich. »Gratuliere. Das Böse hat nicht siegen können, auch die häßliche Frau nicht. Sie ist ebenfalls tot.« Ingles nickte. Dabei fragte ich mich allerdings, ob er überhaupt begriffen hatte, was ich ihm mitteilen wollte. »Aber es muß weitergehen. Sie ist nicht allein gekommen. Es gibt noch zwei Schwestern, das wissen Sie…?« »Ja…« »Haben Sie die drei gesehen?«
»Einmal.« »Wo?« Ingles hob mit einer müden Bewegung die Hand und wischte über seine Augen, als wollte er sein Erinnerungsvermögen zurückholen. »Sie sind zusammen aus der Schlange gekommen, und sie haben sich hier vor dem Fenster gezeigt. Dort haben sie gelauert, sie warteten, sie wollten an uns heran, sie wollten unser Leben…« »Und weiter?« »Bitte«, flüsterte er und senkte den Kopf. »Ich kann nicht mehr denken, ich…« »John, ich schaue mich um.« Suko stand schon an der Tür. »Ich werde das Haus unter die Lupe nehmen. Vielleicht habe ich Glück. Bleib du bei den beiden hier.« Einen Widerspruch ließ er nicht zu, mit dem nächsten Schritt war er schon aus dem Zimmer verschwunden. Dafür hatte sich der Pfarrer erhoben. Wie ein Schlafwandler ging er auf das schmale Waschbecken zu. Er ließ Wasser in ein Glas laufen, trank aber noch nicht, sondern stellte sich vor das zerstörte Fenster, schaute hinaus und ließ das Wasser in seine Kehle rinnen. Er trank in kleinen Schlucken, leerte das Glas, drehte sich dann um, und ich sah, daß seine Bewegungen wieder normaler geworden waren. Er hatte sich gefangen und kehrte zurück in die Normalität. Anna sprach ihn an. Er setzte sich auf die Bettkante, nahm ihre Hand und lächelte. Dann erklärte er ihr, daß das Böse nicht gewonnen hatte. Sie waren stärker gewesen. »Es ist schön«, flüsterte Anna. »Es ist so schön zu wissen, daß es nicht uns…«, sie weinte plötzlich, und der Pfarrer legte beide Hände gegen ihre Wangen. Ich verließ den Raum. Nicht nur aus Pietät, sondern weil ich sehen wollte, was mit dieser Person, die einmal wie eine Frau ausgesehen hatte, geschehen war. Es lagen Reste am Boden. Undefinierbar, einfach widerlich und auch kaum zu beschreiben. Der Begriff Klumpen hätte am besten gepaßt. Achselzuckend drehte ich mich wieder um, weil ich Tritte gehört hatte. Suko kam die schmale Treppe herab. Sein Gehen hörte sich völlig normal an. Er schien nichts Schreckliches oder Außergewöhnliches entdeckt zu haben. Wir trafen vor der Treppe zusammen, und ich schaute ihn fragend an. »Na, was ist?« Er legte eine Hand auf das Geländer. »Deine Frage, John, erübrigt sich. Nichts zu sehen. Da oben ist alles klein, aber völlig normal. Ich habe nicht einmal Spuren entdeckt, das heißt, die beiden anderen sind nicht in das Haus eingedrungen.«
»Sie waren hier«, murmelte ich. »Das weiß ich von Ingles. Zusammen mit der Schlange.« »Mit wem auch immer, jetzt sind sie weg. Ich habe auch aus verschiedenen Richtungen aus dem Fenster geschaut und sie nicht gesehen. Keine Spur hier in Glastonbury.« Das sah ich als positiv an. Wenn ich daran dachte, was bei einem Amoklauf durch den Ort ihrerseits geschehen konnte, wurde mir schon mulmig. Wer immer sich ihnen in den Weg stellen würde, sie würden ihn vernichten. Wir gingen zurück in das Zimmer. Der Pfarrer hatte sich wieder erholt. Zusammen mit Anna betete er. Als er uns sah, drehte er sich um, ließ die Hände aber noch gefaltet. »Der Herrgott hat uns heute erneut das Leben geschenkt«, sagte er, »und dafür müssen wir ihm dankbar sein.« »Da haben Sie recht.« »Aber Sie sind nicht zufrieden, Mr. Sinclair.« »Das bin ich keineswegs.« Ich hatte mich verkehrt herum auf einen Stuhl gesetzt und die Arme auf die Lehne gelegt. »Ich kann gar nicht zufrieden sein.« »Warum nicht?« »Denken Sie an die beiden anderen Frauen.« »Sony, die hätte ich fast vergessen. Das Böse hat sich geteilt, die Schlange hat es geschafft.« »Sie gibt es zum Glück nicht mehr. Der Teufel ist nicht mehr ihr Begleiter.« »Wie Sie das sagen, läßt darauf schließen, daß die Frauen ein neues Ziel haben.« »Richtig.« Der Pfarrer hustete sich die Kehle frei. »Ich brauche nicht lange zu raten und nehme an, daß es sich dabei um die Nebelinsel Avalon handelt. Sie wollen an das Tor.« »Davon gehe ich aus.« »Man wird sie doch nicht einlassen«, sprach er schnell weiter. »Das denke ich.« »Da wäre ich mir nicht so sicher. Man hat sie stark gemacht. Auch wenn sie nicht mehr von der Schlange begleitet werden, kommen sie an dieser Tat nicht vorbei.« »Man muß sie aufhalten.« Ich stand wieder auf. »Sehr richtig, Herr Pfarrer. Suko und ich werden uns auf den Weg machen, wobei ich nicht denke, daß Ihnen beiden noch eine große Gefahr droht. Allerdings könnten Sie das Haus auch verlassen und sich verstecken. Es wäre sogar besser…« »Anna kann nicht laufen.« »Holen Sie einen Arzt.«
»Ich werde daran denken. Aber wir bleiben hier. Manchmal helfen auch Gebete.« »Das hoffe ich.« Wir hatten es jetzt eilig. Suko wartete bereits vor der Tür. Er stand dort, wo die Schlange verbrannt war. Ein verkohlter Fleck hatte sich in den Rasen gegraben wie ein Andenken. »Alles ruhig?« fragte ich ihn. »Zumindest in Glastonbury. Ich habe nichts gehört, was auf eine neue Untat der Schlange hindeutet.« »Dann laß uns verschwinden.« Er hielt mich am Ärmel fest. »Du willst versuchen, durch das Tor zu gehen?« »Sollten sie es geschafft haben, werden auch wir es packen. Avalon muß sich uns einfach öffnen. Zudem denke ich an Nadine Berger. Sie ist es doch gewesen, die mich gebeten hat, die Personen zu stoppen. Sie kann sich nicht so unkooperativ zeigen.« »Wir werden sehen.« Es klang so, als hätte ich Suko nicht überzeugt. Diesmal fuhr ich wieder. Suko saß bedrückt und schweigend neben mir. Der Himmel verdunkelte sich allmählich, die Dämmerung war im Vormarsch. Hoffentlich kein schlechtes Omen… *** Sie hatten den Tod ihrer Freundin nicht gesehen, aber trotz allem erlebt. Das Band zwischen ihnen existierte nach wie vor, und sie mußten Damanas Leiden miterleben, das ihrem Ende vorausging. Sie hatte irrsinnige Schmerzen gespürt, diese Folter übertrug sich auch auf die beiden anderen Frauen, die es deshalb nicht mehr schafften, sich auf den Beinen zu halten, auf dem Boden lagen und sich krümmten. Sie durchlebten den Horror ihrer »Schwester« bis zu deren Tod. Plötzlich war es vorbei, und sie erinnerten sich an die Vernichtung der Schlange, die sie ebenfalls geschwächt hatte. Zwei Frauen nur mehr. Yodana und Rogetta. Geschwächt, aber trotzdem von ihrer Aufgabe beseelt. Sie wollten sich ihre Geliebten holen. Sie wußten, was in der langen Zeit geschehen war, das Böse hatte ihnen die Augen geöffnet, und so würden sie in das Land Avalon hineingehen müssen und sich dort auf die Suche machen. Etwas benommen schauten sie sich an. Ihre Kleidung war schmutzig geworden, besonders das Kleid mit dem weiten Rock war verdreckt und zerknittert. Die Haut der blonden Yodana wirkte dünn wie Glas. Dunkel traten die Augen hervor, und als sie sich drehte, da geriet sie leicht ins Schwanken.
Rogetta hatte sich auf ihre Lanze gestützt, um so einen besseren Halt zu bekommen. Sie gab es nicht gerne zu, doch auch sie war angeschlagen, und ihre Wildheit war im Augenblick zumindest gespielt. Sie ging einen Schritt nach vorn und hatte somit die Deckung verlassen. Der freie Blick war dorthin gerichtet, wo das mächtige Felsentor auf der Hügelkuppe stand. Das war der Weg! In ihren Augen schimmerte es auf. Schon jetzt spürte sie die magische Anziehungskraft des Tores, und dieses Gefühl kam genau richtig, um ihre Kräfte zu stärken. Sie schaute über die Schulter zurück. Yodana kam auf sie zu. Neben der Freundin verharrte sie. Der Blick auf das Tor machte auch sie stark. Es war von den Dunstresten befreit worden, selbst bei diesem nicht mehr sehr hellen Tageslicht sahen sie es überdeutlich. Die Blonde hob den rechten Arm. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger deutete sie auf das Ziel. »Das ist es«, sagte sie, »und nur das…« »Ja, wir wissen es.« »Die Ritter warten auf uns.« »Willst du Lancelot noch immer?« »Ja!« »Dann hol ihn dir!« Das war das Ende ihrer Unterhaltung. Mit festen Schritten machten sie sich auf den Weg… *** Irgendwann, es war schon dämmrig geworden, und sie hatte das Gefühl für Zeit ausgeschaltet, standen sie vor dem mächtigen Tor und schauderten zusammen. So lange sie sich nach diesem Anblick gesehnt hatten, jetzt, wo der Durchgang zum Greifen nahe vor ihnen lag, merkten sie doch das Gefühl der Spannung, das durch ihren Körper floß. Sie hatten es noch nicht betreten und schauten es nur aus der Nähe an. Hoch ragte es gegen den dunkler werdenden Himmel. Es erinnerte an einen Turm, der sich nach oben hin verjüngte und in einer dreizackigen Bastei endete. Zwischen dem Durchgang und dieser Bastei befanden sich neun zugemauerte Fenster oder Öffnungen. Wer dieses Tor hinter sich lassen wollte, mußte den normalen Eingang nehmen, der aus der Ferne strichschmal wirkte, tatsächlich aber sehr breit war und über ihnen spitzbogenförmig auslief. Nichts hinderte sie daran, auf die andere Seite zu schauen. Der Durchgang lag frei vor ihnen. Jenseits des Tores, wo sie den Hügel wieder hinabsteigen konnten, lag nicht die geheimnisvolle Nebelinsel,
sondern das normale Land. Avalon hielt sich versteckt. Es öffnete sich nur demjenigen, der würdig genug war. »Es ist da!« flüsterte Yodana. »Ich weiß es. Wir müssen nur den richtigen Schlüssel finden.« Rogetta nickte zustimmend. Sie selbst spürte den Wind, der durch das Tor wehte und ihre starren Haare bewegte. War es der normale Wind, oder war es bereits ein Gruß aus Avalon. »Ich werde einen Versuch starten«, erklärte die Blonde. »Dann soll ich hier warten?« »Ja.« »Du fühlst dich kräftig genug?« »Ich werde mir Lancelot holen, das verspreche ich dir. Ich weiß, daß er unsterblich ist. Er mag sich verändert haben, aber die Tafelrunde König Artus’ wurde noch nicht aufgehoben.« Sie sagte es mit einer Bestimmtheit, die ihren festen Glauben untermauerte. »Dann geh, Schwester!« Yodana ließ sich nicht ein zweites Mal bitten. Sie setzte sich in Bewegung, aber sie lief nicht schnell, denn sie wußte genau, was sie dieser feierlich anmutenden Situation schuldig war. Rogetta blieb stehen. Es war nicht still, obwohl es ihr so vorkam. Sie ignorierte die jammernden Windgeräusche und schaute starr auf den Rücken ihrer Freundin, deren langer Rock beinahe über das auch im Eingang wachsende Gras hinwegschleifte. Yodana konnte normal gehen. Es war nichts da, was sie aufhielt. Beide wußten nicht, wie Avalon reagieren würde, und Yodana hatte bereits die Hälfte der Torlänge hinter sich gelassen, doch noch immer war nichts geschehen. Avalon gab sich mit keiner Geste zu erkennen, sie hieß diese Person auch nicht willkommen. Die Blonde ging weiter. Drei, vier und fünf Schritte, bis sie schließlich stoppte und sich herumdrehte. Rogetta sah sie an, Yodana richtete ihren Blick auf die Verbündete. Die Entfernung zwischen ihnen war zu groß, um den Ausdruck der Augen erkennen zu können, doch beide waren sie enttäuscht, und das spiegelte sich auch auf ihren Gesichtern wider. Es war ein normales Tor, ein normaler Durchgang. Avalon hielt sich zurück. Yodana stand auf dem Fleck und zitterte. Wutstöße rannen durch ihren Körper. In den Augen brannte es, als hätte sich das Tränenwasser stark erhitzt. Sie fühlte sich wie in einen Tunnel eingesperrt und gleichzeitig unter einer Folter stehend, wobei man ihr die Haut in Streifen vom Leibe zog. Rogetta winkte. Die wilde, muskulöse Frau mit den roten Haaren war ebenfalls ratlos. »Komm zurück«, bat sie.
»Und dann?« »Werde ich es versuchen.« Yodana lachte. »Denkst du denn, daß du besser bist als ich?« »Nein, wir sind ja gleich…« Die Antwort hatte zwar nicht überzeugend geklungen, aber Yodana hob die Schultern und fügte sich in das Schicksal. So wie es gelaufen war, paßte es ihr nicht. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt, waren so sicher gewesen, daß sich Avalon ihnen öffnen würde, und nun standen sie mit leeren Händen da. Sie kehrte zurück. Diesmal ging sie mit etwas müden Schritten voran, hielt den Kopf gesenkt und hob ihn erst wieder an, als sie beinahe gegen Rogetta gelaufen wäre. »Ich werde gehen.« Yodana legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Schon jetzt sage ich dir, daß du kaum eine Möglichkeit finden wirst, Avalon zu betreten. Es hält sich vor uns zurück. Es ist tot, verstehst du? Es gibt Avalon für uns noch nicht.« »Wie kannst du es öffnen?« »Das weiß ich nicht. Man hat uns gesagt, es wäre ganz einfach. Nur das Tor braucht durchschritten zu werden, um unsere Geliebten aus vergangener Zeit zu erreichen…« »Ich weiß es, Yodana.« Rogetta drehte sich zur Seite, so daß sich die Hand der anderen von ihrer Schulter löste. Dann nahm sie denselben Weg wie Yodana. Die schaute ihr nach. Schritt für Schritt tauchte die mit der Lanze bewaffnete Person in die Tiefe des Tores ein. Dabei bewegte sie ihren Kopf, schaute einmal nach rechts, wieder nach links, als könnte ihr das dicke Mauerwerk die Lösung des Rätsels verraten. Nichts, gar nichts… Es blieb alles gleich, nur eben, daß die Personen gewechselt hatten. Wie auch Yodana, so drehte sich Rogetta ebenfalls am Ende des Durchgangs um. Es geschah mit einer wütenden Bewegung. Sie sah aus wie jemand, der seine Lanze am liebsten in den Körper irgendeines Feindes gerammt hätte, doch da gab es nichts zu rammen, zwischen den Wänden blieb es leer, Avalon hielt seine Botschafter zurück und blieb selbst vor ihnen verschlossen. Langsamer als zuvor kehrte Rogetta zurück. Mit ihren weichen Stiefeln schleifte sie durch das Gras, das Gesicht zeigte einen entschlossenen Ausdruck, die oberen Zähne schimmerten, als wollte sie jeden Moment zubeißen. Beide waren mit besonderen Kräften ausgestattet worden. Der Teufel hatte sich eng um sie gekümmert, was aber nutzte es ihnen, wenn sie ihre Kräfte nicht einsetzen konnten?
Rogetta blieb stehen. »Ich hatte es dir gesagt.« Yodana hob die Schultern. »Das weiß ich, aber ich wollte es selbst…« Sie beendete den Satz nicht, sondern stieß die Freundin mit einer harten Bewegung zur Seite, damit sie einen freien Blick bekam. Rogetta schaute hügelabwärts. Sie sah die breiten Stufen im Gras und erkannte auch die letzte dieser ungewöhnlichen Treppe. Nicht weit von ihr entfernt bewegten sich zwei Männer, die aus der Höhe ziemlich klein aussahen, aber rasch größer werden würden, denn sie fingen damit an, über die Stufen zu gehen, um das Tor ebenfalls zu erreichen. »Wir kriegen Besuch«, flüsterte Rogetta. Auch Yodana schaute hin. »Männer…« »Ja, was tun wir?« »Wir werden sie erwarten, aber so, daß sie uns nicht sehen können.« Hastig zerrte sie Rogetta zurück. Beide liefen jetzt durch das Tor, um sich an der Rückseite zu verstecken. Die mächtigen Steine deckten sie, und flüsternd besprachen beide ihren Plan… *** »Ich liebe Treppen«, sagte Suko, der ebenfalls mit kräftigen Schritten neben mir herschritt und vergeblich auf eine Antwort wartete, denn meine Gedanken drehten sich um ganz andere Dinge. Ich dachte darüber nach, daß ich vor kurzem erst eine Bewegung am Tor gesehen hatte. Zu einem zweiten Hinschauen war ich nicht mehr gekommen, denn da hatte sich diese Bewegung aufgelöst. Vielleicht war auch alles eine Täuschung, Einbildung oder ein Wunschtraum gewesen. Fest stand für uns, daß wir die beiden restlichen Frauen finden mußten. Wir wollten nicht, daß es ihnen gelang Avalon zu betreten. Dieses geheimnisvolle, im Unsichtbaren liegende Land sollte einfach seine Ruhe behalten und nicht gestört werden. Es war eine Welt der Wunder, und ich dachte auch daran, daß der Abbé in Avalon sein Augenlicht wiedergefunden hatte. Die Stufen waren breit. Zwischen ihnen gab es große Lücken, auf denen sattgrünes Gras wuchs. Der Himmel bewölkte sich immer mehr. Es wurde dunkler. Diese Welt war keine Legende. Die begann erst jenseits des Tores, vorausgesetzt, man ließ uns durch. Am Tor selbst bewegte sich nichts, was auch meinem Freund Suko aufgefallen war. »Sollten wir uns denn geirrt haben?« fragte er. »Nein, nein, das glaube ich nicht.« »Aber es ist niemand dort.« Ich hob die Schultern.
Da Suko keine Antwort haben wollte, gab er sie sich selbst. »Nun ja, möglicherweise warten sie erst die Dunkelheit ab, um dann zu erscheinen. Oder trauern sie um das häßliche Geschöpf?« »Kann auch sein.« Suko warf mir einen spöttischen Blick zu und ging weiter. Wir hatten die Hälfte der Strecke schon hinter uns gelassen, waren nicht müde geworden, sondern beschleunigten unsere Schritte. Sehr weit holten wir aus und merkten auch den schwachen Film der Feuchtigkeit auf dem dichten Grasteppich. Ich ging diese Strecke nicht zum erstenmal. Doch wie zuvor war ich auch jetzt beeindruckt von der Größe des Tores. Seine Ausmaße konnte man nur als mächtig bezeichnen. Wie für die Ewigkeit errichtet wuchs es vor uns hoch, so daß wir Menschen uns ihm gegenüber ziemlich klein vorkamen. Je weiter wir den Hügel hochstiegen, um so flacher wurde er. Vor uns lagen die letzten Steine, und hier oben spürten wir den leichten Abendwind stärker als am Beginn der Treppe. Es war ein lauer Wind. Mir kam er vor, als würde er von Aibon herangetrieben, und er war erfüllt von den unzähligen Geschichten und Legenden, die sich um dieses Land rankten. Vor dem Tor blieben wir stehen. Suko schaute es sich besonders genau an. Er wunderte sich über die Breite des Eingangs, denn von unten her hatte es doch sehr schmal ausgesehen. »Und wenn du in der Mitte bist, hast du die Grenze überschritten, John. Ist es nicht so?« »Ja.« Er stieß mich an. »Versuche es.« Ich nickte. An diesem Abend spürte ich wenig Hoffnung in mir. Ich hatte einfach das Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen, weil ich nichts bei mir trug, was mir das Tor hätte öffnen können. Der Dunkle Gral befand sich nicht mehr in meinem Besitz. Er war in Avalon zurückgeblieben. Dadurch hatte ich Suko und den Abbé Bloch damals befreien können, so mußte ich einzig und allein auf meine Verbindungsperson Nadine Berger vertrauen. Ob sie aber über die Macht und auch die Kraft verfügte, die Grenzen so zu überwinden, daß es uns paßte, war fraglich. »Willst du nicht?« »Doch, ich habe nur nachgedacht.« Suko lachte leise. »Wenn du dich nicht traust, werde ich dich ein Stück begleiten.« »Okay, machen wir.« In diesem Augenblick wirkten wir wie zwei Schüler, die sich davor fürchteten, das Lehrerzimmer zu betreten, weil sie dort eine harte Strafe erwartete.
Der erste Schritt ist immer der schwerste, heißt es. So war es auch bei mir. Dabei brauchte ich das Bein nur vorzusetzen und machte es schließlich Suko nach. Wir waren drin. Nein, uns hielt keine andere Welt umfangen. Es war alles normal. Zu beiden Seiten schützten uns die Innenseiten der Mauern. Das Tor war aus mächtigen Blöcken errichtet worden. Sie lagen aufeinander, und zwischen den Spalten hatten Moos und Gräser eine natürliche Schicht gebildet, die wie Mörtel hielt. Es passierte nichts. Niemand meldete sich. Wir hörten keine wispernden Stimmen, die durch unsere Köpfe tobten, die Nebelinsel hielt sich mit einer Begrüßung sehr zurück. Obwohl wir die Mitte, die Grenze also, noch nicht erreicht hatten, blieb ich stehen, was mir einen verwunderten Blick meines Partners einbrachte. »Keine Sorge, Suko, ich gehe nicht zurück. Ich möchte nur etwas verändern.« »Wie du meinst.« Es war mein Kreuz, das ich nicht mehr um den Hals tragen wollte. Deshalb streifte ich die Kette über den Kopf, ließ den Talisman für einen Moment auf meiner Handfläche liegen, um festzustellen, daß er überhaupt keine Reaktion zeigte. »Nichts?« fragte Suko sicherheitshalber. »Leider.« »Es ist wie bei Aibon, auch da kannst du mit deinem Kreuz keinen großen Eindruck schinden.« »Nadine kennt es!« Ich blieb stur. Suko war skeptischer. »Glaubst du denn daran, daß sie uns verfolgt?« »Das hoffe ich doch.« »Dann sollte sie auch eingreifen, verflixt, und uns den Weg zeigen.« »Noch haben wir die Mitte nicht erreicht. Wir stehen nach wie vor im normalen Teil des Tores. Die Grenze ist erst in der Mitte.« »Das muß ich dir glauben. Ich aber kann hindurchschauen, und ich sehe nichts anderes. Hinter dem Tor liegt kein Avalon, sondern die sogenannte normale Welt.« »Ja, das dachte ich auch einmal.« Das Kreuz blieb auf meiner Hand liegen, als ich auf die Mitte des Tores zuschritt. In mir lag eine Spannung, die nicht so leicht zu unterdrücken war. Das Kribbeln auf meinem Rücken erinnerte mich an schwache Stromstöße, und es verstärkte sich mit jedem weiteren Schritt. Ich war gespannt, ob alles noch so funktionierte wie damals. Ich lauerte darauf, das Fieber breitete sich in mir aus, und ich kam der Grenze immer näher.
Suko war zurückgeblieben. Er schritt in meinem Windschatten. Mein Blick wechselte ständig. Einmal schaute ich nach vorn, dann wieder auf mein Kreuz. Beides blieb ohne Reaktion. Ich hatte die Länge des Durchgangs nicht abgemessen, instinktiv mußte ich mich auf mein Gefühl verlassen, und auch jetzt spürte ich, daß ich mich der Grenze näherte. Noch ein Schritt? Ich ging ihn. Dann der nächste. Jetzt mußte ich die Grenze zwischen den beiden Welten erreicht haben. Ich würde, wenn alles normal lief, einen Blick in die herrliche Landschaft der Nebelinsel werfen können, aber alles blieb so, wie ich es schon bei meinem Eintritt gesehen hatte. Jenseits des Tores breitete sich die ruhige normale Landschaft aus. Ich sah den Himmel, das Gras, aber nichts, was auf Avalon hingedeutet hätte. Auch das Kreuz reagierte nicht. Da war selbst die leichteste Spur von Wärme nicht auf meiner Handfläche zu spüren. Die Realität wollte nicht weichen, und dennoch kam es mir vor, als wären andere Kräfte dabei, nach mir zu fassen. Warum – was störte mich? War es möglicherweise die Stille, die zwischen den beiden Gangwänden herrschte? Selbst Suko hielt den Atem an, ich hörte ihn so gut wie nicht. Seltsam… Ich drehte mich zu meinem Freund hin um. Er stand da wie jemand, der vergessen worden war. Als er lächelte, hob er die Schultern. »Ich will für uns nicht hoffen, John, daß wir einen falschen Weg eingeschlagen haben, doch es deutet alles darauf hin. Ich sehe kein Fortkommen, keinen Erfolg.« »Das stimmt.« »Wieder zurück?« »Nein, wir werden hier warten. Du darfst die beiden Frauen nicht vergessen. Es kann durchaus sein, daß sie besser sind als wir. Sie werden den Weg womöglich schon gefunden haben oder kommen erst, wenn es dunkel geworden ist.« »Das ist… verdammt, John!« Suko hatte gesprochen, und ich wußte sofort Bescheid. Auf dem Absatz flirrte ich herum. Am Ende des Ganges stand eine Frau. Blond, mit Gesichtszügen wie gemalt. Selbst in diesem Dämmerlicht, in dem die Schatten bald überwiegen würden, war sie sehr deutlich zu erkennen. Auf mich wirkte sie im ersten Augenblick wie eine Figur aus einem Märchen, auch wenn ihre Kleidung leicht angeschmutzt war, doch ich hütete mich auch davor,
sie zu unterschätzen. Sie hatte sich mit dem Bösen verbündet, sie wollte das Chaos und den Sieg. »Da ist noch eine«, hauchte Suko. Ich schaute zur anderen Seite hin. Eine halbe Drehung hatte mir dabei gereicht. Die rothaarige Person kam mir vor wie Red Sonja, die Figur aus einem Fantasy-Streifen. Sie strömte eine Wildheit aus, als wäre sie der Teil einer mörderischen Natur. Im Gegensatz zu der anderen war sie nur leicht bekleidet, aber sie schien nicht zu frieren. Schmuck bedeckte Arme und Beine, er hatte sich hart in das schwellende Fleisch gepreßt. So sahen auch Frauen aus, die sich auf der Bühne präsentierten, wo sie um die Krone der Miß Muskelfrau kämpften. Nur war diese hier bewaffnet. Den Speer hielt sie so, daß seine Spitze in unsere Richtung wies. Diese Person machte keinen überraschten Eindruck, mir kam sie so vor, als hätte sie nur darauf gewartet, endlich zuschlagen zu können. Am Ein- und am Ausgang standen sie. Sie hatten auf uns gewartet. Ich saugte die Luft durch meine Nasenlöcher ein. Ein Prickeln der Gefahr durchlief mich nicht. Es stand einfach für mich fest, daß die beiden den Weg auch nicht gefunden hatten und damit weiterhin auf ihr Ziel warten mußten. Eine Patt-Situation war entstanden. Suko und ich hatten uns schnell von der Überraschung erholt, und mein Freund fragte mich: »Welche willst du dir vornehmen?« »Im Augenblick keine.« »Kooperation?« »Das wohl kaum«, gab ich leise zurück. »Mich würde nur interessieren, was sie genau wollen.« »Das weißt du doch.« »Ja, aber ich will es von ihnen wissen. Halte du die Rothaarige im Auge, ich schaue mir mal die andere genauer an. Vielleicht kann ich mit ihr reden.« »Tu das.« Nur zwei kleine Schritte ging ich vor. Die blonde Person bewegte sich nicht, und als ich stehenblieb, hörte ich schon meine erste Frage: »Wer bist du?« »Yodana«, klang es mir entgegen. Die Stimme war schlecht zu verstehen, vielleicht deshalb, weil sie ihren Mund dabei so seltsam bewegte und lange nicht mehr gesprochen hatte. »Du willst nach Avalon?« »Ja.« »Wir ebenfalls, aber der Weg ist uns versperrt worden. Avalon will keinen Besuch, auch nicht von euch.«
»Wir müssen aber hin. Wir haben lange genug gewartet.« »Ich weiß, tausend Jahre…« Sie hob die Schultern. »Und dann habt ihr euch mit dem Bösen verbündet. Als Verfluchte seid ihr auf die Suche nach dem Teufel gegangen, er hat euch erhört und ist in eure Welt eingedrungen. Er hat eure Wünsche verspürt, euch Hilfe versprochen und den Fluch lösen können. Aber Avalon hat mit der Hölle nichts gemein, dort herrschen andere Gesetze.« »Ich werde mir den Ritter holen.« »Welchen?« »Meinen Geliebten.« »Hat er einen Namen?« »Es ist Lancelot.« Mich haute es fast um. Endlich wußte ich, welches Motiv diese Frauen nach Avalon trieb. Da sie nicht auf dem direkten Weg aus ihrer Verbannung hinein nach Avalon hätten gehen können, waren sie gezwungen, diesen Umweg zu machen. Das Tor hatten sie gefunden, doch blieb es für sie leider verschlossen. Ich hatte mich wieder erholt, konnte ihr eine Antwort geben. »Ja, du hast im Prinzip recht. Es gibt deinen Ritter noch. Aber du wirst ihn nicht mehr so sehen wie damals. Er hat sich verändert. Er und die anderen aus der Tafelrunde sind in Avalons Geistergräbern vereint. Dort werden sie zusammen mit König Artus bis in alle Ewigkeit bleiben. Das weiß ich besser.« »Du kennst sie?« »Ich war schon dort.« »Wie?« »Durch diesen Weg!« Meine Antwort hatte sie erregt. Dies wiederum zeigte sich bei ihr auf eine besondere Art und Weise. Für einen Moment sah sie aus, als würde sie innerlich verbrennen, allerdings durch die Kraft eines weißen Feuers. Es strahlte in ihr hoch und schien ihren Körper auseinandertreiben zu wollen, einen Lidschlag später war wieder alles normal. Da stand sie wieder bleich und blaß vor mir, aber sie setzte sich in Bewegung. »Wenn du den Weg nach Avalon weißt, wirst du ihn mir zeigen. Wenn nicht, werde ich dich umarmen und dich mit meiner Kraft zu Staub verbrennen.« »Ach ja?« »So verspreche ich es dir.« Bisher hatte sie mein Kreuz noch nicht zu Gesicht bekommen. Das änderte sich schlagartig, als ich meine Faust öffnete und ihr die Handfläche präsentierte, auf der das Kreuz seinen Platz gefunden hatte. Sie war mit dem Bösen eng verbündet gewesen und hatte auf den Teufel
vertraut. Sie mußte auch von ihm etwas mitbekommen haben, und ich vertraute darauf, daß sie das Kreuz schockte. Meine Rechnung ging auf. Yodana blieb stehen. Sie riß die Arme hoch, spreizte dabei die Finger und erinnerte mich an eine schlechte Schauspielerin, die ihren Part nicht gut rüberbrachte. »Du haßt es?« »Ja, ich hasse es!« knirschte sie. »Du wirst es hier nicht einsetzen können, der Teufel…«, sie spie plötzlich weißen Schleim, der wie klebriger Schnee zu Boden fiel. Ich schloß die Finger um das Kreuz. Es war verschwunden, und Yodana atmete auf. »Dein Ritter ist lange tot. Wenn überhaupt, wirst du ihn nur als Mumie sehen, das aber hat dir der Teufel nicht gesagt. Deshalb sage ich es dir jetzt. Es wird am besten sein, wenn du aufgibst. Nichts paßt mehr, du und deine Partnerin, ihr habt alle Chancen verspielt. Sieh es endlich ein.« »Nein, nein… das ist nicht wahr. Wir werden Avalon erreichen und glücklich sein.« »Mit den Toten?« »Wir werden sie sehen und…« Ein plötzlicher, von beiden Seiten in den Gang hereinstürmender Windstoß riß ihr die nächsten Worte von den Lippen. Dieser plötzliche Umschwung konnte keine normale Ursache haben. Der Himmel hatte sich nicht verändert, es war kein Gewitter oder Unwetter aufgezogen, nur die Dämmerung hatte zugenommen. Yodana war verunsichert. Auch ihre rothaarige Partnerin Rogetta, wie ich mit einem Blick über die Schulter feststellte. Sie war in den Gang hineingetreten und stand dicht vor Suko. Wenn es hart auf hart kam, würde er sich mit ihr abgeben, ich konnte mich um die Blonde kümmern, die auf mich nicht mehr achtete, denn in dem Gang veränderte sich einiges. War es Leben, das zwischen die Wände zurückkehrte, oder war es der Gruß aus einer anderen Welt? Ich hatte keine Ahnung, aber die Steine schienen plötzlich reden zu können. Zischelnde und flüsternde Laute drangen an meine Ohren. Hunderte von Stimmen sprachen zugleich und vermischten sich mit dem Wind, der meinen Kopf durchwehte. Er machte ihn nicht frei, sondern verschärfte mein Durcheinander. Ich konnte auf keine Stimme hören, aber ich sah, daß es auch Yodana erwischt hatte. Es gelang ihr kaum noch, den fremden Kräften zu widerstehen. Unsichtbare Hände zerrten an ihrer Kleidung, rissen sie herum, und sie
mußte sich vorkommen wie eine mechanische Tanzpuppe, die allerdings die eigenen Bewegungen nicht kontrollieren konnte. Sie ging nach links, stieß gegen das Mauerwerk, prallte dort ab, nahm ihren Weg nach rechts, landete wieder vor dem Hindernis und fand kaum mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Rogetta erging es ähnlich. Suko brauchte nur einzugreifen, auch sie hatte sich den fremden Kräften überlassen müssen, und Suko mußte nur achtgeben, daß er nicht zufällig von der Lanzenspitze erwischt wurde, die Rogetta unkontrolliert bewegte. Die Stimmen blieben. Rogetta brach als erste zusammen. Auch der Speer als Stütze brachte ihr nicht mehr viel. Sie rutschte an der Wand entlang nach unten und blieb auf dem Boden hocken. Sie war matt und ausgelaugt, das Gesicht erschien mir um Jahre gealtert. Yodana erging es nicht anders. Nur »besaß« sie noch die Kraft, denn sie stand auf beiden Füßen, auch wenn sie sich abstützen mußte. Ihr Gesicht war so schrecklich eingefallen und auch bleich geworden. Es näherte sich wohl dem Zustand ihres Ritters Lancelot, der in seinem Geistergrab lag. Avalon wollte die beiden nicht, aber Avalon wollte auch uns nicht. Dies wiederum empfand ich als schmerzhaft. Ein Wirbel tobte über unseren Köpfen. Ich zumindest kam mir vor wie der Gefangene einer fremden Kraft, und auch mein Kreuz half mir dabei nicht weiter. Aber ich hörte die Stimme. Die anderen Geräusche waren aus meinem Kopf verschwunden. Nur die eine Frauenstimme zählte. »Du hast mich nicht im Stich gelassen«, flüsterte es aus dem Unsichtbaren, »du hast einen Teil des Bösen zusammen mit Suko vernichten können. Ich danke dir, Avalon dankt dir dafür, aber das Ende solltest du uns überlassen.« »Nadine!« rief ich, »Nadine…« Sie zeigte sich nicht. Dafür hatte Suko den Ruf vernommen. »Verflixt, was ist mit ihr?« »Sie war bei mir.« »Unsinn, ich habe nichts…« »Ich hörte ihre Stimme.« »Dann soll sie uns hineinlassen!« »Nein, nicht wir…« »Sondern?« »Sie wird mit den beiden allein fertig, sie…« Ich sprach diesmal nicht weiter, denn in der Mitte des Durchgangs, genau auf der Grenze, geschah das Unfaßbare und auch Wundersame. In der zweiten Hälfte des Tordurchgangs veränderte sich das Bild. Wer jetzt hinausschaute sah nicht mehr das gesunde Grün an der Rückseite,
er schaute gegen einen Nebel, der sich allerdings so gab, als wäre er in der Auflösung begriffen. Hinter dem Nebel leuchtete ein heller Fleck. Sehr breit, voluminös und auch sehr verwaschen. Die Sonne einer fremden Welt, die Sonne der Nebelinsel Avalon. Keiner von uns sprach mehr, denn wir waren einfach fasziniert. Noch standen wir vor der Grenze, selbst Yodana hielt sich in diesem Bereich auf, und sie wartete darauf, daß sich die andere Welt bei ihr melden würde. Die Sonne, der Nebel und eine schwache, schattenhafte Gestalt, nicht mehr als ein Umriß. Nadine Berger… *** Also doch, sie war gekommen. Sie wollte uns im Endeffekt nicht allein lassen. Sie hatte diesen Weg gehen müssen, denn schließlich war sie es gewesen, die mich um Hilfe gebeten hatte. Ich hörte Suko überrascht aufstöhnen. »Jetzt kann ich dir glauben, John, sie ist es doch…?« »Ja.« Und sie sprach mit uns. Diesmal drang ihre Stimme aus dem sonnigen Nebel, als gehörte sie einer Göttin, die einen bestimmten Teil der Welt regierte. »Die alten Zeiten sind tot. Sie sind längst vorbei. König Artus und seine Ritter der Tafelrunde haben ihre ewige Ruhe gefunden und wünschen keine Störung. Was einmal gewesen ist, liegt längst unter dem Tuch des Vergessens begraben. Avalon hat seine eigenen Gesetze, die eigenen Regeln, und Avalon ist nicht bereit, das aufzunehmen, was einmal gewesen war. Merlin verfluchte die Frauen, er schickte sie in eine andere Dimension, in die der Teufel eindrang und seinen Plan schmiedete. Doch Avalon hält dagegen.« Daß sie sprach und erklärte, war gut und schön. Einen Schritt weitergekommen war ich noch nicht. »Was willst du denn tun, Nadine? Bitte, du mußt reden.« »Ich werde nicht viel unternehmen können. Ich habe nicht die Macht, aber man hat mich geschickt. Merlin selbst will den Auftrag nicht vollenden, deshalb werde ich hier meine Reifeprüfung vollziehen. Diese beiden Schwestern des Bösen gehören mir, und ich werde bestimmen, was mit ihnen passiert.« »Paßt dir das, John?« »Nein, aber was soll ich machen?« »Laß sie, es ist besser. Stell dich nicht gegen Nadine. Es könnte ja sein, daß wir sie noch einmal brauchen. Nicht jetzt, aber später irgendwann.« Da hatte er nicht unrecht.
Ich breitete die Arme aus, um Nadine zu beweisen, daß ich einverstanden war. »Es ist mittlerweile deine Welt geworden, meine Liebe. Du kennst die Regeln, wir sind nur Fremdkörper und können dich höchstens unterstützen. Die Schlange haben wir vernichtet, denn in dieser Verkleidung hat sie der Teufel begleitet. Yodana und Rogetta haben uns nichts getan, sie gehören dir. Sie wollten in deine Welt, jetzt mußt du sie auch holen.« Wie Nadine reagierte, war für uns nicht zu erkennen, da sie noch immer von diesem hellen Nebel umhüllt wurde. Wir selbst sahen nur den Nebel, das helle Licht und ihren Schatten. Um die Frauen zu sich zu holen, mußte sie ihre Welt verlassen. Wir irrten uns. Nadine war stärker und spielte ihre neuen, wundersamen Kräfte aus, wobei sie sich auf Avalon verließ. Wieder heulte ein Windstoß in den Durchgang. Er fuhr so hart gegen Rogetta, daß sie von diesem Stoß erfaßt und in die Höhe geschleudert wurde. Sie hielt ihre Waffe fest, ich hörte sie wild schreien, bevor sie gegen die Wand klatschte, aber nicht nach unten fiel, sondern zwischen Boden und Decke in der Luft hängenblieb. Der nächste Stoß fegte heran. Diesmal erwischte es auch mich. Nur deshalb, weil ich im Weg gestanden hatte. Gezielt war er auf Yodana, die ihm ebenfalls nichts entgegensetzen konnte. Die Kraft der anderen Welt degradierte ihren Körper zu einem großen Stück Papier, das in die Höhe wirbelte. Sie schrie, und die Kraft drehte sie auf den Rücken. Die Arme und auch die Beine gespreizt, so sah sie aus wie eine große Puppe, die sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen konnte. Zwei Ströme hatten sich geteilt und hielten die beiden Frauen in ihrer Gewalt. Keine hatte die Kraft, dagegen anzugehen. Es sah schon lächerlich aus, daß Rogetta noch immer ihre Lanze umklammerte. Sie würde ihr nicht helfen können. Dann sprach Nadine. Wir hörten jedes Wort, und sie redete, als gehörte sie schon zu einer der Mächtigen in diesem geheimnisvollen Land. »Ihr wolltet zu uns kommen, um eure Geliebten zu finden. Es ist gut, wir alle haben eure Botschaft verstanden. Wir kennen eure Motive, und wir werden uns nicht mehr gegen sie stemmen. Avalon ist eine Nebelinsel, die Insel der Äpfel, aber der Nebel wird für euch eine ganz besondere Bedeutung haben, das kann ich euch versprechen.« »Willst du sie doch holen?« schrie ich. Meine Stimme zitterte zwischen den Wänden, sie war zu einem knalligen und hellen Echo geworden. Nadine gab mir die Antwort auf ihre Weise. Sie bewies wieder einmal, wie sehr sie schon zu Avalon gehörte.
Wir hatten ihr den Weg bereitet und ihr den Gefallen getan, die drei Frauen hergelockt. Der Rest war ihre Sache. Sie schlug zu. Das heißt, Avalon griff ein und zeigte uns seine Macht. Wieder erwischte es Rogetta. Ihr Körper geriet in einen gewaltigen Sog, der so stark war, daß sie sich nicht mehr halten konnte, denn ihre linke Hand rutschte an der Wand ab. Gedrückt und wieder nach oben katapultiert und sich immer dabei abwechselnd huschte sie an mir vorbei. Fast hätte mich noch die Lanze erwischt, doch sie schrammte nur über die Wand. Dann flog sie weiter. Immer weiter und weiter… Die Entfernungen und Perspektiven, die bisher gestimmt hatten, schrumpften plötzlich zusammen, um einen Moment später auseinanderzujagen. Was vorhin noch nah ausgesehen hatte, war sehr weit entfernt, und eine kleine Gestalt mit roten Haaren raste in diese unendlich erscheinende und nebelerfüllte Weite hinein. Avalon hatte sie. Blieb noch Yodana. Sie wollte diesen Weg auf keinen Fall gehen und griff zum letzten Mittel. Dabei hatte sie Glück, daß ich in ihrer Nähe stand und im Moment auch nicht auf sie achtete. Ich sah sie erst, als es zu spät für mich war. Da aber hatte sie sich bereits an mir festgekrallt, und dicht vor meinen Augen sah ich ihr verändertes Gesicht, das zu einem Muster aus Falten geworden war und dabei mehr an eine Fratze erinnerte, die im nächsten Augenblick zu einem Brei auseinanderfallen konnte. »Ich will nicht!« brüllte sie. Der Sog pfiff heran. Er erwischte nicht nur sie, auch mich, und zusammen wurden wir in die Höhe geschleudert. »Verdammt, John, laß sie!« Suko brüllte hinter mir her. Ich aber konnte sie nicht loslassen, denn nicht ich, sondern sie klammerte sich an mir fest. Sie wollte mich hineinzerren in die Nebelwelt der Insel. Sie wollte mich als Pfand und Geisel haben. Ich kam mir vor wie in einem ruckartig fahrenden Wagen einer Achterbahn. Einmal hoch, dann wieder nach unten. Ich drehte mich auch und verlor für einen Moment die Übersicht. Ich wollte das Gesicht nicht mehr sehen, es gelang mir, den Kopf zur Seite zu drücken – und mein Herz übersprang einen Schlag. Suko war so weit weg… Ich sah ihn klein, er winkte mit beiden Armen, die Distanz zwischen uns paßte nicht mehr, denn nun steckte auch ich auf der Nebelinsel fest, anders allerdings als bei meinem letzten Besuch.
Noch einmal riß mich der Sog in die Höhe, um mich einen Moment später in die Tiefe zu drücken. Diesmal raste etwas Dunkles, leicht Schwammiges auf mich zu. Es war der Boden, so hart, daß er mich beim Aufprall zerschmettern konnte. Ich landete trotzdem sanft und merkte, daß sich Yodana noch immer an mich klammerte. Ihre Finger hatten sich in den Stoff an meiner Schulter gewühlt, ihr Gesicht war eine einzige Fratze der Angst, und nur auf mich hatte sie sämtliche Hoffnungen gesetzt. Irgendwie war es mir sogar gelungen, mein Kreuz wieder verschwinden zu lassen. Es steckte in meiner Tasche, und ich hatte beide Hände frei. Befreien brauchte ich mich trotzdem nicht. Das übernahm eine andere Kraft. Yodana schrie auf, als ihre Hände von meiner Schulter weg nach außen gebogen wurden. Die dünnen Finger glichen gespannten Sehnen, die einen Moment später mit einem gräßlich klingenden Singen rissen. Yodana taumelte von mir fort. Ich aber blieb stehen. Für einen Moment lichtete sich der Nebel. Wie durch ein großes Loch schaute ich in das herrlich blühende Land, dann war der Nebel wieder da und mit ihm Nadine. »Weg, John, schnell weg…« Ich konnte nichts tun. Ich hätte hinlaufen können, wo ich wollte und die Grenze doch nicht gefunden. Aber der Sog umtoste mich. Er riß mich von den Beinen. Ich war wieder zu einem Spielball dieser fremden Kräfte geworden, lag auf dem Rücken, drehte mich dabei und bekam trotzdem mit, wie Avalon mit den beiden Frauen abrechnete. Es war der Nebel, der sie vernichtete. Mit der blonden Yodana begann es. Eine dichte Wolke wehte auf die Person zu und hatte sie kaum erreicht, als Yodana von einer immensen Strahlkraft umgeben wurde. Ihr Körper glänzte auf wie hellstes Sternenlicht. Dazwischen funkelte es, aber es war nicht das Licht, das so strahlte, sondern die einzelnen Teile, in die sich die Frau aufgelöst hatte. Sie war zu einem sprühenden Nebel geworden, der wiederum von der Wolke verschluckt wurde. Ein letztes Leuchten sah ich, dann gab es Yodana einfach nicht mehr. Rogetta, die Wilde, hatte es geschafft, sich aufzurichten. Sie stand und hielt die Waffe mit beiden Händen fest. Wild schaute sie sich um und machte auch den Eindruck einer wütend schreienden Kämpferin. Ich hörte keinen Laut, aber auch Rogetta konnte der Kraft dieses Reiches nichts entgegensetzen. Nebel schlich heran. Weiße Schwaden, kraftvoll und lautlos rollend. Sie erwischten sie und ihre Waffe.
Plötzlich löste sich die Lanze einfach auf. Sie schmolz in ihren Händen. Ich sah nicht mehr, ob sie als flüssiges Metall zu Boden tropfte, denn jetzt war die Rothaarige selbst an der Reihe. Der Nebel hatte sie eingefangen. Er drückte zu. Er preßte seine Kraft in sie herein, und sie leuchtete für einen Moment strahlend auf. , Dann war sie weg. Zu Nebel geworden, und mir wurde klar, woher die Nebelinsel möglicherweise ihren Namen hatte. Einen Moment später brach die Verbindung zusammen. Nichts mehr von Avalon, kein Nebel, keine Nadine Berger, sondern eine normale Welt umgab mich und ein Schatten, der über mich hinwegstreifte, als ich den Kopf anhob. Es war Suko, der mir zugrinste. »Willkommen in der Heimat, John«, sagte er und streckte mir den Arm entgegen. Ich nahm seine Hand. Er zog mich hoch. Ich stand vor ihm und schwankte etwas. »Das ist es dann wohl gewesen«, murmelte ich. »Ja, wir können gehen…« *** Auf dem Weg zum Pfarrhaus erholte ich mich zusehends. Es war beinahe dunkel geworden, und unter uns lagen die Häuser der Stadt Glastonbury wie tiefe Schatten. Trotz allem war ich enttäuscht. Ich hatte erwartet, mehr über Avalon zu erfahren und auch tiefer in das geheimnisvolle Land einzudringen, aber es lief eben nicht immer so wie vor einiger Zeit, als wir die Geistergräber entdeckt hatten. Suko fuhr zurück. Ich streckte mich auf dem Beifahrersitz aus. »Du sagst so wenig, John.« »Weiß ich. Mir ist nicht nach Reden zumute.« »Nadine?« »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht mehr, Suko, das ist endgültig vorbei. Möglicherweise habe ich meine Erwartungen auch zu hoch geschraubt, verstehst du?« »Das wird es wohl gewesen sein.« Ich stieg kurz nach Suko aus, als er den BMW vor dem Haus des Pfarrers angehalten hatte. Ingles hatte uns bereits kommen sehen und stand vor der Tür. Er war überglücklich, uns gesund zu sehen und wollte natürlich wissen, was mit den beiden Frauen geschehen war. »Sie sind in Avalon«, sagte ich.
Der Pfarrer erschrak und staunte zugleich. »Dann… dann haben sie es doch geschafft?« »Ja.« Diesmal sprach Suko. »Allerdings nicht so, wie sie es sich vorgestellt haben. Ich denke jedenfalls, daß sie für alle Ewigkeiten dort bleiben werden.« Ingles winkte ab. »Sie brauchen mir keine Einzelheiten zu berichten. Ich denke nur, daß es gut war. Habe ich recht?« »Ja, Sie haben recht«, sagte ich und lächelte diesmal. Auch wenn wir diesmal nicht die Hauptarbeit geleistet hatten, so mußten wir doch froh sein, daß alles zu einem guten Ende gekommen war…
ENDE