Das neue Abenteuer 298
Kurt David: Bärenjagd im Chentei
Verlag Neues Leben, Berlin 1970
V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 298
Kurt David: Bärenjagd im Chentei
Verlag Neues Leben, Berlin 1970
V 1.0 by Dumme Pute
Lizenz Nr. 303 (305/64/70) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Hans Räde Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Primus Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin • 3723
I
Dem Leser wird es hoffentlich jetzt wie mir ergehen, als ich in UlanBator auf das Flugzeug wartete, mit dem ich in den Nordosten der Mongolei fliegen sollte: Er ist ge spannt, neugierig und von abenteuerlichen Gedanken erfüllt, wie die Bärenjagd verlaufen wird. Hier noch das genaue Datum: Der 4. August 1965. Das steht in meinem Tagebuch wie alles, was diesem Morgen folgte. Das Flugzeug war eine AN2, ein Doppeldecker, auch "Posthummel" genannt; außer Passagieren bringt es noch Briefe, Päckchen und Pakete in die entlegensten Steppen und Wüsten. Der zweite Pilot hängte die kleine eiserne Leiter aus der Einstiegluke, und als ich hochkletterte, sagte mein Dol metscher lustig: "Also dann auf zur Bärenjagd!" Mir kam sein Humor ein bißchen verdächtig vor. Es hatte geklun gen wie: Na ja, was tut man nicht alles für seine Gäste. In der Maschine war es sehr kalt, und wir hockten mit hochgeschlagenen Kragen auf Kisten mit uigurischen Schriftzeichen, die neben den grauen Postsäcken an der Außenwand standen. Ein Stück ab von uns saßen eine Frau und ein Mädchen mit ängstlichen Gesichtern. Als der Propeller zu rotieren begann und der Motor die kleine Ma schine kräftig durchschüttelte, hielten sich die Frau und das Mädchen fest die Ohren zu. Sie wagten nicht aus den runden Fenstern zu blicken, auch nicht, als wir schon tau send Meter hoch waren und das Flugzeug etwas ruhiger flog. Zunächst schwebten wir über ein Gebirge mit dunklen Schluchten und schmalen Felsspalten. Auf der einen Seite der Berge wuchs Wald, dünn und mager, auf der anderen ragten Felsen zu uns herauf. Über den Gipfeln kreisten
Raubvögel. Die Hauptstadt war schon nicht mehr zu se hen, und unter uns dehnte sich die gelbe Steppe. Auf ihr lag der schwarze Schatten unseres Flugzeuges und glitt tief neben uns her. Die Maschine blieb immer so tausend Meter hoch, und wir konnten alles gut sehen. Aber es war noch nichts weiter zu sehen: nur Gras, sanfte Hügel, aus getrocknete Salztümpel, die wie weiße Teller auf der Steppe leuchteten. Als die AN2 nach Nordosten ein schwenkte, schien die Sonne uns ins Gesicht.
Der Dolmetscher hockte da und rauchte. Er hieß Son gino, zu deutsch etwa "Zwiebelplatz"; wer kann schon für seinen Namen. Songino hatte von 1959 bis 1964 in Leip zig studiert, und er war ein schmächtiger, langer Kerl mit dunklen Augen und schwarzem Haar. Wenn er Lust hatte, sprach er aus Jux sächsisch, mongolisches Sächsisch. Wer darüber nicht lachte, mußte schon ein Gesicht aus Stein
haben. "Wie lange werden wir fliegen?" fragte ich. "Nach Dadala?" Das war der geheimnisvolle Ort, wo wir hinwollten. "Hm." "Es sind sechshundert Kilometer", antwortete Songino. Er blickte zu den Piloten. Die Tür zur Kabine stand offen, und über der Tür hing ein schwarzer Fliegermantel. Son gino ging zu den zwei Flugzeugführern, umarmte sie von hinten und brüllte etwas in ihre Ohren. Sie lachten dann alle drei, und der Dolmetscher kam zurück und sagte: "Das liegt am Wind. Mal so, mal so. Zwischenlandungen sind auch, wegen der Post." Ich nickte. "Und wie lange werden wir nun ungefähr rechnen müssen?" "Vier Stunden, fünf Stunden, sechs Stunden", sagte Son gino lächelnd. "Ist das wichtig?" "Natürlich nicht." Eigentlich war es wirklich unwichtig, wie lange wir flogen, nur, man ist es gewöhnt, genaue Vorstellungen von Zeit und Entfernungen zu haben. Hier war das anders, weil hier alles weiter, größer, höher, tiefer ist als zu Hause. "Und weshalb habt ihr gelacht?" fragte ich mißtrauisch und blickte auf die zwei Piloten, die, in dicke Wattekom binationen gehüllt, vor ihrer Steuerung saßen. "Ach, die", antwortete Songino, "die machten Witze über uns und fragten mich, ob wir auch genügend Honig mit hätten für die Bären zum Anlocken." "Du hast ihnen erzählt?" "Natürlich, die fragten doch, wer du bist und so." Hätte er ihnen nicht zu erzählen brauchen, dachte ich. Sicher sehen die in mir jetzt einen, der nur auf Bären aus
ist. "Sie sagten auch noch, ich sollte auf dich gut aufpassen." "Warum denn das?" Songino lachte wieder. "Na ja, weil so ein Europäer meist gar nicht ahnt, was ein Bär anrichten kann. Die sehen so gemütlich aus, im Film, meine ich, im Zoo." "Das stimmt, gemütlich sehen sie aus. Du hast viele ge sehen, ja?" "Ich?" Songino sah mich verwundert an. "Nicht einen einzigen." "Das ist nicht wahr." "Wenn ich's sage. Moment mal ." "Also doch!" "Im Leipziger Zoo, also bei euch zu Hause." Ich war etwas enttäuscht; denn ich hatte geglaubt, es könne hier keinen Menschen geben, der noch keinen Bär gesehen hatte. "Aber es gibt viele?" "Mehr als genug", antwortete Songino lässig, "für uns beide reichen sie." Ich kannte ihn nun schon drei Wochen, war mit ihm durch die Steppe und die Wüste Gobi gefahren; wir hatten zusammen in Jurten übernachtet, Pannen beseitigt, Wol kenbrüche und Gewitter ausgehalten und halbe Nächte am Feuer mit Erzählen verbracht, aber es gab noch immer Augenblicke, wo ich nicht genau wußte, ob seine Worte ernst oder spöttisch gemeint waren. Bewundernswert dagegen war seine Offenheit; es gab nichts, was er mir nicht sagte, auch wenn's manchmal wie ein Schlag auf den Kopf wirkte. Das ist sehr beachtenswert, wenn man Gast in einem fremden Land ist. Also schätzte ich Songino schon dieser prächtigen Eigenschaft wegen. Plötzlich schrie die Frau auf. Das Mädchen quietschte
auch, und dann fielen beide von den Postsäcken. Das kam daher: Die Maschine kippte rechts ab und verlor schnell an Höhe. Ich guckte aus dem Fenster und sah einen Fluß mit ein paar Sandbänken darin, und am Fluß entlang reihte sich Jurte an Jurte. "Der wirft jetzt Post ab", sagte Songino. Freilich, sehr elegant war das nicht, wie die zwei mit dem Flugzeug umgingen, aber offensichtlich machte es ihnen sogar Spaß, ihre Posthummel im Sturzflug auf das Dörfchen niedergehen zu lassen. Der zweite Pilot kam aus der Kabine, lachte, schüttelte den Kopf und hob die Frau und das Mädchen wieder auf die Säcke. Die Frau schimpfte, sie schimpfte sogar heftig, aber das störte den Flieger nicht. Er nahm einen Postsack, zerrte ihn zur Tür, und die Tür machte er auch noch auf, und ich sah wieder den Fluß, jetzt durch die Einstiegsluke und ganz nah. Ich dachte fast, gleich fliegen wir ins Was ser, so tief schwebten wir am Ufer entlang und an den Weiden vorbei. Mit einem mächtigen Ruck schob der Pilot den Sack zur Tür hinaus, und ich blickte schnell aus dem Fenster. Natürlich, den Postsack sah ich nicht mehr, aber einige Leute, die losrannten, sicher dorthin, wo er lag. Dann ging es im Steilflug wieder nach oben, und die Frau machte ein sehr böses Gesicht. Später wiederholte sich das noch zweimal; denn wir hatten genügend Säcke an Bord, und die Frau schimpfte auch nicht mehr, sah aber neben dem stummen Mädchen, das ganz blaß war, ver drossen aus. Ich hatte Mitleid mit ihr und dem Mädchen. Von Bären und der Jagd nach ihnen redete ich nicht mehr, und Songino fragte: "Das Fliegen macht dir wohl gar nichts?" "Nein, meinetwegen können die herumkurven wie sie
wollen. Mein Magen reagiert nicht." Songino nickte zufrieden. Hätte ich gewußt, was uns in der nächsten Stunde bevor stand, wäre ich mit meiner Äußerung etwas zurück haltender gewesen. Aber zunächst landeten wir in einem Bezirksstädtchen, das UnderChan hieß und von dem ich vor Wind und Staub nichts sah. Das Flugzeug wurde aufgetankt, und ein paar kräftige Männer mit grauen Filz hüten, die mit Kinnschnüren festgebunden waren, schoben große Kisten in das Flugzeug. Die Kisten waren sehr schwer, und mit Post hatten sie nichts zu tun. "Da sind nur Steine drin", sagte Songino. "Besondere Steine?" "Nur Steine, so wie sie hier herumliegen, weißt du. Das machen die immer so, wenn der Wind geht." "Wind geht?" "Zwischen UnderChan und Dadala geht ein bißchen Wind. Da ist so eine Gegend, wo der Wind nie aufhört. Und da beladen sie das Flugzeug mit den Kisten, damit es recht schwer wird, verstehst du." Ich nickte und traute der Sache nicht ganz, weil er doch immer Witze machte. "Du glaubst mir nicht?" Was sollte ich antworten, wenn einer so etwas erzählt und man die Strecke zwischen UnderChan und Dadala nicht kennt, gar nicht an sie gedacht hat, sondern in seiner Phantasie immerzu schon; auf Bärenjagd ist? In tausend Meter Höhe hatte ich das mißliche Gefühl, sie hätten noch ein paar Kisten voller Steine mehr einladen sollen. Das Flugzeug flatterte wie ein Fetzen Packpapier in der Luft. Die Maschine fiel nach rechts, fiel nach links, sackte nach unten, hob die Schnauze, als wollte sie die
Sonne anfliegen. Die gelben Tragflächen wippten bedroh lich, die Verstrebungen zitterten, unser Gepäck knallte gegen die Außenwand. "In einer Stunde sind wir da", sagte Songino, ohne sein Gesicht zu verziehen. Er hatte mir unten meinen Zweifel angemerkt und genoß nun die Situation. Was mich noch mehr aufregte, war die offene Kabinen tür mit dem Mantel darüber. Sie schlug auf, sie schlug zu, auf, zu, regelmäßig wie eine Uhr. So schien es mir jeden falls, und ich gestehe, daß ich jetzt innerlich fluchte, die Idee mit der Bärenjagd geäußert zu haben. Alle Bären der Welt waren mir gleichgültig; nur Boden unter den Füßen wünschte ich mir. "Hast du Angst?" fragte Songino. Wie hätte ich das zugeben können, wo ich auf Bären losgehen wollte. "Aber irgendwie siehst du anders aus", sagte er. Das Flugzeug, diese kleine, toll gewordene Maschine, tanzte unaufhörlich weiter. "Bloß gut, daß die Frau und das Mädchen in Under Chan ausgestiegen sind", meinte er und sah mich so son derbar lange an. Wir hätten auch aussteigen sollen, dachte ich. Ich musterte die Piloten, so gut das ging; denn ihre Ge sichter waren nur manchmal zu sehen, weil die Tür doch auf und zuschlug und sie sowieso fast mit dem Rücken zu uns saßen. Sie hatten ernste Gesichter, die beiden, und es würgte in meinem Hals. Wenn die wenigstens ein einziges Mal gelächelt hätten, nur einmal, dann hätte ich ange nommen, es mache ihnen nichts aus und es sei alles in Ordnung. Aber so? Waren sie ratlos? Fürchteten sie auch den Sturm? Ich guckte mißtrauisch nach unten: Wir hätten
überall landen können; keine Bäume, kein Fluß, nur Gras und Ebene. "Du sagst ja gar nichts mehr", meinte Songino. Ich hob die Schultern, stülpte die Lippen nach außen, was bedeuten sollte: Was gibt's schon zu sagen? Und im übrigen gebärdete ich mich, als säßen wir in einer Luft schaukel und genossen den Rummel. Der Sturm ließ nicht nach. Manchmal schloß ich die Au gen, aber dann knallte ich mit dem Hinterkopf gegen die Wand, oder das Gepäck flog mir gegen die Beine. Eine Stunde, sechzig Minuten, sechzig lange Minuten, in denen ich mindestens einhundertzwanzigmal dachte: Jetzt stürzen wir ab. "Wir sind gleich da." Ich sah zwischen der oberen und unteren Tragfläche hin durch Wald und ein paar Berge und bumste mit dem Kopf gegen die Scheibe. Die Berge wirkten wie rasiert, so kahl waren sie. Wege entdeckte ich jetzt auch, helle weiße Streifen, die bis zu den Wäldern über die Steppe liefen, sich unterwegs kreuzten und in schattigen Senken ver schwanden. In einer dieser Senken bemerkte ich Flugzeu ge, die ausgebrannt und zerbrochen umherlagen. Da eine Tragfläche, dort ein Rumpf. Also so war das hier. Ich starrte hinab, als läge unser Flugzeuggerippe auch schon dort unten. "Was du wieder denkst", sagte Songino und blickte mit mir hinunter auf diesen Blechvogelfriedhof. "Das sind abgeschossene Japaner. Von 1939, als sie unser Land am Chalchyn gol überfielen." Ich erinnerte mich an eine Senke in der Wüste Gobi, wo ich einen ähnlichen Schrottplatz mit Flugzeugteilen gese hen hatte.
Als unsere kleine Maschine plötzlich aufsetzte und über den harten Steppenboden holperte, war ich froh und dachte: Hier unten ist es sehr einfach, tapfer zu sein! II
Dadala liegt am Rande eines großen Kiefernwaldes mit drei schönen Seen. Die meisten Häuser sind aus Holz gebaut, und Jurten sind auch im Dorf, wenige bloß, aber immerhin so viele, daß man nicht erst zu zählen beginnt. Wir bekamen ein Blockhaus mit zwei Räumen und einer verglasten Veranda nach dem Süden. Ein Mädchen brachte uns zwei Gläser dicke süße Sahne, eine große Kanne heißen Tee, Brot und gekochte Eier sowie eine Schale voll gebackener Forellen. Schon am Nachmittag wurde es empfindlich kalt, ob gleich die Sonne schien und der Himmel ohne Wolken war und wir August hatten. Aber das war mir nicht neu: Ich hatte vorher bereits Tage erlebt, an denen dreißig Grad Hitze waren, und nachts waren dann fünf Grad Kälte. Wir interessierten uns für den Ofen. Der war vom Flur aus zu feuern, und der große Schornstein ging schräg durch die zwei Räume des Hauses. Er war aus Lehm und weiß ge kalkt. Ein alter Mann schleppte meterlanges Kiefernholz herbei und schob diese Stämmchen in den Ofen, als wolle er eine Fabrik heizen. Am frühen Abend kamen zwei Jäger in unser Blockhaus. Das waren die, die uns am andern Tag zur Bärenjagd begleiten wollten. Sie hatten braune Gesichter, und der eine, er hieß Santschir, hatte eine lange Narbe unter dem linken Auge, so daß er aussah, als lache er immerzu. Der andere hieß Tschimid und war sehr klein. "Waren Sie
schon mal auf Jagd?" fragte Tschimid. "Ja." "Aber nicht auf Bärenjagd?" übersetzte Songino die Fra ge Santschirs. "Nein, auf Bärenjagd nicht!" "Wölfe?" fragte Tschimid. Ich nickte. Santschir ging zum Fenster und blickte hinaus. Es war finster, und der Mond schien noch nicht. Sie besprachen etwas, was Songino nicht übersetzte. Ich erkundigte mich auch nicht, was sie besprochen hatten. Tschimid war fort gegangen und kam eine Weile später mit einem langen Gewehr zurück, legte es auf den Tisch. Es sah aus wie alle Gewehre, höchstens daß es etwas stabiler wirkte und sehr lang war. An der Gravierung erkannte ich das japanische Fabrikat. Wir unterhielten uns dann noch über allerlei Sachen, die nicht wichtig waren und mit der Jagd nichts zu tun hatten. Santschir ging wieder zum Fenster und sagte etwas. Songino übersetzte: "Komm, sie wollen sehen, ob du schießen kannst, und du sollst nicht gekränkt sein, wenn sie das überprüfen." Ich war nicht gekränkt. Jetzt schien der Mond. Das heißt, er war gerade erst aufge gangen über den drei Seen, und er war sehr groß, aber noch nicht hell. Nicht übel, was sie sich da ausgedacht haben, überlegte ich; denn von Büchsenlicht konnte keine Rede sein, und es war sicherlich schwer zu treffen. Wir fuhren ein Stück in die Steppe, wo niemand wohnte und auch keine Herden waren. Aber im Mondschein erkannte ich umherlie gende Kamelknochen, wie sie überall in der Steppe zu finden sind. Sie lasen einige auf und spießten sie in den Boden, zehn nebeneinander, zehn ausgebleichte weiße Knochen.
Tschimid schoß zuerst. Der Knall zerfetzte die Steppen stille, und der erste Knochen flog weg. Santschir schoß als zweiter und traf ebenfalls. Ich muß noch erzählen, daß sie vorn am Gewehr ein aus Holz geschnitztes Zweibein angebracht hatten und also liegend aufgelegt schossen. Das beruhigte mich, wenngleich ich dachte: Sie sind im Vorteil, weil sie das Gewehr kennen und ich nicht. Dann schoß Songino. Songino traf nicht, und er mußte noch einmal schießen und traf wieder nicht. Sie redeten auf ihn ein, und er lachte. Zu mir sagte er: "Du wirst dich wundern, das Gewehr hat einen Rückschlag, daß du denkst, es ist nach hinten losgegangen." Beim drittenmal traf er. Auf mich waren sie besonders neugierig. Ich übrigens
auch. Zu meinem Erstaunen traf ich beim ersten Schuß. Songino lästerte sofort: "Zufall, was?" Und ich mußte gleich noch zweimal schießen und traf prompt zweimal. Es war wirklich ein gutes Gewehr, nur am andern Morgen hatte ich das Gefühl, ich könnte nie mehr schießen mit der großkalibrigen Waffe. Die rechte Schulter schmerzte so sehr, daß ich heimlich nachsah unter dem Hemd. Die Stelle war blau, dunkelblau wie eine Landkarte mit lauter Seen und Flüssen darauf. Wenn ich den Arm heben wollte, war mir, als sei das Gelenk zerschmettert worden. Ich sagte nichts. Sie lobten mich auch mächtig, als wir ins Auto stiegen, weil ich so gut geschossen hatte. Hinten, vor dem Rückfenster des sowjetischen Jeeps, lagen jetzt fünf solcher Donnerbüchsen. Ein Zelt hatten wir mit und Ki sten voll Brot und Konserven. Das war morgens vier Uhr. Der Geländewagen fuhr schnell aus dem Dorf, immer am Rande des Kiefernwaldes entlang. "Neunzig Kilometer müssen wir etwa fahren", sagte Songino. "Also etwa zwei, drei Stunden", antwortete ich. Er übersetzte das Tschimid und Santschir. Die lachten laut und meinten: "Zehn Stunden mindestens. Wenn alles gut geht, sind wir vor Einbruch der Dunkelheit an Ort und Stelle." Und Songino: "Sie sagen, wir würden bald einen Wald erreichen und darin nur schlecht vorankommen." Eigentlich gefiel mir der kommende Wald schon jetzt. Schließlich wollte ich etwas erleben, was man zu Hause nicht erleben kann, und da wir in keinem Flugzeug saßen wie auf dem Herflug, machte mir dieser Wald nichts aus. Ich hätte natürlich gern gefragt, ob in diesem furchtbaren Wald auch schon Bären zu erwarten seien, aber ich fragte nicht; vielleicht hinderte mich ein bißchen Eitelkeit daran,
das zu fragen. Es ist eben nicht gerade schön, dauernd seine Unwissenheit hervorzukehren. Songino sprach mit den beiden Jägern, und gleich darauf sagte er zu mir: "In diesem Wald gibt's schon Bären." Er errät doch immer, was ich denke, und kennt seine Kundschaft. In den Wald gelangten wir durch eine Schlucht mit ho hen schroffen Felsen. Der Jeep kroch über Steine, mahlte durch schweren, nassen Boden und wand sich knurrend Stück für Stück zur Höhe hinauf. Tschimid steuerte den Wagen außerordentlich geschickt und umsichtig. Wir klammerten uns an die Haltegriffe und schaukelten mit, ob wir nun wollten oder nicht. Der Wald war dunkel und dicht. Birken, Kiefern, Strauchzeug mit Dornen und Ei chen. Dazwischen große Steine, gestürzte Bäume, die sich im Geäst der anderen verfangen hatten und schräg gegen die Wipfel lagen. Mir gefiel der Wald. Das war Wald nach meinem Geschmack. Nichts stand in Reih und Glied, alles wuchs, wie es wollte, von keinem gepflanzt und wohl auch nur von wenigen betreten. Die Tachonadel zitterte auf der Zahl Zwanzig hin und her, und manchmal mußten wir aussteigen und Felsbrocken, die herabgerollt waren, zur Seite drücken. Zuweilen sah es aus, als sei überhaupt ein Weiterfahren unmöglich, so viele Baumstämme ver sperrten den Weg. Wir sägten uns dann eine Gasse. Das dauerte oft Stunden. Zum Glück waren auch ganz morsche Bäume darunter. Ein Schlag mit der Axt, und alles zerfiel. "Unbequem?" fragte Songino. "Mir macht's nichts", antwortete ich. "Santschir sagt", meinte Songino, "du sollst nicht ärger lich sein." "Ich bin nicht ärgerlich."
"Santschir sagt eben, sie würden sonst ihren Gästen alle Unbequemlichkeiten ersparen, aber hier ginge das nicht, und sie bedauerten es sehr, daß es anstrengend sei." "Aber ich bitte, mir macht das wirklich nichts aus. Ich bin doch kein Fürst, der sich zur Bärenjagd fahren läßt und dem die Bären vor die Flinte getrieben werden. Nein, wirklich, ihr braucht euch keine Gedanken zu machen." "Wie kommst du auf Fürst?" "Ich hätte auch Kaiser oder König sagen können", meinte ich. "Bei uns war das früher so. Mein Großvater hat das immer erzählt. Wenn der König jagen wollte, bauten sie ihm eine Tribüne, und dort saß er mit seinem Hofstaat, und die Bauern und Knechte mußten ihm das Wild zutreiben, das er von der Tribüne aus abschoß, ohne einen Schritt gegangen zu sein. Nach der Jagd hieß es, der König habe heldenhaft persönlich soundso viele Hirsche, Wildschweine und Hasen erlegt." Songino übersetzte das Tschimid und Santschir. Sie lachten alle drei tüchtig und redeten wild durcheinander. Songino sagte: "Wir lachen nämlich darüber, weil das bei uns vor der Revolution genauso war. Nur hatten wir keine Kaiser und Könige, aber eben Hunderte Fürsten, und da mußten die Hirten den Schwarzen [die mongolischen Fürsten wurden "Schwarze" genannt, weil sie schwarze Gewänder trugen.] das Wild zutreiben." Gegen Mittag erreichten wir einen breiten Fluß, und sie sagten, er hieße Baltsch. Es war ein schöner, schnell da hinschießender Strom mit eiskaltem klarem Wasser, auf das die Sonne schien. Wir hielten. Auf dem Ufersand baute Santschir eine Feuerstelle mit Steinen, und dann fragte mich Tschimid, ob ich Fisch essen wollte.
"Wir haben doch Konserven!" "Er will dir frischen Fisch machen", sagte Songino. Ich fürchtete, wir würden durch das Angeln zuviel Zeit verlie ren, und deshalb hatte ich das von den Konserven gesagt, aber da sah ich schon, wie Tschimid mit flinken Fingern einen Angelhaken präparierte, indem er ein kleines Mäu sefell als Köder daranhängte. "Du sollst mitkommen.", sagte Songino, und ich lief mit Tschimid flußaufwärts bis zu einer Stelle, wo der Strom einen Bogen machte und das Ufer unterspült hatte, so daß es hier sehr tief war. Hier hinein warf Tschimid Haken und Mäusefellchen. Die Schnur war lang, und ich sah, wie der Köder im klaren Wasser forttrieb. Fische sah ich keine, und den Köder sah ich auch nicht mehr. Er mußte irgend wo unter dem ausgehöhlten Ufer sein. Länger als eine Minute hatte das alles nicht gedauert, da riß Tschimid an der Schnur. Das Wasser spritzte auf, und er zog einen Fisch an Land, wie ich ihn noch nicht gesehen hatte. Er war einen knappen Meter lang. Songino sagte, das wäre ein Sum. Er schmeckte übrigens gut, der SumFisch, und wir aßen Weißbrot dazu und Zwiebeln. Tee hatten sie auch gekocht, und in den Tee warfen sie ranzige Butter und Salz. An fangs hatte mich das immer entsetzt, aber jetzt war ich es gewohnt, zudem war es nützlich, fetten Tee zu trinken. Sonst platzen einem in der trockenen Luft schnell die Lippen auf. "Kein Bär", sagte Songino zu mir. "Die schlafen mittags", meinte Santschir spöttisch und lachte, und wenn er lachte, verschwand seine Narbe un term Auge. Wir fuhren danach schräg gegen die Strömung durch den
Fluß, und das Wasser lief im Auto über unsere Stiefel. Auf der anderen Seite ging es steil hinauf und wieder in den Wald hinein. In einer Höhe von etwa zweitausend Metern wurde der Wald dünner. Lärchen standen in dem Felsen gewirr und hohes gelbes Gras, aus dem Steppenhühner flatterten. Adler sahen wir jetzt auch, vor allem Steinadler, die zu ihren Horsten in den Steinwänden schwebten. Aber das alles war nichts gegen das, was wir dann entdeckten: einen Bären! Ich hätte jubeln wollen. "Halt!" sagte ich. "Haltet doch schon!" Sie blickten mich verdutzt an. Na türlich, für sie mochte ein Bär nicht das sein wie für mich, der, ich noch niemals einen in freier Wildbahn gesehen hatte. "Sie fragen, ob du den dort oben meinst?" fragte Son gino. "Natürlich, welchen denn sonst?" Sie redeten jetzt mongolisch durcheinander und lachten dabei und schauten hoch zu dem Bären auf dem Felsen, der reglos in der Sonne stand und uns noch nicht bemerkt zu haben schien; denn er blickte vom Gipfel über das Land, als herrsche er hier allein und fürchte keinen. "Du kannst ihn natürlich schießen, soll ich dir sagen", meinte Songino. "Wie, Santschir und Tschimid gehen nicht mit?" "Ich geh mit", sagte Songino, "die zwei wollen vom Auto aus zuschauen, wie du dich anstellst. Du brauchst natürlich keine Angst zu haben, sie sichern uns sozusa gen." "Angst, wir sind doch nicht im Flugzeug!" "Eben. Also los." Sie reichten mir ein Gewehr, aber Songino gaben sie keins, und ich wunderte mich.
"Du sollst das allein machen. Gastrecht und alter Brauch", sagte Songino, "verlangen, daß man den ersten Bären allein erlegt." Das ist aber komisch, dachte ich. Bären sind schließlich keine Hasen. Erst machen sie mir angst, wie gefährlich so etwas sein kann, und nun lassen sie mich allein losziehen. Aber weiter verschwendete ich keine Gedanken daran und schlich mit Songino durch die Lärchen und das hohe Gras, immer den Bären im Blick. "Langsam, langsam", flüsterte Songino. "Du kommst ja außer Atem, wenn du so weiterläufst, und wenn du außer Atem kommst, zittert dir das Gewehr vor Augen, und du
triffst nicht. Wäre doch schade, nicht? Ein Prachtexemplar da oben, wirklich!" Irgendwas gefiel mir in Songinos Augen nicht, und wie öfter klang alles so doppelbödig, was er sagte. "Soll ich mal pfeifen?" fragte Songino. Ich erschrak. "Warum denn das?" "Damit er wenigstens hersieht!" "Du verscheuchst ihn!" flüsterte ich. "Na, dann eben nicht Ich dachte ja nur, man könnte ihn durch einen Pfiff ein bißchen in Bewegung bringen." Das ist vielleicht ein Spaßvogel, fand ich und kroch über die kantigen grauen Steine, stieg über gestürzte Bäume und blickte zu dem Bären, der starr und steif da oben stand. Mir lief in der jämmerlichen Hitze der Schweiß schon in die Augen, und das Hemd klebte. Fliegen um schwärmten mich, als wäre ich für sie ein besonderer Leckerbissen. "Gut", sagte Songino leise und kniete sich ins Gras, "oder willst du noch näher? Das hat der dort oben nämlich nicht gerne." "Von hier aus schießen? Da erschrickt der ja bloß oder schüttelt seinen Schädel." "Wie du willst, bitte!" sagte Songino. Wir lagen jetzt auf dem Bauch und glitten wie Echsen durchs Gras. Was ich dachte? So nahe wie möglich heran! Ob ich Furcht hatte? Wer fürchtet sich schon vor etwas, was er nicht kennt! Also weiter. Manchmal ruhten wir, und in solchen Momenten schaute Songino herüber als wollte er sagen: Na, noch immer nicht nahe genug? Der Bär stand nach wie vor auf dem Fels. "Der schläft in der Sonne", sagte ich. "Ja, ja, Bären schlafen viel", meinte Songino, und er lä
chelte wieder. "Erst hat's ausgesehen, als gucke er so übers Land, aber jetzt sieht man's: Er schläft" "Aha", machte Songino. Über dem Bären kreiste mit einemmal ein großer Vogel. Ich erkannte nicht, was es für einer war; vielleicht ein Bussard. Wir glitten noch ein paar Meter durchs Gras und um scharfkantiges Gestein herum, und ich dachte: So habe ich mir eine Bärenjagd nicht vorgestellt. Ich hatte immer angenommen, sie laufen bei dem geringsten Geräusch davon oder greifen an, wenn man ihnen zu nahe auf den Pelz rückt. Und der da? Der schläft stehend und rührt sich nicht. Ich blickte zurück; unser Jeep stand unten zwischen den Lärchen, klein wie ein Käfer. Plötzlich sah ich, wie sich oben auf dem Gipfel der große Vogel auf dem Bären niederließ, noch einige Male mit den Flügeln schlug und danach still saß. Und das auf dem Kopf des Bären! Songino lachte schrecklich. "Was soll denn das?" fragte ich. "Du guckst mich an, als ob ich daran schuld wäre, daß sich der Vogel auf den Bärenkopf gesetzt hat", sagte er. "Machen die das immer so?" Ich erinnerte mich, daß es in der Wildnis irgendwelche Tiere gab, die dauernd Vögel auf ihren Rücken trugen, allerdings nicht ganz unei gennützig, da diese Vögel Ungeziefer aus dem Fell pick ten. Songino antwortete nicht, sondern lag und lachte, lachte, daß ich ganz unsicher wurde. Dann sagte er: "Merkst du noch immer nichts?" Ich blickte ihn verständnislos an. "Dein Jagdeifer", sagte er, "hindert dich, richtig zu se hen."
"Was denn!" Ich blickte wieder hinauf zu dem Bären mit dem Vogel auf dem Kopf. Wie er dastand: steif und starr. Leblos. Leblos? War das möglich? Hatte ich mich so täuschen lassen? "Na?" drängte Songino. Aus Stein war er, aus rötlichem Sandstein. Ich kam mir jetzt ziemlich dumm vor. Wirklich, mein Eifer hatte mich daran gehindert, richtig zu sehen. "Du bist doch nicht etwa beleidigt, weil wir ." "Ach wo", antwortete ich schnell, obgleich ich dachte, ihr habt mich ganz schön veralbert. Wir waren aufgestan den und kletterten zum Gipfel. "Der steht schon über einhundert Jahre da oben", er klärte Songino. "Aha." Mehr brachte ich nicht hervor. Ich konnte mir noch immer nicht verzeihen, daß ich das nicht früher bemerkt hatte. "Da soll nämlich vor langer Zeit ein Jäger mit einem Bären gekämpft haben ." "Mit einem richtigen Bären, ja?" "Natürlich! Ach, du bist böse?" fragte Songino. "Nicht doch." "Wir machen nun mal gern solche Spaße mit Fremden." "Jetzt weiß ich's ja, Songino. Also erzähl dein Legend chen weiter!" "Bär und Jäger wurden in dem Kampf schwer verwundet und stürzten in einen Tümpel. Das Wasser darin aber war ein Zauberwasser, und so entstiegen sie ihm mit völlig geheilten Wunden. Darüber waren sie beide so erstaunt, daß sie nicht mehr gegeneinander kämpften. Der Bär trottete zurück ins Dickicht, der Jäger schlug zum Anden ken an die Begebenheit diesen Bären aus dem Sandstein."
Wir standen dann vor dem steinernen Tier, und nicht weitab von ihm war auch der Tümpel mit dem Heilwasser, das zwischen den Felsen hervorquoll. Von hier oben konn ten wir unseren Jeep mit Tschimid und Santschir nicht mehr sehen. Das wunderte mich, weil wir doch unten vom Auto aus den Bären gesehen hatten. Vielleicht waren sie ein Stück weitergefahren und warteten an einer anderen Stelle. "Wenn du willst, fotografiere ich dich, wie du auf dem Bären sitzt", sagte Songino. "Zu Hause werden sie dann alle sehr erschrecken, wenn sie dich auf dem Rücken die ses großen Tieres sehen." Ich bat Songino, so weit mit dem Apparat wegzugehen, daß man nicht gleich erkennen konnte, daß der Bär aus Stein war. Wir machten also das Foto, und zu Hause hatte ich später wirklich viel Erfolg damit. Ein Vogel schrie. Ich wußte nicht, was für ein Vogel es gewesen war, aber Songino sagte: "Sei mal still." Der Vogel schrie ein zweites Mal. "Santschir ahmt den Vogel nach", flüsterte Songino. "Santschir?" "Natürlich. Sie haben da unten etwas entdeckt und mah nen uns zur Vorsicht." Wir hockten zwischen den Felsen und horchten. Der Wind wehte über die Steine, und die Sonne schien heiß. Das Gewehr hielt ich quer vor dem Bauch, und ich sagte: "Nicht mal schießen kann ich, wenn man nicht weiß, wo die zwei herumschleichen." "Du sollst ja auch gar nicht schießen", antwortete Son gino leise. "Du sollst nur still sein und warten." Feine Jagd, dachte ich, erst wird einem ein Bär aus Stein vorgeführt, und nun soll ich noch nicht mal schießen,
sondern nur warten und still sein. Der Vogel namens Santschir schrie abermals. Diesmal näher, lauter. Songino blickte lächelnd zu mir herüber. Vor uns hoppelten zwei weiße Hasen übers Geröll. "Die können ja wohl nicht gemeint sein", flüsterte ich. "Die nicht, aber was ihnen folgt oder vor dem sie geflo hen sind." "Die werden vor Santschir und Tschimid ausgerissen sein", bemerkte ich bissig. Plötzlich schoß ein Fuchs durchs Gras. Der verfolgte aber gar nicht die weißen Hasen, sondern sprang über die Steine den Hang hinab. Hinter ihm hetzten Jungfüchse her, die sich in der Eile mehrmals überschlugen. Songino lachte leise. Eine Weile geschah jetzt nichts. Nur Santschir schrie wieder seinen Vogelschrei. Mir war, als käme der Ruf nun von der anderen Seite des Berges. Richtig; Songino zeigte mit dem Daumen nach rückwärts, und wir drehten uns um und spähten dorthin, wo der Vogelruf erklungen war. Die obere Hälfte des Berges war kahl und mit allerlei Gestein bedeckt, das wie verbrannt aussah. Weiter unten standen niedrige Kiefern, verkrüppelte Birken und irgendein mannshohes Gestrüpp, das weiß blühte. Ein paar Baum stämme ragten nackt, von den Blitzen des Steppengewit ters zerfetzt, in den Himmel. Kein Blatt war an ihnen. Die starken Aststümpfe wirkten wie abgeschlagene Arme. Aus dem weißblütigen Gestrüpp trat jetzt ein Rehbock. Auf seinem Rücken hing Laub, frisches, grünes Laub an dünnen Ästchen. Er ging ein paar Schritt, wandte sich mißtrauisch zum Dickicht um, blieb stehen, bellte dro hend. Das Laub fiel herab, als er einige mächtige Sätze über das Gestein machte.
Plötzlich tauchten Santschir und Tschimid auf. Sie winkten mit den Gewehren. Wir stiegen zu ihnen herab, und sie sagten, daß sie einen Bären verfolgt hätten, einen großen, schweren, mindestens zwei Meter langen Bären, der zum Südhang des Berges durchgebrochen sei. Tschi mid trug zwei Gewehre mit sich und gab das eine Son gino. Die drei besprachen dann noch etwas, wovon ich natürlich nichts verstand, aber ich spürte, daß es um mich ging; denn Santschir und Tschimid blickten immerzu auf mich und Songino. Sie redeten sehr eindringlich, zeigten später mit den ausgestreckten Armen in eine Richtung südöstlich des Berges. Während die anderen zwei zurück ins Dickicht sprangen, blieb Songino bei mir und sagte: "Hast du auch durchgeladen?"
Ich sah nach und sagte, daß. ich durchgeladen hätte. "Und die Patronen hast du auch bei dir?" Ich griff in die Taschen meiner Jacke und nickte. "Dann kann's ja losgehen." Wir stiegen den Berg weiter hinab. Songino wandte sich nochmals um: "Du bleibst immer einen Schritt hinter mir!" "Schon gut." "Und geschossen wird nur, wenn ich's sage." "So", antwortete ich. Songino hatte freilich herausge hört, daß mir das nicht paßte. Prompt sagte er: "Na ja, jetzt ist der Spaß nämlich vor bei. Hier handelt es sich nicht um einen Bären aus Stein ." " . und ein Tümpel mit Heilwasser ist auch nicht da", foppte ich ihn. Er antwortete nicht, und ich war mir klar darüber, daß ich auf ihn den Eindruck eines Sonntagsjägers machte (der ich allerdings auch war, wenngleich ich das nie zugegeben hätte!). Brav ging ich hinter ihm. Furcht oder so etwas hatte ich noch immer nicht, aber sicher eine ganze Menge falscher (romantischer) Vorstellungen. Zunächst vergaß ich eine Zeitlang den Bären völlig, weil mich das Dickicht restlos gefangennahm und an Hose, Jacke und Haar festhielt. Festhielt? Feststach! Das war wie ein undurchdringlicher Haufen Stacheldraht mit weißen Blüten. Den Himmel sah ich überhaupt nicht mehr, und aus den Blattbüscheln schwirrten Schwärme von Insekten. Sicher waren auch Mücken darunter, aber das war schon egal, da mich die Dornen sowieso immerfort stachen und ich fast gar nicht mehr zu unterscheiden wußte, was mir alles so grausam zusetzte.
"Da mußt du viel schneller durch", sagte Songino, "sonst bleibst du zu oft hängen." Ich entdeckte ihn auf einem Stein, ein Stück ab von mir auf einer kleinen Anhöhe. Er sah unbewegt zu, wie ich durch das barbarische Gestrüpp ruderte, und sagte: "Schwimmen hilft hier nicht, mein Lieber. Laufen mußt du, Sätze machen wie ein Rehbock. Der Kopf muß sooft wie möglich oben rausgucken." Kaum war ich bei ihm angekommen, meinte er: "So, schnell weiter. Wenn wir zurückbleiben, prellen die ande ren zwei zu weit vor, und wir sind nicht mit ihnen zur gleichen Zeit an dem ausgemachten Platz. Sind wir nicht zur gleichen Zeit am ausgemachten Platz, bricht uns der Bär wieder durch, und wir müssen kehrtmachen." Bloß das nicht, dachte ich, und hetzte hinter ihm durch den - nein, Wald kann man das nicht nennen, Wald ist etwas, wo man Spazierengehen kann. Hier dagegen ist er ein mörderisches Hindernis, ein Chaos aus Dornenge strüpp, gestürzten Bäumen, zerschmetterten Baumriesen und scharfkantigem Gestein. Wie spitze Dolche und Schwerter ragen die Holzsplitter aus den Stümpfen. Plötz lich Morast. Der Boden schwankte, irgendwo gluckste Wasser. "Jetzt wird's besser", sagte Songino. Vor uns erhob sich eine Felswand. Das Klettern machte mir Spaß, und ich kletterte gut, aber Songino war auch hier nicht zu übertreffen. "Soll ich dein Gewehr tragen?" fragte er. "Nein, nein", wehrte ich ab. "Ich dachte ja nur, bei dem Klettern könnte es dir im Wege sein!" Die Felswand war lange nicht so hoch wie die Baumwip
fel. Aber ich hatte auch noch nie solch hohe Kiefern gese hen, wie sie hier standen. Und schlanke Zedern waren da, die aussahen, als seien sie tausend Jahre alt. Ich blickte auf die Armbanduhr: Gleich achtzehn Uhr. Die Sonne stand also tief, und ich dachte, wie sollen wir nachher bloß im Finstern den Jeep finden. Und manchmal überlegte ich, ob es denn überhaupt einen Sinn habe, hinter dem Bären herzulaufen, wo er sich nur zu verstecken brauchte, um uns vorbeizulassen. Dieser Sorge wurde ich allerdings enthoben, als wir einen schmalen Bach erreichten. Son gino jubelte und sagte: "Erst mal gleich aufwärts!" Wir rannten los, durch hohes Gras und immer am Bach entlang. Die Erde war hier schwarz und sehr feucht. Ein mal kniete sich Songino nieder und trank von dem Wasser. Ich trank auch. Es war eiskalt, und Songino gab mir ein Stück trocknen Quark, den er aus einem Tüchlein gewik kelt hatte. "Iß, danach läuft sich's besser!" Der harte Quark schmeckte sauer, aber es war ange nehm, ihn so lange kauen zu müssen. "Und jetzt wieder zurück!" sagte Songino eine Weile später. Zuvor hatte er an der Stelle, die wir erreicht hatten, zwei Knüppel ins Ufer gesteckt, schräg zueinander und über Kreuz, und an die Enden spießte er Papier. "Nichts", sagte er im Laufen, "aber Tschimid und Santschir wissen nun, daß wir bis hier waren." "Wegen der Spur?" "Natürlich." Er lief jetzt im Dauerlauf bis zu dem Platz, wo wir schon gewesen waren. Dann ging er wieder lang samer und gebückt. "Entweder er ist oberhalb der Knüppel durch den Bach, dann finden die zwei ihn, oder er ist hier unten rüber, dann finden wir die Spur."
Irgendwie war ich überrascht, wie sie das machten: Ich vergaß den Jeep, das hinter uns liegende Dornengestrüpp und all die Mühe, die das kostete. "Ich hab's schon", rief Songino und hockte sich ins Gras. "Hier, hier hast du ihn." Auf der schwarzen Erde waren die Abdrücke der Bären füße: jedesmal fünf Zehen mit fünf sichelförmigen Kral len. Der letzte Abdruck vor dem Bach war mit Wasser vollgelaufen. "Du hast wirklich durchgeladen?"
"Selbstverständlich." Er nahm mein Gewehr und schaute nach, lächelte und sagte: "Gut." Und kurz darauf: "Aber geschossen wird nur, wenn ich's sage." Ich nickte. Wir wateten durch den Bach. Auf den Ufersteinen der anderen Seite waren auch die nassen Abdrücke zu sehen. Songino ging jetzt nur noch gebückt, aber immer noch verhältnismäßig schnell; manchmal blieb er auch kurz hocken, suchte, fand die Spur wieder und lief weiter. Zwischendurch ahmte er den Vogelschrei nach wie Sant schir. Aber es antwortete keiner. Ich vergaß zu erzählen, daß er bei den Spuren am Bach wieder zwei Knüppel schräg in den Boden gerammt und mit Papier an den Enden versehen hatte. Die Sonne mußte untergegangen sein. Mir kam jetzt al les ganz grau und schummrig vor, und es war unheimlich still. Sah ich zu den Wipfeln auf, rührte sich nichts. Ein mal entdeckte ich durch ein Loch im Geäst ein Stückchen Himmel. Er war brennendrot. Der Vogelschrei erklang wieder. Diesmal von Santschir oder Tschimid. Songino wartete. "Sie sind jetzt beim Bach", sagte er und hetzte weiter. Aber es wurde dann immer schwieriger, in der herabfallenden Dunkelheit den Spuren zu folgen. Songino tastete hin und wieder den Boden richtig ab. Plötzlich hörte ich Schritte. Tschimid tauchte hinter mir auf. Ihm folgte Santschir. Sie huschten an mir vorbei, und Tschimid klopfte mir auf die Schulter, lächelte, als wollte er sagen: "Na, hältst du noch durch?"
III
Mit einemmal standen wir am Rande eines weiten, freien Platzes mit hohem gelbem Gras und einem Hügel in der Mitte aus schwarzem Gestein, der wie ein Mongolenhut wirkte. Der Sturm mochte hier vor Jahrzehnten diesen Platz aus dem Wald herausgebrochen haben; denn überall lagen vermoderte Baumstämme, schon mit Moos und Gras bewachsen, und die Sträucher mit den weißen Blüten waren auch wieder da, wenn auch nur vereinzelt, so daß man sie umgehen konnte. Tschimid und Santschir zeigten zu dem Hügel, der wie ein Mongolenhut aussah, und Songino sagte: "Dort ist der Bär." Ich sah nichts. Sie lachten und beschrieben mir genau die Stelle. Ich sah trotzdem nichts. Durch die unendliche Weite ih rer Steppe sehen ihre Augen derart scharf, daß man als Fremder nur zu staunen vermag. Santschir wickelte aus einem Tuch ein einäugiges Fernglas und gab es mir. Das war natürlich etwas ganz anderes: Jetzt sah ich tatsächlich den Bären an dem Hügel hochklettern; langsam und be dächtig tat er das, nicht wie auf der Flucht, eher, als habe er genügend Zeit, um den Wald auf der anderen Seite noch zu erreichen. Manchmal löste sich unter seinen Füßen Gestein und Geröll und rutschte den Hang hinab. Staub wirbelte auf und hüllte den Bären in eine gelbgraue Wol ke. Tschimid war nach links, Santschir nach rechts gelaufen, um den Hügel in einem großen Bogen zu umgehen und dem Bären die Fluchtwege abzuschneiden. "Und wir steigen auch los, immer, geradeaus", sagte
Songino. "Siehst du den Bären?" fragte ich. "Immer." Ich schüttelte erstaunt meinen Kopf. "Bei der Dunkel heit?" "Oh, das ist das beste Licht, das man sich denken kann", meinte Songino. Wir gingen nun nebeneinander, stolperten durch Senken, über Steine und Wurzeln. Hin und wieder reichte das gelbe Gras bis zu unseren Schultern, und wir bogen es mit den Gewehrläufen auseinander, wenn es uns die Sicht nahm. Obgleich es sehr kühl geworden war, hatte ich eine schweißnasse Stirn. Die Jagd fing an, mir Spaß zu ma chen. Allerlei abenteuerliche Gedanken waren in mir. Sie reichten vom BilderbuchBären, der in einem Zirkus Rad fuhr, bis zur zähnefletschenden Bestie, die mit einem Mann kämpfte, der nichts als einen Dolch hatte. Es erregte mich die Vorstellung, der Koloß könne plötzlich vor uns auftauchen, vor uns stehen, auf den Hinterbeinen, groß, stark, mächtig wie ein Ungeheuer, irgendeinen gräßlichen Laut ausstoßend auf uns zukommen, mit ausgestreckten Tatzen, den Tatzen mit den sichelförmigen Krallen daran. "Ist was?" hörte ich Songino fragen. Vielleicht hatte ich geseufzt. Jedenfalls sagte ich, es wä re nichts. Er hätte sich wohl gebogen vor Lachen! Stumm schritten wir weiter durch die langen Gräser, und der Hügel erschien mir mit jedem Schritt größer und größer, und breiter war er nun auch. Er wirkte jetzt nicht mehr wie ein Mongolenhut, sondern wie eine Barriere, die den weiten, freien Platz in zwei Hälften teilte und die man überschreiten mußte, wenn man in die andere Seite des Waldes wollte. Ich blickte wieder durch das einäugige
Fernglas und suchte den Hügel nach dem Bären ab. Ob schon wir viel näher als vorhin waren, fand ich ihn nicht. Alles Gestein war blaugrau. Staubwölkchen stiegen eben falls nicht auf. Vielleicht hatte er sich verkrochen? In einer Höhle? Hinter einem Fels? "Siehst du ihn?" "Nein", antwortete Songino, "aber ich weiß, wo er steckt." "So." Er beschrieb mir den Platz. Das war im oberen Drittel des Hügels rechts von der Kuppe. "Sind Bären eigentlich schlau?" fragte ich. "Alle Tiere sind schlau", antwortete Songino, "auch die, denen man nachsagt, sie seien dumm; die angeblich dum men haben nur noch keine Gefahren kennengelernt." Und während ich darüber nachdachte, fügte er leise hin zu: "Beim Menschen soll das manchmal ähnlich sein." In diesem Augenblick leuchtete die Kuppe des Hügels in einem bleichen Gelb auf. Es war eigenartig und schön. Ich schaute mich um: Der Mond war aus dem Wald gestiegen. "Ich seh den Bären!" "Dann ist es ja gut", meinte Songino. Wirklich, ich sah den Bären jetzt ohne Glas. Er war hin ter einer Felswand hervorgekommen, wie vom Licht er schreckt, das auf die Stelle fiel. Schräg kletterte er hoch zur Kuppe. Einmal richtete er sich auf und stand für einen Moment wie zu Stein geworden am hohen Hang. Ein Schuß zerpeitschte die Stille. Der Bär fiel wieder auf die Vorderpfoten und rührte sich nicht mehr. "Tschimid oder Santschir", sagte Songino. "Sie haben in die Luft geschossen, um ihn davon abzuhalten, über den Hügel zu gehen."
Noch ein Schuß fiel. Der Bär lag wie tot am Hang. "Los, weiter", befahl Songino, "wir müssen früher als er am Fuß des Hügels sein. Am Hang haben wir ihn immer im Auge, hier unten aber verlieren wir ihn, und er bricht ohne große Mühe wieder zum Wald durch." Ich stürzte in ein Loch und mit dem einen Knie auf eine Wurzel. Der Schmerz war so stechend, daß er mich für Sekunden lahmte. "Komm schon!" drängte Songino. Und kurz darauf: "Verflucht! Der Bär steigt wieder zur Kuppe!" Abermals knallten Schüsse. Nun spritzten auch Staub wölkchen in seiner Nähe auf. "Du wirst schon noch um kehren, warte!" sagte Songino. "Jetzt haben sie nicht in die Luft geschossen!" sagte ich. "Nein, in seine Nähe. Du hast wohl schon Angst, sie könnten ihn nicht dir überlassen?" "Aber von hier kann ich doch nicht schießen, bei der Entfernung." "Natürlich nicht. Von hier!" Songino lachte. Der Bär ging nun nach links immer in gleicher Höhe, so, als suche er einen anderen Übergang, so, als habe er es noch lange nicht aufgegeben, den Hügel zu überqueren. "Je länger er dort oben dickschädlig verweilt, desto besser für uns hier unten. Inzwischen hat das Mondlicht den gesamten Hügel erfaßt, so daß wir ihn immerzu sehen, wenn er herabkommen wird", meinte Songino und sprang vorwärts. Tschimid und Santschir schossen wieder, und ich hätte zu gern gewußt, wie weit sie von dem Bären entfernt waren. Wir mußten durch eine sehr feuchte Mulde laufen, und ich sah das Tier in dieser Zeit nicht. Als wir herausgestie
gen waren, schaute ich sofort wieder hoch. "Er kommt herab!" schrie ich. "Was schreist du!" schimpfte Songino. "Wir haben kei nen Hasen vor uns." Und dann: "Wehe du schießt, bevor ich dir's geraten habe! Ein angeschossener Bär ist durch nichts und niemand aufzuhalten." Wir hatten den Fuß des Hügels erreicht, Songino stieg nun voraus, sehr überlegt und jedes Geräusch vermeidend. Der Hügel war jetzt in meinen Augen ein Berg. Bereits nach kurzer Zeit hatten wir den dunklen Mondschatten überschritten und kletterten im fahlen Licht über die Stei ne. "Siehst du, er macht wieder nach oben", meldete Son gino, und es hatte sich angehört, als wollte er damit an deuten, daß mein Schrei "Er kommt herab" schuld daran wäre. Aber gleich darauf wurde wieder geschossen, mehrmals hintereinander, und der Bär kehrte erneut um, lief in entgegengesetzter Richtung über den Hang unter halb der Kuppe. Wir hatten ein breites Felsplateau entdeckt, von dem aus man den gesamten Hang gut überschauen konnte. Hier blieben wir. "Und nun atme mal gut durch, in der nächsten Stunde passiert's", sagte Songino. Stunde? So lange sollte es noch dauern? "Na ja, so schnell gibt der noch nicht auf. Er will und will über die Kuppe in den Wald. Daß wir ihm bis hierher gefolgt sind, weiß der schon lange." Der Bär war abermals hinter einem Felsen verschwunden. "In solchen Momenten darf man das Versteck nicht aus den Augen lassen", belehrte mich Songino, "sonst kann es geschehen, daß er plötzlich vor einem auftaucht." Das Felsplateau gefiel mir. Es war platt wie ein Tisch, und auf der Seite zum Hang lagen einige große Steine wie
zu einer Mauer geschichtet. Durch die Schlitze konnte man gut das Gewehr schieben und auch den Fels sehen, hinter dem der Bär jetzt steckte. Ich sah nun auch immer fort dahin, zu der mondhellen Wand, und wartete, daß der Bär hervorkomme. Er kam jedoch nicht. Erst als Tschimid oder Santschir wieder mehrere Male schossen und die Kugeln pfeifend am Gestein abprallten, sah ich für einen Moment den Kopf des Bären. Ich muß ehrlich gestehen: Die Gefährlichkeit unseres Unternehmens empfand ich immer noch nicht. Jede Giftschlange hätte mich entsetzt, und einem Tiger wäre ich gewiß nicht einen Tag lang hinterhergejagt. Aber ein Bär? Ich bleibe dabei: Wie er so hinter dem Fels hervorkam, den zottligen Kopf hob, erst zum Mond schaute und dann schräg zur Kuppe des Hügels hinauf und dabei ein paar Schritte lief, da wirkte er eben drollig, bummlig, plump, spaßig und gemütlich. Gewiß, das Ganze erregte mich sehr, aber aufgeregt war ich noch lange nicht. Und wie ich ihn so beobachtete, hatte ich sogar Mitleid mit ihm und wenig Lust, ihn zu erlegen. Solch ein "Jäger" bin ich. "Die Tatzen schmecken am besten", flüsterte Songino und schnalzte mit der Zunge. Das paßte ja vortrefflich zu den Gedanken, die ich au genblicklich hatte! Songino schmeckte schon etwas, was da oben noch quicklebendig quer über den Hang lief. "Man kocht die Bärentatzen erst eine Weile", erklärte er, "oder besser gesagt, man übergießt sie mit kochendem Wasser, zieht danach die Haut ab und spießt das Fleisch auf Draht, röstet es über dem Feuer. Schon der Duft bringt einen fast um!" "Ich kenne nur Bärenschinken", sagte ich leise, "aus Bü chern natürlich bloß, und Bärenfelle, und wenn einer tief
und lange schläft, nennt man das bei uns einen Bären schlaf haben." Ich redete so dahin; denn die Geschichte kam mir nun immer fragwürdiger vor, und es wurde sogar etwas langweilig; denn der Bär lief unterhalb der Kuppe hin und her, mal bis zur äußersten rechten Seite und da nach wieder zur äußersten linken. Dabei wich er von seinem Weg nirgendwo ab, ja, er versuchte nicht einmal mehr zur Kuppe durchzubrechen, so daß Tschimid und Santschir auf ihre Schreckschüsse verzichten konnten. "Vielleicht sollten wir weiter hinaufsteigen, wenn er nicht herabkommt", sagte ich. "Der kommt herab. Entscheidend ist jetzt nur, wer ge duldiger ist und am meisten Ausdauer hat. Und das Schuß feld ist hier am günstigsten." Das war schon alles recht putzig: Unsere Köpfe wan derten immer mit nach links, wenn der Bär nach links lief, unsere Köpfe wanderten nach rechts, wenn der Bär nach rechts zurücklief, und auch der Bär schwenkte seinen mächtigen Schädel, allerdings bei jedem Schritt und wie im Takt, und nur am Ende des Weges drehte er seinen Kopf im Kreis schräg gegen den Mondhimmel, als schnüf fele er nach seinen Feinden. "Siehst du", flüsterte Songino, "er will uns mit seinen gleichförmigen Wanderungen einschläfern oder in seine Nähe locken. Halten wir durch, kommt der Moment, wo er nicht mehr durchhält und seine Taktik ändert." Und weiter philosophierte Songino: "Guck ihn dir mal genau an: Das bleiche Mondlicht auf seinem Pelz macht ihn weiß und grau wie einen Alten aus der Vorzeit. Wir sagen nämlich auch: ,Unter einem schneeweißen Haupt ist die Klugheit eines ganzen Lebens verborgen.'" Ich weiß nicht mehr, wie lange unser alter Bär unterhalb
der Kuppe den langen Weg hin und hertappte. Er tat es jedenfalls mit einer Regelmäßigkeit, die so verblüffend war, daß sich meine Neugier nur noch darauf richtete, zu sehen, wann er etwas tun würde, was davon abwich. Wer einmal einen kreisenden Tiger in seinem Käfig beobachtet hat, wird wissen, was ich meine. Der Mond stand nun schon ziemlich hoch, und die Schatten der aufragenden Felsen waren beträchtlich kürzer geworden. Wie gezackte Eisblöcke wirkte das Gestein im fahlen Licht. "Du schläfst doch nicht etwa", sagte Songino leise. "Nicht doch." "Dabei, könnte ich verstehen, wenn du eingeschlafen wärst, als Fremder eben." "Mir ist aber nicht nach Schlaf." "Ist es nicht doch langweilig, so zu warten, bis der sich da oben ausgelaufen hat?" bohrte Songino weiter. "Ich finde, es wird immer spannender", sagte ich. "So." Es klang zweifelnd. "Wirklich, vorhin kam mir das hier ziemlich fragwürdig vor, aber jetzt wird es spannend, weil ich selbst spüre, daß der Bär nicht bis an sein Lebensende hin und herlaufen kann. Du hast recht gehabt: Halten wir durch, kommt der Moment, wo er nicht mehr durchhält und seine Taktik ändert. Der Kampf hat sozusagen schon begonnen." "Sehr gut! Wenn du so fühlst, sind wir dem Raubtier bereits überlegen." Ich wollte noch sagen, es sei wie ein "Wettbewerb der Nerven", aber das kam mir in dieser Situation albern vor, und so sagte ich es auch nicht, sondern blickte weiter auf merksam zur Kuppe. In diesem Augenblick verließ der Bär seinen Weg. Schräg zum Hang stieg er herab, tappte
vorsichtig über die Steine, lief in Rinnen und Furchen, die das Mondlicht schon ausleuchtete. Das Raubtier kam im Zickzack herunter und wurde immer schneller. Songino hatte mir mit dem Ellenbogen in die Hüfte ge tippt. Mir wurde ganz heiß. "Hast du entsichert?" flüsterte Songino. "Ja." "Also - und schön warten!" Am Hang klirrte Gestein. Das Raubtier duckte sich für einen Moment. Staub quoll an der Stelle auf. Wie ein zusammengerollter Riesenigel sah der Bär jetzt aus, aber auf einmal streckte sich sein Körper wieder und schob sich weiter herab. Ich ging mit dem Gewehrlauf immer mit. Das Raubtier hatte irgendein Gestrüpp erreicht, das auf der Hälfte des Hügels einsam wuchs. Der Bär umging es, und so gut ich es auf die Entfernung hin beobachten konnte, mied er jede Berührung der Zweige, zwängte sich lieber durch einen Felsspalt, der den Weg etwas verlän gerte. "Siehst du ihn gut?" "Ja." "Und du hast ihn richtig drin?" "Und wie, Songino!" "Dann schieß!" sagte er ruhig. Und ich schoß. Von dem Gedanken besessen, du mußt gleich zweimal schießen und sofort wieder laden, unterließ ich es, die Wirkung des ersten Schusses genau zu prüfen, um den zweiten ebenso bedacht abzufeuern. "Daneben! Natürlich daneben!" sagte Songino. "Der erste war gut, aber der zweite, der zweite war übereilt und
ging über den Bären hinweg! Bei Buddha und allen Gei stern, bleib liegen." Das Raubtier hatte fürchterlich aufgebrüllt und war zur Seite geflogen. Während ich das hier niederschreibe, scheint es mir allerdings unmöglich, daß der Bär zur Seite "geflogen" war; er war vielleicht weggekippt, hingewor fen worden. Doch damals schien es mir so. Jedenfalls lag er zwischen dem hohen Gestein und jaulte eine Zeitlang. Dann war es wieder still, ganz fürchterlich still, so still, daß es Songino für angebracht hielt, seinen rechten Arm nach mir auszustrecken, über meine Schultern zu legen und mich fest an das Plateau zu drücken. "Daß du mir nicht aufstehst", flüsterte er. "Und was nun?" "Warten!" Natürlich warten; denn der Bär war so ungünstig für uns, daß ich nicht schießen konnte. Plötzlich war Santschir neben mir, keuchend und lächelnd. Er flüsterte mit Son gino. "Und wenn der Bär nun wieder zur Kuppe durch bricht?" fragte ich. "Nicht doch. Der geht nicht mehr zur Kuppe. Der hat sich in seinen dicken Schädel gesetzt, in diese Richtung zu fliehen, und davon bringt ihn nichts mehr ab. Tschimid sichert die linke Seite des Hügels." Santschir sagte etwas zu mir. Und Songino übersetzte: "Ich soll dir sagen, der Bär schöpft neue Kraft. Nachher wird er viel, viel stärker als zuvor sein. Blind vor Wut wird er auf uns losgehen, alle Vorsicht außer acht lassen und nur noch eines sehen: den Feind. Du wirst eine Bestie erleben. Wehe du triffst dann nicht genau!" Songino fügte noch hinzu: "Aber keine zu große Angst, wir passen schon auf und - Santschir trifft bestimmt!"
Daß sie recht hatten, wußte ich und faßte auch ihre War nung so auf, wie sie gemeint war. Andererseits kicherte in mir auch der Gedanke: Was nun, Freunde, wenn der Bär tot ist und ihr noch solche Reden haltet? War das nicht auch möglich? Das Raubtier lag reglos zwischen den Steinen, und nur ein ganz kleiner Streifen seines ge krümmten Rückens ragte hervor. Gewiß, ich achte die Meinung eines Steppenmannes; denn sie gründet sich auf Erfahrung, aber Einheimische übertreiben zuweilen Frem den gegenüber. Santschir sprach abermals mit Songino. Übersetzt wurde es mir nicht, und wir lagen wieder eine ganze Weile auf dem Felsplateau, ohne daß etwas geschehen wäre. Songino reichte mir eine Blechflasche mit kaltem Tee. Ich trank, und ich merkte erst jetzt, daß ich großen Durst hatte. Und dann fiel mir die Blechflasche durch eine Un achtsamkeit - ich hatte das Stückchen Rücken des Bären beim Trinken nicht aus den Augen gelassen - aus der Hand auf das Felsplateau. Von dort hüpfte sie mit blecher nem Geschepper stufenweise über das Gestein den Hang hinab. Ich hatte vor Schreck und Entsetzen für ein paar Sekunden das dümmste gemacht, was man in solcher Situation machen kann: Ich hatte die Augen geschlossen, als könnte ich damit den Krach aus der Welt schaffen. Das wiederum vermochten weder Santschir noch Songino zu ahnen; denn Songino rief: "Weshalb schießt du nicht? Schieß doch, schieß!" Santschir sagte es mongolisch. Und ich sah den Bären im hellen Mondlicht herabkom men; er jagte mit einer Schnelligkeit auf uns zu, die wirk lich furchterregend war. Dreck und Steine spritzten unter seinen Füßen weg. Ich hatte natürlich sofort geschossen,
aber schon als ich den Abzug durchdrückte, spürte ich, daß ich nicht traf (später stellte sich heraus, daß es ein Streifschuß gewesen war, was die Gefahr noch erhöhte!), und der zweite Schuß aus dem DoppellaufGewehr ging wieder fehl. Dafür traf Santschir. Das Raubtier brüllte vor Schmerz und stand plötzlich auf den Hinterbeinen; einige Schritt von uns entfernt stand der Bär, ein Koloß, mondweiß und brüllend. Er stand da, als wollte er stehend sterben, und er schwankte, und als Sant schir nochmals schoß, stürzte er seitlich zu Boden. Das Felsplateau verließen wir erst einige Minuten später, nicht etwa, weil wir fürchteten, der Bär wäre noch nicht tot; der war tot, wir verließen es erst einige Minuten später, weil in uns noch die Spannung war, in der wir uns befunden hat ten. Das Raubtier war tatsächlich über zwei Meter lang und lag ausgestreckt auf dem Hang inmitten des Gesteins. "Ein Prachtexemplar", sagte Songino und fuhr mit den Händen über das dichte Fell, immer gegen den Strich und bis zum Schädel hinauf, den er anhob und wieder fallen ließ. Mehrmals hob er den Bärenkopf an, und jedesmal ließ er ihn erneut auf die Steine zurückfallen. Er lachte dabei, und Santschir kniete nun auch bei ihm und sah zu, wie er den Kopf des Bären kraulte. Als dann Tschimid gekommen war, hockten wir alle um den toten Bären, und sie erzählten ihm durcheinanderredend, wie er erlegt worden war. Sicher erwähnten sie auch meine nicht gerade rühmliche Rolle; nur anmerken ließen sie es sich nicht. Sie schienen mir verziehen zu haben, dem Fremden, dem Gast, der ja mit Bären noch nie zu tun gehabt hatte. Der Mond stand jetzt senkrecht über dem Hügel. Es war
kurz vor Mitternacht, Über den Hang wehte plötzlich ein kalter Wind, und Wolken schwebten heran, dicke Wolken, die hin und wieder den Mond verdunkelten und als schwarze Schatten den Hügel hinabglitten. Santschir, der auf dem Bären gesessen hatte, stand auf, warf die Zigarettenkippe fort und sagte etwas zu Tschimid und Songino, worauf die sich ebenfalls erhoben. "Du kommst zur Kopfseite", meinte Songino, "wir legen ihn auf den Rücken, zum Abhäuten."
Wir wälzten den Koloß nun so, daß er genau auf der Wirbelsäule lag, mit den steifen Beinen nach oben. Tschi mid und Santschir schoben schnell einige Steine unter, damit der Bär nicht wieder zur Seite fiel.
"Wenn du willst, kannst du immer ein Feuer machen", sagte Songino. "Du weißt ja, die Tatzen ., und dann auch wegen der Wölfe." "Wir haben aber kein Wasser", antwortete ich. "Ach, das geht auch so. Wirst es sehen." Songino schnalzte schon wieder mit der Zunge. Ich lief zu dem einzelnen Strauch am Hang, brach die dürren Äste ab und machte auf dem Plateau das Feuer. Der Bär war fast zur Hälfte abgehäutet. In einem Tuch lagen die vier Tatzen. Tschimid und Santschir hatten ihre Jacken ausgezogen, hantierten mit den Dolchen, zogen und zerr ten an dem Fell, wischten sich den Schweiß von den Stir nen und schufteten so flink, daß sie die weiße Haut bald auf den Steinen ausbreiten konnten. Hier und dort schnit ten sie noch ein tüchtiges Stück Bärenspeck heraus, war fen es zu den Tatzen. Dann kamen sie ans Feuer. Kaum daß sie sich niedergelassen hatten, heulten die Wölfe am Waldrand, gierten nach dem Fleisch und Blut, dessen Geruch ihnen der Wind zutrieb. Die Tatzen schmeckten wirklich vortrefflich. Da wir sie nicht mit kochendem Wasser hatten übergießen können, hielten wir sie an den Drähten kurz über die Flammen, zogen danach die Haut ab und brieten sie dann richtig. Wir mußten sie immerzu drehen, da das Fett sehr schnell zu sammenlief und herabrann. Von den zwanzig sichel förmigen Krallen schenkten sie mir sechzehn; die sieb zehnte, achtzehnte und neunzehnte nahmen sich Songino, Santschir und Tschimid, die zwanzigste vergruben sie am Hang bei der Stelle, wo der Bär erlegt worden war. "Das ist so ein alter Brauch", erklärte Songino. Ich fragte, was er bedeute. "Der Sinn besteht darin", und Songino lachte, "daß die
Bären nie aussterben mögen, wegen der gut schmeckenden Tatzen!" Der anstrengende Tag und das Nachtmahl hatten uns sehr müde gemacht. Am liebsten hätten wir gleich auf dem Felsplateau geschlafen. Aber es war kein Holz mehr in der Nähe, um das Feuer zu erhalten. Und die Wölfe heulten noch immer. Also rollten Santschir und Tschimid das Bärenfell wie einen Teppich zusammen und hoben es auf die Schultern. Dann stiegen wir ab. Unterwegs hob ich die Blechflasche auf, die mir aus der Hand gefallen war. "Nimm sie mit nach Hause", sagte Songino. Ich steckte das zerbeulte Ding in die Tasche. Als wir den Fuß des Hügels erreicht hatten, hörten wir, wie sich die Wölfe oben bereits um den Kadaver balgten. Schweigend liefen wir über den zweiten Platz hinüber zum Wald, zu müde, um auch nur ein Wort noch zu wechseln. Unser Auto erreichten wir, als der Morgen dämmerte. Die Blechflasche habe ich übrigens tatsächlich mit nach Hause genommen. Tschimid, Santschir und Songino schrieben noch ihre Namen darauf und das Datum. Sie steht heut auf meinem Bücherregal. Wenn ich sie betrach te, erinnere ich mich der Erlebnisse dieser mongolischen Nacht mit dem weißen Mond und dem mondweißen Bä ren. Ihr blechernes Geschepper höre ich dann auch. Nur die Augen mache ich dabei nicht mehr zu.
Heft 299
Stephen Crane Im Rettungsboot
Vier Männer sind die einzigen Überlebenden einer Schiffskatastrophe. In einem kleinen Boot versuchen sie die Küste von Florida zu erreichen, bedroht von der stür mischen See, von Hunger und schneidender Kälte. Jedes mal wenn das Boot auf den gischtsprühenden Kamm einer Woge geworfen wird, erblicken sie weit in der Ferne den Leuchtturm, der ihnen Rettung verheißt. Aber noch liegen unzählige aufgepeitschte Wellen und die gefährlichen Brecher der Brandung zwischen ihnen und dem Land.