Stefan Wolf
Banditen im Palast-Hotel Ein Fall für
TKKG
ISBN 3-8144-0138-7 © 1983 by Pelikan AG • D-3000 Hannover l ...
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Stefan Wolf
Banditen im Palast-Hotel Ein Fall für
TKKG
ISBN 3-8144-0138-7 © 1983 by Pelikan AG • D-3000 Hannover l Alle Rechte vorbehalten Gesamtleitung und Textredaktion: Egon Fein, f-press medien produktion gmbh, München Umschlag-Gestaltung und Text-Illustration: Reiner Stolte, München Graphische Gestaltung: Heinrich Gerissen, München Gesamtherstellung: westermann druck, Braunschweig Schrift: 10/12 Punkt Palatino Printed in Germany Auflage 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2
Inhalt:
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Ferienreise ohne Tarzan Die Witwe des Betrügers Ein teuflischer Plan Kleiner Unfall nach Mitternacht Vom Schlupfwinkel ins Palast-Hotel Schmutzfleck auf weißem Stiefel Die Verwandlung Entdeckt von Ganoven Waldis Blamage Der Mann mit den Goldkronen Das Pack vereint sich Gefahr für den TKKG Gaby als Geisel Wer den Hals nicht voll kriegt
11 19 30 42 52 64 78 88 101 114 129 144 156 165
TARZAN heißt in Wirklichkeit Peter Carsten, aber kaum einer nennt ihn so. Er ist der Anführer unserer vier Freunde, der TKKG-Bande. Warum sie so heißen? Weil das die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen sind: Tarzan, Klößchen (auch das ist freilich nur ein Spitzname), Karl und Gaby. Tarzan, 13 Jahre und ein paar Monate alt, ist immer braun gebrannt und ein toller Sportler — vor allem in Judo, Volleyball und Leichtathle tik, und da besonders im Laufen. Seit zwei Jahren wohnt der braune Lockenkopf in der Internats-Schule, geht jetzt in die Klasse 9 b. Sein Vater, ein Ingenieur, kam vor sechs Jahren bei einem Unfall ums Leben. Seine Mutter, die als Buchhalterin arbeitet, kann das teure Schulgeld nur mühsam aufbringen. Doch für ihren Sohn ist ihr nichts zuviel. Tarzan dankt es ihr mit guten Zeugnissen. Aber deshalb würde ihn niemand — nicht mal im Traum — für einen Streber halten. Im Gegenteil: Wenn es irgendwo ein Abenteuer zu erleben gibt, ist er der erste und immer dabei. Ungerechtigkeit kann ihn fuchsteufelswild machen. Und so kommt es, daß er für andere immer wieder Kopf und Kragen riskiert.
KARL, DER COMPUTER geht in dieselbe Klasse wie Tarzan, in die 9b, wohnt aber nicht im Internat, sondern bei seinen Eltern in der Stadt. Er heißt mit Nachnamen Vierstein, und sein Vater ist Professor für Mathematik an der Universität. Wahrscheinlich hat Karl von ihm das tolle Gedächtnis geerbt, denn er merkt sich einfach alles — wie ein Computer. Karl ist lang und dünn, und wenn ihn etwas aufregt, putzt er sofort die Gläser seiner Nickelbrille. Bei einer Prügelei nützt ihm sein Gedächtnis leider wenig. Muskeln wären dann besser. Weil er die nicht hat, bleibt er lieber im Hintergrund und kämpft mit den Waffen seines Gehirns — aber feige ist er nie.
KLÖSSCHEN ist ein prima Kerl, an dem man nichts auszusetzen hätte, wenn er bloß nicht so vernascht wäre. Eine Tafel Schokolade — und er wird schwach. Noch lieber sind ihm zwei, drei oder gar fünf Tafeln. So bleibt es nicht aus, daß Willi Sauerlich — so heißt er mit vollem Namen — immer dicker und unsportlicher wird. Zusammen mit Tarzan, in dessen Klasse er auch geht, wohnt er im Internat in der Bude ADLERNEST. Klößchens Eltern, die sehr reich sind und in der gleichen Stadt leben, haben nichts dagegen, denn dem Jungen gefällt es bei seinen Kameraden besser als zu Hause. Da ist mehr los, sagt er. Sein Vater ist Schokoladen-Fabrikant, und er hat sogar einen Zwölf-Zylinder-Jaguar. Heimlich wünscht Klößchen sich, so schlank und sportlich zu sein wie Tarzan.
GABY, DIE PFOTE hat goldblonde Haare und blaue Augen mit langen dunklen Wimpern. Sie ist so hübsch, daß Tarzan manchmal nicht hingucken kann, weil er sonst rot wird. Er mag sie halt sehr gern. Aber affig ist Gaby Glockner deshalb kein bißchen — im Gegenteil: Sie macht alle Streiche mit. Selbstverständlich passen die drei Jungens immer auf sie auf, besonders wenn's gefährlich wird. Vor allem Tarzan ist dann sehr besorgt. Er gibt es zwar nicht zu, aber wenn es darauf ankäme, würde er sich für Gaby zerreißen lassen. Sie wohnt, wie Karl, bei ihren Eltern in der Stadt, besucht aber auch die Klasse 9b im Internat. Der Vater ist Kriminalkommissar, die Mutter führt ein kleines Lebensmittelgeschäft. Als Rückenschwimmerin ist Gaby unschlagbar, und in Englisch hat sie die besten Noten. Sie ist sehr tierlieb und läßt sich von jedem Hund die Pfote geben, deshalb heißt sie auch „Pfote". Kein Wunder, daß sie mit großer Liebe an Oskar hängt, ihrem schwarz-weißen Cocker-Spaniel, Leider ist er auf einem Auge blind. Aber er riecht alles, besonders gebratene Hähnchen.
Stefan Wolf Ein Fall für TKKG Die Jagd nach den Millionendieben Der blinde Hellseher Das leere Grab im Moor Das Paket mit dem Totenkopf Das Phantom auf dem Feuerstuhl Angst in der 9 a Rätsel um die alte Villa Auf der Spur der Vogeljäger Abenteuer im Ferienlager Alarm im Zirkus Sarani Die Falschmünzer vom Mäuseweg Nachts, wenn der Feuerteufel kommt Die Bettelmönche aus Atlantis Der Schlangenmensch Ufos in Bad Finkenstein X 7 antwortet nicht Die Doppelgängerin Hexenjagd in Lerchenbach Der Schatz in der Drachenhöhle Das Geheimnis der chinesischen Vase Die Rache des Bombenlegers In den Klauen des Tigers Kampf der Spione Gefährliche Diamanten Die Stunde der schwarzen Maske
l. Ferienreise ohne Tarzan? Es war der letzte Montag vor den Sommerferien, und man konnte nur staunen, daß die Klassen sich noch füllten. Körperlich zumindest waren Schüler und Schülerinnen anwesend. Geistig schwebten sie schon in den Wolken, im Jumbo-Jet etwa, der sie an südliche Urlaubsziele bringen sollte. Die Vorschau auf superstarke Abenteuer flimmerte in den Köpfen wie der aufwendigste Film. Und die Flippis, die Affenfaulen also, träumten vom wochenlangen Rumhängen und Nichtstun. Tarzan lehnte neben der Klassentür an der Flurwand und wartete auf seine Freunde. Nicht nur auf Gaby und Karl, die Externen (Fahrschüler), sondern auch auf Klößchen. Sein dicker Freund und Budenkamerad hatte nämlich den Sonntag bei seinen Eltern in der Stadt verbracht. Also war zu erwarten, daß das Trio gemeinsam an tanzte. Markus Meyer, Klassensprecher der benachbarten 9c, schlurfte heran. Er war müde wie immer und hing wie Himbeerpudding in seinem Ringel-T-Shirt. „Erste Stunde fällt aus. Die Steißtrommler konferenzen. Guuuuut!" In sein Gähn-Maul hätte eine Kokosnuß gepaßt. „Dann kann ich mir noch einen Pennematz reinziehen." Tarzan nickte. „Ist das amtlich?" „Daß ich pofen will?" „Daß die Stunde ausfällt, du Penner!" „Klar! Der Direx hat's zum Schlitzohr gesagt. Hab's gehört. Gleich wird's über Lautsprecher durchgesabbelt." Aber das wartete Tarzan nicht ab. Er trabte zum Ausgang. Im Hof kamen ihm Gaby, Karl und Klößchen entgegen. Mit ihnen kamen drei Dutzend Stadtschüler — alles, was der Schulbus herangebaggert hatte. Tarzan stoppte seine Freunde und sagte, was Sache war. „Kommt ihr mit? Ich gehe in den Park. Bei dem Wetter drin zu hocken — das grenzt ja an Käfighaltung. Wir sollten über-
haupt mal darüber sülzen, ob wir nicht ein Schönwetterfrei durchsetzen können. Hitzefrei ist witzlos. Schönwetterfrei wäre der Hit — das Gegenteil ist, meine ich, Freiheitsberaubung." Karl lachte. „Ob das die Schülermitverwaltung schafft? Ich weiß nicht. Aber der Vorschlag ist gut." Gaby lächelte mit Lippen und Blauaugen. „Ich komme mit." „Und wie ist es dir ergangen?" wandte Tarzan sich an Klößchen. Klößchen glänzte. Tatsächlich, er glänzte vom ZickzackScheitel bis zu den Senkfüßen. Aber das rührte nicht her von Bad oder Dusche, auch nicht von Frischwäsche und den karierten Bermuda-Shorts mit der messerscharfen Bügelfalte — nein, Klößchens Glanz kam von innen. Seine Augen strahlten. Nur wenig fehlte — dann wären seine Ohren in dem Grinsen verschwunden. „Och", meinte er, „war ganz drollig, der 24-Stunden-Besuch bei den vermögenden Sauerlichs, meinen lieben Eltern. Im übrigen - äh . . . also, wenn wir im Park sind, hätte ich euch eine Kleinigkeit zu berichten." „So benimmt er sich schon, seit er in den Bus stieg", sagte Gaby zu Tarzan. „Geheimnisvoll. Ich vermute, eine höhere Instanz (Amtsstelle) hat ihn zum Reserve-Weihnachtsmann ernannt. Das wird dann ein schokoladenreiches Fest." „An den Winter", krähte Klößchen, „denke ich noch lange nicht. Was ich auf der Rolle habe, ist wesentlich heißer." Im Park, dem sogenannten Pauker-Grün, hütete der Morgen seine Stille — sieht man mal ab von den Singvögeln, die lautkehlig um die fettesten Würmer stritten. Drei Schulmappen flogen neben einer Bank ins Gras, achtlos — denn der Inhalt, abgesehen von den Frühstücksbroten, wurde so kurz vor den Sommerferien als wertlos eingestuft. Dann reihten Gaby, Tarzan und Karl sich auf wie Hühner auf der Stange.
Klößchen setzte sich nicht. In Rednerpose stellte er sich vor seine Freunde. Sogar die Amseln in der Nähe blickten gespannt. Himmel, was kommt jetzt? dachte Tarzan. Wird er uns mitteilen, daß er seinen eigenen Rekord im Schokoladenfressen gebrochen hat — und nun aufgenommen wird in ein dusseliges Rekordbuch? „Ähhh", sagte Klößchen und räusperte sich die Kehle frei, „also, verehrte Anwesende und Mitglieder der TKKGBande, bevor ich zum Ende komme, muß ich etwas weiter ausholen, denn ein klarer Gedanke verlangt den richtigen Aufbau, nicht wahr? Beginne ich mal damit: Uns allen stehen die Sommerferien ins Haus, wie schönf" „Eine sensationelle Nachricht", meinte Tarzan spöttisch. „Du solltest das auch den ändern sagen. Ich ahne nämlich, bis jetzt wissen nur die Pauker Bescheid." „Ruhe auf den billigen Plätzen!" befahl Klößchen. „Ich sagte ja, daß ich etwas weiter ausholen muß. Nochmal also: Die Ferien stehen bevor. Just in dieser Zeit lassen es sich meine vermögenden Eltern zur lieben Gewohnheit werden, interessante Reisen zu unternehmen. Bekanntlich ist die Welt voll von herrlichsten Reisezielen. Fernreisen haben den Vorteil, daß man bei der Rückkehr unbekannte Krankheiten einschleppt. Bei Abenteuerreisen wird man vielleicht das zweite Frühstück eines Grizzlybären oder der Hauptgang bei den Kannibalen (Menschenfressern) auf der Festtagsspeisekarte. Bei Nahzielen aber — ich meine, innerhalb Europas — besteht eine gute Überlebenschance." „Er geigt auf Allgemeinplätzen rum", sagte Gaby. „Ich glaube, er hat uns überhaupt nichts zu sagen. Wir könnten den Singvögeln zuhören, Willi. Stattdessen nervst du uns mit deiner Touristik-Werbung (Touristik = Reisewesen). Machst du auf Reiseunternehmer?" „Hähähäh!" Klößchen gackerte. „Gar nicht so schlecht, Pfote. Hast es beinahe erraten. Fasse ich mich also kurz: Un-
ter Verzicht auf modische Weltreisen verurlauben meine lieben Eltern die schönste Zeit des Jahres immer am selben Ort. Und im selben Hotel. Zweimal war ich schon mit. Ihr wißt es aus meinen Erzählungen. Und ich kann nur wiederholen: Es ist einsame Spitze. Dieses Jahr nun fahren meine Eltern wieder hin: an Spaniens südliches Gestade, nämlich an die Sonnenküste Costa del Sol, in den schicken Badeort Marbella. Und dort ins berühmte Palast-Hotel." Karl stöhnte. „Und um uns das mitzuteilen, erzwingst du unsere Aufmerksamkeit, du Flop (Schuß in den Ofen)." „Mitnichten", wehrte Klößchen ab. „Das war ja nur die Vorrede. Aber jetzt kommt's. Ich - ja, ich fahre mit." „Zum dritten Mal", nickte Gaby. „Ich nehme an, während deines Aufenthalts kassiert das Hotelpersonal Schmerzensgeld-Zulage. Außerdem: Voriges Jahr hattest du in Spanien Durchfall." Klößchen grinste. „Erstens bin ich inzwischen gereift. Das heißt, ich beschädige nicht mehr soviel wie damals. Zweitens kommt mein Vater für jeden Schaden auf. Drittens nehme ich genügend Schokolade mit. Die stopft. Und viertens seid ihr ja dabei. Das heißt", er grinste, „im Falle eines Falles macht Einigkeit stark." Nach einem Moment der Stille sagte Tarzan: „Wieso sind wir dabei?" „Na, ihr kommt mit." „Wohin?" „Sagte ich doch: nach Marbella, ins Palast-Hotel." „Wer wir?" Tarzan, dessen Verstand sonst wie die Schnellfeuerkanone eines Raketenjägers funktioniert, hatte Ladehemmung. „Ihr!" Klößchen feixte. Sein Mondgesicht war kurz vor dem Zerplatzen. „Ich sag's mal ganz langsam, ja? Gabriele Glockner, Karl Vierstein und Peter Carsten werden mitreisen, das heißt, mitfliegen nach Marbella. Ist'ne Über-
raschung, wie? Hermann Sauerlich, der bekanntlich mein Vater ist, hat schon alles gedeichselt. Die Plätze im Jet (Flugzeug) sind gebucht, die Hotelzimmer bestellt. In einer Woche geht's los." „Aber das ist doch unmöglich!" rief Gaby. „Viel zu teuer. Meine Eltern haben das kleine Grundstück gekauft. Deshalb verzichten wir dieses Jahr auf den Urlaub." Karl nickte. „Ich glaube auch nicht, daß meine Eltern mir einen so teuren Urlaub bewilligen. Palast-Hotel! O weh! Wo's so stinke vornehm zugeht, ist doch die Kohle weg wie nichts. Nee, Willi, ist gut gemeint. Aber während der Sommerferien hat die TKKG-Bande Pause, weil jeder woanders steckt und . . . " „Putz und Kiste!" Klößchen stampfte auf. „Seid ihr denn heute behämmert? Wer redet von Geld? Ihr seid eingeladen. Eingeladen! Mein Vater zahlt alles. Bis zur letzten Peseta. So heißt das spanische Geld. Ihr müßt nur die Zeit erübrigen. Sonst nichts. Aber das lohnt sich, meine ich. Bestimmt haben wir einen knackigen Urlaub." „Wir sind eingeladen?" flüsterte Gaby und konnte die Neuigkeit nicht fassen. Klößchen nickte viermal. „Erstens mögen meine Eltern euch sehr, was ich wohl nicht betonen muß. Zweitens gehen meines Vaters Geschäfte hervorragend. Die Menschheit schreit sozusagen nach Schokolade, und Hermann Sauerlich ist ein hervorragender Fabrikant. Drittens macht es meinen Eltern enorme Freude, wenn ihr mit seid. Damit wäre also alles klar. Daß eure Eltern grünes Licht geben, ist zu erwarten. Mann, o Mann! Wird das eine Fete (Fest)." Im nächsten Moment passierte es. Gaby sprang auf. Mit beiden Armen umschlang sie Klößchen und drückte ihn an sic h. Er lief auch gleich rot an, als hätte er schon fünf Stunden am Mittelmeerstrand in der Sonne geröstet — ohne Sonnenmilch oder Öl, versteht sich.
„Willi!" Sie tanzte um ihn herum. „Spitze! Super! Klasse! Affenstark! Wir vier dort — das wird der Hit des Jahres. Ich bin noch nie geflogen. Hoffentlich überstehe ich das ohne Ohnmacht." Auch Karl schüttelte Klößchens Hand wie einen Pumpenschwengel, knuffte ihn kameradschaftlich und riß sich dann die Nickelbrille von der Nase, um die Gläser zu polieren. Was er ja immer tut, wenn er innerlich ausflippt. Nur auf Tarzan sprang der Funke der Freude nicht über. Sein gebräuntes Gesicht blieb ernst, als er Klößchen die Hand auf die Schulter legte. „Ich danke dir, Willi. Ich kann mir ausmalen, wie du deinen Eltern auf der Seele gekniet hast — was sage ich: wie du Trampolin-Sprünge gemacht hast auf ihren Psychen (Seelen), damit sie uns mitnehmen. Ja, natürlich, sie tun's gern. Schließlich kennen wir deine Eltern. Ist riesig nett, die Einladung, und ich wünsche euch dreien Mordsspaß, den ihr bestimmt haben werdet. Nur kann ich leider nicht mit." „Waaaaas?" Klößchens Kinn hing auf halb neun. Gaby unterbrach ihren Flamenco (spanischen Tanz). Karl hielt inne mit dem Polieren seiner Brillengläser. „Es geht nicht." Tarzan lächelte, wie man nur auf Beerdigungen lächelt. „Wieso nicht?" fauchte Gaby ihn an. Ihre Stimmung war plötzlich auf null. „Hast du Einreiseverbot nach Spanien? Natürlich nicht. Verträgst du die Hitze nicht? Du, der SuperSportler mit dem Schrank voller Pokale? Natürlich nicht. Was hält dich also ab? Ein Judo-Turnier? Das wäre die Höhe! Oder willst du mal eine Woche allein sein, heh?" „Also, Pfote", sagte Karl. „Jetzt redest du Scheiß. Und das solltest du wissen." Dann sah er, daß sie Tränen in den Augen hatte. Und plötzlich begriff er: Wenn Tarzan nicht mitkam, würde Gaby wenig Freude haben an der Reise.
Tarzan hatte nichts erwidert. Stumm sah er seine Freundin an. Gaby schluckte, trat zu ihm und legte das Gesicht an seine Schulter. „Kratzbürste!" Er streichelte über ihr Blondhaar und hielt sie dann sanft an sich gedrückt. „Also, weshalb nicht?" fragte Gaby durch die Nase. „Ihr wißt doch, wie selten ich meine Mutter sehe. Und wie hart sie arbeitet, um mir das Internat zu ermöglichen. Am kommenden Wochenende beginnt ihr Jahresurlaub — jedenfalls hat sie drei Wochen frei. Die will sie mit mir verbringen. Und — um ehrlich zu sein — ich freue mich sehr drauf. Wir bleiben zu Hause, werden aber viel unternehmen. Schade, daß das mit der Marbella-Reise zusammenfällt." „Verdammte Kiste!" fluchte Klößchen. „Davon hast du mir bisher nichts gesagt." „Es war ja kein Thema. Oder ist es was Außergewöhnliches, daß ich zu Ferienbeginn nach Hause fahre?" „Und wenn deine Mutter ihren Urlaub verschiebt?" Tarzan schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Schon gar nicht so kurzfristig. Ich weiß, wie das abläuft in ihrem Betrieb." „Aber es muß doch eine Lösung geben!" rief Gaby. Tarzan zuckte die Achseln. Todunglücklich fühlte er sich. Nicht weil ihm die Reise entging, jedenfalls nicht vornehmlich. Sondern weil er spürte, daß seine Verhinderung auch den ändern die Freude nahm, allen voran Gaby. Sie waren wirklich eine verschworene Gemeinschaft — und zigfach bewährt. Fehlte einer, dann fehlten nicht nur 25 Prozent der stimmberechtigten TKKG-Mitglieder, sondern dann war eben ein Loch in der Luftmatratze — und die Luft raus aus dem affenstarken Gerät (der ganz tollen Sache). Verdammter Hirnriss! Klößchen, eben noch stolz wie ein Spanier, sah sich schon allein — mit seinen lieben Eltern — im südlichen Spanien. Verflucht und zugenäht! Wo er sich doch so gefreut hatte!
2. Die Witwe des Betrügers Luise Prachold sah ihn, als sie den Friedhof betrat. Der Mann stand drüben an der Bushaltestelle. Aber der Bus hatte eben vor ihm gehalten und war abgefahren, ohne daß er einstieg. Die Spiegelgläser seiner Sonnenbrille glänzten. Sah er zu ihr her? Sie fröstelte. Das Männer ihr nachstarrten, daran war sie gewöhnt. Was sie an diesem Mann beunruhigte, war sein Äußeres. Er sah aus wie ein Spanier: Groß, dunkel, mit durchfurchtem Torero (Stierkämpfer)-Gesicht. . . . sieht aus wie ein Andalusier (Andalusien = spanische Landschaft), dachte sie und formte halblaut die Worte: „Und vor Andalusiens Küste ist Erik gestorben. Gestorben! Gestorben! Jedenfalls für tot erklärt." Sie ging die Kieswege entlang. Es war ein Hochsommermorgen. Die Sonne brannte. Hecken grünten. Bäume spendeten Schatten. Vögel hüpften über Gräber und Grabsteine. Um diese Zeit war kein Betrieb auf dem Gottesacker. Luise genoß die Stille. Der Gedenkstein für ihren Mann war aus Marmor, Eriks Foto hinter Glas. Er blickte ernst und etwas unsicher, wie immer — wenn er keine Brille getragen hatte. Auf dem Gedenkstein standen nur sein Name und die Daten von Geburt und Tod. Luise zählte bis 60: Die Gedenkminute. Aus den Augenwinkeln sah sie umher. Aber nur ein altes Mütterchen, krumm vom Unkrautjäten ihrer Gräber, humpelte mit der Gießkanne zur Regenwassertonne. Luise wandte sich zum Ausgang. Auf der Schnellstraße zischten Wagen vorbei. Hier lebte man - noch. Und viele fuhren, als gäbe es dafür Garantien. Sie stieg in ihren Wagen. Als sie abfuhr, sah sie ihn abermals — den Spanier.
Er stand jetzt an einer anderen Stelle, im Schatten eines Baumes und drehte den Kopf, um ihre Abfahrt zu verfolgen. Wer war das? Was wollte er? Oder doch nur ein Zufall? Wenn schon! dachte sie. Nicht mehr lange, und ich bin verschwunden von hier. Dann verwirklicht sich der Traum vom freien Leben im sonnigen Süden. Zuhause zog sie die Trauerkleidung aus und hüpfte in den Swimmingpool. Auf den Hinterpfoten tanzte Bouboulette bellend am Rand. Die kleine Hündin litt jedesmal Todesängste, wenn ihr Frauchen ins Wasser tauchte. Bouboulette — ein pekinesenartiger Mischling — war wasserscheu und glaubte offenbar, Luise ertrinke. Das Gekläff nervte. Bouboulette wurde ins Haus gesperrt. Dort kläffte sie weiter und drückte ihre Backpflaum-Nase ans Glas der Terrassentür. Luise war 29 und ungewöhnlich hübsch. Sie hatte milchweiße Haut, die auch in der Sonne so blieb, blauschwarzes Haar und graue Augen in einem ebenmäßigen Madonnengesicht. Nur fünf Jahre war sie verheiratet gewesen mit Erik Prachold, dem Geschäftsführer einer namhaften Firma. Die ser Tage hätte Erik seinen 44. Geburtstag gefeiert, wäre er hier gewesen. Als sie aus dem Schwimmbecken stieg, sah sie Kommissar Glockner. Gabys Vater stand an der Gartenpforte, winkte ihr zu und bedeutete mit fragender Geste, ob er nähertreten dürfe. Sie nickte, lächelte strahlend, seufzte leise und wickelte sich in ihren Pareo (Hüfttuch aus der Südsee). Kommissar Glockner kam zur Terrasse. Sein Lächeln war sparsam und mehr höflich als freundlich. Er mochte Luise Prachold nicht. Aber das war nur ein Gefühl, denn vorbringen konnte er nichts gegen sie. Alles, was er ermittelt hatte, belastete nur ihren Mann. Was natürlich nicht hieß, daß sie ohne Schuld war.
Sie bot ihm Platz an und strahlte unentwegt. „Bouboulette schimpft. Bitte, stören Sie sich nicht daran." „Natürlich nicht. Sie ist wachsam. Wir haben einen Cokker-Spaniel. Der verbellt auch jeden Fremden." Gabys Vater war ein großer Mann, stabil, mit schütterem Haar und kräftigem Gesicht. Seiner genauen Beobachtung entging nichts. „Tja, Frau Prachold", kam er aufs Thema. „Unsere Ermittlungen sind nun abgeschlossen. Leider ist das Ergebnis wenig erfreulich. Ihr Mann — das steht einwandfrei fest — war kein Ehrenmann. Er hat insgesamt 520.000 Mark unterschla gen. Bei seiner Firma. Das konnte nicht verborgen bleiben. Demnächst wäre er aufgeflogen." Sie hielt seinem Blick stand. „Sie können es mir glauben, Herr Glockner: Ich habe nichts davon gewußt. Erik hat mir immer vorgegaukelt, daß er sehr gut verdient. In unsere Finanzen hatte ich keinen Einblick." Vielleicht! dachte er. Vielleicht aber auch nicht! Sie ist glatt wie ein eingeseifter Aal, die Dame. „Uns stellt sich nun die Frage, Frau Prachold, ob Ihr Mann wirklich verunglückt ist. Oder ob er vielleicht Selbstmord beging und . . . " „Unmöglich!" fiel sie ihm ins Wort. „So war Erik nicht. Leichtsinnig, ja. Auch bedenkenlos und - leider - nicht ehrlich, wie sich jetzt herausstellt. Aber kein Selbstmörder." „Hm. Doch bitte bedenken Sie: Am Morgen des 14. Mai ist er am ziemlich einsamen Strand vor dem Palast-Hotel von Marbella mit dem Surfbrett gestartet. Es war windig. Die Surflehrerin, die ihn beobachtet hat, sagt aus, er sei schlankweg in südliche Richtung über die Wellen geglitten — aufs offene Meer hinaus. Immer weiter, bis er hinter dem Horizont verschwand. Boote und Yachten gibt es um diese Zeit vor Marbella viel weniger als man denkt. Das Verhalten Ihres Mannes war selbstmörderisch. Abgesehen vom Surfbrett hat man dann auch nichts mehr gefunden."
„Er war ein ausgezeichneter Surfer. Ich hätte ihm zugetraut, daß er die Küste Afrikas, daß er Marokko erreicht." „Aber er war nicht in Form. Sie wissen doch: Am Vortag hatte er einen spanischen Arzt aufgesucht. Wegen Herzbeschwerden." „Das begreife ich bis heute nicht. Bei mir hat er nie über Herzbeschwerden geklagt." Glockner blickte auf den Swimmingpool. Sommerwind kräuselte die Wasserfläche. Die Kacheln waren türkisgrün. Dicht am Rand paddelte ein dicker Käfer, eben hineingefallen, verzweifelt um sein Leben. Der Kommissar ging zum Rand, schob eine Hand ins Wasser und unter den Käfer und hob ihn aufs Trockne. Kaum saß er auf dem warmen Stein, propellerte er mit den Flügeln und schwirrte ab. „Fuhr Ihr Mann öfter allein nach Marbella?" „Ab und zu. Um den Hausbau voranzutreiben. Wie Sie wissen, ist unsere kleine Villa fast fertig. Später wollten wir ganz nach Spanien übersiedeln. Erik hatte sich sehr darauf gefreut." „Verzeihen Sie die persönliche Frage: Haben Sie Ihren Mann geliebt?" „Ich liebe ihn noch, Herr Kommissar, sowas endet nicht mit dem Tod," „Wir haben keinen Hinweis darauf, daß Sie an dem Betrug beteiligt sind. Das heißt, die Ermittlungen gegen Sie werden eingestellt. Aber für den Schaden, den Ihr Mann seiner Firma zugefügt hat, müssen Sie aufkommen." „Ich weiß." Sie wischte Wasserperlen aus ihren Wimpern. „Für Haus und Grundstück", sie machte eine ausholende Geste, „habe ich einen Käufer gefunden. Er zahlt mir mehr als 520 000. Außerdem habe ich, wie Ihnen ja bekannt ist, Eriks Lebensversicherung erhalten. 1,5 Millionen. Ich bin eine reiche Frau." „Trotzdem wollen Sie hier verkaufen?"
Sie nickte. „Mein Traum ist Marbella. Hier in diesem Haus würden mich die Erinnerungen wie Gespenster verfolgen. Ich werde den Hausbau zu Ende führen und dann dort le ben. Alle Vermögenswerte habe ich schon transferiert (transferieren = Geld ins Ausland überweisen). Ich bin noch zu jung, um als Witwe zu versauern, obwohl Erik immer in meinem Herzen bleibt. In Marbella kann ich noch einmal anfangen." „Wie ich feststelle, haben Sie hier schon alles abgewickelt. Wann gedenken Sie, nach Marbella zu gehen?" „In einer Woche. Ich fliege am Montag." Glockner lächelte ausdruckslos. „Wo kann ich Sie erreichen, falls es noch eine Unklarheit gibt?" „Solange das Haus noch im Bau ist, wohne ich im PalastHotel."
Was die wohl aushecken, dachte Tarzan. Sicherlich Feriensalat nach der Art von TKKG. Vielmehr: KKG. Denn ich mische ja nicht mit. Diese Heimlichkeit hält man im Kopf nicht aus. Aber ich frage nicht. Das habe ich Pfote in die Hand versprochen, beziehungsweise Gaby in die Pfote. Es war wirklich zum Ausrasten an diesem Vormittag. Seine Freunde leierten was an. Aber er hatte Zutrittsverbot. Jedenfalls sagte Gaby zu ihm: „Du schnallst jetzt mal ab, bis wir dir sagen, was läuft. Es geht um dich, um deine überflüssige Person. Aber laß dich überraschen. Vielleicht sind wir nicht ganz so hilflos, wie der große Macher denkt." Der große Macher war er. Peng! Das saß. Jedenfalls fühlte er sich wie das fünfte Rad am Rennwagen, während die drei fortgesetzt tuschelten, knallhart was ausmachten und während der Pausen hinausrannten. Der Kuckuck mochte wissen, wohin. Offenbar mühten sie sich ab. Für ihn. Er fand das echt gut, sogar rührend, aber nutzlos. Denn wo wollte man was wie
ändern — an dieser bedauerlichen Gleichzeitigkeit zweier Spitzen-Ereignisse: den Ferien mit seiner Mutter und der Sauerlich-finanzierten TKKG-Reise nach Spanien? Die Traurigkeit drückte schwer auf seine sportgestählten Schultern. Kein Lächeln verzog an diesem Vormittag sein Gesicht - nicht mal, als Malte Pfeifer seine Hose verlor. Dem dicklichen Jungen riß nämlich der Gürtel, als er — während der Englisch-Stunde — vorn an der Tafel stand. Und rutsch! - hingen ihm die Leinenjeans in den Kniekehlen, worauf die Klasse fast im Gelächter erstickte. Sogar dem Englisch-Pauker liefen Lachtränen in seinen ewigen DreiTage-Bart. Nur Tarzan starrte todernst auf die knielangen Unterhosen, während Malte einen doppelten Kampf führte: Einerseits gegen eine bedrohliche Ohnmacht, andererseits gegen die rutschenden Jeans. Ende der letzten Pause kamen Gaby, Karl und Klößchen wie die Weihnachtsengel von draußen herein. Soviel Glücklichkeit auf drei Gesichtern hatte Tarzan noch nie gesehen. Aber sie ließen ihn zappeln, mußten es tun, weil gerade die Stunde begann und Dr. Pröger Gerede nicht duldete. Wer schwätzte, auf den stieß er herab wie ein Habicht auf Tauben. Immerhin - Gaby blies Tarzan erst ein Kußhändchen zu und dann gegen ihren goldblonden Pony, der heute mittellang in die Blauaugen hing. Zusätzlich schickte sie ihm durch die Wimpern einen Blick, in dem alle Zuversicht der Welt lag. Karl feixte durch die Brillengläser und machte mit den Fingern das Siegeszeichen. Grinsend fletschte Klößchen die Zähne. Er rieb sich die Hände wie unter einem Heißlufttrockner und blinzelte Tarzan zu — über drei Bänke hinweg, denn während der Englischstunde saßen die Budengenossen nicht nebeneinander.
„Sauerlich!" sagte Präger durch die Zähne. „Bist du bald fertig?" „Ich bin fertig, Herr Studienrat. Verzeihung, womit?" „Was weiß ich, was du treibst! Wäscht du dir die Hände?" „Ist mangels Wassers unmöglich, Herr Studienrat." „Und was gibt's da zu grinsen?" „Ich habe an etwas Erfreuliches gedacht." Präger zügelte seinen Unmut. Ferienfieber hatte ihn zwar noch nicht befallen. Aber sein Verständnis reichte, um die ändern zu verstehen. „Bis Donnerstag ist noch voller Unterricht", erklärte er ohne Hoffnung. „Versucht wenigstens, euch zu konzentrie ren. Stellt euch vor, ihr fahrt während der Ferien ins Ausland. Da ist es sehr nützlich, wenn man die englische Sprache beherrscht. Sauerlich, was ist daran so erheiternd?'* „Wir fahren nach Spanien, Herr Studienrat. Da nützt uns Englisch nicht viel. Me entiende usted? (Verstehen Sie mich?)" „Si(Ja)!" lächelte Präger. „Fährst du mit deinen Eltern?" „Und mit meinen Freunden", nickte Klößchen, „mit Gaby, Karl und Tarzan." „Buen viaje (Gute Reise)!" wünschte Präger. Ob seine Spanisch-Kenntnisse noch weiter reichten, war nicht bekannt. Nach dieser Antwort von Klößchen saß Tarzan wie auf Nadeln und konnte das Ende der Stunde kaum erwarten. Endlich gongte es. Die Schläfer schreckten auf. Die wenigen, die mit einem Ohr den Prögerschen Ausführungen gefolgt waren, schalteten mitten im Wort ab. Der Studienrat seufzte, sagte noch irgendwas und beugte sich dann übers Klassenbuch. Während die ändern hinausstürmten, als stürze jeden Moment die Decke ein, schlenderte Tarzan zu seinen Freunden. Natürlich gab er sich cool (kühl) und hoffte, daß er auch so wirke.
„Geheimbündelt ihr noch? Oder kann ich mich zu euch gesellen!" „Gesell dich nur", lachte Gaby und war rosig überhaucht vor Freude. „Wir sollen dich sehr herzlich von deiner Mutter grüßen", sagte Karl. Tarzan verdrehte die Augen. „Also habt ihr sie angerufen. Das war's. Und habt sie gedrängt, auf ihren einzigen Sohn zu verzichten und den Urlaub allein zu verbringen, ihr Armleuchter!" „Ich muß doch sehr bitten!" Gaby puffte ihn in die Rippen. „Erstens irrst du dich, denn wir sind ja nicht blöd. Zweitens haue ich dir eine rein, wenn du was anderes als Kosenamen für mich verwendest." „Also gut, herzallerliebste Pfote, womit habt ihr meine Mutter drangsaliert?" „Ph, ph — drangsaliert nennt er das", kicherte Klößchen, „wenn wir die Zufriedenheit aller organisieren. Die Sache ist einfach. Deine Mutter findet es toll, daß wir zusammen nach Spanien Jetten (fliegen). Sie kommt auch. Montagabend treffen wir uns alle auf dem Flughafen Malaga." Ungläubig sah Tarzan seine Freunde an. „Was? Macht ihr Witze?" „Deine Mutter wird selbstverständlich im Palast-Hotel wohnen", fuhr Klößchen fort. „Mein Vater veranlaßt das. Er kümmert sich auch darum, daß deine Mutter ganz bestimmt ein Flugticket erhält. Schließlich kennt er Gott und die Welt, und wozu hat er Vitamin B (Beziehungen)." Langsam schmolz das Eis in Tarzans Zügen. Seine Augen begannen zu strahlen. „Ich werd' verrückt. Wenn meine Mutter . . .nach Marbella . . .mit uns . . . Das werden die superaffenstärksten Ferien, die . . .Moment! . . .Zufällig weiß ich, Freunde, wie Mutters Finanzen stehen. Ein Urlaub im Palast-Hotel ist viel zu teuer. Auf meinem Sparbuch sind zwar meine Anteile der
Prämiengelder versammelt, die wir ergattert haben. Aber das würde Mutti nicht anrühren - nicht mal, wenn ich sie darum bitte." Klößchen nickte. „Hat sie uns auch gesagt. Aber für eine halbe Woche Palast-Hotel reichen ihre Mittel." „Ach so", sagte Tarzan. „Sie bleibt nur eine halbe Woche?" „Sie bleibt drei Wochen", sagte Klößchen, „wie wir. Aber das erfährt sie erst an Ort und Stelle. Weil sie sonst vielleicht gar nicht käme. Wenn sie erstmal da ist, wird sie's schon zulassen, daß mein Vater seine Einladung auf sie ausdehnt.
Weißt du, was ich dir von ihm ausrichten soll: Er freut sich sehr, daß er mal was für den besten Freund seines Sohnes tun kann. Und für deine Mutter auch. So, damit wären alle Schwierigkeiten beseitigt. Jetzt könnten wir eigentlich mit der Vorfreude anfangen." Tarzan mußte an sich halten, um nicht auszuflippen. Aber dann durchbrach die Begeisterung alle Dämme. Mit einem einzigen Griff seiner muskulösen Arme raffte er seine drei Freunde zu einem Bündel zusammen. Und drückte sie an sich. „Hilfe!" rief Gaby, eingezwängt zwischen Klößchen und Karl. Karls Knocken knackten. Klößchen litt unter Luftmangel. „Ich könnte euch umarmen", rief Tarzan. „Aber bitte einzeln!" flehte Gaby und lachte.
3. Ein teuflischer Plan Gegen Abend tobte ein Gewitter über Stadt und Land. Luise Prachold ging früh zu Bett. Bouboulette rollte sich auf dem Fußende zusammen. Das war ihr gestattet, und sie hätte diesen Platz mit ihren winzigen Zähnen verteidigt. Das Schlafzimmer lag im Obergeschoß. Durchs Balkonfenster hörte Luise, wie die Bäume im Unwetter ächzten. Dann hörte sie das Klirren. Es kam von der Hintertür. Die kleine Hündin hob den Kopf, lauschte und schnaufte ärgerlich. Beunruhigt war sie nicht. Sie kannte die Schritte, die jetzt die Treppe heraufkamen. „Waldi?" rief Luise. „Wer denn sonst?" antwortete eine Männerstimme. „Oder hat noch jemand den Schlüssel zur Hintertür?" Er lachte markant. Daran hatte er lange geübt. Luise warf rasch einen Blick in den Spiegel und war mit sich zufrieden. Dann kam Waldemar Luschner, genannt Waldi, herein. Er war schlank. Aber seine Schultern füllten den Türrahmen. Er war ein 190-cm-Waldi, 31jährig, mit braunem Seidenhaar und kühlen Onyx-Augen (Qnyx = schwarzer Halbedelstein). Er trug einen hellblauen Rohseidenanzug, ein dunkelblaues Hemd und ein Goldkettchen auf der braungebrannten Brust. All das hatte Luise bezahlt, auch die handgearbeiteten Slipper. Ebenso verdankte er ihr die 8000Mark-Uhr am kräftigen Handgelenk und den kleinen Sportwagen, den er in der Nähe geparkt hatte. „Hallo, Liebling!" Er trat zu ihr ans Bett und küßte ihr Gesicht ab wie einen Schokoladenpudding, Sie streichelte seine Wange. „Hat dich jemand gesehen?" „Niemand. Bin durch den Garten geschlichen. Mit dem Regenschirm." Er lachte. „Aber meine Nerven verschicken
Dankschreiben, wenn dieses heimliche Getue endlich aufhört." „Bald. Schon in einer Woche. Das heißt, wir müssen auch in Marbella vorsichtig sein. Und . . . O Gott, Waldi! Mich plagen Sorgen." Er setzte sich auf die Bettkante. „Wo zwickt es denn, LieblingLiebling zupfte am Nachthemd. Dann sagte sie: „Die Polizei ist besänftigt. Kommissar Glockner war heute hier. Der Fall Prachold wird abgeschlossen. Aber ich werde verfolgt, glaube ich." „Verfolgt?" Er schob die dichten Brauen zusammen. Früher hatte er das getan, wenn er die Rechnung servierte. Denn er war gelernter Kellner. Aber inzwischen jobbte er nicht mehr. Er war nur noch für Luise da. Besaß er doch ihre Liebe schon lange. Und was Kohle, Kies, Knete betraf — ob in DM oder Peseta -, da hatte es noch nie Streit gegeben. Luise war großzügig und Waldi zufrieden. „Ja", nickte sie. „So ein spanisch aussehender Typ interessiert sich für mich." Sie erzählte. Waldi bohrte die Zähne in die Lippen. „Das gefällt mir gar nicht, Liebling. Ist dein Alter etwa mißtrauisch geworden? Läßt er dich beobachten?" „Daran habe ich auch schon gedacht, aber den Gedanken wieder verworfen. Es paßt nicht zu Erik. So gerissen wie er sonst ist — mir vertraut er. Mit Frauen tut er sich eben schwer. Frauen durchschaut er nicht. Er würde aus allen Wolken fallen, wenn er erführe, wie lange wir schon zusammen sind." „Gut, gut! Das mag zutreffen für den grauen Alltag, Pfingsten, Silvester und normale Situationen. Aber wie ist denn Erik Pracholds Lage? Er sitzt auf dem Pulverfaß und kann nicht runter, der scheintote Betrüger. Er gilt als tot, ist für tot erklärt, also amtlich nicht mehr vorhanden. Nach dem vermeintlichen Surfunfall mußte er sich wochenlang verstek-
ken. Dasnervt. Vielleicht wird ein Mann mißtrauisch in so einer Situation. Vielleicht traut er sich selbst nicht mehr." „Ich weiß nicht." „Wenn der Spanier wieder auftaucht, kaufe ich ihn mir. Dann werden wir hören; was er will." „Je länger ich nachdenke, Waldi, desto mehr neige ich doch dazu, den Spaniertyp für einen Zufall zu halten. Daß er mich beobachtet hat, meine ich." „Hoffentlich." „Erik ist nie eifersüchtig. Und weshalb sonst sollte er mich beobachten lassen? Das Geld der Lebensversicherung ist schon auf der Bank in Marbellä. Hier begleiche ich noch den Schaden, den er angerichtet hat, und ab geht's nach Spanien. Also kann ich ihm doch gar nicht schaden, selbst wenn ich's wollte. Daß wir ihn umbringen werden, ahnt er nicht mal. Sowas hat in seiner Phantasie keinen Platz. Eher würde er für wahr halten, daß morgen die Welt untergeht." Waldi zuckte die Achseln. „Du kennst ihn. Ich weiß nur, daß er ein gerissener Betrüger ist. Aber wir, Liebling, sind noch eine Klasse besser." Ja, dachte sie. Es ist perfekt. Zur Hälfte ist der Plan schon gelungen. Und wie schön Erik mitgespielt hat — ohne zu ahnen, daß er der betrogene Betrüger ist. Sein angeblicher Tod hat mich reich gemacht. 1,5 Millionen DM hat die Versicherung rausgerückt. Darum ging's. Das Geld ist in Spanien, und niemand verdächtigt mich. Selbst dieser Kommissar Glockner scheint eher an einen Selbstmord zu glauben, wenn schon nicht an einen Surfunfall. Aber Eriks Tod wird nicht angezweifelt. Der Betrug ist gelungen. Die Versicherungssumme liegt auf der Bank. Erik kann nicht ran. Ihn gibf s ja nicht mehr. Stattdessen gibt es einen gewissen Heribert Steiner, wie Erik sich jetzt nennt. Der Dummkopf! Er hat sich ein neues Gesicht machen lassen — vom Schönheitschirurgen, einem Arzt aus der Unterwelt. Das soll vor Entdekkung schützen. Denn schließlich will er ja - sobald in Mär-
bella unser Haus fertig ist — mit nur dort zusammenleben: als Heribert Steiner, als mein neuer Lebensgefährte. Erik, du Trottel! Nie habe ich dich geliebt! Aber du hast es geglaubt und glaubst es noch heute! Ohne deine Geschenke hätte ich's keinen Tag bei dir ausgehalten. Deine Lebensversicherung ist nun dein letztes Geschenk zusammen mit der kleinen Villa, die du zum Glück schon bezahlt hast. Waldi wird dafür sorgen, daß aus dem Scheintoten ein echter Toter wird. Und irgendwann wird man deine Leiche am Strand finden, endlich freigegeben vom Meer. Dann stimmt alles — nur der Todestag auf deinem Gedenkstein müßte geändert werden. Aber wen kümmert das? Das Geld und das Haus — alles gehört dann mir allein. Na, gut — und Waldi, mit dem ich dort einziehen werde. Waldemar Luschner! Das ist wenigstens ein Mann. Du Erik, bist nur ein Betrüger. Dein Tod schädigt die Welt nicht, verhüft aber mir zu meinem Glück. „Träumst du?" fragte Waldemar Luschner. „Ich habe nochmal an alles gedacht." „Ist schon'ne tolle Kiste, die wir da aufreißen, wie? Er meldet sich ab als tot. Du kriegst die Kohle. Er denkt, jetzt kann er mit dir in rosige Zukunft gondeln. Aber der Herr Geschäftsführer hat seine Schuldigkeit getan, und wir werden — das heißt, ich werde ihn ausradieren, womit alles seine Ordnunghat." „Bald, Waldi, können wir ohne Heimlichkeit zusammenleben." „Vergiß nicht, ihm vorher das Geld abzuluchsen, das er drüben versteckt hat." Sie lächelte. Denn der Gedanke an Geld wärmte ihr Herz. „Es müssen noch über 300 000 sein. Ich weiß nicht genau, wieviel er dem Gesichtschirurgen von dem unterschlagenen Geld gezahlt hat. Immerhin war er zwölf Tag bei ihm in der Klinik." „Das muß ja ein Halbgott sein! Ein Halbgott im weißen Kittel. Bestimmt läßt der sich nicht nur für seine Schnippelei be-
zahlen. Der hat, da wette ich, 'ne schöne Stange Schweigegeld eingesackt." „Kann man ihm nicht verübeln. Übrigens habe ich Glockner gesagt, daß ich - bis zur Fertigstellung des Hauses - im Palast-Hotel wohne. Versuch, ob du dort noch ein Zimmer kriegst. Dann sehen wir uns täglich. Ganz zufällig können wir uns an der Bar oder am Swimmingpool kennenlernen. Niemand würde sich wundern, und die Heimlichkeit wäre für immer vorbei." Er grinste. „Das geht aber erst, wenn dein Alter ertrunken ist. Oder würde er dir den Flirt mit meiner Wenigkeit gestatten?" Sie schüttelte den Kopf. Bouboulette grummelte und rollte sich nach der anderen Seite zusammen, dem Licht abgewandt. Waldemar Luschner zupfte an seinen Manschetten. „Ob ich in dem Hotel noch ein Zimmer kriege?" „Wahrscheinlich. Es ist sehr luxuriös. Den Luxus können nicht viele bezahlen. Da bleibt immer mal was frei." „Ich habe mir schon genau überlegt, wie ich Erik Prachold
endgültig verabschiede. Deine Hilfe wird nötig sein, Liebling." „Wenn es sein muß." „Du triffst dich mit ihm. Nachts am Strand. Ich betäube ihn. Dann gibt er unter Wasser seinen Geist auf. Mit der Leiche rudere ich weit aufs Meer raus. Wochen oder Monate werden vergehen, bis sie am Strand angeschwemmt wird. Wenn überhaupt. Nur noch anhand der Zähne kann man dann feststellen, um wen es sich gehandelt hat." „Gräßlich!" „So ist das nun mal. Tote schwimmen in allen Meeren der Welt. Ertrunkene und solche, bei denen man nachgeholfen hat." Zynisch setzte er hinzu: „Davon wird das Wasser nicht schlechter." „Jedenfalls werde ich nur im Swimmingpool plätschern." „Du bist eben sehr zartfühlend", meinte er und strich ihr über die Wange. „Wie alle großartigen Frauen."
Die Zeit verging nicht. Ungeduld wurde zur Marter. Die TKKG-Freunde kannten nur noch ein Thema, und Gaby nutzte jeden Sonnenstrahl aus, um ,vorzubräunen' - wie sie es nannte. Wollte sie doch möglichst ,strandbraun' in Mar-bella ankommen. Sorgen dieser Art hatte Tarzan nicht. Seine wetterfeste Piratenhaut war ganzjährig braun — noch brauner wäre schon dunkelbraun gewesen. Karl beschäftigte sich geistig mit dem südlichen Spanien, nämlich mit Andalusien, mit der Sonnenküste Costa del Sol, mit allem, was man wissen mußte oder sollte über Land und Leute. Irgendwann — das war zu befürchten — würde er einen seiner informationsstarken Vorträge rauslassen, um auch seinen Freunden mitzuteilen, was man wissen mußte oder sollte. Klößchen lernte spanisch. Jedenfalls hatte er sich einen
Sprachführer für 5.95 DM gekauft, den er aber schon nach kurzem Durchblättern wütend an die Budenwand des ADLERNESTes schleuderte. „Diese Dumpfkaiser! Diese geistigen U-Boot-Fahrer", schimpfte er. „Milchreis steht drin, nämlich arroz con leche. Kompott steht drin, nämlich compota, Eis, was helado heißt, und Cremespeise, nämlich natillas. Aber das Wichtigste haben sie vergessen. Kein Wort von Schokolade. Wie, zum Henker, soll ich mich verständlich machen." Tarzan schlüpfte soeben in ein weißes Hemd und stopfte den Saum in die niet-und nagelneuen Jeans. „Das müßte drinstehen. Nun ist zwar nicht jeder Spanienreisende schokoladensüchtig wie du. Aber ein so gängiges Wort kann nicht fehlen." Er hob den Sprachführer auf. „Wo hast du denn nachgesehen?" „Unter Süßspeisen." Tarzan blätterte. Der Sprachführer war in Sachgebiete unterteilt, überschaubar und leicht fasslich. Im Anhang war ein Wörterverzeichnis. Dort sah er zuerst nach. „Schokolade heißt chocolate und ist im Spanischen männlich. Schokoladeneis heißt helado de chocolate und deine Lieblingstorte tarta de chocolate." Klößchen war beruhigt. „Muy bien (sehr gut)\ Ich dachte schon, ich hätte einen Sprachführer für Schokoladenfeinde erwischt." „Mach dich fertig. Wir sind spät dran." Klößchen grunzte und stierte dann unentschlossen auf die vier — noch sauberen — Hemden im Wäschefach seines Schranks. Er entschloß sich zu Mausgrau, was zu seinen knielangen und arbeitsblauen Jeans-Shorts paßte wie die Faust aufs Auge. „Sehr schick!" meinte Tarzan. „Von weitem siehst du aus wie ein Totengräber. Aber Glockners wissen ja, daß wenigstens dein Gemüt Lichtpunkte hat."
Bei Glockners waren sie zum Abendessen eingeladen, sie beide und Karl.-Gabys Mutter gab sozusagen ein Abschiedsessen — vor der großen Ferienreise, die in vier Tagen Wirklichkeit werden sollte. Endlich war auch Klößchen fertig. Er hatte den Mund voller Schokolade und schlüpfte in seine Sandalen. Als sie das ADLERNEST verließen, trug er unterschiedliche Socken. Der rechte war knallrot, der linke grün-gelb geringelt. Tarzan bemerkte es, sagte aber nichts. Es hätte zehn Minuten gedauert — mindestens, bis sein Freund den passenden Socken fand, und das war nicht mehr drin. Ist doch nichts unhöflicher, als sich bei einer Einladung zu verspäten. Draußen maß das Thermometer 28 Grad im Schatten. Der Boden glühte. Asphalt weichte auf. Die Sperlinge torkelten und flogen mit Schlagseite. Rasen, der nicht gesprengt wurde, darrte wie Grillwürstchen auf der Glut. Stickige Hitze füllte jeden Winkel, und der Schweiß brach schon beim Hingucken aus. Sie liefen zum Fahrradschuppen und holten ihre Drahtesel. „Was ich an unserem schönen Deutschland nicht ausstehen kann", meinte Klößchen, „ist dieses verdammte Wetter. Immer kalt - nördlich der Alpen. Nichts als Regen und Nebel. Hei — du wirst staunen in Spanien. Da ist Sonne und Hitze! Das ist wie eine andere Welt." „Frierst du?" fragte Tarzan. „Nee, wieso?" „Ich dachte wegen der Kälte, wegen Regen und Nebel." „Ach so. Ja, im allgemeinen . . . nun, es gibt ja auch Ausnahmen. Heute ist so ein Tag." „Schon seit 14 Tagen ist so ein Tag. Das Wetter hat sich nicht geändert." „Dann ist es eben eine längere Ausnahme. Aber in Andalusien - ich glaube, die haben gar kein Wort für Regen und so."
„Regen heißt lluvia. Aber wenn du meinst, werden wir unsere impermeables (Regenmäntel) hier lassen. Ein chubasco (Regenschauer) stört uns bestimmt nicht, und Pfote nimmt sowieso einen paraguas (Regenschirm) mit." „Donner- und Regenwetter!" staunte Klößchen. „Du hast ja Spanisch voll drauf." „Nur Brocken. Perfekt bin ich erst, wenn wir zurückkommen." „Um Himmels willen! Du willst Spanisch lernen? Ich dachte, wir haben Ferien." Sie radelten über die Zubringerstraße zur Stadt und weiter ins malerische Altstadtviertel, wo die Glockners wohnten. Als sie ankamen, bog Karl auf seiner Tretmühle um die Ecke. Er hatte den Auftrag gehabt, für Frau Glockner Blumen zu besorgen, sich aber gegen Schnittblumen entschieden — wegen ihrer Kurzlebigkeit, welkten die doch meistens recht bald - und einen Mini-Kaktus mitgebracht. Er hatte zarte Stacheln und eine lippenrote Blüte. „Ist sicherlich ein spanisches Gewächs", meinte Klößchen. „Aber dort werden die Kakteen größer. Etwa so ..." Er versuchte mit Hochsprung, den Fenstersims im ersten Stock zu erreichen. Das hätte nicht mal Tarzan geschafft. Immerhin verdeutlichte Klößchens Anstrengung, daß Spaniens Kakteen zu bedrohlichen Ausmaßen fähig sind. Gabys Liebling, der schwarz-weiße Cocker Spaniel Oskar, wartete hechelnd hinter der Tür, aufgeregt bis in die schwarzen Locken seiner Schlappohren. Mit Freudengebell begrüßte er die drei und kassierte dann Tarzan für sich ein, den er besonders in sein Hundeherz geschlossen hatte. Nach anderthalb Minuten Bauchkraulen konnte Tarzan endlich auch die Gastgeber begrüßen: Margot Glockner, Gabys charmante Mutter, und den Kommissar. Im Namen der Jungs überreichte Karl das Stachelgewächs, was bei Frau Glockner Freude auslöste und bei Gaby eine hochgezogene Augenbraue.
„Ist das eine Anspielung auf mich?" fragte sie honigsüß. „Wieso?" meinte Tarzan. „Du hast zwar manchmal Haare auf den Zähnen, aber ausgesprochen stachelig bist du nur selten." „Das meine ich nicht, du Rädelsführer (VerschwörerHäuptling)! Ich meine meinen Gießkannendienst an unseren Topfpflanzen und Zimmerpalmen. Ihr wißt, daß ich für die H20 (Wasser|-Ernährung zuständig bin. Und Kakteen brauchen nur wenig Wasser — nur alle paar Tage mal, also fast so selten wie Willi Schokolade braucht. Ihr spielt auf meine Vergeßlichkeit an, ihr Pfeffernasen. Das erkenne ich klar. Aber das macht mich nicht an." Kommissar Glockner lachte. „Aber Gaby! Sieh doch nur die verblüfften Gesichter. Ich glaube, an sowas haben deine Freunde nicht gedacht." Der Tisch war festlich gedeckt. Klößchen umrundete ihn prüfend, kam aber zu dem Schluß, daß es sich um deutsches Geschirr und um eine deutsche Tischdecke handelte. „Ich versuche, euch einzustimmen", erklärte Frau Glockner lächelnd, „auf eure Reise. Heute steht Spanien auf der Speisekarte. So, bitte, Platz nehmen! Es geht los!" Gaby trug eine große Suppenschüssel auf. Das Porzellan war mit — beinahe — eiskalten Wassertröpfchen beschlagen. Nanu? dachte Tarzan. Das passiert doch Frau Glockner nicht, daß sie den Elektroherd mit dem Eisschrank verwechselt. Eine kleinere Schüssel mit gerösteten Brotkrumen stand bereit. „Gazpacho", sagte Frau Glockner. „Nach dem Original (Ursprungs-)Rezept. Willi, du kennst diese Suppe sicherlich, aber sonst wohl niemand. Oder?" „Gegessen habe ich sie noch nicht", ließ Karl sich vernehmen und kurbelte sein Computer-Hirn an, „aber was das ist, weiß ich, nämlich das berühmteste andalusische Gericht.
Der Gazpacha ist eine Zwiebel- und Knoblauchsuppe, die von den andalusischen Mauren (nordafrikanisches Mischvolk) eingeführt wurde. Sie wird kalt gegessen. Und enthält Tomaten, Gurken, gehackte Pfefferschoten, Öl und Gewürze. Man bedeckt sie mit Bröseln." „Wenn ich mal mein Kochbuch verlegt habe, rufe ich dich an, Karl", lachte Frau Glockner. Sie probierten den Gazpacho. „Also", sagte Tarzan, „wenn von kaltem Kaffee die Rede ist, hat jemand Wut auf der Seele und läßt eine Beleidigung raus. Kalte Suppe - so könnte man sagen - ist das Gegenteil: großes Kompliment, hohes Lob — jedenfalls wenn es sich um einen Gazpacho von Frau Glockner handelt. Diese Suppe schmeckt nicht, sie mundet." Gabys Mutter wollte sich bedanken für das nette Kompliment, aber Klößchen, der den Teller schon leer hatte, kam ihr zuvor. „Mundet sehr", rief er . „Stimmt. Vor allem mundet es nach mehr. Dürfte ich noch um eine kleine Kostprobe bitten, Frau Glockner. Denn so gut wie Sie bereiten die Spanier den Gazpacho leider nicht." Alle lachten. Frau Glockner war amüsiert. Ihr Mann sagte: „Wie ich von deinen Eltern hörte, Willi, ist die Palast-HotelKüche exzellent (vorzüglich). Allerdings essen die Spanier zu anderen Zeiten, nämlich später, wegen des heiß en Klimas. Mittagessen zwischen zwei und vier Uhr, Abendessen nicht vor neun Uhr. Da werdet ihr euch umstellen müssen. Andere deutsche Gäste im Palast-Hotel schaffen das auch, wenn ihnen sonst nichts im Magen liegt." Für einen Moment umwölkte sich seine Stirn, und er blickte ernst auf seinen Unterteller. Außer Tarzan fiel das niemandem auf. Aber er merkte sofort, daß sich da ein unfroher Gedanke zwischen Knoblauch und Pfefferschoten mischte. Hatte der Kommissar einen besonderen Grund?
4. Kleiner Unfall nach Mitternacht Tarzan legte den Löffel ab, betupfte sich mit der Serviette den Mund und spähte aus dem Augenwinkel in die - für Sekunden schweigsame - Runde. Alle löffelten noch, Klößchen schaufelte an der zweiten Portion und würde wieder als erster fertig sein. „Willi hat mir erzählt", sagte Tarzan, „das Palast-Hotel sei bekannt für internationales Publikum, für Gäste aus allen Ländern. Haben Sie eben an bestimmte deutsche Gäste gedacht, Herr Glockner?" Überrascht hob der Kommissar den Blick. „Wenn ich nicht wüßte, wie genau du beobachtest, würde ich dich für einen Gedankenleser halten. Richtig! Ich habe an eine bestimmte Person gedacht. Die Frau wird sogar gleichzeitig mit euch nach Marbella fliegen. Sie wohnt wie ihr im Palast-Hotel. Zurückkehren wird sie freilich nicht, sondern — sobald ihr Haus in Marbella fertig ist — dort bleiben." „Für immer?" fragte Gaby. „Dann ist sie wohl Rentnerin?" „Sie ist 29", antwortete der Kommissar. „Hast du dienstlich mit ihr zu tun?" erkundigte sich seine Frau. „Am Rande", nickte er. „Kolbert hat die Ermittlung geleitet. Als er krank wurde, bin ich für ihn eingesprungen. Aber da war die Sache fast beendet. Ich konnte kaum noch was tun. Jetzt wurde der Fall offiziell (amtlich) abgeschlossen. Ich habe ein ganz blödes Gefühl dabei - ein Gefühl wie Zahnschmerzen." Tarzan vergaß Gazpacho und die zu erwartenden Gänge. Gespannte Aufmerksamkeit füllte ihn bis zur Haarwurzel. War doch Glockners Bemerkung nur so zu verstehen: Eine Ungerechtigkeit wurde amtlich besiegelt, eine Kriminelle — zumindest eine Gesetzesbrecherin — schlüpfte dem Gesetz durch die Maschen. Die anwesenden Damen hatten „Oh!" und „Aha!" gesagt,
waren aber im Moment an den Mißgeschicken des Kriminalisten-Daseins nicht so stark interessiert - wurden sie dem doch fast täglich gegenübergestellt, als Ehefrau und Tochter. Klößchen blickte kurz auf und dann erwartungsvoll in Richtung Küche. Er reagierte immer verläßlich: Erst kam das Essen, das Abenteuer später. Karl teilte Tarzans Interesse. „Dürfen wir erfahren, was da gelaufen ist?" fragte Tarzan. „Es ist kein Dienstgeheimnis", lächelte der Kommissar. „Das meiste stand auch in der Presse. Um es kurz zu sagen: Ein gewisser Erik Prachold, Geschäftsführer einer hiesigen Großfirma, hat 520 000 Mark unterschlagen und das Geld offensichtlich nach Spanien gebracht, nach Marbella, dort nämlich ein Grundstück gekauft und mit dem Hausbau begonnen, um später - wie seine Frau aussagt - dorthin zu übersiedeln. Die Unterschlagung mußte aufkommen. Prachold wußte das. Am 14. Mai, als er sich wegen seines Hauses wieder in Marbella aufhielt, verunglückte er tödlich. Das heißt, er segelte als Surfer aufs Meer hinaus und kam nicht mehr zurück. Man fand nur sein Gerät. Von ihm keine Spur. Die Leiche wurde bis heute nicht angeschwemmt, Prachold inzwischen für tot erklärt. Seine Frau Luise erhielt 1,5 Millionen, seine Lebensversicherung, und wird nun nach Marbella gehen, um dort mit dem Geld als trauernde Witwe, aber dennoch in Freuden zu leben. Die 520 000 Mark muß sie zwar der Firma zurückzahlen. Aber deshalb tastet sie die Versicherungssumme nicht an. Das Grundstück, das sie hier besitzt, deckt den Schaden allemal." Alle hatten gespannt zugehört, auch Klößchen und die Damen. „Sie vermuten Versicherungsbetrug?" sagte Karl. Glockner nickte. „Mit seinem scheinbaren Ende, wir nennen sowas Scheintod, entzieht sich Prachold der rechtlichen Verantwortung. Ihn gibt's nicht mehr, also kann man ihn wegen der Unterschlagung nicht anklagen. Und 1,5 Millio-
nen Mark ist ja eine nette Entschädigung für vorzeitigen Ruhestand." Tarzan sagte: „Die Versicherungsgesellschaft muß behämmert sein, wenn die das einfach so zahlt." „Die zahlt erst, wenn sie sich nicht mehr darum drücken kann. Natürlich wurde die spanische Polizei eingeschaltet. Und die Versicherungsgesellschaft selbst stellte umfangreiche Nachforschungen an. Angeblich wurde die Costa del Sol gründlich durchgekämmt. Prachold blieb verschwunden. Das besagt freilich gar nichts. Der kann sich sonstwo verstekken. Wenn er den Coup vorbereitet hat, besitzt er gefälschte Papiere und wird auch sein Äußeres — mit entsprechendem Paßfoto — verändern. Ein Versicherungsbetrug dieser Artist keine Seltenheit und gelingt leider oft." „So ein ausgebuffter Schweinehund, dieser Herr Prachtvoll", schimpfte Klößchen. „Prachold", verbesserte ihn Glockner. Himmel! dachte Tarzan. Wenn ich richtig ticke, ist das wie gemacht für uns. Ein Fall für TKKG. Da sitzt man hier ahnungslos, zieht sich Gazpacho rein und ist schon mitten drin in der Krimi-Kiste des scheintoten Betrügers, falls es den Stehsegler nicht doch echt tragisch vom Brett gehauen hat. Vielleicht füllt er jetzt Haifischmägen, und der Kommissar ist auf dem falschen Steamer (Dampfer), irrt sich mal — ausnahmsweise. Aber, nein! In der ganzen Kriminalistenszene ist keiner so wach, vif und ausgeschlafen wie er. Wenn er ein blödes Gefühl hat — darauf kann man sich verlassen. „Tarzan!" sagte Glockner. Tarzan blickte fragend. „Du willst doch nicht, daß ich meine Offenheit bereue?" Tarzan grinste. „Wieso?" „Ich kann auch ein bißchen Gedanken lesen. Jedenfalls sehe ich deiner Miene an, was du vorhast." „Och, bis jetzt eigentlich noch nichts." „Ich glaube", sagte Frau Glockner, „ich trage schon mal
die Tortilla al Sacromonte auf. Das ist eine Eierspeise mit gehackten Gemüsen und Gewürzen. Hilfst du bitte, Gaby?,, Während die beiden zur Küche gingen, sagte der Kommissar: „Es ist wirklich nicht erforderlich, Tarzan, daß ihr die Co-sta del Sol abermals durchkämmt. Auch ihr werdet Erik Pra-chold nicht finden, falls er noch lebt." „Hm, hm", machte Tarzan. „Aber wenn seine Frau im Palast-Hotel wohnt, können wir sie ein bißchen im Auge behalten. Angenommen, Scheintod-Erik fühlt sich sicher. Dann nimmt er vielleicht Kontakt zu seiner Frau auf. Seine Personenbeschreibung ist Ihnen doch sicherlich bekannt?" Glockner zögerte einen langen Augenblick. Ein Ausdruck komischer Verzweiflung lag auf seinem Gesicht. „Also gut", sagte er dann. „Schaden kann es nichts. Erik Prachold war - oder ist - 44 Jahre alt, 172 cm groß, schlank, Brillenträger. Er hat ein ovales Gesicht, braune Augen und mittelblondes Haar. Auf den Fotos wirkt er, würde ich sagen, nicht unangenehm. Begegnet bin ich ihm nicht. Er spricht gut spanisch, surft sehr gekonnt und spielt Tennis. Auffällig ist eigentlich nur sein Gebiß. 16 Zähne sind überkront. Er hat also 16 Goldkronen im Mund." „Wer dem vor die Flappe stößt, der stößt auf'ne Goldader", grinste Klößchen. Tarzan hatte die Augen halb geschlossen und prägte sich die Beschreibung ein. „Wäre schön, wenn wir Pracholds Foto sehen könnten", meinte Karl. Aber Tarzan schüttelte den Kopf. „Ich wette, der hat jetzt ein anderes Gesicht — immer vorausgesetzt, er weilt unter den Lebenden. Schönheitschirurgen bauen doch ein neues Antlitz im Handumdrehen. Vielleicht ist Prachold nicht nur reicher, sondern auch schöner geworden." Glöckner nickte. „Ein Gesicht läßt sich leicht verändern. Durch anderen Augenschnitt, verkleinerte Nase und so. Da kannst du recht haben, Tarzan."
Sie hörten, wie Gaby und ihre Mutter in der Küche rumorten. Gaby quietschte. Offenbar hatte sie sich an was Heißem verbrannt. „Was Ihren Verdacht angeht, Herr Glockner", sagte Tarzan, „ist das nur eine Empfindung? Oder gibt es einen Anhaltspunkt?" Glockner lächelte. „Du gehst einer Sache wirklich auf den Grund — und liegst richtig. Ja, ein Umstand ist mir auf gestoßen. Allerdings reicht er nicht aus, um den Fall nochmal aufzurollen. Ich meine ..." Er unterbrach sich, denn der nächste Gang wurde aufgetragen. Dem zollten alle Bewunderung. Tarzan kostete, fand die Tortilla köstlich und hatte schon vergessen, was er aß. Sein Blick hing an Glockner. „. . .einen gewissen Rüdiger Schleich, meine ich" , sagte der Kommissar nach dem dritten Bissen. „Er hat als Detektiv bei der Versicherungsgesellschaft gearbeitet. Seine Aufgabe war es, nach Erik Prachold zu forschen. Bestimmt hat Schleich das nicht mit links erledigt, sondern gewissenhaft und clever. Spanien war sein Revier. Hauptsächlich dort wurde er eingesetzt — wohl, weil er selbst ein halber Spanier ist. Sein Vater war zwar Deutscher, aber die Mutter Spanierin. Schleich beherrscht die Landessprache wie ein Einheimischer und hat sicherlich jede Unterstützung gehabt, die sich ein Privatdetektiv wünschen kann. Der Fall Prachold war seine letzte Aufgabe bei der Versicherungsgesellschaft. Danach hat er gekündigt. Seltsam, nicht wahr? Jedenfalls habe ich mich gefragt, wieso kündigt ein gutbesoldeter Versicherungsdetektiv auf Knall und Fall." „Sie vermuten", sagte Tarzan, „es könnte mit dem Fall Prachold zusammenhängen?" Der Kommissar machte eine vielsagende Geste. „Vielleicht ist er bei seinen Ermittlungen auf was Bestimmtes gestoßen. Und jetzt wittert er ein Geschäft, das für ihn lohnender ist als der harte Job bei seinem Brötchengeber."
„Sieht dieser Schleich wie ein Deutscher aus oder wie ein Spanier?" fragte Tarzan. „Spanischer könnte kein Spanier aussehen", antwortete Glockner. „Er ist ein großer Kerl, sein Gesicht zerfurcht. So, und jetzt wollen wir uns dem Essen widmen. Ich sehe schon Gewitterwolken in den Mienen unserer Damen."
Er hatte sich alles ganz anders vorgestellt — leichter. Vor allem hatte er nicht mit der Angst gerechnet, der Angst vor Entdeckung. Seit kurzem begleitete sie ihn wie sein Schatten, aber auch bei Nacht. Sonderbarerweise hatte sich die Angst erst eingestellt, als alles schon gelaufen war, als er - Erik Prachold nicht mehr zurück konnte. Längst galt er als tot. Freunde und Bekannte würden nicht um ihn trauern — soviel bedeutete er denen nicht. Allenfalls einige würden bedauern, daß es ihn nicht mehr gab. Und was seine Firma betraf - er grinste bei dem Gedanken, wie seine Kollegen wohl aus allen Wolken gefallen waren, als die Kripo seine Unterschlagung ans Licht zog. Er war genau informiert über alles, was sich in seiner Angelegenheit tat. Dafür sorgte Luise fernmündlich. Als er an sie dachte, schlug sein Herz schneller. Nur noch einen Tag. Dann war sie hier, jedenfalls in seiner Nähe. Es war Nacht. Niemand beobachtete den einsamen Wanderer am Strand, denn der Strand war leer. Wo sich tagsüber Menschenmassen zu Abertausenden tummelten, herrschte jetzt himmlische Ruhe. Prachold stiefelte durch den knöcheltiefen Sand. Zunehmender Mond beglänzte das Meer. Sanft rollten Wellen an Spaniens Küste, klatschten auf den Kies und le ckten den Strand hinauf. Weit draußen glommen die Positionslichter ankernder Jachten. Aber es waren nur wenige. Die meisten dümpelten
in den Häfen, damit sich Schiffseigner und Crew (Besatzung) ins Nachtleben stürzen konnten, um dann morgen mit Kater-Schädel zum Törn (Seereise) aufzubrechen. Prachold befand sich in Fuengirola, einem Seebad, 28 Kilometer vor Marbella. Als Heribert Steiner hatte er landeinwärts ein kleines Haus gemietet, die Villa Esperanza, aber nur bis Ende des Monats. Am Tag verbarg er sich dort. Das war nötig gewesen, denn sein Gesicht brauchte Zeit. Noch bis vor kurzem waren die Operationsnarben zu frisch. Er
wäre aufgefallen. Erst jetzt konnte er sich unter die Menschen wagen — mit seinem neuen Gesicht, das ihn völlig veränderte. Phantastisch, wie dieser Chirurg ihn umgebaut hatte. Aus den scheinbar sanften Unschuldsaugen waren Schlitzaugen geworden. Nach unten verlängerte Mundwinkel gaben seiner Miene einen verächtlichen Ausdruck. Die Nase war jetzt höckerig und adlerschnabelkrumm. Schöner bin ich nicht geworden, dachte Prachold, aber markanter und vor allem ein anderer.
Ab morgen wollte er auch tagsüber bummeln, die Urlaubermassen, unter denen viele Deutsche waren, nicht länger meiden. Aber jetzt genoß er die laue Nacht, atmete die Seebrise ein, roch den Tang und blickte an der Küste entlang. Ein Lichtermeer. Ein Badeort reihte sich an den nächsten, und das Nachtleben lief auf vollen Touren: in Diskos, Bars und Flamenco-Lokalen. Bis drei Uhr früh ging der Rummel, und jedermann tobte sich aus. Er schob die Hände in die Taschen und verließ den Strand. An der Straße kippte er den Sand aus den Leinenschuhen. Dann ging er zum Parkplatz. Für einen Moment mußte er sich erinnern, wie sein Leihwagen aussah. Ein Dutzend dieser kleinen Chaussee-Hüp-fer stand hier — beliebt bei Urlaubern, die mit dem Flugzeug anreisten. Es kam nicht teuer, sich so eine Klapperkiste zu mieten, um dann unabhängig zu sein für Ausflüge: nach Granada, Almeria, Ronda - oder in ein andalusisches Gebirgsdorf. Unter den Palmen schlenderten schemenhafte Gestalten. Aber das waren keine Barfliegen oder Disko-Fetzer, sondern Einheimische. Einige führten ihre Hunde gassi. Prachold glitt hinters Lenkrad. Er mußte zurücksetzen, um aus der Lücke zu kommen. Noch während er kurbelte, fiel sein Blick auf den Mann. Er stand unter einer Kastanie, aber das Mondlicht streifte ihn. Er war lässig gekleidet und — sah her. Wieder dieser eisige Schreck. Verdammt! Hatte er den Mann schön gesehen? Heute? Vorhin? Bei der Esperanza, seiner Villa? Wenn ja, was wollte der? Sei kein Esel! schalt sich Prachold. Fang nicht an zu spinnen aus Angst. Damit mußt du erst . . . Ein dumpfer Anprall. Er stieg sofort auf die Bremse. Sein Kopf ruckte nach hinten.
Verdammter Mist! Es war ein kleines, rotes Auto, untere Mittelklasse, billig. Aber es war gepflegt wie ein Schmuckstück, hatte drei Antennen und allen Schnickschnack an Extras. Vermutlich bezog es Streicheleinheiten von seinem Besitzer, und jetzt war die Fahrertür eingedrückt. Das Auto hatte ein hiesiges Kennzeichen. Prachold biß sich auf die Lippen, fuhr einen Meter vor und unterdrückte die Regung, einfach abzuhauen. Ohne den Zeugen — klar, da wäre er getürmt, und wenn er ein Wrack hinterlassen hätte. Aber der Kerl beobachtete ihn immer noch. Mit diesem Zeugen und in seiner Situation wäre Fahrerflucht Wahnsinn gewesen. Er stieg aus. Im Mondlicht sah er sich den Schaden an. Er rieß einen Zettel aus seinem Taschenkalender. Auf Spanisch schrieb er: Versehentlich habe ich Ihren Wagen beschädigt. Ich komme für alles auf. Bitte, rufen Sie mich an . . . Er vermerkte die Esperanza-Telefonnummer, aber keinen Namen, klemmte den Zettel hinter den Scheibenwischer und fuhr heim. Die kleine Villa lag am Ortsende. Bei einem Immobilienbüro hatte er sie gemietet. Im Garten wuchsen Zwergpalmen, Oleander, Agaven und Jasmin. Ein Tor öffnete sich zur Einfahrt. Er stellte den Wagen hinters Haus, ließ das Tor offen und schloß die Eingangstür auf. Die Räume waren elegant möbliert. Außer zwei Koffern, mit allem, was wichtig war, hatte er nichts mitgebracht. Seine Hände zitterten. Mehr als einmal während der letzten Wochen war der Verdacht in ihm aufgestiegen, daß er nicht das Format hatte — zum großen Betrüger. Aber solche Gedanken waren gefährlich. Das Zittern seiner Hände ließ nicht nach. Er goß sich ein großes Glas Brandy ein und tigerte zwischen getünchten Wänden auf und ab. Würde er schlafen können?
5. Vom Schlupfwinkel ins Palast-Hotel Eine halbe Stunde war vergangen. Pracholds Nervosität wurde nicht geringer, sondern wuchs. Als das Telefon klingelte, zuckte er zusammen. Er lief in die Diele, nahm den Hörer ab und meldete sich. „Ja?" „Ich fand Ihren Zettel an meinem Wagen", sagte eine rauhe Männerstimme — auf Spanisch. „Ich muß die Tür erneuern lassen." „Tut mir leid, daß das passiert ist", erwiderte Prachold. „Ich war abgelenkt. Wie gesagt, ich komme für alles auf." „Die Reparatur wird nicht billig", sagte der Spanier. „Ich bin nicht sehr bemittelt. Vielleicht strecken Sie mir was vor. Kann ich zu Ihnen kommen?" Prachold zögerte. Ihm widerstrebte, irgendwen in seinen Schlupfwinkel einzulassen. Andererseits - wenn der Mann ärgerlich wurde und die Polizei verständigte . . . „Selbstverständlich, Senor", sagte er. „Wenn Sie morgen ..." „Nicht morgen! Jetzt gleich!" „Jetzt? Wissen Sie, wie spät es ist?" „Es ist Viertel nach zwei. Aber Sie sind noch auf, und ich muß morgen in aller Frühe nach Algeciras." Dann solltest du längst im Bett liegen, dachte Prachold. Aber er lenkte ein und nannte seine Adresse. Der Anrufer sagte, er heiße Pedro Ramirez und werde gleich da sein. Prachold wartete. Warum war er so nervös? Der Kerl kriegte sein Geld — egal, was die blöde Tür kostete. Damit war die Kirsche gegessen. Die Situation ist es, dachte er. Ich muß lernen, mit Heribert Steiner zu leben. Als er zu leben! Erik Prachold ist tot. Verdammt nochmal! Das wird doch zu schaffen sein!
Es hatte geläutet. Er ging zur Tür und öffnete. Dann erstarrte sein beiläufiges Lächeln. Das war doch der Kerl, der ihn beobachtet hatte! Und plötzlich wußte er auch, daß ihm dieser Mann schon woanders begegnet war. Ja, ganz sicher! Aber wo? Hatte er ihn zufällig gesehen? Oder unter besonderen Umständen? Der Spanier mochte vierzig sein, hatte ein eckiges Gesicht und kohlschwarze Augen. Eine Narbe spaltete den linken Mundwinkel. Es war kein Typ, den man einlädt. „Ich bin Pedro Ramirez." Prachold nickte. Himmel, hier gibt's Hunderte, die aussehen wie der. Und selbst wenn er der Beobachter ist — warum soll er nicht? Auch ich achte auf Menschen. Sitze ich nicht oft stundenlang im Straßen-Cafe und beglotze Passanten (Vorübergehende)* Er bat Ramirez herein. Der Spanier setzte sich in einen der Sessel und ließ den Blick durch den Raum wandern. „Sie wollen mir das Geld vorstrecken, Senor?" Prachold nickte. „An wieviel dachten Sie?" „Ich will - zunächst mal - 500 000 D-Mark." Blöde stierte Prachold ihn an. „Wie bitte? 500 000 D-Mark? Sie haben wohl gemerkt, daß ich Deutscher bin. Aber - hahah — Sie haben sich versprochen.Für eine halbe Million könnten Sie 100 Autos kaufen - von der Sorte wie Ihres ist." „Ich wiederhole", sagte Ramirez: „500 000 D-Mark!" „Was . . .soll das heißen?" „Sie geben mir das Geld. Dann sehen Sie mich nie wieder, Senor Pracholdl Senor Erik Prachold!" Stille breitete sich aus. Prachold meinte plötzlich, in einem eisigen Keller zu stehen — zwei Kilometer unter der Erde. War das jetzt das Ende? „Sie werden bleich", sagte Ramirez. „Dazu besteht aller
Grund. Ich beobachte Sie, seit Sie die Privatklinik von Dr. Chapahonda verlassen haben." Das war der Schönheitschirurg, der nach nichts fragte und für Geld wie ein Grab schwieg. „Erkennen Sie mich nicht, Prachold? Ich war Hausdiener in der Klinik. Kein besonderer Job. Und gezahlt hat er nicht viel, der Herr Doktor. Vielleicht war es dumm von mir.
dieser reichen Ziege - seiner Patientin — den Schmuck zu stehlen. Noch dümmer aber, daß ich mich erwischen ließ. Jedenfalls hat er mich rausgeworfen. Daß ich nicht angezeigt wurde, verdanke ich nicht seinem Großmut, sondern seiner Vorsicht. Er weiß, daß ich das eine oder andere mitgekriegt habe. Ich könnte ihm schaden, weil er auch Patienten aufnimmt, für die sich die Polizei interessiert. Wie für Sie, Prachold. Es traf sich wirklich sehr gut, als mir meine Freunde von einem deutschen Detektiv erzählten, der die Costa del Sol nach einem Ertrunkenen absucht - nach einem gewissen Erik Prachold, der vielleicht gar nicht ersoffen ist, aber mit seinem angeblichen Ende die Lebensversicherung flüssig machen will — einundeinehalbe Million! D-Mark, natürlich! Nicht Peseten! Die Beschreibung paßte Ihnen wie Ihre Haut. Da bin ich in Ihr Zimmer geschlichen und habe in Ihren Sachen gekramt, Senor Prachold. Damit hatte ich Gewißheit. Seitdem bin ich Ihnen auf der Spur. Ich ließ mir Zeit. Schließlich mußten Sie erst alles unter Dach und Fach bringen. Aber jetzt ist es soweit, und ich werde Ihr stiller Teilhaber." „Sie . . .sind übergeschnappt", stammelte Prachold. „Ich . . .ich heiße . . .Steiner." „Werden Sie nicht albern, Prachold! Und nun her mit dem Geld!" Er hatte nicht gewußt, daß er es konnte. Als es geschah, war es ein Affekt (Erregungszustand), jedenfalls keine überlegte Handlung. Er kam wieder zu sich, als Ramirez vor ihm auf dem Teppich lag — mit blutender Stirnwunde. Pracholds zitternde Hände umkrampften den Schürhaken des Kaminbestecks. Um Himmels willen! Was hatte er angerichtet! Er kniete neben dem Spanier. Der atmete noch. Sein Puls war kräftig. Nur bewußtlos war der Kerl. Prachold rannte in die Küche. Mit einer Rolle dünnen Stricks kam er zurück. Damit fesselte er Ramirez.
Schweißüberströmt stand er dann da. Seine Knie wackelten. Abermals griff er zur Brandy-Flasche. Hatte Ramirez Mitwisser? Wohl kaum.Er war nicht der Typ, der teilt. Andererseits man konnte nie wissen! Hatte er nicht eben von Freunden gesprochen, denen er den Hinweis auf ihn, Prachold, verdankte? Es gab jetzt nur eins: Er mußte Ramirez aus dem Haus schaffen und dann selber die Kurve kratzen. Dieser Schlupfwinkel war nicht mehr sicher, sondern konnte zur Falle werden. Er ging hinaus und blickte die holperige Straße entlang. Einige Latenten brannten. Aber das hätte nicht ausgereicht. Daß er alles sah, verdankte er dem Mondlicht. Kein Wagen. Ramirez war zu Fuß gekommen. Klar! Das demolierte Auto gehörte sonstwem, ihm bestimmt nicht. Er hatte nur den Zettel von der Windschutzscheibe gepflückt — vermutlich. Er lief ins Haus zurück. Ramirez war noch bewußtlos. Mit ihm auf der Schulter trat Prachold durch die Hintertür, pferchte Ramirez in den Leihwagen. Fünf Minuten später hielt Prachold an einer Ausbuchtung der Landstraße in Richtung Mijas. Schroff stiegen die kargen Felshänge der Sierra de Mijas vor ihm auf. Seit zwei Jahren hatte es hier nicht geregnet. Nur widerstandsfähige Kakteen und anspruchslose Pflanzen zogen ihr Nahrungsminium mühsam aus dem Boden. Ramirez stöhnte und hatte die Augen geöffnet, war aber nicht voll bei Bewußtsein. Prachold schleifte ihn über Schotter hinter dürre Sträucher. Dort ließ er ihn liegen, zerschnitt aber die Fesseln. Umkommen sollte der Kerl nicht, obwohl sein Ableben sicherlich kein Verlust gewesen wäre für die Menschheit. Er fuhr zur Villa Esperanza zurück. Wohin jetzt?
Er hatte sich entschlossen. Am sichersten war er in der Höhle des Löwen — jedenfalls dort, wo man einen Scheintoten am wenigsten suchen wird. Er nahm den Hörer ab und wählte 952-770300. „Palast-Hotel Marbella, Buenas noches (Guten Abend)", meldete sich der Nachtportier. „Buenas noches", erwiderte Prachold. „Ich bin eigentlich nur auf der Durchreise, habe mich aber spontan entschlossen, zwei, vielleicht auch drei Wochen in Marbella zu verbringen. Möglichst in Ihrem geschätzten Haus. Haben Sie noch ein Einzelzimmer frei?" „Augenblick, Senor." Es dauerte wirklich nur einen Augenblick, bis der Nachtportier den Belegungsplan überprüft hatte. „Si, Senor. Es ist möglich. Auf welchen Namen darf ich das Zimmer reservieren?" „Heribert Steiner. Ich bin in Fuengirola. In einer Dreiviertelstunde etwa treffe ich ein." Das war dem Nachtportier des 226-Zimmer-Hotels nur recht. Er hatte ohnehin nichts zu tun. Und las einen alten Krimi zum fünften Mal, hatte aber schon wieder vergessen, wer nun der Täter war. Im hauseigenen Nachtclub ,E1 Serrallo' ging es zwar immer noch hoch — und lautstark — her. Aber das spielte sich außerhalb seines Blickfeldes ab. Prachold legte auf, packte seine Koffer, schloß das Haus ab, führ zum Immobilienbüro, warf dort den Schlüssel in den Briefkasten — und hatte mit der Villa Esperanza nichts mehr am Hut. Denn bezahlt war alles — und was sonst interessiert Vermieter und deren Makler. Auch bei der Leihwagenfirma war er nichts schuldig. Er stellte den Chaussee-Hüpfer dort vor die Tür und schleppte seine Koffer bis zum nächsten Taxi-Stand. Der Fahrer lud die Koffer ein. Prachold setzte sich neben ihn und legte den Sicherheitsgurt an, wozu man in Spanien nur außerhalb der Ortschaften verpflichtet ist.
„Nach Marbella", wies er an. „Zum Palast-Hotel."
Es war wie im Märchen. Am Montagnachmittag gegen 16 Uhr sammelte ein ZwölfZylinder-Jaguar — das neueste Modell, versteht sich — die Spanienreisenden der Gruppe Sauerlich ein. Georg besorgte das, der nette Chauffeur der Sauerlichs. Bei der Internatsschule - wo die Ferienstille fürchterlich, wie Grabesruhe war — holte er Tarzan ab, auch dessen nicht allzu großen Koffer. Klößchen saß schon im Fond und strahlte wie der Abendstern. Sie fuhren zu Viersteins, wo Karl voller Ungeduld wartete. Dreimal hatte er sich von seinen Eltern verabschiedet. Sie winkten dem Wagen nach. Frau Vierstein hatte Tränen in den Augen. Im Altstadtviertel standen sämtliche Glockners vor der Tür: Gaby, die Eltern — und Oskar, der leider nicht mitkonnte. Für ihn wären Flug und südliche Hitze nur eine Strapaze gewesen. Gaby trug einen himmelblauen Sommeranzug, schnittig geschnitten wie eine Uniform. Von weitem konnte man sie für eine Nachwuchs-Stewardess halten. Sie umarmte ihre Eltern, dann Oskar. Die Jungs verabschiedeten sich nicht durchs Fenster, sondern stiegen aus — selbstverständlich. Oskar sprang in den Wagen und mußte wieder entfernt werden- Er winselte. Glockners wünschten guten Flug und gesunde Rückkehr. Gaby fieberte vor Aufregung. Dann ging's ab in Richtung Flughafen, wo Klößchens Eltern, die Sauerlichs, warteten. Sie hatten sich von Georg schon hinbringen lassen, um im Flughafen-Restaurant noch eine Kleinigkeit zu essen. Denn was aus der Bordküche des Airbus (zweistrahliges Großraum-Flugzeug) serviert wurde, war nicht nach ihrem Geschmack. „Was das Drum und Dran betrifft", sagte Klößchen,
„macht ihr am besten alles genau so wie ich. Ich bin da enorm beschlagen. Ist ja immerhin mein dritter Flug. Und um in einen Jet zu gelangen — das ist nicht, als wenn man in die U-Bahn steigt. Also schön hinter Willi bleiben und alles machen wie er." Karl nickte. Gaby dachte: Jetzt fährt er auf Anführer ab. Aber wenn er die spezielle Erfahrung hat — warum nicht. Tarzan dachte: Augen auf, Peter Carsten! Dann hast du verinnerlicht, wie das läuft. Willis Flugreisen-Kenntnisse sind sicherlich nicht auf dem neuesten Stand. Beim Flughafen herrschte entsetzlicher Betrieb. Auf den Parkplätzen — groß wie Schlachtfelder — standen unübersehbare Autoherden. Offenbar hatte sich die halbe Stadt in die Lüfte begeben. Georg hielt vor der Abflughalle. Die TKKG-Freunde verabschiedeten sich. Dann schleppte jeder seinen Koffer, aber Gaby den ihren nur zwei Schritte. Schon war Tarzan neben ihr — und ließ den Kavalier raushängen, daß alleinreisende Damen neidvoll erblaßten — hatten sie doch niemanden, der ihnen den Koffer trug. Klößchen stiefelte voran - in den SelbstbedienungsSchnellimbiß. Tarzan hatte gleich den Verdacht, daß dort nur die Pommes frites-Mampfer hockten, aber nicht die Sauerlichs. Er schwieg dennoch. Und Klößchen knurrte ärgerlich, nachdem er in jede Ecke gestiert hatte. „Hier sind sie nicht", stellte er fest - und setzte seinen Koffer ab, der offenbar Zentner wog. „Vielleicht haben deine Eltern eine frühere Maschine genommen", meinte Gaby, „und sind schon fast da - in Malaga." „Das ist doch unmöglich", stieß ihr Klößchen Bescheid. „Ein Flugschein ist keine Fahrkarte. Flugnummer und Zeit sind genau festgelegt. Wir schwingen uns um 18.25 Uhr in die Abendluft, und es ist der Flug mit der Nummer 3607."
Gaby lächelte. „Zum Teil sind mir diese Gepflogenheiten bekannt. Meine Bemerkung war ein Scherz. Aber wir bleiben auch jetzt hinter dir und machen alles wie du. Gibt es hier vielleicht ein anderes Restaurant, das den Ansprüchen deiner Eltern genügt?" „Richtig." Klößchen lächelte grimmig. „Wie konnte ich das vergessen!" Sie stiefelten nach nebenan, wo die Tische weiß gedeckt und die Kellner vornehm waren. Die Sauerlichs saßen in einer Nische, hatten ihr Mahl beendet und urlaubsfrohe Mienen aufgesetzt. Die Begrüßung fand mit so großem Hallo statt, daß die Kellner zusammenzuckten. Bedankt hatten sich Gaby, Tarzan und Karl schon mehrere Male. Den abschließenden Dank konnten sie sich aufsparen bis zum Ende der drei Wochen. Hermann Sauerlich, der Schokoladenfabrikant, war eine um 30 Jahre ältere Ausgabe seines Sohnes Klößchen: rundlich, gemütvoll, nicht wesentlich größer als Willi und heimlich — genauso verfressen. Allerdings bevorzugte er Deftiges, nämlich erlesene Schinken und pfundschwere Braten. Von der Köchin des Hauses ließ er sich damit verwöhnen — wenn Erna, seine Ehehälfte, nicht zusah. Denn Klößchens Mutter hatte es mit der fleischlosen Diät. Sie aß in etwa das gleiche wie Karnickel und Meerschweinchen, lehnte auch Schokolade ab, war aber ansonsten herzensgut, ob-schon etwas geziert. Sie war die größte in der Familie und bei weitem die Schlankste. Den etwas langen Hals verkürzte sie optisch (fürs Auge) mit zahlreichen Ketten. Zu den zarten Gliedern paßte das schmale Gesicht. „Setzt euch!" sagte Sauerlich. „Ihr habt sicherlich Appetit. Bestellt noch rasch! Die Kalbsleber ist ausgezeichnet." „Der Rohkostsalat ist noch besser", bestimmte Frau Sauerlich die Genußrichtung.
Aber Gaby, Tarzan und Karl waren viel zu aufgeregt, um sich den Magen vollzustopfen. Gerade, daß die Ungeduld einen Anstands-Tee zuließ. Selbst Klößchen verzichtete auf umfangreiche Atzung, zauberte von irgendwoher eine Tafel Schokolade und stärkte sich solchermaßen für den Flug. Hermann Sauerlich teilte die namentlich ausgestellten Flugscheine aus. „Ihr könnt euer Gepäck schon aufgeben. Willi weiß, wie das geht. Unseres ist schon weg. Wir, Ernachen, nehmen noch eine Flasche Burgunder, ja? Gegen die Flugangst." Er lachte. „Aber die haben wir ja gar nicht. Oder ihr?" Klößchen sagte: „Fliegen ist sicherer als Spaziergehen." Die ändern versicherten, ihnen wäre kein bißchen mulmig zumute. Daß Gabys Strahlerzähne klapperten, fiel kaum auf. Auf den Burgunder wollte Sauerlich nicht verzichten. Er meinte, dazu wäre noch Zeit, außerdem könne er dann besser entspannen, und Urlaub wäre ja schließlich zur Entspannung gedacht. Also blieben Klößchens Eltern am Tisch, während sich die TKKG-Bande — gepäckschwer — auf die Sok-ken machte. In der Wartehalle wies Klößchen auf den Gepäckschalter ihrer Fluggesellschaft. „Da müssen wir die Koffer aufgeben. Kleineres Handgepäck könnt ihr bei euch behalten. Habe ich schon gesagt, daß der Koffer - als Freigepäck - nur 20 Kilo wiegen darf?" „Schön, daß du's jetzt sagst", meinte Karl. „Ich hätte nämlich um ein Haar für 15 Kilo Bücher eingepackt. Dann wäre ich locker auf einen halben Zentner gekommen." „Naja. Auch ein Globetrotter (Weltenbummler) wie ich kann nicht an alles denken", meinte Klößchen - und stellte sich ans Ende der Schlange. Denn etwa 15 Passagiere waren vor ihnen dran. Karl und Tarzan hatten kein Handgepäck, Gaby nur ihre schicke Umhängetasche mit den Schönheitsinstrumenten wie Kamm, Creme und Pony-Schere.
Klößchen schleppte eine Segeltuchtasche, die verdächtig schwer war. Vermutlich enthielt sie seine kakaohaltige Notnahrung. Tarzans Blicke strichen durch die Halle. Kommissar Glockner hatte ihm beschrieben, wie Luise Prachold — die Verdächtige — aussah. Sie reiste mit derselben Maschine, und eine auffällige Schönheit wie die Frau konnte in der Fluggastmenge einfach nicht untergehen. Aber so sehr er auch luchste - Luise Prachold tauchte nicht auf, nic ht mal eine ihr ähnliche Person. Stattdessen sah er was anderes, nämlich die Schrifttafel über der Gepäckabfertigung, vor der sich die Passagierschlange langsam verkürzte. Dort oben stand deutlich: BERLIN und eine total fremde Flugnummer, ganz zu schweigen von dem ,17.55 Uhr'. Er stieß Klößchen an. „Bist du sicher, daß wir hier richtig sind? Ich glaube, die ändern fliegen nach Berlin." Klößchen erstarrte. Blinzelnd schob er den Kopf vor. „Aber es ist doch unsere Fluggesellschaft, Hau und Hirnriss!" „Wohin wollt ihr denn?" fragte der Herr, der vor ihnen stand. Er sah aus wie ein pensionierter General, der stark darauf hofft, den dritten Weltkrieg noch zu erleben. „Nach Marbella", sagte Tarzan. „Aber Malaga ist der Zielflughafen." „Da müßt ihr in die Abflughalle Ausland. Hier ist Inland." Er lächelte. „Richtig!" Klößchen packte seinen Koffer. „Wie konnte ich das vergessen!" Tarzan dankte dem General, dann folgten sie Klößchen, machten alles wie er. Aber das Vertrauen in seine enorme Beschlagenheit bekam Risse. Nach beträchtlichem Fußmarsch erreichten sie die Gepäckabfertigung MALAGA, und dort war die Schlange noch
länger. Urlaubsfrohe Gesichter wandten sich hierhin und dorthin. Tarzan schätzte, daß es an die 30 Passagiere waren. Aber bestimmt nicht alle wollten ins Palast-Hotel nach Marbella. „Merkt ihr, wie das hier läuft?" meinte Klößchen. „Man muß die Kenntnis voll draufhaben. Sonst landet ihr in Peking, obwohl ihr über dem Flughafen nur einen Rundflug machen wolltet. Seid froh, daß ihr mich habt." „Wir sind glücklich", sagte Gaby. „Ohne dich", vermutete Karl, „würden wir sicherlich in Honolulu (Hauptstadt von Hawaii) von Bord gehen. Es sei denn, man wirft uns vorher ab." Klößchen nickte. Er schob ein Stück Schokolade in den Mund und war zufrieden mit sich.
6. Schmutzfleck am weißen Stiefel Langsam rückte die Passagierschlange zum Kofferwiegen vor. Gepäckstücke standen rechts und links der Beine, wurden schrittweise geruckt und dann wieder abgesetzt. Lautsprecherdurchsagen, mehrsprachig, durchschwirrten die Hallen, Flüge wurden aufgerufen — und Namen von Passagieren: Vielleicht weil sie zu Hause ihren Reisepaß vergessen hatten oder ein/e Partner/in noch schnell Lebewohl sagen wollte. Tarzan achtete auf alles. Sein Späherblick suchte Luise Prachold. Wo war eine junge Frau mit Madonnengesicht und blauschwarzem Langhaar? Vielleicht kommt sie ganz spät, dachte er, oder überhaupt nicht. Was schade wäre. Detektivische Beschattung dieser Verdachtsperson hätte den Urlaub gewürzt. Es passierte, weil Karl seine Brille polierte. Das war fällig, denn er zappelte längst von einem Bein aufs andere, randvoll mit Aufregung und Erwartung und Neugier. Das Nasenfahrrad entglitt ihm. Er grapschte danach, stolperte dabei zurück, erwischte es aber noch. Daß er Gaby stieß, war versehentlich. Es war auch nur ein Schubs an die Schulter, und Pfote fing das mit einem Rückwärtsschritt ab. Sie merkte, daß sie mit der ganzen Wucht ihres Fliegengewichts auf einen Fuß trat, und wandte sich um zur Entschuldigung. Aber die Dame hinter ihr war absolut ungnädig. Vielleicht flog sie nach Malaga, weil's mit der Weltreise nicht geklappt hatte. „Paß doch auf, dumme Göre!" zischte sie ärgerlich und bückte sich über ihre schlohweißen Sommerstiefel, deren rechter jetzt einen schwarzen Schmierstreifen hatte: Gabys Absatzspur. „Verzeihung!" sagte Gaby. „Es war nicht beabsichtigt — Ihre Beleidigung sicherlich auch nicht."
„Sieh dir den Stiefel an!" zischte sie zur Antwort. „Der ist hin. Den kann ich wegwerfen. Das geht nicht mehr ab." „Probie ren Sie's mal mit Schuhcreme", sagte Tarzan. „Aber mit weißer. Mit schwarzer wird's schlimmer." „Werd nicht unverschämt!" Sie richtete sich auf. Es war eine junge Frau. Blondes Haar, leicht gekraust, hing ihr lang auf die Schultern. Das Gesicht versteckte sich hinter einer riesigen Sonnenbrille. Die Kleidung paßte zu den Stiefeln. Alles war teuer und elegant. Nach ihrem Schmuck hätten sich Luftpiraten die Finger geleckt. Eine blöde Kuh mit zuviel Geld, dachte Tarzan und grinste sie an. Damit wäre der Fall und diese Mitmenschin für ihn erledigt gewesen. Aber drei Passagierbreiten hinter ihr stand ein starker Typ, der sich vermutlich in alles einmischte. „Belästigt die Dame nicht", knurrte er und trat neben sie, als müsse er Besitztum verteidigen. „Davon kann keine Rede sein", sagte Tarzan. „Es geht nur um diesen albernen Stiefel, der offenbar nicht zum Laufen gemacht ist, sondern besser eingerahmt an der Wand hängen sollte. Hoffentlich kann die Dame trotz Schmutzflecks die Reise antreten. Im übrigen hat sich meine Freundin entschuldigt, wurde aber dumme Göre genannt." „Bestimmt zu Recht!" sagte der Kerl aus seiner Höhe herab. Er war fast zwei Meter groß. „Ganz und gar nicht!" Tarzan schob die Brauen zusammen, und sein Gesicht nahm einen unheilvollen Ausdruck an. „Meine Freundin könnte darauf bestehen, daß sich die Dame entschuldigt. Nur weil wir noch minderjährig sind, kann man uns nicht wie Dreck behandeln. Im übrigen ist es immer dieselbe Sorte Erwachsener, die das denkt. Aber meine Freundin verzichtet", meinte er nach einem Blickwechsel mit Gaby, „denn Jugendliche wie uns macht sowas nicht an. Da stehen wir cool drüber." Der große Kerl sah die Frau an. „Fordern Sie Schadenersatz?"
Sie schüttelte den Kopf. „Da habt ihr nochmal Glück gehabt", meinte er und sockte mit zwei Schritten zu seinem Koffer zurück. „Der hat ja 'nen Hau in der Glocke (einen weichen Keks)", flüsterte Klößchen — laut genug, daß alle es hörten, wie viele Schmunzelgesichter verrieten. Der Große hob schon die Hand, um den Beleidiger zu ohrfeigen, zügelte sich aber doch, weil er wohl spurte, daß die Sympathien nicht auf seiner Seite waren. Fehlt noch, daß der nach Marbella will, dachte Tarzan. Und dort ins Palast-Hotel. Er sieht verdammt danach aus, und die Stiefel-Dame auch. Vielleicht trifft man in Luxushotels noch mehr von der Sorte: Außen Gold, innen Blech — und wo andere Charakter haben, hängt bei denen eine Brieftasche. Den Großen würde er nicht vergessen. Ein eleganter Riese war das, dunkelhaarig, mit kalten, schwarzen Augen. Sein Seidenhemd stand offen bis zur Magengrube, und auf der Brust glänzte ein Goldkettchen. Endlich war die TKKG-Bande an der Reihe. Die Koffer rollten auf dem Förderband davon. Keiner war zu schwer. Jeder der vier Freunde erhielt seine Bordkarte mit der aufgeklebten Sitznummer. Klößchen hatte seine Sternstunde, fiel ihm doch ein, was wichtig war, und er sagte: „Wir sind Nichtraucher. Bitte berücksichtigen Sie das." Gaby, Karl und er erhielten die Plätze 7G, 7E, 7F. Für Tarzan — die Dame vom Bodenpersonal bedauerte — war nur noch in der nächsten Reihe Platz: 8A „Bitte, rechtzeitig nach B5", sagte sie noch. „Euer Flug wird dann aufgerufen." B5? Tarzan hatte längst gesehen, daß die Flugsteige, die aus den Wartehallen hinausführten, A-, B-, und C-Bezeichnungen trugen, zuzüglich der Ziffern.
Klößchen erklärte dann auch: „Wir müssen durch Flugsteig B in den Sammelraum 5. Steht alles dran. Im Fünfer warten wir, bis unser Flug aufgerufen wird. Dann stürmen wir den Vogel. Das heißt, es kommt darauf an, wo er steht. Wenn weit draußen — dann bringt uns ein Bus hin. Wenn die Maschine aber direkt vor der Tür steht, werden wir über die Fluggastbrücke geschleust. Und dann werden wir eingeschweißt in die Silbertaube mit dem Düsen-Popo." „Ich bin so aufgeregt." Gaby preßte die Hände zusammen. „Beim ersten Mal", meinte Klößchen großartig, „ging's mir genauso. Aber jetzt bin ich abgebrüht. Es ist alles Gewohnheit." Sauerlichs tauchten auf. Klößchens Vater war in bester Stimmung, und der genossene Burgunder malte ihm die Backen rot an. Auch Frau Sauerlich hatte sich ein Gläschen gegönnt, was ihre Augen mit Glanz erfüllte. Sie vertrug nicht viel Alkohol. Das ist natürlich kein Fehler, eher eine Tugend. Aber Frau Sauerlich neigte auch zur Luftkrankheit mit Brechreiz. Um den rohkost-verwöhnten Magen nicht zu belasten, war ein Gläschen gerade genug. „Wir sitzen in Reihe 20", lachte Sauerlich und lutschte an seiner Arbeitgeber-Zigarre. „Bei den Rauchern. Damit ich meine Importe (Zigarre) schmauchen kann. Hat alles geklappt?" „Wie am Schnürchen", meinte Klößchen. „Schließlich kenne ich mich aus. Wie — äh — geht's denn jetzt weiter, Papa? Das habe ich vergessen." „Paßkontrolle. Leibesvisitation (Durchsuchung). Dann zum Sammelraum. Macht mal. So werdet ihr selbständig. Mutter und ich verschwinden noch mal." Sie entfernten sich in Richtung Toiletten. Klößchen schob die Brauen zusammen. „Paßkontrolle! Richtig! Verdammt, ich glaube, ich habe meinen Reisepaß im Koffer. Aber eingepackt habe ich ihn! Das weiß ich genau."
„An deinen Koffer", sagte Karl mit blecherner Stimme, „kommst du jetzt nicht mehr ran. Der ist längst im Frachtraum, auch Unterflur-Stauraum genannt. Um Himmels willen! Du kannst nicht mit, weil du ohne Paß nicht durch die Kontrolle schlüpfst. Dein Koffer fliegt mit, du bleibst hier!" Mit wilder Geste riß Klößchen seine Segeltuchtasche auf. Schokoladentafeln stapelten sich: mindestens 20. Nein! dachte Tarzan. Das schnalle ich nicht, wenn Willi den Paß verschüttet und . . . „Hier ist er!" triumphierte Klößchen und riß eine grüne Tafel Schokolade hervor. „Nein, ist er nicht. Aber der!" Der war's nun tatsächlich, und Klößchen hielt ihn hoch wie einen Ehrenpreis. Gaby seufzte erleichtert. „Gott sei Dank! Aber habe ich richtig verstanden? Sagte dein Vater was von Leibesvisitation?" Klößchen nickte. „Nach der Paßkontrolle wird unser Handgepäck durchleuchtet. Das heißt, wer von euch Pistolen oder Handgranaten mit hat, er sollte sie jetzt rausnehmen. Die Durchleuchtungsapparate sind nämlich affenschlau. Mit einem Strahl stellen die fest, ob was Gefährliches in unseren Taschen ist." Gaby verdrehte die Blauaugen zum Himmel. Schwere Waffen in ihrem Täschchen? Das war wirklich zum Kichern. Karl schüttelte nur den Kopf. Tarzan hob seine nervigen Hände. „Das sind meine Waffen. Aber die muß ich wohl nicht abgeben? Ansonsten bin ich friedliebend und achte jedes Leben — auch das meiner Feinde." „Du sprichst vom Handgepäck", sagte Gaby zu Klößchen. „Das wird also durchleuchtet. Und wer durchsucht uns?" „Polizisten. Die tasten uns ab, ob wir Maschinengewehre oder ähnliches am Körper verborgen haben. Raketen oder so." „Ich laß mich nicht abtasten", funkelte Gaby kriegerisch,
obwohl Klößchen nicht schuld war. „Wie komme ich dazu, mich betatschen zu lassen?" „Dich durchsucht eine Polizistin", beruhigte er sie. „Nur wir — äh — Männer werden von Männern gefilzt." „Warum eigentlich?" forschte Gaby. „Weil . . .", Klößchen runzelte die Stirn. „Ja, warum eigentlich?" „Wegen der Flugzeugentführer", sagte Tarzan. „Das war doch 'ne Zeitlang ganz groß in Mode und kommt immer noch viel zu häufig vor. Luftpiraten tragen aber kein Schild vor der Stirn — mit entsprechender Aufschrift, sondern schmuggeln sich klammheimlich an Bord, um dann mit Hände-hoch! und Ab-nach-Beirut! die große Schau abzuziehen. Aber das geht nur mit Waffengewalt, nicht mit herzlichen Bitten. Deshalb wird jedermann gefilzt. Denn letztlich ist jeder verdächtig." „Ich auch?" fragte Gaby. „Nicht direkt", lachte Tarzan. „Aber wo wollte man die Grenze ziehen, wenn man erstmal mit Ausnahmen anfängt." Sie hingen noch eine Weile in der Halle rum. Nach Luise Prachold spähten sie vergeblich. Anstandslos passierten sie die Paßkontrolle — warum auch nicht. Keiner der Oberschüler wurde steckbrieflich gesucht. Klößchen sorgte sich, daß die affenschlauen Durchleuchtungsstrahlen seiner Schokolade schaden könnten. Aber die überstand's. Nach der Leibesvisitation gingen sie in den Sammelraum 5, wo kaum noch ein Stuhl frei war. Tarzan entdeckte das blonde Stiefelweib. Der große Goldkettchenträger saß in ihrer Nähe. Unauffällig, aber nicht ganz unauffällig, schmachtete er sie mit Blicken an. Ob sie die erwiderte, war nicht festzustellen. Ihre Sonnenbrille verbarg außer Mund und Nase fast alles.
Sauerlichs kamen. Karl und Tarzan räumten ihre Plätze für sie. Mit Herrn Sauerlich unterhielten sie sich dann — hauptsächlich über schulische Fragen, denn Sauerlich gehörte zum Elternrat und war außerdem Vorsitzender des Schulträgervereins. Das heißt, er spendete ansehnliche Summen, wenn die staatlichen Gelder für die Internatsschule nicht reichten. Und sie reichten nur selten. Dann wurde der Flug aufgerufen. Die Urlaubermeute stürzte sich in den Zubringerbus. Nach kurzer Fahrt übers Vorfeld hielten sie neben dem Airbus. Hier wehte heftiger Wind. Aber er war sommerlau, Wartungsfahrzeuge hatten die Maschine aufgepept (in Schwung gebracht) und rollten jetzt ab: die Wagen für Gepäck, Frischwasser, Küche, Toilette und Tanken. Zu dieser Wartungsflotte gehörte auch das Bodenstromgerät. „Wir müssen hinten einsteigen, glaube ich", sagte Klößchen. Seine Freunde folgten ihm und mußten sich dann durch den gesamten Passägierraum nach vorn arbeiten, denn Reihe 7, bzw. 8 liegt vorn. Die vordere Tür wäre richtig gewesen. Sie nahmen ihre Sitze ein. Karl und Klößchen überließen Gaby den Fensterplatz. Auch Tarzan hatte, was das betraf, Glück gehabt, saß nämlich fensterseitig in der Fünfer-Reihe, aber doch um einen Sitz und eine Schräge von seinen Freunden getrennt. Immerhin — wenn er den Kopf über die Lehne reckte, konnte er sich verständlich machen. Natürlich war er aufgeregt. Vor allem interessierte ihn alles Technische. Für einen Moment war sogar Luise Prachold vergessen, obwohl er sich in der Sache zu gern engagiert hätte. Kleidungsstücke wurden in der Ablage verstaut. Klößchen legte auch seine Tasche hinein. Aber die hübsche Stewardess mit den spanischen Glutaugen nahm sie wieder heraus, und er mußte seinen Schokoladenvorrat unter dem Sitz verstauen.
Und sowas fliegt zum dritten Mal, dachte Tarzan. Er vergißt tatsächlich alles. Aber vielleicht ist er aufgeregt. Sauerlichs hatten ihre Plätze eingenommen und winkten. Tarzan blickte über die buntgewürfelte Urlaubermenge. Die Angsthasen hatten bleiche Gesichter, beteten still oder tranken noch rasch einen Schnaps. Die Gelassenen hatten sich angegurtet, dösten, lasen oder führten Gespräche, falls Gesprächspartner vorhanden waren. Von Luise Prachold keine Spur. Der Goldkettchenträger saß in Reihe 16, gangseitig. Tarzan fing seinen Blick auf und hoffte, daß wenigstens das Wetter freundlicher sein würde. Die letzten Passagiere kamen. Das Stiefelweib näherte sich. Nein! dachte Tarzan. Doch! Sie setzte sich neben ihn. Karl und Klößchen schnitten Gesichter wie Zirkusclowns. Gaby drückte mit Gesten ihr tiefes Mitgefühl aus. Tarzan setzte sich/legte den Sicherheitsgurt an und starrte aus dem Fenster. „Wie du deine Freundin verteidigt hast — das hat mir gefallen", sagte die Frau. Hoppla! Das klang ja geradezu menschlich. War sie doch nicht so mies, wie der erste Eindruck verhieß? Er wandte den Kopf und blickte auf etwa 180 qm Sonnenbrille. „Ja?" „Ja, wirklich!" „Um mich geht's aber nicht. Es geht um meine Freundin. Sie haben Gaby beleidigt." „Das ist mir so rausgeflutscht. Die meisten Jugendlichen sind rüpelhaft. Deshalb schimpft man dann gleich." „Die meisten Jugendlichen sind völlig in Ordnung. Alles andere ist ein Vorurteil. Es wird von Leuten in die Welt gesetzt, die über 50 sind, keine Kinder haben und sich nur in ihrer Altersgruppe bewegen."
„Alle Achtung! Du weißt aber Bescheid." „Solange ich Kind oder Jugendlicher bin, kümmere ich mich um das, was mich angeht. Es gibt Länder, wo man nicht zwangsläufig doof oder unbedeutend ist, nur weil man zu den noch unmündigen Staatsbürgern gehört. In Deutschland ist das leider nicht so. Obwohl wir doch die Welt von morgen bauen, formen und erhalten sollen. Und ganz bestimmt die Fehler ausmerzen müssen, die die Vor-uns-Generation zur Zeit macht. Vielleicht sind wir es, die dann die letzten Bäume retten und die Lufthülle und die Gewässer — und was die Welt sonst noch zum Überleben braucht, wenn mal nicht mehr Geschäft und Profit (Gewinn) im Vordergrund stehen. Also bitte", er grinste, „mehr Respekt vor den Jugendlichen. Vor uns!" Ihr Mund lächelte. Sie beugte sich vor und blickte zu den drei ändern hinüber. „Gaby, du bist keine dumme Göre! Ein Mädchen, das einen so tollen Freund hat, muß was Besonderes sein." „Das bin ich zwar nicht." Gaby lächelte. „Aber damit haben wir wohl das Kriegsbeil begraben." „Zufrieden?" wandte sich die Frau an Tarzan. Er grinste, was als Antwort sehr dürftig war. Zicke! dachte er. Typisch weibermies. Ihre Entschuldigung ist gar keine, sondern lauwarm . . .ein Mädchen, das einen so tollen Freund . . . Du liebe Güte! Denkt sie, daß sie mich damit um den Finger wickelt? . . .muß was Besonderes sein . . . Als ob Gabys Format von mir abhängt! Nee, Madame, so können Sie sich nicht bei uns einschmusen. Start! Rauchen war verboten! Die Düsen für Erfrischungsluft zischten. Der Vogel rollte, wurde schneller, hob ab. Fasziniert beobachtete Tarzan, wie sie den sicheren Boden unte/ sich zurückließen und - den Radarbug steilwärts - in den blauen Abendhimmel stiegen. Er sah zu seinen Freunden hinüber. Sie schichteten sich über Gabys Schulter und drückten die Nasen ans Fenster. Dann blickte Gaby unter
Klößchens Bauch zu ihm her und lächelte. Ihre Augen glänzten. Sie schwebte — buchstäblich — bereits in den Wolken, obwohl die, als Schönwetterwolken, klein wie Wattetupfer waren. „Wirklich kolossal", ließ Karl sich vernehmen. „Von oben sieht die Welt ganz erträglich aus. Man sieht nichts von Umweltverschmutzung und toten Bäumen." „Man braucht eben nur den nötigen Abstand", meinte Gaby. „Der deckt das Häßliche zu. Seht mal dort! Ich glaube, das ist unsere Schule." . Auf Tarzans Seite war sie nicht zu sehen. Drüben schworen Karl und Klößchen, ja, das wäre die Penne. Und Klößchen erkannte natürlich das Fenster vom ADLERNEST, obwohl sie inzwischen etwa 5000 Meter hoch waren. Über Bordlautsprecher begrüßte der Flugkapitän die Gäste, stellte sich vor — es klang wie ,Räuberhauptmann' — und kündigte eine Flugdauer von knapp drei Stunden an. Und zwar in 11 000 Meter Höhe. Die drei Stewardessen führten dann vor, wie man sich im Katastrophenfall zu verhalten habe, wie man mit den Sauerstoffmasken Schnorcheln und mit den Schwimmwesten umgehen müsse. Da die Flugroute über Zürich, Genf und Madrid führte, sah Tarzan den praktischen Nährwert des Schwimmwestengebrauchs nicht ganz ein. Sie überquerten kein größeres Gewässer. Also mußte es schon mit dem Teufel zugehen, wenn der Airbus-Pilot seine Kiste in einem Ententeich oder in einer öffentlichen Badeanstalt notlandete. Ruhig wie ein Sonnenstrahl - obschon mit 950 std/km nicht ganz so schnell — zog die Maschine dahin, westwärts, der Sonne nach, weshalb es auch während des gesamten Fluges nicht dunkler wurde. Tarzan hatte geglaubt, man könnte aus 11 000 Meter Höhe nicht allzu viel sehen. Aber im Gegenteil! Die Welt unter ihnen breitete sich aus: Landschaften, Städte, Berge mit schneebedecktem Gipfel und Seen wie funkelnde Kristalle.
„Fliegt ihr zum ersten Mal?" fragte Tarzans Platznachbarin. „Ja." „Ihr vier allein?" forschte sie. „Willis Eltern sitzen weiter hinten. Und in Malaga stößt meine Mutter zu uns. Sie kommt von woanders her und ist schon früher gelandet." „Und dann verbringt ihr gemeinsam eure Ferien?" Sie trug noch immer die Sonnenbrille. „Das haben wir vor." „In der Nähe von Malaga?" Himmel, löchert die mich! dachte er ärgerlich. Will die einen Schweizer Käse aus mir machen? Aber er verbarg seinen Unmut. „Wir fahren weiter nach Marbella." „Wie interessant. Ich will auch nach Marbella. Da habt ihr euch ein schönes Urlaubsziel ausgesucht." Er nickte und wandte sich wieder zum Fenster. Aber die Nervensäge hatte schon wieder ihr Blatt, ihr Sägeblatt, geschärft. „Zu siebt — da habt ihr euch sicherlich einen großen Bungalow gemietet?" „Wir wohnen im Hotel. Im Palast-Hotel. Unsere Zimmernummern kann ich Ihnen allerdings nicht nennen. Die weiß ich noch nicht." Die Abfuhr prallte an ihr ab wie Graupelschlag vom Autodach. Stattdessen blieb ihr rotgeschminkter Mund staunend offen. Beinahe hätte sie die Brille abgenommen. „Im Palast-Hotel? Oh! Das ist allerdings die tollste Adresse zwischen Almeria und Gibraltar. Dann werden wir uns noch öfter sehen. Ich wohne nämlich auch dort." Noch öfter sehen? Davor bewahre mich der Himmel! dachte er. Von Begeisterung war keine Spur in seiner Miene. Aber er wahrte die Höflichkeit und lächelte knapp. Über Lautsprecher kündigte eine Stewardess an, daß es
jetzt was zu futtern gäbe. Schlagartig erlosch Klößchens Interesse an der Welt aus der Vogelperspektive. Sofort klemmte er sich das Klapptischchen vor den Bauch und äugte, an Karl vorbei, dem anrollenden Bordküchenwägen entgegen. Längst hatte er die Angebotsliste des tax-free-skyshop (zollfreier ,Himmelsladen') studiert und - voller Stolz — entdeckt, daß die Sauerlichschen Schokoladenprodukte vertreten waren: als einzige Süßwaren. Der Versuchung, zollfrei - also billig - einzukaufen, würde er allerdings widerstehen, hatte er sich doch immerhin reichlich bevorratet. Der Gedanke, daß er seine Schokolade womöglich verzollen mußte — in Malaga —, huschte nur kurz durch sein Hirn. Das Stiefelweib neben Tarzan stand auf, nahm ihre Handtasche und stöpselte sich durch den Gang nach hinten, in Richtung Toilette. Daß Tarzan ihr nachsah, war Zufall. Eigentlich wollte er nur mal den Sauerlichs zuwinken. Aber seine Bewegung erstarrte. Er traute seinen Augen nicht, doch die Beobachtung war echt. Der große Goldkettchenträger saß gangseitig. Eben wakkelte die Stiefeltante an ihm vorbei. Kurz blickte er zu ihr auf. Dann legten sich seine und ihre Hand für einen Moment ineinander — zum zärtlichen Druck: Eine vertraute, ja liebevolle Geste — die außer Tarzan niemand sah. Zum dreibeinigen Zombie (wandelnder Leichnam)*, schoß es ihm durch die Rübe. Die kennen sich! Innigst kennen die sich! Tun aber fremd. Warum? Wieso? Jetzt war der Küchenwagen neben ihm, und er bekam das zellophanverpackte Imbißtablett mit von-allem-ein-bißchen. „Für die Dame auch?" Die Stewardess deutete auf den leeren Sitz. „Weiß nicht. Gesagt hat sie nichts. Aber lassen Sie's nur hier. Im Verweigerungsfalle erbarmt sich der Herr dort." Er deutete auf Klößchen.
7. Die Verwandlung Wenn Klößchen aß, dann aß er. Und wäre neben ihm die Welt untergegangen — er hätte sich erst nach der Nachspeise aufgeregt. Anders Karl. Der konnte essen, dabei hochtourig denken und einen seiner gefürchteten Vorträge rauslassen — wie jetzt, wobei er allerdings die Stimme zum Halblaut dämpfte, also nur zu Gaby und Klößchen sprach. Tarzans Luchsohren hörten trotzdem mit. „ . . .versteht man unter der Sonnenküste, der Costa del Sol, den größten Teil der andalusischen Mittelmeerküste im Süden der iberischen, also spanischen, Halbinsel. Sie beginnt am Golf von Almeria und erstreckt sich über Malaga bis nach Gibraltar und dem Golf von Algeciras." Karl schluckte ein Salatblatt und fuhr fort. „Wie ich gelesen habe, gab's an diesem Küstenabschnitt so um 1955 rum noch keinen Fremdenverkehr. Aber seitdem hat man aufgeholt. Und jetzt wimmelt es dort von Bars, Vergnügungslokalen und Ferienzentren." „Stimmt!" mummelte Klößchen durch zerkleinertes Schinkenbrot. „Westlich und östlich Malaga, dem Mittelpunkt", wußte Karl, „breiten sich Sand- und Kiesstrände aus. Zum Teil gibt's auch Felsriffe, die steil abfallen — ins Meer natürlich. Zwischen den Fischerdörfern haben sich regelrechte Hotelstädte angesiedelt. Und immer noch wird gebaut: Touristensiedlungen, Wohnkolonien, Bungalowdörfer und Hotels. Das hat leider dazu geführt, daß die schöne Küstenlandschaft verschandelt und mit Hochhauskästen vollgeklatscht ist. Manche sagen: Wie in Manhattan, der New Yorker Innenstadt. Die Costa del Sol ist etwa 400 Kilometer lang und das Klima mediterran, also mittelmeerig. Landeinwärts erheben sich die Ausläufer des Andalusischen Faltengebirges. Es ist von Bergrücken und schroffen Felsen gegliedert. Die Ge-
birgsketten heißen Sierras. Hinter Marbella liegt die Sierra Bianca." Klößchen hatte sein Mahl beendet und sagte: „Der fehlt's stark an Wasser, der Sierra. Unten ist zwar das Meer vorhanden — das Mittelmeer, meine ich — aber oben bleibt der Regen aus. Ist'ne geröllige Gegend. Alles staubig. Man ahnt förmlich, wie die dürren Bäume um Regen beten." Karl nickte. „Die Niederschlagsmenge beträgt dort nur 400 Millimeter. Damit ist die Sonnenküste das regenärmste Gebiet Westeuropas." Triumphierend drehte Klößchen sich zu Tarzan um. „Habe ich's dir nicht gesagt! Karl sagt es auch." „Die Trockenheit habe ich nie bestritten", lachte Tarzan. „Du hast aber behauptet, daß es dort kein Wort für Regen gibt. Doch den lluvia (Regen) gibt's." „Dem Wort hört man ja an, daß es sich nur um 400 Millimeter handelt. Wieviel — äh — Zentimeter sind das eigentlich? Ach so. Danke, Karl! Jedenfalls — so eine Niederschlagsmenge schlürfe ich doch mit einem Mundwinkel aus." „Aber nur, wenn's Kakao ist", foppte Gaby. Tarzan widmete sich seinem Imbiß. Und trank den Kaffee aus. An der Bewegung neben sich merkte er, daß die Stiefeltante ihren Platz wieder einnahm. Er wandte etwas den Kopf. Verblüfft starrte er die Frau an, eine Fremde. „Der Platz ist besetzt", sagte er. Im selben Moment sah er: Dieselbe Kleidung, dieselben weißen Stiefel. Aber — Zoff und Zombie! — das . . . das . . . Unmöglich! Diese Frau neben ihm hatte Ähnlichkeit, enorme Ähnlichkeit mit - Luise Prachold. „Erkennst du mich nicht?" lächelte sie. „Das macht die Perücke, wie. Und die Sonnenbrille. Aber so ist das bei Frauen. Wir verwandeln uns gern." Blauschwarzes Haar berührte ihre Schultern. Sie hatte
graue Augen und milchweiße Haut. Jetzt sah er auch das ebenmäßige Madonnengesicht. Größe stimmte. Figur stimmmte. Stimme stimmte. Alles stimmte. So hatte Kommissar Glockner die Verdächtige beschrieben. Tarzan spürte ein Kribbeln auf der Kopfhaut, als wäre er mit Blut saugenden Insekten behaftet. „Aha! Das ganze Jahr Fasching, wie? Ich hätte Sie glatt für einen blinden Passagier gehalten." Sie lachte und begann dann - zu Klößchens Leidwesen -an ihrem Imbiß zu knuspern. Viel aß sie zwar nicht, biß aber alles an, und Klößchen sah sich genötigt, das restliche Hungergefühl mit Schokolade zu besänftigen. Es ist die Prachold, dachte Tarzan. Sie muß es sein. Verkleidet also. Aha! Um unbeobachtet abzureisen. Wessen Beobachtung fürchtet sie? Die der Polizei? Aber nein! Der Kommissar weiß Bescheid und hat ja, offiziell, kein Interesse mehr. Wer könnte ihr sonst auf den Stiefelfersen sein, den weißen? Vielleicht der ehemalige Versicherungsdetektiv? Dieser Rüdiger Schleich, der so plötzlich den Job hinschmiß? Mit dem Goldkettchen-Herzjungen ist der Schleich jedenfalls nicht ein- und derselbe! Schleich sähe spanisch aus, sagt der Kommissar, wegen seiner spanischen madre (Mutter). Aber Herrn Goldkettchen würde ich - trotz seiner Braunhaare — klar, den würde ich für urdeutschen Provinz-Verschnitt halten. Für einen Detektiv ist er mindestens zehn Zentimeter zu groß und drei Meilen zu blöd. Irrer Knackpunkt (Rätsel)! Aber den werden wir knacken, Frau Prachold! Gaby war aufgestanden, um nach den Sauerlichs zu schauen. Er fing den Blick seiner Freundin auf. Auch sie war konsterniert (verblüfft). Nach ruhigem Flug landeten sie in Malaga. Es war noch taghell. Der warme Wind wiegte Palmen. Nach der Paßkontrolle stürmte Tarzan allen voran in die Halle.
Sein Herz pumperte. Seit Ostern hatte er seine Mutter nicht gesehen. Zwar schrieben sie einander oft, und fast jede Woche rief sie ihn an - aber das war kein Ersatz fürs Zusammensein. Er blieb stehen. Sein Blick jagte umher. Reisende — zu Hunderten - füllten die Ankunftshalle. Zwei rundlaufende Förderbänder, die die Gepäckstücke ausgaben, quietschten entsetzlich. Sie schleppten soeben das Frachtgut anderer Maschinen heran, frisch gelandeter Maschinen aus Amsterdam und Zürich. Passagiere schwitzten, denn die Hitze war — trotz der Abendstunde — erheblich. Kinder quengelten. Wo war seine . . . Er entdeckte sie, und im selben Moment sie ihn. Dann lagen sie sich in den Armen, und Susanne Carsten mußte sich Freudentränen aus den Augen zwinkern. „Gott sei Dank, Mutti, daß du gut gelandet bist. Prima siehst du aus! Wohl schon im Urlaub gewesen, Frau Carsten? So frisch und braun, als kämen Sie gerade aus Marbella!" Sie zog ihn an den Ohren, küßte ihn nochmal auf beide Wangen und mußte sich dann die Augen betupfen. „Es ist ja so unglaublich nett, Peter, daß Sauerlichs uns einladen. Wo sind sie denn? Und deine Freunde?" Sauerlichs und der Rest der TKKG-Bande warteten in gebührender Entfernung, um die Wiedersehensfreude von Mutter und Sohn nicht zu stören. Fünf Gesichter strahlten zu ihnen her. Dann fand große Begrüßung statt, Susanne Carsten kannte schon alle — von den letzten Besuchen her. Mit Sauerlichs war sie vertraut. Von Karl und Klößchen wurde sie verehrt. Für Gaby war sie das Idealbild einer Schwiegermutter schlechthin. Was Pfote sich freilich nur in ihren geheimsten Gedanken eingestand. Nicht mal mit Oskar hätte sie darüber geredet. Susanne Carsten war 38, sah aber jünger aus — kaum, daß man ihr einen so großen Sohn zugetraut hätte. Denn Tarzan, wiederum, wirkte erheblich älter als fast 14, was an seinem
athletischen Typ lag. Frau Carsten war schlank und sehr apart. Sie hatte braunblondes Haar, lange Wimpern und dunkle, warmherzige Augen. Sie kleidete sich großstädtisch schick, aber ohne Übertreibung und Firlefanz. Als Schmuck trug sie jetzt weiße Perlenohrringe und ein Kettchen im Ausschnitt der Bluse. „Ihr holt jetzt die Koffer", bestimmte Herr Sauerlich, „wir Eltern verschnaufen." „Meinen Koffer habe ich schon", sagte Tarzans Mutter. „Wie war Ihr Flug, liebe Frau Carsten?" erkundigte sich Erna Sauerlich. Mehr hörten die TKKG-Freunde nicht. Sie schoben ab, umzingelten das zuständige Förderband und prüften jeden vorbeilaufenden Koffer. Das Förderband quietschte schrill und schriller. „Spitzenmäßiger Radau!" meinte Klößchen. „So geht das im Süden zu. Mit ein paar Tropfen Olivenöl ließe sich das Rattenkonzert abstellen. Aber nein! Laut ist schön! Machf s jetzt bitte wie ich! Sobald ihr einen unserer Koffer erspäht — zugepackt! Und schon haben wir ihn. Dann müssen wir noch durch den Zoll. Hoffentlich denken die nicht, daß ich meine Schokolade im Flugzeug gekauft habe." „Wenn sie dich erwischen, mußt du sie verzollen", meinte Karl. „Vielleicht sollte ich schmuggeln", Klößchen lächelte listig. „Wenn ich die Tafeln verschlucke, alle zwanzig — merkt kein aduanero (Zollbeamter) die verbotene Einfuhr. Röntgen werden sie mich ja nicht." „Doch", sagte Tarzan. „Nämlich im Krankenhaus, wo du dann landest." Aber Klößchen hatte Glück. Nicht beim Förderband. Da war er der einzige, der keinen Koffer erwischte. Tarzan und Karl räumten alle Gepäckstücke der Gruppe Sauerlich ab.
Doch als er, Klößchen, nachher tolldreist durch die Pforte der nicht zu verzollenden Waren keuchte - samt seinem Koffer —, hielt niemand ihn auf. Daß er der Schokoladenschmuggler des Tages war, sah man ihm wirklich nicht an. Die Luft stand. Die Damen fächelten sich Kühlung zu, Klößchen schwitzte, Herr Sauerlich — aufgeheizt vom Burgunder — nicht minder. Der Transfer(Zubringer}-Bus stand bereit. Die TKKG-Freunde setzten sich in die letzte Reihe. Sie beobachteten, wie die Verdächtige — die vermutliche Luise Prachold — einstieg. Sie nahm einen der vorderen Plätze ein. Der Goldkettchen-Typ erschien. „Nehme jede Wette an, daß der ins Palast-Hotel will", flüsterte Tarzan. „Theoretisch könnte er auch woanders aussteigen. Denn der Bus hält bei mehreren Hotels, wie der Fahrer eben sagte - in fast verständlichem Deutsch. Aber Goldkette und die mutmaßliche Prachold gehören zusammen. Da habe ich mich nicht getäuscht." Seine Beobachtung hatte er den Freunden längst mitgeteilt. „Das sind dann schon zwei," sagte Gaby, „mit denen ich nicht gern unter einem Dach bin." „Wie ich uns kenne", grinste Karl, „werden die ändern das Leid tragen — müssen. Wir Urlauben bestens. Für das Heimlichkeits-Paar sehe ich die Urlaubstage nicht so rosig." Sprach's und polierte seine Brille, obwohl das Sicht-Angebot jetzt schlagartig nachließ. Es wurde dunkel. Die Nacht brach an und senkte sich auf Küste und Meer. Hügelauf, hü-gelab flimmerten Lichter — und oben die Sterne. Der Vollmond hatte seinen großen Auftritt auf der Bühne des Himmels. Und der Goldkettchen-Typ hatte sich hinter die Prachold gesetzt. Vermutlich flüsterten sie. Sauerlichs saßen. Frau Carsten hatte Platz genommen. Tarzan ging vor und setzte sich neben seine Mutter.
Sie unterhielten sie während der fast einstündigen Fahrt. Über Zuhause. Über Bekannte. .Über Ereignisse in der Stadt, die Tarzan kaum noch als seine Heimatstadt empfand. Heimisch fühlte er sich dort, wo er jetzt den größten Teil des Jahres verbrachte: in der Internatsschule und in der anliegenden Großstadt. „Es wäre zu schön, Mutti, wenn du dort eine Stelle fändest und hinkämst." „Ich weiß." Sie lächelte. „Ich bemühe mich auch. Aber die Aussichten sind gering, und ich kann meine gute Stellung nicht aufgeben." Der Bus hielt auch in Torremolinos, Boliches und Fuengirola. Vor vielstöckig aufragenden Hotelbauten lud er die Urlauber ab. Dann erreichten sie Marbella und durchführen die — 48 000 Einwohner zählende — Hafenstadt. Die Altstadt schien zu brodeln: Licht, Lärm und Menschen. Aber der Bus fuhr weiter, aus dem Ort hinaus, ließ die letzten Häuser hinter sich und bog schließlich ab — links ab zum Meer. Im Bus waren nur noch die Mitglieder der Gruppe Sauerlich sowie die Prachold und Herr Goldkettchen. Wette gewonnen, dachte Tarzan. Dann hielten sie vor dem Palast-Hotel. Sie stiegen aus. Livrierte Hausdiener eilten herbei und stürzten sich auf die Koffer. Wie ein achtbeiniger Knaul stand die TKKG-Bande beieinander. Beeindruckt blickten alle an der Hotelfassade hinauf. „Habe ich zuviel versprochen", gackerte Klößchen. Versprochen hatte er nichts, das Hotel mit keinem Wort beschrieben. Aber jetzt holte er's nach. „Acht Stockwerke hoch. Ein moderner Wabenbau. In der Breite — ich hab's nachgezählt — mißt es 25 komfortable Zimmer. Plus Nebenräume. Modern, modern! Schick! Und innen erstmal. Gehen wir rein! Die ändern sind schon drin." Am Empfang wurden die Sauerlichs, hausbekannte
Stammgäste, herzlich begrüßt. Selbst die Nachtschicht hinter der Rezeption wußte, wer da kam. Klößchen strahlte. Als Junior sonnte er sich im Schatten der Ehre. Herr Sauerlich regelte dann, was zu regeln war, und schob die ersten Trinkgelder rüber. Tarzan blickte umher. Gaby, neben ihm, nahm dieselben Bilder mit großen Augen auf. Die Hotelhalle war zweistöckig, kostbar eingerichtet und so groß wie zwei Tennisplätze. Hinter der meerseitigen Glasfront sahen sie Palmen, Agaven, Oleander und Jasmin. Zwischen Hotel und Strand — das hatte Klößchen berichtet — lag der Park: Das Herz der Hotelanlage mit allem, was den Urlaub verschönt. Der Ausgang, eine torbreite Glastür, stand offen. Ein elegantes Paar kam soeben herein. Der Herr trug ein Dinnerjackett, die Dame Abendkleid. Wenn die hier alle so rumlaufen, dachte Tarzan, kriegen wir Turnschuhträger nach einem Tag Hausverbot. Hier geht's ja wirklich zu wie in einem Palast. Eben wurden die mutmaßliche Prachold und ihr Goldkettchen-Riese vom Portier abgefertigt. Der war deutscher Sprache mächtig. Tarzan spitzte die Ohren. „ . . . si, Mrs. Prachold", schnappte er auf. Na, also! Nachdem sie ihren Zimmerausweis erhalten hatte, kümmerte sich der Portier um den Herrn. „ . . . Senor Waldemar Luschner? Jawohl, für Sie ist reserviert." Waldemar Luschner, dachte Tarzan. Ein neuer Name im Fall Prachold. Jedenfalls nicht Rüdiger Schleich. Hätte mich auch gewundert. Gaby zog ihn am Arm zur Gruppe Sauerlich, die sich vor einem der drei Lifte um Klößchens Vater versammelte. „Die halten das so hier", sagte er: „Die Doppelzimmer liegen nach Süden, haben also Meeresblick. Die Einzelzimmer
weisen nach Norden. Das ist die Frontseite, die wir eben von draußen gesehen haben. Dort blickt man auf die Sierra Bianca. Aber das ist nichts gegen die andere Seite, wo das Meer funkelt und man den herrlichen Park samt der Swimmingpools vor sich hat. Nun habe ich's so gedreht, daß keiner von uns ins Einzelzimmer muß — euer Einverständnis vorausgesetzt." Alle nickten erfreut. Niemand meldete Protest an. „Wir", wandte Sauerlich sich an seine Frau, „können Zimmer 110 nehmen. Sie, liebe Frau Carsten, und Gaby hätten dann 109. Ins Zimmer der Jungs - in 108 - wird noch ein drittes Bett gestellt." „Prima", wurde er von seinem Sohn gelobt. „Dann wohnen wir ja Tür an Tür. In welchem Stock, Papa?" „Aber Willi, das verrät doch die Zimmernummer. Die erste Ziffer. Wir haben die Räume 8, 9 und 10 in der ersten Etage." Trotz geringer Entfernung benutzten alle den Lift. Auch Luschner stieg bei ihnen ein. Aus der Nähe roch er stark nach Rasierwasser, wie Tarzan feststellte, und seine Miene war abweisend. Er drückte den Knopf für die vierte Etage, wohnte also wesentlich höher. Vielleicht bereitete ihm das Zahnschmerzen, denn die Prachold wohnte im ersten Stock. Als die Gruppe Sauerlich aus dem Lift stieg, sah Tarzan die Frau. Eben schloß der Kofferboy ihr Nr. 106 auf. Affendusel! dachte Tarzan. Da haben wir sie ja voll unter unseren Fittichen, nämlich locker unter Kontrolle. Sie bezogen die Zimmer. Die Koffer wurden gebracht. In Nr. 108 war das dritte Bett schon aufgestellt. Eng wurde es deshalb nicht. Die Zimmer waren geräumig und mit südländischer Eleganz eingerichtet. Tarzan nahm das Einzelbett und brauchte keine zwei Minuten, um seine Siebensachen in den Schrank zu hängen. Dann trat er auf den Balkon.
8. Entdeckt von Ganoven Für einen Moment verschlug ihm der Anblick den Atem. Unter ihm breitete sich der Park aus. Palmen bewegten ihre Fächerblätter im Nachtwind. Drei kreisrunde Schwimmbecken leuchteten türkisgrün — und hell. Unterwasser-Scheinwerfer, in die Beckenwände eingelassen, schickten ihre Strahlen durch das vorgewärmte Meerwasser. Der Mond beschien alles. Auf der Golfrasen-Wiese standen zusammengefaltete Sonnenschirme und Liegen. Im Hintergrund war eine Terrasse. Am Ende des Parks, jenseits der Umzäunung, schien der Boden steil abzufallen: zum Strand. Das Meer rollte an, brandete, rauschte leise.- wie seit ewigen Zeiten. Die Wellenkämme trugen Schaumkronen, und weit draußen, wo Dunst und Wasser zusammenflössen, blinkten die Positionslichter kleiner Schiffe. Die Balkone zogen sich, einförmig, an der Fassade entlang: in jedem Stockwerk. Trennwände schirmten vom Nachbarn ab. Aus Nr. 109 fiel Licht auf den dazugehörigen Balkon. Tarzan beugte sich vor und — sah Gaby ins Gesicht. „Dachte ich mir doch, daß du da bist", lachte sie. „Irre schön, wie! Ich merke schon, ich kann bestimmt nicht schlafen. Ich werde die ganze Nacht aufs Meer hinaussehen." Hinter ihr beugte Tarzans Mutter sich übers Geländer. „Seid ihr gut untergebracht?" „Bestens!" lachte er. „Wenn ich da an unser Adlernest denke! Das ist schon ein Unterschied." Susanne Carsten streckte die Hand aus. „Diesen Anblick werde ich niemals vergessen." Karl und Klößchen traten zu Tarzan. Drüben, bei 110, schob sich Sauerlichs Kopf hinter der Trennwand hervor. „Hallo, meine Lieben. Fürs Restaurant, höre ich gerade, ist es schon etwas spät. Aber wir können uns auf dem Zimmer servieren lassen. Wer ißt mit?"
Für Klößchen war das keine Frage. Auch Tarzans Mutter und Karl schlössen sich an. „Für mich bitte nicht", sagte Gaby. „Ich würde lieber . . . " „. . . schwimmen", nahm ihr Tarzan das Wort aus dem Mund. „Das könnte Gedankenübertragung sein, Pfote. Ich jedenfalls habe Appetit auf den Swimmingpool." „Aber warte gefälligst, bis ich meinen Bikini anhabe." „Und vergeßt die Bademäntel nicht", sagte Klößchen. „Ist nämlich Vorschrift, sozusagen, nur bekleidet — wenigstens mit dem Bademantel — durchs Hotel zu gehen. Nackte Haut darf man erst zeigen, wenn man draußen ist." Tarzans Bademantel war rot, ziemlich neu und wie eine Karate-Jacke geschnitten. Vor dem Lift wartete er auf Gaby. Sie kam in weißes Frottee gehüllt, hatte sich die Haare hochgesteckt und Bade-Sandalen an den Füßen. „Ist es nicht traumhaft, daß wir hier gemeinsam Ferien haben. So schön habe ich mir das Palast-Hotel nicht vorgestellt." „Außerdem ist für alles gesorgt", lachte er. Sie stiegen in den Lift. „Wir könnnen schwimmen, surfen, am Strand wandern, sonnenbaden und — die Prachold beschatten samt ihrem Macker. Das macht den Aufenthalt spannend." Der Lift hielt in der Halle. Sie liefen zum parkseitigen Ausgang. Sie kamen am Restaurant vorbei, wo die Kellner die Tische abräumten. Sie konnten auch in die Bar sehen, die nicht viel kleiner war als das riesenhafte Restaurant. Mindestens hundert Gäste saßen vor ihren Gläsern, tropenhell und überwiegend rohseidig gekleidet. Der Piano-Player (Klavierspieler) klimperte mitternachtsmüde vor sich hin. Sein ,Spanish Eyes' (Spanische Augen) klang ein bißchen wie ,Nun, Brüder, eine Gute Nacht. . .' Vielleicht spielte erschon lange. Sie liefen hinaus. Zwei junge Frauen begegneten ihnen, Französinnen — offenbar. Jedenfalls unterhielten sie sich auf französisch.
Ein Steinplattenweg führte durch einen Palmenhain zur Liegewiese. Die beiden größeren Schwimmbecken hingen aneinander — in Form einer 8. Verbunden waren sie durch einen Kanal, den eine tellerförmige Betonplatte überdachte. Aber sie stand auf Füßen. Das heißt, man konnte rechts und links des Kanals unter der Platte, die oben von einem Plastikrasen begrünt wurde, ins Freie spähen. Sie warfen ihre Bademäntel auf eine Liege. Gabys Bikini war so türkisgrün wie das Becken. Sie kühlten sich ab. Tarzan tauchte mit Hechtsprung ins Meerwasser, das fast so lau wie die Luft war. Gaby jauchzte, fand das Wasser affenstark, weil es salzhaltig war wie das Meer, aber sauberer, spritzte Tarzan eine mittelhohe Welle ins Gesicht und zog dann ab im Rückenkraul — ihrer Spezial-Disziplin. Sie tobten sich aus. Außer ihnen war niemand im Park. Um diese Zeit übte die Bar stärkere Anziehungskraft aus. „Ich schwimme mal durch den Kanal", sagte Tarzan. „Warum?" Gaby prustete. „Nebenan soll das Wasser noch besser sein." Sie lachte. „Also, gut! Wer zuerst drüben ist, der ..." „Pst!" Sein Blick war dem Hotel zugewandt. Achtstöckig und mehr als dreimal so breit grenzte es die Hotelanlage nach Norden ab: Ein Wabenbau für Luxusreisende mit — jetzt — mindestens hundert erleuchteten Fenstern. Aber das nahm er nur nebenbei wahr. Er sah die Gestalt, die sich durch den Palmenhain näherte. Eine Frau. Sie trug was Weißes. Einzelheiten verbarg die Mittelmeernacht. Aber am Gang erkannte er Luise Prachold. „Die Prachold kommt", wisperte er. „Schnell in den Kanal." Sie schwammen lautlos. Wenige Züge genügten. Unter der Betonplatte strahlten keine Wasserscheinwerfer. Das Was-
ser war hier wie schwarze Tinte, die Dunkelheit vollkommen. Sie verhielten sich ruhig. Durch die Bodenfreiheit der Platte spähten sie hinaus. „Sie lustwandelt", flüsterte Gaby. „Jedenfalls hat sie ein Kleid an. Schwimmen will sie offenbar nicht." Die Frau schlenderte heran. Gaby näherte ihren Mund Tarzans Ohr. „Da hinten! Luschner kommt." Sie hatte recht. Jetzt sah auch Tarzan den großen Kerl. Eilig schlängelte er sich an den Palmen vorbei. Die Prachold hatte das erste Becken erreicht und blieb am Rand stehen — ganz in ihrer Nähe. Luschner spähte nach allen Seiten, bevor er zu ihr trat. „Ah, Liebling! Endlich! Scheißspiel, dauernd in deiner Nähe zu sein und dich nicht zu kennen." „Morgen lernst du mich offiziell kennen, Waldi! Hier am Schwimmbecken. Dann hat alles seine Ordnung." Er wollte sie küssen. Aber sie schob ihn sanft von sich und murmelte was von Lippenstift. Dann sprach sie deutlicher. „Daß du dich eingemischt hast, als die dumme Göre mir auf den Fuß trat, fand ich nicht gut." „Was? Warum nicht?" „Wir hatten doch ausgemacht, daß wir keine Notiz voneinander nehmen." „Klar. Aber . . ."Er hüstelte. „Es war doch ganz unverdächtig. Und keine Bekannter in der Nähe. Oder hast du den Spaniertyp bemerkt?" „Das nicht. Trotzdem! Wir dürfen nicht unvorsichtig werden, Waldi. Bis jetzt hat alles geklappt - aber es steht noch zuviel auf dem Spiel." „Hm. Ja." Sie schwiegen einen Moment, hielten Händchen und blickten über Pool und Pinien aufs Meer hinaus.
„Wann rufst du ihn an?" fragt Luschner. „Morgen. Aber jetzt gehe ich rein und ins Bett. Ich bin müde. Wollte mich nur nochmal umschauen. Mein Zimmer weist nordwärts. Deins auch?" Er murmelte was. Aber das verstanden die Lauscher nicht mehr, denn Luschner und die Prachold trollten sich zum Hotel zurück, das sie allerdings nicht gemeinsam betraten.
Luschner rauchte noch eine Zigarette im Freien, ehe er in die Bar ging, um seinen Schlummertrunk einzufahren. „Waldi!" Gaby kicherte. „Sie nennt ihn Waldi, diesen Geisteszwerg. Ein liebend Paar also. Jetzt wissen wir's genau." „Morgen werden sie sich kennenlernen. Das sehen wir uns an." „Was denkst du in der schlauen Abteilung deiner Birne?" „Bei mir sind alle Gehirnzellen schlau. Ich denke, daß Erik Prachold wohl doch tot ist. Weil seine Tussi schon einen ändern hat." „Zwingend logisch ist das aber nicht. Die schlaue Abteilung schläft wohl schon." „Wieso?" „Manche Hasen", erklärte Gaby, „noch dazu solche wie die Prachold, können zwei Macker verkraften. Einen fürs Herz, der dann Waldi heißt. Und einen zum Geld verdienen, der den Toten spielt und solchermaßen seine Lebensversicherung 20 oder 30 Jahre zu früh kassiert." „Schockierend, aber wahr. Für deinen Geistesblitz spricht, daß sie ihn morgen anruft. Ihn — könnte Erik, der Scheintote, sein. Außerdem — wie sagte sie mahnend: . . .steht noch zuviel auf dem Spiel. Und von einem Spaniertyp war die Rede. Ist Rüdiger Schleich gemeint, der Ex-Detektiv?" Sie ließ seine Schulter los. „Wir müssen damit rechnen, daß die Betrüger zu dritt sind." „Wird sich alles erweisen. Wir, jedenfalls, bleiben munter am Ball. Meine Taktik ändere ich, wenn nötig. Affenlistig werde ich der Prachold kommen, indem ich freundlich bin. Dann kann ich sie fersennah beschatten, ohne daß sie mißtrauisch wird." „Diese Schotter-Biene hat mich wieder dumme Göre genannt." „Das ist Weiberneid, Pfote. Eine wie die ist sogar auf die kleinen Mädchen eifersü . . .Au!" Die Betonplatte dämpfte seinen Schrei.
Unter Wasser hatte Gaby ihm die Faust in die Rippen gebohrt. „ . . .chchchtig", vollendete er. „Zumal, wenn eine fast 14jährige so bezaubernd und hübsch ist. 'ne Tante wie die Prachold verkraftet das nicht." „Habe ich dich eben gestoßen? Entschuldige!" zirpte sie. „So, und jetzt möchte ich in das prachtvolle Hotelzimmer zurück. Ich habe nämlich Hunger. Deine Mutti, die viel zu gut für dich ist, hebt mir was auf: Einen Toast mit Lachs, ein paar Röllchen vom Roastbeef, Salat und natürlich — einige Löffel Gazpacho."
Pedro Ramirez erwachte in seiner Wohnung. Es war Dienstagmorgen, ein sonniger Tag. Nur über dem Meer lag noch Dunst. Ramirez fühlte sich elend. Jeder Arzt hätte ihn krank geschrieben. Aber der Ganove wäre nie auf die Idee gekommen, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Nach dem Reinfall bei Erik Prachold, der mißlungenen Erpressung, hatte er eins über den Schädel gekriegt. Na, gut! Das war Berufsrisiko. In der Einöde bei Mijas war er erwacht. Ein Lastwagenfahrer, dem er ein Märchen auftischte, hatte ihn mitgenommen. Jetzt hatte Ramirez einen Kopfverband. Außerdem schämte er sich. Er hatte versagt. Mühsam hievte er sich aus dem Bett. Der Kopf schmerzte. Als er sich in der Küche einen Pulverkaffee anrührte, hörte er Schritte auf dem Flur. Einen Moment später wurde an seine Tür gepocht. „Wir sind's, Pedro", kratzte eine Reibeisenstimme. Er öffnete, und die beiden kamen herein. „Na, besser?" fragte Carlo Morganzini. „Noch nicht. Vielleicht habe ich doch eine Gehirnerschütterung."
„Aber nur eine kleine", meinte Heiko Möhlen und grätschte sich rittlings auf den einzigen Küchenstuhl. Möhlen war Deutscher, ein feister Bursche mit rötlicher Haut, Sommersprossen und rotblonder Krause. Er galt als Kopf einer Bande von Autodieben, die ihre Beute — umfrisiert - in den Vorderen Orient verschob. Nur Wagen der Luxusklasse, versteht sich. Als privaten Schlupfwinkel hatte er sich die Costa del Sol erkoren. Wo sich Geld machen ließ, war er dabei. Er hörte alles und hatte die Finger überall drin. Morganzini, ein Italiener, hatte rabenschwarzes Haar und ein gelbes Pferdegesicht. Eigentlich war er Falschmünzer. Aber in Mailand hatte die Polizei seine kleine BanknotenDruckerei entdeckt und alle Komplicen verhaftet. Morganzini konnte fliehen. Sein Glück war, daß die Polizei ihn unter einem ändern Namen suchte, denn die Druckerei hatte er als Silvio Pontizzi geführt. Fotos von ihm existierten nicht. Also konnte er sich — hier, jedenfalls — sicher fühlen. Er war mit Möhlen befreundet. ' „War eine Sauarbeit, Pedro", sagte Möhlen. Er sprach fließend spanisch. Ramirez nickte. „Aber wie immer", Morganzini grinste: „Wir haben Erfolg." „Ihr habt ihn gefunden?" „Alle Hotels haben wir abgeklappert. Telefonisch." Angewidert schüttelte Möhlen den Kopf. „Wußtest du, daß es in diesem Küstenstrich ein paar hundert Hotels gibt?" „Wirklich? Naja. Es läppert sich zusammen." „Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Jedenfalls: Prachold, jetzt Heribert Steiner, hat sich nach Marbella verzogen." „Das ist ja nicht weit." „Er wohnt im Palast-Hotel." Ramirez pfiff durch die Zähne. „Dafür braucht er Kleingeld."
„Das hat er, wie wir wissen." Möhlen wischte sich über die Stirn. „Aber nicht mehr lange. Dann haben wi/s. Du, Pedro, hast das ein bißchen verpfuscht. Ja, das kann ich dir nicht ersparen. Ich dachte wirklich, daß du diesen Amateur ohne Anstrengung schaffst. Aber so laienhaft ist er wohl doch nicht." „Es war wirklich nicht zu erwarten, daß der mich halbtot schlägt. Es kam zu plötzlich. Ich konnte kein . . ." „Schon gut, schon gut! Über verschüttete Milch reden wir nicht." Möhlen erhob sich. „Jetzt nehmen wir die Sache in die Hand. Du kriegst zehn Prozent. Aber mit 500 000 D-Mark kommt der Prachold nicht weg. Dieser Detektiv, dieser Schleich, von dem Piteau alles weiß, sagte was von einer enorm hohen Lebensversicherung. Eine Million. Oder gar zwei." Piteau, Jules Piteau, gehörte zur Bande. Er war Franzose und hauptberuflich Einbrecher in Marseiile. „Nicht schlecht", meinte Ramirez. „Ich würde gern mitmachen. Aber im Augenblick geht s nicht." Möhlen grinste, klopfte ihm auf die Schulter, was Explosionen in Ramirez' Schädel auslöste, und stampfte hinaus. Morganzini folgte ihm. Vor dem Haus wartete ein staubbedeckter Mercedes. Jules Piteau, ein frettchenhafter Typ, saß am Lenkrad. Er hatte gewartet und sich die Zeit vertrieben, indem er die Fingernägel kurz biß. Möhlen und der Italiener stiegen ein. Piteau startete. Während der Fahrt wechselten sie kein Wort. Gegen 10 Uhr vormittags bogen sie in die Einfahrt zum Palast-Hotel. Vor dem Portal hielt ein Taxi. Eben stieg ein neuer Gast aus. Augenblicklich zischte Piteau durch die Zähne und trat auf die Bremse. „Freunde, das ist er."
„Wer?" Möhlen furchte die Stirn. „Prachold?" ,;Den kenne ich nicht. Nein, das ist Rüdiger Schleich, der Detektiv, der mich damals eingespannt hat, nach Prachold zu suchen." „Halt an!" gebot Möhlen. „Der darf dich nicht sehen." Sie beobachteten, wie Schleich mit seiner Reisetasche im Hotel verschwand. Des Koffers hatte sich bereits der Türsteher bemächtigt. „Roll hin!" sagte Möhlen. „Wir steigen aus. Du zischt ab. Uns kennt dieser Schleich nicht. Und dich wird er nicht sehen. So stimmt's." Augenblicke später betraten er und Morganzini das PalastHotel. Schiefgehen konnte nichts. Ihre Zimmer waren vorbestellt. Möhlen schritt zum Empfang. Er war gut gekleidet. Das entschuldigte sein Gesicht nicht. Aber in der Gastronomie wird die Brieftasche allemal höher geschätzt als das persönliche Niveau (Format). Der Italiener hielt sich hinter ihm und war etwas unsicher, obwohl er nur echtes Geld in der Tasche hatte. Der Verlust seiner Fälscherwerkstatt hatte ihn doch stärker mitgenommen, als er den Komplicen eingestand. Möhlen stützte sich auf den Tresen und wartete. Schleich war nur zwei Schritte entfernt, füllte soeben die Anmeldung aus und le gte seinen Paß vor. Der Detektiv war groß und hager, wirkte wie ein waschechter Spanier, denn er hatte ein durchfurchtes Torero-Gesicht. Sein karierter Anzug war so auffällig, daß er das Gegenteil bewirkte: Man sah darüber hinweg. Möhlen blickte gelangweilt auf seine Fingernägel. Schleich schob eine 500-Peseten-Banknote(9DM,) über den Tresen. „Was ich noch fragen wollte", sagte er halblaut: „Ist Frau Prachold schon eingetroffen?"
„Danke, mein Herr. Ja, Senor. Gestern abend." „Damit ich sie anrufen kann — von Zimmer zu Zimmer. Wo . . ." „Nummer 106." Schleich grinste, nickte und schob ab zum Lift. Möhlen und Morganzini wechselten Blicke. Der Portier wandte sich Möhlen zu. „Senor?" Fünf Minuten später bezogen die beiden nebeneinander liegende Einzelzimmer in der zweiten Etage. Möhlen sah sich nur flüchtig um, nahm drei Mini-Fläschchen Whisky aus der Hausbar, goß alles in ein hohes Glas und ging nach nebenan, wo Morganzini sich gerade auf ähnliche Weise bediente. Allerdings bevorzugte er Cognac. „Glück muß man haben." Möhlen hob sein Glas. „Prost! Für mich ist alles klar." Der Italiener nickte. „Also ist auch Pracholds Alte schon eingetroffen. Das heißt, sie bringt das Geld. Die Lebensversicherung. Natürlich nicht im Handtäschchen. Aber ich wette, sie hat die Kohle hierher überwiesen. Daß ihr dieser Schleich nachspürt, ist weniger schön." „Entweder er weiß über alles Bescheid", nickte Möhlen, „oder er ahnt, was gelaufen ist. Jedenfalls hängt er sich an die Frau." „Damit sie ihn zu Prachold führt?" „Was sonst!" Möhlens Miene wurde brutal. „Aber da kann er was erleben. Prachold ist unser Dukatenesel. Den nehmen wir aus. Wir allein!" „Das ganze ist doch sonderbar. Wenn Schleich wirklich Bescheid wüßte, hätte längst die Polizei zugegriffen. Und bei begründetem Verdacht hätte die Frau das Geld nicht erhalten. Aber das hat sie. Sonst wäre sie erstens nicht hier. Und zweitens würden die beiden nicht in diesem Luxusschuppen absteigen." „Weißt du, was ich glaube", Möhlen leerte sein Glas: „Schleich ist privat hier. Nicht im Auftrag seiner Versiehe-
rungsgesellschaft, sondern auf eigene Rechnung. Ich lach mich tot, wenn der das gleiche vorhat wie wir." „Du meinst, er will Prachold erpressen?" Möhlen nickte. Morganzini grinste. „Zum Teufel! Die Pracholds sind wirklich nicht zu beneiden. Die ganze Mühe umsonst. Und sie können nicht mal die Polizei um Hilfe bitten. Tja, das kommt davon." Möhlen setzte sein Glas ab und griff zum Telefon. „Erstmal müssen wir über Schleich genau Bescheid wissen. Mein Mittelsmann in Deutschland besorgt das im Handumdrehen. Dann werden wir dem Detektiv klarmachen, daß er uns nicht dazwischen pfuscht — andernfalls verbringt er den Rest seiner Tage im Rollstuhl. Schließlich und endlich werden uns die Pracholds viel Geld übergeben. So leicht, Carlo, haben wir's noch nie verdient." Er nahm den Hörer ab, wählte und erreichte seinen Mittelsmann sofort.
9. Waldis Blamage Zum Frühstück versammelte sich die Gruppe Sauerlich im Restaurant. Alle hatten gut geschlafen. Sogar Gaby war Morpheus (Gott des Schlafes) tief in die Arme gesunken, hatte also nicht — wie befürchtet — die ganze Nacht aufs Meer geblickt. Das Restaurant hatte eine Glasfront zum Park, und dort tummelten sich bereits die Frühaufsteher: in den 8er-Pools oder dem dritten, bei Tischtennis öder unter den Duschen. Die meisten aber breiteten ihre mehr oder minder schönen Figuren unter der Sonne aus, und die schoß sich, obwohl der Tag noch jung war, allmählich ein, brannte den Dunst weg überm Meer und verhieß Urlaubsbräune bis ins Mark der Knochen. Alle sieben trugen bereits Badekleidung, aber darüber den passenden Mantel, abgesehen von Tarzans Mutter und Frau Sauerlich. Sie hatten sich in bunte Pareos gehüllt, die noch leichter und luftiger sind — und schick wie sommerliche Kleider. Das spanische Hotelfrühstück war leicht und — für Tarzans Geschmack — etwas süß, gehörten doch Milchbrötchen und kleine Kuchen nicht gerade zu seinen Gaumen-Favoriten (Favorit=Liebling). Aber ihm fehlte ohnehin der Hunger, und notfalls hätte auch von Rührei mit Speck bis zur Käseplatte alles zur Verfügung gestanden. Die Kellner, die in ihrer Uniform ein bißchen wie Stierkämpfer ohne Degen aussahen, bedienten zuvorkommend. Als Klößchen zum fünften Milchbrötchen griff, hob seine Mutter die Brauen. „Aber Willi! Du ißt doch sonst nicht soviel." Seine Freunde vereisten ihre Mienen, um nicht mit lautem Lachen herauszuplatzen. Offenbar war Frau Sauerlich die einzige, die nichts von Klößchens Gefräßigkeit ahnte — hielt er sich doch zu Hause
bei Brennesselsalat und Holunderpüree sehr zurück, um dann, wenn Mama nicht zusah, heimlich wie ein Scheunendrescher zu fressen. „Ich verstehe mich selbst nicht", mummelte er jetzt mit eiskalter Gelassenheit. „Es muß am Klima liegen, daß ich endlich mal ein bißchen Appetit verspüre. Und zulangen muß ich. Ich will ja noch wachsen." Aber bitte in die Höhe! dachte Tarzan und bebte innerlich. Nicht nur in die Breite! Karl, dem Computer, trieb die unterdrückte Heiterkeit Schweiß auf die Stirn. Sogar seine Brillengläser beschlugen. Gaby klemmte sich die Mundwinkel zwischen die Strahlerzähne und blickte, scheinbar andachtsvoll, auf ihre Hände. Drei Tische entfernt — an einem Katzentisch, jedenfalls nur für zwei gedeckt — beendete Luise Prachold ihr Frühstück. Tarzan, der mit Blick zu ihr saß, hatte höflich genickt, und für zwei Sekunden war ihre gespannte Miene in ein Lächeln aufgeweicht. Aber locker war sie nun nicht mehr, die Verdächtige, sondern fummelig, als hätte niemand den Urlaub so nötig wie sie. Sie trank nur ihren Milchkaffee, blickte dauernd in den Park und hatte schon zwei Milchbrötchen — in Gedanken mit den Fingern zerbröselt. Ihr Teller sah aus, als sollte ein Schnitzel paniert werden. Steht die unter Druck! dachte Tarzan. Wie sehr, weiß sie noch gar nicht. Ist sie doch längst ein Fall für den TKKG. Wir, jedenfalls, bleiben ihr hart auf den Fersen. Waldi Luschner ließ sich nicht blicken. Vielleicht hatte er seinen Kaffee schon getrunken, oder er begnügte sich mit einem Schluck aus dem Swimmingpool. Klößchen hätte weitergefrühstückt — bis zum Sinken der Sonne. Aber sein Vater, der den Sohn genauer kannte als Mama, nahm ihm den Teller weg.
„Du willst sicherlich schwimmen, Willi. Da darf der Magen nicht zu voll sein." Endlich! Tarzan zuckten schon die Waden - ging's hinaus. Mit Gaby stürmte er voran. Sonnenglut empfing sie und der Dürft von Oleander, Jasmin und Magnolien. Wassersprenger hatten in aller Frühe den Rasen genetzt. Aber er war schon wieder knattertrocken und rauh wie das Fell einer Wildsau. Die Steinplatten glü hten. Gaby quiekte und hüpfte wie auf glühenden Kohlen. „Da kriegt man ja Blasen. Brandblasen." Sie schlüpfte in ihre Badelatschen. Alle Sonnenschirme, ausnahmslos weiße, waren aufgespannt, die Liegen mit Schaumstoffmatratzen gepolstert und bedeckt von — wäschefrischen, hoteleigenen — Badelaken. Gäste wimmelten herum, und keiner war schlecht gelaunt. Einige, die schon länger da waren, hatten Stammplätze. Andere gingen noch umher, waren unschlüssig, wo denn nun nach ihrem Geschmack der schönste Platz sei: Abseits - mit Aussicht auf Ruhe, oder mitten drin im Gewurl, wo alles vorbei promenierte, um die superschicken Bademoden vorzuführen. Gaby und Tarzan belegten einen Sonnenplatz steinwurfweit vom Swimmingpool entfernt, rückten zwei Schirme zusammen und sieben Liegen. Der Platz war phantastisch. Man sah das Meer, alle Gäste, das Treiben im Wasser und hinüber zum Gartenrestaurant, einem andalusischen Grill, wo mittags — wie es hieß — ein Büffet aufgebaut wurde. Die Erwachsenen streckten sich aus. Tarzan ölte seiner Mutter den Rücken ein. Aus den Augenwinkeln erspähte er Luise Prachold. Sie trug den kleinsten Bikini. Aber ihre Figur konnte sich sehen lassen. Mit Badetasche und ihrer riesigen Sonnenbrille suchte sie nach einem Platz. Ihre Entscheidung fiel auf die dritte Liege in der ersten Reihe auf der Terrasse.
Auf der Sonnenterrasse standen die - beschirmten — Liegen reihenweise, säuberlich ausgerichtet wie die Metallrip-pen eines Gartengrills. So ähnlich, nämlich heiß, ging's dort auch zu. Allerdings wurde nicht von unten mit Holzkohle geheizt, sondern alles der Sonne überlassen. Sie hatte die länger anwesenden Grillwürstchen — Gäste, natürlich — schon erheblich verbrannt. Einige sahen aus wie angekohlt und wären — als Würstchen — nicht mehr genießbar gewesen. „Wo bleibt Waldi?" flüsterte Tarzan. Gaby hockte neben ihm im Gras und war — bis mindestens Malaga — der entzückendste Anblick: schlank, vorgebräunt und bestens proportioniert (ebenmäßig). Noch goldener als sonst schimmerte ihr Haar in der Sonne. Sie blies gegen ihren Pony. „Vielleicht ist er luft- oder wasserscheu." „Aber er will doch seine Tussi kennenlernen. Damit's amtlich ist, wenn sie zusammenglucken." „Das ist er jedenfalls nicht." Sie meinte einen sehnigen Typ, der jetzt die Liege rechts neben Luise Prachold bezog. Er sah aus wie ein Einheimischer, hatte aber sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille und einem riesigen Strohhut versteckt. Die Prachold breitete aus, was sie aus ihrer Badetasche nahm: Sonnenmilchflasche, Zeitschrift, Pareo und Erfrischungstücher. Als Männerblickfang schritt sie zum Becken. Unter der Dusche räkelte sie sich, als hätte sie Weihnachten letztmals gebadet. Das Duschwasser schien kalt zu sein, denn sie bibberte anmutig. Sie ging zum Beckenrand. Und plötzlich war er da. Er trat hinter einer Palme hervor, der Waldemar Luschner, und steppte heran, tänzelte jedenfalls, als hätte er nicht Hornhaut, sondern Gummi unter den Sohlen.
Seine Badehose sah aus wie Schlangenleder. Er war schlank und breitschulterig, hatte aber kein Muskelrelief (Relief = herausgearbeitete Form) unter der Haut. Sein Schönlingsgesicht grinste. Doch vielleicht täuschte das. Vielleicht kniff er nur die Augen vor der Sonne zusammen, denn auf Schutzbrille oder Hut hatte er verzichtet. Luise stand am Beckenrand und blickte ins Wasser. Offenbar vergewisserte sie sich, daß wirklich keine Krokodile drin waren — wie im Hausprospekt versprochen. Somit zögerte sie ihren Bauchklatscher hinaus, bis Luschner hinter ihr war. Den schien ihre Wasserangst zu amüsie ren. Außerdem saß ihm der Neckebold im Nacken. Luise konnte gerade noch tief atmen. Dann schubste er sie hinein. Sie quietschte, riß die Arme hoch und fiel wie eine Bombe ins Wasser. Sie ging unter. Grinsend beugte Luschner sich über den Rand. „Jetzt kriegt er's." Tarzan stand auf. Mit wenigen Sätzen war er bei Luschner. Luise Prachold tauchte auf. Sie konnte schwimmen, zum Glück, hatte aber Wasser in den Augen und quälte sich mit ungeschickten Brustzügen zum Rand. „Belästigen Sie die Dame nicht!" fuhr Tarzan den Mann an. Luschner glotzte. „Was?" „Sie sollen die Dame nicht belästigen. Oder glauben Sie, es hätte niemand gesehen. Hundert Zeugen sind hier, Sie Swimmingpool-Flegel! Meine Freundin anmosern, weil sie versehentlich auf eine Stiefelspitze tritt — das können Sie, wie? Aber das hier ist schlimmer, nämlich ein Grenzfall von Körperverletzung!" Aus Luschners Frstaunen wurde Tücke. „Verzieh dich, Bengel! Sonst klopfe ich dich unangespitzt in den Rasen." Die Frau hatte den Rand erreicht. An der Überlaufrinne
hielt sie sich fest. Ihre Miene war sauer. Offenbar lief die Kennenlernen-Szene nicht wie geplant ab. Tarzan grinste sie an. „Fordern Sie Schadenersatz?" forschte er — mit denselben Worten wie Luschner gestern abend im Flughafen. „Aber nein!" Sie schüttelte den Kopf: vermutlich um das Wasser aus den Ohren zu entfernen. „Wal . . . Der Herr macht doch nur Spaß. Es war ein Scherz." „Da haben Sie nochmal Glück gehabt", sagte Tarzan zu Luschner. Und dem mußte das bekannt vorkommen, falls sein Kurzzeitgedächtnis nicht völlig verkalkt war. Tarzan wandte sich um. Aber so schnell sollte er nicht entkommen. Luschner wollte zur allgemeinen Heiterkeit beitragen, nämlich dem Bengel zeigen, wie naß hier das Wasser ist. Hinterrücks wurde Tarzan am Arm gepackt. Ein kräftiger Schwung sollte ihn über den Rand ins Becken stürzen. Daraus wurde nichts. Es ging so schnell, daß die Augenzeugen nur den Wirbel der Glieder sahen: Luschners Arme und Beine samt Rumpf, die wie beim Turmsprung zunächst himmelwärts strebten, allerdings ungeordnet. Er überschlug sich zum Salto, brüllte unkontrolliert, schloß eine ganz miese Schraube an — unfreiwillig — und klatschte rücklings ins Becken. Es spritzte gewaltig. Ehe die Wellen zurückfielen, brandete Gelächter auf. Wer bisher nur mit gedrehtem Kopf beobachtet hatte, richtete sich auf, um mehr zu sehen von die ser JudoVorstellung. Luschner kam hoch. Seine Miene glich einem Haimaul. Als werde er von eben diesem verfolgt, schnellte er zum Rand — mit wildem Kraulsalat, worüber sich ein Schwimmlehrer totgelacht hätte. Wut färbte sein Gesicht so rot wie den aufgeklatschten Rücken. Er stemmte sich raus. Dem Bengel würde er's zeigen. Schließlich war er einsneunzig groß. Sein Versuch, die Schmach zu tilgen, war ein entsetzlicher
Fehler. Die erste Wasserlandung hätte man noch für Spaß oder verzeihlich halten können. Aber jetzt merkten alle, daß hier ein Junge gezüchtigt werden sollte. Daraus wurde Luschners Blamage. Er warf sich auf Tarzan, griff ins Leere, stolperte täppisch, fuhr herum, hatte den Widersacher armnah vor sich und wollte ihn an den Haaren packen. Waldis ausgestreckter Arm wurde zum Hebel. Es tat weh. Den Gelenkbruch vermied Luschner nur, indem er sich fügte und die zweite Luftreise — den gestrigen Flug nicht gerechnet — antrat. Diesmal wurde es eine Bauchlandung. Nicht nur Gelächter ertönte. Viele klatschten. Tarzan sah davon ab, sich zu verbeugen, beugte sich lediglich zur völlig erstarrten Luise Prachold hinab und lächelte arglos. „Nehmen Sie sich vor dem in acht, meine Dame. Ist ein ganz brutaler Hund, wie man ja merkt. Machen Sie meilenweit einen Bogen um den! Seinesgleichen sollte man aus dem Hotel weisen. Falls Sie aber Hilfe brauchen, stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Nur den schmutzigen Stiefel, den putze ich nicht." Er ging zu seinem Platz zurück, sah aber noch, wie Luschner an Land ruderte. Cool war er jetzt nicht mehr. Und seiner Miene fehlte es sehr an Gelassenheit. Er wirkte wie jemand, der beim Schwimmen die Badehose verloren hat und sie — zum Henker! — nicht wieder findet. Gaby saß auf dem Rasen und hielt sich ihr Zwerchfell. Sie hatte Lachtränen in den Augen. Karl und Klößchen ging es nicht anders. Herr Sauerlich, der figürlich so ähnlich wie Klößchen beschaffen war und sehr große Badeshorts trug, wußte nicht recht, was er sagen sollte, war einesteils belustigt, andererseits ein bißchen schockiert. Die beiden Damen, einander herzlich zugetan, hatten ihren Plausch seit Beginn der Vorstellung unterbrochen.
Frau Carsten winkte ihren Sohn neben sich. „Peter", sagte sie ernst, „du hast grundlos Streit gesucht und diesen Mann lächerlich gemacht. Er ist damit zur komischen Figur geworden und seine Urlaubsfreude ganz bestimmt getrübt. Das ist herzlos von dir und unmenschlich. Ich verstehe dich nicht. Du bist doch sonst kein Rüpel." „Mutti, das war doch nur Rache." „Rache?" „Ich weiß. Sich zu rächen, ist kein feiner Zug. Aber wenn man dem Typ mit Tugenden kommt, ist man gleich verratzt. Gestern im Flughafen ist er uns angegangen, als wären wir Abschaum - nur weil Gaby seiner Tussi auf den Stiefel getreten ist, unabsichtlich. Das ist die Bikini-Pflanze, die er reingeschubst hat. Ich habe nur die gleiche Schau abgezogen wie er gestern - mit seinen Worten sogar. Lediglich, daß gestern der Swimmingpool fehlte. Herzlos und unmenschlich bin ich zu so einem Affen-Freak (Freak = Ungeheuer) gern." Frau Carsten wurde nicht so recht klug aus seiner Begründung, sah aber das totale Einverständnis in den restlichen TKKG-Mienen. Aus Sicht der Jugend schien Tarzan richtig zu liegen. Außerdem — tiefgreifende Erziehungsmaßnahmen waren für die Dauer der Ferienwochen ohnehin nicht vorgesehen. Also ließ sie es gut sein. Tarzan setzte sich zu seinen Freunden. „Stark!" meinte Gaby. „Denen ist das Kennenlernen vergangen", schmunzelte Karl. Selbstverständlich hatte Tarzan seine beiden Freunde über das gestern Erlauschte informiert. „Mann, Karl", sagte Klößchen. „Du hast ja Sonnenmilch, Schutzfaktor acht, auf den Gläsern. Vonwegen! Sieh mal hin! Und wie die sich kennenlernen. Jetzt erst recht! Vielleicht weint sich Waldi an ihrer Marmorschulter aus." Tatsächlich! Das Heimlichkeits-Paar trollte sich, schob ab zur Terrasse: Er mit mühsamem Lächeln, sie mit schwingen-
den Hüften, obwohl weit und breit kein Hula -Hoop-Reifen (Gymnastikreifen, der mit Hüftschwung gekreist wird)-war. „Ich dachte, du hättest es ihnen vermasselt", sagte Gaby. „Wollte ich auch." Tarzan legte sich ins Gras und seinen Kopf auf Gabys Knie. „Aber die sind abgefeimt wie Millionenbetrüger." „Hahah!" lachte Klößchen. „Wo doch Betrug so gar nicht ihre Masche ist." Er Sprach so laut, daß seine Freunde sofort „Pst!" zischten. Seine helle Haut zeigte bereits Sonneneinwirkung. Aber ein Sonnenstich war noch nicht zu befürchten. „Jedenfalls ist es unheimlich schön hier", meinte Tarzan genießerisch. „Ich hoffe, du fühlst dich wohl auf meinem Knie", sagte Gaby. „Fühle ich. Es ist nicht ganz so stachlig wie der Rasen." „Jetzt behaupte noch, ich hätte behaarte Beine. Dann fliegst du ins Becken, daß Waldi sich die Hände reibt." „Du hast das glatteste Knie Europas", murmelte Tarzan und schloß die Augen. Zartes Bimmeln verhinderte, daß er einschlief. Es klang wie Weihnachtsglocken. Oder wie der Dreiklang dreier Schlüssel, die — unterschiedlich in der Länge — am selben Schlüsselring hängen. „Fliegt ein Glockenkäfer vorbei?" fragte Tarzan. „Oder ist ein Xylophon-Spieler (Xylophon = Schlaginstrument aus abgestimmten Holzplättcheri) eingetroffen?" „Nee", antwortete Gaby. „Da wird jemand gesucht. Wird wahrscheinlich am Telefon verlangt. Ein Hotelpage trägt die Namenstafel umher. Und spielt den Hotel-Evergreen (Hit, der immer wieder gespielt wird) am Metallrand." „Von mir aus." Er war froh, daß Gaby ihm ihr Knie nicht entzog. Das Meer rauschte. Er hörte es mit geschlossenen Augen. Das Gesumm der Stimmen füllte den Park. Kleinkinder plät-
scherten im dritten Becken. Aber es waren nur wenige, ihr Gekreisch störte kaum. „Mann!" tönte Karl. „Mich beißt der Flamenco-Affe!" stieß Klößchen durch die Zähne. Gaby sagte nichts, riß aber ihr Knie weg und faßte Tarzan an der Schulter. „Heh! Ich habe Urlaub!" protestierte er. Dann öffnete er die Augen. „Lies mal!" zischelte sie. „Lies mal!" „Was denn?" „Die Tafel! Die Tafel, die der Hotelboy rumträgt." Er richtete sich auf. Ringsherum hatten die Sonnenbrater nur einen Blinzelblick abgesandt. Die meisten waren privat hier und erwarteten keinen Anruf, auch keine sonstige Ungemach. Der Name auf der Tafel betraf ja nur einen einzigen Menschen - und die TKKG-Bande, denn er lautete: Mr. Rüdiger Schleich. „Leute!" flüsterte Tarzan. „Das ist doch der Detektiv. Ist der denn hier?" „Der . . der . . . Schnüffler, der . . .", stotterte Klößchen, „die Sache untersuchen sollte, aber gekündigt hat. Ooouuuuuhh — ist das 'ne verdächtige Kiste!" „Glotzt nicht so!" knurrte Tarzan. „Das fällt doch auf!" „Uuuuuunauffällig, Leute! Gleich wissen wir, wer der Herr ist. Und Wissen ist Macht. Für uns jedenfalls. Der Nebel hebt sich. Die Prachold ist hier, ihr Benehmen verdächtig, der Luschner-Waldi nicht von ungefähr dabei. Und jetzt noch der Schleich! Da ballt sich was, Freunde." „Wir wissen, wer Schleich ist", sagte Gaby. „Dank meines Papis. Aber die Prachold kennt den Namen nicht. Sie war und ist ja die Person Schleichscher Ermittlungen. Seht mal! Sie hebt nicht mal den Kopf. Und Waldi - eben hat er geguckt! "- kümmert sich einen Dreck um den Namen."
Tarzan kniff die Augen zusammen. Der Hotelboy ging jetzt auf der Terrasse an der ersten Reihe der Liegen vorbei. Luise Prachold hatte sich bäuchlings ausgestreckt. Zu ihrer Linken war Waldi Luschner seßhaft geworden. Er ließ die Schultern hängen. Seinem Selbstvertrauen fehlten die Streicheleinheiten. Immerhin rieb er seiner Tussi den Rücken mit Sonnenmilch ein, obwohl er's selber nötiger hatte. Seine Haut flammte. Der Typ, der rechts neben der Prachold lag, blickte nach links, prüfend, wie es schien. Dann stemmte er sich hoch. Er war tatsächlich sehnig und seine Goldstaub-Hose die schönste hier überhaupt. Mehr freilich sah man nicht von ihm, denn sein Gesicht wurde von Strohhut und Sonnenbrille total zugedeckt. Mit ein paar Schritten holte er den Hotelpagen ein. „Das also ist Rüdiger Schleich", stellte Karl fest. „Sieht eher wie ein Torero aus, nicht wie ein Schnüffler." Sie beobachteten, wie der Mann mit dem Hotelpagen redete. Der wies zum Haus. Schleich nickte. Der Page wischte über die Kreideschrift seiner Tafel, schulterte sie und trollte sich. Für ihn war die Sache erledigt. Schleich ging nochmal zur Liege zurück, nahm Bademantel und Handgelenktasche und machte sich dann auf den Weg. Daß ihm vier Jugendliche folgten, war rein zufällig. „Wir sind gleich wieder da", erklärte Klößchen seinen Eltern. „Wahrscheinlich." Erst vor dem Eingang schlüpften sie in ihre sittsamen Mäntel. Schleich ging durch die Halle, bog rechts ab in die Tagesbar und dann gleich wieder nach links. Dort nämlich - hinter einer Art Spanischen Wand, einem Holzgitter, befanden sich drei Telefonkabinen und das Schalterfenster der Telefonistin.
An sie wandte sich Schleich. „Ein Gespräch für mich, Senorita? Für Rüdiger Schleich?" „Si, Senor. Kabine zwei." Die TKKG-Freunde beobachteten, wie er sich dorthin zurückzog. Daß sie hier rumlungerten, fiel nicht auf. Die Telefonecke war nämlich gleichzeitig Passage (Durchgang). Aber nicht nur zur Bar. Eine Treppe führte ins Untergeschoß, in einen kinogroßen Film- und Fernsehraum mit Breitformat-Leinwand. Und hinter der Treppe war der Eingang zum zweiten Restaurant des Hauses, dem Grill La Farola. Einige Hotelgäste pendelten vorbei. Vor Kabine drei hatte ein schwarzhaariger Typ Wurzeln geschlagen. Er hatte ein gelbes Pferdegesicht und verkniffene Augen. Jetzt blitzte ein Grinsen zwischen seinen Mundwinkeln auf. Offenbar dachte er an was Heiteres.
10. Der Mann mit den Goldkronen Rüdiger Schleich, 39, nicht vorbestraft, aber gewissenlos wie ein Robbenschläger, blieb nur äußerlich kühl. Im Bauch saß ihm die Nervosität wie eine Bakterien-Kolonie, und seit genau 98 Sekunden zermarterte er sich den Kopf, wer — zum Teufel! — ihn da an die Strippe wünschte. Wer? Kein Aas wußte, daß er hier logierte. Jedenfalls hatte er das bis eben geglaubt. Und nun das! Er nahm der Hörer ans Ohr. „Schleich!" „Hör genau zu, mein Junge", sagte eine knarzige Stimme auf deutsch. „Es geht um deine Knochen. Die willst du sicherlich auch morgen noch in die Sonne strecken — und nicht in den Streckverband. Ich . . . " „Wer spricht dort?" schnappte der Detektiv dazwischen. „Daß ich dir das nicht auf deinen Schnüffelrüssel binde, müßtest du dir denken, du Plattfuß-Verschnitt! Eben konnte ich durch einen Mittelsmann in Deutschland erfahren, daß du bei deiner Versicherungsgesellschaft die Platte geputzt hast. Hast gekündigt, brauchst offenbar deren Löhnung nicht mehr. Also bist du privat hier. Wieso, frage ich dann, interessiert du dich für Luise Prachold?" „Wie kommen Sie darauf? Ich mache Urlaub. Ist Frau Prachold denn hier?" Heiko Möhlen, der sich in einer Telefonzelle unweit des Hotels befand, lachte hohl. „Wir haben dich genau im Visier, Schleich. Wir überwachen jeden deiner Schritte. Was weißt du?" „Ich welcher Sache?" „Mann, ich sehe schon, wie deine Knochen brechen. Versuch nicht, uns für dumm zu verkaufen! Was du weißt oder auch nicht weißt — laß die Hände von der Prachold! Versuch nicht, sie anzuzapfen! Und hau so schnell wie möglich ab von hier. Klar? Das ist unsere erste und letzte Warnung."
Schleich hatte eine rauhe Erwiderung auf der Lippe. Aber dort blieb sie. Denn der andere legte auf. Der Detektiv ließ den Hörer sinken. Bilder liefen in seinem Hirn wie ein Film ab. Mit Sicherheit wußte er nur, daß Erik Prachold noch lebte, also die Versicherungsgesellschaft reingelegt und betrogen hatte, denn Luise, die vermeintliche Witwe, war ja inzwischen des Geldes teilhaftig geworden. Schleichs Informationen waren zuverlässig, aber karg. Der Zufall hatte ihm einen Zeugen beschert. Ein spanischer Fischer, der abseits des Strandgetümmels an steinigster Stelle seinen Kahn anlandete, hatte einen verstohlenen Typ bemerkt, der mit seinem Gummifloß heranruderte. Verdächtig hatte er sich benommen, der Gummiflö ßer, war abgezischt, als befürchte er die Guardia civil (spanische Gendarmerie) auf seiner Spur — und das fiel dem Fischer auf. Ohne zu ahnen, welcher Gauner da gelandet war, erzählte er im Kollegenkreise von seiner Beobachtung. Schleich hörte das. Für ein Trinkgeld beschrieb ihm der Fischer, wie jener Mann aussah. Und Schleich hatte händereibend festgestellt, daß Erik Prachold nur scheintot war. Statt seine Firma, die Versicherungsgesellschaft, darüber zu verständigen, wollte Schleich nun das Geschäft auf eigene Rechnung machen und die Pracholds erpressen. Die konnten niemanden um Hilfe bitten, schon gar nicht die Polizei, und würden ihr Geld bei ihm abliefern müssen. Das hatte er gedacht. Aber jetzt, verdammt!, hatte sich die Lage geändert. In Überlegungen verstrickt, verließ er die Telefonzelle. Wer war dieser Anrufer? Ein Konkurrent, der von dem Betrug Wind bekommen hatte und nun das gleich plante: Erpressung? Oder war das Prachold höchst persönlich gewesen? War ihm dieser Trick eingefallen, um den gefährlichen Verfolger von sich und seiner Frau abzuwehren?
Unwahrscheinlich! dachte Schleich. Nein, nicht Prachold! Erpresser — wie empörend — wollen die Beute für sich allein, statt brüderlich mit mir zu teilen. Jetzt kommt es darauf an, wer zuerst zugreift.
Gaby, Tarzan, Karl und Klößchen gluckten beieinander und sülzten über die Vorzüge gewisser Surfbretter, als gäbe es nichts wichtigeres. Für die Umwelt hatten sie scheinbar keinen Blick. Daß der Typ mit dem gelben Pferdegesicht rauchend dumm dastand, fiel allmählich auf. Tarzan beobachtete Kabine zwei. Schleich kam heraus. Wieder verdeckten Strohhut und Sonnenbrille sein Gesicht total. Warum bloß? Langsam schob er ab in die Sonne. Dem gelben Pferdegesicht schwebte jetzt ein wissendes Lächeln im Antlitz. Tarzan notierte das auf seinem Gehirnkalender und prägte sich den Typ ein. Der sah nicht aus wie ein Mitglied der Kirchengemeinde, eher wie ein Sizilianer der Mafia -Sorte, die man gern vergißt. Sie ließen Schleich Vorsprung. Als sie ihre Sonnenplätze erreichten, war drüben — in Reihe eins auf der Terrasse — das Bild wieder hergestellt. Luise schmorte bäuchlings in der Glut, links neben ihr Waldi — jetzt für alle sichtbar ihr Ferienbekannter —, rechts ölte der getarnte Schleich seine sehnige Figur ein, weil der Bademantel ihm alles abgewischt hatte. Was die Frau betraf, bekundete er scheinbar keinerlei Interesse. Die vier Freunde hatten ihre Liegen noch nicht benutzt. Auf Badelaken im Gras saß es sich mindestens genauso gut. Außerdem konnte man abrücken von den Erwachsenen, denen die Urlaubsruhe erhalten werden sollte. Das bedeutete: Geheimhaltung.
Mutti würde sich nur aufregen! dachte Tarzan. Nein, besser ist, wir sagen ihr nichts. „Es wird immer verdächtiger", sagte Klößchen leise. Mit dieser enormen Erkenntnis lag er auf jeden Fall richtig. Denn ein glasklarer Gedanke war das noch lange nicht. „Ich frage mich", flüsterte Tarzan, „warum Schleich gekündigt hat, dann hier auftaucht, im absolut richtigen Moment, und sich neben die Prachold schlängelt!" „Weil er überzeugt ist", meinte Karl, „daß ihr Alter noch lebt." „Dann sind beide Betrüger", nickte Gaby, „denn sie haben das Geld." „Schleich kündigt", spann Tarzan seinen Gedanken, „beschattet aber die Verdächtige weiterhin und hofft offensichtlich, daß sie ihm — ahnungslos — den Beweis in die Hände spielt: Indem sie sich nämlich mit ihrem Mann trifft. Auf der Route marschiert er. Das ist klar. Aber was dann? Macht er dann ein Blitzgespräch mit seiner Ex-Firma: Hallo, hier Schleich! Habe den scheintoten Betrüger. Könnt ihn festnehmen lassen und mich wieder einstellen. Heh, will er das?" Karl schüttelte den Kopf. „ So riecht der Braten nicht. Sondern gemeiner. Obwohl die Pracholds nichts Besseres verdienen. Schleich sieht sie als Freiwild an. Das will er jagen. Und seine Beute ist das Geld." Tarzan nickte. Gaby seufzte. Klößchen hinkte der Überlegung noch einen halben Schritt hinterher. „Ihr meint, der Detektiv will den betrügerischen Pracholds das Geld der Lebensversicherung abnehmen und für sich behalten." „Sie können sich nicht wehren", erklärte Gaby. „Sie stehen ja selbst mit anderthalb Füßen im Gefängnis. Er wird sie erpressen. Entweder sie geben ihm das Geld, oder er läßt sie auffliegen. Natürlich werden sie sich für die Freiheit ent-
scheiden. Denn wenn sie verhaftet werden und hinter Gitter wandern, ist das Geld sowieso futsch. Verbrecherisch erworbener Gewinn muß immer zurückgegeben werden. Den kann man nicht gegen Knastjahre eintauschen, höchstens verstecken. Aber wenn sie die Strafzeit abgesessen haben, ginge die Schose von vorn los. Sie würden überwacht werden von Polizei und Unterwelt. Nee, Schleich hat gute Chancen, wie ich das sehe, ihnen das Geld abzuknüpfen. Vielleicht zeigt er sich menschlich, indem er ihnen was läßt. So an die 500.000 — damit sie gut durch den Winter kommen." „Wäre ja enorm bescheiden", lachte Tarzan, „wenn er sich mit einer Million begnügt." Sie schwiegen einen Moment. Sonnenheiße Köpfe durchdachten nochm.al alles. Ein dicker Wasserball rollte heran. Klößchen wollte ihn ins Becken zurückschießen, wo sich junge Leute damit vergnügten. Leider traf er den Hintern eines älteren Herrn, der sich gerade am Beckenrand aufgestellt hatte und — mit einbeiniger Kniebeuge eine Zehe ins Wasser hielt. Der Ball war federleicht, nur ein aufgemotzter Luftballon. Dennoch bewirkte der Anprall, daß der Opa kopfüber ins Wasser plumpste. „O weh!" Klößchen erschrak. „Willi kann's fast so gut wie du", sagte Gaby zu Tarzan, „und ganz ohne Judo." „Ich glaube, der Opa gurgelt ab", japste Klößchen schrekkensbleich. „Das Wasser ist zu frisch für ihn." Er flitzte zum Becken, um Rettungsmaßnahmen einzuleiten. Aber der Opa war schon aufgetaucht und schob seinen schlohweißen Kopf über den Rand. „Gott sei Dank!" Klößchen beugte sich vor. „Darf ich Ihnen raushelfen?" „Hast du mich angeschossen?" fragte der Mann. Er war Deutscher.
„Versehentlich", nickte Klößchen. „Dann hilf nur raus!" Lächelnd streckte der Opa ihm die Hand hin. Tarzan ahnte, was kommen mußte, unternahm aber nichts. War doch das Wasser fast vorsuppenwarm. Wer nicht gefade 40 Grad Fieber hatte, konnte plötzliches Eintauchen vertragen. Wie Willi - der jetzt, von dem Opa arglistig gezogen, als zappelnder Frosch den Startsprung verhunzte. Platsch! — schlug die Wasserbombe Willi Sauerlich ein, und die Spritzer glitzerten für Sekundenbruchteile wie Kristalle im Sonnenlicht. Der Opa verlor vor Lachen fast sein Gebiß. Klößchen nahm nichts übel, sondern schwamm mit ihm um die Wette, was unentschieden endete. „Stellt euch vor", berichtete er, als er zurückkam, „der Herr Menzinger ist schon 79, wird 80 im Herbst. Und noch so fit! Glaubt man nicht, was? Er schwimmt jeden Tag zwei Kilometer. Und hier ist er, um sein Spanisch zu verbessern. Hat nämlich in der Volkshochschule spanisch gelernt — im letzten Winter." „Das sind Vorbilder", meinte Tarzan. „Gibt schon starke Typen unter den Alten." Als Herr Menzinger später an Land kletterte, winkte er der TKKG-Bande zu. Gaby hatte sich eingecremt und hielt das Gesicht in die Sonne. Mit einem roten Band hatte sie den Pony hochgebunden, damit auch der Stirn Bräunung zuteil wurde. „Dann sind die Betrüger also tatsächlich zu dritt", murmelte sie jetzt, ohne die Augen zu öffnen: „die Pracholds und Waldi. Vielleicht macht Waldi als Beschützer mit - als eine Art Leibwächter, um Geschmeiß wie Schleich fernzuhalten." „Wenn das so ist, hat er seinem Job vorhin wenig Ehre gemacht", meinte Karl.
„Es ist ja nicht jeder so nahkampftüchtig wie Tarzan." Der so Gelobte zog sich das rein wie eine Sahnesoße, veränderte aber seine Rückenlage nicht. Er hatte die Arme unterm Kopf verschränkt und war landeinwärts gerichtet, hatte also vollen Durchblick zum Hotel. So kam es, daß er die Beobachtung machte. Vorausgegangen war die Erkenntnis, daß sich jetzt — am späten Vormittag — offenbar jedermann im Freien befand. Hier, in den Schwimmbecken oder unten am Strand. Die paar, die sie vorhin noch im Hause gesehen hatten, waren inzwischen herausgekommen. In den Zimmern bestimmten jetzt die Zimmermädchen, was Sache war. Ohne bestimmte Absicht wanderte Tarzans Blick über die Balkons. Leer, leer, leer. Lediglich im achten Stock hatte jemand was Rotes über die Brüstung gehängt. Tarzan schloß die Augen, döste, hörte, wie sich Sauerlichs und seine Mutter unterhielten und war froh darüber, daß sich die drei so prächtig verstanden. Wieder blinzelte er. Für einen Moment ruhte sein Blick auf Gaby. Dann stach ihm ein kleiner Glitzerblitz ins Auge — etwa so, als fange jemand Sonnenstrahlen im Handspiegel ein, um damit Signale zu senden. Er öffnete die Augen ganz. Der Blitz kam von oben, von einem Balkon im fünften Stock. Es war der Balkon ganz links. Noch weiter links war nur andalusische Luft und der Blick auf die ausgedörrten Hänge der Sierra Bianca. Ein Mann stand auf dem Balkon und sah durch sein Fernglas. In den Gläsern spiegelte sich die Sonne. Daher das Funkeln. Tarzan stand auf, drehte sich um und sah aufs Meer hinaus. Was beobachtete der Mann?
Das Meer war so ruhig wie das Wasser in einer Badewanne. In unendlicher Ferne zog eine Jacht vorbei. Die Surfer hatten Pause, waren mit ihren bunten Segeln an Land gegangen^ Die Bretter trockneten in der Sonne. Keine Seeschlange. Kein aufkommender Sturm. Kein Schwimmer in Seenot. Nichts von Interesse. Er sah wieder zum Balkon hinauf. 180 Meter Luftlinie, etwa, trennten ihn von dem Mann. Und der fühlte sich unbemerkt. Unaufhörlich starrte er durch sein Fernglas. Der sieht nicht aufs Meer, begriff Tarzan. Der beobachtet, was hier am Swimmingpool läuft. Allgemeines Interesse? Niemals. Dann könnte er ja runterkommen aus seinem Luxuszimmer. Der hat wen Bestimmtes im Auge. Wen? Er setzt sich, stützt den Kopf in die Hände und schielte aus den Augenwinkeln hinauf. Auf die Liegewiese, zu der Feststellung kam er, war das Fernglas nicht gerichtet. Eher auf die Sonnenterrasse. Noch einer, der was mit Pracholds, Waldi und Schleich am Hut hatte? „Verrenkt euch nicht gleich die Hälse", sagte er zu seinen Freunden. „Aber ich glaube, da ist einer, den wir uns aus der Nähe ansehen sollten." „Wo?" fragte Karl. „Auf dem Balkon im fünften Stock, ganz links. Er glotzt schon lange durchs Fernglas. Ich überlege gerade, ob das der Typ mit dem gelben Pferdegesicht ist. Der trieb sich ja wie ein Zeitschriftenwerber vor Schleichs Telefonzelle rum. Und grinste so komisch. Wer kommt mit? Ich geh mal ins Haus. Wir müssen alle Beteiligten kennen — in diesem Millionenspiel." Selbstverständlich schlössen sich seine Freunde an. Wenig später traten sie im fünften Stock aus dem Lift. Der Flur war kühl. Ein Wäschebehälter wartete darauf, von den Zimmermädchen mitgenommen zu werden. Stille in allen Räumen.
Landseitig war ein geräumiger, jetzt aber verlassener Billardraum, die Tür angelehnt. Sie blickten im Vorbeigehen hinein. Die bunten Kugeln ruhten sich aus auf dem Filz. Niemand spielte. In der Ecke stand eine Zwergpalme. Durch die Fenster sah man auf die Ausläufer der Berge. Über einer Schlucht schwebte ein Hubschrauber. Aber das war weit weg. Ihren Trick hatten sie abgesprochen. Tarzan sollte das Wort führen. Sie liefen bis zum letzten Zimmer. Es trug die Nummer 530. Gaby, Karl und Klößchen blieben etwas zurück. Tarzan hämmerte gegen die Tür. „Schnell, schnell! Hallo . . .! Es eüt, Herr Glotz-durchsGlas . . . " Kein Mensch hätte den Phantasienamen verstanden, was Absicht war. „Ihre Frau . . .? Schnell!" Es funktionierte. Die Tür wurde geöffnet. „Herr Vandental, Ihr Frau braucht dringend das Me-dika ..." Tarzan stockte und wechselte die Aufregung in seinen Zügen gegen Verblüffung aus. Um das gleiche Mienenspiel bemühten sich seine Freunde. „Aber Sie sind ja gar nicht Herr Vandental", sagte Tarzan und blickte stirnrunzelnd zur Zimmernummer. „Verflucht und zugenäht! Wohnt der nun 530 oder 630?" „Hier jedenfalls nicht", sagte der Mann. „Ich bin nicht Herr Frankental." „Vandental", verbesserte Tarzan. „Mit V am Anfang wie Vergnügungssteuer oder Verworfenheit - was ja fast das gleiche ist." Gaby kicherte. Der Mann sah sie an und lächelte. Er hatte schmale Augen und eine Adlernase, die wie angeklebt aussah — hol's der Geier! Sein Lächeln entblößte einen Mund voller Gold.
Goldkronen! Goldkronen! Am liebsten hätte Tarzan ihn an der Kehle gepackt, damit der den Mund offen ließ, was ermöglicht hätte, die EdelmetallSchonbezüge seiner Zähne zu zählen. Aber auch ohne diese Überprüfung hätte Tarzan geschworen, daß es 16 waren. 16 Goldkronen, von denen Kommissar Glockner erzählt hatte: von dem Kennzeichen des vermutlich Scheintoten namens Erik Prachold. „Entschuldigung!" murmelte Tarzan. „Wir müssen jetzt Herrn Franken . . . Vandental suchen. Seine Frau hat einen Sonnenstich. Sie schielt schon. Wiedersehen!" Die vier trabten ab und hörten, wie sich hinter ihnen die Tür schloß. Ohne Absprache wieselten sie in den Billardraum. Gaby riß die Arme hoch. „Ich dachte, mich trifft der Hitzschlag, als ich seine Zähne sah." Karl nickte. „Er hat die richtige Größe und das richtige Alter. Auch das übrige stimmt. Nur das Gesicht ist verändert und wirkt irgendwie unnatürlich. Er könnte es sein, falls er sich chirurgisch erneuert hat." „Könnte?" Energisch schüttelte Tarzan den Kopf. „Er ist es! Ich bin mir so sicher, als hätte er sich namentlich vorgestellt. Als Erik Prachold, meine ich. Und es paßt ja auch alles zusammen. Seine Frau ist hier, der Waldi — was auch immer der soll — und Schleich. Prachold ist noch ein bißchen schüchtern. Vielleicht traut er dem neuen Konterfei nicht. Jedenfalls paßt er per Fernglas auf seine Witwe auf und . . . " Er stockte. Sie hatten gehört, wie der Lift hielt. Jemand war ausgestie gen. Teppichgedämpfte Schritte näherten sich — von zwei, dem Klang nach männlichen, Personen. Karl schob die Tür bis auf Daumenbreite zu. „ . . . in 530", murmelte eine Männerstimme, die man in keinem Gesangverein aufgenommen hätte. „Das ist wohl das letzte, wie?"
Der Mann sprach deutsch. Er und der andere wollten zu Prachold. Tarzan fühlte sich, als wäre er an ein Stromkabel angeschlossen. Kaum hatten die beiden Männer diesen Teil des Flurs abgeschlurft, schob er den Kopf aus der Tür. Er sah die Typen von hinten. Sie walzten den Flur runter und hatten nichts Gutes im Sinn. Den einen erkannte er sofort. Das war der Italo-Typ mit dem gelben Pferdegesicht, der vor Schleichs Telefonzelle Wache geschoben hatte. Der andere war bullig und feist, hatte einen rötlichen Specknakken und feuerfarbene Kraushaare. Auch Gaby mußte ihre Neugier befriedigen und riskierte einen Blick. Beinahe hätte sie „Huch!" geschrien, denn vor Pracholds Tür zogen die Kerle plötzlich Waffen unter der Jacke hervor: Pistolen. Der Rothaarige blickte zurück in den Flur. Noch schnelle r als er den Kopf wenden konnte, verschwanden Gaby und Tarzan hinter dem Türrahmen. Sie lauschten. Eine Faust hämmerte gegen die Tür. Eine gedämpfte Stimme knarzte: „Steiner, heh! Heribert Steiner! Komm raus aus deinem Loch. Oder fühlst du dich nicht angesprochen, hahahah! Sollen wir Prachold sagen? Erik Prachold." Die vier Freunde sahen sich an. Also doch! stand in allen Mienen. Und der Triumph sammelte noch mehr Farbe in den Wangen als Klößchens beginnender Sonnenbrand. Sie hörten, wie die Tür geöffnet wurde. „Was . . . ?" stammelte Prachold. Weiter kam er nicht. „Rein! Mach Platz!" raunzte ihn der Knarzige an. „Wir reden nicht zwischen Tür und Angel über Millionen." Die Tür fiel ins Schloß.
„Bleibt hier", sagte Tarzan. „Ich hänge mal die Ohrmuschel an das spanische Dünnholz. Vielleicht schnappe ich was auf." Er flitzte in den Flur hinaus. Aus Nr. 530 drang kein Laut. Also befanden sich die drei nicht mehr im Vorraum, sondern hinter der zweiten Tür, im eigentlichen Hotelzimmer. Sie müßten brüllen, dachte er, wenn ich was verstehen wollte. Er hielt das Ohr ans Holz und lehnte sich an die Tür. Zu eilig war das, zu unaufmerksam, zu unvorsichtig. Sonst hätte er bemerkt, daß das Schloß nicht ganz zugeschnappt war, sondern nur eingerastet. Knarrend sprang die Tür auf. Seiner Stütze beraubt, stolperte Tarzan in den Vorraum. Um ein Haar wäre er gegen den Rothaarigen geprallt, der herumwirbelte und blitzschnell seine Pistole unter der Jacke versteckte. Prachold war schon durch die nächste Tür ins Hotelzimmer zurückgewichen. Sein Mund zuckte. Schweiß glitzerte auf der gelifteten (liften = heben, stemmen; im übertragenen Sinne = chirurgisch gestraffte Gesichtshaut) Stirn. Pferdegesicht, dem es Spaß machte, Prachold mit dem Ballermann zu bedrohen, schaute sich um. Erkennen blitzte über sein Gesicht. Er öffnete den Mund, sagte aber nichts. „Verzeihung!" rief Tarzan und knipste ein strahlendes Lächeln an. „So wollte ich ja gar nicht reinstolpern, Herr Franken . . . Vandental, sondern Ihnen nur mitteilen, daß es Ihrer Frau . . . Ach so! Gicht und Gallenstein! Bin ich denn schon wieder in der falschen Etage? Muß wohl am Lift liegen. Jedenfalls, mein Herr, können sie ganz beruhigt sein. Ihrer — nein, der Dame, die nicht Ihre Frau ist, geht's schon wieder gut. Sie schielt jetzt nicht mehr. Schönen Urlaub, allerseits! Ich mach mich vom Acker! Hasta pronto (aufbaldf)\"
Sein Abgang vollzog sich in rasender Eile. Die drei glotzten ihm nach. Hinter sich schmiß er die Tür zu. So ein tierischer Bockmist! dachte er wütend. Beknackter konnte ich das wirklich nicht anstellen. Jetzt ist unsere Geheimhaltung beim Teufel! Zum Teufel!
11. Das Pack vereint sich Die Stille war nicht wie in einer leeren Kirche, sondern voll Bedrohung und Bösartigkeit. Prachold konnte kaum atmen. Aus! dachte er. Alles aus! Möhlen verstaute seine Pistole und wischte die etwas ölige Hand am Taschentuch ab. Auch Morganzini befand, daß sie für diesen Angst-Heini, diesen Flatter-Piefke keine Kanone benötigten. Er steckte die Waffe weg. Aber dadurch wurde die Stimmung nicht besser. „Wer war das eben?" fragte Möhlen. Prachold zuckte die Achsem. „Weiß nicht. Er . . . war schon mal da. Mit ändern. Gerade eben." „Wieso redet er dich Franke-Vandental an? Du heißt doch jetzt Heribert Steiner." „Er . . . er verwechselt mich. Jedenfalls behauptet er . . . Nein! Jetzt kommt's mir spanisch vor." In leidlichem Deutsch sagte Morganzini: „Sieht so aus, als wäre dir der Bengel auf der Spur. Wie machst du das, Prachold? Hast du'ne Anzeige aufgegeben: Heribert Steiner, vormals Erik Prachold, zur Zeit im Palast-Hotel Marbella, möchte die hiesigen Erpresser — Profis und Amateure (Hauptberufliche und Gelegenheitsmacher) — auf sich aufmerksam machen wegen . . ." „Laß sein!" wurde er von Möhlen unterbrochen. „Siehst doch: Der heult gleich." Tatsächlich bot Prachold nicht den Anblick eines erfolgreichen Scheintoten. Pickelhart hätte er sein müssen. Aber er war nur gewissenlos. Erschöpft setzte er sich auf den Bettrand. Auf dem Laken lag auch das Fernglas. „Wir sind Freunde von Ramirez", sagte Möhlen. „Mehr muß ich nicht aufklären, wie? Schönen Gruß von unserem
Kumpel. Er hat noch etwas Kopfschmerzen, freut sich aber schon auf seinen Anteil. Tja, Prachold! Du sitzt bis zum Hals in der Abflußbrühe, sitzt zwischen allen Stühlen und kriegst Feuer von jeder Seite. Ich vermute fast, daß dich auch der Bengel ausnehmen will. Aber, Prachold, nicht nur der. Weißt du, wer hier im Hause weilt — außer deiner schnuckeligen Alten? Rüdiger Schleich heißt der Affenarsch. Ist ein Detektiv. War angestellt bei der Versicherungsfirma, bei der du die fünfzehn Hunderttausender rausgeleiert hast, du armer Ertrunkener. Der Schleich ist also hier, nämlich deiner Luise auf der Spur und will - das ist so klar wie das Meerwasser — an deine Kohle ran. Der dritte Schmarotzer scheint so ein großer Schönling zu sein, mit dem Luischen zur Zeit flirtet. Ob ihr Zauber ihn bezaubert oder er auch an euer Portemonnaie denkt, wird sich erweisen. Immerhin, Prachold, sind das schon drei, vor denen wir dich beschützen müssen. Verstehst du?" Prachold atmete mit offenem Mund und wischte schon zum dritten Mal Schweiß von der Stirn. „Der Schleich", fuhr Möhlen grinsend fort, „wird dich vor die Wahl stellen: Geld her oder ab in den Knast. Was sich der Bengel ausdenkt, um sein Taschengeld aufzustocken, kann ich nicht nachempfinden. Aber ich bin hier der king (König), falls du verstehst, was ich meine. Mit meinen Leuten habe ich's in der Hand, dich vor allem Ärger zu bewahren. Vorausgesetzt, du machst bei uns mit." „Wobei soll ich mitmachen?" fragte Prachold zaghaft. „Nicht wobei! Sondern bei wem! Bei uns nämlich. Wirst Mitglied in unserem Verein. Dann bist du alle Sorgen los. Die Sorgen übernehmen wir." „Und . . . wo ist da der Haken?" „Kein Haken. Du zahlst deine Aufnahmegebühr — und schon bist du Mitglied." „Ach so." Prachold begriff. Sobald er die Aufnahmegebühr' entrichtet hatte, würde er keine Peseta mehr besitzen.
„Wieviel?" „Mach erstmal eine Vermögensaufstellung. Die 1,5 Millionen D-Mark sind ja nicht alles, was ihr habt. Deine Alte bringt die neuesten Kontoauszüge. Dann setzen wir uns zusammen und erzielen Einigkeit. Friede, Freude, tortilla (Eierkuchen). Aber überleg's dir nicht zu lange. Heute abend, mein Lieber, machen wir Nägel mit Köpfen. Punkt 20 Uhr, hier in deiner Bude. Besprich alles mit Luischen. Und keine Zicken! Ihr steht unter Beobachtung. Klar?" Prachold nickte. Er wußte, daß er verspielt hatte. Verzweiflung nahm ihm die Luft. „So, Carlo", sagte Möhlen zu seinem Komplicen. „Wir gehen jetzt in den Gartengrill und ziehen uns was Schmackiges rein. Hastapronto, Prachold."
Die TKKG-Bande saß in der Hotelhalle, was ein guter Platz war — besonders zum Beobachten. Jedermann/jedefrau mußte vorbei: egal, ob sie/er zum Hauptausgang raus, zum Parkeingang rein oder mit dem Lift aufwärts wollte. Tarzan hatte seine Zerknirschung wegen des Reinstolperns überwunden. Ändern ließ sich ohnehin nichts mehr. Daß Prachold und die beiden Typen Argwohn schöpften, war leider zu erwarten. „Wir können nicht davon ausgehen, daß die 'nen Hirnriß haben", sagte er, „müssen uns also vorsehen. Immerhin wissen wir jetzt: Freunde von Prachold sind die beiden nicht, sondern so, wie sie aussehen: Banditen. Sie kennen seine wahre Identität (wer er ist). Sie sind bewaffnet bei ihm eingedrungen. Was wollen sie also?" „Sein Geld", sagte Gaby. „Das geht aber nicht", meinte Klößchen. „Darauf spitzt schon der Schleich." „Die Pracholds sind sozusagen umzingelt", schlußfolgerte Karl. „Alle wollen ihr Geld, Schleich will, und die beiden
Banditen wollen. Andererseits wollen die Pracholds den Kies behalten. Bin gespannt, wie die sich einigen. Oder sehalten wir gleich die Polizei ein?" Die Frage lag nahe. Tarzan schüttelte den Kopf. „Ich meine, wir sollten noch warten. Die Pracholds entkommen uns nic ht. Weiteren Schaden werden sie nicht anrichten. Sie sind Betrüger, keine Gewalttäter — obwohl schon mancher gewalttätig wurde, wenn's um sein Erspartes ging. Warten, meine ich, sollten wir, um handfeste Beweise gegen Schleich und das Duo an Land zu ziehen. Daß sie den Scheintoten erpressen, könnten die drei leugnen. Aber sobald sie ihn erpreßt haben, seiner Beute beraubt, ist das was Greifbares — und der Staatsanwalt klatscht in die Hände oder tanzt einen Flamenco." „Die deutsche Staatsanwaltschaft ist zuständig", warf Gaby ein. „Der Betrug fand in Deutschland statt." „Aber die Erpresser werden hier tätig", wandte er ein. Gaby dachte nach, nickte dann. „Ja. Wahrscheinlich wird man diese Verfahren von dem ändern abtrennen. Die Pracholds kommen in Deutschland vor den Kadi, die ändern hier. Und hier tanzt der Staatsanwalt meinetwegen Fla menco." Karl schüttelte den Kopf. „Ihr redet, als wären schon alle Übeltäter verhaftet." Tarzan grinste. „Diese Freude erwartet uns noch. An welcher Stelle sollen wir das in unser Ferienprogramm einbauen? Was meint ihr? Vielleicht zwischen einen Ausflug nach Granada und ein Sommernachtsfest. Dann . . . Achtung! Zieht die Köpfe ein." Er saß so, daß er sehen konnte, wer aus dem Lift trat. Pferdegesicht und der Rothaarige kamen soeben und schienen zufrieden zu sein mit ihrer Aktion. Fett stand ihnen der Triumpf auf den Abschuß-Visagen. Sie walzten zum Parkeingang und waren weit und breit die einzigen ohne Badebekleidung.
Von der TKKG-Bande bemerkten sie nichts. Der Platz der vier Freunde war günstig gewählt, nämlich hinter einer viereckigen Säule, neben der — als zusätzliche Sichtblende - Zwergpalmen standen. „Daß der Italiener-Typ vor Schleichs Telefonkabine stand", sagte Tarzan, „war bestimmt kein Zufall. Sie beobachten ihn." „Darauf kommt's an", nickte Klößchen. „Man muß wissen, was der Widersacher tut." Wenig später erschien Prachold. Er war noch bekleidet wie eben — mit heller Leinenhose und Netzhemd. Aber der Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er schien nicht wahrzunehmen, daß Sonne, Meer und Pflanzenwelt spitzenmäßige Leistung brachten, um Urlauberherzen zu erfreuen. Er sah aus wie ein Scheintoter, bei dem aus dem Schein Wirklichkeit wird. Auch er latschte zum Park. „Ihm nach!" sagte Tarzan. Sie hielten Abstand. Draußen hatte sich das Bild gewandelt. Nur noch wenige brieten in der Sonne. Niemand schwamm. Aber fast jeder wallfahrtete in den Grill, wo unterm Schilf dach mindestens 50 Tische mit 200 Plätzen waren. Man hatte das Büffet aufgebaut - etwa 20 Meter lang, mit Köstlichkeiten aller Art. Im Hintergrund, auf dem Grill, lag Steak neben Steak, fast wie die Sonnenanbeter. Aber die Steaks wurden rechtzeitig gewendet und statt mit Sonnenmilch mit Olivenöl eingerieben. Schleich, immer noch mit Hut und Brille bis zur Unkenntlichkeit maskiert, lauerte auf ein Steak. Sauerlichs und Tarzans Mutter befanden sich auf dem Weg zum Grill. Waldi nahm gerade an einem der vorderen Tische Platz. Pferdegesicht und der Rothaarige standen am Büffet.
Lediglich Luise Prachhold war noch auf der Sonnenterrasse, knotete sich soeben in ihren Pareö und griff nach der Sonnenbrille, um Waldi zu folgen und ebenfalls zu speisen. „Aha!" machte Klößchen. Das galt Erik Prachold. Er hatte seine Frau erspäht und stürmte zu ihr hin. Sie sah ihn kommen, wandte den Kopf ab, stutzte dann und ruckte herum. „Sie erkennt ihn nicht", feixte Karl. „Vielmehr: Jetzt hat sie ihn erkannt. Aber nur am Gang, an den Bewegungen. Nicht am Gesicht. Denn das ist ja neu. Lächle, Mann, lächle! Zeig deine Goldkronen! Das beseitigt den Zweifel."
Luise starrte ihm entgegen und fühlte kalte Schauer. Nein! Doch! Erik? Oder? Ja, er mußte es sein. Mit neuem Gesicht, mit anderer Nase, anderem Mund, anderem Augenschnitt. Aber wie er die Füße setzte und beim Gehen die Schultern hielt — doch, er war's. Natürlich — er hatte sich beim Gesichtschirurgen ein anderes Aussehen zugelegt. Das wußte sie. Trotzdem war sein Anblick ein Schock. Fünf Jahre hatte sie mit diesem Mann gelebt, der jetzt vor ihr stand: als Fremder. „Luise, ichbin's." „Erik! Du . . . um Himmels willen! Was machst du hier? Wieso kommst du her? Das ist gegen die Abmachung. Wir fliegen auf. Wir ..." „Es ist schon passiert, Luise. Außerdem — ich wohne hier, im fünften Stock. Ging nicht anders. Aus meinem Schlupfwinkel in Fuengirola mußte ich Hals über Kopf verschwinden. Ich glaubte, hier wäre ich sicher. War leider ein Irrtum. Ich muß dich sprechen. Sofort. Ich gehe runter zum Strand. In Richtung Estepona. Komm mir nach."
Trotz der Goldkronen wirkte sein Lächeln, als grinse der Tod. Dann wandte er sich ab und latschte zu der Treppe, die hinunter zum Strand führt. Luise spürte, wie sie zitterte. Rasch setzte sie die Sonnenbrille auf. Sie blickte zum Grill. Waldi saß am Tisch und wandte ihr den Rücken zu. Sie unterließ es, ihn zu verständigen, schlüpfte in die Sandalen und folgte ihrem Mann. Pinien, Zwergpalmen und Kakteen begrünten den Hang. Er war steil. Ein Zaun grenzte die Hotelanlage ab. Nur die Steintreppe führte hinunter. An diesem Strandabschnitt ging es einsam zu. Man befand sich ein ganzes Stück außerhalb von Marbella. Nur Strandwanderer kamen gelegentlich vorbei. Die Hotelgäste bevorzugten den Schick des Parks. Einige Surfer tanzten über die Wellen. Die Sonne stand hoch. Hier, wo kein Baum schützte, war es höllisch heiß. Luise folgte ihrem Mann. Er ging langsam. Der Strand knickte landeinwärts ab. Ein Pinien-Wäldchen dehnte sich aus. Hinter dem Knick war man neugierigen Blicken entzogen — jedenfalls den Augen der Hotelgäste. Oben am Hang standen vereinzelte Villen. Kein Mensch ließ sich blicken. Sie holte ihn ein. „Erik." Er drehte sich um. Die Mutlosigkeit stand immer noch in seinen Zügen. Aber der Blick war böse. „Wer ist der große Kerl, mit dem du dich die ganze Zeit amüsierst?" „Das . . . der . . . aber den habe ich doch vorhin erst kennengelernt. Er ist freundlich. Ein . . . ein . . . ich glaube, er heißt Walter." „Du wußtest ja auch nicht, daß ich dich beobachte, nicht wahr?" „Erik! Ich bitte dich! Was soll das!" „Na, schön! Darauf kommf s schon gar nicht mehr an. Unsere Lage ist diese . . . "
Er erzählte. Von der Erpressung der beiden Ganoven, von Schleich, von der Ausweglosigkeit, in die sie sich hineinmanövriert (bewegen, geschickt lenken) hatten. Als er schwieg, war ihre Marmorhaut noch weiß er als sonst. Aber er ahnte nicht, was sie dachte. Ihre Gedanken überschlugen sich. Vergeblich also! Alles vergeblich? Und sie war so schuldig wie er. Außerdem — sie hatte Waldi hineingezogen. Er sollte der Killer ( Mörder) sein, der Erik zu dem machte, was er amtlich schon war: zur Leiche. Langsam begriff sie, daß dieses Vorhaben jetzt nicht mehr ging. Mindestens vier wußten, daß Erik lebte: Die beiden Erpresser, Schleich und dieser Junge samt seinen Freunden. Welcher Junge? Etwa der schwarzlockige Judo-Künstler, den seine Freunde Tarzan nannten? Alle wußten Bescheid. Das hieß, die Chance war verpaßt, Erik Prachold umzubringen. Wenn er jetzt als Ertrunkener an Land gespült wurde, würden alle wissen, daß es Mord war, nicht Unfall. Und auf wen würde der Verdacht fallen? Ich muß sofort mit Waldi reden, dachte sie. Er . . . „Ich glaube, wir kriegen Besuch", sagte Erik. Er blickte in Richtung Hotel. Luise drehte sich um. Der Mann war schon fast heran. Sie erkannte ihren Nachbarn zur Rechten aus Reihe eins, den sehnigen Kerl mit der Goldstaub-Badehose, dem gewaltigen Strohhut, den er offenbar wie seine Kopfhaut liebte, der riesigen Sonnenbrille, von der er sich noch keine Sekunde getrennt hatte. Da er nicht den geringsten Versuch unternahm, mit ihr zu flirten, hatte sie ihn als Blödmann eingestuft — und nicht mehr auf ihn geachtet. Er trabte heran, und sein Grinsen entblößte wölfische Zähne. Vor den beiden blieb er stehen.
„Na, Freunde? Ist das traute Paar endlich wieder vereint?" Er nahm seine Brille ab und den Hut. Luise erstarrte. Jetzt erkannte sie ihn, den Spaniertyp, der ihr zu Hause aufgefallen war — bei ihrem letzten Besuch auf dem Friedhof. Eine Woche war das jetzt her. Sie hatte ihn bemerkt und instinktiv Unruhe gespürt, dann war er ihr nicht mehr begegnet — und aus ihrem Bewußtsein entschwunden. „Sie . . . sind . . . Schleich?" stammelte sie. Er nickte. „Rüdiger Schleich. Aber ich staune. Woher kennt ihr mich? Ach so! Da hat wohl schon die Konkurrenz vor mir gewarnt. Hilft alles nichts, Freunde. Wir werden uns mal darüber unterhalten müssen, welche Summe ihr für mein Stillschweigen anlegen wollt. Billig wird's nicht!" Prachold begann zu lachen. Sein Körper bebte. Seine Züge verzerrten sich, als wäre er übergeschnappt. „Phantastisch!" japste er. „Alle wollen Geld. Die Erpresser stehen Schlange. Ist es nicht unverzeihlich von mir, daß ich keine höhere Lebensversicherung abgeschlossen habe! Fünf Millionen, vielleicht. Dann hätte es für alle gereicht. Für euch Gesindel, meine ich. Wir verzichten ja freiwillig. Denn ich war schon immer der Auffassung: Es gibt nichts Schöneres, als sein Geld zu verschenken." Schleich schob die Brauen zusammen. „Ihr werdet schon erpreßt. Aha! Die Konkurrenz ist wirklich auf Zack. Aber ich kenne die Leute noch gar nicht." „Der eine heißt Carlo", kicherte Prachold. „Der andere hat sich nicht vorgestellt. Aber frag sie doch selbst, Mann! Da kommen sie." Schleich drehte sich um. Möhlen und Morganzini hatten beobachtet, wie Luise ihrem Mann folgte und sich Schleich nur Augenblicke später in dieselbe Richtung begab. Grund genug für die beiden, ihre Teller halbvoll zurückzulassen und zum Strand zu gehen.
Morganzini blickte finster. Möhlen blinzelte gegen die Sonne an. „Da wären wir ja alle vereint", sagte Möhlen. „Wollen wir nicht Platz nehmen im Sand? Es geht doch nichts über eine gemütliche Runde. Und es liegt an euch, ob sie gemütlich bleibt. Also?" „Ich stehe lieber", sagte Schleich. „Das verhindert, daß ich nachher im Streckverband aufwache, wie du mir am Telefon so nett angedroht hast, Kumpel. Denn wenn's ungemütlich wird, kriegst du die erste in die Schnauze. Klar?" „Du hättest beherzigen sollen, Schleich, was ich dir riet: So schnell wie möglich abhauen. Jetzt ist es schon ziemlich spät für dich — hoffentlich nicht zu spät. Damit ihr alle klarseht — das gilt auch für dich, Prachold, und deine Alte: In dieser Gegend bin ich der Boß. Ob ihr drei überlebt, hängt nur von mir ab. Von mir! Verstanden?" Luises Gesicht stürzte ein. Sie hatte Mord geplant. Aber jetzt versagten ihre Nerven. Um nicht zu schreien, biß sie in die Knöchel ihrer Faust. In Pracholds Gesicht zuckten mehrere Muskeln. Drehte er durch? Schleich blieb eiskalt. Falls er Angst hatte, sah man ihm das nicht an. „Wir sollten vernünftig miteinander reden", sagte er zu Möhlen. „Der Kuchen reicht doch für alle. Dann kriegt zwar jeder etwas weniger, aber immer noch genug. Niemand wird umgebracht. Niemand wird vermißt. Niemand wird miß handelt. Die Polizei erfährt also gar nicht, was wir Pfadfinder und Pastorentöchter unter uns aushandeln. Das heißt, wir gehen keinerlei Risiko ein — und das ist ein bißchen Verzicht auf Gewinn allemal wert. Solltest du wissen, falls du ein Profi bist." Möhlen grinste. „Ich bin Heiko Möhlen." Schleich hob die Brauen. „Ah! Der Mann aus der Autobranche."
„Nicht nur. Wie du siehst, bin ich flexibel (biegsam, beweglich)." „So ziemt es sich einem Super-Profi wie dir." Schleich wandte sich an Prachold. „Für dich alte Wasserleiche bleibt nicht viel übrig. Aber du solltest uns dankbar sein. Wenn mich nicht alles täuscht, bewahren wir dich vor einem häßlichen Schicksal." „Wie meinen Sie das?" „Ich glaube, dein Schnuckel-Schätzchen hat dir da was zugedacht." Er lächelte Luise an, die jetzt trotz der Hitze fröstelte. Unkontrolliertes Zittern überlie f sie in Wellen. „Ich beschatte unsere Hübsche schon lange", fuhr Schleich fort. „Sie hat dein Untertauchen benutzt, Prachold, um sich zuhause ungestört mit ihrem Liebhaber zu treffen. Aber nicht nur das. Sie hat ihn sogar mitgebracht aus der deutschen Heimat. Hierher mitgebracht. Bemerkenswert finde ich, daß beide — wie ich unschwer feststellen konnte — nicht den verbilligten Hin- und Rückflug gebucht haben, sondern nur den Herflug. Was deine Alte betrifft — nicht verwunderlich. Doch offenbar will auch Waldemar Luschner, genannt Waldi, hier bleiben. Ist ejn großer/ ziemlich gutaussehender Bursche. Neben dem bestehst du nicht, Prachold." Der Betrüger starrte seine Frau an. Schweiß sammelte sich auf seiner Oberlippe. Sein Adamsapfel hüpfte, als würge er an einem Brocken, der ihm im Hals stecken blieb. „Ich vermute, Prachold", sagte Schleich unbeirrt, „die beiden wollen dich auslöschen. Was leicht gewesen wäre, solange sonst niemand von deinem Überleben wußte. Einen, den es nicht mehr gibt, kann man mühelos beseitigen. Er wird ja von keinem vermißt. Über den Luschner habe ich mithin einige Ermittlungen angestellt. Er ist zwar nicht vorbestraft, aber ein rechter Schweinehund. Ich wette, die beiden Süßen hatten einen hübschen Mordplan." „Lüge!" stieß Luise hervor. „Wie . . . wie können Sie sowas behaupten! Ich . . . Nie! Ich . . . liebe Erik."
. Mühlen und MorganTim ach l map n sirh ,in Mai dun l'racholdq war nirhl 7« m ] jfhen /umut^.
Linnip s^inc Frau, wußte Ü]M». wie ihrBewar. Siu flatterte am ganzen Körper . Ihre Augen wirhpii iftlpm Blirfc.ms. er hcMir und tuhltp airh im
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„Nie, Erik!, würde ich sowas auch nur . . . nur denken!" stotterte sie. „Da ist ja ihr Macker." Möhlen stieß seinen Komplicen an und wies mit dem Daumen zurück.
12. Gefahr für den TKKG „Auf daß wir vollzählig werden!" lachte Morganzini. Aber Waldemar Luschner schien nicht die Absicht zu haben, sich in die Steh-Party einzubringen. Er war um den Knick geschlendert, beunruhigt über Luises Fernbleiben. Daß sie zum Strand hinunter eilte, hatte er gerade noch bemerkt, nicht aber den Grund erahnt. Jetzt, da er die Versammlung erspähte, stiegen gallebittere Ahnungen in ihm auf. Sofort beschloß er, den Hasen zu spielen, der von nichts weiß. Das verdeutlichte er, indem er sich wie ein Denkmal in den Sand stellte und hingebungsvoll aufs Meer hinaus starrte. Nur das schien sein Interesse zu fesseln. Er hatte eine Hand in den Nacken gelegt. Die andere stemmte sich dekorativ (schmückend) auf die Hüfte. Statt Luise zu Hilfe zu kommen, hoffte er, unbemerkt zu bleiben — und sich, unauffällig, zurückziehen zu können. Immerhin trennten ihn noch 150 Meter — mindestens — von der Gruppe. Dort sagte Schleich: „Wir könnten feststellen, ob ich so daneben liege mit meiner Behauptung — oder recht habe. Möhlen. Prachold! Kommt mit. Aber laßt mich reden! Carlo, du paßt auf, daß die Schöne sich nicht ins Meer stürzt und nach Afrika krault. Wäre ja ein Jammer, wenn sie unterwegs absäuft." Möhlen faßte Prachold am Arm und zog ihn mit. Zu dritt stapften sie durch Sand und Kies und angeschwemmtes Strandgut wie Plastiktüten, Tang und Margarine-Kartons. Waldi bemerkte sie und wandte sich in die andere Richtung. Er hatte erst zwei Schritte gemacht, als Schleich rief. „Heh, Sie! Moment, bitte! Wir haben eine Frage." Wohl oder übel — Waldemar Luschner wäre behämmert gewesen, hätte er sich der ,Bitte' durch Flucht entzogen.
Lässig erwartete er die drei. Seine Miene war unbewegt. Nur in den Onyx^Augen flackerte Unruhe. „Buenos dias, Senor Luschner." Schleich grinste, während sie ihn zu dritt unistellten. „Eingangs möchten wir Ihnen versichern, daß wir nicht gegen Sie vorgehen werden — in keiner Weise! Und selbstverständlich bleibt auch die Polizei aus dem Spiel. Es geht nur um eine Klärung in zwischenmenschlicher Hinsicht. Selbst wenn Sie sich mit Ihrer Antwort belasten sollten, geschieht Ihnen nichts. Ehrenwort! Alles klar? Also: Luise, Ihr Schätzchen, will uns weismachen, daß sie ihren Alten, nämlich Prachold, beseitigen will. Mit Ihrer Hilfe. Ist das richtig?" Waldis Kinnlade sackte herab. Er schnappte nach Luft und sah unsäglich blöd aus. „Die Wahrheit, Junge!" stieß Schleich durch die Zähne. „Die Wahrheit! Sonst bist du nur noch als Fischfutter zu gebrauchen." Luschner stotterte. „Also, das . . . will sie zwar. Eine Schnapsidee! Ob sie's ernst meint, äh . . . weiß ich nicht. Jedenfalls .. . habe ich das nie für . . .für bare Münze genommen. Mitgemacht hätte ich da nie. Niiieee! Ich bin doch kein . . . äh . . . Mörder." Schleich sah Prachold an. „Genügt das?" Der Scheintote nickte. Die narbenfrischen Züge waren erstarrt. Ehe die ändern reagieren konnten, holte er aus. Mit aller Wucht rammte er Luschner die rechte Faust in den Magen. Das kam überraschend. Aber viel Dampf saß nicht hinter dem Schlag. Luschner ließ Luft durch die Zähne ab, krümmte sich, preßte beide Hände vor den Leib, blieb aber auf den Beinen. Möhlen hielt Prachold fest. „Das reicht. Wir wissen, was wir wissen wollten. Und dieser Papiertiger weiß jetzt auch, wer du bist, du beknackter Ätz-
ling. Naja, das ist deine Sache. Zurück zum Frauchen! Aber keine Keilerei. Eure Eheprobleme könnt ihr später abhandeln. Jetzt ist Kohle angesagt, mein Lieber. Verstanden?" Luschner schnappte noch nach Luft. Die drei marschierten zurück. Prachold hatte einen Zorn-Kopf auf wie eine Tomate. Er rieb die Zähne aufeinander, als wollte er Goldspäne machen. „War ein voller Erfolg, Luischen", lachte Schleich, als sie die Frau und den Italiener erreichten. „Natürlich distanziert (abrücken) sich dieser Leerbrenner. Und schiebt alles auf dich. Doch das nur nebenbei. Das könnt ihr zwei Hübschen später unter euch ausmachen." Luise starrte vor sich hin. Sie vermied auch jetzt, ihren Mann anzusehen. Prachold sagte: „Ich habe mich für schlau gehalten. Naja! Zur Sache! Was Schleich vorhin ausführte, ist richtig: Es wäre klug, wenn wir uns ohne Aufsehen einigen. Das betrifft in erster Linie mich. Denn seid euch darüber klar: Ich habe nichts mehr zu verlieren! Nichts mehr! Insofern war es nicht sehr klug, mir Luises Untreue - mehr noch: ihre mörderische Absicht - vorzuführen. Was verliere ich denn, wenn ich in den Knast gehe? Hm? Also, Leute! Beteiligen werde ich euch. Euch drei. Aber ich behalte eine nette Summe für mich. Und noch eins! Macht dieser Frau", er wies auf Luise, „und ihrem Kerl klar, daß sie die Radieschen von unten sehen, falls sie den Mund aufmachen." Die drei Männer nickten. Prachold fuhr fort: „Warum setzen wir uns nicht dort in den Schatten? Da können wir in Ruhe bereden." Er deutete den Hang hinauf, wo eine Pinie ihr Nadeldach wie einen Schirm ausbreitete. Zu Luise sagte er: „Dich brauchen wir nicht mehr. Verschwinde! Aber rühr dich nicht aus dem Hotel weg. Du bist die einzige, die an unser Konto rankann. Das wirst du noch erledigen."
„Nicht schlecht, Prachold", lachte Möhlen. „Du lernst dazu!" An Luise gewandt, sagte er: „Du stehst unter Beschattung, Schätzchen. Meine Leute sind überall. Also hübsch auf der Liege bleiben und den Bauch in die Sonne halten. Sonst ist es aus mit dir, verstanden?" Sie sahen ihr nach, als sie mit hängenden Schultern den Rückweg antrat. Ihre Knie knickten ein. Der Pareo hing an ihr wie eine Fahne bei Windstille. Luschner war schon hinter der Biegung verschwunden. Die vier Männer kletterten den Hang hinauf und setzten sich in den Schatten der Pinie. „Dein Vermögen, Prachold, geht in vier ungleiche Teile", sagte Möhlen. „Aber bevor wir die Anteile bestimmen, sollten wir das letzte Übel aus dem Weg räumen." „Was?" fragte Schleich. „Den Jungen", antwortete Möhlen. „Den . . . Ach so!" Aber dann entschloß sich Schleich, seine Unwissenheit zuzugeben. „Verdammt nochmal! Wen?" Möhlen erklärte es ihm. „Hm!" Schleich rückte an seiner Sonnenbrille, die er sich längst wieder aufgesetzt hatte. Auch der Strohhut thronte auf seiner schwarzen Frisur. „Es spricht zwar einiges dafür, daß diese Halbstarken-Bande unsern lieben Erik durchschaut hat. Doch sicher ist das nicht." „Mag sein", nickte Möhlen. „Aber ich gehe kein Risiko ein." „Ja, und? Was willst du machen?" Möhlen knetete seine Finger. „Wir müssen feststellen, ob die Bälger wirklich was wissen. Es wäre ein Hammer, wenn die uns die Polizei auf den Hals hetzen. Wir hätten nicht mal mehr Zeit, das schöne Geld aufzuteilen." Schleich nickte. „Richtig. Aber wie stellen wir das fest? Wie kriegen wir Gewißheit?" Möhlen überlegte. „Uns kennen sie. Das ist anzunehmen.
Wie sie dir, Prachold, auf die Schliche gekommen sind, werden wir hören. Ich sehe da eine elegante Lösung, bei der wir völlig im Hintergrund bleiben. Denn vielleicht irren wir uns, und die wissen gar nichts. Dann wäre es peinlich, wenn sie uns wegen Freiheitsberaubung beschuldigen könnten." „Bis jetzt weiß ich noch nicht, was du vorhast", knurrte Schleich. „Zwei meiner Leute, nämlich Piteau und Ramirez, werden sich eins der Bälger unter den Nagel reißen. Ein bißchen hart angefaßt — und der Nachwuchs-Germane spuckt aus, was er weiß oder nicht weiß." „Folter?" Prachold preßte die Lippen an die Zähne. „Was heißt Folter?" Möhlen hob die Achseln. „Das hängt davon ab, wieviel Widerstand zu brechen ist. Im allgemeinen genügt es schon, wenn diese Kids (Jugendliche) ein paar auf die Löffel kriegen. Wieviele sind's insgesamt?" „Vier habe ich gesehen", antwortete Prachold. „Den Großen mit den dunklen Locken kennt ihr. Ein kleiner Mops ist dabei, ein dürrer Windhund mit Brille und ein sehr hübsches Blondinchen." „Ah, die meint ihr!" Schleich fletschte grinsend die Zähne. „Die habe ich bemerkt. Von dem Großen würde ich aber die Finger lassen. Der hat Mumm in den Knochen und in der Nahkampftechnik gewaltig was drauf. Vorhin hat er Waldemar Luschner vor aller Augen zur Schnecke gemacht." „Soso?" Möhlen leckte sich die Lippen. „Ich dachte auch mehr an das Mädchen. Diese zarten Geschöpfe sind von Natur aus gesprächig — um so mehr, wenn sich Ramirez erbietet, ihr die Haare anzuzünden. Sowas macht er, der Kumpel. Hat sogar Freude dran. Er tickt da nicht ganz richtig. Ja, so machen wir's. Also, nochmal zum Mitschreiben: Ramirez und Piteau passen die nächste Gelegenheit ab, um das Fräulein zu kaschen. Dann . . . " „Ramirez ist verletzt", wandte Morganzini ein. „Aber doch nicht schwer. Er soll ja keine Schlacht gewin-
nen, sondern nur dabei sein und grimmig aussehen, damit Piteaü alles Hände zum Zupacken frei hat. Kassieren will er ja auch, der liebe Pedro. Also wird er mitmachen. Sobald dann die Kleine geplaudert hat, wissen wir, was Sache ist. Und können uns darauf einrichten." „Und wie würde das aussehen?" fragte Schleich. „Du meinst, falls die Kids Bescheid wissen. Nun, dann bleibt das Mädchen unsere Geisel — bis morgen früh. Ab 9 Uhr haben die Banken geöffnet. Sofort wird deine Alte, Prachold, die Konten abräumen. Wir teilen den Zaster zwischen uns auf, und jeder geht seiner Wege. Nachweisen kann man uns nichts: weder Entführung noch Folter. Piteauund Ramirez wollen ohnehin für einige Zeit in Frankreich untertauchen. Du, Prachold, mußt sehen, wie du durchkommst. Bist ja nicht ganz ohne Kohle." „Und was wird aus meiner Villa?" sagte Prachold. „In vier Wochen ist sie fertig. Fast alles haben wir bezahlt. Sie gehört offiziell meiner Frau." „Daran kannst du nichts ändern", lachte Möhlen. „Oder willst du sie verklagen? Laß ihr den Happen. Das garantiert andererseits, daß sie dichthält. Sie hat dann noch mehr zu verlieren als ihre Freiheit, zwar kein Bargeld, aber immerhin ein Haus an der Sonnenküste." Der Betrüger verzog den Mund. Er sah ein, daß Möhlen recht hatte. Doch die Regelung widerstrebte seinem Empfinden. „Wir sprechen immer nur von den Teens", sagte Morganzini. „Aber die sind doch nicht allein hier. Was ist mit den Eltern?" „Die wissen nichts", sagte Schleich Sofort. „Sonst wäre die policia längst hier und unser lieber Prachold in Handschellen. Die Bälger — da wette ich — sind allein auf seiner Spur, falls sie's sind. In dem Alter hat man das an sich, daß man den Erwachsenen mißtraut. Und falls es nicht Mißtrauen ist, dann zumindest der Ehrgeiz, die Nuß auf eigene Faust zu
knacken. Nein, ich glaube, was das betrifft, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen." „Aber sobald das Mädchen verschwunden ist", meinte Prachold, „werden die Jungs ihr Schweigen brechen." „Nicht, wenn wir ihnen klarmachen", behauptete Möhlen, „daß gerade das ihrer Freundin sehr schlecht bekommen würde. Nur wenn sie weiterhin stillschweigen, kommt die Kleine unbeschadet zurück. Ein Wort zu den Eltern, ein Wort zur Polizei — und sie sind schuld am Schicksal des Mädchens. Wenn wir so drohen, werden sie uns aus der Hand fressen." Das leuchtete ein. Der Plan wurde gebilligt. Möhlen sagte noch, daß er Ramirez und Piteau nun verständigen werde. Prachold dachte an sein Geld. Er war den Banditen ausgeliefert, mußte nun mit den Wölfen heulen, weil er Recht und Gesetz hinter sich gelassen hatte, indem er selbst zum Rechtsbrecher wurde. Wieviel werden sie mir lassen? überlegte er. Und was mache ich dann?
Oben am Hang, wo Büsche mit fleischigen Blättern besonders dicht wuchsen, lagen die vier Freunde auf dem Bauch. Pinien spendeten Schatten. Das Gras fühlte sich an wie ein Teppich. Der Platz war angenehm. Von hier aus hatten sie Überblick. Nichts war ihnen entgangen. Sie beobachteten, wie Prachold auf Waldi losdrosch, wie der und die Prachold dann knickbeinig abschoben, mit betröpfelten Mienen. Jetzt ließen sie keinen Blick von dem Männer-Quartett, das schräg unterhalb — an einem ähnlichen Schattenplatz tagte: Prachold, Schleich, Pferdegesicht und sein rothaariger Kumpel.
Verstehen konnten die TKKG-Freunde allerdings nichts. Die Entfernung war zu groß und Anschleichen nicht möglich, weil das Gelände keine Deckung bot. „Sieht aus, als wären sie sich einig", meinte Karl. „Anfangs war Praehold entsetzt", sagte Gaby. „Das habe ich deutlich erkannt. Jetzt hat er sich beruhigt." „Er sieht zwar nicht aus, als wollte er vor Glück die Welt umarmen", grinste Tarzan. „Aber er scheint sich zu fügen. Ich wette, die Herren Erpresser haben ihm klargemacht, daß es unsozial (unmenschlich) wäre, den ganzen Zaster für sich zubehalten." „Aber Waldi und Luise kriegen nichts." Klößchen hatte das Gesicht auf die Arme gelegt. „Die sind aüsgegrenzt aus der Gruppe der Teilhaber. Weil Praehold jetzt weiß, daß seine Frau einen ändern hat, nämlich Waldi." „Jedenfalls ist der nicht als Komplice angereist." Tarzan stellte weitreichende Überlegungen an. „Ich glaube, da betrügt jeder jeden. Luise hat Waldi mitgebracht, um mit seiner Hilfe ihren Ehemann auszubooten. Aber der hat sie mit dem Fernglas beobachtet - wovon sie vermutlich nichts ahnte. Denn als er vorhin auf sie zuging, wäre sie ja fast in Ohnmacht gefallen. Könnte auch sein, daß ihm die ändern Typen ein Licht aufgesteckt haben. Aber das, Freunde, ist alles Vermutung. Kann zutreffen, muß aber nicht." Klößchen stöhnte. „Ist was?" forschte Gaby. „Da fragst du? Die übrigen Hotelgäste sitzen im Grill-Restaurant und ziehen sich einen Teil der Vollpension rein." Er schüttelte den Kopf. „Wir beglotzen vier Ganoven. Als ob das ein Ersatz wäre!" „Essen gibt's bis halb vier", tröstete Tarzan. „Für dich wird noch was übrig sein." Jetzt erhoben sich die Ganoven. Pferdegesicht und der Rothaarige klopften den Staub von ihren Hosen.
Prachold schirmte die Augen mit flacher Hand ab und blickte übers Meer, sehnsüchtig offenbar. Wahrscheinlich Wünschte er sich nach Afrika, als könnte er dort seinem Schicksal entgehen. Schleich nickte den ändern zu, sprang den Hang hinunter und lief zum Hotel zurück. Prachold folgte. Er schleppte sich durch den Sand, als hätte er die halbe Sahara durchquert. Als er genug Vorsprung hatte, wateten die beiden letzten hinterher. „Sie legen Wert darauf", stellte Klößchen fest, „daß man sie nicht zusammen sieht. Ich — für meine Person — verfüge mich jetzt zum Grill. Was dort gebraten wird, rieche ich bis hierher. Aber da mein Herr Vater dort speist, wird sicherlich der Fleisch Vorrat knapp." Davon konnte allerdings nicht die Rede sein - wie sich herausstellte, als sie zu viert den Gartengrill stürmten. Sauerlichs und Susanne Carsten saßen im Hintergrund an einem schattigen Tisch. Tarzans Mutter hatte ihre Mahlzeit beendet. Erna Sauerlich pickte Blättchen um Blättchen aus ihrem Rohkostsalat, dem köstlichen. Mißbilligend, aber stumm sah sie zu, wie ihr Mann sich das dritte Steak holte. Selbst holte — denn am Büffet und am Grill herrschte Selbstbedienung. „Da seid ihr ja endlich", sagte Frau Carsten. „Irgendwann", lächelte Gaby, „bekommt jeder mal Hunger. Sogar ein Hungerkünstler wie Willi. Nicht wahr, Willi? Du überwindest dich jetzt und langst kräftig zu, Wie beim Frühstück." „Hoffentlich kann ich das", seufzte der Hungerkünstler. Seine Mutter ermunterte ihn. Alle ändern verbissen sich das Lachen. „Aber bitte nur Rohkost", gebot Frau Sauerlich. „An der Fleischvernichtung brauchst du dich nicht zu beteiligen. Das besorgt unser Papa."
Die vier Freunde bedienten sich, bezogen Platz am Nebentisch und speisten. Tarzan ließ den Blick zum xten Mal wandern. Von Prachold, Pferdegesicht und dem Rothaarigen sah er nichts. Offenbar hatten sie sich auf ihre Zimmer verzogen. Luise Prachold lag auf ihrer Liege, bäuchlings, und rührte sich nicht. Waldi, neben ihr, tat es ihr gleich. Für den Nichteingeweihten sah das wie Faulenzen aus. Aber Tarzan und seine Freunde wußten, daß die beiden am Boden zerstört waren. Schleich schwamm — ohne Sonnenbrille und Hut. Später, als er aufs Trockene kletterte, nahm er seine Sachen und verzog sich auf eine andere Liege - in Reihe vier, näher am Hang, mit direkterem Meeresblick. Offenbar störte es ihn, so hautnah bei dem Pärchen zu bräunen. Nach dem Essen schlenderte die TKKG-Bande die Hotelanlage ab - bis hinüber zum Palmen-Hain, wo Schatten sich auf dem Rasen aalten, aber keine Menschenseele. Karl war's, der die verhängnisvolle Entdeckung machte. „Freunde, seht?" rief er. „Da ist ein hoteleigener FahrradVerleih! Kostenlos." Das war dem viersprachigen Plakat am Fahrradschuppen zu entnehmen. Gaby war sofort Feuer und Flamme. „Dazu hätte ich jetzt Lust. Ein bißchen am Strand entlang - auf den Wegen, meine ich. In Richtung Estepona. Da ist der Strand nicht so zugeklotzt, sondern einsamer. Und die nächste Runde schwimme ich im Meer. Ist doch klar!" „Machen wir!" Karl nickte begeistert. „Ohne mich", meinte Klößchen. „Erstens ist die Mittagshitze viel zu heiß, zweitens bin ich bis zum Hals mit Rohkost gefüllt. Ich lege mich jetzt in die Sonne." „Ich käme gern mit", sagte Tarzan. „Aber wer, zum Teufel!, garantiert uns, daß die Ganoven sich wie Willi verhalten? Einer muß auf sie achten. Vielleicht unternehmen sie
was. Vielleicht geht Prachold zur Bank Aber fahrt nur, ich bleibe hier." Gaby zögerte. Mit Tarzan hätte ihr der Radausflug mehr Spaß gemacht. Dann zog sie einen Schmollmund. Das wäre ja noch schöner, sich so abhängig zu machen. Außerdem wollte sie nicht weit — nur bis zur nächsten einsamen Bucht. „Gut, Karl! Wir beide radeln." Wenig später war Tarzan allein. Er marschierte umher, beobachtete Luise und Waldi aus der Ferne, sah, daß Schleich Zeitung las, setzte sich einen Moment zu seiner Mutter, nahm schließlich seinen Bademantel und ging ins Hotel. Er hielt Ausschau nach Prachold und den beiden Ganoven. Vergeblich. Waren sie im Fernsehraum? Er lief die Treppe hinunter. Im Souterrain war es kühl, der Fernsehraum mit ein Halbdutzend Kellnern gefüllt. Die Spanier redeten aufgeregt und verfolgten die Nachrichtensendung eines andalusischen Senders. Auch Tarzan sah einen Moment zu, verstand aber kein Wort. Immerhin begriff er: Was da gezeigt wurde, betraf einen Überfall. „Si, Senor", erklärte ihm einer der Kellner, der ziemlich gut deutsch sprach. „Ein Maskierter hat die Geldboten eines Kaufhauses überfallen und 20.000000 Peseten erbeutet. Nach deutschem Geld sind das - ich glaube, etwa 360 000 DMark. Der Räuber trug einen grünen Overall mit dem aufgenähten Zeichen LCV. Er hatte eine Maschinenpistole." „Wo war der Überfall?" fragte Tarzan. „InMalaga." „Das ist ja nicht weit von hier." Der Kellner nickte. „Der Täter floh in einem Wagen. Aber niemand kann das Fahrzeug beschreiben." Tarzan dankte für die Erklärung und setzte seine Runde fort.
13. Gaby als Geisel „Paradiesisch!" Gaby jubelte, sprang vom Rad und lief den Hang hinab. Endlos dehnte sich der menschenleere Strand. Der Sand war hell und sauber. Sie trat hinein und sah auf das blaue Wasser der Bucht. Sie atmete tief. So hatte sie sich's vorgestellt. Eine einsame Bucht, wo Meer, Licht und Sonne die Haut verwöhnen. Sie warf ihr T-Shirt ab und trug jetzt nur ihren Bikini. Der Wind strich über ihren Rücken. Als sie sich zu einer Meermuschel bückte, berührte ihre goldene Haarflut den Sand. Laute Stimmen oben am Hang. Sie drehte sich um und sah hinauf. Karl hatte die Räder nebeneinander gelegt. Neben ihm hielt ein staubbedeckter Mercedes. Zwei Männer stiegen aus. Der eine trug einen Kopfverband und bewegte sich vorsichtig. Der andere war ein großer dürrer Typ mit häßlichem Frettchengesicht. Sie gingen auf Karl zu. Ihre Haltung war drohend. Gaby spürte, daß sich etwas Schreckliches anbahnte. Die Meermuschel fiel zu Boden. Sie hob ihr T-Shirt auf, zog es sich über den Kopf und spitzte die Ohren. Einer der Männer sagte — auf deutsch: „Das ist ein Kidnapping. Bleib ganz ruhig, Junge! Dann passiert dir nichts." Grinsend reckte Jules Piteau das Kinn. „Was bilden Sie sich ein!" Karl ballte die Fäuste. „Warum wollen Sie mich kidnappen?" „Es geht nicht um dich, du Scheißer. Wir wollen das Mädchen. Du kannst dich solange in die Sonne legen. Dann . . . " Karl wußte, daß er keine Chance hatte. Aber er warf sich herum. „Gaby!" schrie er. „Lauf weg! Sie wollen dich kidnappen. Ich halte sie . . . "
Ramirez riß ihn an der Schulter herum. Eiskalt war der Schlag berechnet. Karls Gesicht erstarrte in fassungslosem Schmerz, als die Faust ihn in den Magen traf. Karl fiel auf den sonnenverbrannten Rasen, verlor seine Brille und glaubte zu sterben. „Piteau, du Idiot!" brüllte Ramirez. „Worauf wartest du? Gleich rennt sie los." Gaby war wie gelähmt. Piteau stürmte auf sie los. Sie startete zu spät. Er holte sie ein und packte brutal ihre Arme. Ramirez stieß Karl mit der Schuhspitze an. „Merk dir, was ich sage! Du . . . Heh, kannst du mich hören? Bist du da?" Er radebrechte deutsch. Aber Karl verstand ihn und nickte. „Wenn du willst, daß die Kleine unversehrt zu euch zurückkehrt, dann hältst du den Mund. Verstanden! Kein Wort über die Entführung. Jedenfalls nicht zu euren Eltern. Und schon gar nicht zur Polizei. Den beiden ändern Jungs, denen kannst du's sagen. Aber nur ihnen. Und auch sie müssen dichthalten. Kein Wort zu niemanden. Wenn dich eure Alten fragen, sagst du, die Kleine — äh — Gaby heißt sie, wie? — wäre in die Stadt gefahren, um was zu besorgen. Hast du das verstanden?" „Ja", röchelte Karl. „Aber warum . . . " „Wie heißt du?" „Karl Vierstein." „Du hörst von uns. Wir rufen dich im Hotel an. Und schärf deinen Freunden ein, daß sie sich an meine Weisung halten. Dann — aber nur dann - hat Gaby nichts zu befürchten." Karl hörte, wie Gaby wimmerte. Schreien konnte sie nicht. Offenbar wurde ihr der Mund zugehalten. Der Wagen fuhr ab. Karl richtete sich auf. Er wollte sich das Kennzeichen ein-
prägen. Aber ohne Brille sah er nichts. Und es dauerte eine Weile, bis er sie fand. Weitere Zeit verging, bis die Übelkeit nachließ und er fähig war, zum Hotel zurück zu fahren. Tarzan war im Swimmingpool und kraulte die xte Runde. Karl winkte ihn zu sich. „Was ist los, Karl? Wie siehst du aus? Wo ist Pfote?" „Tarzan, bleib jetzt, um Himmels willen, ruhig und lauf nicht Amok (blindwütig-gewalttätiges Rasen)l Zwei Männer haben Gaby gekidnappt und mich zusammengeschlagen." Er berichtete. Tarzans Miene wurde wie Stein. Klößchen, der sie beobachtet hatte, kam heran, und Karl erzählte zum zweiten Mal. Dann herrschte Stille. Der Schreck griff ans Herz. Ich muß ganz ruhig bleiben! dachte Tarzan. Ruhig und überlegt. Nichts tun, was Gaby gefährdet. Nur das ist jetzt wichtig! Ihr darf nichts passieren! „Du kennst die beiden nicht?" fragte er. „Nie gesehen." Karl schüttelte den Kopf. „Sie haben Gaby. Sie können also ihre Drohung wahrmachen und ihr sonstwas antun. Das bedeutet: Zunächstmal fügen wir uns. Wir unternehmen nichts. Unseren Leuten sagen wir, Pfote wäre im Ort. Natürlich läßt sich das nicht lange aufrecht erhalten. Höchstens bis zum Abendessen. Das wissen die Kerle auch. Bis dahin werden sie sich melden. Karl, bitte, bleib auf unserem Zimmer. Damit du telefonisch erreichbar bist. Sag dem Portier, daß du einen Anruf erwartest. Ich halte hier unten die Augen offen. Wenn Gaby bis zum Abendessen nicht zurück ist, vergelte ich gleiches mit gleichem. Dann schnappe ich mir einen der Ganoven. Und breche ihm einen Knochen nach dem ändern, bis er mir sagt, wo Pfote ist." Karl sah seinen Freund an und war erschrocken über den Ausdruck in seinen Augen. „Du meinst, die stecken dahinter?"
„Wer denn sonst?" Karl nickte. „Vielleicht haben sie gemerkt, daß wir Bescheid wissen. Mit Gaby als Geisel wollen sie nun verhindern, daß wir die Polizei einschalten." „Genau das denke ich. Und genau das ist die Wahrheit, Karl." „Au Backe!" meinte Klößchen. „Die arme Gaby! Ich wünschte, ich wäre mitgeradelt. Vielleicht hätten sie mich dann entführt."
Das Haus stand einsam, hügelwärts, am Ortsrand, wo die Sackgasse zwischen Felsbrocken endete. Im Kofferraum hatte Gaby die Fahrt überstanden. Sie war gefesselt. An dem Knebel erstickte sie fast. Der staubgraue Mercedes fuhr hinters Haus, hielt, und Ramirez stieg aus. Niemand war in der Nähe. Wer zufällig vorbei kam, konnte hier nicht einsehen. Ramirez öffnete den Kofferraum, hob Gaby heraus und trug sie zum Haus. Sie wehrte sich nicht. Sie war halb bewußtlos. Keine weitere Minute hätte sie im Kofferraum ausgehalten. Unter dem Deckel staute sich die Hitze. Außerdem war die Luft knapp. „Bis später!" rief Piteau seinem Komplicen nach. „Und sei nicht so zimperlich beim Verhör! Der Boss will wissen, was los ist." „Keine Sorge!" erwiderte Ramirez und stieß die Hintertür auf. Piteau, der Frettchentyp, fuhr zurück. Möglicherweise konnte irgendein Augenzeuge den Wagen beschreiben. Deshalb durfte die Karre nicht hier bleiben. Denn hier gab's keine Garage. Piteau fuhr nach Hause, zu einem der riesigen Apartmenthäuser in Strandnähe, stellte den Wagen in die Tiefgarage
und kam wieder ins Freie. Seine Wohnung hatte kein Tele fon. Aber er mußte Möhlen verständigen. Die Sache war gut gelaufen, profihaft, perfekt. Mit einer Zigarette im Mundwinkel schlenderte er zum nächsten Postamt. Der Weg führte ihn durch ein unansehnliches Viertel, wo kleine Häuser hinter Hofmauern verfielen, um eines Tages Hotelbauten Platz zu machen. Immer wach sein! Die Gelegenheit nutzen! Das war Piteaus Leitsprtich. Und als er jetzt an der Einfahrt vorbei schlurfte, sah er den Wagen. Er war neu, silbergrau, ein gängiges Modell — und stand neben einem Einfamilienhaus, in dem soeben der Fahrer verschwand: ein hünenhafter Kerl. Ob er immer hinkte, oder ob's an den Taschen lag, die er schleppte — interessierte Piteau nicht. Ihn interessierte, daß der Zündschlüssel steckte. Er machte fünf lange Schritte. Leise drückte er den Kofferraum zu. Die Haustür war geschlossen. Er glitt hinters Lenkrad. Weich sprang der Motor an. Piteau setzte zurück auf die Straße und fuhr dann ab ohne Hast. Im Rückspiegel beobachtete er, was sich hinter ihm tat. Nichts! Zehn bis 15 Minuten blieben ihm nun, bis die Bullen nach dem gestohlenen Wagen suchen würden. Das wußte er aus Erfahrung. Denn in erster Linie war und blieb er Autodieb, womit er sich seit Jahren seinen Unterhalt verdiente. Jetzt benötigte er neun Minuten. Dann rollte er in ein Parkhaus, zog die Magnetkarte aus dem Automaten vor der Schranke und fuhr in den sechsten Stock hinauf. Die verdreckten Glasbausteine ließen wenig Licht durch. Er parkte in hinterster Ecke und stieg aus. Niemand war in der Nähe. Eine Säule verdeckte den Wagen. Das mußte reichen, bis Möhlen mit seinen gefälschten Nummernschildern kam. Aber erstmal sehen, was der Schlitten enthielt. Im Handschuhfach fand er nur Plunder. Und ein paar An-
Sichtskarten aus Marokko und Frankreich, adressiert an einen gewissen Miguel Manolite. Vom Kofferraum versprach er sich nichts. Der war fast lerr, wie er vorhin gesehen hatte. Aber nur fast. Eine Decke breitete sich über . . . Piteau zog die Luft durch die Zähne und starrte auf das schwarze Metall der Maschinenpistole. Sie lag auf einem grünen Overall, dem auf der linken Seite ein Firmenzeichen aufgenäht war: Ein rotes Oval mit den Buchstaben LCV. Die Stoffhandschuhe waren dünn und schmutzig. Die schwarze Stoffmaske fühlte sich feucht an. Schweiß! Also war sie vor kurzem benutzt worden. Er blickte zum Lift. Niemand störte ihn. Also beugte er sich über die MP und schnupperte an der Mündung. Nein, nichts! Aus der hatte in letzter Zeit niemand geschossen. Er schloß den Kofferraum ab, rieb die Zähne aufeinander und überlegte. Es war dies der 50. Wagen, den er für Möhlen stahl - sozusagen ein Jubiläum. Möhlen konnte schnell hier sein, wenn er vom Palast-Hotel nach Hause fuhr und die gefälschten Nummernschilder holte samt dazu passender Papiere. Die besaß er für etliche Wagen typen, und Piteau klaute nur solche. Aber diesmal lag die Sache anders. Er marschierte zum Postamt und rief im Palast-Hotel an. Möhlen meldete sich. „Ich bin's", sagte Piteau. „Alles klar, Chef. Wir haben die Kleine. Pedro quetscht sie aus. Aber ein oder zwei Stunden wird's dauern. Sie hat nämlich schlappgemacht. Inzwischen habe ich ganz nebenbei einen Schlitten abgestaubt. Aber mit dem stimmt was nicht." Er erzählte. „Grüner Overall?" sagte Möhlen. „Mit dem LCV-Zeichen? Und dieser Manolite ist ein großer Kerl, der mit dem linken Bein hinkt?" „Ja, ich glaube, er hinkt. Gesehen habe ich ihn nur von hinten."
„Mensch, Piteau! Die Meldung kam vorhin durchs Fernsehen und wird in den Abendnachrichten bestimmt wiederholt. Dein Manolite hat in Malaga die Geldboten eines Kaufhauses überfallen und 20 Millionen Peseten erbeutet. Donnerwetter! Davon wird er uns was abgeben müssen. Ich glaube, Piteau, wir haben eine Glückssträhne. Warte im Parkhaus. Wir müssen die Karre sichern, damit nichts dazwischen kommt." Piteau ging zurück und wartete, bis Möhlen eintraf. Während Piteau Schmiere stand, montierte Möhlen die Nummernschilder ab, warf sie in den Kofferraum und bestückte den Wagen mit unverdächtigen Kennzeichen. Dann spazierten sie zu der Straße, wo jener Manolite wohnte. Möhlen war wie immer bewaffnet. Die Pistole steckte in einem Halfter unter seiner Jacke.
14. Wer den Hals nicht voll kriegt . . . Der Nachmittag verging. Tarzan fühlte sich wie ein Zentner Dynamit, an dem der Zeitzünder tickt. Er sah weder Prachold noch Pferdegesicht oder den Rothaarigen . Aber er behielt Schleich und das Pärchen im Auge. „Wo nur Gaby bleibt", wunderte sich seine Mutter. „Allmählich mache ich mir Sorgen." Herr Sauerlich, der Zeitung las, brummelte was. Erna Sauerlich schlief unterm Sonnenschirm. Klö ßchen wälzte sich auf die andere Seite. Karl befand sich oben im Zimmer, um auf den Anruf zu warten. Bis jetzt leider vergeblich. Tarzan sagte: „Sie wird schon kommen, Mutti. Sie wollte allerhand erledigen, glaube ich." Bei der Lüge hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Die Sonne neigte sich westwärts. Ein Gast nach dem ändern verließ die Parkanlage. Dann meinten auch Sauerlichs und Frau Carsten, es wäre jetzt Zeit, sich fürs Abendessen frisch zu machen. Allerdings stand das erst in zwei Stunden auf dem Programm. „Ich bleibe noch", meinte Tarzan. Aber er schickte Klößchen aufs Zimmer, um Shorts, T-Shirt und Turnschuhe zu holen. Als Klößchen zurückkehrte, schlüpfte Tarzan irt seine Sachen. Was er unter dem Bademantel verbarg, zeigte er niemanden. „Und?" fragte er, als die Erwachsenen gegangen waren. Klößchen schüttelte den Kopf. „Karl hat sich keine Sekunde vom Telefon weggerührt. Kein Anruf." Tarzan sah, wie Luise und Waldi ins Haus gingen. Schleich lag noch auf der Liege und las. „Länger warte ich nicht, Willi. Du mußt nicht mitmachen. Ich nehme ohnehin alle Folgen auf mich." „Selbstverständlich mache ich mit", sagte Klößchen. „Ich . . ."Erstockte.
Auch Tarzan sah den Kerl, nämlich Pferdegesicht. Der Ganove kam aus dem Hotel, trug einen leichten Sommeranzug und marschierte auf der anderen Seite des Swimmingpools zu Schleich. Der lag jetzt allein auf der Sonnenterrasse. Alle anderen Gäste hatten das Feld geräumt. „Komm!" Tarzan stand auf. Klößchen war flau zumute. Aber er trottete hinter seinem Freund. Tarzan hatte sich den Bademantel über den linken Arm gehängt. Schleich und Pferdegesicht redeten miteinander und blickten erst auf, als die beiden vor ihnen standen. „Buenas noches!" Tarzan lächelte. Er stand dicht vor Pferdegesicht und griff blitzartig zu. Seine Hand schoß unter die Jacke des Banditen. Ehe der sich versah, riß Tarzan die Pistole an sich und wich einen Schritt zurück. Die Mündung war auf die beiden Verbrecher gerichtet. Deren Mienen erstarrten. „Ich wette, Sie haben nicht mal einen Waffenschein. Aber keine Sorge! Hier wird nicht geschossen." Im hohen Bogen schleuderte er die Pistole nach rechts. Sie klatschte ins Schwimmbecken und verschwand. „So", sagte Tarzan. „Das war das einzige, was euch gerettet hätte, ihr Lumpengesindel." Er ließ seinen Bademantel zu Boden sinken. In der linken Hand hielt er ein Stück Bleirohr. „Wenn ein Hänfling damit zuschlägt", sagte Tarzan, „tut's weh. Wenn ich damit zuschlage, bleibt nichts von euch übrig. Wo ist Gaby?" Schleichs Augen glitzerten und wurden schmal. Fast so schmal wie seine Lippen, die sich wie Fangeisen aufeinanderpreßten. Pferdegesicht unterschätzte Tarzan, sprang ihn nämlich an, um diesen Halbstarken - dem vermeintlichen - das
Bleirohr zu entreißen. Tarzan rammte es ihm wie einen Speer in den Magen. Der Ganove gab Blubb-Blubb-Laute von sich, als hätte er Luftblasen im Verdauungsapparat, konnte nicht mehr atmen und sackte handtuchschlapp auf die Knie. Die Augen wollten ihm aus den Höhlen treten, und sein Senfteint wetteiferte farblich mit unreifen Limonen, war aber nicht so appetitlich. Tarzan lächelte Schleich an. „Willst du's auch mal probieren, Plattfuß? Ich ziehe dir gern eine Scheitel, auf dem nie wieder ein Härchen wächst. Also noch einmal: Wo ist Gaby?" Pferdegesicht kippte jetzt nach vorn und würgte. „Wenn du brechen willst", sagte Tarzan und klopfte ihn leicht auf die Schulter, „dann geh runter zum Strand. Da brechen sogar die Wellen — wenn sie dich sehen. Aber hier wird inicht gespuckt. Klar?" Zu Schleich sagte er. „Wie heißt der?" „Der . . . ehm . . . Ja, doch! Verdammt! Richte hier kein Blutbad an. Er heißt Carlo Morganzini." „Und der andere! Der feiste Rotkopf?" „Heiko Möhlen." „Willi, merk dir die Namen!" sagte Tarzan. „So, Schleich! Und nun frage ich zum dritten und le tzten Mal nach meiner Freundin, die ihr freundlicherweise gekidnappt habt. Jaaaa! Ihr habt! Oh, doch! sollte ich mich aber wirklich irren, dann ereilt dich jetzt gleich ein tragisches Geschick. Wenn du nämlich nicht antwortest, verwandele ich deine Birne in Birnenkompott. Wäre wirklich tragisch, wenn's einen Unschuldigen trifft. Aber das glaube ich nicht. Deshalb hält nichts mich zurück. Sogar einer eventuellen Jugendstrafe wegen schwerster Körperverletzung sehe ich fröhlich entgegen. Das — und noch viel mehr — ist meine Freundin mir wert. Deshalb: Wo ist Gaby?" Schleich sah ihn an und wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Der Bengel, zum Geier!, machte ernst. Der beherrschte seine Rolle als Dradhentöter.
„Ich . . . äh . . . weiß nicht, wo sie ist. Das mit dem . . . äh . . . Also, ich hörte nur davon. Möhlen und Morganzini haben veranlaßt, daß die Kleine . . . äh . . . entführt wird. Sie ist in einem Haus am nördlichen Stadtrand." „Wer ist bei ihr?" „Ein Typ namens Ramirez." „Es waren zwei Kidnapper!" Schleich nickte. „Der andere — ja, gut, er heißt Piteau — hat Möhlen angerufen, wie mir Morganzini eben erzählte. Piteau und Möhlen haben . . . einen Bankräuber entdeckt, den sie . . . nein, einen Geldbotenräuber . . .Jedenfalls wollen sie ihm die Beute abnehmen. Nachher, sobald es dunkel ist. Morganzini weiß Einzelheiten. Auch, wo das Haus ist, in dem eure Freundin von Ramirez verhört wird." „Klingt ein bißchen phantastisch. Aber ich weiß, daß die Wirklichkeit bisweilen so ist. Es klingt auch halbwegs nach Wahrheit. Und nur mit der, Schleich, rettest du wenigstens deine Gesundheit." Tarzan stieß Morganzini an. „Nimm dich zusammen, du Niete! Wir steigen jetzt alle in eines der Taxis, die vor dem Hotel stehen. Wir fahren zu Gaby. Und wehe, dir fällt der Weg nicht ein. Dann war das eben nur eine Kostprobe. Das schwöre ich dir." Er wandte sich an Klößchen. „Hol Karl. Bewaffnet euch. Nehmt jeder einen Billardstock. Solange bewache ich die beiden hier. Dann begeben wir uns gemeinsam zum Taxi." „Hoffentlich schaffen wir das noch alles vor dem Abendessen", meinte Klößchen und sauste los.
Wieder und wieder schüttelte Gaby den Kopf. „Aber ich weiß doch nichts. Wirklich nicht! Ich verstehe Ihre Fragen gar nicht. Sie müssen mich verwechseln. Sie . . . Sie haben die falsche Person entführt. Krachpold — den Namen höre ich zum ersten Mal. Ehrenwort!"
Die Arme um sich geschlungen, hockte sie in einem Korbsessel. Drphend marschierte Ramirez auf und ab. Die Zündhölzer raschelten in der Schachtel, als er die von einer Hand in die andere warf. Er hatte Gaby gedroht, ihr die Haare anzuzünden — und war überzeugt, daß diese Brutalität ihre Wirkung nicht verfehlte. Entsprach es also der Wahrheit, daß die Kleine von nichts wußte. Irrten sich Möhlen, Schleich und Morganzini? „Ihr seid diesem Prachold auf die Bude gerückt", radebrechte er. „Um festzustellen, ob er's wirklich ist!" „Niemandem sind wir auf die Bude gerückt. Wovon reden Sie nur?" Aber Ramirez war durch Möhlen informiert. „Ich meine den Mann von Zimmer 530!" „Ach, den Herrn Vandental. Vielmehr — das war er ja gar nicht. Ein Irrtum! Mein Freund", sie lächelte kläglich, „ist sogar ein zweites Mal bei ihm reingeplatzt. Aber inzwischen kennen wir den richtigen Herrn Vandental. Er hat sooo einen Bauch." Sie zeichnete eine Weltkugel vor ihre schmalen Hüften. „Er könnte Sonnenbrille, Hut und Zimmerschlüssel drauf ablegen. Ohne daß was runterfiele." Ramirez stieß die Luft durch die Zähne und überlegte. Sein Kopf schmerzte wieder. „Mir . . . wird übel", stöhnte Gaby mit ersterbender Stimme. „Darf ich mir ein . . . Glas Wasser aus der Küche holen?" Die Küche war gleich nebenan, die erste Tür links im Flur. Gaby durfte. Ramirez behielt die Tür im Auge. Was jetzt? Wo blieben die ändern? Es wurde höchste Zeit, daß er im Hotel anrief und diesen Karl Vierstein verlangte, um entweder Gabys Rückkehr anzukündigen oder — falls der Chef anders entschied — mitzuteilen, daß sie noch bis morgen als Geisel blieb.
In der Küche sah Gaby sich um. Ihr war weder übel noch elend. Sie hatte zwar schreckliche Angst, und ihr Herz pumperte, dennoch: Sie wollte weg hier. Raus! An der Wand hing eine gußeiserne Bratpfanne. Ein DreiKilo-Gerät für spanische Nationalgerichte. Gaby drehte den Wasserhahn auf, griff nach einem Glas, nahm die Pfanne von der Wand, trat hinter die Tür und suchte zusammen, was noch an Mutresten da war. Dann warf sie das Glas auf den Steinboden, wo es klirrend zersplitterte. „Hi . . . Hilfe!" Er kam im Laufschritt herein und glaubte, eine Ohnmächtige auf dem Boden vorzufinden. Daß eine grazile Schöne wie Gaby zur Notwehr fähig war, hatte in seiner Phantasie keinen Platz. Sie dachte daran, wie brutal er Karl niedergeschlagen hatte, und hielt die Bratpfanne mit beiden Händen. Er stolperte an ihr vorbei. Als er Lunte roch und sich umdrehen wollte, war es zu spät. Mit aller Kraft schlug sie ihm die gewichtige Pfanne aufs Hinterhaupt. Ein Klang ertönte, als stießen zwei Rennwagen aneinander. Steif wie ein Pfahl fiel Ramirez aufs Gesicht. Seit Pra-cholds Kaminhaken-Kopfnuß befand sich sein Schädel in bedenklichem Zustand. Jetzt wurde es noch schlimmer. Gaby ließ die Pfanne fallen und lief zur Haustür, wobei sie von der Zehe bis zum Goldscheitel wie Espenlaub zitterte.
Der Taxi-Fahrer wunderte sich. Das war die seltsamste Fuhre, an die er sich erinnern konnte: ein Mann im Anzug, der stoßweise atmete und sich den Magen hielt; ein zweiter Mann im Bademantel, der einen sehr mutlosen Eindruck machte, und drei Jungs, bewaffnet mit Schlagwerkzeugen und finster entschlossen.
Die drei Freunde und Morganzini saßen im Fond. Schleich kauerte auf dem Beifahrersitz. Tarzan hatte sich hinter ihm postiert und paßte auf wie ein Schießhund. Morganzini nannte das Fahrtziel. Sie brauchten nicht lange. Dann hielt das Taxi vor dem letzten Haus am Ende der Sackgasse, und Tarzan sprang als erster ins Freie. „Esperar (warten)!" gebot er dem Fahrer. Der nickte. „Wir stürmen die Bude", sagte Tarzan zu seine Freunden. „Und knüppeln nieder, wer sich . . . Heh!" Er ließ staunend den Mund offen. Denn hinter der Hausecke blitzte eine goldene Mähne in der Abendsonne. Mit einem Auge lugte Gaby hervor. Im nächsten Moment lag sie ihrem Freund in den Armen. Schluchzend näßte sie sein T-Shirt mit Tränen. Er hielt sie umschlungen, während Karl und Klößchen die beiden Ganoven bewachten. Stammelnd berichtete Gaby. „. . . dieser Kerl . . . ist noch bewußtlos. Als wir ankamen, hat er mich im Keller eingesperrt. In ein richtiges Verlies ohne Fenster, aber mit ganz schwerer Tür. Dort — das hat er angedroht — würde ich ewige Zeiten bleiben, wenn ich nicht mit der Wahrheit rauskäme. Außerdem wollte er mir die Haare anzünden." „Ein Verlies, das man von außen verriegeln kann?" Er streichelte ihr Haar. „Das können wir gebrauchen." Fünf Minuten später befanden sich Morganzini, Schleich und Ramirez dort unten. Ramirez war bei Bewußtsein und konnte ganz kleine Schritte machen, begriff aber noch nicht, was um ihn herum geschah. „Ahora a la policia (jetzt zur Polizei)*." erklärte Tarzan dem Taxifahrer. Der nickte und wunderte sich über nichts mehr. Auf dem comisaria (Polizeirevier) hatten sie Glück. Capitan Viti sprach deutsch. Fassungslos hörte er an, was ihm die vier Freunde berichteten: Von Versicherungsbetrug, Erpressung und Kidnapping. Sofort schickte er Polizeiwagen zu dem einsamen Haus, um die drei Eingesperrten abzu-
holen. Außerdem war er bereit, eine Amtsleitung für ein Gespräch nach Deutschland freizumachen. Tarzan hielt es ~- nunmehr — für unbedingt erforderlich, Kommissar Glockner zu unterrichten. Sie erreichten ihn. Erst sprach Gaby mit ihrem geliebten Papi, dann erstattete Tarzan Bericht. „Großartig, was ihr geleistet habt", lobte der Komissar. „Aber es wäre klüger gewesen, wenn ihr mich oder die dortigen Kollegen ein paar Stunden früher verständigt hättet. Dann wäre Gaby nicht entfuhrt worden. Ich weiß. Ihr wolltet alle beteiligten Ganoven entlarven. Ich werde jetzt Capitan Viti um Amtshilfe bitten, damit auch die Pracholds und dieser Waldemar Luschner sofort festgenommen werden. Zum Abschluß habe ich noch eine Neuigkeit, die immerhin ein bezeichnendes Licht auf Luise Prachold wirft. Was ihr nicht wißt — sie besaß hier einen kleinen Hund, einen PekinesenMischling namens Bouboulette. Zufällig sah ich das Hündchen bei ihr. In der Zeitung las ich dann — nachdem Luise Prachold längst nach Marbella geflogen war — von einem ausgesetzten Hündchen. In erbärmlichem Zustand hatten es Kinder im Wald aufgefunden: in der Nähe der Pracholdschen Villa. Mir kam ein Verdacht. Ich sah mir den Hund an und erkannte Bouboulette wieder. Sie ist jetzt in guten Händen." „Diese Frau ist eine eiskalte Verbrecherin", sagte Tarzan. „Ich glaube, sie ist schlimmer als ihr Mann. Auf frohes Wiedersehen in drei Wochen, Herr Glockner." Mit dem Polizeiwagen wurde die TKKG-Bande ins PalastHotel zurückgebracht. Aus nächster Nähe erlebten die vier, wie Luise Prachold, Luschner und Heribert Steiner, alias Erik Prachold, verhaftet wurden. Es traf die Verbrecher wie der Blitz aus heiterem Himmel. Nach Möhlen suchte man leider vergebens. Er war nicht im Hotel. „Himmel!" rief Tarzan. „Da fällt mir ein, was Schleich
sagte! Möhlen und sein Komplice Piteau hätten einen Geldbotenräuber entdeckt, den sie nun ihrerseits berauben wollen. Morganzini weiß mehr. Hoffentlich auch, wann und wo das geschehen soll." „Den nehme ich gleich ins Verhör", sagte Viti. „Wenn es sich um die Sache in Malaga handelt — also, das wäre unglaublich."
Möhlen und Piteau hatten sich das Haus angesehen, in dem jener Miguel Manolite offenbar seinen Unterschlupf hatte. Er befand sich im Haus. Mehrmals bemerkten sie ihn hinter den Fenstern. Er schien unruhig zu sein und im Haus hin und herzurennen. „Daß sein Wagen geklaut ist, macht ihm Sorgen", meinte Möhlen. „Er weiß natürlich, daß ihn der Dieb als den gesuchten Geldräuber identifizieren kann. Andererseits — ein Autodieb ist ja sozusagen ein Kollege, obschon nicht ganz so gewalttätig. Jetzt wartet Manolite, daß man sich bei ihm meldet. Und das werden wir auch. Aber anders als er denkt und erst, wenn es dunkel ist. Dann kriegen die Nachbarn nichts mit. Außerdem will ich jetzt wissen, was Ramirez aus dem Mädchen rausgepreßt hat. Manolite läuft uns nicht weg." Sie nahmen sich ein Taxi, fuhren aber nicht ganz bis zu dem einsamen Haus — aus Vorsichtsgründen —, sondern marschierten das le tzte Stück. Als sie die Polizeiwagen hinter sich hörten, konnten sie gerade noch hinter einer Hofmauer verschwinden. Dann mußten sie ansehen, wie Schleich, Ramirez und Morganzini — mit Handschellen versehen - abgeholt wurden. Möhlen wurde aschfahl. Seinem Komplicen brach kalter Schweiß aus. „Das ist schiefgelaufen", knirschte Möhlen. „Und zwar gründlich! Weiß der Teufel, wer da Mist gebaut hat. Jeden-
falls sind wir die nächsten, nach denen die Polizei Sehnsucht hat. Ich wette, andere Bullen erwarten uns schon im Hotel. Das heißt, auch die Pracholds sind dran. Aus, Jules! Die Sache können wir vergessen. Wir können nur noch die eigene Haut retten, indem wir baldigst die Kurve kratzen. Aber nicht mit leeren Taschen. Wenigstens den Manolite nehmen wir noch aus. Jede Peseta wird der uns aushändigen."
Morganzini hatte alles verraten. Dämmerung brach an. Aber Capitan Viti wartete noch. Als es endlich dunkel war, verteilte er seine Leute. Scharfschützen, ausgerüstet mit Scheinwerfern, versteckten sich in der Straße und auf umliegenden Grundstücken: einige auch in dem Garten, der Manolites Haus umgab. Über Sprechfunk hielt Viti Kontakt mit seinem Einsatzleiter. Schließlich meldete der: „Es ist soweit, Capitan. Wir können. Manolite ist im Wohnzimmer, wie ich sehe. Scheint nervös zu sein. Er rennt auf und ab. Und hält ein Schnapsglas in der . . . Heh! Da kommen sie ja schon. Zwei Kerle, Capitan. Das müssen Möhlen und Piteau sein. Sie steigen auf der Rückseite über die Hofmauer. Sie schleichen zum Haus . . . " Piteau brauchte keine Minute, um die Hintertür des Hauses lautlos zu öffnen. Er und Möhlen horchten. Entfernt klirrte Glas. Sie huschten hinein. Möhlen schloß die Tür hinter sich. Durch Küche und Diele gelangten sie zur geöffneten Wohnzimmertür. Möhlen trat vor und richtete seine Pistole auf den Räuber. Manolite schien zu versteinern. „Da staunst du", meinte Möhlen auf spanisch. „Mein Kollege hier hat deinen Wagen abgestaubt. Mehr brauche ich nicht zu sagen, wie? War das eine Überraschung! Deine Karre kannst du zurückhaben — mit allem, was noch drin ist. Aber die Kohle kriegen wir! Verstanden!"
Manolite glotzte. „Seid ihr verrückt? Halbe-halbe, meinetwegen. Aber doch nicht alles." „Vielleicht lassen wir dir was", Möhlen grinste. „Aber jetzt zeig mal die Beute!" Manolite zögerte. Als Möhlen eine Papiertüte über seine Pistole stülpte - als Schalldämpfer - sagte er: „Also gut! Nebenan. Aber ich beanspruche . . . " In diesem Moment brandete gleißendes Licht in den Raum. Scheinwerfer strahlten auf alle Fenster, und über Megaphon (Lautsprecher) ertönte Vitis Stimme. „Achtung! Hier spricht die Polizei. Das Haus ist umstellt. Kommt einzeln heraus. Mit erhobenen Händen und ohne Waffe. Widerstand ist zwecklos. Ich wiederhole ..."
Knackvoll wurden die Zellen im Untersuchungsgefängnis von Marbella an diesem Abend. Denn sämtliche Ganoven waren nun verhaftet und verbrachten eine unruhige Nacht. Wieder und wieder wurden sie verhört. Alles kam ans Licht. Alle Hintergründe wurden erhellt - auch, daß Luise geplant hatte, ihren Mann zu ermorden. Waldemar Luschner leugnete zwar, daß er dabei mitgemacht hätte. Aber das nahm niemand ihm ab. Sein Verhalten insgesamt sprach dafür, daß er die Tat auch begangen hätte. Die Pracholds, Luschner und Schleich wurden später von einem deutschen Gericht zu langjähriger Gefängnisstrafe verurteilt. Für Möhlen, Morganzini, Ramirez und Piteau waren die spanischen Gerichte zuständig und sprachen harte Urteile aus. Auch Manolite, der der Polizei so ganz nebenbei ins Netz gegangen war, wanderte für la nge Zeit hinter Gitter. Im Palast-Hotel war der Fall noch tagelang das Thema Numero eins. Daß die Ganoven hier unerkannt gewohnt hatten, erschreckte viele Gäste. Die Hoteldirektion ließ sich
nicht lumpen, sondern dankte der TKKG-Bande im Rahmen eines Cocktail-Empfangs — bei dem die vier Freunde allerdings nur Orangensaft tranken. Alle Mitglieder der Gruppe Sauerlich erhielten Gutscheine für einen 14tägigen GratisUrlaub hier im Hause. Das bedeutete: Spätestens im nächsten Sommer würden sie sich wieder hier einfinden. Aber jetzt standen ja noch fast drei Wochen auf dem Programm. Und die wurden — wie später alle übereinstimmend urteilten —: affenstark, super-andalusisch, spitzenmäßig! ENDE