Heidi Möller Stephan Doering (Hrsg.)
Batman und andere himmlische Kreaturen Nochmal 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen
Heidi Möller Stephan Doering (Hrsg.)
Batman und andere himmlische Kreaturen Nochmal 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen Mit 64 farbigen Abbildungen
Prof. Dr. Heidi Möller Fachbereich 04 - Sozialwesen Theorie und Methodik der Beratung Universität Kassel Arnold-Bode-Straße 10, 34127 Kassel E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Stephan Doering Bereich Psychosomatik in der Zahnheilkunde Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde Universitätsklinikum Münster Waldeyerstraße 30, 48149 Münster E-Mail:
[email protected]
ISBN 978-3-642-12738-0 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Renate Schulz, Heidelberg Lektorat: Dr. Astrid Horlacher, Dielheim Umschlaggestaltung: deblik Berlin Satz: deblik Berlin SPIN: 12637164 Gedruckt auf säurefreiem Papier
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Vorwort Zeit unseres Lebens stellen Sexualität und intime Beziehungen für uns alle eine Herausforderung dar. Sei es, dass wir zeitweise zu viel oder zu wenig davon erleben, sei es, dass wir sie mit der, dem oder den Falschen bzw. mit den Richtigen im falschen Moment erleben. Nicht zuletzt ist auch mit dem oder der Richtigen die Art und Weise, wie wir Sexualität und Intimität teilen jedes Mal wieder Verhandlungssache und selten sind die kostbaren Momente vollständiger Übereinstimmung und Gemeinsamkeit. Noch mehr als seelisch gesunden Menschen stellen sich diese Fragen psychisch Kranken. Sehr schnell sind Sexualität und Intimität betroffen, wenn psychische Probleme oder Symptome auftreten, bei kaum einer psychischen Erkrankung bleiben sie unbeeinträchtigt. Bedenkt man, dass Intimität und Sexualität zu den stärksten Antrieben und Leidenschaften des Menschen gehören, so wundert es nicht, dass das Zusammentreffen von Sexualität und psychischer Störung einen thematischen Brennpunkt des cineastischen Schaffens aller Länder und Generationen darstellt. Als der Springer-Verlag im Jahr 2008 unser Buch Frankenstein und Belle de Jour herausbrachte, sahen wir unseren Auftrag als erfüllt an, hatten wir doch gemeinsam mit 36 weiteren Autorinnen und Autoren das breite Spektrum der Internationalen Klassifikation der psychischen Störungen der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10; WHO 2006) anhand von 30 Spielfilmhelden umfassend diskutiert. An einen zweiten Teil dachten wir damals nicht, wussten und wissen wir doch mit allen Kinofreunden, dass Fortsetzungen als »zweite Aufgüsse« selten an das Initialprojekt heranreichen. Offenbar hatten wir die Rechnung ohne die Beharrlichkeit unseres Springer-Teams, ohne den Verkaufserfolg von Frankenstein und Belle de Jour und vor allem ohne die Resonanz unserer Leserinnen und Leser und unseres Vortragspublikums gemacht. Wir wurden überrascht von einem überwältigenden Echo sowohl von Profis als auch von Laien. Immer wieder erhielten wir Rückmeldungen wie z. B. die einer Zuhörerin, die mithilfe von Captain Queeg aus »Die Caine war ihr Schicksal« erstmals erkannt hatte, warum ihr Ehemann nach 20 Jahren immer noch kein wirkliches Vertrauen zu ihr fassen konnte, oder eines Psychotherapeuten, dem »Iris« geholfen hat, gelassener mit seiner demenzkranken Mutter umzugehen. Erstaunt und erfreut waren wir auch über die zahlreichen Zuschriften und Hinweise, die wir über weitere psychisch kranke Helden in Spielfilmen erhielten, und ganz besonders über Kolleginnen und Kollegen, die »beim nächsten Buch unbedingt mitmachen« wollten. Schließlich waren wir so weit, dass wir uns gerne vom Springer-Verlag in den Personen von Renate Scheddin und Renate Schulz überzeugen ließen, dass ein zweites Filmbuch gemacht werden müsse. Wir folgten bei dem neuen Buch, das nun Batman und andere himmlische Kreaturen heißt, dem gleichen Konzept wie zuvor bei Frankenstein und Belle de Jour, allerdings hatte uns die Erfahrung als Herausgeberduo gelassener und milder gemacht, sodass wir unseren Autorinnen und Autoren mehr freie Hand bei der Auswahl ihrer Filme, Helden und Störungen ließen. Die Folge davon ist ein weniger homogenes und weniger enzyklopädisches Buch, einige Störungen kommen nicht vor, andere dagegen sind mehrfach vertreten. Dies hat die aus unserer Sicht interessante Konsequenz, dass man erkennen kann, wie verschieden ein und dasselbe Krankheitsbild in Erscheinung treten und erlebt werden kann und wie verschieden die Hintergründe der Störung gelagert sein können. Eine schwere Depression z. B. kann Folge einer fehlgeschlagenen Hochzeit (»Sex and the City«), einer misslungenen Integration von künstlerischer Selbstverwirklichung und Muttersein (»Persona«) oder Ausdruck von Resignation am Ende eines Berufslebens als Sheriff (»No Country for Old Men«) sein. Auch die Erscheinungsform
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Vorwort
der Störungen kann dramatisch variieren, so z. B. im Falle des Sadomasochismus. Dieser kann hinter dem Tun eines Vergewaltigers (»Der freie Wille«) oder eines Mörders (»Peeping Tom«) stehen, er kann aber auch »nur« zu einer verstrickten und quälenden Beziehung zwischen einer alternden Bewährungshelferin und ihrem jugendlichen Resozialisanden führen (»Verfolgt«). Erst im Nachhinein ist deutlich geworden, dass die Freiheit unserer Autorinnen und Autoren sehr oft zur Auswahl von Filmen geführt hat, bei denen Sexualität und Intimität mehr oder weniger im Mittelpunkt stehen. Die Bandbreite reicht vom stummen (scheinbar) beziehungslosen Sex (»Verhängnis«) über die erwähnten sadomasochistischen Formen bis hin zum sexuellem Missbrauch eines Kindes (»Pretty Baby«). Es wird von einsamem Sex allein (»Taxi Driver«) oder mit Prostituierten (»Winterreise«) berichtet und von der großen Angst vor Intimität und (nicht nur sexueller) Nähe (»Léon«,»About Schmidt«). Tennessee Williams stellt uns allen in »Endstation Sehnsucht« die Frage, wie viel »Blanche« und wie viel »Stanley« in jedem von uns stecken. Wir hoffen, dass Batman und andere himmlische Kreaturen für Sie, liebe Leserin und lieber Leser, Begleiter auf einer Reise in Ihr eigenes Inneres sein können. Es würde uns freuen, wenn unsere 30 Helden Sie in ihre Filmwelten entführen und Sie auf diese Weise dem einen oder anderen heimlichen oder unheimlichen Anteil Ihres Ichs begegnen könnten. Unser großer Dank gilt unseren Autorinnen und Autoren, die auch dieses Mal wieder mit viel Enthusiasmus so intensiv und schnell gearbeitet haben, dass Batman und andere himmlische Kreaturen zum geplanten Termin erscheinen konnte. Ganz besonders möchten wir unserem Springer-Team danken: Frau Renate Scheddin für die redaktionelle Leitung, Frau Renate Schulz für das Projektmanagement und Frau Astrid Horlacher für das Lektorat. Eine professionellere und zugleich engagiertere Zusammenarbeit ist kaum vorstellbar. Außerdem bedanken wir uns bei Frau Regine Karcher-Reiners, ohne die unser Projekt nie beim Springer-Verlag »gelandet« wäre. Last but not least gilt unser Dank den Leserinnen und Lesern von Frankenstein und Belle de Jour sowie unserem Publikum bei Vorträgen, z. B. in mehreren Vortragsreihen zu Psychoanalyse und Film, ohne deren Ermutigung es wohl kaum zu Batman und andere himmlische Kreaturen gekommen wäre. Eine Anmerkung zum Schluss: Wenn im Buch das generische Maskulinum verwendet wurde, dann nur in seiner geschlechtsneutralen Form, um die Lesbarkeit zu verbessern. Sofern die Geschlechtszugehörigkeit in den Texten von Bedeutung war, wurde selbstverständlich sprachlich differenziert. Heidi Möller und Stephan Doering Münster und Kassel, im Mai 2010
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Inhaltsverzeichnis Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (ICD-10: F0) Kapitel 1 – Ein Ich löst sich auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Mein Vater: Alzheimer-Demenz (F00) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Dirk Arenz
Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (ICD-10: F1) Kapitel 2 – Dichtung und Wahrheit – wer kennt den Unterschied? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Wer hat Angst vor Virginia Woolf?: Alkoholismus (F10.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Kornelia Steinhardt
Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (ICD-10: F2) Kapitel 3 – Gegen den Strom und kreuz und quer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Das Leben des schizophrenen Dichters Alexander März: Schizophrenie (F20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Ulrike Ruppin, Jane Spiekermann, Friedemann Pfäfflin Kapitel 4 – Geliehene Identität, um zu überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Taxi Driver: Schizotype Störung (F21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Peter Uffelmann, Jochen Breit Kapitel 5 – Himmlische Kreaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Heavenly Creatures: Induzierte wahnhafte Störung (F24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Brigitte Ziob
Affektive Störungen (ICD-10: F3) Kapitel 6 – Die eisig glühenden Regionen der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Winterreise: Bipolare affektive Störung (F31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Eva Jaeggi Kapitel 7 – Calm consideration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Sex and the City: Schwere depressive Episode (F32.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Tatjana Noemi Tömmel, Sieglinde Eva Tömmel Kapitel 8 – Call it. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 No Country for Old Men: Schwere depressive Episode (F32.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Timo Stork Kapitel 9 – Du hast dir ein totes Kind gewünscht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Persona: Schwere depressive Episode (F32.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Marianne Leuzinger-Bohleber
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Inhaltsverzeichnis
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (ICD-10: F4) Kapitel 10 – Wer sich in der Liebe verliert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Die Braut, die sich nicht traut: Soziale Phobie (F40.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Wolfgang Schmidbauer Kapitel 11 – So gut es eben geht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Besser geht´s nicht: Zwangsstörung (F42). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Simone Salzer, Eric Leibing Kapitel 12 – Heldendämmerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Batman begins & The Dark Knight: Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1). . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Ulrich Sachsse Kapitel 13 – »Hätte aber die Liebe nicht« – Zwei Formen von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Drei Farben: Blau: Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1)vs. Anpassungsstörung (F43.2) . . . . 159 Hermann Mitterhofer, Pia Andreatta Kapitel 14 – Was Menschen ertragen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Million Dollar Baby: Anpassungsstörung (F43.2). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Dirk Blothner Kapitel 15 – … alles was Du sein wolltest, bin ich ! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Fight Club: Multiple Persönlichkeitsstörung (F44.81) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Svenja Taubner, Elisabeth Pauza
Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Funktionen (ICD-10: F5) Kapitel 16 – »Damage« oder die sexuelle Besessenheit des Zuschauers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Damage: Sexuelle Besessenheit, Sexuell zwanghaftes Verhalten (F52.7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Andreas Hamburger, Vivian Pramataroff-Hamburger
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (ICD-10: F6) Kapitel 17 – Nein, ich denke, ich habe für heute genug ! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 About Schmidt: Schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Marga Löwer-Hirsch Kapitel 18 – »No women, no kids« – Eine Geschichte von der Liebe und vom Untergang . . . . . . 225 Léon: Schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1), Antisoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) . . . . . . . . 227 Thomas Ross, María Isabel Fontao Kapitel 19 – Lug und Trug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 So glücklich war ich noch nie: Antisoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Heidi Möller
IX Inhaltsverzeichnis
Kapitel 20 – Nicht anfassen – bitte nicht anfassen ! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Vier Minuten: Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (F60.30) . . . . . . . . . . . 257 Sabine Scheffler Kapitel 21– Und fänden die Liebe nicht … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Gegen die Wand: Borderline Persönlichkeitsstörung (F60.31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Beate West-Leuer Kapitel 22 – Was ich will ist – Magie ! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Endstation Sehnsucht: Histrionische Persönlichkeitsstörung (F60.4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Stephan Doering Kapitel 23 – Das radikal Böse: Die Zerstörung der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Match Point: Narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.80) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Wolfgang Tress Kapitel 24 – Gier ist gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Wall Street: Narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.80) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Mathias Lohmer, Corinna Wernz Kapitel 25 – Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich auch meinen kleinen Sohn verspielt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Die blonde Sünderin: Pathologisches Spielen (F63.0) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Jutta Menschik-Bendele Kapitel 26 – Urszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Blue Velvet: Voyeurismus (F65.3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Franziska Lamott, William Adamson Kapitel 27 – Die »Liebe« zum Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Pretty Baby: Pädophilie (F65.4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Udo Rauchfleisch Kapitel 28 – Die Ambivalenz des Bösen – Eine Einführung in die forensische Psychiatrie . . . . . . 359 Der freie Wille: Sadomasochismus (F65.5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Cornelia Mikolaiczyk Kapitel 29 – Ich gehe in ihm umher wie in einem blauen Raum und etwas in mir geht weit auf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Verfolgt: Sadomasochismus (F65.5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Andreas Hill Kapitel 30 – Aber ich musste es tun … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Peeping Tom: Sadomasochismus (F65.5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Mathias Hirsch Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
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Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis Dr. phil. William Adamson
Prof. Dr. phil. Andreas Hamburger
Zentrum für Sprachen und Philologie Universität Ulm, 89069 Ulm
[email protected]
International Psychoanalytic University Stromstraße 3, 10555 Berlin
[email protected]
Dr. rer. nat. Pia Andreatta
Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Hill
Universität Innsbruck Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung Schöpfstraße 3, 6020 Innsbruck, Österreich
[email protected]
Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Forensische Psychiatrie Rothenbaumchaussee 7, 20148 Hamburg
[email protected] Dr. med. Mathias Hirsch
Dr. med. Dirk Arenz
Abt. für klinische Psychiatrie und Psychotherapie Marien-Hospital Euskirchen Gottfried-Disse Straße 40 53879 Euskirchen
[email protected]
Simrockstraße 22, 40235 Düsseldorf
[email protected] Univ.-Prof. Dr. phil. Eva Jaeggi
Forstraße 25, 14163 Berlin
[email protected] Prof. Dr. rer. soc. Franziska Lamott
Prof. Dr. phil. Dirk Blothner
Zülpicher Straße 83, 50937 Köln
[email protected]
Sektion Forensische Psychotherapie Universität Ulm Am Hochsträß 8, 89081 Ulm
[email protected]
Dr. med. Jochen Breit
Gleichmannstraße 7, 81241 München
[email protected] Univ.-Prof. Dr. med. Stephan Doering
Bereich Psychosomatik in der Zahnheilkunde Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik Universitätsklinikum Münster Waldeyerstraße 30, 48149 Münster
[email protected] Dr. Dipl.-Psych. María Isabel Fontao
Qualitätssicherung und Prozessoptimierung im Maßregelvollzug Zentrum für Psychiatrie Reichenau Feursteinstaße 55, 78479 Reichenau
[email protected]
Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Eric Leibing
Abt. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Zentrum Psychosoziale Medizin Georg-August-Universität Göttingen Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen
[email protected] Prof. Dr. phil. Marianne LeuzingerBohleber
Sigmund-Freud-Institut Myliusstraße 20, 60323 Frankfurt am Main m.leuzinger-bohleber @sigmund-freud-institut.de Dr. phil. Dipl.-Psych. Mathias Lohmer
Feilitzschstraße 36, 80802 München
[email protected]
XI Autorenverzeichnis
Dr. phil. Marga Löwer-Hirsch
Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Simrockstraße 22, 40235 Düsseldorf
[email protected]
Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie Fakultät für Psychoanalyse Universität Basel Missionsstraße 60/62, Haus 20 4055 Basel, Schweiz
[email protected]
VR o. Univ.-Prof. MMag. Dr. Jutta Menschik-Bendele
Abt. Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse Institut für Psychologie Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Universitätsstraße 65-67 9020 Klagenfurt, Österreich
[email protected]
Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Thomas Ross
Projektmanagement Forensische Psychotherapie Zentrum für Psychiatrie Reichenau Feursteinstraße 55, 78479 Reichenau
[email protected]
Dr. med. Cornelia Mikolaiczyk
Rheingaustraße 22, 12161 Berlin
[email protected] Dr. phil. Hermann Mitterhofer
Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung Universität Innsbruck Schöpfstraße 3, 6020 Innsbruck, Österreich
[email protected] Prof. Dr. phil. Heidi Möller
Institut 3 Soziale Therapie, Supervision, Coaching, Organisationsberatung Universität Kassel Arnold-Bode-Straße 10, 34109 Kassel
[email protected] Mag. rer. nat. Elisabeth Pauza
Universität Kassel/Fachbereich 4 Arnold-Bode-Straße 10, 34109 Kassel
[email protected] Prof. Dr. med. Friedemann Pfäfflin
Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Sektion Forensische Psychotherapie Am Hochsträß 8, 89081 Ulm
[email protected] Dr. med. Vivian Pramataroff-Hamburger
Nußbaumstraße 10 80336 München
[email protected]
Dip.-Psych. Ulrike Ruppin
Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Sektion Forensische Psychotherapie Am Hochsträß 8, 89081 Ulm
[email protected] Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse
Asklepios Fachklinikum Göttingen Rosdorfer Weg 70, 37081 Göttingen
[email protected] Dipl.-Psych. Simone Salzer
Abt. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Zentrum Psychosoziale Medizin Georg-August-Universität Göttingen Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen
[email protected] Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Sabine Scheffler
Fridolinstraße 27, 50823 Köln
[email protected] Dr. phil. Dipl.-Psych. Wolfgang Schmidbauer
Ungererstraße 66, 80805 München
[email protected]
XII
Autorenverzeichnis
Dipl.-Psych. Jane Anna Spiekermann
Peter Uffelmann
Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Sektion Forensische Psychotherapie Am Hochsträß 8, 89081 Ulm
[email protected]
ComPetto - Gesundheitscoaching und Bildungsmanagement Eichelgarten 16, 86926 Greifenberg
[email protected] Dr. med. Corinna Wernz
Dr. phil. Kornelia Steinhardt
Institut für Bildungswissenschaft Universität Wien Universitätsstraße 7/6.Stock 1010 Wien, Österreich
[email protected]
Agnesstraße 16, 80798 München
[email protected] Dr. phil. Beate West-Leuer
Wehler Dorfstraße 37, 41472 Neuss
[email protected]
Dr. phil. Dipl.-Psych. Timo Storck
Dipl.-Psych. Brigitte Ziob
Fachbereich 4, Sozialwesen Institut für Soziale Therapie, Supervision und Organisationsberatung Universität Kassel Arnold-Bode-Straße 10, 34109 Kassel
[email protected]
Quirinstraße 28, 40545 Düsseldorf
[email protected]
Dr. phil. Dipl.-Psych. Svenja Taubner
Fachbereich 4, Universität Kassel Arnold-Bode-Straße 10 34109 Kassel
[email protected] Dr. phil. Dr. rer. pol. habil. Sieglinde Eva Tömmel
Hofmarkstraße 9, 82152 Planegg
[email protected] Tatjana Noemi Toemmel
Exzellenz-Cluster »Languages of Emotion« Freie Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 14195 Berlin
[email protected] Prof. Dr. med. Dr. phil. Wolfgang Tress
Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie LVR Klinikum Düsseldorf Bergische Landsraße 2 40629 Düsseldorf
[email protected]
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Über die Autoren Dr. phil. William Adamson
Studium der Anglistik und Germanistik an der Middlesex University, London und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Promotion zum Thema »Stolz und Wahnsinn« im Romanwerk Tobias Smolletts. Zurzeit Leiter des Fachbereichs Englisch am Zentrum für Sprachen und Philologie der Universität Ulm. Mehrere Jahre Vorsitzender der Raymond-Chandler-Gesellschaft Deutschland und Herausgeber des Chandler-Jahrbuches. Hält als Koleiter des Fachbereichs »Vergleichende Kulturwissenschaften« Filmseminare zu kulturwissenschaftlichen Themen. Seit fast 20 Jahren Leiter einer englischen Theatergruppe an der Universität Ulm. Dr. rer. nat. Pia Andreatta
Studium der Psychologie in Innsbruck, Promotion 2004, Universitätsassistentin am Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung der Universität Innsbruck, Klinische und Gesundheitspsychologin, Notfallpsychologin.
Dr. med. Dirk Arenz
Geboren 1961 in Bonn – Bad Godesberg. Studium der Medizin in Bonn. Arbeitstätigkeit von 1992–1993 Arzt i. P. an der Psychiatrischen Universitätsklinik Bonn (Direktor: Prof. Dr. H.-J. Möller); 1994 Psychiatrische Klinik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Direktor: Prof. Dr. A. Marneros); 1994–1995 Rheinische Landesklinik Bonn (Ltd. Arzt: Prof. Dr. T. Held); 1996 Neurologische Abteilung im Klinikum Leverkusen (Ltd. Arzt: Priv.- Doz. Dr. H. Lagrèze). Von 1997–1999 Psychiatrische Klinik der Universität zu Köln (Direktor: Prof. Dr. J. Klosterkötter) Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie seit 7.10.1998. Von 1999–2003 1. Oberarzt und Stellvertreter des Ltd. Abteilungsarztes der Abteilung Allgemeinpsychiatrie der RheinMosel-Fachklinik Andernach (Ärztl. Direktor: Dr. F. Hilgenstock). Ab 1. Juli 2003 Chefarzt der Abteilung für klinische Psychiatrie und Psychotherapie des Marien-Hospitals Euskirchen. Prof. Dr. phil. Dirk Blothner
Studium der Psychologie in Köln; 1981 Promotion bei Wilhelm Salber über den Film von Wim Wenders Der Amerikanische Freund; 1990 Habilitation in Psychologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Köln. Dort seit 1996 apl. Professor für Psychologie. Eigene psychoanalytische Praxis, seit 1999 Lehranalytiker (DGPT) für Psychoanalyse. Vorsitzender der Gesellschaft für Psychologische Morphologie e. V. (GPM). Seit Mitte der 1990er Jahre Erforschung des Zusammen-
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Über die Autoren
hangs von Filminhalten und Kulturentwicklung. Zahlreiche empirische Studien zu Film- und Fernsehwirkung. Weiterbildungsseminare für TV-Redakteure, Drehbuchautoren und Filmproduzenten. Dozent an verschiedenen Filmhochschulen. Als Consultant beteiligt an der Entwicklung vieler, auch internationaler Filmstoffe. Dr. med. Jochen Breit
Psychoanalytiker (DGPT), Facharzt für psychotherapeutische Medizin, EMDR-Therapeut (EMDRIA), Dozent an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München. Medizinstudium in Regensburg und München, Promotion 1986. Von 1982‒1991 Ausbildung in Erwachsenenpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik. Seit 1991 in eigener Praxis niedergelassen in München. Univ.-Prof. Dr. med. Stephan Doering
Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker. Medizinstudium in Göttingen, Berlin und Jerusalem, Promotion 1994, Habilitation 2002. Facharztausbildung in Münster und Innsbruck, seit 2004 Professor für Psychosomatik in der Zahnheilkunde an der WestfälischenWilhelms-Universität Münster. Dr. biol. hum. Dipl.-Psych. María Isabel Fontao
Studium der Psychologie an der Universität Buenos Aires, Argentinien (1990–1994). Lehr- und Forschungstätigkeit an der psychologischen Fakultät der Universität Buenos Aires (1994–2000). Postgraduierte Ausbildung als klinische Psychologin mit Schwerpunkt Kinder und Jugendliche (Buenos Aires; 1996–2000). Promotionsstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD; 2000–2002). Promotion an der Universität Ulm (2004). Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm (2003–2006) und seit 2008 an der Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Zentrum für Psychiatrie Reichenau. Forschungsschwerpunkte sind Psychotherapieforschung und forensische Psychologie und Psychotherapie. Prof. Dr. phil. Andreas Hamburger
Germanist und Psychologe, Professor für klinische Psychologie an der International Psychoanalytic University Berlin, Privatdozent an der Universität Kassel, Psychoanalytiker (DPG), Dozent, Lehranalytiker und Supervisor an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München. Nach Studien zu Literatur und Psychoanalyse widmet er sich mit der Münchner Arbeitsgruppe Film und Psychoanalyse in Zusammenarbeit mit dem Münchner Filmmuseum der Analyse von Spielfilmen.
XV Über die Autoren
Priv.-Doz. Dr. med. Andreas Hill
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und forensische Psychiatrie, Sexualwissenschaftler. Seit 2009 eigene Praxis für Psychotherapie (Schwerpunkt sexuelle Störungen) und Gutachten in Hamburg, Privatdozent der Universität Hamburg. Von 2000–2008 Oberarzt am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Von 2000–2007 Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung; 1996 Promotion über »Debatten über sexuelle Abstinenz in Deutschland von 1903 bis 1918«; 2007 Habilitation über »Sexuelle Tötungsdelikte«. Klinische Tätigkeit mit Patienten mit sexuellen Störungen, Gutachtertätigkeit mit Schwerpunkt auf Sexualdelinquenz. Forschungsschwerpunkte: sexuelle Tötungsdelikte, Paraphilien/ Perversionen, Persönlichkeitsstörungen, Internetpornografie, forensische Kriminalprognosen. Dr. med. Mathias Hirsch
Jahrgang 1942, Facharzt für Psychiatrie und Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DGPT, affiliiertes Mitglied DPV), Gruppenanalytiker (DAGG, Sektion AG). Ehrenmitglied des Psychoanalytischen Seminars Vorarlberg (Zweig des Psychoanalytischen Arbeitskreises Innsbruck). In psychoanalytischer Praxis in Düsseldorf niedergelassen. Forschungsschwerpunkte: sexueller Missbrauch in der Familie, psychoanalytische Traumatologie, Psychoanalyse des Körpers, kulturpsychologische Themen. Univ.-Prof. Dr. phil. Eva Jaeggi
Studium der Psychologie, Philosophie und Geschichte in Wien. Promotion 1957, Habilitation 1978. Professorin für klinische Psychologie 1978−1999 an der TU Berlin. Verhaltenstherapeutin und Psychoanalytikerin. Zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich »Psychotherapie« sowie »Moderne Lebensformen«. Prof. Dr. rer. soc. Franziska Lamott
Studium der Soziologie und Psychologie. Mehrjährige Tätigkeit am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität München. Weiterbildung zur Gruppenanalytikerin. Venia legendi für Sozialpsychologie. Gastprofessur für »Gender-Studies« an der Universität Basel. Seit 1999 an der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm. Zusammen mit Friedemann Pfäfflin mehrjähriges Filmseminar zum Thema »Psycho, Sex and Crime«. 2005 für ARTE Dokumentarfilm »Tödliche Beziehungen« (mit Michael Appel). Forschungsprojekte und Publikationen in den Bereichen: Kriminologie, Psychotherapie- und Genderforschung, Gruppen- und Kulturanalyse.
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Über die Autoren
Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Eric Leibing
Klinischer Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut. Studium der Psychologie, Pädagogik und Medizin in Göttingen. Promotion 1992, Habilitation 2002, Venia Legendi für medizinische Psychologie und Psychotherapie, seit 2006 außerplanmäßiger Professor an der Georg-August-Universität Göttingen. Seit 1996 Leitender Psychologe der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen. Prof. Dr. phil. Marianne Leuzinger-Bohleber
Seit 2002 Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt am Main; seit 1988 Professorin für psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel; Direktorin des Instituts für Psychoanalyse der Fachbereiche 01 und 04 der Universität Kassel; 2001–2009 Vorsitz des »Research Subcommittees for Conceptual Research der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung« (IPV(IPA). Seit 2010 Vice Chair des Research Boards der »International Psychoanalytical Association«; Visiting Professor am University College London; Mitglied der »Action Group« der »Society for Neuropsychoanalysis«; Lehranalytikerin der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse; »The Psychoanalytic Research Exceptional Contribution Award« der IPA 2001; Forschungsgebiete: klinische und empirische Forschung in der Psychoanalyse, psychoanalytische Entwicklungspsychologie und Frühprävention, Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog. Dr. phil. Dipl.-Psych. Mathias Lohmer
Psychoanalytiker (DPV, IPA; DGPT). Studium der Psychologie, Stipendiat des DAAD in New York, USA. Langjährige Arbeit in der stationären Psychotherapie sowie am Institut für Psychosomatische Medizin der TU München. Psychotherapeut und Supervisor in eigener Praxis. Organisationsberater (IPOM). Mitglied der Gruppe »Film und Psychoanalyse München«. Dr. phil. Marga Löwer-Hirsch
Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin (DGSv), Senior Coach (DBVC), Leiterin des Instituts für Analytische Supervision an der Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf.
VR o. Univ.-Prof. MMag. Dr. Jutta Menschik-Bendele
Diplomstudium der Psychologie und der Politologie an der Freien Universität Berlin, Promotion und Habilitation im Fach Psychologie. 1984 Berufung als o. Univ.-Professorin an die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Dort Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse am Institut für Psychologie. Psychoanalytikerin, systemische Familientherapeutin und Supervisorin.
XVII Über die Autoren
Dr. med. Cornelia Mikolaiczyk
Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Schwerpunkt forensische Psychiatrie, Psychoanalytikerin (DPG), Dozentin am Institut für Psychotherapie e. V. Berlin, Medizinstudium in Homburg (Saar) und Berlin, Promotion 1992; seit 2002 in eigener Praxis in Berlin als Psychoanalytikerin und Gutachterin tätig, Behandlungsschwerpunkte: Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, Frühstörungen.
Dr. phil. Hermann Mitterhofer
Seit 2006 Universitätsassistent am Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung der Universität Innsbruck, Studium der Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck, Promotion 1999, Supervisor und Coach.
Prof. Dr. phil. Heidi Möller
Studium der Psychologie, Philosophie und Soziologie, Universität Münster und Bochum. Promotion 1994, Habilitation 2000, TU Berlin Klinische Psychologie, 2002−2007 Universität Innsbruck, Dekanin der Fakultät für Bildungswissenschaften. Seit 2007 Universität Kassel »Theorie und Methodik der Beratung«.
Mag. rer. nat. Elisabeth Pauza
Diplomstudium Psychologie an der Universität Innsbruck, laufende Dissertation an der Universität Kassel zum Thema: Beziehungsgestaltung während psychotherapeutischer Ausbildung, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel, psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung (Verhaltenstherapie).
Prof. Dr. med. Friedemann Pfäfflin
Facharzt für Psychiatrie, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse. Leiter der Sektion Forensische Psychotherapie, Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universität Ulm. Von 1978−1992 an der Abteilung für Sexualforschung des Universitätskrankenhauses Hamburg Eppendorf.
Dr. med. Vivian Pramataroff-Hamburger
Frauenärztin, Psychotherapie, Sexualmedizin. Mitglied der Münchner Arbeitsgruppe Film und Psychoanalyse in Zusammenarbeit mit der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie und dem Münchner Filmmuseum. Kuratorin des »1. International Bulgarian Festival Film and Psychoanalysis – Apollonia 2010«, Sozopol, Bulgarien.
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Über die Autoren
Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Jahrgang 1942; Professor emer. für klinische Psychologie Universität Basel. Psychologiestudium an den Universitäten Kiel und Lubumbashi (Kongo). Studienabschluss 1966 in Kiel, Promotion 1970. 1970−1999 klinischer Psychologe an der Psychiatrischen Universitätspoliklinik im Universitätsspital Basel, Habilitation 1978 an der Universität Basel (Venia: Klinische Psychologie). Psychoanalytische Ausbildung am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Freiburg i. Br. (DPG, DGPT). Seit 1999 Psychotherapeut in privater Praxis. Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Thomas Ross
Jahrgang 1969, Studium der Psychologie an den Universitäten Freiburg i. Br. und Edinburgh, Schottland: Promotion 2000 (Dr. biol. hum.) am Universitätsklinikum Ulm. Habilitation 2009 im Fach forensische Psychotherapie, Universität Ulm. Seit 1997 Forschungstätigkeit im Bereich der forensischen Psychotherapie. Arbeitsschwerpunkte: Prozessoptimierung und Qualitätssicherung im Maßregelvollzug; lebenspraktische Fertigkeiten und riskantes Sozialverhalten von psychisch kranken Rechtsbrechern; Selbstregulation und Selbstkontrolle von Straftätern; Straffälligkeit und Migration; forensische Psychotherapieprozess und -ergebnisforschung. Dip.-Psych. Ulrike Ruppin
Studium der Psychologie (Diplom) in Jena und Warschau, seit Oktober 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm.
Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse
Jahrgang 1949. Von 1968–1974 Studium der Medizin an der GeorgAugust-Universität Göttingen. 1980 Promotion bei Prof. Dr. Hanscarl Leuner in Göttingen über Gruppentherapie mit der Katathym-Imaginativen Psychotherapie KIP (damals Katathymes Bilderleben KB). Arzt für Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie; Psychoanalyse; Psychotraumatherapie (DeGPT). Medizinaldirektor, wissenschaftlicher Berater des Asklepios Fachklinikum Göttingen. Honorarprofessor der Universität Kassel. Preis der Dr. Margrit EgnerStiftung an der Universität Zürich 2004 für seine Leistungen im Feld der Psychotraumatologie. Hamburger Preis Persönlichkeitsstörungen 2006. Dipl.-Psych. Simone Salzer
Psychotherapeutin in Ausbildung am Lou-Andreas-Salomé-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie. Studium der Psychologie in Göttingen. Seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Göttingen.
XIX Über die Autoren
Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Sabine Scheffler
Jahrgang 1943, Professorin für Sozialpsychologie und Methoden, FH Köln, Leiterin Institut für Geschlechterstudien, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften (emer.); Gastprofessorin für Frauen und Geschlechterforschung, Psychologisches Institut der Universität Wien 1991–1997; Lektorin und Gastprofessorin an der Universität Innsbruck 1991–2008; approbierte Psychotherapeutin; Supervisorin (DGSv), personenzentrierte Gesprächspsychotherapie (GwG), Gestalttherapie (in den USA: Erv und Miriam Polster; Deutschland: FPI), Arbeitsschwerpunkte: Geschlecht und Lebenslage, Gesundheitsforschung, Gewalt im Geschlechterverhältnis. Dr. phil. Dipl.-Psych. Wolfgang Schmidbauer
Jahrgang 1941; 1966 Promotion im Fach Psychologie an der LudwigMaximilians-Universität München über »Mythos und Psychologie«; lebt in München und Diessen am Ammersee und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Autor von Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, und Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik. Dipl.-Psych. Jane Anna Spiekermann
Studium der Psychologie (Diplom) in Bremen, klinische Tätigkeiten in Bremen, London und Isny, Ausbildungskandidatin zur psychologischen Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin bei der DPV in Ulm, seit Oktober 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm.
Dr. phil. Kornelia Steinhardt
Studium der Pädagogik, Psychologie und Sonder- und Heilpädagogik, Psychoanalytikerin und Gruppenanalytikerin, Coach und Supervisorin, Mitarbeiterin an der Universität Wien am Institut für Bildungswissenschaft, Forschungsbereich Psychoanalytische Pädagogik.
Dr. phil. Dipl.-Psych. Timo Storck
Jahrgang 1980, Studium der Psychologie, Philosophie und Religionswissenschaft an der Universität Bremen. Promotion mit einer Arbeit zur psychoanalytischen Theorie künstlerischer Produktion (2009). Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel sowie Stationspsychologe in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums Kassel. In Weiterbildung zum psychologischen Psychotherapeuten und Psychoanalytiker (DPV), Mitglied der Hochschul- und Forschungskommission der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Sportpsychologischer Berater des Bremer
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Über die Autoren
Badmintonverbandes. Forschungsschwerpunkte: psychoanalytische Konzeptforschung, Epistemologie und Methodologie; psychoanalytische Theorie der Kunst; Symbolisierungsstörungen und stationäre Psychotherapie. Dr. phil. Dipl.-Psych. Svenja Taubner
Psychoanalytikerin in fortgeschrittener Ausbildung (DGPT), Mediatorin im Strafrecht, Psychologiestudium in Bremen, Promotion 2007, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universitäten Bremen und Ulm, aktuell Habilitandin am Lehrstuhl Methodik und Theorie der Beratung von Prof. Möller, Universität Kassel.
Dr. phil. Dr. rer. pol. habil. Sieglinde Eva Tömmel
Soziologin; Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Dozentin, Lehr- und Kontrollanalytikerin der MAP, DGPT und der Ärztlichen Akademie für die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Entwicklung und Geschichte der Psychoanalyse, zur Kulturpsychoanalyse und zu Problemen der Migration.
Tatjana Noemi Toemmel
Studium der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie in München, Berlin und Paris. Promotion über den Liebesbegriff bei Hannah Arendt und Martin Heidegger im Rahmen des Exzellenz-Clusters »Languages of Emotion« an der Freien Universität Berlin. Zurzeit forscht sie für ihre Dissertation an der der Universität Yale. Prof. Dr. med. Dr. phil. Wolfgang Tress
Jahrgang 1948; Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Dipl.-Psych., Psychoanalytiker, Ärztlicher Direktor, Klinisches Institut und Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Ehrenvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM). Peter Uffelmann
Jahrgang 1954, Studium der Germanistik, Sportwissenschaft und Pädagogik, Studium Supervision, Organisationsentwicklung und Coaching. Integrative Therapie, Lehrtherapeut und Lehrsupervisor an der Europäischen Akademie für Psychosoziale Gesundheit in Hückeswagen, seit 1998 interne Schulentwicklung durch externe Beratung (ISEB), Institut für Schulqualität und Bildungsforschung Bayerisches Kultusministerium, seit 2005 pädagogische Geschäftsführung der gemeinnützigen Schul-GmbH, Aktion Sonnenschein, Seit Februar 2006 Projektleitung »Coaching für Schulleitungen« im Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung, Buchautor.
XXI Über die Autoren
Dr. med. Corinna Wernz
Fachärztin für psychosomatische Medizin, Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Studium der Medizin, Germanistik und Philosophie. Langjährige Arbeit in der stationären Psychotherapie und Psychiatrie sowie am Institut für Psychosomatische Medizin der TU München. Dozentin der Akademie für Psychoanalyse München. Mitglied der Gruppe »Film und Psychoanalyse München« Dr. phil. Beate West-Leuer
Jahrgang 1951, psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin (DGSv), Senior Coach (DBVC), Lehrbeauftragte der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf, Institutsleitung des Instituts Psychodynamische Organisationsentwicklung und Personalmanagement Düsseldorf e. V., Vorstandsmitglied der Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf e. V..Forschungsschwerpunkte: psychodynamische Beratung, Psychoanalyse und Film. Dipl.-Psych. Brigitte Ziob
Diplomstudium der Psychologie an der Universität Köln, Psychoanalytikerin (DPV/IPV). Arbeitet in eigener Praxis in Düsseldorf. Dozentin in der psychotherapeutischen Weiterbildung, Supervisorin und Lehrtherapeutin. Veröffentlichungen zu aktuellen kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen, psychoanalytische Filmbetrachtungen; Mitherausgeberin »Trauma und Film«.
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Dirk Arenz
Ein Ich löst sich auf Alzheimer-Demenz (ICD-10: F00) Alzheimer-Demenz – eine Diagnose, die erschüttert . . . . . . . . . . . .5 Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .5 Der Charakter der Hauptfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 Symptome der Erkrankung und Diagnose nach ICD-10. . . . . . . . 10 Ein paar Worte zu Alois Alzheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Deutung des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
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Mein Vater Richard Esser (Götz George)
Alzheimer-Demenz – eine Diagnose, die erschüttert Wohl kaum eine Erkrankung löst bei älteren Menschen so viel Besorgnis und Ängste aus, wie die Alzheimer-Demenz. »Habe ich Alzheimer?« Diese Frage begegnet dem Therapeuten häufig in Visiten und Sprechstunden. Meist sind es allerdings gesunde Menschen in schwierigen Lebenssituationen oder depressive Patienten, deren Denken von allerlei Sorgen beherrscht wird, sodass sie sich nur auf wenige andere Dinge als die Krankheitsbefürchtungen konzentrieren können. Menschen, die tatsächlich an einer Demenz erkranken, sind oft mehr mit der Aufgabe beschäftigt, sich selbst und die Alltagsbewältigung vor dem Auseinanderfallen zu bewahren, als Ängste vor einer Erkrankung zu thematisieren. Die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz ist eine Tragödie sowohl für den betroffenen Menschen als auch für dessen Angehörige. Oft besteht das Gefühl, dass besonders nahe Angehörige unter der Erkrankung noch mehr leiden, als der Patient selbst, zumindest wenn er das Stadium der Demenz erreicht hat, in dem der Betroffene seine Defizite und das Nachlassen seiner geistigen Fähigkeiten nicht mehr bewusst wahrnimmt. Dennoch ist in der Bewertung des Schweregrades von »Leid« natürlich Vorsicht geboten: Wer von uns hat ihn schließlich schon beschritten, den Weg in die Demenz, der bis zur Auflösung des Individuums, des vermeintlich »Unteilbaren« führt. Der Film Mein Vater mit Götz George in der Rolle des dementen Busfahrers Richard Esser führt uns auf eine beklemmende Reise in die Welt der Alzheimer-Demenz. Sowohl die Perspektive des von der Erkrankung betroffenen Vaters durch Götz George, als auch diejenige der Angehörigen wird eindrucksvoll durch Klaus J. Behrend (Sohn), Ulrike Krumbiegel (Schwiegertochter) und Sergej Moya (Enkel) dargestellt. Mein Vater – soviel sei vorweg verraten, ist ein Film, der unter die Haut geht und den Zuschauer emotional fordert.
Die Handlung Irgendwo in der Region Duisburg am Rhein: Die junge Familie Esser schmiedet Zukunftspläne. Jochen ist Stahlkocher im Stahlwerk, ein Arbeiter mit einem schweißtreibenden Job. Anja, seine Frau, ist in einem Kunstmuseum angestellt. Der ca. 13-jährige Sohn geht zur Schule. Der Familie geht es gut und sie baut sich ein Eigenheim. Wie es sich für den Arbeiter Jochen gehört, packt er fleißig an. Aber auch Richard, der Vater und Busfahrer, steht der Familie anpackend zu Seite. Das Haus wird schließlich fertiggestellt und letzte Arbeiten sind noch zu erledigen. Da kündigt sich das Unheil in Form von Richards vorzeitiger Berentung an. Klar ist, dass es nicht Richards Entscheidung war, seinen Ruhestand vorzuziehen. Richard war in der letzten Zeit unkonzentriert, machte Fehler. Er ließ Bushaltestellen aus, fuhr vielleicht auch nicht die vorgeschriebene Route oder hielt die Fahrpläne nicht korrekt ein – ganz gegen seine Gewohnheit. Denn Richard ist eigentlich präzise wie ein Uhrwerk, hyperkorrekt und dominant, ein anankastischer Charakter. Eine besondere Liebe hat er: Richard ist ein leidenschaftlicher Opernfan. Und noch einen Charakterzug findet man bei Richard: Er strotzt vor Vitalität. – In diesem Aspekt spielt Götz George sich selbst. – Die Busfahrer feiern Richard bei seinem Abschied dennoch als ihren »besten Mann«. Die Vitalität lässt Richard nicht unbedingt zur Freude der jungen Familie dominant Hand am Hausbau anlegen. Doch die beginnende Demenz veranlasst ihn, auch hier Fehler machen: Richard tapeziert quer statt längs. Es kommt zum Streit mit seinem Sohn und Richard verlässt das Haus. Unbestimmte
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Ein Ich löst sich auf
. Abb. 1 Richard, der Busfahrer, ist orientierungslos, sein Sohn Jochen kommt und bringt ihn nach Hause. Szene mit Klaus J. Behrend, Götz George und Ulrike Krumbiegel, Quelle: Cinetext
Zeit später – Jochen ist auf der Arbeit – erreicht ihn ein Anruf der Stadtwerke. Richard ist zur Arbeit erschienen, sitzt im Bus und will losfahren. Erst jetzt erfährt der Sohn von der Berentung seines Vaters, der sich schämte, ihm dieses Ereignis mitzuteilen. Richard, der Busfahrer, ist orientierungslos. Erstmals scheint er seine Defizite zu begreifen, denn er ist ratlos, weiß nicht einmal, wie er nach Hause kommen soll. Richard hat vollständig die Orientierung verloren. Jochen kommt und bringt ihn nach Hause (. Abb. 1). Die ehemals akkurate Wohnung Richards ist in einem desolaten Zustand. Ein für den Verlauf der Erkrankung aufschlussreiches Detail ist, dass Richard die Alltagsdinge durcheinanderbringt. So lagert er Zeitungen im Kühlschrank – dies mag ein mögliches realistisches Symptom sein. Auch dass Richard dies bagatellisiert, ist ein bei der Alzheimer-Demenz bekanntes Phänomen. Seine Begründung aber: »Damit die Nachrichten frisch bleiben.« ist eher dem Amüsement des Publikums geschuldet. Richard bagatellisiert seinen Blackout mit einem »Schwächeanfall«. Es ist zunächst Richards Schwiegertochter Anja, die den Vorschlag macht, den Vater in die Familie zu holen, während Jochen skeptisch ist, da sich der dominante Richard früher immer in alle Familienangelegenheiten eingemischt habe und der Sohn das drohende Unheil ahnt. Richards Demenz nimmt unterdessen seinen Verlauf. In seiner Stammkneipe ist er desorientiert, er fällt und kommt nur mit Mühe nach Hause. In der nächsten Szene irrt Richard durch die Stadt, er nimmt Gesprächsfetzen auf, die Handkameraperspektive und eine archaisch-bedrohliche Didgeridoo-Musik unterstreichen eindrücklich das Zerreißen der subjektiven Sinnkontinuität. Es kommt zu einem Unfall, als Richard auf die Straße läuft und er wird ins Krankenhaus gebracht. Hier kommt es zu einer beklemmenden Schlüsselszene: Ein junger Assistenzarzt führt eine Demenzprüfung bei Richard durch. In einem kalten Raum und einem riesigen Tisch, der eine abgrundtiefe Distanz verkörpert, wird Richard in seiner Orientierungslosigkeit gnadenlos im Beisein seiner Familie »vorgeführt«. Jedem Diagnostiker geläufige Fragen aus dem »Minimental-Status-Test« führen Richard seine hoffnungslose Lage demütigend vor Augen, auch wenn er gelegentlich versucht,
5 Mein Vater – Richard Esser (Götz George)
sich durch bagatellisierend witzige Antworten aus der Affaire zu ziehen. Distanziert teilt der Arzt der Familie – nicht Richard – die Diagnose der »Alzheimer-Demenz« mit. Jochen und Anja beschließen schließlich nach langer Diskussion, Richard zu sich nach Hause aufzunehmen – ein folgenschwerer Entschluss, wie der Zuschauer angesichts der fortschreitenden Erkrankung und des sthenischen Charakters des Protagonisten ahnt. Richard scheint auch die Schwere seines Zustandes zu spüren: »Ich kann nicht mehr alleine leben?« Und er fragt nach Inge, seiner seit Jahren verstorbenen Frau. Doch es gibt auch lichte Momente, z. B. als er mit Oliver, seinem Enkel, auf dem Motorrad durch die Gegend braust – selbstredend ohne Helm und in der Haltung recht unkonventionell, wie auf dem Cover des Films zu sehen ist. Die befreienden Momente schieren Glücks sind jedoch Ausnahmen. Nachts irrt Richard durch das Haus. Auch sucht er sein Geld, das er verlegt hat und beschuldigt Anja, es gestohlen zu haben. Dies ist ein Symptom der Demenz, das nicht wenige Angehörige aus eigener Erfahrung kennen dürften. Eine weitere Schlüsselszene des Films ist der Besuch der Dame vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), die eine Pflegeeinstufung vornimmt. Obwohl Richard versucht, sich von seiner besten Seite zu zeigen, kommt es rasch zu entwürdigen Fragen, wie z. B.: »Kann er sich allein die Hose aufknöpfen und zur Toilette gehen?« Doch Richard gibt sein Autonomiebestreben nicht auf und fügt sich nicht in die Rolle eines pflegebedürftigen Demenzkranken. Er sucht seine alte Stammkneipe auf und bringt Karin, der Dame hinter dem Tresen, in die er sich verliebt hat, Blumen mit. Karin erwidert seine Sympathie, obwohl sie von Jochen über seinen Zustand aufgeklärt wird. Dennoch nimmt die Dramatik der Erkrankung und der Spielfilmhandlung zu: Richard, der sich wieder im Arbeitsleben wähnt oder zumindest die Strukturen seines alten Arbeitslebens zurücksehnt, entwendet im Depot der Stadtwerke seinen alten Bus und fährt durch die Stadt. Erneut wird die Szene durch die schwankende Kameraführung und die archaische australische »Buschmusik« untermalt. Die Realität verschwimmt. Im Gesicht Richards spiegelt sich Verzweiflung und er scheint entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, indem er den Bus dem nahen Rhein zusteuert. Doch er scheut vor der letzten Konsequenz und stoppt den Bus wenige Meter vor den Fluten. Im Weiteren wird Richards Verhalten zunehmend inadäquater und in der Familie dreht sich mittlerweile alles um seine Versorgung und Aufsicht. Anja kündigt ihre Arbeitsstelle, obwohl die Familie auf das Geld angewiesen ist. Richard beginnt nun, einzunässen und es kommt zu Konflikten mit seinem Enkel Oliver, der den »Gestank« des Großvaters bemängelt. Jochen muss seinen Vater baden: »Weißt Du, dass ich ihn noch nie nackt gesehen habe?« Richard erkennt sich schließlich nicht mehr im Spiegel. Eine tragikomische Szene beginnt, als die Schwiegermutter von Jochen zu Besuch kommt. Richard spielt zunächst ganz den Galanten und bezirzt die Dame, um ihr aber urplötzlich zu sagen, dass er sie für wesentlich älter gehalten hätte und er sich nicht wundere, dass sie keinen Mann habe. Die Stimmung kippt und die Schwiegermutter beklagt sich bei ihrer Tochter Anja, dass sich alles um Richard drehe und dass sich niemand um sie kümmere. Der Druck auf die Tochter nimmt zu. Ein normales Familienleben stirbt. Der Vater kommt nachts ins Bett des jungen Ehepaares und vereitelt jede Intimität zwischen den Partnern. Auch Oliver verwildert zusehens, er hängt nur noch vor dem PC, schwänzt die Schule, wird aggressiv und stiehlt sogar Opas Geld. Anja ist überfordert, überlässt ihren Platz im Ehebett dem schutzsuchenden Richard und zieht ins Zimmer von Oliver. So wird die ganze Familie gesprengt und alle sind hoffnungslos überfordert. Jochen bekommt Ärger auf der Arbeit, weil er vor Erschöpfung einschläft. Versuche von Jochen und Anja, ihre Freiräume zu verteidigen, scheitern. Ein Versuch von beiden, auszugehen, wird durch einen Streit zwischen Richard und Oliver vereitelt. Oliver schreit, dass er den Opa hasse. Der Fortgang der Katastrophe wird nur durch einen kurzen Hoffnungsschimmer unterbrochen: Karin, die Dame hinter dem Tresen, kommt zu Besuch und man wagt einen Spaziergang zu einem Lokal. Musik ist von innen zu hören, Richard öffnet die Türe und durch die Musik animiert, beginnt er auf der Terrasse zu tanzen. Seine Vitalität steckt die anderen an und die Stimmung wird ausgelassen. In den folgenden Tagen kümmert sich Karin rührend um Richard, während Jochen und Anja sogar Freiräume finden, um miteinander nach langer Zeit zu schlafen – im Auto, weit weg von zu Hause und Richard. Die vermeintliche konspirative Idylle endet
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Ein Ich löst sich auf
jedoch jäh, als das Paar nach Hause kommt: Richard schlägt auf Karin ein, die er wohl zeitweise für seine verstorbene Frau gehalten und seinen Irrtum bemerkt hatte. Karin verlässt das Haus und trennt sich schweren Herzens von Richard. Denn auch sie ist einsam:
R »Da wo er jetzt hingeht, da kann ich nicht mitgehen, das halte ich nicht aus.« Zu allem Unglück gibt es schlechte Neuigkeiten vom MDK, der einen Antrag auf Höherstufung ablehnt. Auch dies ist eine für pflegende Angehörige oft bekannte Tatsache. Anja ist die erste, die aus dem gescheiterten System der familiären Pflege des demenzkranken Angehörigen aussteigt, indem sie Jochen ihren Entschluss mitteilt, wieder arbeiten zu wollen. Sie teilt Jochen klipp und klar mit, dass sie Richard nicht pflegen wird. Eines Nachts, als Richard wieder an der verschlossenen Türe rappelt, spricht sie aus, was womöglich schon mancher Familienangehöriger eines dementen Angehörigen mit schlechtem Gewissen dachte: »Manchmal wünsche ich, er wäre tot.« Jochen, der sich von der Arbeit unbezahlten Urlaub nahm, schließt Richard nun zunehmend ein, hat aber ein schlechtes Gewissen dabei. Richard spricht die Wahrheit aus, indem er erkennt:
R »Es ist das Ding in meinem Kopf. Das geht nur weg, wenn ich tot bin.« Er wird nun zunehmend paranoid, bekommt Angst vor seinem Spiegelbild, das er als eine fremde Person verkennt. Als es erneut zu einem Streit mit Oliver kommt, in dessen Verlauf Richard seinen Enkel beißt und Anja in völliger Überforderung dekompensiert, entschließt sich Jochen, seinen Vater einem Altenheim anzuvertrauen. Die Szene im Altenheim beinhaltet trostlose Zimmer mit dahinvegetierenden, halbtoten alten Menschen. Die Heimleiterin gibt Jochen den – aus der Sicht der Zuschauer herzlosen – Rat, sich von Richard am besten gar nicht zu verabschieden. Es kommt dennoch zu einem tiefen Blickkontakt zwischen Richard und Jochen, der die ganze Tragik der Erkrankung und Situation widerspiegelt. Zu Hause erkennt Jochen, dass die Familie sich tief entfremdet hat und die Situation auch nach der Übersiedlung Richards ins Altenheim außer Kontrolle ist. Oliver und ein Freund haben sich die Windeln von Richard angezogen und hüpfen zu Heavy-Metal-Rockmusik auf Matratzen herum. Jochen ist die Kontrolle über seinen Sohn völlig entglitten. Während Oliver in blinder Wut Sachen zerstört, grenzt sich Anja weiter ab in dem Bestreben, ihre Autonomie wieder zu gewinnen. Nachdem Oliver sich wieder beruhigt hat, redet Jochen mit ihm und es scheint, dass der Enkel etwas Verständnis für Richard und seine Erkrankung aufbringt. Jochen erkennt, dass Richard ihn braucht. So kann er es nicht ertragen, dass Richard im Altenheim abgeschoben ist und er holt ihn zum Entsetzen von Anja wieder heim. Die Situation eskaliert weiter, als Richard in seiner nun weit fortgeschrittenen Verwirrung die Vorhänge im Haus anzündet. Zwar kann das Feuer gelöscht werden, das Haus bietet jedoch mittlerweile ein Bild der Verwüstung. Nun ist es Anja endgültig zu viel. Sie verlässt die Familie und zieht – Ironie der Duplizität der Ereignisse – zu ihrer triumphierenden Mutter. Nachdem zunächst Oliver noch bei Jochen und Richard geblieben war, geht auch er schließlich zu seiner Mutter. Nun sind Jochen und Richard allein im Haus. Jochen füttert seinen Vater, der mit einem Plastiküberzug vor zu viel Verschmutzung geschützt ist, sagt ihm, wann er schlucken muss und kümmert sich um seine basale Pflege. In der Nacht hört der schlaflose Jochen, wie Richard immer wieder an der verschlossenen Haustür rappelt und er fasst den Entschluss, dem Willen des Vaters nachzugeben und ihm die Türe zu öffnen. Richard geht in seiner alten Busfahrerkluft und einem Aktenkoffer langsam in die Nacht. Jochen lässt ihn ziehen, sieht ihm nach. Richard geht weiter und kommt zur Schnellstraße, wo ein gewaltiger Verkehr tost. Scheinwerfer blenden, Richard geht weiter, auf den Verkehr zu. Die archaische Musik unterstreicht die Szene. Hier geht es um den Menschen in seiner Ursprünglichkeit. Das Bild verschwimmt, Richard geht weiter, der Verkehr scheint durch ihn hindurchzufließen, bis sich die gesamte Szenerie langsam auflöst.
7 Mein Vater – Richard Esser (Götz George)
Der Charakter der Hauptfigur Richard erkrankt an einer Alzheimer-Demenz. In dem Film begegnet uns Richard als ein dominanter und sehr vitaler Mensch. Er ist korrekt, vielleicht sogar etwas anankastisch und er liebt Opern. Er weiß, wo es im Leben langgeht. Auch als Busfahrer führt er Menschen und scheut sich nicht, sich gelegentlich mit jugendlichen Flegeln anzulegen und ihnen Manieren oder sogar die Liebe zur Opernmusik zu vermitteln. Beim Hausbau seines Sohnes und dessen Frau legt er selbst mit Hand an. Richards Dominanz ist für seinen Sohn fast schon erdrückend, der ihn als egozentrisch und tyrannisch in Erinnerung hat. So ist es also aus der Beschreibung unschwer zu erkennen, dass diese Rolle dem Schauspieler Götz George wie auf den Leib geschnitten ist. Richard ist dabei eine Art verbürgerlichter Schimanski – um es vielleicht etwas despektierlich auszudrücken. Auf jeden Fall ist diese Figur nicht geschaffen, um still und unscheinbar in der Demenz zu versinken und sich ihrem Schicksal kampflos zu ergeben. Tatsächlich sind es ja oft diejenigen Demenzkranken, die früh (Richard ist 62 Jahre) und in voller Vitalität stehend erkranken, deren Krankheitsverlauf besonders tragisch ist. Charakterzüge wie Rechthaberei und querulatorisches Verhalten können sich verstärken. Dabei ist Richard kein schwächliches Männlein, sondern – Götz George eben – ein gut gebauter Athlet, was die Pflege natürlich erheblich erschwert. Richard selbst hat lichte Momente, in denen er tragisch seinen eigenen Verfall erkennt. Er merkt, dass diese Erkrankung nur mit seinem Tod enden kann. Er lehnt sich auf, versucht sogar einen Suizid, schreckt jedoch im letzten Moment davor zurück. Ganz zum Schluss, da will er noch einmal raus in die Welt, die für ihn zur Wildnis, zum Dschungel geworden ist. Er will noch einmal hinaus in die Stadt, die nicht mehr die Seinige ist. Aber da ist das Funkeln in seinen Augen, die Neugier auf diese Welt und er geht hinaus, lässt sich von ihr verschlucken und auflösen. Fast ebenso wichtig wie die Perspektive Richards ist auch die Perspektive der Angehörigen. Diese schwanken zwischen Fürsorge und Autonomiebestreben. Besonders für den Sohn Jochen ist die zunehmende Auflösung Richards in der Erkrankung ein Problem. Jochen hatte seinen Vater immer als groß, stark und dominant erlebt und er ist nun Zeuge des Niederganges dieses ehemals als so mächtig erlebten Mannes. Diese Perspektive erinnert an Kafkas Erzählung Das Urteil, wo das Vaterbild zwischen klein und harmlos und groß und übermächtig wechselt. Jochen entscheidet sich nach inneren Kämpfen für die Pflege seines Vaters, wobei es zu einer starken emotionalen Annäherung kommt. Wahrscheinlich begreift Jochen den Vater erstmals überhaupt, seit er dement ist. Der Preis ist aber die Auflösung der Restfamilie. Anja ist komplett überfordert und kehrt zu ihrer Mutter zurück. Sie erfüllt damit den Anspruch ihrer Mutter nach eigener Zuwendung und sie »unterwirft« sich somit ihrer Mutter. Während Jochen sich bewusst für die Pflege seines Vaters entscheidet, flieht Anja aus hilfloser Überforderung zur triumphierenden Mutter, weg von den Männern. Während Jochens Vater hilflos und auf Pflege angewiesen ist, so ist dies Anjas Mutter nicht. Richards Enkel Oliver kommt als Kind dabei völlig unter die Räder. Die Erwachsenen sind komplett mit sich beschäftigt, sodass für Oliver keine Zuwendung mehr übrig bleibt. Die Konsequenz ist seine weitgehende »Verwilderung«. Er hängt vor dem PC, schwänzt die Schule und klaut Opas Geld, um sich davon PC-Ballerspiele zu kaufen. Erst nachdem sein Vater ein langes Gespräch mit ihm führte, scheint sich seine Situation zu verbessern. Irgendwie sind sie alle Opfer: Richard wird Opfer der Demenz, die Angehörigen Opfer der Versuche, was vor Jahrzehnten noch selbstverständlich war: Einen kranken Angehörigen zu pflegen. So sind es nicht zuletzt auch die modernen Lebensverhältnisse, die uns die Form einer aufopferungsvollen Pflege eines Angehörigen nicht mehr ermöglichen.
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Ein Ich löst sich auf
. Abb. 2 Wie ein Kind freut sich Richard (Götz George) über die ersten Schneeflocken. Der seelische wie körperliche Zustand des unter Alzheimer leidenden Mannes hat sich extrem verschlechtert.– Szene mit Götz George, ARD/WDR Mein Vater Fernsehfilm Deutschland 2002, Regie Andreas Kleinert, Buch Karl-Heinz Käfer, © WDR
Symptome der Erkrankung und Diagnose nach ICD-10 Eine Demenz äußert sich nach den Kriterien der ICD-10 (WHO 2005) durch eine Abnahme der intellektuellen Leistungsfähigkeit und einer Störung der persönlichen Aktivitäten des täglichen Lebens, wie Waschen, Ankleiden, Essen, Hygiene, Körperausscheidungen etc. Bei der Alzheimer-Demenz (F00), deren Verlauf bis heute als irreversibel gelten muss, kommen weitere Charakteristika wie z. B. ein schleichender Beginn hinzu. Während die ICD-10 in den klinischen Beschreibungen recht unergiebig ist, kennt der Kliniker eine Vielzahl von Symptomen, die auch im Verlauf der Erkrankung von Richard wiederzufinden sind. So kommt es zu Gedächtnis- und Orientierungsstörungen. Das Gedächtnis ist zunächst für kurz zurückliegende Ereignisse gestört, während weit zurückliegende Sachverhalte oft noch lange im Gedächtnis behalten werden. Die Orientierungsstörung betrifft zeitliche, örtliche und situative Einordnungen. Die Orientierung zur eigenen Person ist meist länger erhalten. Initial kann es zu depressiven oder anderen affektiven Vorstadien kommen, auch sind Veränderungen oder Akzentuierungen des Charakters oder einzelner Charakterzüge nicht selten. Wahnphänomene, meist im Sinne eines Wahnes, bestohlen oder bedroht zu werden, kommen in Verbindung mit einer ängstlich-misstrauischen Affektlage vor. Es kommt in späteren Stadien der Erkrankung zu Personenverkennungen bis hin zu dem »Spiegelphänomen« Richards, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht mehr erkennt. Die Störung der Gedächtnisfunktionen betrifft zuletzt auch die »automatisierten Fertigkeiten«, wie Essen, Ankleiden, Toilettengänge usw. Auch motorische und spezielle neuropsychologische Ausfälle können auftreten. Die Erkrankung kündigt sich gelegentlich durch »unsinnige Handlungen« an. In diesen Bereich fallen Aktionen Richards, in denen er z. B. Zeitungen in den Kühlschrank legt oder nach
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seiner Berentung zur Arbeit gehen will. Auch die bei der Alzheimer-Demenz vorkommenden Charakterakzentuierungen fallen bei Richard auf. Seine Vitalität und sein Bewegungsdrang sind ungebrochen und wirken sogar verstärkt, während die steuernden, moderierenden und hemmenden kognitiven Funktionen abnehmen. Auch können die komplexen wahrgenommen Umweltreize nicht mehr in ihrer Bedeutung und hierarchischen Wertungsstruktur richtig eingeordnet werden (. Abb. 2). Die Umwelt erscheint für Richard chaotisch und bedrohlich, da er die auf ihn einprasselnden Wahrnehmungsreize nicht mehr hierarchisch einordnen kann. Wichtiges kann nicht mehr von Unwichtigem getrennt werden. Dies führt zu einer Reizüberflutung und dem Fortschreiten der Orientierungslosigkeit. Daraus wird deutlich, warum sich Demenzkranke oft in fremder Umgebung rapide verschlechtern. Auch die letzten Orientierungspunkte gehen verloren und eine Neuorientierung wird durch die Erkrankung erschwert bis unmöglich. Auch Richard findet sich nicht in die Strukturen des Altenheims ein und wird von Jochen wieder nach Hause geholt. Anhand der Filmfigur werden viele Symptome der AlzheimerDemenz dargestellt, wenn auch zum Teil dramaturgisch überzeichnet.
Ein paar Worte zu Alois Alzheimer und der nach ihm benannten Demenz Eponyme beinhalten einen Eigennamen – meist den des Erstbeschreibers – und beziehen sich in der Medizin auf ein Symptom, ein Syndrom oder eine Erkrankung. Die Alzheimer-Demenz ist somit ein Eponym. Alois Alzheimer wurde am 14.06.1864 in Marktbreit in Unterfranken geboren. Während der Jahre 1884–1878 studierte er Medizin in Berlin, Würzburg und Tübingen. Im Jahr 1887 erstellte Alzheimer seine Dissertation: »Über die Ohrenschmalzdrüsen«. Zu dieser Zeit war die Annahme geläufig, Ohrenschmalz sei ein »Abbauprodukt der Hirntätigkeit« oder ein Schutz gegen Ungeziefer, das nachts in die Ohren krabbelte. Er wurde 1888 Assistenzarzt an der »Städtischen Heilanstalt für Irre und Epileptische« in Frankfurt. Im Winter 1901 wurde »Auguste D.« in die Klinik aufgenommen. Sie litt unter Wahnvorstellungen und Symptomen einer Demenz. Sie wurde Ausgangspunkt für die Forschung Alzheimers über das Krankheitsbild, das heute seinen Namen trägt. Im Jahr 1902 ging Alzheimer zu Emil Kraepelin als wissenschaftlicher Assistent nach Heidelberg und folgte ihm ein Jahr später nach München. Dort übernahm er die Leitung des hirnanatomischen Laboratoriums, die er bis 1912 innehatte. Er habilitierte 1904: »Histologische Studien zur Differenzialdiagnostik der progressiven Paralyse« und hielt 1906 einen erst später berühmt gewordenen Vortrag: »Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde«. Es handelte sich dabei um die Erstbeschreibung der präsenilen Demenz, die 1910 auf Vorschlag Kraepelins als »Alzheimersche Krankheit« bezeichnet wurde. Im Jahr 1912 übernahm Alzheimer eine Professur für Psychiatrie an der »Psychiatrischen und Nervenklinik« der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität in Breslau. Alzheimer starb jedoch bereits 1915 im Alter von 52 Jahren in Breslau. Sein Grab findet sich auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt am Main. Die Alzheimer-Erkrankung ist die häufigste Form der Demenzen, wobei Schätzungen eine hohe Streuung aufweisen. Eine Unterscheidung in »senil« und »präsenil« ist willkürlich, da beiden die gleiche Pathologie zugrunde liegt. Es kommt zu einer diffusen Hirnatrophie und zu Neuronenverlust mit Proteinablagerungen (Amyloid). In einigen Fällen findet man genetische Defekte. Man nimmt ein pathogenetisch bedeutsames Acetylcholindefizit durch einen Mangel an Cholinacetyltransferase an. Auch wenn bestimmte Laborkonstellationen als diagnostisch wegweisend gelten können, ist die Alzheimer-Demenz zu Lebzeiten der Patienten eine Ausschlussdiagnose, die gegen alle übrigen Demenzformen, wie z. B. Multiinfarktdemenz (MID), Binswanger-Krankheit, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, Pick-Krankheit, »zerebrovaskuläre Insuffizienz«, Hydrozephalus und Hirntumoren abzugrenzen ist.
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Bei der Untersuchung weisen einige Patienten neuropsychologische Symptome wie Aphasie, Apraxie, Alexie, Agrafie, Akalkulie oder Agnosie auf. Auch bei dem Protagonisten des Films, Richard, finden sich Sprachzerfall und Störungen impliziter Funktionen wie Kauen und Schlucken. Klinisch auffallend ist besonders eine Abnahme der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses, wobei das Langzeitgedächtnis zunächst noch am wenigsten beeinträchtigt erscheint. Darüber hinaus kommt es zu Störungen des abstrakten Denkens, des Urteilvermögens und zu Persönlichkeitsveränderungen, was zusammen zu einer deutlichen und zunehmenden Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens führt. Das Bewusstsein ist quantitativ in der Regel nicht getrübt, aber es kommt zu einer verminderten Affektkontrolle und einer Störung des Antriebs- und Sozialverhaltens. Die zeitliche Dauer, die zur Diagnosestellung gefordert wird, beträgt nach ICD-10 mehr als sechs Monate. Im Film Mein Vater erfüllt Richard diese Kriterien. Besonders in den Frühphasen der Alzheimer-Demenz kann eine Diagnose sehr schwierig sein, da bei den betroffenen Menschen eingeschliffene Verhaltensweisen, Umgangsformen und Redewendungen noch lange erhalten sein können. Bei konkretem und konsequentem Nachfragen während der ärztlichen Untersuchung offenbaren sich dann jedoch in der Regel die kognitiv-mnestischen Störungen. Dies wurde im Film recht plastisch in der Szene der Demenztestung im Krankenhaus dargestellt. Zu Beginn einer Alzheimer-Demenz kann darüber hinaus auch eine klinisch relevante Depression vorliegen, was die Diagnose zusätzlich erschweren kann. Bei fortschreitender Erkrankung können Unruhe und Wahnphänomene auftreten. So sind in diesem Stadium z. B. auch Verkennungen von Ort, Personen und Situationen häufig. Der Verlauf der Alzheimer-Demenz kann in eine klinisch stumme Phase von unbestimmter Dauer, eine Prädemenzphase von einigen Jahren, in der sich nur leichte kognitive Veränderungen bemerkbar machen sowie in die eigentliche Demenzphase unterteilt werden. Diese letzte Phase kann wiederum in leicht, mittelschwer und schwer gegliedert werden, wobei sich je nach Situation unterschiedliche therapeutische Schwerpunkte ergeben können. Eine wirksame Prävention der Erkrankung ist derzeit noch nicht bekannt. Die Therapie besteht neben der psychosozialen Behandlung und einem kognitiven Training auch aus die Krankheit verlangsamenden pharmakologischen Maßnahmen, z. B. der Einnahme von Acetylcholinesterasehemmern. In der ICD-10 ist die »Demenz bei Alzheimer-Krankheit« unter F00 codiert, wobei die Erkrankungen mit frühem Beginn (F00.0), mit spätem Beginn (F00.1), atypisch oder gemischt (F00.2) und andere Formen (F00.9) unterschieden werden.
Deutung des Films Mein Vater ist ein Film, der den Zuschauer stark berührt und auf eindrucksvoll suggestive Art betroffen macht. Eine Besonderheit des Films besteht im Wechsel der Perspektiven. Die Welt, wie sie der von der Demenz betroffene Richard sieht, wird dem Zuschauer durch dessen »Binnenperspektive« genauso vor Augen geführt, wie die Perspektive der durch die Erkrankung belasteten Angehörigen. Die Szenen, in denen Richard durch die Stadt irrt, mit schwankender Kameraführung und archaischer Musikuntermalung, ist meisterhaft und erlaubt dem Zuschauer einen Einblick in Richards von Zerfall bedrohtes Seelenleben. »Was wäre, wenn ich die Welt derart verändert erleben würde, wie Richard«, werden sich viele Zuschauer des Films fragen. Auch die Szenen im Krankenhaus und beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) werden in dem für Richard entwürdigenden Charakter sehr nachvollziehbar, wenn auch dramaturgisch überzeichnet, gezeigt. Der Zuschauer hat in diesen Momenten Mitleid und Verständnis für Richard. Man bekommt aber auch Verständnis für die belastete Familie durch die Wechsel der Perspektive. Die Not der Familie in ihrem Kampf um ihre Integrität und die Bedrohung durch die Konzentration auf den alle Anstrengungen absorbierenden Richard wird sehr eindrucksvoll dargestellt. So erhält auch die Familie die Sympathie der Zuschauer. Selbst die Einstellung von Richards Schwiegertochter Anja, die die Familie schließlich verlässt, kann gut nachvollzogen werden, ebenso wie
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die zerstörerische Rebellion des Enkels Oliver, der durch die mit sich selbst beschäftigte Familie alleingelassen und seiner Leitbilder beraubt wird. So kann der Zuschauer alle Familienangehörigen und ihre Positionen verstehen. Die Tragik des Films liegt in der Ausweglosigkeit. Trotz aller Nachvollziehbarkeit der Handlungen der Protagonisten steuert die Handlung des Films auf kein Happy End zu. Eine zentrale Aussage des Films ist die Unmöglichkeit einer guten Pflege für Demenzkranke im häuslichen Rahmen unter den gegebenen sozialen Verhältnissen. Mögliche Antworten für diese Misere werden im Film durch die Darstellung eines kalten und distanzierten Gesundheitswesens (Krankenhaus, Medizinischer Dienst der Krankenkassen, Altenheim) angeboten. Hier bedient sich der Film einer deutlichen Polemik. Eine besondere Stärke des Films ist zweifellos Götz George in der Rolle des demenzkranken Richards. So wird dessen Autonomiebedürfnis auch im fortschreitenden Persönlichkeitszerfall deutlich. Denn das gehört zum »Wesen« einer Demenz: Die Persönlichkeit mit Erinnerungen und der gesamten Lebenserfahrung zerfällt und die Betroffenen kämpfen um ihre bedrohte Autonomie. Richard kämpft und die Familie ist zunächst gewillt, seinen Bedürfnissen zu entsprechen. Bald jedoch kollidieren die unterschiedlichen Bedürfnisse der Familienangehörigen, denn auch sie kämpfen um ihre Autonomie. So bedroht die Alzheimer-Demenz nicht nur die persönliche Integrität Richards, sondern sie bedroht kollektiv die Bedürfnisse der Familie als System und die individuellen Autonomiebestrebungen der einzelnen Familienmitglieder. Auch Richards Bewegungsdrang gehört zu dessen Selbstständigkeit. Weil es aber gerade dieser Drang nach Bewegung ist, der große Probleme mit seiner Umwelt schafft, unterbindet die Familie seine Fluchtversuche. Zuletzt aber ist es sein Sohn Jochen, der Richard die Tür aufschließt und ihn in der Nacht seinem Schicksal überlässt. Zwar bleibt das Ende letztlich offen, aber der Straßenverkehr, der Richard in der Schlussszene förmlich aufzusaugen scheint, legt die Vermutung nahe, dass Richard seinen letzten Ausflug nicht überlebt. In Verbindung mit einer Äußerung Richards, dass »das Ding in seinem Kopf« erst mit seinem Tod aufhören werde, gerät das Ende des Films mit der Auflösung Richards im mörderischen Verkehr in die Nähe des Suizids. Folgt man dieser Interpretation, dann birgt der Film Mein Vater eine enorme Brisanz in sich und berührt ein zentrales ethisches Problem. Wie weit ist Rücksicht auf das Autonomiebestreben eines Menschen bei Eigengefährdung zu nehmen, wo ist die Grenze? Gibt es überhaupt eine Grenze? Während schon bei Gesunden diese Fragen kaum allgemeingültig zu beantworten scheinen, ist der ethische Kontext bei Patienten mit Demenz noch schwieriger zu umgrenzen. Jochen nimmt im Film zu diesen Fragen eindeutig Stellung, indem er seinem an der Tür rüttelnden Vater den Willen erfüllt und ihn seinem Schicksal überlässt. Er nimmt dabei auch dessen Tod in Kauf. Darf man das? Ist das nicht Beihilfe zum Suizid eines Demenzkranken? Bis hin zur tabuisierten Euthanasie reichen die Überlegungen, die sich mit dem Ende des Films verbinden. Insofern bietet der Film nicht nur verschiedene individuelle Perspektiven, die sich jeweils um das Thema der Autonomie drehen, sondern er thematisiert auch den Umgang mit Demenzpatienten in der Gesellschaft. Von dem Gesundheitssystem ist im Film nichts zu erwarten, deren Protagonisten werden als kalt und zynisch dargestellt. Darüber hinaus stellt der Film die Frage nach der Beihilfe zu selbstschädigendem Verhalten bis hin zum Suizid. Letzteres wird freilich nur versteckt thematisiert und die implizite Schuldfrage der Gesellschaft überantwortet. Sowohl die Symptome der Demenz, ihre Reihenfolge und die Rolle der Gesundheitsdienste sind – wie das fachlich versierte Publikum rasch feststellen kann – gelegentlich dramaturgisch überzeichnet. Aber das ist künstlerische Freiheit und soll nicht kritisiert werden. Nach dem Film bleibt Beklemmung. Die Symptome der Demenz bei Richard machen betroffen, das Auseinanderfallen der Familie, die Überforderung, der Zynismus der Gesundheitsdienste, das Unverständnis der Arbeitskollegen, die möglichen ethischen Konsequenzen. Doch es gibt auch Hoffnung. Die Bereitschaft der Familie und der Bekannten Richards zur Hilfeleistung, deren persönliches Engagement und die Kompromisslosigkeit, mit der Richard zunächst Hilfe zuteilwird. Bei einem milderen Demenzverlauf hätte es zu einem guten Ende kommen können. Richards Erkrankung war hierfür jedoch zu stark.
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Literatur Maurer K, Maurer U (1998) Alzheimer. Das Leben eines Arztes und die Karriere einer Krankheit. Piper, München WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2005) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. 5. Aufl. Huber, Bern
Originaltitel
Mein Vater
Erscheinungsjahr
2002
Land
Deutschland
Drehbuch
Karl-Heinz Käfer
Regie
Andreas Kleinert
Hauptdarsteller
Götz George (Richard Esser), Klaus J. Behrend (Sohn Jochen), Ulrike Krumbiegel (Schwiegertochter Anja), Sergej Moya (Enkel Oliver)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Kornelia Steinhardt
Dichtung und Wahrheit – wer kennt den Unterschied? Alkoholismus (F10.2) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Who’s afraid of Virginia Woolf?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martha und ihre Beziehung zu George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkoholsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marthas innerpsychische Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . George als pathologisches Übergangsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Filmplakat Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, USA 1966 Quelle: Cinetext
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Wer hat Angst vor Virginia Woolf? Martha (Elisabeth Taylor)
R »Dichtung und Wahrheit – wer kennt den Unterschied?« Diese Frage stellt George im Laufe einer langen, durchzechten Nacht seiner Frau und den fast noch unbekannten Gästen. Mit dieser Frage ist ein Grundmotiv dieses Films (. Abb.1) charakterisiert: Wie ist es möglich zu leben, ja zu überleben, wenn die Realität des Lebens nicht den eigenen illusionären Wunschvorstellungen und Hoffnungen entspricht? Ist das Leben, das eigene Selbst erst dann zu ertragen, wenn Fantasien zur Realität erhoben werden und somit die Konfrontation mit den eigenen Grenzen, dem eigenen Unvermögen vermieden wird, was aber nur mithilfe von Alkoholmissbrauch aufrecht zu erhalten ist?
Die Handlung Der Film gibt eine Nacht wieder, in der zwei Paare aus dem intellektuellen Milieu, die einander vorher fremd waren, mehrere Stunden gemeinsam verbringen. Je länger die Nacht dauert, desto betrunkener sind sie alle vier und es kommen all die verborgenen Emotionen, Wünsche und Ablehnungen zum Vorschein, die sonst hinter der Fassade der bürgerlichen Konvention verdeckt sind. Der Film beginnt mit einem Kameraschwenk über ein gepflegtes, parkähnliches Gelände mit mächtigen alten Bäumen und vereinzelt stehenden Häusern im altenglischen Stil. Es ist Sonntagnacht und ein Ehepaar kommt aus einem der Häuser, in dem gerade eine Party stattfindet, und geht über das weitläufige Areal zu seinem eigenen Haus. Es sind Martha und George, die auf einem Universitätscampus leben, wo er als Dozent für Geschichte arbeitet. Obgleich es schon zwei Uhr in der Nacht und George müde ist, kann er nicht zu Bett gehen, da Martha auf der Party einen jungen Dozenten, der erst seit Kurzem an der Universität lehrt, und dessen Frau eingeladen hat. Marthas Vater, Präsident der Universität, hat sie darum gebeten, sich um den neuen Kollegen zu kümmern. Bevor nun die Gäste kommen, wird der Zuschauer Zeuge davon, dass es in der Beziehung von George und Martha nicht zum Besten steht. Sie entwerten einander anfänglich noch eher subtil, später offensichtlich und immer tiefgründiger. Nur in einem kurzen Moment, als beide auf dem Bett liegen, entsteht ein kurzer Moment der Vertraulichkeit und Zuneigung, der schlagartig endet, als Martha einen Kuss einfordert und George ihn verweigert. Für einen Augenblick bekommt man ein Bild davon, dass es zwischen den beiden auch einmal Zuneigung und intime Verbundenheit gegeben hat – vielleicht auch noch geben könnte. Doch dieser Moment endet abrupt und in Folge werden die Verletzungen, Entwertungen und Verachtungen offensichtlicher und offensiver. Währenddessen wird ein Drink nach dem anderen gekippt. Da kommen endlich die Gäste: Nick, der attraktive, ehrgeizige junge Mann, »Honey« (in der deutschen Synchronisation »Schätzchen« genannt), das naive Blondchen und unscheinbare Mäuschen. Die Konversation verläuft von Anfang an sarkastisch bis aggressiv: Martha lässt keine Gelegenheit aus, ihren Mann als Schlappschwanz, Versager, Langweiler darzustellen, der es zu nichts weiter gebracht hat, als bloß nur Dozent zu sein. George reagiert mit untergriffigen verbalen Gegenschlägen, wirkt insgesamt aber anfangs eher passiv-erduldend. Die Gäste bemühen sich, ihre Irritation nicht anmerken zu lassen und stattdessen den guten Schein zu wahren. Sie wirken aber von der Situation überfordert und ertragen sie nur, indem auch sie beständig zum Alkohol greifen.
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Dichtung und Wahrheit – wer kennt den Unterschied ?
Zwei unterschiedliche Beziehungswelten prallen aufeinander: auf der einen Seite Martha und George mit zwanzig gemeinsamen Ehejahren, deren Verbindung anscheinend nur durch Zynismus und Verachtung füreinander aufrecht erhalten wird; auf der anderen Seite Nick und Honey, das liebende, unverdorbene junge Paar voller Hoffnung und Zukunftsplänen. Im Laufe der Nacht werden alle vier immer betrunkener, die letzten noch aufrechten Fassaden fallen im Laufe der Nacht und das Wohnzimmer wird immer mehr zum Kampfplatz. Martha erzählt Honey von ihrem 16jährigen Sohn, der nicht mehr zu Hause wohnt und heute zu seinem Geburtstag nach Hause kommt. Als George dies mitbekommt, reagiert er sichtlich verärgert – »du hast ihr davon erzählt?« – und blockt das Thema ab. Als er später im vertraulichen Gespräch mit Nick erfährt, dass Honey vor ihrer Hochzeit eine Scheinschwangerschaft hatte, die letztlich der Grund für die Eheschließung war, nutzt George dieses Wissen um sowohl das junge Paar als auch Martha bloßzustellen. Denn damit trifft er Martha an einem besonders wunden Punkt, den man ahnt, der aber bislang nicht explizit ausgesprochen worden war: Der 16jährige Sohn ist eine Erfindung, da die Ehe kinderlos geblieben ist. Martha beginnt heftig mit Nick zu flirten und landet schlussendlich mit ihm im Bett, wo er jedoch – im Zustand der Trunkenheit – versagt und sie ihn, ähnlich wie zuvor George, erniedrigt, verächtlich macht und entwertet. George wiederum holt zu einem finalen Gegenschlag aus, um sich an Martha an allem, was er erduldet hat, zu rächen. Der Tag bricht an und George versammelt alle im Wohnzimmer, um das letzte »Spiel« dieses Abends zu spielen. Er erzählt Martha, der Telegrammbote sei vor Kurzem mit der Nachricht gekommen, dass ihr Sohn nicht nach Hause kommen könne, da er am Vortag bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt sei. Martha wehrt sich heftig und lautstark dagegen, dass George den Sohn sterben lässt, doch er beharrt darauf, denn sie hatte die Spielregeln gebrochen: Sie hat – entgegen ihrer gemeinsamen Abmachung – ihre gemeinsame und bislang gut gehütete und jahrelang gemeinsam ausgelebte Fantasie, einen Sohn zu haben, verraten; nun ließ er ihn sterben. Trotz Marthas heftiger Gegenwehr bleibt George dabei. Da stürzt Marthas große Lebenslüge ein, es ist nicht mehr aufrecht zu erhalten, dass Martha sich als Mutter fühlen kann. Sie bricht zusammen, weint, wirkt erstmals schwach und verletzbar. Die von der Realität ernüchterten Gäste verlassen das Haus. Martha möchte so gern die alte Fantasie wieder aufleben lassen, doch George lässt es nicht zu:
R Martha: »Könnten wir nicht?« – George: »Nein, Martha.« – »Nur wir beide?«, fragt Martha unsicher. George berührt Martha fürsorglich und stimmt das Lied an: »Wer hat Angst vor Virginia Woolf, Virginia Woolf?« – Martha: »Ich hab Angst.«
»Who’s afraid of Virginia Woolf?« Immer wieder wird im Verlauf der Handlung die Liedzeile »Wer hat Angst vor Virginia Woolf« gesungen oder rezitiert. Erstmalig noch vor Ankunft der Gäste, als George, ermattet von der Party, am Bett liegt und seine Ruhe haben möchte, Martha hingegen ihn beständig herausfordert. Auf der Party hatte sie offensichtlich mit der lautstarken Präsentation des abgewandelten Reimes die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich gezogen, stand glanzvoll im Mittelpunkt. Jetzt soll George ihr die Referenz erweisen, mit ihr darüber lachen, was er jedoch verweigert. Viel später, als die Gäste da sind und sich Martha durch eine zynische Bemerkung von George entwertet fühlt, stimmt sie wieder das Lied an. Damit gelingt es ihr im Handumdrehen, sich vom Gefühl der Unterlegenheit und Beschämung wieder in eine souveräne Position zu katapultieren, da die Gäste in ihre aufgesetzte Fröhlichkeit einstimmen. Doch nicht nur Martha »benutzt« den Reim, auch George
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stimmt das Lied an, als die Demütigungen durch Martha vor ihren Gästen für ihn unerträglich werden. Die Liedzeile, die im Original eine Verballhornung des englischen Kinderreims »Who’s afraid of the big bad wolf« (»Wer hat Angst vorm bösen Wolf«) darstellt, verweist darauf, dass es doch etwas in Martha gibt, das sie als bedrohlich erlebt, dass in ihr etwas ist, das ihr Angst macht. Doch es gibt keinen Zugang dazu, sondern sie deckt alle tiefgehenden basalen Ängste und Zweifel mit ihrem lautstarken Gesang, gepaart mit hysterischem Gelächter zu. Erst in der letzten Szene des Films, nachdem die große Lebenslüge in sich zusammengebrochen ist, kann Martha erstmals der Wahrheit ins Gesicht schauen und sich eingestehen, wie groß ihre Angst ist. Warum führte Edward Albee hier statt des bösen Wolfs die britische Schriftstellerin Virginia Woolf ein, die neben ihrer schriftstellerischen Berühmtheit und ihrer Vorreiterrolle in der Frauenbewegung auch mit ihrer schweren psychischen Erkrankung zu kämpfen hatte? Weist Albee hier darauf hin, dass Marthas Persönlichkeit und ihre Probleme auch im Kontext der für Frauen einschränkenden gesellschaftlichen Strukturen verstanden werden müssen? Dass ihre Selbstzerstörung, die sie letztlich über ihre Alkoholsucht beständig vorantreibt, nicht bloß als individuelles Schicksal, sondern auch als Reaktion auf soziale Einschränkungen zu sehen ist? Wollte Albee die behutsame und einfühlsame Intonation des Reimes am Ende des Films auch als kleinen Hoffnungsschimmer verstanden wissen, dass es aus dem Lügengebäude, das sich Martha errichtet hat, auch durch die gesellschaftlichen Entwicklungen, die den Frauen neue Perspektiven der Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung eröffnen, eine Entwicklungschance bietet?
Martha und ihre Beziehung zu George Das Drehbuch des Films beruht auf dem gleichnamigen Theaterstück von Edward Albee, das 1962 mit großem Erfolg in New York uraufgeführt wurde und das damals aufgrund seiner sexualisierten Sprache und heftigen Dialoge auch viel Widerspruch hervorgerufen hatte. Es ist ein auch heute noch viel gespieltes Theaterstück, das aber schon vier Jahre nach der Uraufführung in einer adaptierten Version verfilmt wurde. Der Erfolg des Films ist neben der beklemmenden Entfaltung der vier unterschiedlichen Charaktere und deren Beziehungen zueinander auch auf die grandiose darstellerische Leistung der vier Schauspieler zurückzuführen. Im Zentrum steht Elisabeth Taylor als Martha, deren Gegenpol George von ihrem damaligen Ehemann Richard Burton verkörpert wurde. Die im Film inszenierten Beziehungsdynamiken, die von heftigen, durch Alkoholisierung ungebremsten Gefühlswechselbädern begleitet wurden, waren auch im realen Eheleben von Elisabeth Taylor und Richard Burton an der Tagesordnung. Die fiktionale Beziehung des Paares im Film wurde von der Lebensrealität des Schauspielerpaares überlagert, was zum Zeitpunkt seines Erscheinens den Run auf den Film noch erhöhte, füllte das Paar mit seinen Alkoholeskapaden doch immer wieder die Klatschspalten der Zeitungen. Martha ist eine attraktive Frau in ihren Vierzigern, die als Tochter des Präsidenten der Universität eine besondere Stellung am Campus hat. Ihr Vater ist der mächtigste Mann im universitären Kosmos, daher steht ihr auch Besonderes zu. Und so hat sie auch jenen Mann geheiratet, von dem sie und ihr Vater annahmen, dass er den Platz des Vaters einmal wird einnehmen können: seine Karriere ist vorbestimmt, denn zuerst soll er das historische Department leiten, später als Präsident dem Vater nachfolgen. Doch George erweist sich als Enttäuschung. Er schafft es nicht, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Nicht einmal zum Departmentleiter bringt er es, er bleibt bloß Dozent. Auch einen Roman, den George geschrieben hat, hält Marthas Vater für so schlecht, dass er ihn nicht zur Veröffentlichung zulässt – und wenn ihr Vater dies befindet, kann Martha sich kein anderes, eigenständiges Urteil bilden. Und so ist Martha enttäuscht, einen Versager an ihrer Seite zu haben. Sie ist gekränkt, dass sie nicht zu dieser gesellschaftlichen Stellung kommt, die ihr ihrer Meinung nach zusteht. Einzig tröstlich ist zumindest, dass sie für jene ehrgeizigen, aufstrebenden Männer, die an dieser Universität Karriere machen
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wollen, als Tochter des Präsidenten einflussreich und somit mächtig wahrgenommen wird, so dass sie diese verführen kann und sie alle mit ihr schlafen. Doch dies ist nur ein billiger Trost für die ihr versagte Position an der Seite eines erfolgreichen Mannes. Und es wird ihr unbewusst auch klar sein, dass sie ihre Rolle als potente, sexuell attraktive Verführerin für die Newcomer nur mehr begrenzt einsetzen kann, da sie älter wird. Doch die größte Enttäuschung und narzisstische Kränkung stellt für sie die ungewollte Kinderlosigkeit dar. Sie kann nicht schwanger werden, kein Kind gebären um sich selbst in ihren Kindern widerzuspiegeln. Den Schmerz, die Trauer und die Kränkung darüber konnten offensichtlich nicht bearbeitet und verdaut werden. Die daraus resultierende psychische Wunde kann nicht verheilen. Und so flüchtet Martha in eine Scheinwelt, in der all das in idealer Weise erfüllt ist, was ihr in der Realität versagt bleibt. Sie fantasiert, ein Kind zu haben, lässt es wachsen, wodurch sie zu guten Mutter werden kann. Dichtung und Wahrheit fließen ineinander und sind nur mit Mühe auseinanderzuhalten. Um dieses fragile Geflecht aus Scheinwelt, Verleugnung und Grandiositätsvorstellungen aufrecht halten zu können, betäubt sich Martha mit Alkohol. Obgleich an diesem desaströsen Abend alle vier Beteiligten betrunken sind, gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass Martha regelmäßig und (zu) viel trinkt, was George mit beißenden, bösartigen Bemerkungen kommentiert.
Alkoholsucht Die vier handelnden Personen im Film führen deutlich vor Augen, wie unterschiedlich sich der übermäßige Alkoholgenuss bei ihnen auswirkt, welche Gefühle er bei ihnen hervorruft und wozu sie im Rauschzustand fähig sind. Bei allen vier kann man laut ICD-10 eine akute Intoxikation aufgrund der übermäßigen Alkoholaufnahme feststellen, die mit Störungen des Bewusstseins, kognitiver Funktionen, der Wahrnehmung, des Affekts und des Verhaltens einhergeht. Bei Martha kann schon von einem Abhängigkeitssyndrom (F10.2) ausgegangen werden, da sie mindestens drei jener Kriterien erfüllt, die in den diagnostischen Leitlinien der ICD-10 beschrieben sind. Dabei wird keine Unterscheidung zwischen Alkohol und anderen Suchtmitteln vorgenommen, sondern die Kriterien beziehen sich auf den Umgang mit allen Drogen, die das Potenzial haben, süchtig zu machen, etwa Opioide, Kokain, Sedativa, Halluzinogene etc. E Starker Wunsch oder Zwang, Drogen zu konsumieren. E Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Beendigung und Menge des Drogenkonsums. E Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums. E Nachweis einer Toleranz: Um die erreichte Wirkung der Droge aufrecht erhalten zu können, muss zunehmend die Menge der konsumierten Droge erhöht werden. E Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Drogenkonsums, erhöhter Zeitaufwand für Beschaffung und Konsum von Drogen sowie für die Erholung danach. E Anhaltender Drogenkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen. Wie kann man verstehen, dass Martha von Alkohol abhängig, der Alkohol zu ihrer Droge wurde? Bei der Alkoholsucht spielen neben genetischen und neurobiologischen Einflüssen besonders psychosoziale Faktoren eine Rolle. Abhängiges Verhalten kann auch ohne Einverleibung spezieller süchtig machender Stoffe entstehen, wenn alles zum Suchtmittel werden kann, wie Glover schon 1933 feststellte. Wenn also beim Alkohol nicht allein die »pharmakotoxische Wirkung« (Glover 1933) bedeutsam ist, so gilt es zu ergründen, wie Sucht in ihrer psychodynamischen Bedeutung zu verstehen ist. In der Tradition der Psychoanalyse fand und findet die Auseinandersetzung damit intensiv statt. Daher finden sich, aufbauend auf den verschiedenen theoretischen Schulen der Psychoanalyse, unterschiedliche Sichtweisen und Erklärungsmodelle von Sucht (Roth 1992; Bilitza 2008), die deutlich machen, dass
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süchtiges Verhalten nicht als eindimensional erklärbares Phänomen betrachtet werden kann, sondern im Kontext der Persönlichkeit des bzw. der Abhängigen und der jeweiligen Lebensumwelt zu verstehen ist. Auf die unterschiedlichen psychologischen Wirkungen von Alkohol hatte auch Simmel schon 1948 hingewiesen (Simmel 1948), als er aufzeigte, dass manchen Menschen der Alkohol zur Realitätsflucht dient, anderen wiederum zur Realitätsbewältigung. In eine ähnliche Richtung argumentiert Kernberg (1978), wenn er darauf verweist, dass die psychische Wirkung von Alkohol und Drogen im Einzelfall unterschiedlich und davon abhängig ist, welche innerpsychische Struktur dem übermäßigen Genuss des Rauschmittels zugrunde liegt. Daher ist zu fragen, in welcher Weise Martha ihre Sucht psychodynamisch verwendet, um innerpsychisches Konflikterleben zu bewältigen und wie sich dies auf sie selbst und ihre Beziehungen zu anderen Menschen auswirkt. Manche der zahlreichen Theorien der Sucht geben Hinweise darauf, wie das innerpsychische Erleben von Martha verstanden werden kann.
Marthas innerpsychische Welt Am Beginn des Films sieht man, wie Martha und George um zwei Uhr in der Früh nach Hause kommen. Martha geht durch die Wohnräume und die Küche, sieht sich um und bemerkt, dass Unordnung, ja Chaos herrscht. Kleidung und Gegenstände liegen herum, die Küche ist nicht aufgeräumt, im Schlafzimmer befinden sich Teller mit Essensresten. Martha sieht sich um und kommentiert die Unordnung mit den Worten, »Was für ein Dreckloch«, und macht sich daran, die gröbste Unordnung zu beseitigen, da ja Gäste erwartet werden, die nicht Einblick in ihr Chaos erhalten sollen. Das Aufräumen beschränkt sich darauf, den geordneten Schein wiederherzustellen: Die dreckige Wäsche wird lediglich unter die Bettdecke oder hinter die Heizung geschoben, der Teller wird in das Nachtkästchen gesteckt. Nach Kurzem wirkt das Haus wieder geordnet, bereit für die Gäste. Doch als Zuseher war man Zeuge, dass Martha die Unordnung nur oberflächlich behoben hat und dass weiterhin hinter der Fassade des bürgerlichen Haushalts das Chaos vorherrscht. Die Symbolik ist nicht zu übersehen: Martha empfindet ihr psychisches Erleben als »Dreckloch«, das sie – so gut es geht – vor den Anderen und auch vor sich selbst verbirgt. Sie präsentiert sich nach außen strukturiert und offen für (neue) Freundschaften. Dies gelingt jedoch kaum, denn schon beim Eintreten der Gäste liegen sie und George verbal im heftigen emotionalen Schlagabtausch, was es den Gästen erschwert, auf Martha (wie auch auf George) offen zuzugehen. Es ist für die Gäste wie auch für die Zuschauer spürbar, dass hier eine Fassade zur Schau gestellt wird, unter der vieles, das unerträglich ist, verborgen bleibt. Man kann diese Szenen des Verdeckens und Verbergens als Metapher dafür verstehen, dass mithilfe des Rausches versucht wird, der Realität zu entfliehen, um sich so vor dem subjektiv empfundenen Leid zu schützen, was schon Freud (1930) als einen wesentlichen Beweggrund für Alkoholkonsum gesehen hat. Es kann damit erreicht werden, Zustände der Trauer, Verzweiflung und Ausweglosigkeit abzuwehren, ohne dabei aber Rücksicht auf sich selbst und auf andere zu nehmen. Die psychologische Funktion von Alkohol als Suchtmittel liegt, wie Voigtel (1996) ausführt, wesentlich in seinem dinglich-stofflichen Charakter, weshalb er, im Unterschied zu Menschen, zuverlässig verfügbar ist. Er meint, dass Süchtige die Enttäuschungen des Lebendigen nicht ertragen. Ihr Ausweg aus diesem Dilemma ist daher, sich unbelebten Objekten zu überlassen, da diese nicht kränken, keine unerfüllbaren Forderungen stellen, keine unausgesprochenen Erwartungen haben und den Selbsthass nicht vermehren können. Diese Überlassung an ein unbelebtes Objekt, um einen Abhängigkeitswunsch abzuwehren und ihn auf ein Suchtmittel zu verschieben, ist nach Voigtel aus psychodynamischer Perspektive für das Suchtgeschehen spezifisch. Die Sucht geht nicht selten einher mit einem Mangel an Selbstwertgefühl sowie mit der fehlenden Fähigkeit, Affekte differenziert zu erleben und zu kommunizieren, mit diffuser Angst, Ohnmachts- und Schuldgefühlen sowie letztendlich mit Hass auf die eigene Unfähigkeit und einem negativen Selbstbild.
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Es ist nach Wurmser (1997) ein Bündel an Phänomenen, das dazu führt, dass immer wieder Alkohol im Übermaß konsumiert wird. Er beschreibt das innerpsychische Erleben, das zum Alkoholmissbrauch führt, als einen Circulus vitiosus, der letztlich nur schwer zu durchbrechen ist. Dieser Kreislauf des zwanghaften Drogenkonsums beginnt zumeist mit einer schweren narzisstischen Krise, einem Konflikt um das Selbstwertgefühl, bei dem archaische, oft (früh-)kindliche narzisstische Kränkungen und Verletzungen reaktiviert werden. Dieser Konflikt wird, wie Wurmser schreibt, begleitet von überwältigenden Gefühlen von Ärger und Wut, Scham und Schuld, Langeweile und Leere, Einsamkeit und Depression oder auch vom Bedürfnis nach Abenteuer, sich lebendig statt entfremdet, angespannt und leer zu fühlen. Diese Affektregression im Wege der Radikalisierung der Gefühle dient der Abwehr der narzisstischen Krise. Zugleich müssen aber auch die überflutenden, unerträglichen Gefühle auch wiederum abgewehrt werden, was hauptsächlich mittels Verleugnung, Spaltung und Dissoziation geschieht. Darauf folgt als nächster Schritt die Externalisierung, um den unerträglichen inneren Konflikt abzuwehren. Es ist ein manipulativer Versuch, äußere und innere Welt magisch umzugestalten, damit eine Lösung für den inneren Konflikt in der Außenwelt erreicht wird. Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmacht etc. werden damit abgewehrt und stattdessen in das Gefühl, grandios und großartig zu sein, umgewandelt. Damit verknüpft sind in weiterer Folge oft sadomasochistische Impulse. Die Aggression zeigt sich im Verstoß gegen soziale Regeln, Missachtung von Grenzen, Demütigungen und Gewalttätigkeiten gegen andere, aber auch gegen sich selbst. Es kommt nun zur Spaltung des Über-Ich. In archaischer Form bleiben die Über-Ich-Funktionen zwar erhalten, was sich im Wunsch zeigt, sich zu verbergen und der massiven Scham zu entgehen, doch die Demütigung, die aus dem Alkoholkonsum entsteht, ist kaum zu ertragen. Die Spaltung im Über-Ich zeigt sich in der Spannung zwischen einem relativ realitätsangepassten, sozial konformen, Schuld eingestehenden Anteil und dem eher narzisstisch orientierten, regressiven und schamgerichteten Anteil. Der End- und zugleich auch wieder Anfangspunkt dieser kreisförmigen Serie von Konflikten ist das übergroße Glücksgefühl und die Befriedigung, die aus dem Alkoholkonsum resultieren und Kompromisslösungen von Abwehraktivität und Triebregungen darstellen und das Gefühl beinhalten, dass – für den Augenblick – der narzisstische Konflikt gelöst zu sein scheint. Dieser Circulus vitiosus zeigt sich bei Martha deutlich. Unübersehbar sind ihre narzisstischen Krisen, mit denen sie sich konfrontiert sieht. Die große Enttäuschung, mit der Martha lebenslang zu kämpfen hat, mag in der ödipal ungelösten Beziehung zu ihrem Vater begründet liegen. Er als erfolgreicher Collegegründer und -leiter wird von ihr idealisiert, er ist die Richtschnur für Erfolg. Doch man kann vermuten, dass es für sie kränkend war, nie aus seinem Schatten treten, sich nicht selbst in einer akademischen Karriere beweisen zu können. Ihre Rolle war reduziert darauf, die Tochter eines berühmten Mannes zu sein. Doch auch die Ehe mit George bleibt eine narzisstische Wunde, da er ihr den Erfolg verweigert, den sie sich von ihm erwartet hat. Die schlimmste Kränkung in ihrem Selbstwert ist ihre Kinderlosigkeit. Sie bringt das nicht zustande, was jede durchschnittliche Frau vermag – schwanger zu werden. All diese Frustrationen bewirken bei Martha einen Gefühlscocktail, den sie abwehren muss, um nicht davon überschwemmt zu werden. Groß ist ihre Wut über sich selbst, nicht ihrem Wunschbild als strahlende, erfolgreiche Frau und als liebevolle Mutter entsprechen zu können, die Scham, auf allen Linien versagt zu haben, und ihre Enttäuschung darüber. Sie ist darüber enorm verzweifelt, ohne allerdings Zugang zu all diesen Affekten, die sie überfluten und unkontrollierbar sind, zulassen zu können. Vielmehr wehrt sie die heftigen Gefühle mithilfe des übermäßigen Alkoholkonsums ab. Alle möglichen Zweifel und Verunsicherungen scheinen im Rausch wie weggeblasen. Martha erscheint nach außen als souveräne, weltgewandte Gastgeberin, die ihre Gäste beeindrucken möchte. Indem sie es darauf anlegt, den eindeutig jüngeren Gast zu verführen, kann sie verleugnen, narzisstisch gekränkt (worden) zu sein. Sie genießt es, die jüngere Frau auszubooten und auf Nick betörend zu wirken. Alle Zweifel und Kränkungen sind damit abgespalten und belasten vorübergehend nicht. Sie erreicht damit, dass sie ihren inneren Konflikt externalisiert und zu einem Konflikt in der Außenwelt macht. Sie braucht nicht
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wahrzuhaben, dass sie ihren innerpsychischen Konflikt nicht bewältigen kann, denn sie schafft es ja, von einem Mann begehrt zu werden und sich attraktiv zu fühlen. Die Verführung wirkt wie eine nicht stoffgebundene Droge. Die Verlagerung all ihrer Kränkungen nach außen weckt ihre aggressiven, sadomasochistischen Gefühle, die sie in erster Linie an George auslebt. Er ist nicht gut genug für sie, er kann nichts richtig machen und ist ihr nicht ebenbürtig. Sie provoziert ihn so sehr vor den Gästen und stellt ihn bloß, als würde sie darauf warten, dass er zurückschlägt und sie quält. Ihre destruktive Energie scheint grenzenlos zu sein, als würde sie es darauf anlegen, die Beziehung zu zerstören, denn man kann sie nicht ungestraft lieben, und sie kann es nicht zulassen, sich glücklich zu fühlen, sich von diesem Mann abhängig zu erleben und letztendlich innerlich damit zufrieden zu sein, von ihm geliebt zu werden. Auch ihren Erfolg als Verführerin benutzt sie letztendlich destruktiv, indem sie Nick verachtet und in seiner Männlichkeit devastiert, weil er ihren Erwartungen im Liebesspiel nicht entsprochen hat. Es wird deutlich, dass die Verführung letztlich nur dem Zweck dienen sollte, den Mann ihre Verachtung spüren zu lassen. Die destruktiv-quälerische Ausweglosigkeit, in der sich Martha erlebt und aus der sie sich nicht befreien kann, bringt sie spätnachts im Gespräch mit Nick auf den Punkt:
R »George … dem ich niemals verzeihen werde, dass er den schrecklichsten Fehler begangen hat, den es gibt, der sich in mich verliebte und der dafür bestraft werden muss. Es kommt der Tag, eine Nacht, eine versoffene blöde Nacht, da werde ich einmal zu weit gehen, da brech’ ich ihm dann das Rückgrat oder ich treib ihn aus dem Haus. Das verdien ich dann wirklich.« Martha macht deutlich, dass die Zuneigung von George, die sie einerseits sucht und braucht, andererseits jedoch abwehren und bekämpfen muss, solange sie sich mit ihrer narzisstischen Kränkung nicht konfrontieren kann. Sie spürt, wie heftig – und für sie selbst wie auch für die anderen zugleich beängstigend – ihre aggressiven Impulse im Zuge der Enthemmung durch den Alkohol sind. Selbst wenn sie in manchen einsichtigen Momenten diese Abwehr überwinden möchte, erlebt sie jedoch noch viel stärker, dass sich ihr Selbstwertgefühl steigert. Sie kann Grenzen und Begrenzungen in vielerlei Hinsicht ignorieren oder gar überwinden. Am deutlichsten zeigt sich dies in der fantasmatischen Beschäftigung mit ihrem in der Realität nie existenten Kind, an dessen fiktive Existenz sie sich offensichtlich schon seit Jahren klammert, das sie in ihrer fantasierten Welt geboren und 16 Jahre großgezogen hat und auch jetzt nicht loslassen will. Dichtung und Wahrheit verschwimmen hier und sind nicht voneinander zu unterscheiden.
George als pathologisches Übergangsobjekt Der Film, gedreht in den 1960er Jahren und noch in Schwarz-Weiß, wirkt in manchen Facetten heute als Spiegel einer gesellschaftlichen Realität, die in dieser krassen Ausprägung heute nicht mehr bestimmend ist. So sind die Frauen reduziert auf Haushalt und Repräsentieren, die Männer sehen sich in der Rolle als »Familienernährer«. Wenn den Frauen als primäre Form der Selbstverwirklichung das geputzte Heim und die Erziehung ihrer Kinder offen stand, bedeutete Erfolg für eine Frau dann in erster Linie an der beruflichen Karriere des Ehemanns zu partizipieren? Man fragt sich, wieso Martha, die Tochter eines Universitätspräsidenten, die das College absolviert hat (wie sie einmal betont), nicht für sich selbst anstrebte, Karriere zu machen. Was hielt sie davon ab, Selbstbestätigung und Sinnstiftung über eine qualifizierte Berufstätigkeit zu erlangen? Ein wesentlicher Faktor wird wohl die in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die noch massiv vorherrschende bürgerlich-konservative Haltung gewesen sein, die Stellung einer Frau über jene des Mannes zu definieren. Ist der Ehemann erfolgreich, umstrahlt
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. Abb. 2 »Du glaubst, nur du hast das Recht gepachtet, dich wie eine Wilde aufzuführen, nur du darfst alles kaputt schlagen, die halbe Welt erschrecken.« – Filmszene mit Elisabeth Taylor und Richard Burton, Quelle: Cinetext
dieser Glanz auch seine Ehefrau. Das damals vorherrschende Frauenbild wird Marthas Haltung stark geprägt haben. Aus dieser Enge kann sich Martha aufgrund ihrer ungelösten ödipalen Problematik nicht befreien. Sie fühlt sich so stark mit ihrem idealisierten Vater verbunden, dass es ihr nicht gelingt, sich von ihm zu lösen und sich selbst als autonomes eigenständiges Ich zu erleben. Damit erlebt sie sich jedoch in einer Zwickmühle: An der Seite von »Daddy« kann sich Martha potent, attraktiv und mächtig erleben. Der Mann, den sie sich – mit »Daddys« Unterstützung – aussucht, soll ihr genau diese Möglichkeit weiterhin offerieren. Doch George ist anders als ihr Vater, wodurch sie sich machtlos und unattraktiv erlebt. Je mehr sie ihn mit Verbalattacken versucht zu provozieren, damit er sich endlich wehrt, Stärke demonstriert und eben kein »Schlappschwanz« mehr ist, desto mehr drängt sie ihn in seine passive Haltung, aus der er sich in anderer Weise als von ihr erhofft, gegen ihre An- und Übergriffe wehrt. Er pariert ihre Angriffe mit intellektuellem Zynismus und seiner hoch entwickelten Fähigkeit zu elaborierten (Sprach-)Spielen, auf die sie wiederum nur mit groben Entwertungen kontern kann. So beschimpft Martha ihren Mann mit den Worten: »Du bist ein Scheißkerl«, nachdem George die beiden Gäste bloßgestellt hat, um letztlich Martha zu demütigen. Seine Antwort darauf fällt deutlich aus:
R »Du glaubst, nur du hast das Recht gepachtet, dich wie eine Wilde aufzuführen, nur du darfst alles kaputt schlagen, die halbe Welt erschrecken.« In diesen beständigen, destruktiven Kampf sind beide den gesamten Abend verstrickt (. Abb. 2). Es wirkt so, als sei dies beständiger Alltag und keine Ausnahmesituation. Daher fragt man sich als Zuschauer: Warum bricht keiner der beiden aus dieser qualvollen Beziehung aus? McDougall (1982) stellt die Überlegung an, dass der Süchtige einen anderen, ihm nahestehenden Menschen unbewusst als Suchtmittel benutzen kann, der dann zuweilen als Tranquilizer dient, aber
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auch als Behälter für all das, was eine süchtige Person nicht als Teil ihres eigenen Selbst akzeptieren kann. Trotz aller Abwertungen und Verletzungen, die sie dem anderen zufügt und die ihr im Gegenzug zugefügt werden, stellt der andere ein förderliches Objekt dar, das gebraucht wird. Martha bringt dies zum Ausdruck, als sie nach der missglückten sexuellen Begegnung mit Nick mit sehnsüchtiger Stimme äußert:
R »Es gab nur einen Mann im Leben, der mich glücklich gemacht hat – George, mein Mann.« – »Ausgerechnet George?«, erwidert Nick erstaunt. – Martha: »George, der gut zu mir ist und den ich verleumde. Der jedes Spiel versteht, wenn ich ihn auch noch so oft hereinzulegen versuche. George, der mich glücklich machen könnte, obwohl ich gar nicht glücklich werden will.« Für Martha ist ihre Alkoholsucht zerstörerisch, aber trotzdem hält sie an ihr fest. Aber sie benutzt auch George als Suchtmittel, auf den sie all ihren Selbsthass und ihre Selbstabwertung projiziert. Denn George stellt im Sinne von McDougall (1982) ein pathologisches Übergangsobjekt dar, ohne dass sie sich leer, verängstigt und wertlos fühlen würde. Martha projiziert in George all jene unerwünschten Eigenschaften, die sie bei sich selbst nicht anerkennen will. So sind all die Versagensgefühle, die sie bei sich selbst nicht wahrnehmen kann, bei George. Er ist nicht gut genug, zu wenig erfolgreich, schwach – nicht sie selbst. Es gelingt ihr auf diesem Weg, ein erträgliches narzisstisches Bild von sich selbst aufrecht zu erhalten. Sie ist unbewusst bemüht, vor sich selbst die Inszenierung zu wahren, dass sie tatsächlich die Eigenschaften und Qualitäten besitzt, die – wie sei meint – notwendig sind, um geliebt zu werden und existieren zu dürfen. Martha benutzt, wie McDougall es beschreibt, George als Spiegel, in dem sie ihn als den Schlechten, Schwachen, ja Bösen sehen und sich im völligen Gegenteil davon wahrnehmen kann. Indem nun George diese Anteile von ihr selbst zu leben hat, braucht sich Martha nicht mit ihren Unzufriedenheiten und Frustrationen zu beschäftigen. George spielt über Jahre in dieser Inszenierung mit. Er übernimmt und lebt unbewusst jene Eigenschaften, die Martha auf ihn projiziert. Über Jahre trägt er ihre Realitätsverleugnung mit und gewährt ihr über die gemeinsame Fantasiewelt, einen wunderbaren Sohn zu haben, ihre narzisstische Gratifikation. Doch es gibt dafür einen Preis: Martha darf diesen imaginierten Sohn, ihre narzisstische Geburt, nicht in die Öffentlichkeit bringen. Es fällt ihr schwer, da sie ihre fantasierte Grandiosität der Mutterrolle nur in der Beziehung zu George ausleben darf. In dieser Nacht gelingt es ihr nicht mehr, diese Fassade aufrecht zu erhalten. Vielleicht in der Konfrontation mit der jüngeren Frau, die sie unbewusst als ihr überlegen wahrnimmt, da diese noch Kinder gebären kann, muss sie sich als Mutter eines großartigen Sohnes präsentieren. Hier verweigert George erstmals, in dieser unbewussten Inszenierung mitzuspielen. Er steigt aus, indem er Martha in zynischer und zerstörerischer Weise damit konfrontiert, dass ihr narzisstisches Selbstbild nicht der Realität entspricht. Ihre heftige Gegenwehr gegen die Einsicht, dass diese halluzinatorische Wunscherfüllung nicht aufrecht zu halten ist, macht Gefühlen der eigenen Schwäche, Verletzbarkeit und Trauer Platz. Und so kann sie, nach einer langen Nacht der destruktiven Abwehr jenes Gefühl wahrnehmen, das sie mit Vehemenz über Jahre verleugnen musste: ihre tiefgreifende Angst.
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Literatur Bilitza KW (Hrsg) (2008) Psychodynamik der Sucht. Psychoanalytische Beiträge zur Theorie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Freud S (1930) Das Unbehagen in der Kultur. Studienausgabe Bd IX. Fischer, Frankfurt am Main, 1974 Glover E (1933) Zur Ätiologie der Sucht. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 19: 170–197 Kernberg OF (1978) Borderlinestörung und pathologischer Narzissmus. Suhrkamp, Frankfurt am Main Mc Dougall J (1982) Theater der Seele. Illusion und Wahrheit auf der Bühne der Psychoanalyse. Internat Psychoanalyse, Stuttgart Rost W-D (1992) Psychoanalyse des Alkoholismus. Theorie, Diagnostik, Behandlung. Klett-Cotta, Stuttgart Simmel E (1948) Alkoholismus und Sucht. In: Simmel E (1993) Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Fischer, Frankfurt am Main, S 289–312 Voigtel R (1996) Die Überlassung an das unbelebte Objekt. Zur begrifflich-diagnostischen Abgrenzung der Sucht. Psyche 50: 715–741 Wurmser L (1997) Die verborgene Dimension. Psychodynamik des Drogenzwangs. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Originaltitel
Who‘s Afraid of Virginia Woolf?
Erscheinungsjahr
1966
Land
USA
Buch
Ernest Lehman, basierend auf dem Bühnenstück von Edward Albee
Regie
Mike Nichols
Hauptdarsteller
Elisabeth Taylor (Martha), Richard Burton (George), George Segal (Nick), Sandy Dennis (»Honey«)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Ulrike Ruppin, Jane Spiekermann und Friedemann Pfäfflin
Gegen den Strom und kreuz und quer Paranoide Schizophrenie (ICD-10: F20.0) Warum dieser Film? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur zeitgeschichtlichen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter Ernst Herbeck – das historische Vorbild der Filmfigur Alexander März . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein schizophrener Beitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das Leben des schizophrenen Dichters Alexander März Alexander März (Ernst Jacobi)
Warum dieser Film? Fragt man Kollegen, welche Filme ihnen zur Schizophrenie spontan einfallen, werden als erste Psycho (Hitchcock 1960) und Shining (Kubrick 1980) genannt und dann noch eine ganze Reihe weiterer Filme, die die Kinos erobert haben. Es sind spektakuläre Filme mit großartigen Schauspielern und Regisseuren, die meist eine monströse Straftat, einen oder gleich mehrere Morde zum Thema haben und wenig von den Einschränkungen zur Darstellung bringen, denen an Schizophrenie erkrankte Patienten unterliegen, und von deren damit verbundenem Leiden. Im Kontrast zu jenen erfolgreichen Filmen wurde hier von den Autoren ein viel bescheidenerer Film aus der Vergessenheit gehoben: Das Leben des schizophrenen Dichters Alexander März. Drehbuch Heinar Kipphardt (1976), Regie Vojtek Jasny, Kamera Igor Luther, in der Titelrolle Ernst Jacobi. Der Film wurde für das ZDF produziert und hat es nie in die Kinos geschafft, ist aber beim ZDF zu erwerben. Das Drehbuch (Kipphardt 1976) sowie ein ausführlicher Materialband (Kipphardt 1978) sind im Buchhandel erhältlich. Weil es schon einen ersten Band dieses Filmbuchs gibt (Doering u. Möller 2008), in dem Symptome, ätiologische Theorien und Behandlungsvorschläge der Schizophrenie an Beispielfilmen systematisch abgehandelt wurden, erscheint es entbehrlich, erneut darauf einzugehen. Das Thema Schizophrenie ist ohnehin viel zu groß, um es anhand eines Films zu diskutieren. Kipphardts Film eröffnet aber Perspektiven, die in den im ersten Band diskutierten Filmen noch wenig zur Sprache kamen, nämlich erstens eine zeitgeschichtliche, zweitens eine zum Thema Schizophrenie und Kunst und schließlich eine Perspektive, die die eigenen Reaktionen auf die Begegnung mit der im Film dargestellten Geschichte reflektiert. Die drei Autoren dieses Beitrags haben sich jeweils einer dieser Perspektiven (U. Ruppin 7 Abschn»Zusammenfassung der Handlung des Films« und »Der Dichter Ernst Herbeck – das historische Vorbild der Filmfigur Alexander März«; J. Spiekermann 7 Abschn.»Ein schizophrener Beitrag«; F. Pfäfflin 7 Abschn.»Warum dieser Film?« und »Zur zeitgeschichtlichen Perspektive«) angenommen und sie ganz subjektiv abgehandelt, weil sie zum Zuhören und Sehen anregen wollen anstatt eine fertige Interpretation vorzulegen.
Die Handlung Der Film beginnt mit einer drastischen Szene: Der junge Psychiater Dr. Kofler (Michael Hinz) sucht seinen entlaufenen Patienten Alexander März (Ernst Jacobi) und findet ihn in der Position des gekreuzigten Jesus in einem Baum hängend. Er bringt ihn zurück in die psychiatrische Anstalt, und es wird deutlich, dass Alexander an einer paranoiden Schizophrenie leidet. Er hört imperative Stimmen, die ihn dazu zwingen, bestimmte Wege einzuschlagen, und er wendet sich mit Klagen und Forderungen an die Öffentlichkeit. Kofler ist darum bemüht, seinen Patienten zu verstehen, wälzt dessen Krankenakte und führt Gespräche mit den Eltern. In Form von Rückblenden erfährt der Zuschauer einiges über die Biografie von Alexander: Er wurde mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren, konnte sich schlecht artikulieren. Der Vater schämte sich dafür, was den Jungen sehr schweigsam machte. Die Mutter bedachte ihn mit übertriebener Fürsorge. Der Vater wiederum hatte Angst, sein Sohn könnte verweichlichen. Durch Alexanders Leben in der Anstalt werden Einblicke in die Situation der Psychiatrie in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gewährt: Die Patienten leben stark eingeschränkt. In den
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. Abb. 1 Alexanders (Ernst Jacobi) Zustand hat sich deutlich gebessert. Die Beziehung, die er zu der Mitpatientin Hanna (S. Schaefer) entwickelt, ist dafür ein sichtbares Zeichen. Legende und Bild: © ZDF/CCC Berlin
großen Schlafsälen gibt es keine Privatsphäre, und es mangelt ihnen an Lebensqualität. Die Therapie ist bedenklich und mildert das Leiden nicht, sondern verstärkt es noch. Ärzte und Pfleger verhalten sich zum Teil herablassend oder führen die Patienten vor, z. B. auch sozialpsychiatrisch interessierten Besuchergruppen. Alexander reagiert darauf mit Rebellion. Einzig der Psychiater Kofler scheint sich näher für ihn zu interessieren. Er ist beeindruckt von Alexanders aphoristischer Begabung und regt ihn an, Gedichte zu schreiben. Schlaglichtartig werden darin sein Leiden, die Verhältnisse in der Anstalt, die therapeutische Beziehung und vieles mehr beleuchtet. Zwischen Alexander und Hanna (Susanne Schaefer), einer Mitpatientin, entwickelt sich eine Liebesbeziehung (. Abb.1). Sie werden in einem Stall beim Beischlaf erwischt. Alexander wird dafür sanktioniert und auf die geschlossene Station verlegt. Von nun an ergibt er sich in sein Schicksal, rebelliert, so scheint es, nicht mehr. Am Schluss des Films ist Kofler wieder auf der Suche nach seinem Patienten. Erneut hängt Alexander wie der gekreuzigte Jesus im Baum, lächelnd, eine Zigarette im Mund. Kofler ruft ihn erleichtert an: »Kommen Sie runter, Herr März!« Wie in der Eingangsszene zündet sich der Gekreuzigte die Zigarette an. Eine wilde Feuersbrunst fährt über den Mann und den mit Benzin übergossenen Baum.
Zur zeitgeschichtlichen Perspektive Da nicht nur im Medizinstudium zunehmend die historische Perspektive verloren geht und Studenten angehalten werden, nur noch das allerneueste Wissen für ihren Bachelor- oder Masterabschluss parat zu haben, das in fünf Jahren ohnehin überholt sein wird, erscheint der zeitgeschichtliche Aspekt von Kipphardts Film besonders reizvoll, zumal das, was und wie er es schildert und ins Bild setzt, gerade einmal eine Generation zurückliegt und gleichzeitig so wirkt, als stamme es aus einer grauen Vorzeit. Die Psychiatrie befand sich während der 1970er Jahre in einem tiefgreifenden Umbruch. Die psychia-
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trischen Landeskrankenhäuser waren heillos überfüllt und das therapeutische Instrumentarium war sehr begrenzt. Die Anstalten lagen meist weit entfernt vom Heimatort der Patienten, sodass der Kontakt zu den Angehörigen abbrach. Die Patienten blieben oft über Jahrzehnte, wenn nicht gar lebenslang in der Anstalt. Ich erinnere Besuche in den 1960er und 1970er Jahren in solchen Einrichtungen, in denen bis zu vierzig Patienten in durch Bretterverschläge abgegrenzten Abschnitten schlecht geheizter Kreuzgänge verfallener Klöster zusammengepfercht waren, grimassierten, autistisch in einer Ecke saßen, onanierten oder laut vor sich hin sprachen und sangen, weil ihre Tage allein durch die Essenszeiten, das Aufstehen und Zubettgehen strukturiert waren und ihnen nichts anderes übrig zu bleiben schien, als ihre Stereotypen und Skurrilitäten zu pflegen Anfang der 1970er Jahre gab der Bundestag eine Untersuchung in Auftrag, die 1975 unter dem Titel »Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung« veröffentlicht wurde, meist unter der Kurzbezeichnung »Psychiatrie-Enquête« zitiert wird und insgesamt mehr als 1600 Druckseiten umfasst. Die Schlusslichtposition in diesem System der Mangelversorgung nahm die forensische Psychiatrie ein, d.h. jene Maßregelvollzugskrankenhäuser, in die Gerichte psychisch kranke Rechtsbrecher einwiesen, deren Schuldfähigkeit bei der Tatbegehung erheblich eingeschränkt oder aufgehoben war. Um jene Zeit wurden die Schriften der englischen Antipsychiatrie mit ihren Vertretern Ronald Laing (1959, 1961; Boyers u. Orrill 1971) und David Cooper (1967) in Deutschland bekannt und fanden hier starke Resonanz (Basisgruppe Medizin der Fachschaft Medizin Gießen 1971; Kursbuch 28 1972) ebenso wie die kritischen französischen Arbeiten Michel Foucaults (1963; Deleuze 1986) und Robert Castels (1976). In Italien initiierten Franco Basaglia (1968) und sein Team eine Bewegung, die die Öffnung der psychiatrischen Anstalten einforderte und – regional unterschiedlich – auch durchsetzte (Basaglia 1971; Crepet u. Giannichedda 1981; Gallio et al. 1983; Basaglia 2000). In Deutschland war Klaus Dörner (1969; Dörner u. Plog 1984) der Protagonist der damals weit um sich greifenden sozialpsychiatrischen Bewegung, die sich als Avantgarde der Psychiatrie verstand. Deshalb habilitierte er sich Anfang der 1970er Jahre an der Hamburger Medizinischen Fakultät auch nicht für das Fach Psychiatrie, sondern für das Fach Sozialpsychiatrie. Es war in der psychiatrischen Szene eine sehr bewegte Zeit kontroverser Diskussionen, die Kipphardt, der selbst Arzt war und an der Charité in Berlin als Psychiater gearbeitet hatte, bevor er Dramaturg und Schriftsteller wurde, mit seinem Film in Szene setzt. Das Vorbild für die Figur des schizophrenen Dichters Alexander März fand er in Ernst Herbeck (Navratil 1977), von dem im nächsten Abschnitt berichtet wird.
Der Dichter Ernst Herbeck – das historische Vorbild der Filmfigur Alexander März Man kann es nehmen, wie man will – Es freut sich immer der Doktor Navratil. (Ernst Herbeck, Zitat aus Navratil 1998, S. 149)
Als der junge Psychiater Leo Navratil im Jahr 1946 seine Arbeit in der Heil- und Pflegeanstalt Gugging bei Wien begann, wurde auch der Patient Ernst Herbeck dort aufgenommen. Es war nicht dessen erster Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus. Bereits 1940, im Alter von 20 Jahren, war er in der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik behandelt worden. Er glaubte, mit einem Mädchen in Verbindung zu stehen, dessen Stimme er höre und das ihn hypnotisieren wolle. Nach dreieinhalb Monaten und einer Behandlung mit Insulinschocks wurde Herbeck entlassen. Zwei Jahre später musste er erneut in stationäre Behandlung und kam zum ersten Mal nach Gugging. Er hörte nach wie vor Stimmen, die ihn zwangen, in bestimmte Richtungen zu gehen, und er schlug sich selbst. Dieses Mal bestand die Behandlung aus Cardiazolschocks. Schon 1945 kam er erneut in die Klinik, nachdem er seinen Vater
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angegriffen hatte; nun wurden ihm Elektroschocks zugefügt. Seine vierte Einweisung in die Psychiatrie 1946 nach Gugging sollte schließlich bis an sein Lebensende dauern. Herbeck war mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren worden, die ihn trotz mehrerer Operationen das Sprechen erschwerte und als Kind den Spott seiner Mitschüler einbrachte. Im Alter von 18 Jahren unterzog er sich einer letzten Operation, doch seine Sprache blieb schwer verständlich; er redete wenig. Trotzdem oder gerade deshalb sollte Navratil (2002) den Dichter Ernst Herbeck später als »einen der hervorragendsten Künstler« (Navratil 2002, S. 157) unter seinen Patienten bezeichnen. Navratil begann 1954, seine Patienten zu diagnostischen Zwecken zeichnen zu lassen. Die ganz eigene Qualität dieser Werke beeindruckte ihn, und er ließ sie in seine Forschungen zur Psychopathologie des Ausdrucks einfließen. Sein Buch Schizophrenie und Kunst (1965) erregte vor allem in Künstlerkreisen großes Aufsehen; die Unterstützung zahlreicher Maler und Schriftsteller war die Folge. Jean Dubuffet, der den Begriff »Art Brut« geprägt hatte, erklärte die Zugehörigkeit der Gugginger Künstler zu dieser rohen Kunst der Außenseiter. Unter »Art Brut« verstand er eine Kunst, die nicht in Beziehung steht zur kulturellen Kunst der Museen und Galerien, sondern die ihren Ursprung im Inneren des Künstlers hat (Peiry 2005). In den darauffolgenden Jahren fanden zahlreiche Ausstellungen statt; es erschienen Bücher und Filme über die Gugginger Künstler. Dieser Erfolg bestätigte Navratil in der Arbeit mit seinen »Künstlerpatienten« (Die Geschichte des Hauses der Künstler, 1954–2009) und motivierte ihn, sie weiterhin zu fördern und sein Vorhaben zu erweitern. Unter den Gugginger Künstlern befand sich auch der schizophrene Dichter Ernst Herbeck. Sein erstes Gedicht schrieb er auf Verlangen Navratils im Spätsommer 1960:
Der Morgen Im Herbst da reiht der Feenwind da sich im Schnee die Mähnen treffen, Amseln pfeifen heer im Wind und fressen.1
Die Poesie dieser Zeilen, die später zahlreiche Leser berührte, veranlasste den Psychiater, Herbeck von nun an regelmäßig zu besuchen und ihn zum Dichten anzuregen. Auf diese Weise entstand über die Jahre ein umfangreiches Werk, das veröffentlicht und von Lesern sowie von namhaften Autoren bewundert wurde. Auch Kipphardt, der das Drehbuch zum Film lieferte, wurde so auf Alexander (das Pseudonym Ernst Herbecks) aufmerksam. Er nahm Kontakt zu Leo Navratil auf, um mehr über dessen Patienten zu erfahren und ihn kennenzulernen. Aus Gründen der Authentizität nahm Kipphardt zahlreiche Gedichte Herbecks, z. T. wortwörtlich, in sein Drehbuch auf, ohne sie genau zu zitieren. Das führte zum Streit mit Navratil. Dieser war darum bemüht, seinen Patienten die gleichen Rechte wie professionellen Künstlern zu ermöglichen einschließlich des Urheberrechts. Kipphardt hatte dieses Recht seiner Meinung nach missachtet. Er hatte Herbeck ein Honorar von 500DM zukommen lassen, ohne ausdrücklich zu sagen, was er damit zu bezahlen gedachte.
Der Psychiater Der Psychiater ist der Sorge des Patienten. Der Psychiater dankt und denkt über den Patienten. Der Psychiater denkt und schützt die Worte des Patienten.
1
Dieses und die folgenden Gedichte sind aus Herbeck (1999) entnommen.
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Trotz Navratils Anspruch, seine Künstler von ihrer Arbeit profitieren zu lassen und ihnen Anerkennung zu verschaffen, verlor er nicht aus den Augen, dass es sich auch um hilfsbedürftige Patienten handelte, deren Schizophrenie eine schwere psychische Erkrankung darstellte (Navratil 1998). Er erkannte diese Störung auch in Herbecks Gedichten; sie erschienen ihm »ebenso lyrisch wie schizophren« (Navratil 2002, S.158). Er war der Auffassung, dass eine Trennung von Poesie und Schizophrenie in Herbecks Texten kaum möglich sei. Dies wird z. B. am schubweisen Verlauf seiner Erkrankung deutlich: Phasen starker Erregung und Halluzinationen wechselten sich ab mit Phasen der Besserung. Die psychotischen Schübe führten zu einer Veränderung von Herbecks Sprache, die trotz allem von »intensivster Lebendigkeit« (S.159) war. Wenn es ihm besser ging, orientierte sich auch seine Sprache stärker an vorgegebenen Normen.
Patient und Dichter Je größer das Leid desto kleiner der Dichter Umso härter die Arbeit Umso tiefer der Sinn Je größer das Unheil desto härter der Kampf Umso ärger der Verlust desto irrsinniger die Verdammten.
Herbeck schrieb jedoch nie aus eigenem Antrieb; er benötigte stets die Ermunterung durch seinen Arzt und meist auch die Vorgabe eines Themas. Andererseits lehnte er es nie ab, ein Gedicht zu verfassen. Für Navratil (2002) war dies die beste Möglichkeit, mit einem Patienten zu kommunizieren, der für eine herkömmliche Psychotherapie in Form von Gesprächen unzugänglich gewesen wäre. Mit Ausnahme der Zeit vom Februar 1980 bis zum August 1981, in der Herbeck auf eigenen Wunsch entlassen und in einem Pensionistenheim aufgenommen wurde, verbrachte er sein Leben ab der Einweisung im Jahre 1946 in Gugging. Bei seiner Rückkehr 1981 konnte er in das neu gegründete »Haus der Künstler« (damals »Zentrum für Kunst-Psychotherapie«) einziehen, das durch Navratils Initiative entstanden war. Dieser abgetrennte Wohn- und Arbeitsbereich am Rande der Klinik sollte der Förderung der künstlerischen Fähigkeiten der Patienten im Rahmen ihrer Therapie dienen. Navratils Nachfolger Johann Freilacher setzte sich für eine Professionalisierung der Arbeit der Patienten ein, die unter seiner Leitung seit 1986 den Status als Künstler genießen. Ihre Werke wurden in zahlreiche Ausstellungen und Publikationen aufgenommen, und in Gugging wurde eine Galerie eingerichtet. Im April 2000 entstand aus dem »Haus der Künstler« eine Sozialhilfeeinrichtung, die nicht mehr Teil der psychiatrischen Klinik ist. Den Künstlern wird dort ein selbstständiges Leben ermöglicht, im Alltag werden sie entsprechend ihrer Erkrankung unterstützt und durch ihre Tätigkeit wird ihr Selbstwert gefördert. Seit 2006 gibt es in Gugging das »Art/Brut Center«, zu dem das »Haus der Künstler« sowie die »Galerie der Künstler aus Gugging« gehören, zusätzlich eröffnete hier ein Museum. Gegenwärtig finden Restaurierungsarbeiten und der Bau eines neuen Gebäudes statt, um noch mehr Künstlern ein Leben und Arbeiten in Gugging bieten zu können. Die Einrichtung dient als Vorbild für ähnliche Initiativen und ist zum »Mekka der Art-Brut-Fans« geworden (Brüggemann u. Schmid-Krebs 2007). Navratil verstarb 2006 an einem Schlaganfall. Bereits 15 Jahre zuvor war Ernst Herbeck ebenfalls an einem Schlaganfall gestorben. Als Navratil ihn fragte, was nach seinem Tod aus ihm werde, antwortete er: »Vielleicht eine Legende« (Schütte 2002).
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Der Tod Der Tod kam einst einhergeschlichen. und raubte den Toten das Leben. so ist der Tod wie einst verblichen. und schenkte den Toten wieder das Leben.
Ein schizophrener Beitrag Bevor ich den Film ansah, hatte ich noch nie etwas von Alexander März gehört, sodass ich mich »unbedarft« auf Alexander und den Film einlassen konnte. Im Anschluss an den Film war ich zuversichtlich, da ich das Gefühl hatte, es stecke eine Fülle von Möglichkeiten im Film, um anzusetzen und etwas Interessantes dazu zu schreiben. Die Ideen gingen von voyeuristischen Elementen im Verhalten Alexanders über seine inzestuöse Mutter-Sohn-Beziehung sowie konfliktreiche und lieblose Vater-Sohn-Beziehung bis hin zur Bewunderung der »begabten Verrückten«. Ich meinte, den Film erfasst zu haben. Aber sobald ich versuchte, den schizophrenen Dichter Alexander März konkret zu fassen zu bekommen, verlor ich mich. Ich gelangte vom Hundertsten ins Tausendste und vergaß dabei, was ich ursprünglich hatte sagen wollen. Irritiert durch den Widerspruch – latent das Gefühl, es gäbe zahlreiche Möglichkeiten, den Film zu kommentieren; manifest die Unfähigkeit, eine Idee zu konkretisieren – machte ich mich an den ersten Versuch einer Ausarbeitung einer Idee. Die Frage, was die Diskrepanz zwischen latenter und manifester Ebene zu bedeuten habe, ignorierte ich vorerst. Ich wählte eine Idee, die ich noch nicht im Sinn hatte, als ich den Film ansah: »Die Unmöglichkeit einer sexuellen Beziehung« im Sinne des französischen Psychoanalytikers Lacan, bezogen auf die Beziehung von Alexander und seiner Freundin Hanna (Lacan 1972–1973). Ausgehend von der Annahme, dass Sexualität für Menschen nicht auf die gleiche Weise natürlich ist wie für Tiere, lautet Lacans Diktum, dass die menschliche Sexualität ohne einen Beitrag der Fantasie nicht funktioniere. So könne Sexualität nicht auf spontane Weise entdeckt werden, stattdessen müsse sie gelernt werden. Dies wiederum seien Stellenwert und Funktion von Fantasie. Was wir uns wünschen, ist, anders als beim Tier, nicht naturgegeben. Daher ist die Antwort auf die Frage, was jemand wolle oder begehre, Fantasie. So wie die Masturbation nur mit einer Fantasie (meist mit einem eingebildeten Partner) funktioniert, so sind auch bei der gemeinsamen Sexualität nicht nur zwei Körper, sondern eben auch zwei Fantasien involviert. Die Körper sind sichtbar zusammen, die Fantasien jedoch nicht zwingend oder eben nie vollständig. Der slowenische Philosoph Žižek illustriert die Unmöglichkeit einer sexuellen Beziehung anhand berühmter Opern von Wagner (Žižek 1999). Da er sich im Besonderen mit dem Thema des Opfers (Opferung des anderen oder seiner selbst) beschäftigt und manche Opern die Opferung leidenschaftlicher Liebe zum Thema haben, liegt die Verknüpfung nahe. Diese Opferung kann in drei Formen stattfinden, die den drei Stufen der Existenz nach Kierkegaard entsprechen: die ästhetische, die ethische und die religiöse Stufe; alle drei Stufen führen zu einem anderen Ergebnis. In der ästhetischen Form endet das spontane Streben nach Lust in einem Abgrund des Nichts (Beispiel: Tristan und Isolde). Auf der ethischen Stufe erlaubt sich das Subjekt, von allgemeinen Regeln geführt zu werden; folglich akzeptiert es das Opfer spontaner Leidenschaft in der Darbietung von Pflicht und Schuldigkeit (Beispiel: Die Meistersinger von Nürnberg). Auf der dritten Stufe, in der religiösen Form, erbringt das Subjekt einen totalen Verzicht und erwartet keine Wiederkehr – nicht einmal in Form der Sublimierung (Beispiel: Parsifal). Auch hier meinte ich spontan, ich hätte verstanden, was Lacan (bzw. Žižek) mit dieser Theorie meint, und durfte wenigstens für ein paar Stunden das Gefühl genießen, ich würde an einem originellen Einfall arbeiten; ich meinte, dass die drei Formen der Unmöglichkeit einer sexuellen Beziehung sehr gut anhand des Filmes zu erklären seien: Nachdem Alexander Hanna lange Zeit umworben hat, kommt es
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. Abb. 2 Wegen aggressiven Verhaltens ist Alexander (Ernst Jacobi) erneut in die geschlossene Abteilung verlegt worden. Das so hoffnungsvoll begonnene Experiment ist gescheitert. Legende und Bild: © ZDF/CCC Berlin
endlich zum Liebesakt. Noch während des Aktes werden die beiden aber von einem Pfleger/Wächter »erwischt« und unterbrochen. Alexander rastet daraufhin aus; in seiner Wut kommt es zu einer Tätlichkeit gegen den Pfleger, sodass Alexander daraufhin im abgeschlossenen Sicherheitstrakt landet. Hier ist er von seiner Geliebten abgeschnitten und kann sie nicht kontaktieren: Das spontane Streben nach Lust endet in einem Abgrund des Nichts (ästhetische Form). Anfänglich wehrt Alexander sich, er rebelliert, versucht es mit Gewalt und will sich mit der Situation nicht abfinden. Bald aber beugt er sich den dort herrschenden Regeln, flüchtet in sein Notizbuch und beruhigt sich: Er akzeptiert das Opfer spontaner Leidenschaft in der Darbietung von Pflicht und Schuldigkeit (ethische Form) (. Abb.2). Am Ende des Films reicht es aber nicht mehr aus, nur Gedichte zu schreiben; Alexander verbrennt sich selbst, nackt am Kreuz, nachdem er sich selbst gekreuzigt hat: Er erbringt einen totalen Verzicht und erwartet keine Wiederkehr (religiöse Form). Nach der ersten Euphorie über die Anschaulichkeit der drei Stufen, fragte ich mich plötzlich, ob es hier um Alexander oder um Lacans Diktum gehe. Natürlich ging es um den schizophrenen Dichter Alexander März! Wurde er dem Leser auf irgendeine Weise durch Lacans Theorie näher gebracht? Mit einem Mal kam es mir so vor, als würde ich Themen, die nicht zusammengehören, unbedingt zusammendenken wollen. Hatte ich Lacan überhaupt richtig verstanden? Hatte ich Alexanders Verhalten verstanden? Bezüglich dieser Idee war ich mir so unsicher geworden, dass ich überhaupt nicht mehr wusste, was ich damit eigentlich hatte sagen wollen, sodass ich erneut in der für mich schwierigen Situation war, eine Idee zu finden, die sich explizieren lassen würde. Ich fuhr fort, indem ich Kipphardts »März« las. Schnell landete ich bei der Frage, ob März eine Philosophie habe (Kipphardt 1976). Bei vielen seiner Gedichte meinte ich dann, verstanden zu haben, was Alexander damit hatte sagen wollen, andere ließen mich im Dunkeln tappen, wieder andere brachten mich erfreut zum Schmunzeln:
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Gegen den Strom und kreuz und quer
Was ist normal? Ein normaler Mensch tut lebenslang nicht, was er will. So stark genießt er die Pflicht. Je besser es ihm gelingt, nicht er selber zu sein, desto mehr bekommt er. Mit 65 wird der normale Mensch pensioniert (auf Antrag mit 63). Jetzt hat er Zeit für sich, doch er hat sich leider vergessen. (Kipphardt 1976, S. 191) März, Niederschrift. Es ist für einen Normalen vielleicht normal, dass in vierzig Jahren normale Menschen vielleicht 100 Millionen normale Menschen umgebracht haben. Gestern im Fernsehen sah ich das Bild eines schwer Atem schöpfenden Mannes, der in Pnom Pen [sic] verwundet auf der Straße lag. Wie die Kamera über ihn ging, sah ich, dass seine untere Hälfte vom Gürtel abwärts fehlte. Ins Bild kam eine andere Filmkamera. Normal ist, was alle tun. (Ebd. S. 191) Ist von mehreren einer vom Kurs abgekommen, können dies leicht auch die anderen sein. (Ebd. S. 192)
Das subversive Potenzial gefiel mir, ich wollte es daher gern aufgreifen, fragte mich aber, was ich damit sagen wollen würde. Im Rahmen der Antipsychiatrie der 1970er Jahre wurde der Wahnsinn eines Menschen als eine Wahrheit gegen die Wirklichkeit und als Erweiterung des Bewusstseins beschrieben. Im Wahnsinn sollte der beseelte Mensch gegen die seelenlose Wirklichkeit hervorgekehrt werden. Es ist jedoch wichtig für den schizophren Erkrankten, dass sein Gegenüber nicht in Rührung und Zuneigung verhaftet bleibt und damit übersieht oder vergisst, dass »der Künstler« ernsthaft krank ist – wie es passieren kann, wenn Kunstprodukte psychisch kranker Menschen vermarktet werden. Oder sollte ich die Gedichte nutzen, um zu illustrieren, dass psychotisch sein eine Möglichkeit menschlichen Seins ist? Es mag sein, dass diese Möglichkeit mit dem Traum absoluter Freiheit zu tun hat, mit dem Nichtunterworfensein unter irgendein Gesetz, aber wie? Wieder ließ sich das, was ich meinte, als Ausgangspunkt nutzen zu können, nicht sinnvoll ausführen. So machte ich mich – bereits etwas ratlos – an einen dritten Versuch, der ähnlich verlief wie die vorherigen. Mittlerweile hatte ich das Gefühl voller Anregungen zu sein, die mir einerseits kreativ erschienen, andererseits aber nichtssagend in dem Sinne, dass eine »Botschaft« fehlte. Ich war durcheinander, und der Gedanke an den nahenden Abgabetermin versetzte mich in leichte Panik. Erst im gemeinsamen Gespräch, als unsere in drei Teile (Personen) gespaltene Gruppe zusammenkam, wurde die Integration meiner Ideen denkbar, als ich darauf hingewiesen wurde, wie ich meine Auseinandersetzung mit der Schizophrenie erlebe. Ich beschäftigte mich mit einem schizophrenen Patienten; wie konnte ich die Gegenübertragung, die ich im therapeutischen Prozess achtsam wahrnehme, so aus den Augen verlieren? Die Gegenübertragung betont den unbewussten Anteil der Interaktionen zwischen Therapeut und seinem Patienten. Sie meint die Gesamtheit der unbewussten Reaktionen des Analytikers auf die Person des Analysanden (Laplanche u Pontalis 1967, S.164)
Bei Schizophrenen sind in der Gegenübertragung die Fragmentierungsgefahr und die damit verbundene Panik einschließlich der verhalteneren Affektmodulation beständig aufmerksam wahrzunehmen. Aus dieser Gegenübertragungshaltung resultiert ein stärker strukturierendes therapeutisches Vorgehen. Bei sich ausbreitendem Fragmentierungserleben des psychotischen Patienten können im Therapeuten Spannung, Irritation, Verwirrung, Müdigkeit, Fremdheit oder auch seinerseits empfundene Panik
35 Das Leben des schizophrenen Dichters Alexander März – Alexander März (Ernst Jacobi)
aufkommen (Hering 2003). Zwar handelte es sich bei dieser Arbeit nicht um den direkten Umgang mit einem Patienten, dennoch beschäftigte ich mich intensiv mit Alexander März. Dabei gelang es mir nicht, im Auge zu behalten, stärker strukturierend vorzugehen (in diesem Fall bei der schriftlichen Arbeit), was zum einen die typischen Phänomene wie Irritation, Spannung oder Panik in mir auslöste, mich zum anderen aber auch daran erinnerte, dass auch ich konfus und verwirrt sein kann und meine Toleranz für Widersprüche, Verrücktheit und Chaos gering ist. Ich wurde also am eigenen Körper daran erinnert, dass es eine allgemein menschliche Möglichkeit ist, schizophren zu werden, dass der Schritt von der Neurose zur Psychose nicht immer ein großer sein muss. Personen in einem psychotischen Zustand haben erhebliche Schwierigkeiten, in einer organisierten, rationalen Form zu denken. Kernsymptome einer Schizophrenie sind Denk-, Antriebs- und Affektstörungen sowie Sinnestäuschungen und Wahn. Die schizophrene Störung entsteht meistens in der Adoleszenz zwischen dem 15. und dem 25. Lebensjahr, sodass Dörner u Plog dieses Leiden allgemein aus den Entwicklungsaufgaben dieser Zeit heraus beschreiben (Dörner u Plog 1984). So liege die allgemeine Erfahrung des Reißens, Trennens und Teilens in den Jahren der späten Pubertät und den folgenden Jahren. In diesem Lebensalter seien Trennung vom Elternhaus und Bindung an fremde Menschen gleichzeitig Aufgabe; Gegenstände, Entfremdungen und Widersprüche müssten entstehen, ausgehalten werden und zu neuen Qualitäten der Beziehungen und Weltanschauungen führen. [Diese] [n]eue Art der Informationen gilt es in eine Ordnung zu bringen und nicht im Chaos zu belassen. Alles scheint gleichzeitig einfach und ist dennoch kompliziert (Dörner u. Plog 1984, S.150)
Auch Zweifel und das Verlangen nach Eindeutigkeit gehören in diese Phase. Durch die Beschäftigung mit der Schizophrenie war es mir nicht mehr möglich, die Augen davor zu verschließen, dass die Zerrissenheit auch ein Teil von mir ist, dass auch ich in schwer aushaltbare Spannungszustände geraten kann und schizophrene Anteile habe. Das individuelle Risiko, im Leben an einer Schizophrenie zu erkranken, liegt bei einer engeren Auslegung der Kernsymptome bei ca. 0,8% (Häfner 2000). Ich musste mir eingestehen, dass Widersprüche, die in mir bestehen, eben nicht zwangsläufig im Außen sind, also eine Lösung im Außen nur eine Scheinlösung sein kann. Dörner u Plog postulieren, dass wir dem schizophrenen Patienten keinen Raum lassen, sondern ihn in Räume abschieben müssen, damit er unser mühsam aufrecht erhaltenes Gleichgewicht nicht stört – obwohl viele schizophren Erkrankte ihr Leben auch außerhalb einer Einrichtung, oft in eigener Wohnung leben könnten. Diesen Beitrag hatte ich mir ursprünglich ganz anders vorgestellt. Aber er hat sich zu einem »schizophrenen Beitrag« hin entwickelt, der nicht mehr von der Ambition getrieben ist, Lacan, Žižek oder die Frage, was normal sei, schlüssig zu beantworten, sondern der dazu aufruft, über den Umgang mit psychisch kranken Menschen nachzudenken. Das Label »Schizo« bedeutet für den »Gesunden« eben auch eine Sicherheit spendende Distanz – unter Umständen auf Kosten des Kranken. Ich bin der Meinung, dass ich mein anfänglich latentes Gefühl, eine Fülle von Möglichkeiten zur Kommentierung des Films zu besitzen, deshalb nicht manifest in Worte fassen konnte, weil ich in meinem Verlangen nach Eindeutigkeit und Unterdrücken von Zweifeln den wesentlichen Umstand – hier handelt ein Schizophrener – »vergaß«.Die Einzelteile dieses Beitrags sind nicht unter einen Hut zu bringen. Nur unter eine Dornenkrone
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37 Das Leben des schizophrenen Dichters Alexander März – Alexander März (Ernst Jacobi)
Originaltitel
Das Leben des schizophrenen Dichters Alexander März
Erscheinungsjahr
1975
Land
Deutschland
Drehbuch
Heinar Kipphardt
Regie
Voitek Jasny
Hauptdarsteller
Ernst Jacobi (Alexander März), Michael Hinz (Dr. Kofler), Susanne Schaefer (Hanna)
Verfügbarkeit
DVD kann beim ZDF käuflich erworben werden
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Peter Uffelmann und Jochen Breit
Geliehene Identität, um zu überleben Schizotype Störung (ICD-10: F21) vs. andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakterisierung der Hauptfigur Travis Bickle und Psychodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Filmplakat Taxi Driver, USA 1976 Quelle: Cinetext
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Taxi Driver Travis Bickle (Robert De Niro)
Die Handlung Der Film Taxi Driver von Martin Scorsese (. Abb. 1) schildert das Leben des ehemaligen Vietnamsoldaten Travis Bickle dargestellt von Robert De Niro, im New York der 1970er Jahre Die Eingangsszene zeigt eine Stadt bei Nacht, ein Augenpaar, der Blick misstrauisch, vorsichtig, umherschweifend. Travis, der Protagonist des Films, stellt sich wortkarg in einer Taxizentrale vor. Da er nachts nicht schlafen kann, ist bereit, auch die unbeliebten Nachtschichten zu übernehmen und so kommt er bis in die dunkelsten Ecken der Stadt. In seiner Freizeit fährt er ziellos umher, besucht Pornokinos. Seiner Wohnung ist ein spartanisch eingerichtetes Einzimmerappartement, die Fenster sind vergittert. Hier schreibt er Tagebuch. Während des gesamten Films werden Tagebuchkommentare eingestreut. Voller Hass beschreibt er die nächtlichen Begegnungen mit Huren, Zuhältern, Herumtreibern und Kriminellen, um im nächsten Moment mit betonter Gleichgültigkeit zu notieren, es sei ihm egal, wohin er fährt und wen er befördert. Schlafen geht nicht, selbst nach einem 12-stündigen Arbeitstag, sein Tagebucheintrag lautet:
R »Mir fehlt ein Mensch.« Die Einsamkeit lässt ihn des Öfteren zu Tabletten und vermutlich auch zu Alkohol greifen. Versuche Frauen kennenzulernen schlagen ebenfalls meist fehl. Von der blonden Wahlkampfhelferin Betsy, die für den Senator und designierten Präsidentschaftskandidaten Palantine arbeitet und die er auf einer seiner Fahrten zufällig sieht, ist er stark beeindruckt. Schick angezogen betritt Travis das Wahlkampfbüro steuert direkt auf seinen »Engel« zu und macht ihr ohne Umschweife Komplimente. Seine offene, direkte Art beeindruckt Betsy sichtlich: »… ich habe noch nie so einen Mann wie sie getroffen.« Sie verabreden für das nächste Treffen einen Kinobesuch. Travis erinnert Betsy an einen Song des rebellischen Songschreibers Kris Kristofferson, dessen Figur für Betsy einen Widerspruch bedeutet: »… er ist ein Prophet und ein Pusher (Draufgänger)«. Travis kapiert sofort: »… das sagen Sie über mich.« Aber seine Umwerbungsversuche werden von ihr jäh beendet, als er sie in einen Pornofilm einlädt. Während seiner Taxifahrten ist er immer mehr von den zwielichtigen Gestalten, die er befördert, angewidert. Seine Abscheu gegenüber dem Abschaum dieser Stadt, Huren, Zuhälter, Herumtreiber steigt zunehmend an. Diese Ansicht unterbreitet er auch Senator Palantine, als dieser zufällig sein Fahrgast ist. Travis steigert sich in eine Hasstirade auf die Stadt New York und die dort lebenden Menschen Seine Fahrgäste wirken sichtlich konsterniert. Im weiteren Verlauf der Handlung begegnet er der 12-jährigen Prostituierten Iris, die versucht vor ihrem Zuhälter zu fliehen. Bevor Travis mit ihr davon fahren kann, zieht sie der Zuhälter aus seinem Wagen. Er sieht sie später zufällig in Begleitung einer anderen jungen Frau wieder Sie dreht mehrmals irritiert ihren Kopf nach seinem Taxi. Die beiden Frauen sprechen zwei Männer an, es geht gleich zur Sache. Die Frauen haken sich bei den Jungs unter. Travis hat mitgehört und weiß was für »eine« die junge Frau ist. Wütend beschleunigt er sein Taxi und verschwindet mit durchdrehenden Reifen. Im Tagebuch folgt eine Selbstbeschreibung:
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Geliehene Identität, um zu überleben
R »Ich bin Gottes einsamster Mann.« Seine Kollegen, die scheinbar einzigen sozialen Kontakte für ihn, können nicht die geringste Sensibilität für seine Situation aufbringen. Travis vertraut sich Wizard einem Kollegen an. Unsicher und zögerlich erzählt er von seinen Depressionen und Schlafstörungen. Die Antwort seines Kollegen ist: »Du denkst zu viel.« Nun beginnt er sich zu bewaffnen. Er kauft sich vier Pistolen und trainiert zu Hause. Er will in Form kommen. Auf seinem nackten Rücken wird eine lange Narbe sichtbar. Travis übt auf einem Schießstand. Im Pornokino setzt er mit gestrecktem Zeigefinger seine Schießübungen fort. Zu Hause vor dem Spiegel verwandelt sich Travis wieder zum Vietnamkämpfer. Er bastelt eine Vorrichtung, eine Schiene, die an seinem Unterarm geschnallt bei Streckung eine Pistole zum Vorschein bringt. Er versteckt die Pistolen am ganzen Körper und übt schnelles Ziehen und Feuern. Es sind Vorbereitungen für einen größeren Kampfeinsatz. Er wirkt entschlossen New York »zu säubern«. Eine öffentliche Wahlkampfveranstaltung mit dem Kandidaten: Travis mischt sich in einer olivgrünen Armeejacke unter die Wartenden. Er spricht einen »security man« an. Er behauptet, Verdächtige entdeckt zu haben und in den Secret Service eintreten zu wollen. Mit den Worten: »Hier wimmelt es nur so von Attentätern« verabschiedet sich Travis und reicht seine linke Hand zum Abschied – rechts geht nicht, da ist die Pistole auf der Schiene montiert, diesen Arm kann er ohne Folgen nicht ausstrecken. Zu Hause führt Travis Selbstgespräche mit einem imaginierten Gegner und übt das schnelle Ziehen und Zielen. An einer Wand hängt ein Wahlplakat des Kandidaten auf das Travis immer wieder mit imaginären Pistolen zielt. In einem Tagebucheintrag wird notiert:
R »Hier ist ein Mann, der sich wehrt gegen all die Scheiße, die Nutten.« Nach seinem gescheiterten Attentatsversuch auf Senator Palatine wird Travis zufällig Zeuge eines Überfalls in einem Supermarkt. Travis schießt den Täter nieder und flüchtet, da er keinen Waffenschein besitzt. Travis schreibt an seine Eltern zu deren Hochzeitstag. Er schildert sich als erfolgreichen Mann, der einen geheimen Regierungsauftrag ausführen muss und ein süßes Mädchen gefunden hat. Er schließt: »Ich hoffe, euch geht es genauso gut, wie mir …« Im Taxi sitzend beobachtet Travis, wie ein Mann von einem anderen am helllichten Tag zusammengeschlagen und überwältigt wird. Passanten flanieren teilnahmslos vorbei. Immer wieder erlebt er während seiner Taxifahrten Gewalt aus der Beobachterposition Iris in Begleitung einer anderen jungen Frau taucht vor der Scheibe des Taxis auf. Travis steigt aus und geht neben den Frauen her. »Suchst du was zum Ficken?« fragt Iris. Travis schluckt: »Ja«. Die junge Frau deutet auf einen Typ, vermutlich ihr Zuhälter. Matthew genannt »Sport«, steht singend und lässig an einen Türstock gelehnt vor einem Hauseingang. »Sport« nennt den Preis für das junge Mädchen. Die wartende junge Frau verschwindet mit Travis im Nachbarhaus. Travis zögert, er will wissen wie alt sie sei, wie sie heißt: »Iris, aber ich mag den Namen nicht.« Travis will wissen, ob sie sich an die Szene erinnert, wo sie »Sport« aus seinem Taxi zerrte. Das Mädchen verneint und beginnt sich auszuziehen. Travis bestimmt: »Ich hol dich hier raus.« Das Mädchen geht nicht darauf ein. Er versucht, die Kleine zu überzeugen, dass sie einen Job macht, den sie nicht mag und wiederholt: »Ich hol dich hier raus, du willst doch von hier weg.« Das Mädchen versteht Travis nicht. Sie betont, sie könnte jederzeit aufhören wenn sie wolle. Travis resigniert. Am nächsten Tag treffen sich Iris und Travis im Café. Der Zuschauer erfährt, wie sich Travis das Leben einer 12-Jährigen vorstellt. Das Mädchen nimmt ihren Zuhälter in Schutz. Travis schimpft »Sport« einen Killer. Iris spricht Travis auf seine Pupillen an (Medikamenteneinfluss oder Rauschgift?). Im Gespräch vertritt Travis immer entschiedener eine Seite, die
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genau weiß, was richtig und falsch für das Mädchen sei. Seine Stimme wird laut. Das Mädchen kann ihn beruhigen, als sie erzählt, dass sie in eine Kommune ziehen will. Das Angebot mitzuziehen lehnt er scheu lächelnd ab. Er wirkt gelöst. Travis outet sich als einer, der einen Regierungsauftrag auszuführen hat. Es liegt nahe, dass Iris Befreiung sein Auftrag ist. Travis trifft letzte Vorbereitungen. Er übt am Schießstand, putzt seine Stiefel und verbrennt die verdorrten, von Betsy verweigerten Blumen. Er hat einen Brief an Iris geschrieben und legt neben den handgeschriebenen Brief Geld für Iris Reise in die Kommune. Der Brief endet: »… wenn du ihn liest, bin ich tot.« Bei einer öffentlichen Wahlkampfveranstaltung des Senators Palatine sieht man Travis nun mit olivgrünen Armeejacke und Irokesenschnitt unter die Wartenden. Travis bewegt sich grinsend auf ihn zu. Er öffnet den Reisverschluss der Jacke, seine rechte Hand greift in Richtung linke Brustseite. Diese Bewegung alarmiert den security-man, Travis reagiert blitzschnell, dreht sich um und flieht. Zu Hause angekommen schluckt er Tabletten und sucht »Sport«, den Zuhälter des Mädchens auf. Er zieht eine Pistole und schießt »Sport« in den Bauch. Im Stundenhotel richtet Travis nun ein Blutbad an: er metzelt dort noch zwei weitere Männer nieder. Zuletzt will er sich selbst erschießen, doch sein Magazin ist leer. Als Polizisten den Raum mit gezogenen Pistolen betreten, setzt Travis seine linke Hand mit gestrecktem Zeigefinger an seine Schläfe und imitiert Schüsse. Er ist blutüberströmt und ist schwer verletzt. In der nächsten Einstellung sieht man einen Zeitungsausschnitt »Taxifahrer bekämpft Gangster«. Aus dem Off ertönt eine männliche Stimme, vermutlich der Vater von Iris, der sich bei Travis für die Rettung seiner Tochter bedankt: »Für uns sind Sie ein Held.« Der Dankesbrief des Vaters ist an die Wand gepinnt. Travis fährt nach seiner Genesung wieder Taxi. Er wird von seinen Kollegen mit »Killer« begrüßt. Einer macht Travis aufmerksam, dass ein Fahrgast sein Taxi bestiegen hat. Betsy sitzt im Taxi. Sie begrüßen sich. Schweigen. Betsy kennt seine Geschichte aus der Zeitung. Ihre Stimme klingt beeindruckt und respektvoll. Travis wiegelt ab. Sie tauschen Blicke über den Rückspiegel. Betsy steigt vor ihrem Haus aus. Sie bleibt vor dem geöffneten Autofenster stehen. Sie beginnt einen Satz mit: »Ich …«, unterbricht sich und will den Fahrpreis wissen. »Geschenkt«, Travis schaut sie herablassend an und legt den Gang ein, fährt los und schaut noch einmal in den Rückspiegel. Ein kurzes Erschrecken zuckt über sein Gesicht.
Charakterisierung der Hauptfigur Travis Bickle und Psychodynamik Die Hauptfigur des Films ist Travis, ein 26-jähriger ehemaliger Vietnamsoldat, der einen Job als Taxifahrer annimmt, weil er nachts nicht schlafen kann. Er trinkt regelmäßig Alkohol und nimmt Tabletten. Er lebt in einem spartanisch eingerichteten Einzimmerappartement mit vergittertem Fenster. Die Wohnungseinrichtung wirkt lieblos, eher wie eine Billigabsteige, eine Schlafstelle, kein Ort, an dem man sich wirklich zu Hause fühlen kann. Freunde gibt es keine. Die sozialen Kontakte beschränken sich auf oberflächliche Gespräche mit Kollegen und vergebliche Versuche, Kontakt zu Frauen herzustellen. Seine Gedanken und Beobachtungen vertraut Travis einem Tagebuch an. Zwei Eintragungen in sein Tagebuch »… Mir fehlt ein Mensch …« und »… Ich bin Gottes einsamster Mann …« verweisen auf seine soziale Isolation, eine tiefe Entwurzelung und eine wohl schier unerträgliche Einsamkeit. Diese Symptomatik kann Travis mithilfe von Tabletten und Alkohol ertragen. Was hält ihn auf Distanz zu den Mitmenschen? Wir vermuten eine tiefsitzende Angst und Hass. In der Dramaturgie des Filmes zeigen sich diese Affekte in der Mimik häufig durch Einstellungen, in denen sein Gesicht im Rückspiegel sichtbar wird. Der Spiegel symbolisiert sein Gefängnis. Er ist alleine mit der Heftigkeit seiner Gefühle, es fehlt ein wohlwollendes spiegelndes Gegenüber. Travis versucht über diverse Kontakte zu Frauen seine Einsamkeit und Isolation zu überwinden. Seine Kontaktversuche
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. Abb. 2 Travis (Robert De Niro) rüstet sich für das geplante Attentat – »Indianer auf dem Kriegspfad«, Quelle: Cinetext
wirken hilflos und berühren den Zuschauer. Aber ist ein Flirt mit einer Kassiererin eines Pornokinos, die wahrscheinlich vielen, unterschiedlichen Anmachversuchen ausgesetzt ist, nicht zum Scheitern verurteilt? Travis mangelt es an Einfühlung in die reale Situation dieser Frau. Travis ist zunächst nicht anzumerken, was dieses Erlebnis einer Kontaktverweigerung in ihm bewirkt. Hoffnungsvoller verläuft es mit Betsy, der Wahlkampfhelferin. Er beobachtet sie längere Zeit und der Ausdruck »Engel« für diese Frau wird zu einem Symbol für seine Sehnsucht und seine Hoffnungen auf einen gelungenen Kontakt und ein spiegelndes Objekt Betsy – ihr Name ist ein Synonym für die blonde amerikanische Durchschnittsfrau – ist fasziniert von Travis unverblümten, direkten Kontaktversuchen (»Pusher«) und seine klare Analyse ihrer persönlichen Situation (Prophet) – wahrscheinlich Betsys Vorstellung von ihrem Traummann. Er nimmt die Beziehungsfantasie von Betsy auf und identifiziert sich mit Betsys Projektionen (»geliehene Identität«). Seine eigenen Wünsche versucht Travis durch den Besuch eines Softpornos zu kommunizieren und erzeugt große Entrüstung. Ihr Flirt mit einem Kollegen im Wahlkampfbüro verläuft nach üblichen Standards. Betsy ist auf der Suche nach einem besonderen Mann und Travis hat mit seiner ehrlichen und direkten Ansprache einen großen Eindruck bei ihr hinterlassen. Zur Kontaktaufnahme treibt ihn eine tiefe Hoffnung auf Beendigung seiner Isolation und Einsamkeit. Beide leben in der Hoffnung, im anderen den idealen Partner zu finden. Der verführerische Sog der Idealisierung macht beide blind, die Bedürftigkeiten des jeweils anderen zu erkennen. Travis startet vergebliche Wiederbelebungsversuche und scheitert. Er entwertet Betsy und beginnt sie zu hassen. Der Hass steigert sich durch die Zurückweisung seiner Bemühungen, als »normaler Mann« wahrgenommen zu werden. Sein Hass wird zunächst dramaturgisch im Film in die Außenwelt projiziert (Fahrgast will seine Frau töten, ein Mann erschlägt einen anderen Passanten, Iris wird aus dem Taxi gezerrt).
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In einer Außenwelt, in der auf diese Weise miteinander umgegangen wird, fällt es Travis leicht, in der Identität des kämpfenden Soldaten Zuflucht zu finden. Ein Brief an seine Eltern macht deutlich, in welcher Identität Travis akzeptiert wird. Er schreibt von einer Verbindung zu einer Frau und einem wichtigen Regierungsauftrag, dem er sich verpflichtet fühlt. Er präsentiert den Eltern ein Idealbild seiner selbst, ein Hinweis darauf, dass sich Travis überwiegend an Erwartungen seiner sozialen Umgebung orientierte. Nur dann erlebte er Anerkennung und Liebe. Gefühle wie Hass, Enttäuschung etc., die nicht mit den Erwartungen der Umwelt in Einklang standen, wurden eingekapselt und von der Umwelt ferngehalten. Travis rüstet sich für ein Attentat auf den Kandidaten, der Kandidat, für dessen Werte Betsy Wahlkampf macht. Seine Aufmachung – Militärjacke und Irokesenhaarschnitt – bestätigt die Assoziation eines »Indianers auf dem Kriegspfad« (. Abb.2). Die nächtlichen Taxifahrten muten an wie militärische PatrouillenfahrtenDas Attentat auf den Kandidaten scheitert. Seine Enttäuschung und die daraus resultierende Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit bringen ihn notgedrungen wieder in Kontakt mit einer bekannten und ihm vertrauten Identität als Kämpfer (US-Marines). Im Vietnamkrieg musste Travis Amerika und die »freie Welt« vor der Übernahme durch den Kommunismus retten. Jetzt wird Travis zum Retter der jungen Prostituierten Iris. Sein Hass wird dadurch moralisch legitimiert, indem er als Soldat im Auftrag der Regierung das Böse aus der Welt eliminiert. Der Kontakt zu der jungen Iris stärkt seine Kämpferidentität. Hier wartet der Regierungsauftrag: ein junges Mädchen aus den Klauen der bösen Zuhälter zu befreien. In einem Massaker löscht er die Bösen aus und rettet Iris. Travis wird nicht als Mörder angeklagt, sondern in seiner Rolle als Täter wie ein Held gefeiert. Seine Kollegen nennen ihn respektvoll »Killer« und Betsy bewundert ihn. Die Identität des Kämpfers stabilisiert Travis
Diagnose Unseren diagnostischen Überlegungen vorausgehend möchten wir betonen, dass die Diagnose einer psychischen Störung entlang der filmischen Handlung eines Protagonisten allenfalls eine Annäherung an mögliche diagnostische Hypothesen sein kann. Es fehlen hierbei alle Grundlagen sorgfältiger und systematischer Datenerhebung wie Selbst- und Fremdanamnese, biografische Informationen, möglicher Krankheitsverlauf, subjektive Beschwerden etc. sowie die Möglichkeit, diagnostische Hypothesen mit einem Patienten kommunikativ zu validieren. Angesichts dieser erheblichen Defizite der Datenbeschaffung konzentrieren wir uns hier auf das szenische Geschehen des Films und versuchen im Bewusstsein der vorhandenen Begrenzungen vorsichtige diagnostische Einschätzungen abzugeben, so wie es dem Ansinnen dieses Buches entspricht. Fasst man die beobachtbaren Symptome von Travis zusammenfassen, ergibt sich folgendes Bild: E Kalter und unnahbarer Affekt selbst in solchen Situationen, wo starke emotionale Resonanzen erwartbar wären E Seltsames, exzentrisches und eigentümliches Verhalten E Gefühle der Leere und Hoffnungslosigkeit E Neigung zu Alkoholismus und Tablettenkonsum E Wenig soziale Bezüge und Tendenz zu sozialem Rückzug E Paranoide Ideen und fantastische Überzeugungen, die keinen Wahncharakter haben E Keine engen Freunde oder Vertraute E Feindliche und misstrauische Haltung der Welt gegenüber E Inadäquater und eingeschränkter Affekt, spröde und unnahbar im Kontakt E Dissoziationen und Identitätsverwirrung E Entfremdung E Wut
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Zuviel - Symptomatik Trauma
traumatische Flashbacks, Alpträume Reaktion
Alkohol, Drogen 10.1
43.1
Irritierbarkeit
Ärgerausbrüche
43.0
Überregung Depressive Reaktion
Ängste, Panik
Vermeidung
62.0
sozialer Rückzug Dissoziation
43.21
Verlust der Zukunftsperspektive
Depression, Dissoziation 44.8
Zuwenig - Symptomatik 43. 0 akute Belastungsreaktion 43. 1 PTBS 44. 8 Dissoziative Identitätsstörung
43. 21 Depressive Reaktion (Anpassungsstörung) 62. 0 Persönlichkeitsveränderung nach Extremtraumatisierung 10. 1 Sucht (Alkohol) (nach: Post et al. 1997)
. Abb. 3 Zuviel«-Symptomatik. (Mod. nach Post et al. 1997) E Chronisches Gefühl von Nervosität, Unruhe E Schlafstörungen E Erleben ständigen Bedrohtseins
Diese Symptombeschreibung findet man sowohl in den Kategorien einer schizotypischen Störung (F21) als auch differenzialdiagnostisch bei der einer posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) und in der Folge bei einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F62.0), wie sie in der ICD-10 beschrieben sind. Travis Einsatz bei den »US-Marines« während des Vietnamkrieges lässt traumatisierende Erlebnisse vermuten. Es ist davon auszugehen, dass prämorbide Persönlichkeitseigenschaften, traumatische Erfahrungen, gepaart mit einer hohen Vulnerabilität das Störungsbild verschärft hat. Seine Hypervigilanz zwingt Travis zu einer Überwachheit, so als sei ständig Gefahr im Verzug. Travis lebt in einer Welt, die er extrem bedrohlich erlebt, in der er nur als wachsamer Kämpfer überleben kann. So wird verständlich, dass er gegen Ende des Films zu einem »Krieger« wird (Irokesenschnitt, Bewaffnung, Kleidung). In dieser »Reidentifikation« findet Travis eine Möglichkeit, sich als wirksam zu erleben und damit seinem Leben einen Sinn zu geben. Studien zum Combat Stress (Meermann 2001) und den psychischen Folgen des Vietnamkrieges bei amerikanischen Soldaten (Shatan 1978) zeigen deutlich, dass ein ganzes Bündel psychiatrisch relevanter Diagnosen auch im Falle von Travis infrage kommt. Das unten dargestellte Diagramm (. Abb. 3; Meerman 2001) zeigt den Symptomwandel im traumatischen Stress und belegt eindrucksvoll die Komplexität der Verarbeitungsprozesse. Demnach angenommen durchaus werden, dass es sich bei Travis neben seiner schizotypen Störung vor allem um eine Persönlichkeitsveränderung nach Extremtraumatisierung (F62.0) handeln könnte. Die Persönlichkeitsänderung muss andauernd sein und sich in unflexiblem und unangepasstem Verhalten äußern, das zu Beeinträchtigungen in zwischenmenschlichen, sozialen und beruflichen Beziehungen führt. Die Persönlichkeitsänderung sollte fremdanamnestisch bestätigt werden.
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E Zur Diagnosestellung müssen folgende bei dem Betroffenen zuvor nicht beobachtete Merkmale E E E E
vorliegenfeindliche oder misstrauische Haltung der Welt gegenüber, sozialer Rückzug, Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit, chronisches Gefühl von Nervosität wie bei ständigem Bedrohtsein, Entfremdung.
Die Persönlichkeitsänderung muss über mindestens zwei Jahre bestehen und nicht auf eine vorher bestehende Persönlichkeitsstörung oder auf eine andere psychische Störung außer einer posttraumatischen Belastungsstörung zurückzuführen sein. Eine schwere Schädigung oder Krankheit des Gehirns, die gleiche klinische Bilder verursachen können, muss ausgeschlossen werden. Shatan (1978) beschreibt in seiner Studie häufige Wutausbrüche von Vietnamveteranen. Während der Kampfhandlungen kamen zwar Wut, Hass und Aggressionen zur Geltung, doch gab es oftmals keine Gegner, an denen man sie hätte ausleben können. Aus diesem Grunde wurde die Wut häufig an Unbeteiligten ausgelassen. Nach der Rückkehr aus Vietnam richtete sich die Wut oftmals gegen die Obrigkeit, von der sich viele Soldaten in der Aufarbeitung ihrer Erlebnisse und in ihrem Bemühen, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen, im Stich gelassen fühlten. Dies führte bei vielen Soldaten zu einem Gefühl tiefsten Misstrauens gegenüber Autoritäten und dem System im Allgemeinen. Darüber hinaus beschrieben sich die Vietnamveteranen als emotional tot, die Vietnamesen wurden entmenschlichend von den Vorgesetzten als »gooles« und »dinks« bezeichnet, um den Soldaten das Töten zu erleichtern. Dem Tötungsverhalten von Travis gingen ähnliche entmenschlichende Zuschreibungen an die Opfer voraus. Mitunter empfanden viele Veteranen Emotionen wie Liebe und Mitgefühl als bedrohlich und vermieden es, emotionale Nähe zuzulassen.
Abschließende Bemerkungen Der Film Taxidriver wurde nach dem Vietnamkrieg gedreht. In dem Film wird auf subtile Weise deutlich gemacht, welche erschreckende Folgen Kriegserfahrungen für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen haben kann. Die Anpassung an normierte Identitätsentwürfe zwingt Travis in eine Überlebensstrategie der »geliehenen Identität«. Travis wird im normalen Leben nicht als Mörder verurteilt, sondern als Held gefeiert. Dies zeigt die Perversion eines Systems, das junge Menschen mit dem Töten beauftragt und nicht die Folgen bedenkt, wie das Töten eines anderen Menschen ihre psychische Organisation verändern kann. Wenn man bedenkt, dass die Lebensprävalenz psychischer Störungen bei Veteranen des Vietnamkrieges bei über 30% liegt (Meermann 2001), so wird deutlich, dass es unabdingbar ist, die notwendigen Unterstützungs- und Integrationsleistungen bei rückkehrenden Soldaten zur Verfügung zu stellen. Die aktuelle Diskussion um Auslandseinsätze der Bundeswehr und die damit verbundene Zunahme psychischer Störungen bei deutschen Soldaten und ein solcher Film kann uns wieder dafür sensibilisieren, eine kriegerische Auseinandersetzung als menschenunwürdig zu verurteilen.
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Geliehene Identität, um zu überleben
Literatur DSM-IV (1994) American Psychiatric Association Diagnostic and statistical manual of mental disorder. APA, Washington, DC Benedetti G (1983) Todeslandschaften der Seele. Verlag für Medizinische Psychologie Rohde-Dachser C (1989) Das Borderline-Syndrom. Huber, Bern Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (1997) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Huber, Bern Fiedler P (2001) Persönlichkeitsstörungen. Beltz, Weinheim Flatte G, Gast U et al. (2004) Posttraumatische Belastungsstörung. Schattauer, Stuttgart Meermann R (2001) Combat Stress, Vortrag auf dem Fachseminar Posttraumatische Belastungsstörung vom 8.–10.10.2001, Psychosomatische Fachklinik Bad Pyrmont Post RM, Weiss SRB, Smith M, McCann U (1997) Psychobiology of posttraumatic stress disorder. Editors and Conference Organizer. Anals of the New York Academy of Sciense Shatan CF (1978) Stress disorders among Vietnam veterans: The emotional content of combat continues. In: Figley CR (ed) Stress disorders among Vietnam veterans: Theory research and treatment, New York Wöller W (2006) Trauma und Persönlichkeitsstörungen. Schattauer, Stuttgart
Originaltitel
Taxi Driver
Erscheinungsjahr
1976
Land
USA
Buch
Paul Schrader
Regie
Martin Scorsese
Hauptdarsteller
Robert De Niro (Travis Bickle), Jodie Foster (Iris)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Brigitte Ziob
Himmlische Kreaturen Induzierte wahnhafte Störung – Folie à deux (ICD10: F24) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
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Filmplakat Heavenly Creatures, Neuseeland/Großbritannien/Deutschland 1994 Quelle: Cinetext
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Heavenly Creatures Pauline Parker (Melanie Lynskey) und Juliet Hulme (Kate Winslet)
Das Drama Heavenly Creatures (. Abb.1) von 1994 ist ein früher Film des neuseeländischen Regisseurs Peter Jackson. Der Film basiert auf einem authentischen Mordfall in der neuseeländischen Provinzstadt Christchurch, der in den 1950er Jahren Neuseeland erschütterte, weil er mit einem Tabu brach: Eine Tochter ermordet mithilfe ihrer Freundin die eigene Mutter. Im Zentrum des Films steht die obsessive Freundschaft zweier ungleicher Mädchen, die sich in der Enge und Begrenztheit des Kleinstadtlebens eine idealisierte Kunstwelt schaffen aus pubertären Fantasien über Liebe, Beziehung und Erwachsenwerden und die für die beiden immer mehr zur eigentlichen Realität wird. Gemeinsam mit seiner Frau Fran Walsh rekonstruierte Peter Jackson diese Geschichte nach den Tagebuchaufzeichnungen des Mädchens Pauline, die als Off-Erzählerin die Hauptfigur des Films darstellt, und inszenierte mit bis dahin noch nie gesehenen Special Effects die Entwicklung einer zunächst alltäglichen Freundschaft zweier pubertierender Mädchen, deren schwindenden Realitätsbezug und Wandel zu einer Folie à deux. Klinisch gesehen gehört die Folie à deux zu der induzierten wahnhaften Störung, die von zwei Personen mit einer engen emotionalen Bindung geteilt wird. Nur eine der Beiden leidet unter einer echten psychotischen Störung, die Wahnvorstellungen bei der anderen Person sind induziert und werden bei der Trennung des Paares in der Regel aufgegeben (ICD10: F24). Mit dem Film Heavenly Creatures erreichte Peter Jackson als Regisseur seinen internationalen Durchbruch und inszenierte später Blockbuster wie die Herr-der-Ringe-Trilogie und King Kong. Die eine der beiden Hauptdarstellerinnen des Films, die damals noch sehr junge Kate Winslett, erlangte durch ihre Darstellung der »Juliet« internationale Bekanntheit.
Die Handlung Idylle und Grauen Der Film beginnt mit einem Werbefilm über die Provinzstadt Christchurch, deren Vorzüge in einer Mischung aus prosperierender Geschäftigkeit und ländlicher Idylle liegen. Dann folgt ein harter Schnitt auf zwei blutüberströmte Mädchen, die schreiend aus einem Park herauslaufen. Diese Szene ist gedreht mit einer Handkamera, teilweise in der Subjektive, sodass der Zuschauer in die Bewegung der Mädchen einbezogen und sofort mit ihnen identifiziert wird. Es wirkt zunächst, als ob die Mädchen gerade noch einem Gewaltverbrechen entkommen konnten. Eine Frau eilt zu Hilfe, eins der Mädchen ruft weinend: »Meine Mom, es ist etwas Schreckliches passiert, bitte helfen Sie uns!« Diese Szene in Zusammenhang mit dem Werbefilm über das gemütliche Christchurch bringt die Idylle mit dem Grauen zusammen und weist darauf hin, dass die enge, puritanische Welt der 50er Jahre einen Anteil an der im folgenden Film dargestellten katastrophalen Entwicklung hat. Dann beginnt in einer langen Rückblende die Handlung des Films, die die Entwicklung der Freundschaft zwischen den beiden Mädchen Pauline und Juliet beschreibt und zwar vom Beginn einer typisch pubertären Freundschaft bis zum gemeinsamen Ausstieg aus der Realität.
Der Muttermord Am Ende des Films wird die Anfangsszene der flüchtenden Mädchen nochmals aufgegriffen und zeigt den Mord an Honora Rieper und die Zuschauer erfahren, was im Park geschah: Die beiden Mädchen
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Himmlische Kreaturen
erschlagen gemeinsam die Mutter von Pauline heimtückisch und hinterrücks, da sie in ihr die Person sehen, die ihrem Glück im Weg steht. So endet der Film mit einem Mord, während man als Zuschauer daran gewöhnt ist, dass die meisten Filme mit einem Mord beginnen und nach dem Durchleben einer Kartharsis dazu führen, dass man entlastet das Kino verlässt. Der Film Heavenly Creatures entlässt den Zuschauer schockiert, da er die Entwicklung bis zum Muttermord verfolgen konnte, kalt geplant durch die eigene Tochter und hinterhältig ausgeführt mithilfe der besten Freundin. Der Mord an der eigenen Mutter gilt als das Verbrechen, das mit dem stärksten Tabu belegt ist. Die Tötungshemmung gegenüber der eigenen Mutter ist nicht zuletzt deshalb so groß, da sie das Leben schenkt und zu ihr als primärem Liebesobjekt eine besondere Beziehung besteht. So spielt in den Kriminalstatistiken der Muttermord kaum eine Rolle. Deshalb ist die Frage berechtigt, warum Pauline, deren Mutter liebevoll und fürsorglich ist, dieses Tötungstabu übertritt und im Blutrausch zum ersten Schlag mit einem Ziegelstein im Strumpf auf die Mutter ausholt, die, was die Obduktion später ergibt, an über fünfzig Einschlägen auf den Kopf stirbt. Die Geschichte beginnt mit dem Zufall, dass zwei äußerlich sehr unterschiedliche Mädchen aufeinandertreffen und sich anfreunden. Dass ihre Freundschaft dann so eng und ausschließlich wird und sich zu einem gemeinsamen Ausstieg aus der Realität entwickelt, kann nur auf eine multifaktorielle Entwicklung zurückgeführt werden.
Eine gefährliche und gefährdete Zeit – die weibliche Pubertät Zu Beginn ihrer Freundschaft befinden sich die beiden Mädchen in der Frühadoleszenz, eine besonders krisenhafte Phase, wegen der vielen entwicklungsbedingten Veränderungen. Die körperlichen Veränderungen machen den Wandel vom Kind zur heranwachsenden Frau sichtbar, und das Einsetzen der Menarche gilt als Zeichen geschlechtlicher Reife. Dazu kommen mit den typischen Trieb- und Ich-Veränderungen neue Entwicklungsaufgaben, die gemeistert werden müssen. Dabei geht es um die langsame Ausbildung einer eigenen weiblichen Identität. Und es geht in dieser Phase um die Loslösung von den Eltern, insbesondere von der Mutter als erstem Liebesobjekt. Diese unausweichlichen Veränderungen und das Wiederaufleben früher Konflikte begründen die psychische Vulnerabilität heranwachsender Mädchen (Quindeau 2008). Der englische Psychoanalytiker Winnicott schreibt über die Ablösungskonflikte in der Adoleszenz: Wenn das Kind am Übergang des Erwachsenenalters steht, wird dieser Schritt meist über die Leiche eines Erwachsenen vollzogen. (Winnicott 1995, S. 163)
Winnicott bezieht sich hierbei auf unbewusste Fantasien, auf Prozesse der Ablösung, auf die Rebellion gegen bisherige Regeln, die zur Entwicklung einer eigenen Identität führen. Die symbolische Elterntötung bedeutet die Aufgabe des kindlichen Wir-Gefühls durch die Schaffung von inneren Neubesetzungen. Pauline befindet sich in einem Zwischenstadium, sie ist nicht mehr Kind aber auch noch nicht Frau. Sie macht sich mit einem Clip den Strumpf fest und klettert dann wie ein Junge über Zäune, um nicht zu spät zur Schule kommen. Diese Szene charakterisiert die inneren Widersprüche, in denen sie sich befindet. Im Schulchor ist sie das einzige dunkelhaarige Mädchen zwischen lauter Blonden, eine Anspielung darauf, dass Pauline eine Außenseiterin ist, eine die im Schulchor trotzig nicht mitsingt, sondern sich verweigert. Damit stellt Pauline eine typische Pubertierende dar: verunsichert in ihrem Selbst, das am liebsten in der Gruppe verschwinden möchte und voller Beschämungsängste steckt.
Die Freundschaft In dieser Verfassung lernt Pauline Juliet Hulme kennen, eine neue Mitschülerin, die noch fremd ist in Christchurch. Juliets Arroganz den Lehrern gegenüber, ihre Weltgewandtheit und Selbstsicherheit
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. Abb. 2 Pauline nimmt Juliets Schwärmerei für den Tenor Mario Lanza auf – Filmszene mit Melanie Lynskey, Quelle: Cinetext
beeindrucken Pauline. Im Zeichenunterricht entdecken die Mädchen Gemeinsamkeiten: Die Umsetzung von Tagtraumfantasien in Zeichnungen aus der Märchen- und Fabelwelt. Pauline nimmt Juliets Schwärmerei für den Tenor Mario Lanza auf und drückt zu Hause die Plattenhülle schmachtend an ihre Brust (. Abb. 2), während sie eine Arie von ihm hört. Diese Szene steht für ihr beginnendes sexuelles Erwachen, das noch nicht an ein konkretes Liebesobjekt geknüpft ist, sondern sich in Schwärmereien ausdrückt. Verständnis bekommt Pauline von ihren Eltern dafür nicht, sondern ihr Schwarm wird vom Vater karikiert, eine Abwehrreaktion gegen die autonome Geste der Tochter, die den Beginn der Ablösung von den Eltern einleitet. Die beginnende Loslösung von den Eltern vollzieht sich in der Frühpubertät häufig über die Beziehung zu der besten Freundin, die oft homosexuell geprägt ist, was bedeutet, dass die Liebe zur Mutter verschoben wird und im Dienst der langsamen Ablösung von ihr steht. Für Juliet und Pauline bedeutet ihre Freundschaft die erste enge Objektbeziehung jenseits der Eltern. Statt des bisherigen Wir-Gefühls, das die latenten Kinder noch weitgehend mit den Eltern eint, steht nun das Wir-Gefühl der neuen Freundschaft als Wegbereiter zu einer eigenen Identität. Schnell entwickelt sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden Mädchen, obwohl sie aus ganz unterschiedlichen Milieus stammen. Juliets Familie ist gerade nach Christchurch gezogen, ihr Vater hat eine Professur am hiesigen College übernommen, da das gemäßigte Klima seiner lungenkranken Tochter gut tun soll. Juliets Mutter ist Paartherapeutin. Das emotionale Klima innerhalb der Familie ist kühl und distanziert. Und hinter Juliets zur Schau getragener Arroganz verbirgt sich eine große Einsamkeit. Paulines familiärer Hintergrund ist proletarisch. Ihr Vater ist Geschäftsführer im Fischhandel. Sein Verdienst reicht gerade für das Nötigste, ein Zuverdienst bringen die Untermieter. Die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ist traditionell, die Mutter von Pauline ist Hausfrau. Pauline, eine gute Schülerin, findet in dem bildungsarmen, einfachen Milieu zu Hause wenig intellektuelle Anregung. Der Kontakt zu Juliet ist für Pauline angefüllt mit dem Reiz des Neuen. Das kulturelle Kapital der Welt des Bildungsbürgertums saugt Pauline auf. Dort herrscht
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Himmlische Kreaturen
kein Mangel wie zu Hause und Juliets Familie mit der mondänen Mutter, die sogar einen eigenen Beruf hat, ist faszinierend aber auch einschüchternd und vor allem eine Öffnung ihrer engen Welt. Durch die Freundschaft zu Juliet beginnt Pauline ihr Elternhaus erstmals mit anderen Augen zu sehen und sich für die Einfachheit zu schämen. Für Juliet bedeutet die Freundschaft das Ende ihrer Einsamkeit und sie versucht, Pauline eng an sich zu binden.
Der kreative Raum als Instrument der Ablösung Die Mädchen verbindet eine weitere Gemeinsamkeit: Beide sind Außenseiterinnen. Sie sitzen abseits des Kreises der Mädchen, die am Schulsport teilnehmen, denn beide sind vom Sport suspendiert. Pauline litt als Kind an einer langwierigen Knochenkrankheit, wegen der sie heute noch ein Bein nachzieht, und Juliet laboriert an den Folgen einer nicht ganz ausgeheilten TBC. Juliet dreht ihre gesundheitlichen Probleme um und sagt: »Nur die Besten haben kaputte Knochen oder Narben auf der Lunge«, und zeigt damit ihre Neigung, Defizite durch Überhöhung zu kompensieren. Aber diese Szene weist nicht nur auf die Außenseiterposition durch ein körperliches Defizit hin, sondern auch auf die Einengung, die der Alltag mit dem Drill der viktorianischen Schule bringt, wo das Lernen von Fakten im Vordergrund steht. Dagegen setzen die beiden Mädchen ihre Fantasiewelt, die für sie einen Ausweg aus der einengenden Alltagswelt schafft. Sie erschaffen sich eine Traumwelt in einer Art Fortsetzungsroman, die in dem Schloss Barovia spielt und in der die Hauptakteure ihrer Fantasiewelt, Charles und seine schöne Frau Deborah, als Herrscher leben. Die Inhalte drehen sich um Liebe, Ehe, Geschlechtsakt und Geburt und ermöglichen ihnen sich mit sexuellen Ängsten und Begierden auseinander zu setzen. Anna Freud stellte fest, dass die Fähigkeit des Jugendlichen schöpferisch tätig zu sein, z. B. in Versuchen zu dichten, zumeist eine Auswirkung der Tagtraumfantasien in dieser Phase ist, die für Probehandlungen stehen. Gleichzeitig erleben Pauline und Juliet durch die Schaffung der Fantasiewelt eine Erweiterung ihres Innenlebens, das Hochgefühle von gemeinsamer Grandiosität als »himmlische Kreaturen« freisetzt und in Omnipotenzgefühlen schwelgen lässt, von New York und Hollywood zu träumen und ein Leben als Schriftstellerinnen zu antizipieren. Damit findet für beide eine Kompensation des Alltagslebens statt. Die gemeinsame Fantasiewelt eröffnet Pauline einen potenziellen Raum, den die kleinstädtische Umgebung bisher nicht bieten konnte und wirkt so gegen Eintönigkeit und Langeweile. Für Juliet bedeutet sie die Schaffung einer emotionalen Nähe zu Pauline, die ihr früher verwehrt blieb.
Die Schaffung der »vierten« Welt Mit der »vierten Welt«, die Juliet erschafft und die eine Gegenwelt bildet zu ihrer schweren narzisstischen Kränkung, wie man später sehen wird, wird eine neue Qualität in die Mädchenfreundschaft eingeführt. Im Film kommt sie erstmals zur Sprache, als die Mädchen abends am Bach sitzen und ihre Idole ausschneiden, um sie auf dem Altar der Heiligen aufzustellen. Nur Orson Welles, den Pauline verehrt, darf nicht dabei sein. Juliet zeigt unverhohlen ihre Verachtung, und Pauline wirft das Bild von Welles in den Fluss, wo es davon treibt. Eine Szene, die die Rollenverteilung in der Mädchenfreundschaft verdeutlicht. Juliet, die die Definitionsmacht hat, und Pauline, die sich unterordnet und anpasst. Juliet stellt Paulines kindlich religiöse Vorstellungen infrage, die geprägt sind von Paulines Familienkultur, mit der sie sich bisher identifiziert hat. Man kommt nicht in den Himmel, sondern in die »vierte Welt«. Beschämt distanziert sich Pauline sofort von ihren Überzeugungen und ordnet sich Juliets Werten unter. So versucht Juliet, ihr Objekt der Freundschaft zu manipulieren und zu beherrschen. Diese Psychodynamik wird verstehbar, wenn man das familiäre Klima der beiden Familien, so wie sie im Film gezeigt werden, näher betrachtet. Die Riepers und die Hulmes unterscheiden sich gravierend in ihrem emotionalen Klima. Dies zeigt der Gegenschnitt, der die beiden Freundinnen jeweils als kleines Mädchen im Krankenbett zeigt: Während an Paulines Bett ihre Eltern sitzen und sie mit einem Spielzeug unterhalten, liegt Juliet ängstlich und allein in einem großen Bett in einer Klinik auf den Ba-
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hamas. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass Juliet unter einem Verlassenheitstrauma leidet, denn sie hat schon viele Trennungen von ihren Eltern erlebt. Sie ist nicht sicher gebunden und befürchtet, dass ihre Liebesobjekte sie schnell wieder verlassen. So kann sie bei der Freundin auch keine Eigenbewegung dulden. Die »vierte Welt« kann als Juliets Versuch verstanden werden, Pauline in die gemeinsame Welt zu sperren, damit sie ihr nicht verloren geht. Einen Eindruck davon, welche Bedeutung Trennung für Juliet hat, bekommt man in der Szene, als die Mädchen mit Juliets Eltern in der Sommerfrische sind. Die Eltern eröffnen Juliet, dass der Vater für längere Zeit zu einem Forschungsaufenthalt nach Übersee reisen und die Mutter ihn begleiten wird, wobei diese wahrscheinlich mitfährt, um ihre Ehe zu retten. »Eine längere Trennung von deinem Vater würde mir nicht gut tun«, sagt die Mutter. Dies steht für ihre egozentrische Selbstbezogenheit und den Mangel an Empathie für die Bedürfnisse ihrer Tochter. Die mangelnde Mutterliebe stellt das zentrale Trauma dar, unter dem Juliet leidet. Aber Juliet versucht sich gegen das Bewusstwerden des Ausmaßes der mütterlichen Ablehnung zu wehren, indem sie ihre Abhängigkeits- und Liebeswünsche vor den Eltern verbirgt, denn eine Zurückweisung wäre zu beschämend. Außer Sichtweite der Eltern bricht sie verzweifelt schluchzend zusammen. Als Pauline sie trösten möchte, kontrolliert Juliet sich und flüchtet in die »vierte Welt«. Juliet spaltet ihre verzweifelte Verletztheit durch das erneute Verlassenwerden ab und entfaltet als Gegenbewegung eine theatralische Geste, eine hysterische Umkehrung der Situation, in der sie wieder zum Akteur des Geschehens wird und nun vorgibt, die »vierte Welt« zu sehen. Eine Welt voller Riesenschmetterlingen, Einhörnern und fantastischen Parkanlagen. Pauline folgt der inneren Bewegung der Freundin und gibt vor, diese Welt auch zu sehen, ein Zeichen ihrer starken Abhängigkeit von Juliet. Damit verstärkt sie die Realitätsabwehr von Juliet. Juliet wehrt die unglaubliche Kränkung der fehlenden Mutterliebe dadurch ab, dass sie die Vorstellung der »himmlichen Kreaturen« dagegensetzt und somit eine Wendung vom Passiven ins Aktive vornimmt. Das kann auch als Selbstrettungsversuch verstanden werden, denn durch die Verleugnung der starken Verletzung des Selbst verhindert sie den Zusammenbruch. Durch ihre Fantasieschöpfungen wird sie zur aktiv Handelnden und die Bestätigung durch Pauline, indem sie Juliets Vorstellungswelt übernimmt, ermöglichen Juliet ihr beschädigtes Selbst wieder aufzurichten. Diese Szene ist der Beginn des gemeinsamen Ausstiegs der beiden Mädchen aus der Realität.
Die erste Trennung der Mädchen – der Beginn einer katastrophalen Entwicklung Eine Wiederholung des frühen Verlassenheitstraumas für Juliet ist die Abreise der Eltern, obwohl sich bei ihr eine TBC entwickelt hat. Im Sanatorium stellen die Eltern die rhetorische Frage: »Wir können unsere Entscheidung noch ändern, wenn Du möchtest«, die aber eher der Beruhigung des eigenen Gewissens dient. Diese Szene verdeutlicht nochmals den Mangel an elterlicher Fürsorge, insbesondere der fehlenden Mütterlichkeit. Da Juliet unter Quarantäne steht, darf Pauline Juliet nicht besuchen, die wiederum verzweifelt auf die Trennung reagiert, da sie identifiziert ist mit Juliets verzweifelter Lage des Alleingelassenwerdens im Sanatorium. Pauline schlägt Juliet vor, sie könnten sich Briefe schreiben als »Charles« und »Deborah«. In einem regen Briefwechsel spinnen sie ihre Geschichte weiter. Juliet wird immer mehr zu Deborah, der schönen Herrscherin über Barovia, und für Pauline gibt es jetzt die Figur der »Gina«, eine schöne Zigeunerin, die von »Djello«, dem Sohn von Charles und Deborah geliebt wird. Und immer häufiger wird die Fantasiewelt kompensatorisch gegen die Realität gesetzt, z.B. um den Bekehrungsversuchen des Klinikpfarrers zu trotzen. Aber auch Pauline hat Probleme. Sie fühlt sich einsam und unverstanden während der Trennung von Juliet. Sie sucht Ersatz im Kontakt zu dem jungen Untermieter John, der sich in sie verliebt hat. Als er heimlich in ihr Zimmer schleicht und es zu ersten Annäherungsversuchen kommt, werden sie von Paulines Vater überrascht, der außer sich ist. Es gibt keinen Spielraum für sexuelle Neugierde, es sind die 50er Jahre. Pauline gerät nun stärker unter die Kontrolle ihrer Mutter, die ihre Freiheiten einschränkt, da sie sich bedroht fühlt durch das pubertäre Aufbegehren ihrer Tochter, statt darin einen notwendigen
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Entwicklungsabschnitt zur Ausbildung einer eigenen Identität zu sehen. Das Unverständnis der Mutter führt bei Pauline zu weiterer Rebellion, indem sie sich heimlich mit John trifft. Mit ihm kommt es zum ersten sexuellen Akt, der enttäuschend, schmerzhaft und vulgär verläuft, für Pauline wie ein schlechter Traum. Auch sie setzt die gemeinsam erschaffene Fantasiewelt ein, um den quälenden sexuellen Akt zu überstehen. Als Pauline in den schulischen Leistungen abfällt, nimmt ihre Mutter sie von der Schule, als Ergebnis einer Entfremdung voneinander. Die Mutter kann die notwendigen Schritte der Ablösung von ihr nicht tolerieren, sondern möchte die enge Mutter-Tochter-Beziehung aufrecht erhalten. Und sie hat kein Vertrauen in das Autonomiebestreben ihrer Tochter. So antwortet die Mutter auf die Aufsässigkeit der Tochter mit der Kastration ihrer intellektuellen Potenz, nimmt ihr damit weitere Entwicklungsmöglichkeiten und versucht sie unbewusst in der mütterlichen Welt zu halten.
Die Loslösung von der Mutter Es wird deutlich, dass die gemeinsame Überhöhung der Mädchen als »himmlische Kreaturen« eine Abwehr ihrer realen Probleme bedeutet, die sich aus der jeweiligen Mutter-Tochter-Beziehung entwickelten: Beide Mütter repräsentieren eine Seite der kulturellen Definition von Weiblichkeit, die auf einem Gegensatz von Mütterlichkeit als entsexualisierter Weiblichkeit und sexueller Leidenschaft und Unabhängigkeit beruht, was sich oft in der Vorstellung von Mutter und Hure wiederfindet. Juliets Mutter steht für die Idee einer unabhängigen Weiblichkeit. Sie hat einen eigenen Beruf, ist begehrenswert und hat eine eigene Sexualität. Aber sie ist keine empathisch liebende Mutter. Es gibt kein mütterliches »Holding«. In ihren Liebes- und Abhängigkeitswünschen wird Juliet von ihrer Mutter zurückgewiesen und damit schwer gekränkt. Die Nähe zu Pauline macht die mütterliche Zurückweisung virulent, da sie bewusst zu werden droht. Den Angriff, den diese Wahrheit auf ihr Selbst hat, muss Juliet abspalten in Form der Verleugnung dieser Realität, um zu verhindern, dass sie ins Bodenlose fällt. So entwickelt sie einen Ausweg durch die Schaffung der »vierten Welt«, in der sie als »himmliche Kreatur« leben und so ihr verletztes Selbst retten kann. Negative Gefühle der Mutter gegenüber kann sie nicht zum Ausdruck bringen, denn sonst bestünde die Gefahr, die Mutter gänzlich zu verlieren. Die abgewehrten negativen Anteile aus der Mutterbeziehung projiziert Juliet auf Paulines Mutter. Sie sagt später: »Deine Mutter ist eine erbärmliche Frau.« Pauline sieht durch den Kontakt zu Juliet und ihrer Familie ihre eigene Mutter mit anderen Augen. Paulines Mutter ist Hausfrau, damit lebt sie ein Rollenbild vor, das ohne eigenen Lebensplan ist. Die Loslösung ist auch für Pauline sehr schmerzhaft und die ersten Schritte von der Mutter wegzukommen gelingen durch die enge Freundschaft zu Juliet. Die begabte Pauline muss sich für die Entwicklung eines eigenen Selbst von der Mutter als Identifikationsfigur trennen. Idealisiert wird nun Juliets Mutter als Bild einer begehrenswerten, unabhängigen Weiblichkeit. Dieses Bild findet Eingang in die gemeinsamen Fantasien über Charles und seine schöne Frau, die Schlossherrin Deborah, die Anteile von Juliets Mutter verkörpert. Juliets Eltern greifen Paulines frühe Elternbesetzungen an, die in ihren Augen entwertet erscheinen, und sie fantasiert in den Hulmes immer mehr die idealen Wunscheltern. Paulines Fantasie des Dazugehörens zu den Hulmes als zweite Tochter wird im Film in Schwarz-Weiß-Bildern inszeniert, in denen die Hulmes elegant gekleidet, ihre zwei Töchter erwarten, als innere Wunschbilder von Pauline, die in ihr immer mehr Raum ergreifen. Die Realität sieht anders aus: Juliets Mutter hat einen Liebhaber und plant, sich von ihrem Ehemann zu trennen. Das repräsentiert die negative Seite der unabhängigen, aber egozentrischen und unabhängigen Frau: Sie wirft ihre Bindungen schnell über Bord für ihre eigenen Interessen und lehnt es ab, ihre mütterliche Rolle auszufüllen. Juliet wird wieder abgeschoben. Sie soll nach Südafrika zu einer Tante, wobei das gesunde Klima vorgeschoben wird. Dies aktualisiert wiederum das frühere Verlassenheitstrauma bei Juliet, die sich nun an Pauline klammert.
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Retraumatisierung durch Trennung Unter dem Druck der bevorstehenden Trennung rücken die Mädchen noch enger zusammen. Ihre Beziehung wird noch ausschließlicher und sie wirken manisch getrieben. Pauline schreibt in ihr Tagebuch:
R »Wir sind absolut wahnsinnig, die ganze Galerie der Heiligen ist wahnsinnig«. Als sich am Schlossturm ein Transparent mit der Aufschrift »MAD« – verrückt entrollt, nimmt das Ganze eine wahnhafte Entwicklung. Die Mädchen bewohnen nun die »vierte« Welt. Sie sprechen sich mit den Namen »Deborah« und »Gina« an. Sie sehen den Dritten Mann im Kino und fühlen sich verfolgt von Orson Welles – eine hysterische Teenagerfantasie, die lustvoll ausgelebt wird, aber gleichzeitig die Steigerung der paranoiden Ängste vorwegnimmt, mit denen sie ihre Freundschaft bedroht sehen. Es kommt zur Sexualität zwischen ihnen, was sie noch mehr aneinander schmiedet. Bei den Erwachsenen stoßen sie auf Unverständnis. Die besorgten Eltern ziehen einen Psychiater hinzu, der Pauline untersucht, eine Demütigung, wofür sie ihre Mutter verantwortlich macht. Diese wiederum versucht hilflos, die Beziehung zu ihrer Tochter nicht ganz abbrechen zu lassen. Verständnis für die existenzielle Wichtigkeit, die die Mädchen füreinander besitzen, können die Eltern nicht aufbringen. Unter der drohenden Trennung kommt es zu einer qualitativen Veränderung: Pauline schreibt in ihr Tagebuch:
R »Hass lodert in den braunen Augen und eisiger Zorn in den blauen Augen. Es ist wahrlich ein Wunder, dass es zwei so himmlische Geschöpfe gibt. Warum sind die Menschen solche Narren, dass sie nicht die Wahrheit erkennen, die hinter diesen Augen verborgen ist.« Die Katastrophe nimmt ihren Lauf, als die Riepers Pauline verbieten Juliet nach Südafrika zu begleiten. Die anstehende Trennung wird besonders von Juliet als eine existenzielle Bedrohung erlebt, womit sie Pauline mitreißt, deren Zukunft auch verloren zu sein erscheint. Denn Pauline droht eine idealisierte Welt zu verlieren und zurückzubleiben in ihrer kleinbürgerlichen Familie ohne Hoffnung auf einen Ausweg, was einen psychischen Tod bedeuten würde. Juliet droht wieder eine Trennung von dem geliebten Objekt, das ihre Gefühle von Alleingelassenwerden und fehlender Mütterlichkeit kompensiert hat. Im Konflikt um die bevorstehende Trennung der Freundinnen erscheinen die beiden Mütter der Mädchen übermächtig: Paulines Mutter mit ihrem Verbot, Juliet nach Südafrika zu begleiten, und Juliets Mutter, die die Katastrophe durch ihre Trennungsabsicht ausgelöst hat. Beide Väter der Mädchen sind schwach und bieten keinen Ausweg, sondern agieren im Hintergrund. Juliets Vater wird aus dem College entlassen und zieht sich gekränkt zurück, Paulines Vater kann keine Entlastung bringen, indem er mildernd in den Konflikt mit ihrer Mutter eingreifen würde. Unter dem inneren Druck der anstehenden Trennung fasst Pauline ihren Entschluss: »Wenn Mutter sterben würde,« was ganz im Dienste der Spaltung steht. Juliets verleugneter Mutterkonflikt wird von Pauline aufgegriffen und umgelenkt auf die eigene Mutter, damit Juliets bittere Wahrheit abgewehrt bleiben kann. So wird Paulines Mutter zur bösen, verhindernden Figur, die man aus dem Weg schaffen muss. Der Todeswunsch scheint die konkrete Ablösung zu sein, die für die in Gefahr geratende innere Ablösung steht, die Pauline durch die Aktualisierung der übermächtigen Mutter verhindert sieht. Und Juliet wehrt mit der Entwertung von Paulines Mutter ihren unbändigen Hass auf ihre eigene Mutter ab. Beide Mädchen steigern sich immer stärker in eine existenzielle Krise, deren einziger Ausweg der Tod von Paulines Mutter zu sein scheint. Sie planen den Mord kaltblütig und hinterhältig. Pauline schreibt:
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Himmlische Kreaturen
R »Wenn ich das nächste Mal ins Tagebuch schreibe, wird Mutter tot sein. Wie seltsam, aber auch wie schön.« Der Mord an Paulines Mutter ist dann wie ein Rausch, ein Bemächtigungswunsch, das eigene Leben zu verteidigen in einer Situation, in der die eigene Entwicklung zu implodieren droht. Den Muttermord vollziehen die beiden Mädchen in einem gemeinsamen Wahn, einer Folie à deux, aus der sie sofort nach der Tat aufwachen. Paulines gellender Schrei: »Nein« zeugt für ein Aussteigen aus der gemeinsamen Wahnwelt genau wie Juliets: »Es tut mir so leid!« Heute leben die Beiden unabhängig voneinander in England und haben eine neue Identität angenommen. Aus Juliet Hulme wurde unter dem Namen »Anne Perry« eine erfolgreiche Romanautorin, Pauline Parker leitet einen Reitstall.
Literatur Flaake K King V (1995) Weibliche Adoleszenz Campus, Frankfurt am Main Quindeau I (2008) Verführung und Begehren Klett-Cotta Stuttgart Winnicott DW (1995) Vom Spiel zur Kreativität Klett-Cotta, Stuttgart
Originaltitel
Heavenly Creatures
Erscheinungsjahr
1994
Land
Neuseeland Großbritannien, Deutschland
Buch
Peter Jackson und Fran Walsh
Regie
Peter Jackson
Hauptdarsteller
Melanie Lynskey (Pauline Rieper), Kate Winslet (Juliet Hulme), Sarah Peirce (Heavenly Creatures) u.a.
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Eva Jaeggi
Die eisig glühenden Regionen der Seele Affektive Störungen (ICD-10: F3) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erläuterung der ICD-Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychische Erkrankung in der Szenenfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht nur eine Krankheit ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Filmische Mittel und ihre Wirkung auf den Zuschauer . . . . . . . . . Der Film in der Filmkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bipolare affektive Störung (ICD-10: F31)
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Filmplakat Winterreise, Deutschland 2006 Quelle: X Verleih/Cinetext
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Winterreise Franz Brenninger (Josef Bierbichler)
Die Handlung Franz Brenninger, ein offenbar ehemals tüchtiger Kleinunternehmer, ist pleite und versucht mit allen nur erreichbaren Mitteln, die drohende Insolvenz aufzuhalten. Er stößt dabei alle vor den Kopf, verfeindet sich mit seinen Kindern, beleidigt auf brutalste Weise seine erblindende Frau und sieht bald nur mehr Rettung durch ein zweifelhaftes Geschäft mit einem kenianischen Geschäftsmann. Seine innere Unruhe und Rastlosigkeit lässt sich nur mehr durch wilde Indie-Rock-Musik, gestikulierendes Tanzen, Bordellbesuche und wüstes Schimpfen für kurze Zeit beruhigen. Immer wieder taucht vor seinem geistigen Auge eine afrikanische Landschaft auf, über der ein alter blinder Afrikaner schwebt. Leyla, eine junge kurdische Studentin hilft ihm als Dolmetscherin bei den anstehenden Verhandlungen, obwohl auch sie vor dem offenbar betrügerischen Geschäftsgenossen warnt. Als Franz nun endlich sieht, dass er um sein Geld betrogen wird, reist er mit ihr nach Kenia, um zumindest das Geld, das er für eine Operation seiner Frau braucht, wiederzubekommen und die Betrüger zu fassen. Als er sieht, dass keine Hoffnung besteht, versinkt er tagelang in tiefe Depression. Daraus auftauchend gelingt es ihm durch einen Überfall, von einem der Gangster das Geld zurückzubekommen. Er übergibt es seiner kurdischen Begleiterin mit Anweisungen über die Verwendung des Geldes, geht in die Savanne hinein und erschießt sich. Begleitet wird die Begebenheit von Melodien aus Schuberts »Winterreise« – Lieder, die Franz als Musikstudent in einem früheren Leben selbst gesungen hat. Bilder einer winterlich-stillen bayrischen Landschaft und des heißen, quirligen und menschenüberlaufenen Nairobi wechseln einander ab (. Abb. 1)
Erläuterung der ICD-Diagnose Der Film wurde von den Kritikern als das Porträt eines psychisch kranken Mannes angesehen, wobei öfters die Diagnose »manisch-depressiv« vergeben wurde. Dass Franz krank ist, wird auch von seinen Kindern und seiner Frau konstatiert. Man kann dies ohne Weiteres so sehen, sicherlich sind eine Reihe von Symptomen und charakterliche Auffälligkeiten dazu geeignet, diese Diagnose zu stellen. In der manischen Phase zeigt sich gesteigerte Aktivität, motorische Ruhelosigkeit (Tanzen, Schreien, wilde Gestik), ein auffallender Verlust an sozialen Hemmungen (Taktlosigkeiten) leichtsinniges, ja tollkühnes Verhalten mit nur mehr geringem Realitätssinn (z.B. die Finanzen betreffend) und überhöhte Selbsteinschätzung. Auch kurzfristige Halluzinationen treten auf (afrikanische Landschaft). Die depressive Episode beginnt mit wehmütigen Erinnerungen, die zu einer länger dauernden Phase von Inaktivität und Grübeln führt. Die vorher in solch auffallendem Maß unruhige und hyperaktive Person wirkt nun affektleer, gehemmt und vor allem auch untröstlich. Auch der Suizid, der sich erst ereignet, nachdem der Protagonist eigentlich schon wieder aus dem Sumpf der Depression auftaucht, ist nicht untypisch für diese schwere psychische Störung.
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Die eisig glühenden Regionen der Seele
Psychische Erkrankung in der Szenenfolge Schon in einer der ersten Einstellungen sieht man Franz stumm mit einem dicken Strick hantieren. Er will ihn aufknüpfen, blickt zur Decke und legt ihn dann wieder hin. Während er sinnierend zum Fenster hinausblickt, entfaltet sich eine dürre afrikanische Savannenlandschaft mit einem abgestorbenen Baum vor seinen Augen, eine Landschaft, die schon im Vorspann zu sehen war, also von hoher Wichtigkeit scheint. (Halluzination? Vision?). Ein blinder alter Afrikaner schwebt darüber, ein Wanderer in die Savanne hinein wird sichtbar. Die Szene mit dem Strick ist eindeutig: Selbstmordgedanken drängen sich auf – ein übrigens typisches ganz kurzes Einschießen depressiver Momente in eine ansonsten noch ganz im Manischen oder Hypomanischen befangenen Person wie die nächsten Szenen zeigen werden. Solche Einschübe werden noch häufiger kommen, sie sind (Mentzos 2006) nicht untypisch für die Manie. Auch die Halluzination als ganz kurzfristiges Bild (statisch und sehr eindrucksvoll) findet sich ab und zu in dieser Phase der Krankheit. Der Zuschauer sieht zunächst Franz kraftvoll in der Kirche singen, die Gemeinde mit seinem Organ übertönend und mitreißend, wobei er sich doch mit seinen wirren Gesten und Zuckungen auffällig benimmt und zum Schluss laut grollend mitten in die Messfeier hinein ruft: »Des is ka Schubertmess, des is a Schneckenmess!«Diese Szene, die zwar noch einigermaßen lustig sein könnte, von den Anwesenden aber doch recht irritiert zur Kenntnis genommen wird, ist nur der Auftakt zu anderen Interaktionen, die nun eindeutig nicht mehr als witzig empfunden werden. Wer immer in seinem Weg steht, bekommt das Wort »Arschloch« zu hören, er wirft dauernd damit herum, und obwohl in Bayern vermutlich Kraftausdrücke nicht selten zu hören sind, scheinen doch seine Mitbürger dies nun nicht mehr als alltäglich zu empfinden. Autofahrer, Menschen, die Rechnungen eintreiben wollen, – alles was ihm im Weg steht, wird grob beschimpft. Als er beim Geld abheben vom Bankomat praktisch bei allen seinen Karten das Signal bekommt: »Ihre Karte wurde aus Sicherheitsgründen eingezogen«, ahnt man, welche äußeren Belastungen bei dieser psychischen Entgleisung eine wichtige Rolle spielen. Wenn man dann auch noch in einem eher beiläufigen Gespräch zwischen Vater und Sohn hört, dass auch Franz’ eigener Vater pleitegegangen ist und sich aufgehängt hat, dann ist hier auch die familiäre Belastung (vielleicht auch die genetische) sichtbar. Franz ist also so gut wie pleite und ein befreundeter Bankbeamter – Schulfreund des Sohnes – wird nur kurzfristig zum Retter, da er ihm offenbar über Gebühr nochmals Kredit einräumt. Auch hier zeigt eine kleine Szene, dass Franz sich absolut nicht mehr an gewisse Einschränkungen seiner Freiheit halten will. Als der freundliche Bankbeamte ihn auf das Nichtraucherschild hinweist, zündet Franz sich demonstrativ eine Zigarette an. In seinem Büro sieht man ihn wütend Rechnungen übereinander häufen (»Arschlochpost« schreit er), ein vorbeikommender Lieferant erklärt, dass man ihm nur mehr per Vorkasse liefern werde. Auch dieser wird grob beschimpft – das Desaster ist perfekt. Ein einziger Brief scheint interessant, Franz kann ihn aber nicht wirklich verstehen, da er nur sehr schlecht Englisch spricht. Alle diese kleinen Szenen spielen sich in einem greifbar von Aggressionen aufgeladenen Büroraum ab – heftige Bewegungen, lautes Schimpfen und abrupte Gesten. Eine kurdische Studentin taucht auf – es wird im Film nicht ganz klar, ob er sie schon vorher gekannt hat. Sie tritt nicht nur als Übersetzerin des ominösen Briefes, sondern von jetzt an auch als eine fast stumme Wegbegleiterin auf. Dass sie etwas mit Tod und Verderben zu tun hat, erweist sich bei ihrer Antwort auf die Frage, warum sie gerade das wenig ertragreiche Fach Ethnologie studieren will? Weil sie sich dafür interessiert, »wenn ein Volk ausstirbt oder verschwindet«, nämlich das eigene kurdische Volk. Sie übersetzt Franz den Brief, in dem ein kenianischer Geschäftsmann hohen Gewinn bei geringer Vorleistung verspricht. Der Trick ist so primitiv, dass ein erfahrener Geschäftsmann, dessen Realitätssinn nicht eingeschränkt ist, darauf eigentlich nicht hereinfallen kann. Franz aber ist voll Hoffnung und vergisst alle Bedenken.
63 Winterreise – Franz Brenninger (Josef Bierbichler)
Die Begegnung daheim mit der ebenfalls fast stummen, sehr kranken Ehefrau (Mucki genannt) spiegelt ganz kurz Ruhe und Intimität vor: ein riesiger Blumenstrauß, beruhigende und tröstliche Worte. Aber dann – als Mucki wieder im Bett liegt: wilde Musik, hektische Bewegungen, die ganze aufgestaute Frustration, der wilde Hass, die ungestüme Bewegungslust des Manikers bricht sich Bahn. Trotz Winterkälte reißt Franz die Fenster auf, tanzt halb nackt herum, schreit und ruft – da taucht wieder das ruhige Bild der Savanne mit dem blinden Afrikaner auf.Die Ehefrau, erschreckt aufgestanden, merkt nun sehr deutlich, dass mit Franz »irgendetwas nicht stimmt«, wie es später dann heißt. Franz erhofft Entspannung im Bordell; offenbar nicht mehr fähig zum Beischlaf, lässt er sich von zwei ihm offensichtlich bekannten Prostituierten massieren, versucht in abgerissenen Sätzen zu erklären, wie es im Geschäftsleben zugeht – die Unrast bleibt. Kurzfristig wird die Manie durchbrochen – dies passiert übrigens immer wieder und ist ebenfalls typisch für diese Erkrankung: Für einen kurzen Moment spürt er durch die entspannende Massage innere Ruhe. Im Auto nach Hause fährt er durch die stille Schneelandschaft – da ertönt nun zum ersten Mal aus dem Radio das SchubertLied aus der Winterreise:
R »Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.« Franz singt mit leiser Stimme den Refrain mit, bleibt stehen, lässt einen Moment lang los – um dann umso heftiger loszubrausen, heftig schimpfend über andere Autofahrer, gestikulierend und schreiend. Die Kamera entfernt sich – die Isolierung, in die Franz gerät, wird auch dadurch immer deutlicher. Wieder daheim angekommen, erlebt man drastisch, was Mentzos meint, wenn er behauptet, der Maniker »löse sich von seinem Über-Ich« – dies ist offensichtlich verbunden mit einem rauschhaften Wohlgefühl. Franz steigt nun hinein in die letzten Tiefen von Bosheit und Gemeinheit. Zuerst reißt er den Kleiderschrank auf und zerrt Kleider seiner Frau heraus. »Wozu kaufst Du Dir ein Tanzkleid, wo Du sowieso nicht mehr tanzen kannst?« Und dann kommt eine für die vermutete Dynamik außerordentlich aufschlussreiche Szene:
R »Ich hab Deine Uhr versetzt« teilt er seiner Frau mit boshafter Miene mit. Es ist eine teure Cartier-Uhr, die er ihr zum 25. Hochzeitstag geschenkt hat. »Wofür?« fragt sie schwach. Und dann: ein hämischer und zugleich gespannter Zug um seinen Mund – so als wäre er sich noch nicht sicher, ob er nun die allerletzte Gemeinheit wirklich aussprechen kann. Kinder können in dieser Art agieren, um auszuprobieren, wozu sie fähig sind: »Willst es wirklich wissen? – böse begeistertes Lächeln. »Wirklich??« – und als sie nochmals bejaht: »Ich hab gefickt«. Wieder müssen die wilde Musik und das Tanzen den Schreck über die eigene Bösartigkeit übertönen. Er tanzt nun auch zu überlaut abgespielter Musik von Mozart und Schubert: »Schubert, Du bist ein Arschloch« brüllt er, und geht wieder über zur Rockmusik. Abrupte Schnitte: Winterlandschaft – Erschöpfung – Halluzination von Afrika: in rascher Folge; so wird hier auch die innere Wechselhaftigkeit angezeigt. Nicht in allen manischen Phasen hier jedoch ausgeprägt meldet sich die Depression an Kurz nur wird sie in den statischen Bildern angedeutet, die in solch krassem Gegensatz zur Manie stehen. Immer wieder Bilder der verschneiten Wälder und Felder sowie die Vision der Savanne: Sonnendurchglüht steht ein bizarrer, abgestorbener Baum mitten in der dürren Landschaft, über dem der blinde Alte schwebt. Eine kurze Eheszene, als das Paar im Ehebett liegt: Mucki will helfen, streckt die Hand aus, unbeholfen:
R »Was ist denn in dir drin – sag’s, dann können wir’s teilen!«,
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Die eisig glühenden Regionen der Seele
aber er kann sich nicht mehr helfen lassen. Als sie auf die Kinder zu sprechen kommt: »Kinder sind Scheiße« ist die einzige trostlose Antwort. Und diese Ressource – gutwillige Kinder, die besorgt sind und ihm helfen wollen, werden in ebenfalls äußerst brutaler Weise vor den Kopf gestoßen: Der Sohn wird der sexuellen Unfähigkeit geziehen, die Tochter ihrer beruflichen Untüchtigkeit wegen verhöhnt und als letzte Gemeinheit macht er sich noch lustig über das entwicklungsgestörte Kind der Tochter. »Ich habe die blutigen Pferde im Kopf« teilt er bei einem der ruhigeren Gespräche dem Sohn mit. Er meint damit die für den damals halbwüchsigen Jungen entsetzliche Szene, als man dem pleitegegangenen Vater alle Gerätschaften abtransportierte, wobei die Pferde so schwer zu ziehen hatten, dass sie blutig geschlagen wurden, um sie zum Weitergehen zu bewegen. »Vergiss es …« sagt der Sohn hilflos. Hier wird dem Zuschauer die für den jungen Franz sicherlich traumatische Szene vor Augen geführt, die den Auslöser der Krankheit den finanziellen Misserfolg erklären kann. Genau das, was er nie mehr erleben wollte, tritt nun ein. Der Schlag sitzt. Aus inneren Gründen muss er die Wiederholung des väterlichen Schicksals vermeiden, da hilft keine Vernunft. Franz kann sich nicht verstanden fühlen. Alle Überlegungen des Bankbeamten und der Kinder, er möge Insolvenz anmelden, fruchten nichts. Franz verbeißt sich in Ablehnung und Beschimpfungen, die ihm übrigens den Rausschmiss aus dem Tennisklub (den er selbst mitgegründet hat) bringen. Wütend fährt er mit dem Auto in ein Drahtgitter hinein und wirft seine Mitgliedskarte auf den Platz. Daheim immer wieder: Rauchen, Tanzen, Musik. Halb nackt springt er in den Schnee. »Franz Du musst gehen« sagt seine Frau ganz ruhig und man weiß nicht genau, ob sie damit nur einen geplanten Termin meint, den er nicht versäumen soll oder ob sich anderes dahinter verbirgt. Es gibt mit dem Kranken keine direkten Gespräche mehr. Nur indirekt verhandeln die Familienmitglieder über ihn. Wiederum Autofahrten durch die unbewegt stille Schneelandschaft: Nichts rührt sich. Die Verhandlung wegen des vermeintlich rettenden Angebots wird aufgenommen, Leyla ist dabei. Man kann spüren, dass sie den Betrug ahnt, aber Franz lässt sich nicht aufhalten. Das vermeintliche »Geschäft« bahnt sich an. Die zwielichtige Situation (in einem Motel finden sich die sog »Geschäftspartner«) eskaliert, vor allem als Franz merken muss, dass ihm noch mehr Geld abgeknöpft wird als er dachte. Nun steht die Augenoperation seiner Frau auf dem Spiel. Als der Sohn seinen Bausparvertrag auflöst, um der Mutter zu helfen, wird auch dieses Geld verschlungen. Verzweifelte Anrufe in Kenia treffen natürlich auf taube Ohren, Gespräche werden einfach abgekappt. Dazwischen wieder eine Szene, die das Krankheitsgeschehen zu unterbrechen scheint. Als er durch das großzügige Angebot des Sohnes einen kurzen Moment lang zur Besinnung kommt, wird er nachdenklich. Er kommt ganz ruhig nach Haus – ein großer Blumenstrauß für die Ehefrau und dann sagt er einfach: »Mucki, jetzt bin ich wieder da.«Die manischen Szenen aber wiederholen sich, sie treffen den Zuschauer nun immer empfindlicher: neues Durchschauen der Situation – irres Rasen, Brüllen, Zerstören von Möbelstücken – und dann die Stille der Winterlandschaft. Er fährt nun mit Leyla nach Afrika – sie wehrt sich kaum dagegen, obwohl sie wohl weiß, dass alles umsonst sein wird. Ihre Position wird immer klarer die einer stummen Begleiterin, die nur mehr einfach anwesend ist, nichts mehr im realen Geschehen »nützen« kann. In Nairobi ist die wirre, brodelnde exotische Außenwelt sozusagen ein Spiegelbild von Franz’ Innenwelt. Hier gelten die Regeln von Anstand und wenigstens oberflächlicher Moral nichts mehr. Überall will man ihn betrügen, es kann keine Rede davon sein, dass er »Recht« bekommt. Das bestätigt ihm unumwunden der deutsche Botschafter und rät dringend zur Heimreise Franz aber kann auch hier keinen Rat mehr annehmen, in fast paranoider Form bezichtigt er den Botschafter der Bestechlichkeit. Achselzuckend wenden sich die wohlmeinenden Ratgeber ab. Die grässliche Armut, die ihn umgibt, verwirrt ihn, aber sehr klar erkennt er, dass dies eben ein Spiegelbild seines inneren Zustandes ist: »Des g’fallt ma recht gut …« meint er einmal und lässt sich für einige Zeit neben einigen Elendsgestalten inmitten der Abfallhaufen nieder. Innere und äußere Schlachten toben im überbevölkerten Nairobi, wo Verkehrsregeln und europäische Sitten noch wenig
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. Abb. 2 Der dürre Baum ist da, die weite Savanne – Szene mit Josef Bierbichler, Quelle: XVerleih/Cinetext
bekannt sind. Brenninger stürzt nicht nur in ein inneres, sondern auch in ein äußeres Chaos. Betrug an allen Orten: Taxifahrer, die um das Fahrgeld streiten, Jugendliche, die bereit zu jedem Verbrechen sind, ungestüme Verkaufsangebote. Die Lage ändert sich. Franz sieht sich fremden Mächten ausgeliefert, die er durch keine Brutalität, durch keine Raserei mehr kontrollieren kann. Dass er in seiner Wut auch noch seine Gefährtin Leyla vergisst und sie einfach auf den gefährlichsten Plätzen der Stadt allein lässt, kostet ihn fast ihre immer noch beruhigende Gesellschaft, ohne die er keinerlei Aussicht auf irgendeine Lösung seiner Probleme sehen könnte. Verzweifelt und abgehetzt sitzt er schließlich in der Lobby des Hotels. Leyla will ihn doch noch einmal begleiten. Er sieht nun in der Hotellobby ein altes Klavier und beginnt zu spielen, dann auch zu singen. Es ist wiederum die »Winterreise« mit dem todtraurigen »Leiermann«-Lied: »Wunderlicher Alter, soll ich mit Dir gehen? Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehn?« Hier kommt nochmals eine stille Begleitfigur ins Spiel: ein Deutscher, der vor 20 Jahren in Nairobi seine Frau verloren hat und seitdem hier festsitzt. Was er tut, wen er kennt – nichts ist klar, nur eines: Er hilft Franz weiter auf seinem Weg. Angerührt von Franz’ Gesang und Klavierspiel bleibt er in Verbindung zu Leyla, gibt ihr auch die CD der Winterreise. Dieser Deutsche nennt sich »Friedländer«, was vielleicht auch ein Hinweis auf den möglichen Frieden sein kann, den Franz irgendwann nun finden soll. Die nach dieser Hotelszene einsetzende Depression wird vor allem durch die »Winterreise« gekennzeichnet: er hört stundenlang die CD, summt mit: »Fremd bin ich eingezogen …«Franz liegt halb träumend, halb dösend und fantasierend im Hotelzimmer und lauscht. Stille Winterlandschaften aus der Heimat begleiten diese Träumereien. Ist er nun glücklich? Hat er sich von der »trüben Welt« verabschiedet? Leyla wartet geduldig ab. Irgendetwas muss wohl noch geschehen. Und dann der Umschwung. Als Leyla sagt: »Ich will nicht mehr warten«, ist der alte tatkräftige Franz wieder am Agieren – diesmal aber realitätsbezogen. Er hat nun die Zügel wieder in der Hand.Ja, er hat noch etwas zu tun: Er muss Geld beschaffen, damit seine Frau sich operieren lassen kann. Er muss sich
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auch, bevor er sein Leben beenden kann, beweisen, dass man mit ihm so, wie die afrikanischen Gangster es getan haben nicht umspringen kann. Es muss Gerechtigkeit herrschen in dieser Welt – zumindest dort, wo er selbst sie herstellen kann. Nicht mehr die Raserei des Manikers ist es nun, die ihn beherrscht. Es ist die kraftvoll-aggressive Person des Franz Brenninger, die nun zum Handeln drängt. Wie er das nun Folgende bewerkstelligt, bleibt im Dunklen: Von ihrem weit oben gelegenen Hotelfenster sieht Leyla hinunter in eine Senke. Zuerst sieht man das geheimnisvolle Wort. »deep«, dann enthüllt es sich als »deep – 1meter« – und man sieht von weit oben Franz unter einem großen Sonnenschirm, der vermutlich in einem leeren Swimmingpool platziert ist. Er scheint mit (nicht mehr sichtbaren) Männern zu verhandeln. Was er dabei erfährt, was er zu tun gedenkt – es bleibt verborgen. Möglicherweise ist Friedländer dabei. Eines ist völlig klar: Er will hinaus aus der Stadt. Wiederum verlässt der Film die realistische Handlungsebene, Fragen nach den Verhandlungspartnern oder nach dem Erwerb des Geländewagens verbieten sich das Geschehen hat nun eine andere Dynamik. Dorthin gerät es, wo Mythen oder Märchen angesiedelt sind. Mit Leyla gemeinsam fährt er in einem Geländewagen hinaus in die afrikanische Savanne. Als Leyla fragt, wohin es denn nun gehe, sagt er nur: »Genieß es einfach« Der Film lässt uns Zuschauer nun ein wenig im Nebel stochern: Ist der Afrikaner, den er in einer Lodge bewusstlos schlägt Realität? Ist es einer der gesuchten Gangster oder einfach nur ein schwarzer Stellvertreter? Ist es ein Wunschtraum? Und woher weiß er, dass jener einen Koffer voll Geld hat, das er bedenkenlos und kühl mitnimmt auf die letzte Reise? Diese Reise währt nicht lange. Mitten in der stillen Landschaft lässt er halten. Leyla scheint sich über nichts zu wundern, fragt nicht, nickt nur, als sie seine Anweisungen hört: Sie möge das Geld nehmen, seiner Frau die Operation zahlen und den Rest für sich selbst verwenden. Er verabschiedet sich still und fast wortlos. Nun hat er auf seine Art gutgemacht, was er in der Heimat verspielt hat. Er sieht nun die »Nebensonnen« aus dem SchubertZyklus. Der dürre Baum ist da, die weite Savanne (. Abb.2). Friedländer hat Leyla erklärt: Die »Nebensonnen« bedeuteten die endgültige Verrücktheit. »Im Dunklen wird mir wohler sein« heißt es in der letzten Zeile. Dann fällt der Schuss.
Nicht nur eine Krankheit ... Sieht man den Film allerdings nicht nur als das Porträt eines psychisch Kranken (und schon gar nicht als eine zügige Actiongeschichte), dann enthüllen sich noch ganz andere Aspekte. Es zeigt sich, dass Diagnosen im Sinne der ICD-10 nur die formale Hülle sind, die das »Eigentliche« verbergen. Sicher, die Manie, so kann man sagen, wehrt ab, was in der Depression auftaucht. Sie kann auch kurzfristig das »Über-Ich« abschaffen. Was aber taucht bei jedem Einzelnen auf? Welche Bedeutung haben die bekannten Symptome für jeden Einzelnen? Welche Rolle spielt der Kontext, in dem sich das krankhafte und wahnhafte Geschehen abspielt? Und schließlich – vielleicht das Wichtigste: Welche existenzielle Aussage wird durch die Krankheit vermittelbar? Welche existenzielle Bedeutung bekommen solche Abweichungen vom »Normalen«? Die auch durch andere Kranke bekannten Symptome bekommen in Gestalt des Kaufmannes Franz Brenninger eine unverwechselbare Färbung sie erweisen, in welch tiefgründiger Weise es durch Symptome hindurch um die letzten Dinge, Tod und Leben gehen kann. Die Krankheit selbst fordert und fördert die Auseinandersetzung um diese existenziellen Gegebenheiten, gerade weil schwere psychische Störungen jeden davon Betroffenen (und oft auch die Umwelt) herausreißen aus dem »Normalen« und das heißt: andere Ordnungen herstellen und zulassen. Franz Brenninger »erlaubt« sich, gefördert durch eine wie man wohl annehmen kann aggressive, durchsetzungsfähige und selbstbezogene Persönlichkeit sowie seinen drohenden sozialen Tod, diese Charakterzüge ins Absurde entgleisen zu lassen. Um geschäftlich erfolgreich zu sein braucht es wohl ein gerütteltes Maß an Egoismus, ja an Brutalität. Diese Persönlichkeitsvariante zeigt sich auch in seiner Manie.
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Dass er trotz allem einen gewissen raubeinigen Charme und andere soziale Kompetenzen einbringen kann, zeigt sich in seinem Umgang mit Leyla und sogar auch mit den Nutten, denen er auf einer fast freundschaftlichen Ebene begegnet. Vor allem aber scheint er durchaus fähig zu sein, Liebe zu empfinden. Man kann spüren, dass Franz an seiner verblühten und kranken Frau etwas gelegen ist, nicht nur durch übergroße Blumensträuße drückt er das aus. Kleine Gesten sind es, die anrühren: Die zögernd hingehaltene Hand, die Durchbrechung seiner Raserei, wenn er sie mit sanfter Stimme wieder ins Bett schickt u.Äm. So sehr er auch seine beiden Kinder beleidigt und verhöhnt: Es wird klar, dass er ihnen gegenüber früher immer recht großzügig war, dass auch diese Kinder ihn einmal geachtet und geliebt haben. Der letzte Anstoß zur Entscheidung nach Afrika zu fliegen ist schließlich nicht so sehr die Rache, sondern das Versprechen, er werde Geld bringen, damit Mucki die rettende Augenoperation möglich ist. Sowohl in der Manie als auch in der Depression erfährt Franz sich in möglichen Persönlichkeitsvarianten, die Abwehrmanöver und Konventionen immer wieder verdeckt haben. Er erfährt sich als böse und als gut, als mächtig und als kindlich-hilflos in einem Ausmaß, das sonst wohl selten erlebbar ist. Das sind Aspekte menschlichen Erlebens, die man schwer in sich vereinen kannDarauf muss natürlich nicht der Tod folgen – meist geht man, wenn die Krankheit vorbei ist, wieder zur Tagesordnung über. Aber der Tod rückt näher, so als wäre nun ein Kreis abgeschritten, als wäre alles getan und erlebt und gesagt. Und da ist Leyla: Ohne viele Fragen führt sie aus, was nun geschehen soll. Ja, sie ist vielleicht wirklich das kleine Teil das noch fehlt zur Vollendung des Planes. Ihre Stille wirkt nicht mehr ganz »von dieser Welt«Sein Schicksal wendet sich. Man könnte natürlich auch sagen: Nun beginnt die Depression. Auf einer existenziellen Ebene allerdings wäre vielleicht ein anderer Ausdruck adäquater: Er beginnt, zu sich selbst zu kommen. Und genau an diesem Punkt bricht auch noch die andere Dimension durch – nicht die Depression, wie man meinen könnte, obwohl bestimmt auch dadurch vorgebahnt. Nein, es ist die Ahnung des Todes der dürre Baum in der afrikanischen Savanne mit dem geisterhaften blinden Afrikaner hat dies sinnbildlich schon immer gezeigt. Wo die blinde Lust an der Zerstörung tobt, ist auch die Selbstzerstörung nahe sie deutet sich in dieser Halluzination bereits an. Der Film verwischt an diesen Stellen die Realitäten. Halluzination? Vision? Einbruch transzendenter Hinweise? Jeder kann es auf seine Art lesen. Aber auch der Kontext, in dem sich diese Erkrankung ereignet, spielt keine unwichtige Rolle. Der Bankautomat erklärt auf seine eigentümliche und immer wieder unheimliche Weise, als wäre er lebendig, dass er nichts mehr hergeben kann. Der zuerst recht freundliche Bankbeamte kann keinen Kredit mehr gewähren. Niemand »gibt« mehr, er fällt heraus aus dem Rahmen des üblichen Miteinanders, auf das Gesellschaft aufgebaut ist. Die Schuldenfalle zieht sich immer enger zusammen. Daheim erwartet ihn das kranke Elend seiner mühsam am Stock humpelnden Frau – nur eine teure Operation, die von der Kasse nicht gezahlt wird, könnte ihr verlöschendes Augenlicht retten. Sie ist allzu erschöpft, als dass sie Hilfe geben könnte. Sexualität gibt es schon lange nicht mehr zwischen den beiden. Nun sehen wir als Zuschauer allerdings schon etwas genauer, worauf diese tragische Geschichte hinauslaufen kann. Franz, von Ahnungen getrieben, findet seinen »Führer«, bzw. seine Führerin (Todesengel?) zum Tod in Gestalt der reizvollen Leyla, einer Kurdin, die ihm helfen soll, das letztlich todbringende völlig absurde Geschäft mit dem afrikanischen Betrüger zu tätigen. Auch Leyla hat einen sehr intimen Bezug zu Tod und Vernichtung – durch ihre Verbindung zum kurdischen Volk, das ja Tod und Verderben in vielen Varianten kennt. Leyla will das Schicksal ihrer kurdischen Vorfahren aufklären. Massenfluchten, Gemetzel und Verfolgung sind ihr nicht fremd. Leyla kennt den Tod sehr genau, sie »studiert« ihn, indem sie das Schicksal ihres Volkes analysiert, so kann man schlussfolgern. So ist sie als Führerin in den Tod hinein »geeignet«. Fast stumm agierend, erweist sie sich immer deutlicher als eine Figur, die ebenfalls in jenem Zwischenreich angesiedelt ist, in den von jetzt an der gesamte Film immer wieder hinübergleitet. Will und kann sie Franz vor dem Unheil bewahren? Offensichtlich nicht, sie führt ihn in sein Schicksal hinein – wohl wissend, dass die afrikanische
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Betrugsgeschichte zum Scheitern verurteilt ist. Ein klein wenig zögert sie, so als ob ihr die auferlegte Last, ihn zum Tod zu begleiten, allzu viel wäre. Aber der Sturm des Manikers lässt noch keine Bedenken zu. Das ist also der »Auftrag« der Krankheit für Franz Brenninger: Überwindung aller Vernunft und jeden Realitätssinnes durch den psychotischen Ausnahmezustand bis hin zu neuen Möglichkeiten, die der »normale« Franz Brenninger wohl kaum gehabt hätte. Diese neuen Möglichkeiten sind nicht nur die Erfahrung der Depression (dies auch), sondern die Sicht auf neue existenzielle Möglichkeiten. So als würde einer sagen: »Siehst Du, so geht es auch.« Es ist dieser Teil des Filmes mit seinem Spiel zwischen Realität, Traum und Spiritualität, der manchem Kritiker zu schaffen gemacht hat. »Kitschig« wurde er genannt, auch »der Teil, den man am besten übergeht«Ich meine, auch dieser Teil gehört notwendigerweise dazu. Wenn in diesem Film die Psychose (»bipolare Störung«, eventuell »Mischpsychose«) gezeigt werden soll, dann sind solche Wunschträume und Fantasien möglich. Wahnhafte Inhalte können durchaus auftreten in einer Phase sehr starker psychotischer Dekompensation. Aber auch jenseits dieser Lesart des Filmes wird klar, dass psychische Krankheit sich nicht erschöpft in einem diagnostischen Etikett.
Filmische Mittel und ihre Wirkung auf den Zuschauer Welche Mittel hat der Film, mit der Innenwelt dieser Krankheit umzugehen? Was auffällt ist, neben der abstoßenden Wortwahl (das Wort »Arschloch« kommt in jedem zweiten Satz vor), die extrem gesteigerte Motorik. Wild gestikulierend, schreiend, schweißüberströmt scheint sich Franz Brenninger von seinen inneren Zwängen zu befreien. Möglichst laute Musik muss es sein, die ihn innerlich ein wenig zur Ruhe bringen kann. »Luft« verlangt er immer wieder, reißt in klirrender Winterkälte die Fenster weit auf, springt nackt in den verschneiten Garten. Nur die stärksten Reize können ihn für kurze Zeit befrieden. Der Zuschauer empfindet diese aufs äußerste gesteigerte innere Qual und Unruhe fast körperlich mit. Man »spürt« seine Krankheit, von der er sich nicht wirklich befreien kann durch die extremen Mittel von Bewegung und Geschrei. Die Musik – Indie-Rock – tobt wie es in seinem Inneren tobt. Die Erschöpfung nach solchen Ekstasen bringt zwar Ruhe, er fällt ins Bett, schreckensvoll begleitet von der zarten und noch immer geduldigen Ehefrau. Sie versucht es mit Trost, aber hier gibt es nichts zu trösten. Franz findet nur in der stummen Erschöpfung für kurze Zeit Ruhe, Worte erreichen ihn nicht. Es gibt eine Szene – die Kamera kommt von weit her – da steht Franz am Fenster nackt und schaut in den Garten. Er ist so alleine, nicht mehr berührbar, auch die Kamera muss sich zurückziehen und den einsamen Mann stehen lassen. Es gibt keine Nähe mehr. Zwei Szenen erläutern auch filmisch, wie der psychische Ausnahmezustand eines Menschen auch die Familie herausreißt aus allen gewohnten Bezügen: E Die erste Szene: Mutter und Sohn sitzen vor einer weißen Wand – die Kamera entfernt sich, kommt näher; die beiden, Hand in Hand, reden über Franz (der im Stockwerk darüber tanzt und schreit), als wäre er schon nicht mehr da. Der Inhalt des Gesprächs (man müsse ihn in eine Klinik bringen) ist eher banal, die starre Haltung der beiden aber, als wären sie gebannt in ein Foto, zeigt die Ausweglosigkeit, in die auch die Familie gerät. Warum die Mutter ihn nicht verlasse, fragt der Sohn. »Ich lieb ihn halt« – kein Kommentar. E Noch unwirklicher die zweite Szene: Mucki und Leyla, ganz im Dunklen diesmal; fast geisterhaft heben sich die Stimmen ab. Mucki empfiehlt Franz der Obhut Leylas. »Warum ist es hier so dunkel?« fragt Leyla und die Antwort: »Damit ich Dich besser hören kann.« – »Wie im Märchen«, sagt Leyla – und wiederum kein Kommentar.
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Dass die Vision des dürren Baumes mit dem blinden Afrikaner genau in den Momenten höchster verzweifelter manischer Ekstase auftritt, erweist sich für den Zuschauer als ein unerwarteter Bruch: das Bild ist ruhig, steht gleichsam still und verweist auf »das andere«. Franz scheint also zu spüren, dass es das »andere« – was immer es sein mag – gibt, dass vielleicht etwas auf ihn wartet. Natürlich ist auch der schon fast überdeutliche Hinweis, den die Musik Schuberts bietet, packend und stimmt zusammen mit den eingeblendeten Winterbildern, auf das Geschehen ein. Der Wechsel von kalt zu heiß – das ist es ja, was die bipolare Störung ausmacht.
Der Film in der Filmkritik Der Film hat zwar Preise gewonnen, aber die Kritik war sehr zwiespältig. Lobeshymnen und Verrisse gab es – ein Zeichen, dass wohl irgendetwas getroffen wurde, was für manchen Kritiker gefährlich ist. Dies gilt für die Lobeshymnen genau so wie für die schlechten Kritiken. Das, was die »Lösung vom Über-Ich« genannt wird, könnte die verstörendste Nachricht sein. Man kann also als geachteter Mitbürger, wohlgeordnet eingebaut in der sozialen Welt, heraustreten und sagen: »Anstand, Moral, Höflichkeit« – das gibt es für mich nicht mehr. Die damit verbundene Lust setzt eine Versuchungssituation dar. Das wäre das eine Ärgernis. Das andere: dass hier mit den Mitteln einer realistisch erzählten Geschichte plötzlich die Dimension einer transzendenten Versuchung, ja eines »Schicksals« ins Spiel kommt, das die Realität durchbricht. Das haben manche Kritiker als »kitschig« empfunden, einer meinte u. a. sogar, man solle (obwohl sonst durchaus wohlwollend) den letzten Teil ganz »vergessen« Esoterikverdacht liegt natürlich nahe. Wenn man damit das Auflegen von Halbedelsteinen meint oder Auralesen und ähnlichen Mumpitz, dann allerdings ist ein solcher Verdacht absurd. Meint man damit aber das, was Esoterik ursprünglich auf griechisch bedeutet »auf innen zu« nämlich, und gleichzeitig auch die Tatsache mitbedenkt, dass zur Esoterik nicht jeder Zugang hatte, dann ist auch dieses Wort nicht verfehlt. Es geht im letzten Teil des Filmes sehr stark »auf innen zu«, in eine Innensicht, die offenbar sehr klarsichtig sieht, wohin der Weg gehen soll. Es ist aber nicht die Innensicht der Psychoanalyse. Es ist nicht der depressive Franz, es ist nicht der schuldige Franz, der sich zum Sterben entschließt. Es ist einer, der ein »Schicksal« hat, eines, das er schon seit Längerem ahnt, das ihn zielgerichtet an seinen erahnten Todesort führt, wohin sein (Todes)engel ihn auch begleitet ohne ihn zurückhalten zu wollen. Dies ist kein Suizid aus Verzweiflung heraus, dies ist ein hellsichtiger Suizid, einer der weiß, dass das Leben zu Ende ist. »Es hat sich vollendet« hat man in frömmeren Zeiten gesagt, wenn man meinte, dass der oder diejenige ihren vom Schöpfer gedachten Plan erfüllt hat. Wir wollen Leben um jeden Preis verlängern, keine äußere Notwendigkeit scheint Franz dazu zu zwingen, sich dem Tod zu ergeben. Schuld? Er hat den Gangster nicht umgebracht, nur zusammengeschlagen, um sein Geld wieder zu bekommen; die Kränkungen, die er in seinem manischen Wahn um sich gestreut hat, werden ihm bestimmt vergeben. Depressiv ist er auch nicht mehr er plant zielsicher und aktiv. Nein, was mancher moderne Kinogänger offenbar als »kitschig« erlebt, ist das, was in anderen Zeiten sehr selbstverständlich war: dass man seinen eigenen Tod stirbt, »wenn es Zeit ist«, weil der Schöpfer oder das Schicksal dies so vorherbestimmt haben. Es ist ein unmoderner Gedanke, der dahinter steckt und dementsprechend irritiert reagieren wohl manche Kritiker. Ist dieser Gedanke, wenn man ihn was nicht sein muss aller transzendenten Bedeutung enthebt, wirklich so falsch? Gibt es nicht wirklich den Lebensabschnitt, in dem sich das Leben erfüllt hat, in dem es wirklich »genug« ist? Das kann auch eine unheilbare Krankheit ein, das kann eine Psychose sein – aber wer anders als der Einzelne selbst kann entscheiden, ob er »genug« gelebt hat? Für Franz scheint es ganz klar, seine Entscheidung wird bei klarem Bewusstsein getroffen. Psychisch krank ist er nicht mehr. Es gibt keine äußere Notwendigkeit, dem Leben ein Ende zu setzen – aber Franz weiß eben, dass er jetzt nicht mehr mitspielen darf und kann. Es tut ihm nicht leid, sein Leben ist vorbei, weil es so »richtig« ist.
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Das, so meine ich, ist für uns moderne Menschen, denen der Glaube an solche unumstößliche Gefühle abhandengekommen ist, schwer einzusehen. Es wird eben von manchen als »kitschig« empfunden. Der Film, so meint einer, hätte vorher zu Ende sein müssen. Das aber hätte die Botschaft verstümmelt. Der Film Winterreise ist nicht nur das Porträt eines Psychotikers mit einer bipolaren Störung. Es ist die Darstellung dessen, was hinter und durch die Krankheit sichtbar werden kann.
Literatur Dilling et al. (2000) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Huber, Bern Mentzos S (2006) Depression und Manie. Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Winterreise Kritiken. http://www.moviemaze.de/filme/1641/winterreise.html. Gesehen Feb 2010
Originaltitel
Winterreise
Erscheinungsjahr
2006
Land
Deutschland
Buch
Martin Rauhaus, Hans Steinbichler
Regie
Hans Steinbichler
Hauptdarsteller
Josef Bierbichler (Franz Brenninger), Hanna Schygulla (Martha Brenninger), Sibel Kekilli (Leyla)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Tatjana Noemi Tömmel und Sieglinde Eva Tömmel
Calm consideration Schwere depressive Episode (ICD-10: F32.2) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Der Film als Therapeutikum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
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Filmplakat Sex and the City, USA 2008 Quelle: Warner Bros./Cinetext
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Sex and the City Carrie Bradshaw (Sarah Jessica Parker)
»Only by calm consideration of our existence can we achieve our purpose to live together. Oh continue to love me, never misjudge the most faithful heart of your beloved.«1 Ludwig van Beethoven
Es gibt die großen Meister des bewegten Lichtspiels, Poeten der Montage und »mise en scène«, wie Frederico Fellini, Michelangelo Antonioni oder Stanley Kubrick, deren unerhörte Bildersprache sich für immer in das Gedächtnis eingräbt. Und es gibt Filme wie Sex and the City (2008): Ästhetisch konventionell, offensichtlich dem Genre der romantischen Komödie zugehörig, zu allem Überfluss der späte Auswuchs einer Serie, die zwischen 1998 und 2004 in nicht weniger als sechs Staffeln das Liebesleben der vier New Yorker Stadtneurotikerinnen Carrie, Samantha, Charlotte und Miranda erzählte (. Abb. 1). Die Leichtigkeit der Narration, die grelle Darstellung der Sexualität und eine bisweilen burleske Komik sollten aber nicht über die feinsinnige Dramaturgie der Serie hinwegtäuschen, der es wie selten gelang, ihre Zuschauer(innen!) über Jahre zu fesseln, indem sie deren existenzielle Nöte auf tragikomische Weise in Szene zu setzen vermochte. Sex and the City besticht die Zuschauer durch ihre Doppelfunktion als eine Art volkspsychologischer »Enzyklopädie«, die keine Eigentümlichkeiten des Liebeslebens im Dickicht der Großstädte auslässt, und – ganz en passant – als Ethik, als performative Antwort auf die Frage, wie wir leben sollen. Da psychische Krankheiten nicht zwingend ein Bestsellerthema und Hollywoodfilme keine Dokumentationen für Akademiker sind, will dieser Aufsatz nicht nur die Handlung zusammenfassen, um die Depression der Hauptfigur zu analysieren, sondern diese auch unter der Frage der Rezeptionsästhetik betrachten. Denn wenn die Popkultur Kummer und Leid darstellt, dann nur aus einem Grund: Die Zuschauer sollen sich in den Figuren wieder finden und durch deren Geschichte so sehr bewegt werden, dass sie sich selbst zumindest für Momente verstanden und erlöst fühlen. Warum aber die Betrachtung von Leid in der Kunst so reizvoll und befreiend ist, warum das Tragische lustvoll sein kann, gehört nicht nur zu den ältesten, sondern auch den rätselhaftesten Fragen der Psychologie und Ästhetik.
Die Handlung Im Mittelpunkt der Serie Sex and the City steht die Trendsetterin Carrie Bradshaw (Sarah Jessica Parker), die als Kolumnistin des New York Star zugleich Erzählerin der Geschichte ist. Ariadnefaden durch die 94 Episoden mit ihren vielfältigen Handlungssträngen ist ihre Liebe zu »Mr. Big« (Chris Noth), wie sie ihren bindungsunfähigen »Mr. Right« nennt, der erst in dem Moment einen Namen bekommt – John James Preston – in dem er sich nach etlichen Beziehungen, Trennungen, Freundschaftsversuchen, Affairen und erneuten Abbrüchen endlich zu ihr bekennt: »You are the one« (»Du bist die Eine«) ist der Satz, auf den Carrie sechs Jahre lang warten muss, der sie sechs Jahre nach der großen und wahren Liebe hat suchen lassen.
1 Brief Beethovens vom 6. und 7. Juli 1812 an die unbekannte »unsterbliche Geliebte«, der heute in der Berliner Staatsbibliothek unter der Signatur Mus. ep. autogr. Beethoven 127 aufbewahrt wird. Carrie liest »Mr. Big« den Brief in englischer Übersetzung aus dem Buch Love letters of Great Men vor. Der originale Text lautet: »Nur durch ruhiges Beschauen unsres Daseins können wir unsern Zweck zusammenzuleben erreichen – … o liebe mich fort – verkenn nie das treuste Herz deines Geliebten«.
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. Abb. 2 »I let go the wedding bigger than ‚Big‘« – Szene mit Cynthia Nixon, Kristin Davis, Sarah Jessica Parker und Kim Catrall, Quelle: Warner Bros./Cinetext
Nun ist sie erlöst, die Serie zu Ende. Doch anders als in Wagners Holländer, bei dem Erlösung und Tod zusammenfallen, lebt das Paar weiter – und Sex and the City beginnt: Aus der Kolumnistin ist eine inzwischen 41-jährige Buchautorin geworden, die an einem Band arbeitet, der ihre neue Lebenssituation spiegelt:
R »I used to write about finding love, now I wanna write about what happens when you’ve found it.«2 Für alle, die schon immer wissen wollten, wie das Leben nach »… und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende« aussieht, ist die dramaturgische Notsituation des Films – er muss dort ansetzen, wo er 145 Minuten später wieder enden wird: beim Happy End – eine Tugend, denn sie haben das Vergnügen, einen Film über die Fragwürdigkeit des Märchenglücks zu sehen. Der heitere Auftakt des Films – »Mr. Big« kauft für sich und Carrie zwar kein Schloss, aber immerhin ein klassizistisches Penthouse über den Dächern der 5th Avenue – wird schnell getrübt, als sich mehr durch die Erwartung ihres Umfeldes als durch den genuinen Wunsch des Paares die Frage stellt, ob sie heiraten sollen. Durch eindeutige Blicke und zweideutige Bemerkungen, durch Äußerungen, die ganz allgemein gesagt und persönlich genommen werden, sickert das gesellschaftliche Urteil nach und nach in die Beziehung des Paares: In einem bestimmten Alter sollte man verheiratet sein – wenn schon nicht aus romantischen Gründen, dann doch wenigstens, um rechtlich und finanziell abgesichert zu sein. Als Carrie, von eigener Sorge und den Warnungen ihrer Freundinnen gedrängt, mit »Big« über ihre völlig ungesicherte rechtliche Lage in ihrem neuen Zuhause spricht – »I have to be smart here. I 2 »Früher schrieb ich darüber, wie man die Liebe findet, jetzt möchte ich darüber schreiben, was passiert, wenn man sie gefunden hat.« – Übersetzungen erfolgten hier und im Folgenden durch die Autorinnen.
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have no legal rights« (»Ich muss hier schlau sein. Mir steht rechtlich nichts zu.« – macht ihr »Big«, der bereits zweimal geschieden ist, den unvergleichlich beiläufigen Antrag:
R »I wouldn’t mind being married to you – would you mind being married to me?«3 Carrie nimmt ihn an, wenn auch irritiert. Aus der pragmatischen Entscheidung wird angesichts der Bekanntheit des Paares schnell ein gesellschaftliches und mediales Ereignis – Zeitungsartikel in der New York Times und ein aufwendiges Vogue-Shooting mit Carrie in Hochzeitskleidern nehmen der Entscheidung den intimen Charakter. Je weiter die Hochzeitsvorbereitungen voranschreiten, desto mehr entfernen sich die beiden voneinander: Während das »last single girl« Carrie es genießt, mit der ganzen Stadt zu feiern, dass ihre große Liebe sich endlich öffentlich zu ihr bekennt, graut es »Big« mehr und mehr vor dem »circus«, wie er es nennt. Im Bewusstsein, zweimal gescheitert zu sein, empfindet er eine solch pompöse Inszenierung – die Gästeliste steigt auf 200 Personen an, als die Designerin Vivienne Westwood Carrie persönlich ein Haute-Couture-Kleid schenkt (. Abb. 2) – als geschmacklos, obwohl über seine innere Haltung Carrie gegenüber kein Zweifel mehr besteht: »You wanted all this! I want you« (»Du wolltest das alles! Ich will dich!«). Sie will diese Hochzeit – er will sie. Am Vorabenddinner spitzt sich die Lage zu: »Big« wird von mehreren Gästen, halb im Scherz, an seine frühere Wankelmütigkeit gegenüber der Braut erinnert. Sein Unbehagen steigert sich in Angst, als Carries Freundin Miranda, selbst tief verletzt, weil ihr Mann sie gerade betrogen hat, ihm ungehalten entgegen schleudert:
R »You two must be crazy to get married. Marriage ruins everything!«4 Am nächsten Morgen, traditionell verbrachten Braut und Bräutigam die Nacht nicht gemeinsam, erfasst ihn eine solche Panik, dass er sich nicht imstande sieht, zur Trauung zu erscheinen. Aufgelöst versucht er immer wieder, Carrie zu erreichen, doch seine Versuche sind vergeblich. Als er sie endlich von seinem Wagen aus sieht – wie Orpheus meint er, sie sehen zu müssen – wird ihr Gesicht gerade mit dem Schleier bedeckt. »Big« weiß nicht mehr, ob seine Braut noch die Frau ist, die er zu kennen meinte. Er fährt. Als Carrie hört, dass »Big« nicht zur Hochzeit kommt, bricht sie zusammen. Obwohl »Big« nach diesem Augenblick der Panik umkehrt und Carrie doch noch ehelichen will, kann sie ihm die Kränkung nicht mehr verzeihen. Umgeben von ihren furienhaften Freundinnen schlägt sie auf offener Straße auf ihren Bräutigam ein. Sie inszeniert selbst, was sie am meisten fürchtet: die Trennung von ihrem Geliebten. Nach diesem Schlag beginnt für Carrie eine Phase tiefer, über bloße Trauer hinausgehende Niedergeschlagenheit, die man als »akute reaktive Depression« bezeichnen kann. Da die ICD-10 (WHO 2006) die Depressionen abgesehen von leichteren Formen nach ihrem Schweregrad und nicht nach ihrem Entstehungsmechanismus klassifiziert, ist Carries Depression als schwere depressive Episode (ICD-10: F32.2) anzusehen. Symptomatisch reicht eine Depression von leichten Stimmungsabfällen, die schnell überwunden werden können bis zu schweren katatonen Zustandsbildern, die einen Klinikaufenthalt und medikamentöse Behandlung notwendig machen. Charakteristisch für depressive Zustände ist ein Gefühl der Gefühllosigkeit: Das zu früh verlassene oder zu wenig geförderte oder zu unvollständig vom Objekt gelöste Selbst [… erlebt sich] als leer, unlebendig, unwert; es ersehnt Geborgenheit, Fülle, Sicherheit, Sättigung, Lebendigkeit, Selbstwert durch die Nähe des wichtigen Objektes. (Rudolf 2005 S. 150)
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»Ich hätte nichts dagegen mit dir verheiratet zu sein – hättest du etwas dagegen, mit mir verheiratet zu sein?« »Ich dachte, es würde mir immer noch wahnsinnig wehtun, aber ich fühle gar nichts!«
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Die Patienten leben in einer Stimmungslage, in der sie sich typischerweise nicht mehr vorstellen können, ob und wie dieses Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit jemals enden werde. Die Lebenslust ist verloren, der Appetit schwindet, Lust im weitesten Sinne gibt es nicht mehr. Die Betroffenen ziehen sich häufig zurück und meiden soziale Kontakte, weil die Kraft und Motivation hierfür zu fehlen scheint. Diese Kraftlosigkeit wird häufig mit organischer Schwäche und/oder körperlichen Infekten verwechselt. Doch durchschnittlich erwartbar kann ein Allgemeinmediziner oder ein Internist wenig ausrichten. Im Haus, dem eigenen »Revier«, fühlen sich depressiv Erkrankte jedoch auch nicht wohl: die Konzentration schwindet, Musik hören oder ein Buch lesen ist kaum möglich, weil jede Seite zur Qual wird, erneut wegen schnellen Vergessens gelesen werden muss und so ein normales Vergnügen zur Last wird. Allgemein können Depressionen in einem bestimmten Geltungsbereich als »normale« Reaktionen beschrieben werden, weil sehr viele Menschen auf entsprechende Auslöser psychogenetisch depressiv reagieren. Die Auslöser für psychogenetische Depressionen sind so zahlreich und vor allem so individuell, passen bei näherem Hinsehen so sehr zu der bis dahin gelebten Lebensgeschichte, dass nur eine genaue Kenntnis der individuellen Geschichte deren Identifikation erlaubt. Die wichtigsten Auslöser sind Verluste geliebter Menschen durch Tod und Trennung. Aber auch der Verlust von Arbeit, der Wechsel des Wohnortes oder der Verlust von Eigentum können Auslöser für eine mehr oder weniger schwere Depression sein. Manchmal entwickelt sich eine akute zu einer chronischen Depression. Eine Form hiervon hat Freud als »Melancholie« bezeichnet. Damit meinte er, dass der zunächst normale Zustand des Trauerns um ein geliebtes verlorenes Objekt in anhaltende Melancholie, d. h. Depression, verwandelt wird. Durch den psychodynamischen Vorgang der Identifikation mit dem verlorenen Objekt, der allerdings weitgehend unbewusst bleibt, gerät das Individuum in einen Zustand anhaltender, herabgeminderter Vitalität, nachlassender Konzentration auf Naheliegendes, geschwächte Aufmerksamkeit und mangelnde Präsenz im Hier und Jetzt (Freud 1917). Im Film wird für Carrie der Verlust von »Mr. Big« zum Auslöser für eine länger dauernde depressive Verstimmung. Die Bezeichnung »akute depressive Reaktion« trifft deshalb Carries psychischen Zusammenbruch, weil ihr Zustand eine Reaktion auf den Verlust ihres geliebten »Mr. Big« darstellt, weil diese Reaktion akut ist und weil sie in eine längere Phase der depressiven Verstimmung im Sinne einer schweren depressiven Episode mündetCarries Symptome einer akuten depressiven Reaktion sind offensichtlich und werden gut nachvollziehbar im Film gezeigt:
R »I thought I would still be in extreme pain, but I feel nothing!«5 beschreibt sie ihren eigenen, für Depressionen so charakteristischen Zustand der Gefühllosigkeit noch am selben Abend. Tagelang verlässt sie nicht ihr abgedunkeltes Schlafzimmer, ist ständig müde und kraftlos, will und kann nichts mehr essen; der sonst so typische Witz und der strahlende Glanz sind aus ihrem Gesicht gewichen. Sie zeigt ein völliges Desinteresse an ihrer Außenwelt, ja, vermeidet regelrecht schöne Situationen wie einen Sonnenuntergang. Sie weicht der direkten Auseinandersetzungen mit »Big« aus, teilt ihm nicht ihre Adresse mit, löscht seine Emails ungelesen und bringt es auch nicht über sich, seine letzten Nachrichten an sie vor dem Eklat abzuhören, sondern wirft statt dessen ihr Mobiltelefon ins Meer. Carries Depression dauert vom Herbst bis zum nächsten Frühjahr, also ungefähr ein halbes Jahr. Auch wenn die völlige Niedergeschlagenheit für Momente aufgehellt wird und sich langsam normalisiert, berichtet Carrie noch nach Monaten, dass sie »Big« jeden Tag vermisse, ihre Gefühle aber begraben habe: 5 »Es ist komisch. Ich hab‘ überhaupt nicht viel geweint. Vielleicht ist nur eine bestimmte Menge an Tränen pro Mann erlaubt. Ich habe meine aufgebraucht.«
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R »It’s weird. I haven’t cried very much at all. Maybe you’re only allowed a certain amount of tears per men. I used mine up.«6 Sie meidet noch lange Kontakte, bleibt über Weihnachten und Silvester allein und kann nicht die Kraft und Konzentration aufbringen, ihr geplantes Liebesbuch zu beginnen. Ihre Depression ist also nicht eine nur harmlose und kurze Episode, die zuweilen schon nach einer Stunde oder einem Tag beendet sein kann. Das Erlebnis des Verlassenwordenseins bei einer Depression muss typischerweise eine Vorgeschichte haben – sonst könnte es von Carrie als komisch, bemerkenswert, sonderbar gedeutet werden, dass »Big« derartige Angst vor der Hochzeit hat, würde aber nicht unbedingt eine heftige Reaktion ihrerseits hervorrufen. Depressionen haben oft eine Grundlage in früheren Versagungen, die vermutlich die Mehrheit der Menschen in der einen oder anderen Weise erleiden. Dazu gehören so unvermeidliche Erfahrungen im frühen Mutter-Kind-Kontakt wie eine in den Augen des Kindes zuweilen nicht zuverlässige Mutter, eine Mutter, die zu wenig Zeit hat, eine Mutter, die ihr Kind nicht genügend spiegelt, die es in seinen Bedürfnissen nicht genügend bestätigen und bestärken kann (ausführlich in Rudolf 2005). Missglückt die frühe Kommunikation mit der Mutter und findet sie nicht einen Ausgleich mit anderen Personen und/oder Umständen, steigt die Wahrscheinlichkeit für Störungen der menschlichen Kommunikation an. Störungen der Bildung von Selbst- und Objektrepräsentanzen können später ihren Ausdruck in zahlreichen neurotischen Erkrankungen wie Magersucht, Bulimie, Fettsucht ebenso wie in verschiedenen Formen der Depression finden. Im Film gibt es neben den Hinweisen auf »Bigs« frühere Unzuverlässigkeit zwar keinerlei Hinweise auf eine noch tiefer liegende, familiäre Vorgeschichte dieses Gefühls, in der Serie jedoch wird berichtet, dass Carries Vater früh seine Familie verlassen hat7, eine Beschreibung der Mutter fehlt ganz. Carrie hat ein offensichtliches, aber nicht erklärtes Defizit an Selbstwertgefühl, das ihr nicht erlaubt, den kurzfristigen Aussetzer »Mr. Bigs« zu verstehen und ihn dennoch, wenn auch mit einer Stunde Verspätung, zu heiraten. Ein solches Verhalten würde Objektkonstanz voraussetzen, d. h., die Fähigkeit, sogar grobe Fehler des Liebesobjekts, die jedoch nicht gewollt sind, auf ihre Motivation hin zu überprüfen und sie zu relativieren oder doch wenigstens unter dem Primat der Liebe zu tolerieren und zu verstehen. Dass sie selbst es ist, die diesen Verlust inszeniert, ändert nichts an ihrem Gefühl, »verlassen worden« zu sein. Die unbewusste Verkehrung von »aktiv hergestellt« in »passiv erlitten« ist typisch für viele depressiv reagierende Menschen. Die narzisstische Kränkung, als »verlassene Braut« vor dem Traualtar zu stehen und vergeblich auf den Bräutigam zu warten, ist zunächst zu groß, um von Carrie überwunden werden zu können. Im Verlauf der Handlung sind es sowohl die Einsicht in den eigenen Anteil an ihrem Unglück als auch die liebevolle Unterstützung ihres Umfeldes, die Carries Depression nach und nach zu heilen vermag. In der Phase der akuten Depression engagiert Carrie eine persönliche Assistentin, die ihr helfen soll, den Alltag zu bewältigen. Louise aus St. Louis entpuppt sich schnell als »Sainte Louise«, als gute Fee, die Carrie zurück ins Leben bringt, indem sie ihre eigenen Wünsche, Hoffnungen und ihren Optimismus spiegelt. Die 20-Jährige gibt unumwunden zu, dass sie nach New York gekommen ist in der Hoffnung, sich wieder zu verlieben, nachdem ihr Freund ihr sagte, er liebe sie, aber sie sei eben nicht »die Eine«. Wäre da nicht die Nonchalance ihrer melodischen Bluesstimme, man könnte Louise für eine paulinische Botin halten:
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Vgl. 4. Staffel, Folge: A »Vogue« idea. »Diese Scheiße tat weh. Aber weißt du, koste es, was es wolle, ich geb‘ die Liebe nicht auf. Liebe ist die Hauptsache, weißt du?«
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Calm consideration
R »That shit hurt. But you know, whatever, I‘m not goin’ to give up on love. Love is the thing, you know?«8 Mit Louise und den Freundinnen an der Seite beginnt für Carrie langsam ein Entwicklungs- und Erkenntnisprozess, der darin mündet, dass sie am Valentinstag das Interview, das sie der Vogue im Sommer gegeben hatte, noch einmal liest, und ihrer Freundin Miranda gegenüber gesteht:
R »I deserved what I got, believing that I finally got my happy ending: See: love does conquer all! And Miranda, in that article, I didn’t say ‚we’ once. …The whole wedding was my point of view. I let the wedding get bigger than Big. I am the reason that he did not get out of the car!«9 Zwar braucht es noch einige schicksalhafte Wendungen, bis Carrie und »Big« wieder zueinanderfinden, den Grundstein der Versöhnung legt Carrie aber selbst mit ihrer Einsicht, dass sie nicht bloß das Opfer eines bindungsunfähigen Mannes ist, sondern ihre Tragödie auch selbst inszeniert hat. Die Hochzeit, die den Kreis der Handlung schließt, kann nur stattfinden, weil beide Seiten sich ganz auf die Bedürfnisse des anderen einlassen: »Big« erkennt Carries Bedürfnis nach einem romantischen Antrag, obwohl sie selbst inzwischen eingesteht, dass die Heiratsidee rein aus der vorauseilenden Angst entstanden war, dass es etwas bedeuten könnte, wenn sie nicht heirateten:
R »You know the funny part? We were perfectly happy before we decided to live happily ever after.«10 Und Carrie erkennt, dass es bei der Hochzeit allein um »Big« und sie geht und kann auf ihre Märchenhochzeit zugunsten einer ganz simplen City-Hall-Trauung »in a labelless dress« verzichten. Die Therapie der Depression im Film besteht also nicht nur in der Annahme der Liebe »Mr. Bigs« und der Hilfe ihrer Freundinnen, sondern in der Einsicht, dass auch und gerade die größte Leidenschaft Überlegung, Vernunft und klares Bewusstsein erfordert:
R »Only by calm consideration of our existence can we achieve our purpose to live together” zitiert Carrie aus einem Brief von Beethoven an seine »unsterbliche Geliebte« zu Beginn des Films.
Der Film als Therapeutikum Über die Jahre hinweg entwickelte sich die Serie Sex and the City von satirischen Kurzgeschichten mehr und mehr zur Tragikomödie und zum Melodram, wobei ihr polarer Grundgestus beibehalten wurde, der zum einen in der Groteske bestand, die die Komik eines Lebens in einer Welt des »anything goes« in den Vordergrund rückt und der Lust am Bizarren huldigt. Sie wird durch den Gestus der Versöhnung komplementiert. Sex and the City thematisiert alltägliche existenzielle Konflikte wie ungewollte
8 »Ich hatte verdient, was ich bekommen habe – zu denken, dass ich letztlich mein ‚Happy End’ bekommen werde: Schaut her: Liebe besiegt alles! Und Miranda, in diesem Artikel habe ich nicht ein einziges Mal ‚wir’ gesagt … Die ganze Hochzeit war mein Standpunkt. Mir wurde die Hochzeit wichtiger als ‚Big‘. Ich bin der Grund, warum er nicht aus dem Auto gestiegen ist.« 9 »Weißt du, was das Lustige ist? Wir waren absolut glücklich, bevor wir entschieden haben, glücklich bis ans Lebensende zu sein.« 10 »Nur durch ruhiges Beschauen unsres Daseins können wir unsern Zweck zusammenzuleben erreichen.«
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Schwangerschaft und ungewollte Kinderlosigkeit, Trennungen, Einsamkeit, Krankheit und Tod. Auf all jene Konflikte weiß der Film eine Antwort: Freundschaft. Die Liebe der Freundinnen zueinander, ihr im Wesentlichen ungebrochenes Zueinanderstehen ermöglicht die Komik des Bizarren und die Schmerzen des Verlusts, die beide dramaturgisch möglich, d. h. erträglich werden durch den Trost der Freundschaft. Es spricht vieles dafür, dass der Erfolg von Sex and the City gerade in dieser Mischung aus Komik, Tragik und Pädagogik besteht, dass die humorvollen und konstruktiven Antworten des Films auf tragische Lebenssituationen seine Beliebtheit ausmachen. In Sex and the City tragische Elemente zu sehen, scheint zwar im ersten Moment absurd, doch ein von keinem Kanon getrübter Blick kann in dem Film durchaus die psychodynamische Wirkung einer Tragödie nachweisen. Denn mit der klassischen, attischen Tragödie teilen Filme wie Sex and the City nicht nur die Darstellung von Leid, sondern vor allem ihre soziale Verwurzelung in breiten Gesellschaftsschichten und den Anspruch, als öffentliche Verhandlung von Normen und Werten performativ eine Ethik zu entwerfen. Zwar können weder die Serie noch der Kinofilm für sich ein mit der Polis vergleichbares Zuschauerkollektiv in Anspruch nehmen, aber die für die Tragödie charakteristische und dem Psychoanalytiker vertraute kathartische Wirkung kann auch den einzelnen Zuschauer ergreifen, sofern er die Spannung zwischen Schuld und unverdientem Leid in seinem kulturellen Kontext als sinnvoll erfährt. Aristoteles gibt im 6. Buch der »Poetik« eine knappe, relativ technische Definition der Tragödie als der Nachahmung einer guten, in sich geschlossenen Handlung, die durch die Erregung von Rührung oder Jammer und Schrecken eine Reinigung (Katharsis) von derartigen Affekten bewirke. An anderer Stelle weist er darauf hin, dass diese Wirkung nur dann erzielt werde, wenn ein großer, vom Glück verwöhnter Mensch nicht aufgrund seiner Schlechtigkeit, sondern »wegen eines Fehlers« einen Umschlag vom Glück ins Unglück erfahre (Aristoteles 1994). Die Schlüsselbegriffe scheinen also der Fehler des Helden und die Katharsis des Zuschauers zu sein. Mit dem Konflikt zwischen innerer Empfindung und äußerlicher Darstellung der Empfindung findet Sex and the City durchaus ein tragisches Grundmotiv. Der Film setzt in Szene, dass finanzielle und soziale Unabhängigkeit Männer und Frauen nicht vom Wunsch dispensiert, ihrer Liebe mit dem altmodischen Zeichen der Ehe ein Denkmal zu setzen. Zwar werden rechtliche und finanzielle Erwägungen des Schrittes durchaus angesprochen, doch das tiefere Motiv, das sich vor allem in der Serie immer wieder in seiner ganzen Ambivalenz zeigt, scheint in dem Wunsch zu liegen, durch die öffentliche Form der Liebe die Ewigkeit zu geben, nach der sie sich immanent immer sehnt. Es ist der Liebe als innerlicher Empfindung inhärent, ständig nach ihrer Veräußerlichung zu streben, schon um ihre Flüchtigkeit zu überwinden. Wie anders sind all die Riten und Symbole zu erklären, ohne die unser Begriff von Liebe nicht denkbar wäre? Die Sehnsucht nach absoluter Vereinigung in der Liebe stößt in der Relativität menschlichen Daseins immerzu an ihre Grenze: Retten kann sie sich nur in Formen des Versprechens – und die Ehe ist nun einmal die Form des Versprechens par excellence. Worte werden dabei zu Handlungen, die der Flüchtigkeit der Liebe Bestand geben sollen. Da es nun für die Menschen keine Ewigkeit geben kann, soll der Absolutheit zumindest eine dauernde Zukunft gegeben werden – »bis dass der Tod uns scheidet«. Diese tragische Sehnsucht ist der Motor der Handlung und macht bei aller Konventionalität der Darstellung die Tiefe des Films aus. Carries »Fehler« liegt daran begründet, dass sie »let go the wedding bigger than Big« – dass sie über dem Wunsch, ihrer Liebe Ewigkeit zu verleihen, wie im Märchen Innerlichkeit und Äußerlichkeit eins werden zu lassen, die Wirklichkeit ihres Geliebten aus dem Blick verloren hat. »Big« will Carrie, die Form ist ihm egal. Carrie aber will ihr Leben als Märchen erleben, wenigstens für einen Tag. Carries Sehnsucht nach der großen Geste offenbart sich, als sie bei der Recherche für ihr Liebesbuch Love letters of great men liest und »Big« halb ernst, halb neckend vorwirft, er habe ihr nie einen Liebesbrief geschrieben. Seine aufrichtigen Worte, dass sie ihn sehr glücklich mache, quittiert Carrie mit einem trockenen:
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Calm consideration
»Yeah, put it in writing« (»Jaja, schreib es auf«). Die Liebe selbst scheint nicht zu reichen, solange sie nicht in unsterbliche Verse gegossen ist. Carrie will die Inszenierung ihrer Liebe vermutlich aus dem selben Grunde, der Millionen von Frauen an die Leinwand bannt: die poetische Dichte lässt das eigene Leben erst wirklich erscheinen. Erst das Überwirkliche garantiert unsere Realität. Auf die Gefahr, die dieser »Aschenputtel-Komplex« mit sich bringt, wird immer wieder mit Nachdruck hingewiesen: Als Carrie Charlottes kleiner Tochter »Cindarella« vorliest, setzt sie gleich warnend hinzu:
R »You, know, that’s just a fairy tale, right, sweetheart? Things don’t always happen like this in real life. I just think you should know that now.«11 Doch die Kleine verlangt energisch, die Geschichte ein weiteres Mal zu hören: »And another one bites the dust.« – »Und noch einer beißt ins Gras« Wie Carrie selbst verfällt das kleine Mädchen der Sehnsucht, eine Märchenprinzessin zu sein und läuft so Gefahr, von den Hindernissen und Banalitäten des Alltags überwältigt zu werden. Dennoch wird niemand Carrie das Leid, das sie durch ihre vielleicht unrealistische, aber dennoch legitime Sehnsucht über sich bringt, wünschen – es ist zu groß, es ist unverdient. Dramaturgisch gesehen ist das Leid allerdings notwendig, denn erst der verzweifelte Zustand, der in eine Depression mündet, gibt Carrie die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis, zur Umkehr, schließlich zu Versöhnung und zum Happy End. Die Wurzel für das Vergnügen des Zuschauers mag in diesem therapeutischen Prozess der Figur liegen, nicht in seiner Vernichtung wie in der klassischen Tragödie. Denn in Sex and the City liegt der Fokus wie in vielen Hollywoodfilmen darauf, Kummer, Hindernisse und Leid konstruktiv zu überwinden und dem Zuschauer somit die Möglichkeit zu geben, an der Entwicklung der Figur, an ihrem Bildungsprozess, teilzunehmen. Indem der Zuschauer sich einerseits identifiziert und anderseits seine noch unerfüllten oder unerfüllbaren Wünsche schließlich verwirklicht sieht, erlebt er die Versöhnung von Sein und Sollen im Film als Trost. So gesehen ist Sex and the City eine Geschichte über die Kunst zu vertrauen, zu versprechen und zu verzeihen: über die Sehnsucht, Aschenputtel zu sein, die von ihrem Prinzen gegen alle Wahrscheinlichkeit gefunden und zur Prinzessin erhoben wird und den Fluch, Orpheus zu sein, der sich umdrehen muss, der (wie der ungläubige Thomas im Neuen Testament) sehen muss, um zu glauben und dadurch verliert, was er hat. Die Ironie des Films besteht allerdings darin, dass er zu »calm consideration« mahnt, wo er selbst überschwängliche Sehnsüchte provoziert: So sein zu wollen wie im Märchen – oder im Film. Denn zuletzt kniet »Big« doch als Märchenprinz vor Carrie und bittet sie um ihre Hand …
Literatur Aristoteles (1994) Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Reclam, Stuttgart Freud S (1917) Trauer und Melancholie, GW X, S. 427–446. Fischer, Frankfurt Rudolf G (2005) Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik. Thieme, Stuttgart WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2006) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Huber, Bern
11 »Du weißt das ist nur ein Märchen, ja, Süße? Im wirklichen Leben passieren die Dinge nicht immer so. Ich denke einfach, du solltest das jetzt wissen.«
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Originaltitel
Sex and the City
Erscheinungsjahr
2008
Land
USA
Buch
Michael Patrick King nach dem Roman Candace Bushnell
Regie
Michael Patrick King
Hauptdarsteller
Sarah Jessica Parker (Carrie Bradshaw), Chris Noth (John James Preston »Mr. Big«), Kim Catrall (Samantha Jones), Kristin Davis (Charlotte York), Cynthia Nixon (Miranda Hobbes)
Verfügbarkeit
Als DVD in OV und deutscher Sprache erhältlich (145 min Kinofassung, 151 min »extended cut«)
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Timo Storck
Call it Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10: F32.2) hier: schwere altersdepressive Episode Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Überlegungen zur psychoanalytischen Filminterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Altersdepression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Call it. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Filmplakat No Country for Old Men, USA 2007 Quelle: Cinetext
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No Country for Old Men Ed Tom Bell (Tommy Lee Jones)
Die Handlung Unruhestände Die Darstellung des Films soll hier mit dem Ende beginnen: Man sieht dort den frisch pensionierten Sheriff Ed Tom Bell am Frühstückstisch seiner Frau gegenübersitzen. Er berichtet von seinen Träumen der vergangenen Nacht:
R »In zweien kam mein Vater vor. Es ist so irgendwie eigenartig. Ich bin 20 Jahre älter als mein Vater je war. Also ist er eigentlich der jüngere Mann. Egal, an den ersten Traum erinnere ich mich kaum noch. Wir haben uns in irgendeiner Stadt getroffen, wo er mir Geld gegeben hat und dann war’s weg. Und im zweiten, da waren wir zusammen in der Vergangenheit, glaube ich. Ich saß auf einem Pferd und bin nachts durch die Berge geritten, über diesen Pass in den Bergen. Es war kalt und es lag Schnee. Er ist an mir vorbeigeritten und hat überhaupt nichts zu mir gesagt. Er ist einfach nur vorbeigeritten. Und er hat so ’ne Wolldecke umgewickelt und seinen Kopf gesenkt. Als er vorbei ritt, da sah ich, dass er Feuer in einem Horn trug, wie es früher Brauch war, und ich, ich konnte das Horn durch das Licht im Innern sehen, eine Farbe wie der Mond. In dem Traum wusste ich, er würde vorausreiten und er würde ein Feuer machen, irgendwo da draußen in der Dunkelheit und Kälte. Ich wusste, er ist da, wenn ich ankomme. Dann bin ich aufgewacht.« Unmittelbar danach endet der Film. Das nachdenkliche und offene Ende gepaart mit dem Titel hinterlassen den Betrachter verstört, scheinen sie doch zur Handlung, die man zuvor knapp zwei Stunden lang verfolgte, schwerlich zu passen. Man hatte doch gemeint, mit einer Verfolgungsjagd um einen Koffer voll Geld, einem unbezwingbaren Killer und einem einfachen Mann, der in all dies ohne Absehbarkeit der Konsequenzen hineingerät, konfrontiert zu sein. Von einer solchen Irritation aus kann eine psychoanalytische Betrachtung des Films ihren Ausgang nehmen. No Country For Old Men (. Abb. 1) ist ein Film aus dem Jahr 2007, der mit vier Academy Awards (»Oscars«) ausgezeichnet wurde: Als bester Film, für die beste Regie und das beste adaptierte Drehbuch (beides für Joel und Ethan Coen) sowie für Javier Bardem als bester Nebendarsteller. Es handelt sich dabei um die Verfilmung eines Romans von Cormac McCarthy aus dem Jahr 2005, titelgebend für beides ist der Beginn eines Gedichts W.B. Yeats’ mit dem Titel Sailing to Byzantium, in dem sich eine Zeile wie »An aged man is but a paltry thing« (»Ein alter Mann ist ein erbärmlich Ding«)1 finden lässt (Wikipedia 2009). Um einen deutlichen Akzent bezüglich des Objekts der Interpretation als Film und damit nicht nur inhaltlich, sondern auch formal auf besondere Weise bestimmtes Kunstwerk zu setzen, möchte ich
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Übersetzungen erfolgten durch den Autor.
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Call it
mich in der Zusammenfassung an seiner Erzählstruktur orientieren, indem ich die Handlung jeweils aus Sicht der drei Hauptfiguren präsentiere. Damit folge ich der Auffälligkeit, dass erstens sich wiederholt Szenen finden lassen, in denen die Protagonisten einander verfehlen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten dieselben Orte aufsuchen, und dass zweitens selbst bei Begegnungen kaum Einstellungen gewählt werden, in denen die interagierenden Figuren gemeinsam zu sehen sind. Der Film spielt in Westtexas im Juni 1980, zu einer Zeit, in der dort Drogenhandel und Kriminalität zunehmen. Busche (2008) fasst unter der Überschrift Was Männern bleibt zusammen: »[E]in Neo NoirWestern: wertefrei, moralfrei und am Ende sind alle tot«
Erste Perspektive Llewelyn Moss (Josh Brolin), ein Vietnamveteran und ehemaliger Schweißer, stößt bei der Antilopenjagd in der texanischen Wüste auf die Überreste eines misslungenen Drogendeals: mehrere tote Mexikaner und nur einen Überlebenden, der ihn um Wasser anbettelt. Moss findet einen Koffer mit zwei Millionen Dollar, den er mit nach Hause in den Trailer nimmt, in dem er mit seiner Frau Carla Jean (Kelly Mcdonald) lebt. Nachts überfallen Moss Gewissensbisse und er fährt mit einem Kanister Wasser zurück zum Ort des Geschehens, um dort allerdings von weiteren Mexikanern überrascht und gejagt zu werden. Er kann ihnen entkommen und setzt seine Frau in einen Überlandbus, damit sie sich zu ihrer Mutter in Sicherheit bringen kann. Moss selbst steigt im Del Rio Motel ab, wo er Angriffen der Mexikaner und des Auftragskillers Anton Chigurh, der von diesen inzwischen angeheuert worden ist, knapp entkommt. Er fährt zu einem weiteren Hotel. Hier kommt es zu einer Schießerei mit Chigurh, in der beide verletzt werden, Moss jedoch über die Grenze nach Mexiko entkommen und den Koffer verstekken kann. Dort trifft er im Krankenhaus liegend auf Carson Wells (Woody Harrelson), der wiederum angeheuert worden ist, Chigurh zu töten und das Geld zurück zu den Auftraggebern zu bringen. Wells bietet Moss an, ihn vor Chigurh zu schützen, wenn dieser ihm dafür das Versteck des Geldes verrate. Moss geht darauf nicht ein. Etwas später macht auch Chigurh Moss ein Angebot: Er werde ihn in jedem Fall töten – sofern Moss ihm jedoch das Geld gebe, dann werde er zumindest dessen Frau verschonen. Erneut geht Moss nicht darauf ein. Er nimmt den Geldkoffer aus dem Versteck wieder an sich und vereinbart mit Carla Jean, sich in einem Motel in El Paso zu treffen, um ihr Geld für einen Flug aus den USA zu geben. Nachdem Carla Jeans Mutter den weiterhin verfolgenden Mexikanern unwissentlich den Ort des Treffens nennt, wird Moss dort erschossen, bevor Carla Jean eintrifft.
Zweite Perspektive Anton Chigurh (Javier Bardem) befreit sich zu Beginn äußerst gewaltvoll aus Polizeigewahrsam. Man sieht ihn in einigen Szenen beiläufig Menschen töten, einen Tankstellenbetreiber lässt er sein Leben auf den Ausgang eines Münzwurfs wetten und verschont ihn schließlich. Eine Gruppe der am geplatzten Drogendeal Beteiligten heuert ihn an, um das Geld wiederzubeschaffen. Chigurh kann einem Peilsender, der am Geldkoffer angebracht ist, folgen und findet so das Del Rio Motel, wo er eine Gruppe von Mexikanern, die in Llewelyn Moss’ Zimmer auf diesen warten, erschießt und dem flüchtenden Moss folgt. In einem Hotel nah der mexikanischen Grenze werden in einer Schießerei miteinander Chigurh und Moss verletzt. Chigurh versorgt seine Wunden selbst und erschießt den zu seiner Ermordung bestellten Carson Wells in seinem Hotelzimmer. Er stellt Moss am Telefon vor die Wahl, das Geld freiwillig abzugeben und zu sterben und dafür das Leben seiner Frau verschont zu sehen, oder aber sowohl Geld, sein Leben und das Leben seiner Frau zu verlieren. Wie auch Ed Tom Bell und Carla Jean Moss trifft Chigurh zu spät in El Paso ein, die Mexikaner haben Llewelyn Moss bereits erschossen. Fast kommt es zu einer Begegnung zwischen Chigurh und Bell im Zimmer des Erschossenen, Chigurh hält sich aber im Schatten und wird nicht entdeckt. Am Tag der Beerdigung von deren Mutter wartet Chigurh auf Carla Jean, um das »Versprechen« einzulösen, sie zu töten. Er räumt ein, einen Münzwurf über ihr Leben entscheiden zu lassen, wenngleich sie sich dem verweigert: Es sei Chigurhs Entscheidung, sie
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. Abb. 2 Das Land scheint »ebenso unberechenbar wie die Figuren selbst« (Zitat aus Busche 2008) – Szene mit Josh Brolin, Quelle: Universal Pic.Int.Ger./Cinetext
am Leben zu lassen. Was dann passiert, kann der Zuschauer nur erahnen: Er sieht Chigurh aus Carla Jeans Haus treten und die Unterseiten seiner Schuhe auf Verschmutzungen prüfen (eine ähnliche Achtsamkeit hatte Chigurh nach dem Mord an Wells gezeigt). Chigurh wird in einen schweren Autounfall verwickelt. Nachdem er sich ein Hemd hat geben lassen, um sich eine Schlinge für seinen offenbar gebrochenen Arm zu machen, verlässt Chigurh humpelnd den Unfallort, in der Ferne sind Polizeisirenen zu hören.
Dritte Perspektive Ed Tom Bell (Tommy Lee Jones), ein sich im Verlauf der Handlung zur Ruhe setzender Sheriff, eröffnet den Film mit einem Monolog darüber, wie er das Ausmaß und die Motive der gegenwärtigen Kriminalität nicht verstehe. Bell erreicht den in seinen Zuständigkeitsbereich fallenden Ort des misslungenen Drogendeals einen Tag, nachdem Moss dort von den Mexikanern entdeckt und Chigurh auf dessen Spur gesetzt worden ist, erkennt jedoch den dort stehen gelassenen Truck als den von Moss. Er kontaktiert deshalb Carla Jean, die ihn später bittet, Moss zu schützen und ihm dazu vom geplanten Treffen in El Paso berichtet. Dort trifft Bell zu spät ein und findet Moss tot am Boden liegend vor. Er überbringt der später eintreffenden Carla Jean die Nachricht vom Tod ihres Mannes und begegnet beinah in Moss’ Zimmer Chigurh. Bell führt etwas später eine Unterhaltung mit seinem Onkel Ellis (Barry Corbin), einem ehemaligen Deputy-Sheriff, der nun im Rollstuhl sitzt, seit er vor längerer Zeit angeschossen worden ist. Ellis hält dem desillusionierten und angesichts der gegenwärtigen Kriminalität verständnisund fassungslosen Bell vor, dass seine Gefühle nichts Neues seien: Verbrechen seien immer gewaltvoll gewesen und es sei eine Illusion zu denken, er könnte einen Unterschied machen. In der Schlussszene schließlich berichtet Bell seiner Frau von den eingangs erwähnten Träumen.
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No Country For Old Men erzählt diese Geschichte auf außerordentlich reduktionistische Weise: Es gibt im Film nahezu keine Musik, nur an einer Stelle erscheint es so, als würde der filmische »score« die Erzählung musikalisch kommentieren, jedoch löst sich dieser Eindruck auf, indem auf absurde Weise erkennbar wird, dass die Musik von einer mexikanischen Folkloreband gespielt wird, die sich dem verletzten Moss nähert. Auch ist die Reduziertheit der Dialoge zu bemerken, ebenso wie die »kargen Einstellungen« (Kniebe 2008), in denen die Protagonisten einander nie begegnen und Dialogpartner in voneinander getrennten Bildern, als einander gegenüberstehend, präsentiert werden. Die oft porträtierte Weite der texanischen Landschaft (. Abb. 2) ist von verschiedenen Rezensenten als Abbild der inneren Welt der Figuren interpretiert worden: So trage Chigurh das »Gefühl der Befremdung« mit sich in die Landschaft, das Land scheine »ebenso unberechenbar wie die Figuren selbst« (Busche 2008) und sei Ethan Coen zufolge »unforgiving« (Wikipedia 2009). Es ist angemerkt worden, dass angesichts der bereits »cineastoformen« Natur des Romans McCarthys – es gebe »wohl keinen anderen Schreiber … dessen Worte und Szenen das Kino schon so vollkommen in sich tragen« – der Film die Vorlage »durch Verdichtung noch verbessert« (Kniebe 2008). Die Coen-Brüder hätten damit ihren »formal schnörkellosesten Film gemacht« (Busche 2008). Die Regisseure finden mit der Figur Anton Chigurh – »dem philosophischen Killer« (Heine 2008), dem »schwarz gekleideten Todesengel mit Prinz-Eisenherz-Frisur« (Busche 2008), dem »Mann mit den absurden Haaren« (Kniebe 2008) – ihren eigenen Weg aus dem inszenatorischen Dilemma, das Fehlen von Moral, Prinzipien oder Auswegen in der bebilderten Gestalt eines »Mannes mit Prinzipien« (wie es Wells im Film formuliert) zur Anschauung zu bringen. Chigurh könnte man »das absolut Böse nennen …, was aber sinnlos ist«, weil er als Ausgestaltung des »mythischen Anderen« »jenseits moralischer Kategorien existiert« (Kniebe 2008). Chigurh tötet nicht aus Gier oder Lust und – darin schützt sich der Film davor, dass das vordergründige Thema der Jagd nach dem Geldkoffer ihn in die Banalität gleiten lässt – man nimmt es der Figur schlichtweg nicht ab, Auftragskiller im eigentlichen Sinn zu sein. Die Unfasslichkeit und Unausweichlichkeit Chigurhs liegt gerade darin, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob er sein Gegenüber leben oder sterben lässt. Beide Alternativen sind moralisch gleichgeordnet bzw. eben nicht unter moralischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Das Sterben ist sogar – und das dürfte das Unfassliche daran am besten charakterisieren – aus der Perspektive des Subjekts konsequenzlos. Dass man nach dem Sterben nicht mehr lebt, ist repräsentatorisch schlichtweg nicht einholbar und damit sinnlos wie bedeutungslos, nicht symbolisierbar. Chigurh ist amoralisch, ihm fehlt – wie Wells über ihn sagt – »jeglicher Sinn für Humor«. Man könne mit ihm »keinen Deal machen«. Dass verschiedene Figuren im Film sich mit dem Thema vom unausweichlich nahenden Ende des Lebens oder dem Fehlen von Sinngebung konfrontiert sehen, zeigt sich in deutlichster Weise in der Thematisierung von Ruheständen oder Veteranentum. Nicht nur setzt sich Sheriff Bell zur Ruhe, er trifft auch seinen im Ruhestand befindlichen Onkel. Moss spricht davon, er habe sich als Schweißer zur Ruhe gesetzt, später kommt es ihm zugute, dass er Vietnamveteran ist, da am mexikanischen Grenzübergang ein weiterer Veteran sitzt und ihn durchwinkt, und schließlich trifft er im Anschluss an diese Begegnung mit Wells jemanden, der sich ihm als Colonel im Ruhestand vorstellt. An die eingangs geschilderte Irritation könnte in diesem Sinn der Gedanke angeknüpft werden, Bells Traum vom ins Dunkel voranreitenden Vater stehe insofern mit dem zuvor filmisch Erzählten in Zusammenhang, als es um die Auseinandersetzung mit der Unausweichlichkeit des Sterbens gehe. Dies kann nun unter Einbezug der betrachterischen Beziehung zum Film weitergeführt werden: No Country For Old Men erzählt eine Geschichte von Gewalt, Töten und Jagd auf eine karge und nüchterne, fast beiläufige Weise. Die Indifferenz, ob jemand von Chigurh am Leben gelassen wird oder nicht, erweckt den Eindruck einer Affektlosigkeit des Films und seiner Figuren. Einer solchen nüchternen Inszenierung des Ängstigenden steht die intensive gefühlshafte betrachterische Reaktion gegenüber: Angesichts der gewaltvollen Bilder stellt sich beim Zuschauer nämlich gerade keine nüchterne Haltung ein. Zwischen vegetativer Erregtheit, Angstlust und Langeweile (psychoanalytisch betrachtet ja alles andere als eine
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indifferente Reaktion) realisiert sich im Rezipienten die Kehrseite der Kargheit des Films, der schwer ertragbar scheint und eine ganze Reihe ambivalenter Reaktionen darauf nach sich zieht, was er einem an Gewaltvollem zumutet. Ein Nachdenken über die Irritation angesichts der Schlussszene und die eigene emotionale Reaktion, die mit der Kargheit und Beiläufigkeit der filmischen Erzählung auf widerständige Weise korrespondiert und in Konflikt tritt, bietet nun die Anschlussmöglichkeit für einen genuin psychoanalytischen Kommentar. In der Explizierung sowohl der methodologischen Voraussetzungen der Reflexion über ein solches Beziehungserleben als auch in der Spezifizierung einer solchen Reaktion auf bestimmte, womöglich pathologische Beziehungsgestaltungen sehe ich eine Möglichkeit didaktischen Anschlusses hinsichtlich Krankheitsverständnis, Erkenntnismöglichkeiten und Behandlungstechnik von Psychotherapie und Psychoanalyse, die dem Anliegen des vorliegenden Bandes folgt.
Methodologische Überlegungen zur psychoanalytischen Filminterpretation Ein Transfer der Psychoanalyse auf das Feld des Kinos kann keiner der Theorie, sondern muss einer der Methode sein, welche dem außerklinischen Praxisfeld anzuvermitteln ist (Lorenzer 1986). Einige Konsequenzen ergeben sich daraus: Es muss deutlich werden, dass es sich nicht um die Thematisierung eines Zuerzählenden mittels Roman, Gedicht, Skulptur oder Musikstück handelt, sondern um eine cineastische Bebilderung: Gegenstand der Filmanalyse ist … der Film. (Zwiebel u. Mahler-Bungers 2007, S. 20)
Damit sind neben einer Erörterung der Bedeutung einzelner Figuren auch Aspekte von Ton, Schnitt, Einstellung, Farbe etc. zu thematisieren. Mit Schneider (2009, S. 110f.) und Chasseguet-Smirgel (1969) muss darauf hingewiesen werden, dass das »Spezifische eines Werks«, das in seiner Form und seinem Stil liegt, nicht erfasst wird, insofern sich die Methode, allein auf den Werkinhalt und seinen unbewussten Ursprung konzentriert«. Schneider (2009, S. 110 f.) E Soldt (2007, S. 62) hat darauf hingewiesen, dass das über einen Film Gesagte nicht ebenso auch in einer Reihe »Psychoanalytiker kommentieren Bücher« gesagt werden können sollte.
Die vielfach hervorgehobene und kritisch diskutierte Verwendung eigener Gegenübertragungsgefühle und -fantasien (Lorenzer 1986; Reiche 2001; Zeul 2007) ist zwar zu berücksichtigen, jedoch nicht bezüglich des vermeintlich personalen Gegenübers einer filmischen Figur, sondern vielmehr als eine solche, die den jeweiligen Film als quasi-personal auffasst (Schneider 2009, S. 113), womit einer Sicht auf das Kunstwerk als Quasi-Subjekt (Bergande 2007; Soldt u. Storck 2008; Storck 2010) gefolgt ist. Das zur Anwendung gelangende psychoanalytische szenische Verstehen ist dann nicht einfach eines, in dem auf (Film-)Szenen geblickt wird, sondern das selbst in Szenen stattfindet, nämlich in denjenigen Seh-Szenen (Soldt 2007), in die der Betrachter in rezeptorischer Interaktion mit dem Film verwickelt wird: Zur Interpretation steht … nicht allein der Film an, sondern die Beziehungsdimension, die sich zwischen ihm und seinen Zuschauern etabliert. (Zeul 2001, S. 138)
Gleichwohl ist zu betonen, dass in der psychoanalytischen Kulturinterpretation Subjektivität das Mittel und nicht das Ergebnis des forscherischen Prozesses ist. Sie hat – so Schneider (2009, S. 115) –
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»auxiliären Charakter« und das Vorgehen ist durch die »Rückbindung an die objektive Form des Films« methodisch zu kontrollieren (Schneider 2009, S. 114). Filme sind Kulturobjekte und in ihrer psychoanalytischen Betrachtung als immerhin ja interdisziplinäres Vorhaben ist »ein Stück Kultur-Psychoanalyse zu leisten« (Schneider u. Laszig 2008, S. 13). Filme umstandslos wie Subjekte zu behandeln, ist daher problematisch: Unausgesprochen gehen Filminterpreten, die ausschließlich vom Inhalt des Films in ihren Analysen ausgehen, von der Annahme aus, den Film wie einen Patienten analysieren zu können. (Zeul 2001, S. 141)
»Der Film« oder eine seiner Figuren hat psychologisch betrachtet kein Unbewusstes, wie er bzw. sie auch nicht erleben, verdrängen oder ein schlechtes Gewissen haben kann. Betrachtet man ihn zum einen als kulturelles Produkt und zum anderen als Quasi-Subjekt, d.h. als etwas, dem gegenüber der Betrachter emotionale Beziehungserfahrungen macht, die wie die mit einem personalen Gegenüber sind, dann kann eine Position eingenommen werden, in der durch den Film etwas ansonsten kulturellgesellschaftlich Unsagbares zur Anschauung gelangt. Damit ist etwas darüber gesagt, was auf kultureller Ebene verkleidet und zugleich enthüllt wird. Dynamisch unbewusst am Film ist in dieser Sicht Kollektives, was nur heißen kann: Kollektives, das sich in den Beziehungsdynamiken des Filmes veranschaulicht findet. Der Film thematisiert dynamisch Unbewusstes nicht auf der Ebene seiner für sich stehenden Figuren, sondern als ganzer, in den von ihm durch die Beziehungen seiner Figuren ebenso wie in der Beziehung formaler und inhaltlicher Elemente zueinander zur Anschauung gebrachter Praxisfiguren, was sich einzig in Beziehung zum Zuschauer vermitteln kann. (Damit ist zugleich darauf verwiesen, dass im Rahmen eines solchen Ansatzes und in Auseinandersetzung mit dem Film als kulturellem Produkt und als Gegenüber eines psychoanalytischen In-Beziehung-Tretens keinerlei methodisch getragene Schlüsse über unbewusste Dynamiken McCarthys oder der Coen-Brüder möglich sind, wenngleich sich Fantasien dazu einstellen mögen.)
Zur Altersdepression Die symptomatischen Kriterien, die gemäß ICD-10 erfüllt sein müssen, damit von einer »depressiven Episode« gesprochen werden kann, lauten (Niklewski 2006, S. 48; Heuft et al. 2005, S. 121): eine Dauer von mindestens zwei Wochen, Ausschluss zurückliegender (hypo)manischer Episoden sowie Ausschluss eines Einflusses psychotroper Substanzen oder einer hirnorganischen Störung.
Es müssen sich darüber hinaus für die Diagnose einer schweren depressiven Episode die folgenden Symptome finden lassen: gedrückte Stimmung in hohem Ausmaß, über die meiste Zeit des Tages, an fast jedem Tag und weitestgehend unbeeinflusst von den äußeren Umständen; Anhedonie; verminderter Antrieb oder gesteigerte Müdigkeit.
Zudem müssen für eine schwere Episode mindestens vier der folgenden Kriterien erfüllt sein: Verlust von Selbstvertrauen oder Selbstwertgefühl; unbegründete Selbstvorwürfe oder unangemessene Schuldgefühle; negative und pessimistische Zukunftsperspektiven; suizidale Gedanken oder Handlungen; vermindertes Denk- oder Konzentrationsvermögen, Unentschlossenheit; Schlafstörungen; verminderter Appetit.
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Bei schweren depressiven Episoden tritt in der Regel ein somatisches Syndrom (Schlafstörungen, Appetits-, Gewichts-, oder Libidoverlust, »Morgentief« u.a.) hinzu. Gegenüber denjenigen syndromalen Formen der Depression, die als »Dysthymie« oder »Anpassungsstörung« zu klassifizieren wären, geht es bei der depressiven Episode um eine umgrenzte Phase depressiver Symptome. Dabei sind Abgrenzungen vorzunehmen zu der »angemessen-gesunden« Trauerreaktion und der depressiven Reaktion auf belastende Lebensereignisse. Depression kann jenseits dieser deskriptiven Kriterien charakterisiert werden als pathologische Trauerreaktion (Freud 1917e; Fenichel 1945) bzw. als chronifizierte Kränkungsreaktion (Kipp u. Jüngling 2000, S. 96). Erlebnisse, die Depressionen auslösen, stellen entweder einen Verlust des Selbstgefühls oder einen Verlust der Zufuhr dar, von der der Patient gehofft hatte, dass sie sein Selbstgefühl garantieren oder gar vergrößern würde. Es sind entweder Erlebnisse, die auch für Normale einen Verlust von Selbstgefühl zur Folge haben würden, wie Fehlschläge, Prestige- oder Geldverlust sowie Trauerzustände, oder sie bedeuten den Verlust äußerer Zufuhr, wie es etwa nach einer Liebesenttäuschung bzw. dem Tod des Geliebten der Fall ist, oder aber es handelt sich um Aufgaben, die dem Patienten gestellt sind und ihn objektiv oder subjektiv seine »Minderwertigkeit« spüren lassen (Fenichel 1945, S. 277)
Hinsichtlich der Psychodynamik depressiver Erkrankungen ist das Verhältnis von Objektverlust und Schulderleben zu thematisieren (Hartmann 1999). Im Verständnis Freuds wird nach einem Verlust des Objekts dieses introjektiv im Ich aufgerichtet, die libidinöse (und affektive) Besetzung wird vom Objekt abgezogen und richtet sich auf das Selbst. Fenichel (1945, S. 285) spricht von einer »pathognomische[n] Introjektion des ambivalent geliebten Objekts«. Die Enttäuschungswut und Anklage gegen das geliebte und schmerzhaft vermisste Objekt, vom dem sich der depressiv Erkrankte verlassen fühlt, kann sich im Zuge dieser Dynamik nun allein auf das Objekt als Teil des Selbst richten und äußert sich in Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, die konzeptuell als Anklage des Über-Ichs verstanden werden. Unbewusst erlebt wird statt »Es ist schlecht, dass das Objekt verloren ist« vielmehr »Das Objekt ist verloren, weil ich schlecht bin«. Depressive Dynamiken betreffen immer den Selbstwert und sind von Gefühlsambivalenz gegenüber dem verlorenen Objekt gekennzeichnet. Einbettet in eine ambivalente Übertragungs-/ Gegenübertragungsdynamik ist ein charakteristischer Gegenübertragungsaffekt in der Behandlung depressiver Patienten Wut bzw. »subtile Aversion« (Deserno 2005, S. 86f.), was verstehbar wird als abgewehrter Teil der Konfliktdynamik des Patienten, wobei von einer ambivalenten Gegenübertragungsreaktion auf die ambivalenten Übertragungsangebote des Patienten ausgegangen werden kann (Fenichel 1945). Die Altersdepression – eine Bezeichnung für erstmalig manifest werdende depressive Erkrankungen jenseits des 60. Lebensjahres (Heuft et al. 2005, S. 118) – ist nicht als gesondertes Krankheitsbild in der ICD-10 aufgeführt, jedoch ergeben sich spezifische Bedeutungen von Symptomatik und Psychodynamik der Depression bei alternden Menschen. Folgt man der Annahme einer pathologischnarzisstischen Trauer- bzw. Kränkungsreaktionen, so muss für die Altersdepression der Blick auf die
2 Es ist nötig, den hier verwendeten Begriff von »narzisstisch« als im Rahmen der Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie der Psychoanalyse zu verstehenden auszuweisen. Damit ist nicht per se eine pathologische Dynamik angesprochen, sondern eine Entwicklungslinie des gelingenden oder misslingenden Umgangs mit unlustvollen Gefühlen (Zepf 2006). Gemäß des Verständnisses nach Freud bezieht sich »narzisstisch« auf die libidinös-affektive Besetzung des Selbst – deutlich wird, dass dieses Konzeptverständnis nicht deckungsgleich ist mit demjenigen, das in dem Gedanken einer »narzisstischen Persönlichkeitsstörung« angesprochen ist.
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besondere Bedeutung von Verlusterlebnissen gerichtet werden. Dabei geht es um die Erfahrung des Todes nahestehender Menschen, des Verlusts der eigenen körperlichen Leistungsfähigkeit und Unversehrtheit sowie die Erkenntnis, im Berufs- und gesellschaftlichen Leben von den nachfolgenden Generationen abgelöst zu werden und in vorher nicht gekannte körperliche Abhängigkeiten zu geraten (Teising 2007). Im Alter finden sich zwar niedrigere Prävalenzraten für die schwere Depression, jedoch liegen in höherem Maße einzelne depressive Symptome vor, nämlich bei 11 bis über 30% der Altenbevölkerung. Dabei korreliert die Häufigkeit subsyndromaler Formen der Depression u.a. mit dem Faktor Hilfsbedürftigkeit (Niklewski 2006, S. 49). Zugleich lässt sich feststellen, dass vermutlich bis zu 40% der altersdepressiven Patienten nicht korrekt diagnostiziert werden (Heuft et al. 2005, S. 116f.). Als Auslösefaktor altersdepressiver Episoden können Verwitwung, Einsamkeit oder schwere körperliche Erkrankungen angesehen werden: [D]er somatische Alterungsprozeß [beeinflusst] die psychische Entwicklung im Alter stark (Kipp et al. 2005, S. 945f.)
Die zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben im Alter können als narzisstische angesehen werden: Es geht um das Betrauern von Verlusten und die gelingende affektive Besetzung des Selbst sowie um den der eingeschränkten Mobilität geschuldeten sozialen Rückzug und einen Umgang mit Veränderungen der Triebentwicklung. Kipp (1992) spricht daher von einem »tertiären Narzissmus im Alter« und auch Teising (2007) sieht in der Aufgabe, sich im Alter mit dem Verlust der Illusion der Unbegrenztheit des Lebens auseinanderzusetzen, ein narzisstisches Motiv – »Die männliche Geschlechtsidentität ist in besonderer Weise mit narzisstischen Konflikten verknüpft, die sich im Alter zuspitzen« (Teising 2007; zit. n. Manuskript in deutscher Sprache). – Im Zuge dieser Entwicklungsaufgaben drohen narzisstische Kränkungen bzw. deren Chronifizierung in einer depressiven Dynamik, die Kipp et al. (2005, S. 955f.) gegenüber der Depression in früheren Lebensphasen als durch den Abwehrmechanismus der Inkorporation statt der Introjektion (Freud 1917e) gekennzeichnet sehen: Dabei wird die Repräsentanz des eigenen veränderten, schmerzenden oder dysfunktionalen Körper erlebt als das ins Selbst hinein genommene schlechte Objekt: Das verlorene Objekt besteht gleichsam im Körperinneren weiter. Beschwerden und Klagen richten sich folglich auf den eigenen Körper (Kipp u. Jüngling 2000, S. 96)
Auch dürfte sich für die spezifisch depressive Schuld- und Über-Ich-Pathologie, in deren Dynamik das Selbst als schlecht verurteilt wird, im Alter eine besondere Stellung ergeben. So wird erfahrbar, dass sich gesellschaftlich-kulturelle und moralische Veränderungen ergeben, die im Gefühl gipfeln mögen, nicht mehr »dazu zu gehören« und die Vorstellungen der jüngeren Generationen nicht verstehen oder teilen zu können. Die womöglich über längere Zeit Sicherheit gebende Vorstellung eines Ich-syntonen gesellschaftlich-moralischen Gefüges wird in dieser Dynamik erschüttert. Als weitere spezifische Psychodynamik gegenüber der Depression in früheren Lebensphasen tritt die realitätsgerechte Beschäftigung mit der Endlichkeit des Lebens hinzu, was im Rahmen unbewusster, triebhafter Zusammenhänge auf ein besonderes Verhältnis von Eros und Todestrieb verweist. Durch den Verlust des Partners oder der Partnerin oder körperliche Veränderungen mag es zu einer veränderten oder gar zu verabschiedenden Sexualität im Alter kommen. Zugleich tritt verstärkt die psychische Wirkung eines negativen Narzissmus (Green 2004, S. 290) ein. Im Sinn der späten Triebtheorie nach Freud wäre von einer biologischen Veränderungen geschuldeten zumindest partiellen Triebentmischung libidinöser und thanataler Strebungen zu sprechen bzw. von einer stärker Unlust vermeidenden statt Lust aufsuchenden psychischen Erlebnismaßgabe. Unlustvermeidung ist immer die Auseinandersetzung mit Ängstigendem – im Alter konkretisiert im Sterben-Müssen – und kann im Sinne
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Zepfs (2006) als narzisstisch betrachtet werden. Es kann mit Quinodoz (2009, S. 774) hervorgehoben werden, dass »[e]lderly people may … unconsciously protect themselves from experiencing anxiety about death by immobilizing time and making everything monotonuous« (»alte Menschen schützen sich möglicherweise unbewusst davor, Todesangst zu erleben, indem sie die Zeit immobilisieren und alles monoton werden lassen«), oder mit Warsitz (1992, S. 86f.) von einer »umfassende[n] Störung der erlebten Zeit« gesprochen werden. In diesem Sinn kann ein Klagen darüber, »die Zeiten« hätten sich geändert, oder der Wunsch danach, es wäre »noch so wie früher«, verstanden werden als Abwehr von Todesängsten. Die Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung in der Behandlung von Patienten mit altersdepressiven Erkrankungen gestaltet sich auf spezifische Weise. Angesichts des Umstands, dass Patienten mit Altersdepression sich oft mit jüngeren Therapeuten konfrontiert sehen, stellt sich die therapeutische »Eigenübertragung« in einem anderen als dem gewöhnlichen Maß als Herausforderung: Therapeuten [sollten] sich insbesondere mit einer »Effizienz-Neurose« auseinandersetzen, um sich nicht unbewusst durch überhöhte Therapieziele an dem Älteren, dessen aus der Kränkung erwachsenen Forderungen oder den der Eigenübertragung entstammenden Eltern-Imagines zu rächen (Heuft et al. 2005, S. 131)
Auch realisieren sich von Neid auf die Jugendlichkeit und Leistungsfähigkeit des Therapeuten geprägte Übertragungen und Widerstände – »für die gutgemeinte therapeutische Tröstung rächt sich der Alternde unter Umständen damit, dass er sich untröstlich gibt und dem Therapeuten seine Jugend vorwirft, die ihn hindere, ihn wirklich zu verstehen« (Heuft et al. 2005, S. 131) – sowie als solche schwer erkennbare erotische Übertragungen (Kipp u. Jüngling 2000). In der ambivalenten Gegenübertragung zeigt sich die »subtile Aversion«, von der Deserno im Rahmen der Behandlung depressiver Patienten spricht, ebenfalls in besonderer Weise: Das »Haften« des altersdepressiven Patienten an körperlichen Beschwerden oder mit dem aktuellen Erleben unverbundenen und repetierten Erinnerungsfragmenten (Quinodoz 2009, S. 776), über die es schwer fällt ins Gespräch zu kommen (»Jammerdepression«), hinterlässt den Therapeuten immer wieder auch in einem nicht mehr ganz so subtilen Gegenübertragungsgefühl der »hilflose[n] Wut« (Kipp u. Jüngling 2000, S. 98) oder des »Gegenübertragungs-Hass[es]« (Heuft et al. 2005, S. 131).
Call it Zur Begründung meiner Annahme, in der vorbewusst-unbewussten filmisch-szenischen Struktur von No Country for Old Men fände sich auf kulturell-kollektiver Ebene die beziehungshafte Pathodynamik einer schweren altersdepressiven Episode verhandelt, ist von der betrachterischen Beziehung zum Film auszugehen, bevor der Bogen zur Psychodynamik und Symptomatik gemäß ICD geschlagen werden kann. An dieser Stelle sind nochmals einige knappe Bemerkungen zur Natur des »diagnostischen Blicks«, den ich auf den Film anlege, zu machen. Ich habe im methodologischen Abschnitt deutlich zu machen versucht, dass eine psychoanalytisch-methodische Interpretation des Films und seiner latenten Konflikt- bzw. Beziehungsstrukturen insofern erkenntnistheoretisch überzeugend ist, als sie den Film als objektales Gegenüber auffasst. Eine explikative psychodynamische Analyse des Films, die anerkennt, dass es sich bei diesem auch um ein in besonderer Weise formal bestimmtes Kunstwerk handelt (nämlich im künstlerischen Medium Film), muss daher in dieser Sicht berücksichtigen, wie dem Betrachter oder der Betrachterin was gezeigt wird. Zugleich kann – der deskriptiven Symptomlogik der ICD10 folgend – aus ebenso deskriptiver Perspektive, die den Film auf einer symptomatologischen Handlungsebene in den Blick nimmt, davon gesprochen werden, dass jemand, der in solche Beziehungskonstella-
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tionen und Gefühlslagen verstrickt ist, wie es an der filmischen Figur Ed Tom Bell veranschaulicht wird, womöglich an einer schweren altersdepressiven Episode erkrankt ist. In der Kargheit der filmischen Inszenierung vermittelt sich eine Sprach- und Gefühlslosigkeit, die auf die gleichzeitig vorhandene filmische Bebilderung detaillierter Gewalttaten trifft. Eine zweite Beobachtung betrifft die vorherrschende Wahl der filmischen Einstellung: Auch wenn die einander oft genug verfehlenden Protagonisten oder andere Figuren sich einander zuwenden, so sind dabei nicht gemeinsam »im Bilde«. Vielmehr sieht man etwa den vor Chigurh flüchtenden Moss vor der Kamera fliehen und damit vom Betrachterstandpunkt. In wechselnden Identifizierungen wird der Betrachter zum Gegenüber Chigurhs oder Moss’. Liest man beide Aspekte zusammen, ergibt sich eine Erhellung der intensiven Gefühlslagen, in denen man sich als Betrachter des Films wiederfindet. No Country for Old Men schockiert (z. B. zu Beginn, als Chigurh einen Polizisten erwürgt), ängstigt (durch die Unausweichlichkeit Chigurhs), enttäuscht (ob des Showdowns, den man als Betrachter erwartet, jedoch nicht bekommt) und löst, wie in einigen Diskussionsforen im Internet deutlich wird, gar Langeweile aus. In der nüchternen filmischen Erzählweise, die gepaart wird mit identifikatorisch-konfrontativen Blickwinkeln auf das Geschehen, »landet« der Affekt des Films beim Betrachter. Was in den Beziehungen zwischen den handelnden Figuren des Films nicht in Sprache oder Gefühl symbolisiert werden kann, wird dem Betrachter als Aufgabe gegeben: Angst und Aggression müssen von ihm »contained« werden. Die »Übertragungs«-Angebote, die No Country for Old Men dabei macht, sind ambivalente: Will man Moss, der lange Zeit als der »Held« erscheint, lieben und um ihn zittern? Oder ist nicht Chigurh faszinierender? Hat man Mitleid mit Bell und seiner Überforderung und Hilflosigkeit oder ist man enttäuscht davon, dass er nicht stärker sein kann? Nicht nur realisiert sich damit eine ambivalente emotionale Reaktion des Zuschauers auf die Figuren, auch zeigt sich in der betrachterischen Haltung eine vegetative Erregtheit oder Anspannung, die als affektive Ergänzung zum nüchtern präsentierten, jedoch gleichwohl gewalttätigen Geschehen zu sehen ist. »Selbst« kann der Film die intensiven Gefühle offenbar – ähnlich wie der somatisierend die Altersdepression Abwehrende – nicht »aushalten«, d.h. manifest thematisieren. Nun ist die Rede von Übertragungsszenen vielschichtiger. Der Film macht nicht allein ein identifikatorisches Beziehungsangebot an den Zuschauer, sondern führt auch immanent Beziehungskonstellationen vor. In diesem Sinn muss auch z. B. das Verhältnis zwischen Bell und Chigurh unter dem Aspekt einer vielfach und auch latent determinierten Beziehungsszene betrachtet werden. Chigurh, über den man als Figur nichts erfährt, bietet in seiner charakterlichen Unbestimmtheit dabei auch ein Projektionsangebot für die unaushaltbare (Enttäuschungs-) Wut Sheriff Bells, der sich gegenüber der sich verschärfenden Kriminalität machtlos (und von seinen Vorbildern verlassen) fühlt – Hier konvergieren also z. B. der psychodynamisch-methodische Befund einer altersdepressiven Struktur des Films (in seinen filmischen und interpersonalen Konstellationen und Wirkungen) und der deskriptiv-symptomatologische Befund einer Veranschaulichung altersdepressiver Erkrankung in der Figur Bells.– Er schildert zu Beginn des Films, unterlegt mit weiten Landschaftsbildern und mit langsamer Stimme:
R »Ich war schon mit 25 Sheriff in diesem Landkreis. Kaum zu glauben. Mein Großvater war Gesetzeshüter, mein Vater auch. Mein Vater und ich waren sogar gleichzeitig Sheriff. Er oben in Plano und ich hier draußen. Ich glaub, darauf war er stolz. Ich war’s jedenfalls. Manche von den alten Sheriffs haben früher nicht mal ’ne Waffe getragen. … Ich hab immer gern von den alten Hasen gehört, hab nie ’ne Gelegenheit ausgelassen. Manchmal vergleicht man sich ja auch mit den alten Hasen. Man fragt sich, wie sie heute wohl vorgehen würden. Vor ’ner ganzen Weile hab ich diesen Jungen … auf den elektrischen Stuhl gebracht. … Er hatte ein 14-jähriges Mädchen
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umgebracht. In der Zeitung stand, es war ein Verbrechen aus Leidenschaft, aber mir hat er gesagt, mit Leidenschaft hatte das nichts zu tun. Er sagte, er hatte schon vor, jemanden zu umzubringen, solange er denken konnte. Und wenn er freikommt, würde er es wieder tun. … Keine Ahnung, was ich davon halten soll. Ganz ehrlich nicht. Die Verbrechen heute kann man nur schwer fassen. Nicht dass ich Angst davor hätte. Ich wusste immer, man muss bereit sein zu sterben, wenn man diesen Job machen will. Aber ich will mein Glück nicht auf die Probe stellen und da draußen auf etwas treffen, das ich nicht verstehe.« Mit dem Ende dieses Monologs sieht der Zuschauer den verhafteten Chigurh, der kurz darauf den ersten im Film mitzuerlebenden Mord begehen wird. Er erscheint dabei bereits zu Beginn als Verkörperung des Todes. Im Verlauf des Films muss Sheriff Bell erkennen, was seine eigenen Worte der Handlung programmatisch vorangeschickt hatten: Er trifft auf etwas, das er nicht verstehen oder aufhalten kann. Bell kann das Töten und den Tötenden nicht stoppen und das heißt: Er muss erkennen, dass er seinem eigenen Tod nicht entkommen wird. Kurz vor Ende besucht er seinen Onkel Ellis, der anmerkt, Bell sehe älter aus, worauf dieser antwortet: »Ich bin älter«. Ellis kommt darauf zu sprechen, wie er damit umgehe, seit einer Schießerei vor langer Zeit im Rollstuhl zu sitzen:
R »Je verbissener du versuchst, etwas zurück zu holen, das dir genommen wurde, desto weiter entfernt es sich von dir. Irgendwann sollte man es abbinden wie eine Wunde.« Damit ist die Aufgabe des schmerzhaften Abschiednehmens von eigener Unversehrtheit und Leistungsfähigkeit angesprochen. Ellis fragt Bell, warum er aufhöre, als Sheriff zu arbeiten, woraufhin dieser antwortet:
R »Ich weiß es nicht. Ich fühl mich überfordert. Ich dachte immer, dass – wenn ich älter werde – Gott eines Tages auf irgendeine Weise in mein Leben tritt. Ist er nur nicht. Kann’s ihm nicht verübeln. An seiner Stelle würde ich über mich dasselbe denken wie er.« Hier findet sich eine Anklage gegenüber einem (allmächtigen) Objekt, wobei sich auch deren Wendung gegen das Selbst im Resultat eines Schuldvorwurfs zeigt. Ellis erwidert, indem er die narzisstische Wendung Bells aufgreift:
R »Was du fühlst, ist nichts Neues. Dieses Land ist hart zu den Menschen. Du kannst den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Es kann nicht alles auf dich warten. Das wär egoistisch.« Konsequenterweise können eine psychodynamische Argumentation und eine methodisch geleitete Einschätzung der Beziehungsdynamiken (auf filmisch-medialer Ebene) nun schwerlich im Resultat einer klassifikatorischen Zuordnung (auf charakterologischer Ebene, nämlich Ed Tom Bell betreffend) enden, da beide Ebenen nicht logisch gleichgeordnet sind. Trotzdem möchte ich versuchen, die deskriptiven und psychodynamischen Spezifika der Altersdepression anhand der Beziehungskonstellationen des Films zu veranschaulichen. Deutlich tritt die gedrückte Stimmung des Films angesichts der gesellschaftlich-moralischen Veränderungen und der zunehmenden Gewalttaten zutage. In der Kargheit seiner Bilder sowie der Musik und Dialoge kann der Vergleich zur Anhedonie bzw. Freudlosigkeit gezogen werden: Nicht einmal die Aussicht auf zwei Millionen Dollar oder der Rausch der Gewalttaten
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scheinen für die Figuren mit Lust, Gier oder Befriedigung verbunden zu sein. Vor allem in der Figur Bells zeigen sich der Verlust des Selbstwertgefühls und Selbstvorwürfe, er zeigt sich negativ bezüglich seiner Erwartungen an die Zukunft: Die Zeiten haben sich geändert und man kann nichts tun außer »die Wunde abzubinden«. In der vom Film dem Zuschauer angebotenen und aufgenötigten intensiven gefühlshaften Reaktion kann eine hinsichtlich einer abwehrbedingten Somatisierung spezifische gesehen werden: No Country for Old Men demonstriert »operationales Denken« (Marty u. de M’Uzan 1963) und nötigt das Erleben der emotionalen Bedeutung dem Zuschauer auf. Suizidalität zeigt sich besonders im interpersonalen Zusammenspiel: Moss’ Entschluss, den Geldkoffer zu nehmen, von dem augenscheinlich ist, dass er gerade eine Schießerei provoziert hat und einige das Leben gekostet hat, sowie die fortgesetzte Auseinandersetzung mit Chigurh kann als zumindest parasuizidal angesehen werden. Sich mit Chigurh als Verkörperung des Todes zu konfrontieren, hieße dann, sein Leben zu riskieren. Auch in Bells abschließendem Traum, dem Vater in die Dunkelheit hinterher zu reiten, ist eine suizidale Fantasie zu sehen. Der Objektverlust wird deutlich, wenn es um Bells Rückblick auf seine beruflichen Vorbilder geht. Möglicherweise trägt er das durch seinen Vater beförderte Introjekt des »alten Hasen« in sich, dessen Rat er sich heute wünscht, der aber – ebenso wenig wie Gott, der nicht in sein Leben tritt – nicht erfolgt. Das Objekt wird so zum ambivalenten und zugleich geliebten und angeklagten: Es könnte Bell den Weg weisen, hätte es ihn nicht im Stich gelassen. In der Unterhaltung zwischen Ellis und Bell kann eine pathologisch-narzisstische Dynamik gesehen werden, wenn jener diesem entgegenhält, es sei egoistisch zu glauben, er könne den Lauf der Dinge aufhalten. Als spezifisch altersdepressiv kann die Beziehungsdynamik aus einer Reihe von Gründen aufgefasst werden. Verschiedene Figuren (Bell, Moss, Wells) sind damit konfrontiert, in Ruhestand gegangen zu sein oder zu gehen und damit mit dem Erkennen, den eigenen Platz in der Gemeinschaft vermeintlich zu verlieren. Bell hadert mit den veränderten Zeiten und dem Verlust oder – in Gestalt Ellis’ – der Gebrochenheit seiner Vorbilder. Elterliche Figuren sind dabei ausnahmslos schwach (wie Carla Jeans Mutter, die den Mexikanern indirekt das Reiseziel verrät, wie Ellis, der sein verwahrlostes Haus nicht mehr verlässt) oder tot (wie Bells Vater, Moss’ Mutter oder auch die später tote Mutter Carla Jeans). Auch scheint keine der handelnden Figuren Kinder zu haben, sodass die zentrale Figur der Generationenfolge diejenige ist, dass »die Jungen« (wie der hingerichtete Straftäter, von dem Bell zu Beginn berichtet) diejenigen sind, die eine neue Dimension von Verbrechen in die Gegend bringen. Was Quinodoz (2009) als »immobilizing time« beschreibt, zeigt sich im wiederholten Unverständnis Bells über die »neuen« Verbrechen und die veränderte gesellschaftliche Lage: Früher hätten Sheriffs noch ohne Waffe herumlaufen und für Ordnung sorgen können. Insbesondere mit der (männlichen; Teising 2007) narzisstischen Kränkung, nicht unsterblich oder unbesiegbar zu sein, ist Bell konfrontiert, aber auch Moss, über den seine Frau in einem Gespräch sagt, er habe es bis jetzt noch mit jedem aufnehmen können. Chigurh als Verkörperung der Unaufhaltbarkeit des Todes ist damit die narzisstische Kränkung in Person. Nun dürfte es für einen Film als Kunstwerk schwerlich ausreichen, eine Pathologie zu veranschaulichen, sondern es wäre der Anspruch zu erheben, er solle auch die Kritik einer auf kollektiv-kultureller Ebene konstatierten Beziehungsdynamik vorstellen. Damit wäre die Forderung verbunden, No Country for Old Men solle nicht nur zeigen, welches eine altersdepressive Beziehungslage ist, sondern auch, wie sich dazu in Beziehung zu setzen ist. Hierzu möchte ich abschließend auf die in der englischen Originalfassung den verschiedenen Münzwürfen Chigurhs vorgestellte Formulierung »call it« (äquivalent zu »Kopf oder Zahl«) zu sprechen kommen. Ich habe bereits die filmische Herausforderung erwähnt, die Amoralität, Unfasslichkeit und Unausweichlichkeit in der Figur Chigurh bildnerisch zu konkretisieren – Chigurh ist »sowas wie ein Geist«, bemerkt Bell. Nicht zufällig antwortet jener auf die Frage eines ihm gegenüber stehenden Mannes, ob er nun erschossen werde, mit: »Kommt darauf an. Sehen Sie mich?«. In No Country for Old Men erhält der Schrecken als Negativität eine bildliche Gestalt: Auf personaler Ebene durch Chigurh und auf makrosozialer Ebene durch die zuvor ungekannte Kriminalität. Soweit
97 No Country for Old Men – Ed Tom Bell (Tommy Lee Jones)
werden Veränderung und Bedrohung als von außen kommend erlebt. Hinzu tritt jedoch die Aufgabe einer Benennung oder Symbolisierung des Schreckens auf rezeptorischer Ebene durch den Betrachter. Diesem obliegt ein Containment der im Film thematisierten, aber nicht erlebten Affekte. Der Betrachter ist genötigt, auf die Botschaft des Films (»call it!«) mit der Benennung des Schreckens als Angst oder Wut zu antworten, ohne sich dabei für dessen Gewalttätigkeit zu »rächen«. Erst im Zusammenspiel der filmimmanenten Beziehungsszenen und des gefühlshaften In-Beziehung-Tretens des Zuschauers kann ein Ausweg aus der Unaushaltbarkeit gefunden werden. Wie in der therapeutischen Arbeit ist der Angst vor dem Sterben intersubjektiv ein Raum und eine Benennbarkeit zu ermöglichen. Dass die Benennung des Münzwurfausganges als Kopf oder Zahl austauschbar und trotzdem unausweichlich ist, verweist darauf, dass der Tod (wie das Unbewusste) zwar nicht repräsentierbar ist und in Versuchen der Benennung notwendigerweise verfehlt werden muss, es jedoch für jeglichen subjektiven symbolischen Akt konstitutiv ist, derartige verfehlende »Übersetzungen« (Laplanche 2004) des Negativen in symbolische Bedeutung (Bild, Begriff, Affekt) zu vollziehen.
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Call it
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Originaltitel
No Country for Old Men
Erscheinungsjahr
2007
Land
USA
Buch
Ethan und Joel Coen
Regie
Ethan und Joel Coen
Hauptdarsteller
Tommy Lee Jones (Sheriff Ed Tom Bell), Javier Bardem (Anton Chigurh), Josh Brolin (Llewelyn Moss)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Marianne Leuzinger-Bohleber
Du hast dir ein totes Kind gewünscht Schwere depressive Episode (postpartaler Beginn) (ICD-10: F32.2) Persona: ein »Klassiker« der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Zur Entstehung des Films. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 »Ein intellektuell nicht zu erklärender Film …« . . . . . . . . . . . . . . 111 Der psychoanalytische Prozess als »Via Regia« . . . . . . . . . . . . . . . 111 Versuch einer psychoanalytischen Annäherung an Persona . . 113 Persona: Bergmans »persönlichster Film« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
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Filmplakat Persona, Schweden 1966 Quelle: Cinetext/RR
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Persona Elisabet Vogler (Liv Ullmann)
Persona: ein »Klassiker« der Moderne Persona (. Abb. 1) stieß nach seiner Erstaufführung 1966 durchaus auf unterschiedliche Reaktionen in Europa. In den USA hingegen, 1967 erstmals gezeigt, wurde er sogleich als »one of this century’s great works of art« (»eines der größten Kunstwerke dieses Jahrhunderts«) charakterisiert (Michaels 2000, S.5) … Persona certainly stands today as one of the supreme examples of modernist art the cinema has yet produced. Like the central works of modernism in other forms – Picasso’s cubist paintings, Priandello’s plays, Eliots »The Waste Land« Joyce Ulysses – it exhibits the qualities of fragmentation, self-reflexivity, and ambiguity associated with the movement that came into prominence at the beginning of the century while retaining a spirit of experimentation that makes it still seem »a film in search of its own laws.« At the same time, Bergman’s trust in the integrity of his own intensive vision along with his technical mastery of the medium at this stage of his filmmaking career raises. Persona to a new level of accomplishment, »modernism becoming classical before our very eyes.1 (Michaels 2000, S.6; vgl. dazu auch Bass 1987; Oliver 1995; Ohlin 2005)
Auch heute noch wirkt z.B. die optische Induktion des Filmes schockierend und befremdlich: Minutenlang bleibt die Leinwand tiefschwarz, dann wird der Lichtbogen eines Projektors sichtbar, und eine Rolle mit Stummfilmsequenzen spult rasend schnell ab. Es folgen eine Spinne, ein erigierter Penis, eine Hand in Großaufnahme, durch die ein Nagel getrieben, ein Auge, das ausgequetscht wird; abrupte Bildfetzen jagen sich, und immer wieder tauchen Leichen von alten Menschen in frostigen hellen Hallen auf. Dann erhebt sich ein toter Jüngling von seiner Bahre (es soll jener aus Schweigen sein, nur natürlich älter geworden), der das an der Wand sichtbar werdende Bild einer Frau hingebungsvoll streichelt (Goetz 1967, S.2). Der Zuschauer wird einerseits auf einer Metaebene – im Sinne eines Films über einen Film – damit konfrontiert, dass es im Folgenden darum gehen wird, Wirklichkeit zu begreifen, eines der Kernthemen der Moderne (Sauer 2005). Andererseits wird er durch die Zitate aus Bergmans früheren Filmen2 gleichzeitig in eine unerträgliche, psychotische Bilderwelt hineingeführt, aus der eine der Protagonistinnen, die Schauspielerin Elisabet Vogler, in einen dissoziativen, mutistischen Zustand verbunden mit einer schweren Depression unbewusst flüchtet. Das Bild der zärtlichen Liebe des Jungen
1 »... Persona steht heute ohne Zweifel für eines der besten Beispiele der modernen Kunst, die das Kino je hervorgebracht hat. Wie weitere zentrale Werke der Moderne in anderer Form – die Bilder von Picasso, die Stücke von Pirandello, The Waste Land von Eliot und Ulysses von Joyce – gestaltet es die Qualität von Fragmentierung, Selbstreflexivität und Ambiguität, die mit der Bewegung assoziiert ist, die Anfang des Jahrhunderts auftauchte und sich einen Geist des Experimentierens bewahrte, der immer noch als »Film auf der Suche nach seinen eigenen Gesetzen« charakterisiert werden kann. Gleichzeitig ist Bergmans Vertrauen in die Integrität seiner intensiven Vision und seiner technischen Meisterschaft des Mediums auf dieser Stufe seiner Filmkarriere gewachsen. Persona verkörpert ein neues Niveau der Vollendung »Modernität wird vor unseren Augen zum Klassiker« – Übersetzungen erfolgten hier und im Folgenden durch die Autorin. 2 Das Skelett ist eine Referenz an die Furcht vor dem Tod (wie sie in Gefängnis artikuliert wird), die Spinne nimmt das Motiv des »Spinnengottes« (in Von Angesicht zu Angesicht) auf, das Lamm das getötet wird bezieht sich auf das Gotteslamm als christliches Erlösungsmotiv und die Hand, durch die ein Nagel gebohrt wird auf das Kreuzigungsmotiv, die in vielen früheren Bergman Filmen auftauchten. Der Junge (Jörgen Lindström) spielte in Schweigen die Rolle des Johan.
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Du hast dir ein totes Kind gewünscht
. Abb. 2 Elisabet animiert Alma, sich an Elisabets Stelle seinem Begehren hinzugeben. Elisabet sieht – wie ein Schatten – aus nächster Nähe zu. Almas Traum oder Wirklichkeit? – Szene mit Bibi Andersson und Liv Ullmann, Quelle: Cinetext
für seine Mutter ist ein Schlüssel für die folgende Reise ins Unbewusste: eine plötzliche Reaktivierung einer schweren postpartalen Depression mit psychotischen Zügen aufgrund einer traumatischen Überflutung u.a. durch das unbewusste »Medea-Fantasiesystem«, wie im Folgenden diskutiert werden soll.
Die Handlung Die Schauspielerin Elisabet Vogler (Liv Ullmann) verstummte eines Abends für eine Minute während einer »Elektra«Aufführung. Am nächsten Tag kam sie nicht zur Probe, blieb im Bett und schwieg. Alle Untersuchungen halfen nichts, die Patientin war, nach Auffassung der sie untersuchenden Psychiaterin, ansonsten physisch wie psychisch gesund. Auch eine hysterische Reaktion lag, so die Ärztin, nicht vor. Da sie nicht länger in der psychiatrischen Klinik bleiben kann, aber auch nicht nach Hause zurückkehren will, schickt die Ärztin sie mit der Krankenschwester Alma in ihr einsames Haus am Meer. Alma ist erst 25 Jahre alt, ein natürliches, unproblematisches Mädchen, das seine stumme Patientin in rührender Weise umsorgt und unterhält. Es entwickelt sich eine Atmosphäre stiller Freundschaft und Harmonie. Offensichtlich taut Elisabet emotional auf: die beiden unternehmen gemeinsame Spaziergänge am Meer, sammeln Pilze und summen beim Zubereiten der Mahlzeit. In einer regnerischen Nacht, man hat etwas getrunken, erzählt Alma in ungehemmter Offenheit u.a. von einem sexuellen Erlebnis, das sie, neben einem fremden Mädchen nackt am Strande liegend, mit zwei adoleszenten Jungen hatte. Alma beschreibt ausführlich und genau, was sie und die andere mit dem Jungen getrieben und wie aufregend – und gleichzeitig irritierend – es für sie gewesen sei. Am Abend, so erzählt sie, war sie dann mit ihrem Verlobten zusammen. Sie bemerkt verwundert: »Wir hatten es noch nie so schön zusammengehabt, weder vorher noch nachher … kannst du das verstehen?«
103 Persona – Elisabet Vogler (Liv Ullmann)
Sie vertraut Elisabet diese für sie verwirrenden Geheimnisse an, denn sie ist überzeugt, dass sie ihren Verlobten liebt, ihm treu sein und mit ihm viele Kinder bekommen will. Elisabet scheint sie zu verstehen, sie gibt mit ihrem seltsamen Lächeln zumindest den Anschein. Es kommt zu verschmelzungsähnlichen Erlebnissen: Alma glaubt zu hören, dass Elisabet ihr zuflüstert : »Geh mal ins Bett, sonst schläfst du noch hier am Tisch ein …« (Bergman 2002, S.321). In der Nacht kommt es im Nebel durchfluteten Zimmer zu einer homoerotischen Begegnung zwischen den beiden: Vision oder Realität? Als Alma Elisabet am nächsten Morgen fragt, ob sie nachts bei ihr im Zimmer war, schüttelt diese den Kopf.Einige Tage später liest Alma einen unverschlossenen Brief von Elisabet an die Ärztin, in dem Elisabet kalt und abwertend von ihr schreibt:
R »Im Übrigen ist es sehr amüsant, sie zu studieren. Sie ist ziemlich altklug, hat viele Ansichten, was Moral und Lebenseinstellung angeht, ist sogar ein bisschen bigott … Jedenfalls habe ich ihr Vertrauen, und … solange sie nichts merkt, macht es ja nichts … « (Bergman 2002, S. 322) Alma fühlt sich verraten. Durch ihre tiefe Verletzung bricht nun die Freundschaft zusammen und nimmt die Formen einer Hassliebe an. Nach Koebner (2009, S.102ff.) wird Almas verzweifelte Rache in fünf Stationen dargestellt: Alma lässt Elisabet absichtlich in eine Glasscherbe treten, die sie nicht weggeräumt hat. Elisabet durchbricht – vor Schmerz – ihr Verstummen erstmals mit einem ersten Schrei. Alma stellt Elisabet zur Rede. Es kommt zu einem eskalierenden Streit mit Handgreiflichkeiten. Alma wird durch Elisabeth an der Nase getroffen: Sie blutet. Elisabet reizt Alma durch ihr Lächeln so sehr, dass diese plötzlich nach einem Topf kochenden Wassers greift und Elisabet verbrühen will. »Nein, nein, tu’ es nicht …« schreit Elisabet. Alma triumphiert: »Ich habe dich in Angst versetzt!« In Todesangst hat sie die Verstummte erneut zum Sprechen gebracht. – Elisabet flieht an den Strand, Alma hinter ihr her – fleht um Verzeihung – vergebens. Elisabet lässt sie an ihrem Schweigen abblitzen.
Alma liegt im Bett. Wie in einer Art Vision erscheint der Ehemann von Elisabet. Er verwechselt die beiden Frauen. Vielleicht ist er blind: Er trägt eine dunkle Sonnenbrille. Elisabet animiert Alma, sich an Elisabets Stelle seinem Begehren hinzugeben. Elisabet sieht – wie ein Schatten – aus nächster Nähe zu. Almas Traum oder Wirklichkeit? (. Abb. 2) Alma entdeckt Elisabet, wie sie das Bild ihres Sohnes mit den Händen zudeckt. Sie zwingt Elisabet zu einem Gespräch über ihren Hass auf den Sohn. Da Elisabet sich immer noch weigert zu sprechen, formuliert Alma für sie ihre Geschichte: Elisabet, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, wurde wegen ihrer Schauspielkunst bewundert, doch bemerkte jemand, es fehle ihr an mütterlicher Wärme. Da entschloss sie sich, schwanger zu werden. Doch wurde sie mit der Schwangerschaft nicht mütterlicher, sondern sah sich zunehmend dazu gezwungen, die Rolle einer glücklichen Schwangeren zu spielen: In Wirklichkeit hasste sie die Veränderungen ihres Körpers, ihres Lebens und das werdende Kind: »Du hast dir ein totes Kind gewünscht.« Als nach einer langen, schmerzhaften Geburt der Sohn dennoch auf die Welt kam, flüsterte sie ihm zu: »Stirbt doch bitte, stirb …« – Sie wurde krank, musste hospitalisiert werden. Verwandte übernahmen das Kind. Elisabet kehrte zur Schauspielerei zurück. Doch das Problem war nicht gelöst: Der Sohn hängt mit zärtlicher Liebe an seiner Mutter und fleht um die Zuneigung von ihr. Immer wieder versucht Elisabet die Liebe zu erwidern – vergeblich – sie ist erfüllt von kalter Abneigung, ja sogar von Ekel und Hass…
104
Du hast dir ein totes Kind gewünscht
Diese zentrale Szene wird zweimal gezeigt: einmal in Großaufnahme des Gesichts von Elisabet – mit den wechselnden Gefühlen und Affektstürmen. Das zweite Mal in Großaufnahme von Alma. – Am Ende kommt es zu einer Überblendung der beiden Gesichter, woraus ein vergleichsweise hässliches Antlitz entsteht. Solche Großaufnahmen gab es schon zu Beginn des Filme in der surrealistischen Exposition, als der Junge zuerst das Gesicht von Alma, dann von seiner Mutter und schließlich die überblendeten Gesichter auf einer riesigen weißen Leinwand abtastete. Nun beginnt Alma langsam durchzudrehen: Sie will sich behaupten, ihre eigene Identität zurückgewinnen und sich vor dem subtilen Zugriff Elisabets retten. Als sie in ihrer Not und Wut ihren Arm so zerkratzt, dass er blutet und sich Elisabet wie ein Vampir darüber beugt, um das Blut zu trinken, stöhnt Alma zuerst lustvoll auf, greift dann aber in die Haare Elisabets und schlägt besinnungslos auf sie ein. Diese Szene ist noch nicht im Drehbuch enthalten, passt aber gut in das Crescendo von Almas verzweifelter Wut. Danach ist an Versöhnung nicht mehr zu denken. Alma wacht wie aus einem Traum auf, dreht den Kopf wie rasend hin und her, gleichzeitig sind es Bühnenbilder oder Atelierbilder, die auf der Leinwand sichtbar werden (Elisabets Erinnerungen?), auch das sanfte Neben- oder Miteinander der beiden Frauen in der Nebelnacht flackert über die Leinwand. Elisabet packt Koffer und Alma macht Ordnung im Sommerhaus – sie begegnen sich nicht mehr. Alma fährt im Bus weg. Die daran anschließende Szene ist zeitlich schwer zu lokalisieren. Elisabet liegt erschöpft im Klinikbett und lernt durch die fürsorgliche Alma die alte Formel der Daseinsverwünschung einzuüben: das tragische Wort »Nichts«. Handelt es sich um eine Rückblende auf die erste Phase der Behandlung Elisabets oder ist dieser Zusammenbruch der Patientin das Ergebnis der wenig glücklich endenden Therapie im Sommerhaus der Ärztin? (Koebner 2009, S. 104). Jedenfalls ist es, wie Susan Sontag schon 1969 schreibt, kein harmonisierendes Ende. There is no happy ending. At the close of the film, mask and person, speech and silence, actor and »soul« remain divided – however parasitically even vampiristically, they are shown to be intertwined.3 (Sonntag 1969, zit. nach Michaels 2000, S.85)
Zur Entstehung des Films Als am 31. Januar 1963 Bergmans Film Das Schweigen in den Kinos anlief, ausgestattet mit dem Prädikat »besonders wertvoll«, begann ein Sturmlauf der Filmtheaterkritik und zugleich eine Welle der Empörung. Danach wurde es still um Bergman. Er drehte zwar noch 1964 einen Farb-Cinema-Scope Film All diese Frauen, aber dieser Film fand wenig Resonanz beim Publikum. Die »Ära Bergman« schien mit dem Tabu verletzenden Höhepunkt Das Schweigen abgeschlossen. Bergman wurde daraufhin schwer krank. Wegen einer Infektion des Ohres musste er mehrere Monate hospitalisiert werden. Vermutlich litt er zugleich auch an einer depressiven Episode. Er konnte den ihm neben Chaplin zugedachten »Erasmus-Preis« im April 1965 nicht selbst in Empfang nehmen. In seiner Dankesrede, die verlesen wurde, sagte er: Wenn ich also vollkommen aufrichtig sein will, so erlebe ich die Kunst (nicht nur die Filmkunst) als bedeutungslos. Der Mensch (wie ich mich selbst und die Umwelt erlebe) hat sich frei gemacht, furchtbar, schwindelnd frei … Im großen und ganzen ist die Kunst schamlos, verantwortungslos und wie gesagt, die Bewegung ist intensiv, beinahe fieberhaft, sie gleicht, kommt es mir vor, einer Schlangenhaut, gefüllt mit Ameisen. Die Schlange selbst ist schon lange tot, aufgefressen, ihres 3 »Es gibt kein Happy End. Am Ende des Filmes bleiben Maske und Person, Rede und Schweigen, Filmschauspieler und »Seele« getrennt, wie parasitär oder sogar vampirhaft auch immer, sie werden als verflochten dargestellt.«
105 Persona – Elisabet Vogler (Liv Ullmann)
Giftes beraubt, aber die Haut bewegt sich, gefüllt von geschäftigem Leben … (Habernoll 1967).
In dieser Stimmung schrieb Bergman 1965 das Filmmanuskript Persona, von dem er sagte: Persona wären die Masken der Schauspieler in einem klassischen Drama. Sein Film beschreibe die Probleme der Zweigesichtigkeit des Menschen und seine Schwierigkeiten der Erfüllung seiner Rolle auf der Bühne seines Lebens … (Habernoll 1967)
Unter »Persona« verstanden die alten Römer die Maske des Schauspielers, seine Rolle. Gleichzeitig ist das lateinische »Persona« im heutigen Begriff der »Person« enthalten und mit den modernen Konzeptualisierungen des Selbst und der Identität verknüpft. Bergman greift vermutlich auf diese Assoziationen zurück, wenn er seinen Film mit Persona überschreibt. In klinisch weißen, leeren Räumen, vor wehendem Tüll oder totenstarrer Felsenküste zeigt er die Gesichter in Großaufnahmen, in ihren Mienen liest der Beschauer alle Rätsel der Welt. Das Kammerkino für zwei Damen erweitert der Regisseur durch Anspielungen an frühere Bergman-Filme und durch Symbol-Signale aus dem Horror-Fundus … Die quälerischen Visionen und Spekulationen des Pastorensohnes Bergman, cineastisch von hoher Perfektion, kann sich jeder wie er will erklären. Bergman lädt die Phantasie des Zuschauers ein, frei über das Material zu verfügen. (Der Spiegel, 28. August 1967)
Bergman (am 14. Juli in Uppsala, Schweden, geboren), wäre 2008 neunzig Jahre alt geworden. Ein Jahr vorher starb er 4. Er überwand seine Schaffenskrise der 1960er Jahre und blieb bis zum Ende kreativ. Persona hatte zu seiner Selbstheilung mit beigetragen und stellte einen Wendepunkt in seinem Leben dar: Ich habe einmal gesagt, Persona hätte mir das Leben gerettet5. Das ist keine Übertreibung. Hätte ich es nicht geschafft, wäre ich vermutlich auf der Strecke geblieben. Es war wichtig, dass ich mich zum ersten Mal nicht darum kümmerte, ob das Resultat publikumswirksam war oder nicht. Das Verständlichkeitsevangelium, das man mir schön eingetrichtert hatte, als ich bei Svensk Filmindustrie als Manuskriptneger schwitzte, konnte endlich zur Hölle fahren (wo es hingehört!). Heute erlebe ich, dass ich in Persona und später in Schreie und Flüstern soweit gekommen bin, wie ich kommen kann. Dass ich in Freiheit wortlose Geheimnisse berühre, wie sie nur die Cinematographie zu Tage bringen kann. (Bergman 1991, S. 60)
So gewann er seine Kreativität wieder. Noch mit 85 Jahren, 2003, drehte er seinen letzten Film für das schwedische Fernsehen: Sarabande.Koebner (2009) zitiert einige Stimmen der deutschen Filmkritik, die sich nach dem Tod von Bergman fragten, ob seine Filme noch in unsere Zeit passen würden. Zweifellos, jede Epoche bringt die ihr eigene
4 Der Sohn eines rigiden Pastorenehepaars hatte ein bewegtes Leben hinter sich: Er war fünfmal verheiratet, hatte acht Kinder und intime sexuelle Beziehungen zu mehreren seiner Schauspielerinnen, u. a. mit Bibi Anderson und Liv Ullmann. Er schien über eine einzigartige Fähigkeit zu verfügen, die Beziehung zu seinen Liebespartnerinnen auch nach den Trennungen von ihnen aufrecht zu erhalten. So wird sein vielfach ausgezeichneter Abschiedsfilm Fanny und Alexander als eine beeindruckende Zusammenführung seiner aktuellen und früheren Ehepartnerinnen, Liebhaberinnen, Kinder und Stiefkindern und langjähriger Arbeitskollegen und -kolleginnen gesehen ( Michaels 2000; Ullman 1976). 5 Bergman sagte von seinem Film Persona, dieser sei »eine Schöpfung, die ihren Schöpfer gerettet habe« (Bergman 1967, S. 223).
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Du hast dir ein totes Kind gewünscht
Kunst hervor. Dennoch bildet sich ein »klassisches Repertoire«. Auch im Konzertwesen oder im Spielplan der Oper wird man nicht auf Mozarts Werke verzichten wollen. (Koebner 2009, S.5)
Ein Merkmal von »Klassikern« in der Kunst ist bekanntlich, dass sie immer wieder zu neuen Interpretationen anregen.Dies soll im Folgenden anhand von Persona versucht werden, indem – trotz der Auffassung von Bergman, dieser Film sei intellektuell nicht zu verstehen – Bezug nehmend auf ICD-10 und DSM-IV die Frage gestellt wird, ob die minutiöse Darstellung der existenziellen Krise von Elisabet und Alma dazu beitragen kann, bestimmte psychopathologische Störungsbilder vertiefend zu verstehen.
»Ein intellektuell nicht zu erklärender Film …« Wahrheit und/oder Tarnung? Das Verstummen als Indikator für eine existenzielle Sinnkrise in einer Major Depression (ICD-10: F32.2) Vor einem solchen Verstehensversuch wurde immer wieder gewarnt: »Everything one says about Persona may be contradicted; the opposite will also be true.«6 (Cowie 1992, S.231). In der Tat, der Film selbst wirkt wie ein psychiatrisches Verwirrspiel. Beim Bild eines totalen Mutismus von Elisabet, als psychiatrischem Symptom, denkt man vorerst einmal an den »katatonen Typus der Schizophrenie« (ICD-10: F20.2). Doch fehlen bei Elisabeth offensichtlich die motorische Unbeweglichkeit bzw. eine übermäßige motorische Aktivität, Willkürbewegungen, Echolalie oder Echopraxie, die dieses Krankheitsbild auszeichnen. Elisabet kann schreiben, lesen und kongruent denken. Daher bezeichnet die Psychiaterin ihre Patientin Elisabet zu Beginn des Filmes als psychisch und physisch »völlig gesund«. Sie interpretiert ihr Verstummen als Flucht aus der Realität und den inneren, unerbittlichen Ansprüchen an Authentizität und »Wahrheit«:
R »Und da standst du nun, mit deinem Wahrheitsanspruch und dem Überdruß. Sich das Leben nehmen? Nein- das ist zu scheußlich, das tut man nicht. Aber reglos werden kann man. Dann lügt man nicht. Man kann sich abschirmen, abschotten. Da muß man keine Rolle spielen, kein Gesicht machen und keine falschen Gesten. Denkt man. Nur macht die Wirklichkeit es einem verdammt sauer. Dein Versteck ist durchlässig. Überall dringen Lebenszeichen herein. Und du musst reagieren…. Elisabet, ich verstehe, dass du schweigst und dich nicht rührst, dass du deine Teilnahmslosigkeit in ein phantastisches System eingeordnet hast. Ich verstehe und bewundere. Am besten machst du mit der Rolle weiter, bis du sie für uninteressant hältst, für abgespielt, und sie ablegen kannst, so wie du nach und nach auch deine anderen Rollen ablegst.« (Bergman 2002, S. 313) Warum aber dann die unheimliche Verwischung der Grenzen zwischen Fantasie und Realität, Traum und Wirklichkeit und die beängstigende Verwandlung von Elisabet in Alma, von Alma in Elisabet? Wie ist die schwere Identitäts- und Selbstkrise diagnostisch zu fassen?
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»Was immer jemand zu Persona sagen mag, ist widersprüchlich: Das Gegenteil wird ebenfalls wahr sein.«
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Schwere Identitätsstörungen gehören, wie wir dies in eindrucksvoller Weise zzt. in unserer großen LACDepressionsstudie7 sehen, auch zum Bild der Major Depression, besonders in ihren chronifizierenden Formen. Oft schildern unsere Patienten ähnlich abrupte Zusammenbrüche, wie sie Elisabet während der Elektra-Aufführung erlebte. Von einem Moment zum anderen ist »alles anders«. Dazu ein kurzes Beispiel: Herr X. baute seiner ausländischen Frau – neben seiner vollen Berufstätigkeit – ein eigenes Haus und investierte dazu nicht nur über Jahre all seine finanziellen Mittel, sondern auch seine ganze Freizeit in der Hoffnung, die chronische Unzufriedenheit und Aggressivität seiner Frau endlich zu besänftigen. Eines Abends, als er völlig erschöpft, noch letzte Details in der selbstgebauten Küche anfertigte, attackierte ihn seine Frau wie aus dem heiteren Himmel, weil sie »hysterisch« auf eine vermeintliche Gefahr für ihr zweijähriges Kind reagierte, die Herr X. – ihrer Wahrnehmung nach – nicht im Auge hatte. Sie schrie und griff ihn sogar physisch an. – Am nächsten Morgen konnte Herr X. nicht aufstehen: Er fühlte sich gelähmt, schwer depressiv und unfähig, zur Arbeit zu gehen. »Alles hatte sich verändert – ich hatte den Bezug zu allem verloren, meinem Sohn, meiner Frau, meinem Haus, der Arbeit – einfach allem – alles war nur noch schwarz, sinnlos, unerträglich …« Auch er verstummte …
Daher scheint mir der akute Zusammenbruch von Elisabet am ehesten als eine Episode einer Major Depression deskriptiv zu charakterisieren zu sein (Tab. 1). . Tab. 1 Symptome der Depression nach ICD-10 (WHO 1993) Depression Grundsymptome
Depressive Stimmung Interessen- oder Freudeverlust an Aktivitäten, die normalerweise angenehm waren Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit
Zusätzliche Symptome
Verlust des Selbstvertrauens oder des Selbstwertgefühls Unbegründete Selbstvorwürfe oder ausgeprägte, unangemessene Schuldgefühle Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Suizid oder suizidales Verhalten Klagen über oder Nachweis eines verminderten Denk- oder Konzentrationsvermögens, Unschlüssigkeit oder Unentschlossenheit Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung Schlafstörungen Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichtsveränderung Libidoverlust Sozialer Rückzug
7 LAC steht für »Kurz- und Langzeiteffekte von psychoanalytischer verglichen mit kognitiv-behavioraler Langzeitpsychotherapie chronisch Depressiver«, eine prospektive, multizentrische Therapiewirksamkeitsstudie, die zzt. durchgeführt wird (Projektleitung: M. Leuzinger-Bohleber, M. Beutel, M. Hautzinger, W. Keller, U. Stuhr, unterstützt von der DGPT, der Heidehofstiftung und der »Research Advisory Board der International Psychoanalytical Association«).
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Depression Verminderte Gesprächigkeit Pessimismus im Hinblick auf die Zukunft oder Grübeln über die Vergangenheit Erkennbares Unvermögen, mit den Routineanforderungen des täglichen Lebens fertig zu werden Neigung zum Weinen Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung Es können psychotische Symptome bestehen, am häufigsten depressiver, Schuld-, hypochondrischer, nihilistischer, Beziehungs- oder Verfolgungswahn
Elisabet fühlt sich offensichtlich leer und hat – plötzlich und völlig unerwartet – das Interesse an der Schauspielerei, ihrer Familie und sozialen Aktivitäten vollständig eingebüßt. Sie liegt starr im Bett, motorisch mehr oder weniger paralysiert, sprachlich verstummt. Im Unterschied zur ICD-10 enthält das DSM-IV (American Psychiatric Association 1996) den Begriff Mutismus explizit: Zu den psychomotorischen Veränderungen gehören Unruhe und Agitiertheit … oder auch psychomotorische Verlangsamung (die sich z. B. zeigt in Verlangsamung der Sprache, des Denkens und der Bewegungen, verlängerter Antwortlatenz, leiser und monotoner Sprache, verringertem Sprachumfang und -ausdruck oder Mutismus).« (American Psychiatric Association 1996, S. 381; Hervorhebung der Autorin).
Erst durch die liebevolle Betreuung von Alma im Haus am Meer erholt sich ihre »gebeutelte Seele«, wie sie der Ärztin schreibt. Sie scheint eine gewisse Lebensqualität zurückzugewinnen: Sie erlebt wieder ansatzweise Freude an Bewegung und liebt die Spaziergänge am Meer. Sie überwindet die fehlende Lust am Essen sowie ihre Schlaflosigkeit. Im zweiten Teil des Briefes an die Ärztin drückt sie aber die immer noch bestehende Emotionslosigkeit einer schwer Depressiven aus: In einer, für Alma kalten und uneinfühlsamen Weise, »studiert« sie – ohne eigene affektive Resonanz – das Verhalten von Alma. Als Alma sie daraufhin aufgrund ihrer Verletzung massiv aggressiv attackiert, kommt es zu den erschreckenden Vermischungen von Fantasie und Realität – einer schweren Identitätsdiffusion mit psychotischen Elementen. Alma wird zur Verfolgerin von Elisabet – Elisabet zur Verfolgerin von Alma. Schläft Alma wirklich mit dem Ehemann von Elisabeth, oder ist dies nur eine Rachefantasie, ein Traum? – Elisabet saugt das Blut aus dem Arm von Alma – eine psychotische Vampirfantasie, Vision einer oralen Inkorporation bei einer existenziellen Identitätskrise oder eine real stattgefundene, bizarre Interaktionsszene? Bei schweren Episoden einer Major Depression können durchaus psychotische Symptome auftreten (ICD-10: F322), wie sie in Persona dargestellt sind. Schließlich wird in der Kernszene des Filmes, als Alma Elisabet ihre Geschichte vom Hass auf ihren Sohn erzählt, enthüllt, dass Elisabet vermutlich an einer postpartalen Depression oder gar einer postpartalen Psychose litt und hospitalisiert werden musste. Die depressive Episode hatte folglich einen Vorläufer, einen postpartalen Beginn (F322 mit postpartalem Beginn)
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Statische vs. dynamische Diagnostik – psychoanalytische Überlegungen zu einer ICD-10 Diagnose: Persona als Darstellung eines psychoanalytischen Prozesses? Bergman ist zuzustimmen: Ein Kunstwerk wie Persona ist intellektuell nicht zu fassen, schon gar nicht mithilfe eines statischen psychiatrischen Klassifikationssystems. Bekanntlich hegen viele Psychoanalytiker ein tiefes Misstrauen gegen diese Art der statisch-deskriptiven Klassifizierung psychiatrischer Störungsbilder. Unbestritten wurden beide Diagnosesysteme (DSM-IV und ICD-10) mit der Absicht entwickelt, weltweit die diagnostischen Verfahren zu vereinheitlichen, eine wichtige wissenschaftliche Zielsetzung. Aber gerade der Versuch, anhand von Filmen komplexe psychische Zustände und Störungsbilder zu klassifizieren, enthüllt gleichzeitig die damit verbundenen grundlegenden Schwierigkeiten: Psychische Zustände lassen sich, nach Auffassung der Psychoanalyse, nicht statisch voneinander abgrenzen, sondern nur als Prozesse verstehen, die interaktions-, kontext- und zeitabhängig sind. So hat die Ärztin in Persona durchaus recht: Elisabet ist einerseits psychisch und physisch völlig »gesund« – gleichzeitig entwickelt sie aber im existenziellen Konflikt mit Alma und der Reaktivierung ihrer traumatischen Erfahrungen im Zusammenhang mit der Geburt ihres Sohnes schwerste psychopathologische Symptome: Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Identitätsverlustängste sowie eine Spaltung ihrer Persönlichkeit. Ohne nun doch noch »letzte Erklärungen« des Filmes auf psychoanalytischer Basis anbieten zu wollen, soll im Folgenden dennoch der Versuch gewagt werden, den Film als psychoanalytischen Prozess zwischen den beiden Protagonistinnen zu verstehen und auf diese Weise Bergman zu folgen, der »die Phantasie des Zuschauers ein(lud), frei über das Material zu verfügen.« (7 oben; Schneider u. WittSchneider 2003). Einigen Autoren, die sich mit Persona auseinandergesetzt haben, ist die Analogie des Ringens der beiden Frauen um Verständigung und Identitätsfindung zu einer Psychoanalyse ebenfalls aufgefallen (Weissmann 1965; Manley 1979; Casebier 1980; Olivier 1995). Elisabet listens patiently and maternally. Elisabet seems to be fulfilling the role of therapist, someone to whom the words can be directed and from whom we can receive acceptance and understanding, a sense that our problems are contained by a matrix of human acceptance and love.8 (Jones 1977, S. 81)
Der psychoanalytische Prozess als »Via Regia« zum Unbewussten: vom schweigenden zum emotional involvierten, deutenden Psychoanalytiker Alma erlebt Elisabet zuerst als akzeptierende, haltende Zuhörerin, die ihr durch ihr Schweigen den Raum bietet, ihr ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Wie für viele unserer analytischen Patienten ist dies für sie eine neue, berührende Erfahrung. Bisher war sie meist für andere da, professionell und privat: Kaum jemand hat ihr einfühlsam zugehört, möglicherweise einer der Gründe, warum sie auf ihren Verlobten wie eine »Schlafwandlerin« wirkt, die nicht wirklich in sich selbst zu ruhen scheint. Elisabets Schweigen erinnert an die Abstinenzregel der Psychoanalyse. Freud mahnte: 8 »Elisabeth hört geduldig und mütterlich zu. Elisabeth scheint die Rolle einer Therapeutin einzunehmen. Sie ist jemand, den man ansprechen kann und von dem man Anerkennung und Verstehen bekommt und der das Gefühl vermittelt, dass unsere Probleme durch eine Matrix von menschlichem Angenommensein und von Liebe gehalten werden.«
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die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt werden (Freud 1915, S.313)
Freud begründete die Abstinenzregel methodisch: Sie sollte sowohl den Patienten als auch den Analytiker schützen, indem ein sicherer Rahmen geschaffen wird, um projektive Prozesse in der Übertragung auf den Analytiker zu evozieren, zu verbalisieren und verstehend zu deuten, statt sie auszuagieren. Der Analytiker sollte sich als »weiße Projektionsfläche« anbieten und daher möglichst vermeiden, als Person in Erscheinung zu treten und dadurch die Projektionen bisher tabuisierter unbewusster Wünsche und Konflikte auf den Analytiker einzuschränken. Die Übertragung als Methode, unbewusste Fantasien und Konflikte in der analytischen Beziehung direkt beobachtbar zu machen, entwickelte sich im Lauf der Jahrzehnte zur »Via Regia zum Unbewussten«. Verschiedene Metaphern wurden gefunden, um diesen methodischen Zugang zum Unbewussten zu beschreiben: In der »klassischen« Psychoanalyse wurde »die Rolle des Psychoanalytikers mit jener des ‚neutralen‘, emotionslosen Chirurgen« gleichgesetzt, der – in einer naturwissenschaftlichen Grundhaltung – den Patienten beobachtet und »analysiert« (Körner 2008). Eine weitere Metapher war der »Analytiker als Spiegel für das Unbewusste des Patienten«. Im Sinne der »Ein-Personen-Psychologie« sollte er sich optimal für den Patienten zur Verfügung stellen und sich in der analytischen Situation professionell darauf beschränken, unbewusste Fantasien und Konflikte des Patienten zu spiegeln, d.h. möglichst präzise wahrzunehmen und zu verbalisieren und nicht mit eigenen emotionalen Reaktionen oder Einfällen vermischen. Diese Vorstellung eines abstinenten, spiegelnden und oft schweigenden Psychoanalytikers dominierte in den 1960er Jahren, zur Zeit der Entstehung von Persona den psychoanalytischen und öffentlichen Diskurs. Im Film erfasst Bergman intuitiv die Sonnen- und Schattenseiten dieser damaligen Auffassung von psychoanalytischer Behandlungstechnik: In einer Phase der positiven Übertragung ermöglicht sie Alma, sich zu öffnen und bisher Abgewehrtes, Tabuisiertes zu verbalisieren und dadurch zu symbolisieren. Sie erlebt während des Erzählens sowohl ihre erotisch-sexuelle Lust nochmals, als auch ihren Schmerz während und nach der Abtreibung. Das Weinen scheint eine befreiende Wirkung zu haben: Sie kann erleichtert einschlafen. Doch nachdem diese Phase der positiven Übertragung durch den Verrat (Brief) abrupt in sich zusammenfällt, werden die Schattenseiten dieses »klassischen« Übertragungskonzeptes sichtbar: das durchgängige Schweigen von Elisabet (anstelle einer professionellen Erfahrung des »holding« und »containing« sowie der adäquaten Deutung der Enttäuschung und der negativen Gefühle in der therapeutischen Beziehung) stimuliert übermäßig Hass, Verzweiflung und blinde Wut. Alma fühlt sich von der schweigenden Elisabet, wie von einem kalt und berechnend arbeitenden Chirurgen oder Psychoanalytiker, emotional abgewiesen: Sie erhält keine Entlastung durch ein emotionales Mitschwingen, verbales Verstehen und »Verzeihen«. Dies führt zu der erwähnten Eskalation bis hin zum tätlichen, destruktiven Ausagieren von Wut und Verzweiflung und schließlich zum Beziehungsabbruch. Es ist interessant, dass die Psychoanalyse zur Zeit der Entstehung von Persona erstmals die Grenzen der »Ein-Personen-Psychologie« thematisierte und vermehrt Konzepte wie das Arbeitsbündnis und die Gegenübertragung des Analytikers als ergänzende methodische Instrumente aufnahm. Die »Zwei-Personen-Psychologie« setzte sich immer mehr durch. Die aktive Rolle des Psychoanalytikers bei der Gestaltung der therapeutischen Beziehung wurde immer radikaler konzeptualisiert, mithilfe der systematischen Reflexion von Übertragung und Gegenübertragung, der Rollenübernahme in der analytischen Beziehung (Sandler 1976) bin hin zu konstruktivistischen, den so genannten intersubjektiven Ansätzen in der heutigen Psychoanalyse (Renik 1996; bezogen auf Persona: Oliver 1995). Auf diesem Hintergrund wirkt Persona wie eine Warnung eines unprofessionellen Gebrauchs der Abstinenz- und Spiegelmetapher durch eine »schweigende, nicht haltende und deutende Analytikerin«. Der Prozess, den die beiden Protagonistinnen miteinander durchstehen, enthält zwar durchaus Fragmente eines psychoanalytischen Prozesses: Alma drückt es etwas bitter aus: »Ich habe viel gelernt« und Elisabet scheint am Schluss des Filmes erste schmerzliche Schritte zu unternehmen, ihr Verstummen zu überwinden und das »Nichts« psychisch zu akzeptieren. Doch wie oben schon erwähnt: Bei Persona
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handelt sich weder um ein »Happy End«, noch um die Darstellung eines gelungenen therapeutischen Selbstfindungsprozesses.
Versuch einer psychoanalytischen Annäherung an Persona Trotz dieser eben skizzierten Begrenzungen eröffnete der stattgefundene semiprofessionelle, fragmentarische psychoanalytische Prozess einige psychodynamische Einsichten zum Verständnis des Verstummens von Elisabet Das »Wahrheitskriterium« der folgenden Hypothesen ist das gleiche wie in einer psychoanalytischen Behandlung: Reagiert das Unbewusste, vor allem in seinen Manifestationen in den Symptomen, auf eine Deutung, ist dies für Patient und Analytiker ein Hinweis, dass damit etwas »Wahres« getroffen ist. »Falsche« Deutungen bewirken gar nichts: weder das Ansteigen des Widerstandes, noch eine verändernde Bewegung bezüglich der Symptomatik. In Persona verändern sich sowohl Elisabet als auch Alma durch den intensiven, von Projektionen und Identifikationen geprägten Interaktionsprozess: Alma gewinnt an menschlicher Reife Sie integriert ihre bisher abgewehrten traumatischen Erfahrungen im Zusammenhang mit der ersten unglücklichen, von ödipalen Fantasien geprägten Liebe. Sie befasst sich in neuer, selbstverantwortlicher Weise mit der irritierend überwältigenden sexuellen Lust während der »Vergewaltigung« durch die beiden Adoleszenten, mit ihrem bisher tabuisierten erotischen, lesbischen Begehren sowie mit ihrer Abtreibung und ihren aggressiv-destruktiven Ausbrüchen nach ihrer schweren narzisstischen Verletzung. Sie überwindet dadurch partiell ihre Spaltung zwischen dem idealisierten, adoleszenten Selbstbild als »reine«, helfende Krankenschwester und zukünftig aufopfernde Partnerin und Mutter einerseits und den abgewehrten, bisher tabuisierten, aggressiv-destruktiven Selbstanteilen anderseits. Sie wird von der »Schlafwandlerin« zur reifen Frau. Im Folgenden soll dieser Veränderungsprozess exemplarisch an einem abgewehrten, bisher tabuisierten Identitätsanteil illustriert werden, den Alma mit Elisabet in besonderer Weise zu teilen scheint: Es ist die unbewusste Reaktivierung eines ubiquitären, weiblichen Fantasiesystems, das ich in anderen Arbeiten als »Medea-Fantasie« (7 »Box«) charakterisiert habe (Leuzinger-Bohleber 2001). Dieses unbewusste Fantasiesystem bestimmte bisher unerkannt in entscheidendem Maße das Erleben der Weiblichkeit der beiden Protagonistinnen, weil es bisher von beiden rigide in ihr Unbewusstes verbannt werden musste und daher nicht dem reflexiven Bewusstsein zugänglich war. Die »Medea-Fantasie« ist Teil eines archaischen, weiblichen Selbstbildes, das in Zusammenhang mit der unbewussten »Wahrheit« steht, durch sexuelle Leidenschaft die eigene Autonomie und ein unabhängiges Selbst zu verlieren und hilflos in eine existenzielle Abhängigkeit vom Liebespartner hineingezogen zu werden. Unbewusst ist es weiter mit der irrationalen Überzeugung verbunden, in einer Situation der extremen Kränkung durch den Liebespartner die eigenen mörderischen Impulse nicht mehr kontrollieren zu können und sich selbst, das Liebesobjekt und vor allem die Produkte der sexuellen Leidenschaft zu ihm, die eigenen Kinder, zu gefährden oder sogar umzubringen.
Medea-Fantasie Das Konzept der ubiquitären unbewussten Fantasien ist in der heutigen Psychoanalyse zentral. Ich kann in diesem Rahmen nicht detailliert darauf eingehen (Leuzinger-Bohleber 2001): Die Tradition der klassischen Psychoanalyse aufnehmend wird darin postuliert, dass sich zentrale unbewusste Fantasien im dialektischen Spannungsfeld zwischen biologisch angelegten Bedürfnissen einerseits und idiosynkratischen Sozialisationserfahrungen herausbilden und oft unerkannt aktuelles
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seelisches Erleben determinieren. Bei einer Gruppe weiblicher Analysandinnen, in deren Psychoanalysen ich die »Medea-Fantasie« entdeckte, hatten sich frühe traumatische Erfahrungen mit ihren depressiven Müttern, die während des ersten Lebensjahres der Patientinnen wegen schweren postpartalen Depressionen monatelang mit Antidepressiva behandelt worden waren, vermischt mit ubiquitären Körpererfahrungen der existenziellen Abhängigkeit vom nährenden Primärobjekt, wie sie alle menschliche Säuglinge aufgrund ihrer psychophysiologischen Frühgeburt erleben. Bezug nehmend auf das Konzept des »embodied memory« hatte ich postuliert, dass sich die frühen, schmerzlichen Erfahrungen im Körper dieser Frauen eingegraben hatten und durch spätere Fantasien und Erlebnisse, etwas Tagträumereien während der ödipalen Phase oder Onaniefantasien in der Adoleszenz, ständig neu überschrieben und im Sinne der »Nachträglichkeit« weiter modifiziert worden waren. Im Zusammenhang mit einer europaweiten Studie zur »Ethical Dilemmas Due to Prenatal and Genetic Diagnostics« stellten wir aufgrund der Erfahrungen mit Frauen/Paaren während und nach einer Spätabtreibung aufgrund eines auffälligen pränatalen Befundes die Hypothese auf, dass es sich bei der »Medea-Fantasie« um ein ubiquitäres unbewusstes Fantasiesystem von Frauen handelt, das unweigerlich in einer Situation der Spätabtreibung reaktiviert wird (Leuzinger-Bohleber et al. 2008b).
Medea Medea, die Tochter des Königs Aetes und der Halbgötting Hekate in Kolchos am Schwarzen Meer, wurde, so die Sage, vom Pfeil des Amors tödlich getroffen, als ihr Jason, der griechische Held im Tempel ihres Vaters entgegentrat: sie konnte sich nicht gegen die sie überwältigende, sexuelle Leidenschaft zur Wehr setzen, sondern verlieh Jason Zauberkräfte, damit er den Drachen besiegen und ihm das Goldene Vließ entreißen konnte, um es siegreich nach Griechenland zurückzubringen. Medea lieferte auf ihrer Flucht mit ihrem Geliebten den sie verfolgenden Bruder dem Schwert Jasons aus. Ihr Vater riss sich aus Zorn in Stücke, als er davon erfuhr. Medeas folgendes tragisches Schicksal war, so der Mythos, die Rache für diesen zweifachen Mord. Zurück in Griechenland verriet und verließ Jason Medea. Er verliebte sich in Kreusa, die Tochter König Kreon. Medea wollte sich zuerst, tief gekränkt, selbst umbringen, doch besann sie sich dann auf ihren Stolz als Prinzessin, Halbgöttin und Magierin und beschloss Rache: Sie stellte sich versöhnt und schickte Kreusa ein wertvolles Kleid und glänzendes Diadem. As Kreusa beides anzog, wurde sie vom Feuer verzehrt – zusammen mit dem herbeieilenden Vater Kreon.- Doch nicht genug der Rache: um Jason zutiefst zu treffen, ermordete Medea ihre beiden gemeinsamen Söhne und floh anschließend triumphierend im Wagen ihres Großvaters Helios.
Eine Abtreibung reaktiviert, wie wir in einer kürzlichen Studie feststellten, fast unweigerlich die unbewusste »Medea-Fantasie« (Leuzinger-Bohleber et al. 2008b). Auch Alma hatte vermutlich die Tötung ihres ungeborenen Kindes bisher kaum verarbeitet und lebte partiell in einem dissoziativen Zustand (»Schlafwandlerin«). Erst im Gespräch mit Elisabet findet sie wieder Zugang zu ihren Emotionen und ihrem abgespaltenen Selbstempfinden: Sie kann endlich Trauer und Schuldgefühle direkt emotional erleben. Dies ist ein wichtiger Schritt, um die Dissoziation und die damit verbundene bisherige Spaltung ihres Selbst- und Selbstidealbildes zu überwinden und die traumatischen Erfahrungen und ihre bisher unerträgliche weiblich-mörderische Selbstrepräsentanz in ein reiferes weibliches Identitätsgefühl zu integrieren. Aus psychoanalytischer Sicht ist dieser Identitätsfindungsprozess eine Voraussetzung, damit sich Alma derart treffsicher in Elisabet einfühlen kann und sie dazu befähigt, deren traumatische Geschichte mit ihrer Mutterschaft en detail zu »erraten« und in der Schlüsselszene von Persona zu verbalisieren.
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Wie der Analytiker in einem gelingenden psychoanalytischen Prozess versetzt sie sich empathisch und identifizierend in Elisabet hinein: Die Grenzen zwischen Selbst und Objekt verschwimmen. In ihrem Identifikationsprozess wird sie quasi zu Elisabet – im Traum (oder in Wirklichkeit) übernimmt sie deren Rolle als sexuelle Partnerin und schläft mit ihrem Ehemann, ein weiterer Schritt des »Erratens« des unbewussten Geheimnisses. Persona illustriert in eindrucksvoller Weise, dass bei schwer traumatisierten Patienten das Trauma in der Übertragung wiederbelebt werden muss. Die Reaktivierung des Traumas in der Übertragungssituation überrollt oft den Analytiker zuerst einmal mit unerträglichen Affekten und Fantasien und provoziert auch bei ihm den Wunsch wegzusehen, nicht zu verstehen, das Trauma zu verleugnen statt sich ihm verstehend zuzuwenden. Im besten Fall gelingt es ihm aber schließlich, dank seiner Professionalität (im Gegensatz zu Alma), die Grenzen zwischen sich und dem Analysanden innerlich wieder aufzurichten, die Reaktivierung und die traumatischen Enactments zu entschlüsseln und in der analytischen Situation in Sprache zu fassen. Durch die Verbalisierung trägt er zu einer Symbolisierung und Mentalisierung des Traumas bei: Das Trauma verliert dadurch den Charakter des Unerträglichen, für beide, für den Analysanden, aber auch für den Analytiker. Mir scheint, dass ein solcher Einsichtsprozess in der Schlüsselszene von Persona, die zweimal – aus der Perspektive von Alma und dann auch von Elisabeth – gezeigt wird, filmisch meisterhaft gestaltet ist: Der Zuschauer liest – im Sinne des »embodied memories« – auf dem Gesicht von Elisabeth, in ihren intensiven mimischen (emotionalen) Reaktionen die Spuren der Erinnerungen an das erlittene Trauma und deutet sie als Zeichen der »Wahrheit« der von Alma erzählten Geschichte. Welche Fragmentierungen der erlittenen Traumatisierungen werden durch Alma in ein sinnstiftendes Narrativ9 integriert? Elisabet reagiert – wie eine narzisstische Persönlichkeit – gekränkt auf die Feststellung, dass sie zwar eine fantastische Schauspielerin sei, ihr aber die »mütterliche Wärme« fehle. Sie will sich »warme Mütterlichkeit« um jeden Preis »beschaffen« und beschließt daher, schwanger zu werden. Ihr Kinderwunsch ist daher nicht objektal begründet, d.h. aus der Sehnsucht geboren, ein Kind, ein Gegenüber, ein von ihr unabhängiges Wesen mit einem eigenen, zukünftigen Leben, in Liebe und Sexualität zu zeugen. Der Kinderwunsch ist Teil einer narzisstischen Erweiterung des Selbst. Daher erlebt sie die Veränderung des eigenen Körpers durch die Schwangerschaft und den damit verbundenen Prozess »of no return« als existenzielle Bedrohung ihrer narzisstischen Selbstwertregulation, von Selbst und Identität – als drohender Autonomieverlust. Sie ist gezwungen in die Rolle einer »glücklichen Schwangeren« zu schlüpfen und ihr Geheimnis vor sich und den anderen zu verbergen, dass sie nämlich das werdende Kind hasst und ihm den Tod wünscht. Sie versucht eine Abtreibung, ohne Erfolg. Als das Kind, nach einer schweren, vermutlich traumatischen Geburt gesund auf die Welt kommt, wünscht sie ihm den Tod. Wie im Medea-Mythos dargestellt, erlebt sie sich – im Sinne einer traumatischen, überflutenden Erfahrung – gleichzeitig als Leben spendende Mutter und als potenzielle Kindsmörderin. Eine solche Überflutung mit archaischen Fantasien verbunden mit einer Spaltung der weiblichen Identität nach einer Geburt führt bekanntlich zusammen mit der hormonellen Umstellung zu einer schweren postpartalen Depression oder sogar zu einer postpartalen Psychose, in der Fantasie und Realität zu verschwimmen drohen. Die eigenen mörderischen Impulse werden nach außen projiziert: Oft hören die Frauen in ihrer psychotischen Erkrankung eine wahnhafte Stimme, die sie zwingt, ihr Kind umzubringen. In Persona bleibt unklar, ob Elisabet ebenfalls solche psychotischen Zustände erlebte Sicher ist nur, dass sie nach der Geburt hospitalisiert werden musste und das Kind zu Verwandten gegeben wurde. Diese »Konfliktlösung« scheint vorerst zu einer Beruhigung ihres seelischen Zustandes geführt zu haben: das Kind ist bei einer »genügend guten Ersatzmutter« untergebracht: Elisabet kann zu ihrer
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Das folgende Narrativ ist zugleich ein Versuch, die Krankengeschichte von Elisabet psychoanalytisch zu entschlüsseln.
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(narzisstischen) Selbstentfaltung als Schauspielerin zurückkehren: sie hat das Kind dazu benutzt, sich für ihre Schauspielkunst mit Erfahrung von »Mütterlichkeit« auszustatten, ohne aber Mutter sein zu müssen. Das reale Kind lässt sich aber auf diese Weise nicht oral inkorporieren oder narzisstisch als Selbstobjekt funktionalisieren – es wirbt in rührender Weise um die Liebe und Zuwendung der Mutter – vergeblich. So sehr sich Elisabet um zärtlich, warme Muttergefühle ihrem Sohne gegenüber bemüht: sie empfindet nur Hass und Ekel, Affekte verzweifelter Abgrenzung. Sie erlebt die Beziehung des Sohnes zu ihr als Bedrohung, ja als Zerstörung ihrer narzisstischen Selbstwertregulation und Autonomie, als Grund ihrer depressiven Entleerung. Daher zerreißt sie das Photo ihres Sohnes und verdeckt es zu Beginn der »Schlüsselszene« mit ihren Händen. Während der Elektra-Aufführung wird sie – unerwartet und für sie überwältigend – mit dem ungelösten Konflikt mit ihrem Sohn und den abgespaltenen traumatischen Erfahrungen konfrontiert: Es bleibt offen, ob sie die Rolle von Elektra oder Klytämnestra spielt: Jedenfalls geht es in dieser Tragödie um die Rache an der Mutter, die den Vater von Orest und Elektra, Agamemnon, betrogen und ermordet hat. Doch auch Klytämnestra ist erfüllt von Hass und Racheimpulsen ihren Kindern gegenüber, den Produkten der verhassten Sexualität mit ihrem Gatten. – Elisabet ist daher während der Aufführung mit mörderischen Impulsen im griechischen Mythos konfrontiert – und wird vermutlich beim Spielen plötzlich von analogen, eigenen mörderischen Impulse ihrem Sohn gegenüber überflutet (7 »MedeaFantasie«; Manley 1979, S.133). Die Reaktivierung der traumatischen Erfahrungen während Schwangerschaft und Geburt sowie der damit verbundene (primitive) Bewältigungsversuch, die Spaltungen des Selbst- und Selbstidealbildes, die schwere Dissoziation (sie erlebt keine »echten«, authentischen Gefühle mehr, sondern nur noch »Rollen«) manifestieren sich. Ihre nach der ursprünglichen Krise wieder gewonnene narzisstische Abwehr bricht zusammen: Elisabet fällt aus ihrer Rolle heraus, sie verstummt! Am nächsten Morgen befindet sie sich durch eine schwere Depression paralysiert, in einem dissoziativen, mutistischen Zustand: Das Selbst flüchtet aus der unerträglichen Reaktivierung traumatischer Erfahrungen und archaischen Schuldgefühlen in eine andere Realität Verstummt muss sich Elisabet nicht mehr äußern, wie die Ärztin wohl vermerkt. Elisabet hat aber, wohl unerkannt von der Ärztin, aufgrund unerträglicher Schuldgefühle ihre bisherige Identität als Schauspielerin, Partnerin und Mutter geopfert und dadurch den inneren und äußeren Bezug zu ihrem Selbst und ihrer Identität verloren. Wie der oben erwähnte »Herr X.«, ist sie einer totalen depressiven Leere und Sinnlosigkeit aufgeliefert, fast autistisch abgeschlossen, ohne wirklichen Kontakt zu sich selbst und der Außenwelt: Sie erlebt alles wie durch einen Nebel: Nichts scheint sie mehr zu berühren und zu erreichen: Sie befindet sich im Kokon der Dissoziation und der schweren Depression. Eckhardt-Henn (2008) charakterisiert Dissoziation wie folgt: Die Dissoziation ist ein komplexer psychophysiologischer Prozess, der durch eine teilweise oder völlige Desintegration psychischer Funktionen, wie der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung des Selbst und der Umgebung und der unmittelbaren Empfindungen gekennzeichnet ist. Es handelt sich um eine Störung des Bewusstseins, die vielfältige Formen aufweisen kann. (Eckhardt-Henn 2008 S.145)
Schwer traumatisierte Menschen leben oft jahrelang, zuweilen unbemerkt, in einem solchen dissoziativen Zustand. In der oben erwähnten LAC-Depressionsstudie erstaunt uns, wie häufig die chronisch depressiven Patienten solche dissoziativen Zustände zeigen. Ihre schweren Depressionen sind oft durch erlittene Traumatisierungen wesentlich mitbestimmt.10 Die »kalten«, »toten« Augen, die Alma in ih10 Herr X. z. B. erlitt als 4-jähriges Kind ein schweres Trennungstrauma. Seit fast drei Jahrzehnten lösten Trennungen von Liebespartnerinnen schwere depressive Reaktionen aus. Erst in der Psychoanalyse wurde der Zusammenhang zwischen seiner chronischen Depression und dem unverarbeiteten Trennungstrauma erkennbar.
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rer ersten Begegnung mit Elisabet auffallen, könnten ein Hinweis auf die emotionale Erstarrung, die depressive Leere und die Dissoziation sein: Das Selbst ist ausgewandert, empfindet keine Emotionen mehr, sondern nur noch leeres Funktionieren. Elisabet befindet sich in einem mechanistischen, roboterähnlichen seelischen Zustand. Auf diesem Hintergrund ist plausibel, warum Elisabet sich von den Horrorszenen im Fernsehen angezogen fühlt: Die Selbstverbrennung des buddhistischen Mönchs in Vietnam erinnert sie möglicherweise an die von ihr nicht zu leistende Selbstaufopferung für ihren Sohn; der kleine, um Erbarmen flehende jüdische Junge aus dem Warschauer Ghetto, an ihr eigenes Kind und sein »Betteln um Liebe und Zärtlichkeit«, um sein psychisches Überleben. Aus psychoanalytischer Sicht kann darin ein Selbstheilungsversuch von Elisabet gesehen werden, aus ihrem dissoziativen Zustand auszubrechen und wieder einen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden. Er scheitert Wie wir wissen, können sich schwer traumatisierte Menschen nicht selbst heilen: Sie brauchen eine haltende, »containende« Beziehung zu einem »bedeutungsvollen Anderen«. Meist ist dazu ein professionell ausgebildeter Psychoanalytiker notwendig (Gullestadt 2008). Persona scheint mir wie eine Illustration dieser psychoanalytischen Wahrheit. Alma wird zum »Alter Ego« von Elisabet.In der anfänglichen, von einer positiven Übertragung geprägten Atmosphäre zwischen den beiden, scheint Elisabet, wie sie ihrer Ärztin schreibt, allmählich vorsichtig aus dem quälenden inneren Zustand herauszufinden: Die emotionale Erstarrung löst sich sukzessiv: Ihr Gesicht zeigt wieder Affekte, ihr Körper erlaubt Bewegung, Triebbedürfnisse werden wieder ansatzweise empfunden. Doch wie in einer psychoanalytischen Behandlung wird das Trauma in der aktuellen Beziehung wiederbelebt: Elisabet inszeniert sowohl die sexuelle Nähe zu Alma, die Verschmelzung zum Liebesobjekt und die zärtliche Verführung (die ihr wohl auch die Schwangerschaft ermöglichte, wie ihr Ehemann in dem Brief schreibt, den ihr Alma zögernd vorliest). Alma fühlt sich ihr immer ähnlicher, erzählt ihr ihre Geheimnisse Das Thema Sexualität, Geburt und Abtreibung wird in der Beziehung zwischen ihnen wiederbelebt. Beide, nicht nur Alma, sondern auch Elisabet, erleben die damit verbundenen intensiven Emotionen, Triebwünsche, Verzweiflungen und Trauerrektionen – die Sehnsucht nach zärtlicher und grenzenloser Verschmelzung, des »Sich-Ineinander-Verwandelns«. Alma äußert sogar eine Art Geburtsfantasie: Die Seele von Elisabet soll sich mit ihr verbinden, Alma sich in Elisabet verwandeln:
R »Kann man ein ganz unterschiedlicher Mensch sein und zugleich ganz beieinander? … An dem Abend, als ich deinen Film gesehen habe, stand ich vorm Spiegel und dachte: Wir sehen uns ja ziemlich ähnlich (lacht). Ja, versteh mich nicht falsch. Du bist viel schöner. Eine gewisse Ähnlichkeit haben wir aber irgendwie. – Ich könnte mich wohl schon in dich verwandeln … Und für dich wäre es ja keine Kunst, dich in mich zu verwandeln. Das machst du mit links. Natürlich würde deine Seele überall durchgucken, weil sie zu groß ist, um in mir drin zu sein. Eigenartig würde das aussehen.« (Bergman 2002, S. 320 f.) Doch, wie ebenfalls aus psychoanalytischen Traumabehandlungen bekannt ist, ist es zwar unumgänglich, in einer Therapie zuerst das Vertrauen in ein haltendes Objekt wiederzugewinnen, das durch das Trauma anhaltend verloren ging und die damit verbundenen positiven Affekte wieder zu erleben, aber dies genügt noch nicht für eine therapeutische Veränderung: Auch der Horror und der Schrecken des Traumas muss in der therapeutischen Beziehung wiederbelebt, erlitten, verstanden und durchgearbeitet werden. Vor diesem Hintergrund scheint der unverschlossene Brief wie ein Enactment: Die Enttäuschung und der damit provozierte Hass, die Verzweiflung und endlose Wut von Alma werden unbewusst von Elisabet inszeniert Im Brief schildert Elisabet einerseits durchaus ihr aufkeimendes Vertrauen in Alma: Sie schreibt, dass sich ihre »gebeutelte Seele« endlich aufrichte und dass sie »elementare,
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längst vergessene Empfindungen« wiedergefunden habe. Doch dann bricht die narzisstisch- kalte Seite ihrer Persönlichkeit und ihrer Depression durch: sie studiert Alma wie ein Studienobjekt ihrer Schauspielkunst, »saugt« sie aus, wie später ihr Blut, um sich an ihr zu nähren und ihre innere Leere zu füllen. Die Parallele zu ihrem Kinderwunsch liegt auf der Hand Auch ihre Schwangerschaft diente vor allem dem Auffüllen einer Leerstelle in ihrer Begabung und Ausdrucksmöglichkeit als Schauspielerin Sie sollte sie in ihrer Schauspielkunst um die mütterliche Dimension »perfektionieren«. Alma ist verständlicherweise tief verletzt Sie kommt sich hintergangen und missbraucht vor – wie der Sohn vielleicht später einmal als Adoleszenter. Die folgende Tragödie wird psychoanalytisch verständlich: Die intensive Hilflosigkeit, Ohnmacht, Wut und Verzweiflung wird weder von Alma noch von Elisabet als Teil der Reaktivierung des Traumas erkannt und kann daher auch nicht verstanden und therapeutisch durchgearbeitet werden. Wie die Psychoanalyse in ihrer langen Geschichte selbst schmerzlich entdecken musste, führt zwar die kathartische Wiederbelebung des Traumas in der therapeutischen Beziehung – wie in der »Schlüsselszene« – zu einer gewissen emotionalen Entlastung, doch zu keiner bleibenden therapeutischen Veränderung, falls sie nicht mit einem verstehenden Durchdringen verbunden wird. Im Gegenteil: Eine nicht professionell geführte Wiederbelebung des Traumas in einer Psychotherapie kann sogar zu einer Retraumatisierung und einem Abbruch der Therapie führen. Dies scheint mir in Persona hellsichtig gestaltet: Nachdem die Vampirfantasie, den anderen zum Füllen der inneren Leere und zum eigenen Überleben zu missbrauchen, als Traumszene oder wirklich stattgefundene Interaktion gestaltet wird, indem Elisabet gierig das Blut von Alma aufsaugt11, kommt es zu einem verzweifelten Beziehungsabbruch: Alma kann nur noch um sich schlagen, um sich von der parasitären Elisabet und ihrer symbiotischen Umschlingung zu befreien. Oder an einer anderen Stelle, verzweifelt:
R »Gib mir ein Betäubungsmittel, zerschlag mich, ich kann nicht, kann nicht mehr. Faß mich nicht an, es ist eine Schande, alles eine Schande, nur Fälschung, Lüge. Laß mich, ich bin giftig, faulig, bin kalt und verkommen. Warum darf ich nicht die Besinnung verlieren? Ich habe nicht den Mut.« (Bergman 2002, S. 332) Sie klammert sich an ihre Rolle als Krankenschwester und schreit beschwörend:
R »Ich empfinde nicht wie du, ich denke nicht wie du, ich bin nicht wie du, ich soll dir nur helfen, ich bin Schwester Alma. Ich bin nicht Elisabeth Vogler. Elisabet Vogler, das bist du.« So werden unbewusste Fantasien, etwa die Medea-Fantasie12, von beiden Protagonistinnen unbewusst in ihrer Beziehung reaktiviert und ausagiert: Die abgewehrten Fantasien werden aber nicht in genügend guter Weise therapeutisch verstanden und reflektiert. Daher können sie auch nicht in eine reife weibliche Identität integriert werden, die um die Gefahren einer Regression in die archaische Welt der Heiligen und Hexen, der Lebensspenderinnen und Kindsmörderinnen weiß, d.h. das »primitive« seelischen Niveau eines Kleinkindes, das jeder in seinem Unbewussten in sich trägt, kennt und ansatz-
11 Bergman kommentiert die Szene, in der Elisabet das Blut von Alma aufsaugt: Elisabet sei »ein Unheuer auf Grund der Leere in ihr«, sie habe, »sich ein wenig von Alma ernährt«, um dann weitermachen zu können (zit. nach Sauer 2005, S. 132). Manley (1979) führt aus, dass Bergman damit aber gleichzeitig eines der wichtigsten Themen seiner Werke überhaupt gestaltet: die oralnarzisstische Komponente in Kunstwerken, bzw. in der Beziehung zwischen dem Künstler und seinem Publikum. 12 Übrigens sind auch die Vampir-Fantasien Teil der Medea-Fantasie (das Kind ernährt sich vom Körper der Mutter, der Lebensspenderin, die aber gleichzeitig über seinen Tod entscheiden und – symbolisch oder real – zur Kindesmörderin werden kann).
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weise akzeptiert. Auf diesem Niveau psychischen Funktionieren herrscht das Prinzip der Vereinfachung von Komplexität und führt zu einer rigiden Spaltung zwischen »guten« und »bösen«, »reinen« und »schmutzigen«, »idealen« und »verwerflichen« weiblichen Selbstanteilen.13 Einsichten in solche archaische seelische Zustände in sich bilden bekanntlich eine Voraussetzung, um der unbewussten Welt der Medeas und Kreusas, von Engeln und Teufeln, der Idealwelt und dem »Nichts« zu entfliehen, die unbewussten Fantasien ansatzweise psychisch zu integrieren und in einer reifen Ambivalenz dem eigenen Selbst, dem Liebespartner und den eigenen Kindern gegenüber zu binden. In Persona bleibt es offen, ob Elisabet eine solche psychische Integration wenigstens ansatzweise gelingt und sie ihre Sprache wieder findet, um mit dem »Nichts«, der nicht idealen, hoch ambivalenten Beziehung ihrem Sohn und sich selbst gegenüber, als Schauspielerin und als Frau, leben zu können. So scheint Persona auch als eine Darstellung eines Versuchs der Veränderung der eigenen Identität bei beiden Protagonistinnen. Diese Veränderung ist ein zentrales Thema des menschlichen Lebens. »Wir müssen uns mit dem Anderen unseres Selbst identifizieren, um über uns herauszuwachsen, damit wir bei uns selbst wieder ankommen können« (Emrich 2008, S.47)
Persona: Bergmans »persönlichster Film« und hellsichtige Parabel der Moderne Kiani-Dorff (2007) bezeichnet Persona als den »persönlichsten Film« von Bergman. Wie erwähnt, bezeichnete Bergman ihn selbst als eine Art Selbstheilung, als »Rettung«. Kiani-Dorff betont, dass Persona eine sehr spezifische Bedeutung für seinen Regisseur hatte, was nicht ohne seine Biografie zu verstehen sei (Kiani-Dorff 2007, S.86ff.). Der Film sollte ursprünglich »Kinematograph« heißen, also das Gerät bezeichnen, dessen Kohlenbogenlampe zu Beginn des Filmes angezündet wird und deren Erlöschen sein Ende markiert. Dies hat nun eine wichtige biografische Bedeutung: Bergman hatte sich als Kind inniglichst einen solchen Vorführapparat als Weihnachtsgeschenk gewünscht und war völlig verzweifelt, dass nicht er, sondern sein Bruder ihn geschenkt bekam. In seiner Biografie schreibt Bergman (zit. nach Cowie 1992): Ich fing sofort an zu heulen, wurde angeschnauzt, verschwand unter dem Tisch, wo ich weitertobte. Man sagte mir, ich solle wenigstens den Mund halten. Ich rannte ins Kinderzimmer, fluchte und verdammte, wollte ausreißen, schlief an Ende vor Kummer ein. Das Fest ging weiter. (Bergman zit. nach Cowie 1992, S.21)
Diese Szene steht für viele andere, belastende Erfahrungen seiner Kindheit, die vor allem mit der gravierenden Empathiestörung seiner Eltern für seine kindlichen Bedürfnisse in Zusammenhang standen. Er erinnert sich, wie er – so wie der kleine Junge zu Anfang des Filmes – nach Zeichen der Liebe im Gesicht seiner Mutter suchte. Ich beuge mich über Fotographien aus der Kindheit und studiere durchs Vergrößerungsglas das
13 Im Zusammenhang mit der erwähnten EDIG-Studie haben wir ausführlich diskutiert, wie wichtig es für die Verarbeitung einer Spätabtreibung ist, dass die betroffenen Frauen mithilfe naher Bezugspersonen oder einer professionellen Begleitung die unvermeidliche Reaktivierung dieser archaischen Modalität psychischen Funktionierens verstehen: Eine Spätabtreibung erfordert eine »wirkliche« Ja/Nein-Entscheidung: Man kann sich nur für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft entscheiden. Doch ist es wichtig, daraufhin die Regression auf das archaische Niveau seelischen Funktionierens zu überwinden, um wieder die Komplexität der aktuellen Situation zu erleben und sich nicht »vereinfachend« »nur als Kindesmörderin« zu erleben, sondern als Frau, die in einer tragischen Lebenssituation, in der es keine eindeutig »gute« Lösung gibt, sich aufgrund verantwortungsvoller Überlegungen und reifer Ambivalenzen für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat. Nur durch einen solchen Prozess wird das archaische Selbstbild einer Medea in ein reiferes weibliches Identitätsgefühl integriert.
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Gesicht meiner Mutter, versuche vermoderte Gefühle zu durchdringen … O ja, ich liebte sie, und sie sieht auf dem Bild dort sehr anziehend aus … Mein vierjähriges Herz verzehrte sich in hündischer Liebe … (Bergman zit. nach Cowie 1992, S.7)
Doch die Mutter war unfähig, seine kindliche Liebe zu erwidern. Die Ergebenheit des Kindes störte und irritierte sie, meine Zärtlichkeitsbezeugungen und heftigen Ausbrüche beunruhigten sie. Sie schickte mich oft mit einer kühlen, ironischen Bemerkung weg. Ich weinte vor Wut und Enttäuschung. (Bergman zit. nach Cowie 1992, S. 7)
Persona erscheint daher wie ein Verarbeitungsversuch eigener, vielleicht sogar traumatischer, kindlicher Erfahrungen in einer schweren physischen und psychischen Krise des Regisseurs. Persona ermöglichte Bergman, durch eine Art Selbstanalyse, seine Kreativität wieder zu finden, sich durch den Film »selbst zu retten«. So konnte er anschließend das Gespräch mit seiner alten Mutter suchen, um sich wenigstens ein Stück weit mit ihr vor ihrem Tod auszusöhnen. Doch geht die persönliche Traumaverarbeitung weit über die individuelle Selbstanalyse hinaus: im »Klassiker« Persona ist Bergman ein treffsicherer, tiefgründiger Blick in die Welt der unbewussten Fantasien gelungen, wie ich exemplarisch anhand der »Medea-Fantasie« zu illustrieren versuchte. Persona ist ein großes Kunstwerk, weil darin einerseits ubiquitäre menschliche Fantasien und Konflikte gestaltet sind, die uns seit der Antike unbewusst umtreiben, und für die jede neue Generation ihre eigene Lösung finden muss. Gleichzeitig aber ist der Film in der Tat ein Klassiker der Moderne, eine hellsichtige Parabel für den Verlust von Selbst, Identität und Lebenssinn, von depressiver Entleerung, Versagensangst und Entwurzelung der Menschen heute.
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Originaltitel
Persona
Erscheinungsjahr
1966
Land
Schweden
Buch und Regie
Ingmar Bergman
Hauptdarsteller
Bibi Andersson (Alma), Liv Ullmann (Elisabet Vogler), Margaretha Krook (Ärztin) Gunnar Björnstrand (Herr Vogler)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Wolfgang Schmidbauer
Wer sich in der Liebe verliert Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (ICD-10: F4) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Die Selbstobjektbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Überwindung der Näheangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Soziale Phobie (ICD-10: F40.1)
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Filmplakat Die Braut, die sich nicht traut (Originaltitel: Runaway Bride), USA 1999 Quelle: Cinetext
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Die Braut, die sich nicht traut Maggie Carpenter (Julia Roberts)
Der Gedanke, Die Braut, die sich nicht traut (Originaltitel: Runaway Bride) für einen Aufsatz in diesem Sammelband aufzugreifen, hat eine Vorgeschichte in meiner Praxis als analytischer Paartherapeut. Ich habe dort manchmal Die Braut, die sich nicht traut als Veranschaulichung im Gespräch mit Frauen verwendet, denen die phobische Qualität ihrer Neigung zur Überanpassung an einen Partner nicht bewusst war. Der Film illustriert die Selbstobjektbeziehung als Hintergrund der Näheangst, einer Form der sozialen Phobie (Schmidbauer 1986). Er greift in einer neuen Variante das Thema der Verwandlung eines Menschen durch die Liebe auf.
Die Handlung Vorgeschichte Nach dem Riesenerfolg des Films Pretty Woman hatten Garry Marshall, Julia Roberts und Richard Gere über ein Sequel nachgedacht, dann aber doch beschlossen, keines zu drehen. Stattdessen wählten sie für ihre erneute Zusammenarbeit ein von dem Film Die Braut, die sich nicht traut (. Abb.1) aus dem Jahr 1930 inspiriertes Drehbuch von Josann McGibbon und Sara Parriott.
Skript Der Großstadtzyniker Ike Graham (Richard Gere) schreibt spöttische Kolumnen und Reportagen für die New Yorker Zeitung USA Today; seine Chefin ist seine geschiedene Frau Ellie (Rita Wilson). Er hat seine Träume aufgegeben, ein ernsthafter Schriftsteller zu werden und geht den Weg des geringsten Widerstands und des gesicherten Einkommens. In einem Kneipengespräch erfährt Graham von Maggie Carpenter (Julia Roberts), die in einer Provinzstadt einen Eisenwarenladen führt. Sie ist bereits mehrfach kurz vor der Trauung aus der Kirche geflüchtet (. Abb.2) und hat die jeweiligen Männer zum Gespött gemacht. Graham recherchiert nicht, sondern lässt seine Fantasie spielen und schreibt einen bissigen Artikel, in dem Maggie sehr schlecht wegkommt. Maggie beschwert sich bei der Zeitung und listet 15 sachliche Fehler auf. Die Verlegerin kündigt Ike daraufhin. Sein Chef, Ellies gegenwärtiger Ehemann Fisher (Hector Elizondo), bietet ihm allerdings die Chance zur Rückkehr, wenn er die Hintergründe der geplatzten Hochzeiten recherchiert und einen Bericht darüber verfasst.Also fährt Ike in die Kleinstadt Hale. Er betritt einen Friseursalon, der Maggies Freundin Peggy Flemming (Joan Cusack) gehört, um sich nach der flüchtigen Braut zu erkundigen. Maggie liegt gerade auf dem Boden außer Sicht, um einen Stuhl zu reparieren; Ike erkennt sie nicht und wird von Peggy und Maggie hereingelegt. Sie färben ihm die Haare bunt.Aber so kann Maggie nicht verhindern, dass Ike Bekannte und Verwandte befragt, etwa ihren seit dem Tod seiner Frau alkoholkranken Vater Walter Carpenter (Paul Dooley), ihre Großmutter (Jean Schertler), ihren Verlobten, den Baseball-Coach Bob Kelly (Christopher Meloni) und die drei Männer, die sie vor dem Traualtar hat stehen lassen. Später bricht Maggie in Grahams Zimmer im Hotel ein; sie ist ja Schlosserin. Sie stiehlt neben seinen Aufzeichnungen eine Kassette mit seiner Lieblingsmusik. Dabei wird sie von Graham ertappt und flieht durch das Fenster. Am nächsten Tag kommt Maggie ins Hotel, weckt Graham und bietet ihm Kooperation gegen Bezahlung. Maggies Großmutter erzählt Graham, dass Maggie sich vor der »einäugigen Schlange« fürchte und deshalb die Hochzeiten platzen lasse. Maggie korrigiert, dass sie diese
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. Abb. 2 »The Runaway Bride!«; Eingangssequenz des Films mit Julia Roberts, Quelle: Cinetext
Schlange bereits kenne. Sie schenkt Graham eine Schallplatte seines Lieblingsmusikers, er hilft ihr, den betrunkenen Vater abzuholen und versichert ihr, dass er nichts über Walters Alkoholproblem schreiben werde. In Maggies Haus entdeckt Graham, dass in Maggie mehr steckt als eine Verkäuferin von Schrauben und Werkzeug. Sie macht Metallplastiken aus Industrieabfällen. Er versucht, sie zu überzeugen, ihre Plastiken zu vermarkten. Bei seinen Gesprächen mit Maggies vier Verlobten hat Ike festgestellt, dass jeder von ihnen glaubt, Maggie möge ihr Frühstückseier genau wie er: gekocht, pochiert, als Rührei bzw. im Glas. Dieses Detail wird zum Symbol für Maggies Neigung, für jeden ihrer Verlobten genau die Traumfrau zu sein, die sich dieser gewünscht hat. Ike versucht Maggie, diese Dynamik zu erklären; sie will davon aber nichts wissen und wirft ihm vor, er verstecke sich immer hinter Geschichten über andere Leute. Vor der Hochzeit findet eine Party statt, bei der sich Maggies Vater und andere Gäste über sie und ihre abgebrochenen Hochzeiten lustig machen. Graham verteidigt sie ritterlich; ihr in eine Sportdiskussion vertiefter Verlobter Kelly merkt nichts von alledem.Maggie besteht auf einer Probe der Hochzeitsfeier in der Kirche, um ihre Psyche auf den Gang zum Altar vorzubereiten. Graham übernimmt zuerst die Rolle des Priesters, muss aber in die Rolle des Bräutigams wechseln, weil Kelly die Regie übernimmt und den Priester spielt, der dem Bräutigam erlaubt, die Braut zu küssen. Der Kuss wird leidenschaftlich . Kelly versetzt Graham einen Faustschlag und stürmt aus der Kirche. Das Motiv der flüchtenden Braut hat sich umgedreht – jetzt ist es der Bräutigam, der vor der Hochzeit davonläuft. Maggie und Graham beschließen zu heiraten. Die Hochzeit wird zum Medienereignis. Als Maggie am Altar angelangt ist, macht ihr Vater Walter ein Foto. Das Blitzlicht blendet Maggie, sie verliert den Augenkontakt mit Ike, gerät in Panik und flüchtet.Ike Graham geht blamiert nach New York zurück. Er schreibt jetzt ernsthaft. Maggie überrascht ihn in seinem Einsiedlerleben; kurz zuvor hat Ike Maggies Kunstwerke in einem Schaufenster gesehen. Die ängstliche Braut hat über sich nachgedacht. Sie hat
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ihren eigenen Geschmack entdeckt, nicht nur, was Frühstückseier angeht, und schenkt dem widerstrebenden Ike jetzt ihre Laufschuhe. Dann wirbt sie auf Knien um ihn, mit genau jenen Worten, die Ike ironisch als Beispiel für die »richtige« Werbung um eine Frau ausgesprochen hat:
R »Ich garantiere, es werden auch schlimme Zeiten kommen, und ich garantiere, es kommt vor, dass einer von uns oder wir beide unbedingt aus dieser Sache raus will, aber ich garantiere auch, wenn ich dich nicht um deine Hand bitte, dann bereue ich das für den Rest meines Lebens, denn ich weiß in meinem Herzen, du bist der einzige für mich.« Zur sozialen Phobie Als soziale Phobie werden irrationale, starke Angstzustände bezeichnet, die durch Beziehungen zu anderen Personen geprägt werden, – sei es in der Form von Abhängigkeit, sei es in der von Vermeidung. Menschen mit sozialer Phobie meiden gesellschaftliche Zusammenkünfte, wo sie fürchten, Erwartungen anderer nicht zu erfüllen. Sie fürchten, dass ihnen ihre Nervosität oder Angst angesehen werden könnte, was ihre Angst oftmals noch weiter verstärkt. Begleitet wird die Angst oft durch körperliche Symptome wie Erröten (Erythrophobie), Zittern, Herzrasen, Schwitzen, Atemnot, Stottern, Kopf- und Magenschmerzen, Durchfall, und Harndrang (mit Ängsten, nicht rechtzeitig zur Toilette zu kommen) und Übelkeit. Um das zu vermeiden, gehen Menschen mit sozialen Ängsten Situationen, in denen sie der Bewertung durch andere ausgesetzt sind, aus dem Weg. So schränken sie eigene Entwicklungsmöglichkeiten ein. Viele Betroffene erkranken zusätzlich an einer Depression oder werden abhängig von Alkohol, Drogen oder Medikamenten, die ihre Ängste betäuben, aber auch Scham- und Schuldgefühle wecken. Nach Schätzungen leiden zwischen 2 und 15% der Bevölkerung unter krankhaften sozialen Ängsten. Diese Schwankungen erklären sich aus unterschiedlichen Kriterien über den Unterschied zwischen der sozialen Phobie und der noch normalen Schüchternheit
Die Selbstobjektbeziehung Verena Stefan hat in Häutungen, einem Bestseller der 1970er Jahre, die weibliche Überanpassung in der Selbstobjektbeziehung beschrieben: Der eine küsste leidenschaftlich und will, so dass ich Zähne spürte, nichts als Zähne – Und ich küsste Leidenschaftlich und wild. Der andere küsste sanft und fand alles andere unreif und unerwachsen – Und ich küsste sanft und unerwachsen … Der eine wollte die ganze Nacht durchmachen, der andere konnte nur einmal – Und ich machte die ganze Nacht durch oder konnte nur einmal. Der eine wollte sich immer genital vereinigen, der andere fand es nicht so wichtig – Und ich vereinigte mich immer genital oder fand es nicht so wichtig. (Stefan 1975, S. 42)
In dem feministischen Text Stefans ist die Lösung dieses Dilemmas die Homosexualität, denn ich erfahre etwas über mich selber, wenn ich mit einer anderen Frau zusammen bin. Mit einem Mann erfahre ich nur, dass ich anders bin und dass mein Körper für ihn da sein soll, nicht aber, wie mein Körper wirklich ist. (Stefan 1975, S. 84)
Was Stefan hier beschreibt, ist eine Hemmung der menschlichen Neugieraktivität durch Angst vor dem Fremden. Die Frau erforscht den Mann nicht, sondern ignoriert eigene Wünsche und wird deshalb von
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den seinen überwältigt. Maggie ist, so lange sie sich nicht festlegen muss, eine überoptimale Frau, eine Frau, von der Männer nur träumen können, die alle ihre Wünsche errät und verkörpert. Die im 19. Jahrhundert entwickelte Theorie, dass die »Hysterie« der Frau ihr Gegenstück in der männlichen »Hypochondrie« hat, hängt damit zusammen, dass für Frauen aufgrund biologischer und kultureller Einflüsse sexuelle Beziehungen die zentralen Fantasien über den Gewinn von Austausch und Schutz prägen. Für Männer stehen die körperliche Stärke und Dominanz im Mittelpunkt. Die in der Moderne entstandene Notwendigkeit, sich für oder gegen enge Beziehungen zu entscheiden, hat sicher zu dem enormen Anwachsen hysterischer Inszenierungen und Ängste bei beiden Geschlechtern geführt. Solange das nicht möglich und daher auch nicht nötig war, scheiterten Männer und Frauen oft genug an der praktischen Bewältigung ihres Lebens, konnten sich nicht vor Hunger und Kälte schützen, fielen einem Stärkeren zum Opfer. Aber jenes exemplarische Scheitern an einer Entscheidung, wie es die Hysterie charakterisiert, war doch selten und – wie Hamlets Zögern – ein Privileg der oberen Schichten. Das gleiche galt für den Rückzug aus der Realität in körperliche Symptome.Dass die Hysterie mit diesem Entscheidungsdruck zusammenhängt, dokumentiert häufig der Verlauf: Sobald dieser Druck nachlässt, wie bei Bertha Pappenheim (Freuds Anna O.), nachdem sie das Heiratsalter verlassen hatte, verschwinden die dramatischen Symptome und geben Raum für eine neue Lebensgestaltung. Hysterie heißt, dass Männer und Frauen von Ängsten gepeinigt sind, ihre Geschlechtsrolle anders zu spielen als überoptimal, dass sie nicht ausreichend auf ihren Körper und ihre Wünsche vertrauen können, dass sie Anlehnung suchen und, weil sie diese suchen, auch eine überoptimale Anlehnung bieten. Ein ebenso ironisches wie illustratives Spiel über dieses Thema ist der Film Some like it hot von Billy Wilder, in dem ein Saxofonspieler den reichen Erben spielt, um eine Blondine zu verführen, die sich darüber beklagt, dass sie immer statt der reichen Erben einen Saxofonspieler erwischt, während der echte reiche Erbe – ein Muttersöhnchen – die Liebe seines Lebens in einem als Frau verkleideten Mann findet. Selbst die erotische Begegnung wird zum überoptimalen Spiel: Marilyn Monroe hat die Aufgabe, diesen reichen Erben, der keiner ist, von einer Impotenz zu kurieren, die er nicht hat.Diese Hysterie führt Männer und Frauen dazu, nicht Männer und Frauen zu sein, sondern zu beweisen, dass sie es sind. Daher ihre engen Beziehungen zur Verführung: im Akt der Eroberung vollzieht sich auch der Beweis; im Genuss geht er schon wieder verloren. Eine verletzte und überforderte Regulation des Selbstgefühls sucht sich durch Anlehnung zu heilen. Das Objekt dieser Anlehnung wird bewundert und überschätzt. Sobald sich herausstellt, dass es zu diesem Zweck nicht taugt, wird es fallen gelassen und entwertet. In Die Braut, die sich nicht traut ist dieses für die Näheangst charakteristische Kippen vom idealisierten zum entwerteten Objekt in der Szene der Hochzeit verschlüsselt. Ike Graham, der seine männliche Hysterie (Schmidbauer 1999) in einer sarkastischen Kritik weiblicher Unberechenbarkeit verbirgt, beginnt mit Maggies Entwertung und endet im ersten Höhepunkt des Films in ihrer Idealisierung. Bei Maggie ist es umgekehrt. Die Begegnung mit dem ersten Mann, der ihre Ängste versteht, verwirrt sie und führt nach einer letzten Intensivierung ihrer Angst dazu, dass sie ihre schlummernde Autonomie und Kreativität freisetzen kann.Die Aufwertung durch den Beweis, männlicher oder weiblicher zu sein als jene, die nichts beweisen können oder wollen, ist eine Art Schutzschicht und wurzelt in einer verlängerten Abhängigkeit von Elternbildern. Der hysterische Mann sucht aus dem Augenwinkel immer noch das Leuchten im Auge der Mutter, die ihm beteuert, dass er der einzige Mann ist, der ihr Eindruck macht. Graham ist ein solcher Mann. Sein Versuch, eine Braut zu halten, die drei Männern vor ihm davongelaufen ist, erinnert an den Männertraums von der Rettung einer Hure, der in Pretty Woman ihren modernen Ausdruck gefunden hat. Freud hat ihn in seinen Beiträgen zur Psychologie des Liebeslebens beschrieben (Freud 1910).Was die Hysterie oft schwer durchschaubar macht, ist die Tatsache, dass die Dynamik der narzisstischen Spende kein individuelles Geschehen, sondern eine Interaktion ist.
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Die Geschichte der Hysterie ist eine Geschichte der Delegation; in der modernen, individualisierten Gesellschaft wiederholen sich solche Delegationen auf zahlreichen Schauplätzen. Jedes Trauma behindert die Autonomieentwicklung. Maggie hat ihre Mutter verloren, ihr Vater ist ein Trinker. Gleichzeitig setzt ein solches Trauma immer auch Versuche in Gang, durch Kontakt mit anderen und besonders intensive Beziehungen die Verletzungen zu heilen. Damit wird die Grenze zu anderen Personen durchlässig. Es ist nicht möglich, sich ihnen vorsichtig und mit einem Empfinden zu nähern, die eigene Kontur zu behalten. Die Angst vor Nähe wurzelt in der Sehnsucht nach Verschmelzung. Wer an einer sozialen Phobie leidet, gleicht dem Hungerkünstler Kafkas insofern, als er Kontakte nicht ablehnt – er sehnt sich sogar sehr nach ihnen. Nur fällt es ihm schwer, jene Kontakte zu finden, von denen er sicher ist, sie zu ertragen. Angstpatienten unterwerfen oft ihr Leben dem Ziel, eine andere Person zu kontrollieren. Sie erfüllt die Funktion einer Plombe, die das verletzte Ich stabilisiert. Nicht selten setzt ein Versagen dieser Funktion so heftige Reaktionen frei, dass die Betroffenen nicht mehr weiterleben wollen. In Die Braut, die sich nicht traut ist diese Angst sozusagen prophylaktisch verarbeitet. Indem die Braut flieht, begegnet sie radikal allen Gefahren, selbst verlassen zu werden. Sie macht aus drohender Passivität Aktivität – wie das Kind, das mit seiner Garnrolle den Verlust der Mutter aktiv bewältigt (Freud 1920) Diese Angst ist die Reaktion auf eine unbewusste narzisstische Wut, welche das Objekt zerstören könnte, von dem sich die Betroffenen derart abhängig fühlen. Der Teufelskreis der Näheangst entfaltet sich so, dass die Abhängigkeit frustrierende Einschränkungen bis zum Identitätsverlust auferlegt. So entstehen Wutfantasien, das einschränkende Objekt zu zerstören, welche ihrerseits die Abhängigkeit steigern und dazu führen, dass es um jeden Preis kontrolliert werden muss, weil es sich sonst im Handumdrehen auflöst. Die Abhängigkeit führt in die Wut und die Wut verstärkt die Abhängigkeit.Maggie erlebt nur ihre Wehrlosigkeit und Panik; dass ihre Flucht angesichts der Hochzeitsgäste ein Schlag ins Gesicht der männlichen Eitelkeit ist, dämmert ihr erst nach ihrer Begegnung mit Ike.Die Sehnsucht nach Selbstobjekten teilen alle Menschen; sie äußert sich in der Bereitschaft, sich zu verlieben. Was die Ängste bei einer narzisstischen Störung von denen der reifen Persönlichkeit unterscheidet, ist die Unfähigkeit der Betroffenen, die Enttäuschung dieser Sehnsucht zu verarbeiten und in ihr handlungsfähig zu bleiben, um sich das anfangs idealisierte Liebesobjekt im Alltag zu bewahren. Wer mit den zwangsläufigen Kränkungen im Zusammenhang mit dieser Sehnsucht nach dem Selbstobjekt fertig wird, fühlt sich in andere Personen ein und orientiert sich an der sozialen Realität. So wird die Erfahrung ertragen, dass sich die Gegenstände unserer Verliebtheit verändern, dass sie weder so sind, wie wir sie haben möchten, noch so werden, wie wir sie brauchen, aber dennoch mit uns ebenso in einen liebevollen Austausch treten können wie wir mit ihnen. Die Hochzeitsformel von Ike und Maggie steht für diese Qualität; die Flucht der Braut für den jähen Wechsel von der Idealisierung zur Entwertung. Narzisstisch gestörte Menschen ertragen es nicht, wenn sich eine idealisierte Beziehung verändert. Sie fühlen sich massiv bedroht und vermögen dann oft nicht mehr, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen – zu mächtig sind ihre Bedürfnisse, die drohende Veränderung eines Selbstobjekts auszulöschen. Ihre Perspektive ist verengt, während der gesunde Narzissmus der zweiten Liebe eine bessere Chance einräumt als der ersten: hat das Ich doch aus deren Scheitern gelernt. 3 1 »Weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Franz Kafka, Der Hungerkünstler. 2 In seiner Arbeit »Jenseits des Lustprinzips« (1920) berichtet Freud, wie sein Enkelkind Ernst eine Garnrolle über sein Bettchen warf, bis sie verschwand, was er mit bedauerndem »o-o-o« begleitete. Dann zog er sich am Faden wieder zurück und begrüßte ihr Erscheinen mit einem freudigen »Da«: Das Kind hatte Verschwinden und Wiederkommen der Mutter, ein schmerzliches Trennungserlebnis, im Spiel bewältigt. 3 In einem italienischen Lied heißt das: »Quant è bello il primo amor – il secondo più bello ancor!« – Wie schön die erste Liebe doch, schöner ist die zweite noch!
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Hier einige typische Wege, mit der Problematik der Selbstobjektbeziehung umzugehen:
Pygmalion und Griseldis E Der Pygmalion-Typus (Schmidbauer 1980) formt eine andere Person so, dass sie seine Ansprüche
erfüllt. Pygmalion ist in der Überlieferung von Ovid ein Bildhauer auf Zypern, der – da ihm keine reale Frau genügt – eine ideale Schönheit aus Elfenbein schnitzt und sich leidenschaftlich in sie verliebt. Aphrodite verwandelt schließlich aus Mitleid die Statue in eine lebende Frau, die Pygmalion heiratet und mit der er einen Sohn (Paphos) zeugt. E Der Griseldis-Typus (Schmidbauer 2005) formt sich selbst zu einer Bezugsperson, die alle eigenen Ansprüche und Wünsche opfert. Nach Boccaccio (1348) muss der Markgraf Gualteri von Saluzzo gegen seinen Willen heiraten, weil seine Untertanen es fordern. Er nimmt die arme Bauerntochter Griselda, weil sie bereit ist, sich allen seinen Wünschen zu unterwerfen. Dann prüft er ihren Gehorsam, indem er ihr nacheinander die beiden von ihr geborenen Kinder wegnimmt und sich schließlich nach 15-jähriger Ehe verstößt und zwingt, seine neue Frau beim Hochzeitsessen zu bedienen. Erst als Griseldis dies alles bereitwillig tut, darf sie zum Staunen des Hofes erfahren, dass die vermeintliche Braut ihre in der Ferne aufgezogene Tochter ist: jetzt wird die Mutter wieder als Gräfin eingesetzt. E Der Fantasie-Typus meidet reale Beziehungen, weil er sich den Risiken nicht aussetzen kann, dass die idealisierten Selbstobjekte sich verändern, ihn verlassen, ihn kränken. Er verlegt häufig die Kränkung vor die Beziehung - die real möglichen Partner sind unerotisch, hässlich, zu alt, zu jung, es wäre ein extremer Abstieg, ein grausames Sich-Begnügen, sich auf eine Beziehung einzulassen. Von Freud wissen wir aus den »Brautbriefen«, dass er viel vom Pygmalion-Typus hatte. Er versuchte mit manchmal tyrannischer Energie, in das Leben seiner Verlobten einzugreifen und sie nach seinem Bild zu formen. Aber diese Stürme legten sich, und die beiden fanden ihren Weg in einen alltagstauglichen Austausch. Umgekehrt wird der Satz: »Ich dachte, meine Ehe sei gut, bis meine Frau mir sagte, wie sie sich fühlt« (Napier 1995), von Männern gesprochen, deren Frau die »Griseldis« gespielt hat.Fantasien von idealen Partnern schließlich können durch Druck der Umstände oder Ängste vor dem Verlust wesentlicher Chancen (eigene Kinder) so weit aufgegeben werden, dass neben ihnen eine reale Beziehung möglich wird, oft ohne dass der Traum ganz verschwindet. Die Behandlung von Menschen, die lange Zeit mit fantasierten Selbstobjekten ihre narzisstische Störung kompensiert haben, ist deshalb so schwierig, weil sie meist erst dann aufgesucht wird, wenn sich die Lebensperspektive bereits dramatisch reduziert hat. Mit 25 und 35 Jahren sagen sich die Betroffenen noch, sie hätten eben den Richtigen noch nicht gefunden, es sei noch Zeit.
Die Überwindung der Näheangst In ihrem erotischen Verhalten gleichen Personen mit Näheangst dem Scheinriesen, den Michael Ende in einem seiner Bücher (Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer) beschrieben hat. Aus der Ferne ungeheuerlich und bedrohlich, schrumpft der Scheinriese, je mehr man sich nähert und wird schließlich zum ängstlichen Zwerg. Ähnlich sind die Betroffenen aus der Ferne oft femininer oder maskuliner als durchschnittliche Menschen, doch hält dieser Eindruck nicht, was er verspricht. Der Porschefahrer, der im riskanten Überholmanöver keine Miene verzieht, gesteht der Frau, die ihn endlich zu einem Kuschelwochenende überredet hat, dass er unter vorzeitiger Ejakulation leidet und seit Jahren nur mit Prostituierten geschlafen hat, weil er von diesen keine Vorwürfe befürchtet. Die aufregende Blondine, die mit wiegendem Gang und tiefem Ausschnitt die Blicke der Männer im Restaurant an sich gerissen hat, gesteht in einer zugänglichen Stunde, dass sie bisher nur einen Orgasmus
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hatte, wenn sie mit sich allein war; Männer lenken sie zu sehr von ihren eigenen Empfindungen ab.Ike und Maggie sind ein erfrischendes Beispiel dafür, dass es möglich ist, solche Ängste zu überwinden. Beide stellen sich seelischen Gefahren, die sie bisher vermieden haben. Der zynische Journalist und die flüchtige Braut wagen die Begegnung mit der drohenden Blamage, die in der Authentizität steckt.
Literatur Boccaccio G (1348) Il Decamerone Novellensammlung, Div Verlage. Ein Lobwirdige Hystory von der demütigen und gehorsammen Frauw Gryselde erschien als deutsche Übersetzung zuerst 1520 in Straßburg Freud S (1909) Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens: I. Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne. In: GW Bd 8; Fischer, Frankfurt am Main Freud S (1910) Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens, Studienausgabe. Fischer, Frankfurt 2000, Bd 5 Freud S (1920) Jenseits des Lustprinzips. In: Ges. W. Bd. XIII Kafka F (1924) Der Hungerkünstler. Die Schmiede, Berlin Napier AY (1995) Ich dachte, meine Ehe sei gut, bis meine Frau mir sagte, wie sie sich fühlt. Goldmann, München Schmidbauer W (1980) Alles oder nichts. Über die Destruktivität von Idealen. Rowohlt, Reinbek, 7.Aufl. 2003 Schmidbauer W (1986) Die Angst vor Nähe, Rowohlt, Reinbek Schmidbauer W (1999) Der hysterische Mann. Fischer, Frankfurt Schmidbauer W (2005) Die Rache der Liebenden. Rowohlt, Reinbek Stangier U, Clark D M, Ehlers A (2006) Soziale Phobie, Reihe »Fortschritte der Psychotherapie«. Hogrefe, Göttingen Stefan V (1975) Häutungen. Frauenoffensive, München
Originaltitel
Runaway Bride
Erscheinungsjahr
1999
Land
USA
Drehbuch
Josann McGibbon Sara Parriott
Regie
Garry Marshall
Hauptdarsteller
Julia Roberts (Maggie Carpenter ), Richard Gere (Ike Graham)
Verfügbarkeit
DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Simone Salzer und Eric Leibing
So gut es eben geht Zwangsstörung (ICD-10: F42) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Symptomatik und diagnostische Einordnung nach ICD-10 . . . 138 Zur Krankheitsentstehung und Aufrechterhaltung . . . . . . . . . . . 140 Eine Frage bleibt: Ging es wirklich nicht besser? . . . . . . . . . . . . . 141 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
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Filmplakat Besser geht’s nicht (Originaltitel: As good as it gets), USA 1997 Quelle: Cinetext
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Besser geht’s nicht Melvin Udall (Jack Nicholson)
Der Originaltitel der US-Komödie As good as it gets (. Abb. 1), in der deutschen Fassung Besser geht’s nicht, wäre wohl noch treffender übersetzt worden als: »So gut es eben geht«. Bereits der Titel spielt nämlich auf den charakteristischen Perfektionismus von Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstruktur an. Gleichzeitig erinnert er daran, dass vieles nur gelingen kann, so gut es eben geht und verweist damit ganz allgemein auch auf die menschliche Begrenztheit.
Die Handlung Im Zentrum des Films steht der zwangskranke Melvin Udall, ein erfolgreicher New Yorker Schriftsteller. Der Inhalt des nach Hollywoodart gedrehten Films ist schnell erzählt: Angelegt ist er als Liebesgeschichte zwischen Melvin und der liebenswürdigen Kellnerin Carol Conelly, sympathisch gespielt von Helen Hunt. Der Protagonist Melvin ist homophob, misogyn, rassistisch und antisemitisch, und obendrein auch noch ein Hundehasser, kurz: ein Misanthrop und Arschloch – wie immer beinah erschreckend überzeugend dargestellt von Jack Nicholson. Melvin lebt zurückgezogen in seinem Appartement in Greenwich Village, seine Kontakte dort beschränken sich auf feindselige Interaktionen mit seinen Nachbarn. So lässt er gleich zu Beginn des Films den geliebten Hund seines Nachbarn Simon im Müllschlucker verschwinden. Zu seinen festen Ritualen gehört auch der regelmäßige Besuch in einem kleinen Lokal, wo er täglich sein Essen einnimmt. Dort ist die Kellnerin Carol für ihn »zuständig«, da Melvin alle anderen Mitarbeiter durch sein unmögliches Benehmen vergrault hat und nur Carol mit ihm zurechtkommt. Die Situation im Restaurant eskaliert, als Carol eines Tages nicht mehr dort arbeitet: Melvin benimmt sich wieder einmal völlig daneben und bekommt Lokalverbot. Er erfährt noch, dass Carol sich einen näher gelegenen Arbeitsplatz suchen will, um ihren Asthma kranken Sohn Spencer besser versorgen zu können. Melvin kann ihre Adresse ausfindig machen und schlägt ihr ein Angebot vor: Er übernehme die Arztkosten für die Behandlung des Sohnes, wenn Carol wieder in das Lokal zurückkehre und ihm wieder jeden Tag sein Essen bringe (. Abb. 2) Der zweite Handlungsstrang dreht sich um Melvins schwulen Nachbarn Simon (Greg Kinnear), ein Kunstmaler, der von einem angeheuerten Modell und dessen Komplizen überfallen, ausgeraubt und brutal zusammengeschlagen wird. Simons Manager Frank (Cuba Gooding jr.) nötigt Melvin, sich in der Zeit von Simons Krankenhausaufenthalt um dessen Hund Verdell zu kümmern. Frank ist die einzige Person, von der sich Melvin einschüchtern lässt. Nach der Aktion mit dem Hund und dem Müllschlucker hatte Frank ihm damals massiv gedroht und Melvin verpflichtet, dieses Vergehen irgendwann wieder gutzumachen. Darum willigt dieser nun zähneknirschend ein, für den Hund zu sorgen Später dann wird Melvin von Frank gebeten, den gesundheitlich und finanziell völlig am Boden zerstörten Simon zu dessen Eltern nach Baltimore zu chauffieren. Melvin, der sich mittlerweile mehr und mehr zu Carol hingezogen fühlt, kann sie dazu überreden, mitzufahren. Also unternimmt das schräge Trio einen gemeinsamen Ausflug, bei dem sich Simon und Carol kennenlernen und anfreunden. Ein romantisches Abendessen von Melvin und Carol aber endet im Fiasko, weil es Melvin nicht gelingt, sich charmant oder gar liebenswürdig zu verhalten.
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So gut es eben geht
. Abb. 2 »Ihretwegen möchte ich ein besserer Mensch werden!« – Szene mit Helen Hunt und Jack Nicholson Quelle: Cinetext
Wieder zurück in New York springt Melvin einmal mehr über seinen Schatten und lässt Simon, der mittlerweile sogar sein Appartement verloren hat, bei sich einziehen. Simon ist es dann auch, der Melvin dazu ermutigt, um Carol zu kämpfen und ihr seine Gefühle zu gestehen. Was folgt, ist ein Happy End, bei dem die beiden – trotz Melvins seltsamer Eigenheiten – dann doch noch zusammenfinden.
Symptomatik und diagnostische Einordnung nach ICD-10 Zwangssymptome bei Melvin Der Film kann durchaus gut didaktisch genutzt werden, da anhand der Figur Melvin zahlreiche Symptome einer Zwangsstörung anschaulich gezeigt werden. So demonstriert Melvin eine Vielzahl von Zwangshandlungen. Seine Haustür muss er mehrfach hintereinander abschließen und dabei laut mitzählen. Ebenso muss er seine Hände mehrfach hintereinander mit sehr heißem Wasser waschen und dabei mehrere Seifenstücke verwenden, die Seife landet nach jedem einzelnen »Waschgang« sofort im Mülleimer. Auf dem Bürgersteig muss Melvin ein bestimmtes Laufmuster auf den Gehwegplatten einhalten, darf manche nicht betreten und tänzelt so recht auffällig durch die Straßen, wobei er dort auch die Berührung mit seinen Mitmenschen vermeidet. Sehr komisch ist übrigens eine Szene, in der sich der kleine Pinscher Verdell seinem Interimspfleger so gut anpasst, dass er sogar dessen Zickzack-Kurs über die Gehwegplatten imitiert und mit Melvin um die Wette trippelt. Türklinken fasst Melvin nicht mit den Händen an, er versucht stattdessen, sie mit dem bekleideten Ellenbogen zu öffnen. Ins Restaurant bringt Melvin sein eigenes Plastikwegwerfbesteck mit (eine Reservegarnitur hat er natürlich auch noch im Jackett), das von niemandem berührt werden darf und das er vor dem Essen mehrfach zurechtlegt und dessen Position korrigiert.
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Neben den Zwangssymptomen wird die Zwanghaftigkeit von Melvin in vielen Kleinigkeiten deutlich: In seiner Wohnung hat alles seine Ordnung, Wasserflaschen stehen griffbereit parat und sind korrekt aufgereiht. Seinen Koffer packt er überaus genau und mit System, die Musik-CDs für die Fahrt sind penibel beschriftet und denkbaren Situationen und Stimmungen thematisch zugeordnet. Melvin zeigt also eindeutig Zwangssymptome in Form von Zwangshandlungen (Kontroll-, Zähl- und Ordnungszwänge), Zwangsgedanken können vermutet werden, sind filmisch aber nicht eindeutig dargestellt. Für die Vergabe der Diagnose Zwangsstörung (F42 nach ICD-10; WHO 1993) ist wichtig, dass die Zwangssymptome regelmäßig und über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen auftreten und die Betroffenen diese Gedanken/Handlungen als von sich selbst ausgehend erleben. Es findet eine stereotype Wiederholung statt, die auch nicht unterlassen werden kann, obwohl die Betroffenen diese Gedanken/Handlungen selbst für übertrieben halten. Das Ausführen der Handlungen ist den Betroffenen nicht angenehm. Ein weiteres Kriterium nach ICD-10 ist ein bestehender Leidensdruck und die Beeinträchtigung der Betroffenen in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit durch ihre Zwänge.Eher untypisch an Melvins Verhalten ist, dass er seine Zwangshandlungen ganz offen vor anderen durchführt; meist werden diese eher als beschämend erlebt und daher von den Betroffenen auch zu verheimlichen versucht.
Melvin und die Anderen: Persönlichkeit und interaktionelles Verhalten Melvins Umgang mit anderen ist es auch, der zu weiteren differenzialdiagnostischen Überlegungen führt. Bereits zu Beginn des Films bringt Simon hierzu eine Besonderheit von Melvin auf den Punkt, wenn er sagt:
R »Sie lieben überhaupt nichts, Mr. Udall!« Er betont damit Melvins interaktionelle Schwierigkeiten, sich auf andere liebevoll zu beziehen. Man bekommt schnell den Eindruck, dass Melvin viele seiner auffälligen Verhaltens- und Erlebensweisen als zu ihm gehörig (Ich-synton) erlebt, er also weniger selbst darunter leidet, dafür umso mehr sein menschliches Umfeld. Dies kann als Hinweis darauf gesehen werden, dass Melvin auch eine Persönlichkeitsstörung aufweist. Charakteristisch für eine zwanghafte (anankastische) Persönlichkeitsstörung (F60.5 nach ICD-10; WHO 1993) sind Melvins Rigidität, seine Angst vor Neuem und vor Veränderung, sein Vorausplanen und damit einhergehend Entscheidungsschwierigkeiten und Angst vor Spontaneität. Perfektionismus, hohe Leistungsmotivation und eine eingeschränkte Genussfähigkeit sind weitere typische Merkmale. Als häufigste Abwehrmechanismen (Doering u. Schüßler 2004) bei dieser Persönlichkeitsstörung finden sich vor allem die Affektisolierung, Rationalisierung und Intellektualisierung, womit im zwischenmenschlichen Kontakt auch Gefühle von Nähe, Verbundenheit und Liebesgefühle abgewehrt werden und eine befürchtete Gefühlsüberflutung verhindert werden soll. Eher untypisch ist die Tatsache, dass Melvin enorm produktiv ist; es gelingt ihm, einen Roman nach dem anderen fertigzustellen. Charakteristischer für Menschen mit ausgeprägt zwanghafter Persönlichkeitsstruktur ist es, dass die Fertigstellung von Projekten und Aufgaben aufgrund von überhöhten Ansprüchen und Pedanterie trotz hoher Leistungsmotivation häufig nicht gelingt. Obwohl sich Melvin zu Beginn des Films vor dem Hund Verdell eher ekelt, genießt er später den Kontakt mit ihm und kümmert sich liebevoll und dauerhaft um den kleinen Vierbeiner. Es zeigt sich, dass er durchaus zu einer freundlichen und bezogenen Interaktion fähig ist und es ihm Freude macht, vom Hund »gemocht« zu werden. Dass Melvin auch zarte, weiche Seiten hat, lässt ferner sein Schreiben vermuten. In seinen schwülstigen Liebesromanen wird seine Sehnsucht nach Nähe und Vertrautheit deutlich, auch wenn hier in gewohnter Hollywoodmanier extrem überzeichnet wird und damit aus der individuellen Not wieder eher eine komische Note wird.
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So gut es eben geht
Diese Züge von Melvin sind insofern auch differenzialdiagnostisch relevant, da sie eine Abgrenzung zur schizoiden und zur dissozialen Persönlichkeitsstörung ermöglichen. Bei der anhand des Protagonisten dargestellten Symptomatik ist eine psychotherapeutische Behandlung generell angezeigt und sinnvoll. Und wie geht es mit Melvin weiter? Im Verlauf des Films sucht er einen Psychiater auf, bei dem er bereits früher einmal gewesen sein muss. Sein Wunsch nach Veränderung Carol zuliebe –
R »Ihretwegen möchte ich ein besserer Mensch werden!« – lässt Melvin dann auch einer medikamentösen Behandlung zustimmen. Fällt die Entscheidung für eine medikamentöse (Mit-)Behandlung, so werden Zwangsstörungen üblicherweise mit Antidepressiva behandelt. Eine Verbesserung von Melvins Symptomatik gegen Ende des Films – als er z. B. verblüfft feststellt, dass er seine Haustür nicht abgeschlossen hat – könnte mit der Einnahme der Psychopharmaka zusammenhängen (oder eben auch nicht). Die Szene, bei der Simon nun mit in seiner Wohnung lebt, hat aber vor allem etwas Symbolisches: Melvin muss sich weniger abschotten, hat weniger Angst vor seinen Mitmenschen und vermutlich auch vor seinen eigenen Gefühlen für diese. Wenn Simon zu ihm sagt: »Ich liebe Dich!« aus lauter Dankbarkeit darüber, dass Melvin ihn aufgenommen hat, und Melvin ihm antwortet: »Ich wäre der glücklichste Kerl der Welt, wenn das bei mir was bringen würde!«, dann darf endlich deutlich werden, dass Melvin sich Kontakt zu anderen wünscht, an seiner eigenen Liebesfähigkeit und vermutlich auch Liebenswertheit aber noch sehr zweifelt. Gerade an dieser Stelle des Films kann man Melvin dann auch mögen und man würde der Filmfigur einmal mehr eine psychotherapeutische Behandlung für eine andauernde Veränderung wünschen.
Zur Krankheitsentstehung und Aufrechterhaltung Für Überlegungen zur Krankheitsentstehung gibt das Filmmaterial wenig her. Von Melvin wird aus seiner Biografie lediglich erwähnt, dass sein Vater acht Jahre lang ein Zimmer nicht verlassen habe. Auszugehen ist somit bereits beim Vater von einer ausgeprägten psychischen Störung, ggf. auch einer Zwangssymptomatik. Melvin erzählt auch noch, dass ihm der Vater mit einem Lineal auf die Finger geschlagen habe, wenn er Fehler beim Klavierspiel gemacht habe. Dieses Beispiel spricht für einen extrem rigiden Erziehungsstil, der nach klinischer Erfahrung häufig mit der Entwicklung einer Zwangssymptomatik bzw. einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur einhergeht. Aus psychoanalytischer Sicht führt ein solcher Erziehungsstil zur Bildung eines rigiden, sadistischen Über-Ichs, wodurch auch Trieb-Abwehr-Konflikte (Über-IchEs-Konflikte) begünstigt werden (Lang u. Koepsell 2004). Abgewehrt werden müssen demnach triebhafte Impulse, was auch die extreme Reinlichkeit der Patienten sowie ihre Angst vor Verunreinigung und Körperkontakt erklärt. Ebenso spielt die klinisch oftmals berichtete eingeschränkte Autonomieentwicklung in der Kindheit solcher Patienten eine wichtige Rolle und lässt auch ihre Angst vor Neuem und Unerwartetem verstehbar werden. Neben den bereits genannten Abwehrmechanismen spielen Verschiebung und Ungeschehenmachen bei Patienten mit Zwangssymptomen eine wichtige Rolle. Jüngere psychodynamische Konzepte betonen die stabilisierende und schützende Funktion von Zwangssymptomen als Abwehr einer drohenden Desintegration des Selbst (Mentzos 2000). Die für Patienten mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung typischen Ängste vor nahen Kontakten mit anderen Menschen können auch als Dominanz- vs. Unterwerfungskonflikt verstanden werden, da sie Beziehungen oft nur in einem »unten oder oben« erleben.Der dominierende Leitaffekt der Angst wird durch eine Vielzahl an inneren und äußeren Manövern abgewehrt. Hier findet sich auch der Brükkenschlag zu kognitiven/verhaltenstherapeutischen Krankheitsmodellen.
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In dem kognitiv-behavioralen Konzept der Zwangsstörungen von Salkovskis (Lakatos 2003) wird das Zwangssymptom (sowohl Handlungen, als auch Gedanken) als »Neutralisierung«, also Versuch der Reduktion von Angst verstanden, welches hierdurch allerdings negativ verstärkt wird. Ein an sich nicht pathologischer Gedanke (aufdringlicher Gedanke, Intrusion; z. B: »Ich könnte mit einem Erreger der neuen Grippe in Kontakt gekommen sein«) ist nur deshalb relevant, weil ihm in einem kognitiven »Filterprozess« eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Hierbei spielen dysfunktionale Schemata (»Wenn ich etwas denke, werde ich es auch tun«, »Wenn ich etwas denke, wird es Realität«, »Wenn ich etwas denke, wird es auf einen Gegenstand überspringen«) aktiviert, die dann wiederum die emotionale Reaktion (Unruhe, Erregung, Angst; z. B.: »Oh Gott, ich könnte ernsthaft krank werden und sterben«) auslösen. Die Neutralisierung (z. B. Händewaschen) wirkt direkt als negativer Verstärker (Angstreduktion) und wird auch als »rationale« Bestätigung der Notwendigkeit des symptomatischen Verhaltens (Händewaschen) gesehen. Gleichzeitig werden dysfunktionale Annahmen für das Nichtauftreten der Katastrophe (»Nur weil ich mir die Hände gewaschen habe, bin ich nicht krank geworden«) verstärkt und ebenso wird die Bedeutung und damit die Auftretenshäufigkeit der »aufdringlichen« Gedanken erhöht (z. B.: Durch das häufige Händewaschen bekommen alle Informationen über die neue Grippe eine besondere Bedeutung und der Gedanke, mit dem Erreger in Kontakt gekommen zu sein, tritt häufiger auf.).Entscheidend in diesem Modell sind also dysfunktionale Bewertungsprozesse (die natürlich biografisch/lerngeschichtlich entstanden sind) und sich vor allem in einer Wahrnehmung von Bedrohung und einer Überschätzung der persönlichen Verantwortung zeigen.
Eine Frage bleibt: Ging es wirklich nicht besser? Wie sehr Melvin von seinen Zwängen gequält wird, kann man nur erahnen. Sein Leid muss für die Zuschauer nicht spürbar werden, eben weil er uns mit seinen gemeinen Seiten auf Distanz hält, im Gegenüber auch Ärger und Wut auslöst. Dass man über diesen unangenehmen Zeitgenossen auch lachen kann, liegt daran: Melvin leistet sich alles, was nicht »politically correct« ist. In der Identifikation mit ihm kann der Zuschauer auch mal »die Sau rauslassen«, daneben benehmen tut sich zum Glück ja der Andere. Nicht ganz unproblematisch finden wir an Besser geht’s nicht, dass die Zwangssymptomatik des Protagonisten so dargestellt wird, dass man darüber lachen muss. Dies entspricht zwar dem Genre der Komödie, aber das Leiden von Zwangspatienten wird natürlich nicht deutlich, sondern sogar eher verharmlost und ins Lächerliche gezogen. Darüber hinaus hat uns der Film – zumindest zeitweilig – als Autorenteam auch gespalten: Frau landete eher bei Fragen wie: »Was will diese charmante und liebenswürdige Carol von diesem rüden Ekel?«, während Mann eher zum Schluss kam, dass dieser raue Kerl (wir erinnern uns: harte Schale, weicher Kern oder so, das wäre dann also das moderne Remake eines klassischen Westernhelden) doch eigentlich in seinem Inneren auch nette Seiten hat und mit der Zeit tatsächlich immer sympathischer wird. Was sicher stimmt ist, dass uns Melvin ans Herz wachsen kann, weil er authentisch verkörpert, womit wir alle zu kämpfen haben. Nämlich: nicht immer so zu können, wie wir gern handeln würden. So ist er gefangen in seinem taktlosen und extrem verletzenden Verhalten, gleichzeitig wird deutlich, dass er sich durchaus gern anders benehmen würde. Melvin kriegt es halt nur hin, so gut es eben geht. Etwas mühsam an dem Film ist, wie diverse Stereotypien (über)strapaziert werden. Besser geht’s nicht bedient die typischen Geschlechterklischees: Sie, die erduldet und erträgt, nachsichtig ist mit seinen »Schwächen«, gleichzeitig aber für sich selbst nichts beansprucht. Altruistisch also und ganz typisch Frau. Wenn es um die ärztliche Versorgung von Carols krankem Sohn geht, streift der Film dann ganz nebenbei auch das aktuell wieder hochbrisante Thema der Krankenversorgung und -versicherung in den USA. Hier könnte der Streifen kurz auch eine sozialkritische Dimension bekommen, sollte es nicht
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So gut es eben geht
doch in erster Linie darum gehen, mit einem weiteren Klischee aufzuwarten: Denn der wohlhabende ältere Mann fungiert letztlich als ihr »Retter«, da Carol trotz (oder wegen?) ihres großen Herzens und fleißigen Engagements im (unterbezahlten) Beruf und als Alleinerziehende einfach nicht auf einen grünen Zweig kommt. Beim schwulen Nachbarn dann wird das nächste Stereotyp bemüht. Simon ist ein künstlerisch begabtes Wattebäuschchen, gutgläubig und auch etwas lebensfremd. Bei Simon denkt man in diesem Film dann wirklich mal: »Schade, dass er nicht hetero ist!« – würden er und Carol doch in ihrer liebenswürdigen Art viel besser zusammenpassen, altersmäßig näher beieinander sein und ein schönes Paar abgeben. Und schon landet man also auch gleich beim nächsten Klischee, das da lauten könnte: ungehobelter, rüpeliger Heteromann vs. kultivierter Schwuler, der als Typ Mann den Lieblingsschwiegersohn verkörpert. Der Film lebt somit von Klischees, wodurch er aber natürlich weder an Substanz noch an Tiefe gewinnt. Vielleicht wäre aber auch das für eine Hollywoodkomödie ein bisschen viel verlangt – womit wir schon wieder bei den hohen Ansprüchen (diesmal der Autoren dieses Buchbeitrags) wären. Dass der Film trotz alledem unterhaltsam ist und man ihm auch etwas abgewinnen kann, liegt vor allem an den hervorragenden Schauspielern, die in einem eher trivialen Hollywoodplot glaubhafte Charaktere verkörpern. Die beiden Hauptdarsteller erhielten dafür je einen Oscar und mit fünf weiteren Oscarnominierungen kann Besser geht’s nicht auch noch aufwarten. Besser geht’s nicht! Ein zentrales und anrührendes Thema des Films könnte man als »Liebe heilt alle Wunden« benennen, wobei Melvin sich zuerst auf die Beziehung zum Hund Verdell einlassen kann, später dann auch zu Simon und Helen. Der wiederkehrende Song »Always look on the bright side of life” macht gute Laune und repräsentiert genau jene Leichtigkeit, zu der zwanghafte Menschen oftmals nur wenig Zugang haben. Besser geht’s nicht gibt seinen Zuschauern daher die Möglichkeit, sich mit den eigenen Unzulänglichkeiten auszusöhnen. Und letztlich berührt der Film, weil er die Hoffnung entwirft, dass wir uns verändern können. Selbst in jenen Zügen, die so eng mit einem Menschen verbunden sind, dass sie ihn oder sie quasi auszumachen scheinen. Diese Hoffnung ist es auch, die gerade in längeren Psychotherapien Patienten (und auch Behandler) durch schmerzhafte Prozesse trägt. Am Ende steht dann oft auch hier die Erkenntnis: Es gelang, so gut es eben ging.
Literatur Doering S, Schüßler G (2004) Theorie und Praxis der psychodynamischen Diagnostik, Indikationsstellung und Therapieplanung. In: Leichsenring F, Hiller W, Leibing E, Sulz S (Hrsg) Lehrbuch der Psychotherapie. Band 2 Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie. CIP Medien, München, S 3–31 Lang H, Koepsell K (2004) Zwangsstörung. In: Leichsenring F, Hiller W, Leibing E, Sulz S (Hrsg) Lehrbuch der Psychotherapie. Band 2 Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie. CIP Medien, München, S 155–164 Lakatos A (2003). Zwangsstörungen. In: Leibing E, Hiller W, Leichsenring F, Sulz S (Hrsg) Lehrbuch der Psychotherapie. Band 3 Verhaltenstherapie. CIP Medien, München, S 273–284 Mentzos S (2000) Angst, Zwang und Wahn als Modi der Konfliktverarbeitung. In: Faller H, Weiß H (Hrsg) Angst, Zwang und Wahn. Pathologie, Genese und Therapie. Festschrift für Hermann Lang. Königshausen & Neumann, Würzburg, S 20–27 WHO (Weltgesundheitsorganisation) (1993) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Huber, Bern
139 Besser geht’s nicht – Melvin Udall (Jack Nicholson)
Originaltitel
As good as it gets
Erscheinungsjahr
1997
Land
USA
Drehbuch
Mark Andrus
Regie
James L. Brooks
Hauptdarsteller
Jack Nicholson (Melvin Udall), Helen Hunt (Carol Conelly), Simon Kinnear (Simon Bishop), Cuba Gooding junior ( Frank Sachs)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Ulrich Sachsse
Heldendämmerung Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) Die Handlung und Charakterisierung der Hauptfiguren . . . . . . 147 Achill in Vietnam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
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Filmplakat Batman Begins, USA 2005 Quelle: Warner Bros./Cinetext
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Batman Begins und The Dark Knight Bruce Wayne/»Batman« (Christian Bale)
Die Gestalt »Batman« von DC Comics ist bereits einmal verfilmt worden. Es gibt vier BatmanFilme aus den Jahren 1989–1997, die im Grunde genommen Kinderfilme für die Altersgruppe 9–14 Jahre sind. Im ersten dieser Filme (Batman) spielte Jack Nicholson einen sehr überzeugenden Bösewicht namens »Joker«, der in die Filmgeschichte eingegangen ist. Im Vergleich zu dem neuen »Joker«, dargestellt von Heath Ledger ist Jack Nicholson aber nur ein harmloser Kinderschreck. Heath Ledger spielt brillant einen perfiden Psychopaten, eine Ausgeburt der Hölle. Die Geschichte von Batman ist die Geschichte eines traumatisierten Jungen. In der neuen Verfilmung, zumindest in The Dark Knight, werden wesentliche HollywoodKlischees demontiert und ad absurdum geführt. Diese Demontage des Hollywood-Heldenklischees geht nicht so weit wie in dem neuen Film von Quentin Tarantino Inglorious Basterds (»Basterds« wird in diesem Filmtitel tatsächlich mit »e«, nicht mit »a« geschrieben), in dem jeder Sympathieträger im Laufe des Films konsequent liquidiert wird, der intelligenteste und brillanteste Kopf des Filmes der Nazioberbösewicht ist, die Amerikaner überwiegend als tumbe Brutalos auftreten und selbst mit dem jüdischen Widerstand hart am Rande der »political correctness« umgegangen wird, aber The Dark Knight ist auch kein stromlinienförmiges Hollywood-Heldenmärchen mehr. Um The Dark Knight gut verstehen zu können, ist es unverzichtbar, Batman Begins zu kennen.
Die Handlung und Charakterisierung der Hauptfiguren Batman Begins Der Inhalt von Batman Begins (. Abb. 1) ist simpel. Es handelt sich um einfaches, gängiges Heldnimmt-Rache-Märchen, wie es in der Filmgeschichte unzählige gibt. Spiel mir das Lied vom Tod ist eines der bekanntesten. Einem kleinen Jungen widerfährt bitteres Unrecht, er wird traumatisiert, lehnt sich gegen das Böse auf, unterliegt zunächst, entwickelt sich dann, arbeitet hart an sich und eignet sich die Kompetenzen des Bösen an, wird zum hehren, heldenhaften Rächer, um schließlich im großen Showdown das, den oder die Böse/n zu besiegen. Dann ist alles wieder gut. Ganz offenkundig gibt es ein unbegrenztes Bedürfnis nach immer wieder neuen Rachemärchen. Das Heldenmärchen Batman Begins ist allerdings sehr gut gefilmt und sehr gut geschnitten. Die Geschichte beginnt in den Jahren der Wirtschaftsdepression in Gotham City. Bruce Wayne (Christian Bale) ist der Sohn eines sehr reichen Unternehmers. Dem Vater Thomas Wayne gehört »Wayne Enterprices«, eine Rüstungsfirma mit futuristischen Waffentechnologien und frühen Computerentwicklungen, die aber auch gute Produkte wie Untergrundbahnen für die Armen in Gotham herstellt. Auf nur einen Hauch von Kapitalismus- oder Rüstungskritik wird man in beiden Filmen übrigens vergeblich warten, nicht mal auf Hollywood-Niveau. Vater Thomas Wayne ist der ideale Unternehmer, ein gewissenhafter Patriarch, der auch für die Armen sorgt und weiß, dass er nicht alles verdient, was er verdient, sondern einfach häufig mehr Glück gehabt hat als andere. Mutter Martha Wayne ist schön und stolz und mütterlich und milde.
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Heldendämmerung
Bruce Wayne spielt als etwa 8-Jähriger mit seiner Freundin Rachel Dawes (in diesem Film: Katie Holmes), der Tochter des Hausmädchens im riesigen Garten. Das Schloss der Waynes ist ein riesiger neugotischer Komplex, der in mehreren HollywoodFilmen als beeindruckende Kulisse gedient hat, etwa in Stanley Kubricks Eyes wide shut. Beim Spiel im Garten bricht Bruce durch einen morschen Deckel in einen tiefen Brunnen ein und landet unsanft auf dem ausgetrockneten Boden. Sein Sturz und seine Rufe schrecken Tausende von Fledermäusen auf, die ihn umschwirren und in Panik versetzen. Er erstarrt und verfällt in einen Schockzustand. Kurz darauf seilt sich sein Vater ab und holt ihn nach oben. Bruce hat anschließend eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit den klassischen Symptomen: Intrusionen, Vermeidungsverhalten, Albträume und Einschlafstörungen, emotionales Erstarren (»emotional numbing«) und vegetative Übererregbarkeit (ICD-10: F43.1) Vater Thomas Wayne reagiert ausgesprochen verständnisvoll und fördernd, geradezu ideal Er macht seinem Sohn Bruce klar, dass die Fledermäuse vor ihm Angst hatten und ihn deshalb so panisch aufgescheucht umschwirrt haben. Er sitzt an seinem Bett und spricht ihm Mut zu. Einer Integration des Monotraumas durch das soziale Unterstützungssystem Familie, wie es bei 85% der Monotraumata gelingt, steht nichts im Wege. Ein Trauma ist integriert, wenn es keine Intrusionen mehr gibt, sondern das Trauma eine Erinnerung geworden ist, die keine heftigen, unkontrollierten vegetativen Begleitsymptome auslöst, keinen Suchtdruck oder Schneidedruck oder gar Suizidalität. Das Trauma wird in einem optimalen sozialen System in einem halben bis einem Jahr eine unangenehme Erinnerung. In einigen Jahrzehnten wird Bruce Wayne seinen Enkelkindern die schaurig-schöne Geschichte erzählen, wie er in den tiefen Gartenbrunnen gestürzt, von Tausenden Fledermäusen angegriffen und von seinem Vater heldenhaft gerettet wurde. Die Enkelkinder wird das immer wieder faszinieren, bis sie Opas Geschichte anödet wie meine Generation die Kriegserinnerungen der Väter und die heutigen Kinder und Enkel blumige Geschichten von wilden Rockfestivals und lebensgefährlichen Demos der alternden 68er Generation. Familie Wayne besucht eine Oper. In dieser Oper seilen sich von der Decke Menschen im Fledermauskostüm auf die Bühne ab, und Bruce bekommt heftige Intrusionen, verbunden mit intensiver Angst und heftigen vegetativen Symptomen. Er drängt die Eltern, die Oper zu verlassen, und Vater reagiert nicht mit Härte nach dem Motto »Da musst Du durch, Junge! Stell Dich nicht so an!«, sondern wiederum optimal verständnisvoll. Alle drei gehen vor die Tür. Dort sind sie allein, denn die anderen Opernbesucher sind noch im Inneren. Es ist die Zeit der Wirtschaftskrise, und aus dem Schmutz und Elend kommt ein zerrissener Mann auf die Familie zu mit einer Pistole in der Hand. Er fordert Geld und Schmuck. Der Vater verhält sich zunächst entgegenkommend, versucht die Situation zu deeskalieren, gibt dem Räuber das Geld, möchte dann aber den persönlichen Schmuck der Mutter nicht herausgeben. Vater und Mutter werden niedergeschossen. Bruce behält das Gefühl, dass seine Angstsymptomatik schuld daran ist, dass seine Eltern ermordet wurden. Durch die erneute Traumatisierung der Zeugenschaft vom und der Mitschuld am Tod der Eltern bleibt Bruce traumatisiert. Nach dem Tod der Eltern kümmert sich der Butler Alfred (Michael Caine) um seinen »Master Bruce«. Er wird zu seinem väterlichen Freund und Mentor, der allerdings durchaus eigene Interessen in der Entwicklung von Bruce Wayne verwirklicht und in The Dark Knight eine Quelle recht zweifelhafter Weisheiten und Ideologien ist. Phasenweise wird Bruce als Batman quasi sein Geschöpf. Bruce Wayne geht auf eine Eliteuniversität und wird ein reicher, verschlossener, harter und mürrischer junger Mann. Sein »emotional numbing« steht ihm im Gesicht geschrieben. Der Mörder seiner Eltern soll nach 14 Jahren Haft freigelassen werden, weil er sich gut geführt hat und mit der Polizei inzwischen zusammenarbeitet. In seiner Zelle war vorübergehend der mächtigste Mafiaboss von Gotham, Mr Falcone (Tom Wilkinson). Der Mörder will gegen Falcone aussagen, wenn er dafür freikommt Die Justiz und die Politik setzen andere Prioritäten als der Geschädigte Bruce Wayne. Bei der Anhörung ist Bruce anwesend, ergreift aber nicht das Wort. Als der Mörder in einem Schwarm von Reportern als freier Mann den Gerichtssaal verlässt, tritt Bruce mit einer Schusswaffe in der Hand auf ihn zu. Unglück-
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licher Weise oder glücklicher Weise wird ihm das schmutzige Geschäft der Selbstjustiz abgenommen von einer Killerin, die im Dienst von Falcone steht und den gefährlichen Zeugen der Staatsanwaltschaft auf dem Flur des Gerichtsgebäudes abknallt Rachel studiert inzwischen Jura und fährt ihren Freund Bruce nach Hause. Sie entdeckt, dass Bruce Selbstjustiz verüben wollte, und ist von ihm zutiefst enttäuscht. Mit den Worten »Dein Vater würde sich für Dich schämen Bruce« wirft sie ihn aus dem Auto. Bruce sucht Falcone auf. Der demütigt ihn als mimosenhaftes, verzogenes, selbstmitleidiges Jüngelchen, das seine Störung pflegt, von der Brutalität des wahren Lebens nicht die geringste Ahnung hat und es momentan nicht mal wert ist, umgebracht zu werden. Falcone lässt ihn zusammenschlagen und schmeißt ihn auf die Straße. Bruce Wayne macht sich auf einen langen Weg durch die Niederungen der menschlichen Existenz. Wie Buddha verlässt er Reichtum und Ansehen, um die Ärmsten der Armen und die Niederträchtigsten der Niederträchtigen kennenzulernen. Er wird selbst zum Dieb, Betrüger und Kleinkriminellen, und schließlich landet er in einem asiatischen Gefangenenlager. Er ist inzwischen ein sehr erfolgreicher und kompetenter Schläger und kann sich auch gegen eine Übermacht von Feinden im Lager behaupten. Dort spürt ihn der geheimnisvolle Europäer Ducard (Liam Neeson) auf, der sein Lehrer wird. Bruce Wayne erklimmt einen kalten schneebedeckten Gipfel im Himalaja, auf dessen Spitze ein Kloster ist. Dort wird er trainiert in den asiatischen Kampfkünsten, erhält aber auch Unterweisungen in Lebensweisheit von seinem Lehrer. Der Lehrer ist verbittert, weil seine Frau ihm genommen wurde. Er hat sich zum Rächer entwickelt. Das hat ihn davor bewahrt, dass sein Zorn ihn zerfrisst. Einige seiner Lehrsätze sind bemerkenswert:
R »Um die Ängste anderer manipulieren zu können, muss man zunächst seine eigenen Ängste besiegen.« R »Der Tod ist weder rücksichtsvoll noch fair.« R »Ich kenne den Hass, der Dich antreibt. Den unglaublichen Zorn, der Deine Trauer erstickt, bis die Erinnerung an Deine Familie nur noch Gift in Deinen Adern ist. Eines Tages wünschst Du Dir dann, die Menschen, die Du geliebt hast, hätten nie existiert, um Dir den Schmerz zu ersparen.« Bruce Wayne fühlt sich verstanden. Er kann einstimmen: »Mein Zorn überdeckt meine Schuld«. Die Verwandlung von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, Leere, Depression, Schuld und Trauer in Wut und Zorn ist eine Wurzel der Rache. Darum ist es sicher richtig, wenn es umgangssprachlich heißt »Rache tut gut«. Im Roman Sturmhöhe von Emily Bronte sagt der von Hindley enttäuschte und getäuschte Heathcliff: »Ich sinne nach über Mittel und Wege, Hindley alles heimzuzahlen. Wie lange es bis dahin dauern wird, ist mir eins, wenn es mir schließlich nur gelingt. Ich hoffe, dass er nicht vor mir sterben wird!« – »Schämen Sie sich, Heathcliff!« sagte ich. »An Gott ist es, die Bösen zu bestrafen; wir sollen verzeihen lernen.« – »Nein, für Gott wäre das keine solche Genugtuung wie für mich«, erwiderte er. »Ich suche bloß nach dem besten Mittel! Laß mich allein; ich muß es mir überlegen: Denke ich daran, dann bin ich nicht unglücklich.« (Sachsse 1990, S.52)
Rache will kalt genossen werden. Um vom Opfer zum Rächer zu werden, muss der Held alle Fähigkeiten und Kompetenzen des bösen Täters erwerben, um ihm ebenbürtig zu werden und ihn schließlich zu besiegen. Der Lehrer erklärt Bruce
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Heldendämmerung
R »Um die Angst zu überwinden, muss Du selbst zur Angst werden. Du musst mit der Angst der anderen Menschen verschmelzen. Am meisten fürchten die Menschen, was sie nicht sehen. … Du musst zu einem schrecklichen Gedanken werden, zu einem Geist. Du musst zu einer Vorstellung werden. … Verbinde Dich mit Deiner schlimmsten Angst, werde eins mit der Finsternis.« Das wird Bruce gelingen. Am Ende der Kampfschulung stellt sich heraus, dass der Lehrer einer der Anführer der »Gesellschaft der Schatten« ist. Diese »Gesellschaft der Schatten« hat sich zur Aufgabe gemacht, verrottete und unrettbare Gesellschaften und Städte dem Untergang zu zuführen. Die Gesellschaft hat bereits Rom, Konstantinopel und London vernichtet. Ihr nächstes Ziel ist Gotham. Bruce Wayne soll als Abschlussprüfung einen Verbrecher enthaupten. Er weigert sich, plädiert für ein Gerichtsverfahren, für Recht und Gerechtigkeit, stellt sich gegen Selbstjustiz: »Ich werde kein Henker sein«. Da er aus der »Gesellschaft der Schatten« natürlich nicht einfach austreten kann, kommt es zu einem Kampf in dem er das, was er gelernt hat gegen seine Lehrer einsetzt. Das Kloster fliegt in die Luft, seinem Lehrer Ducard, dem er so viel verdankt, rettet er jedoch das Leben. Jetzt ist ihm sein weiterer Weg klar: »Als Symbol kann ich unbestechlich sein, unvergänglich.« Er kehrt in sein Elternhaus zurück, seilt sich ab in den tiefen Brunnen, dringt vor in die Grotte der Fledermäuse und stellt sich in deren Mittelpunkt. Die Fledermäuse umschwirren ihn. Er besteht die In-vivoKonfrontation, verschmilzt mit seiner Angst vor den Fledermäusen und mit den Fledermäusen selbst. Jetzt ist er der FledermausMann, er ist Bat-Man. Alfred fragt ihn später
R »Warum Fledermäuse, Master Wayne?« – »Weil sie mir Angst machen, und meine Feinde sollen meine Angst teilen.« Bruce Wayne nimmt wieder Kontakt auf zu seiner Firma »Wayne Enterprices«, die inzwischen von Mr Earle (Rutger Hauer) geleitet wird. Der will die Firma an die Börse bringen und Bruce Wayne ausbooten. Das erste Interesse von Bruce Wayne gilt allerdings der Entwicklungsabteilung der riesigen Firma unter Leitung von Lucius Fox (Morgan Freeman). In dieser Abteilung für »angewandte Wissenschaften« finden sich Prototypen, die nicht produziert wurden, aber sehr viel wert sind. Hier lässt sich Bruce Wayne ausstatten mit einer Rüstung, einer Möglichkeit zu fliegen, einem Fahrzeug und mit Waffen, der er bei seinen nächtlichen Flügen durch Gotham City als Batman gegen das Böse verwenden kann In der Stadt gibt es inzwischen zwei Gruppen von Kriminellen, die teilweise kooperieren, teilweise gegeneinander arbeiten. Anfangs sieht es so aus, als ob der irre Irrenarzt Dr. Crane (Cillian Murphy) mit dem Mafiaboss Falcone zusammenarbeitet und dessen Schläger in seine forensische Psychiatrie Arkham holt um sie dort zu »rehabilitieren«. Auf der anderen Seite steht Rachel als inzwischen junge Staatsanwältin, an deren Seite der Polizist Jim Gordon (Gary Oldman) unbestechlich seinen redlichen Weg geht. Beide machen allmählich das organisierte Verbrechen nervös. Falcones Leute überfallen Rachel auf dem Heimweg, Batman rettet sie. Batman kann Falcone bei einer Drogenlieferung gefangen nehmen und der Polizei mit vielen Beweismitteln übergeben. Die Mafia scheint besiegt. Da erreicht »Wayne Enterprices« die Nachricht, dass ein Schiff mit einer Geheimwaffe gekapert worden ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass Dr. Crane eigene Interessen verfolgt und mit jemandem zusammenarbeitet, der nicht zur Mafia gehört. In seinem forensischen Sicherheitstrakt in Arkham experimentiert er mit Drogen. Dr. Crane hat Halluzinogene als Waffe entwickelt. Dieser Stoff ins Trinkwasser geschüttet kann aber nur wirksam werden, wenn er in gasförmiger Form von der Lunge aufgenommen wird. Dazu dient die gestohlene Waffe, die in großem Umfang Wasser in Dampf verwandeln kann. Eingeatmet lösen die Halluzinogene intensive Horrortrips aus mit Panik, Wahrnehmungsstörungen und Kontrollverlust.
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. Abb. 2 Tausende von Fledermäusen kommen ihm zu Hilfe – Filmszene aus Batman Begins mit Christian Bale, Quelle: Warner Bros./Cinetext
Der bei der Polizei gefangene Falcone wird durch einen Trick nach Arkham in die Hand von Dr. Crane überwiesen. Batman überfällt beide und setzt Crane mit dessen eigenen Drogen matt. Unter Drogen teilt Crane mit, dass er für den Lehrer von Bruce Wayne arbeitet, Ducard alias R’as al Ghul, das Oberhaupt der »Gesellschaft der Schatten« Kurz danach wird Rachel von Crane mit dem Halluzinogen vergiftet und droht, für immer den Verstand zu verlieren. Batman muss sie aus Arkham retten an der Polizei vorbei, die Arkham umstellt hat. Als er in Schwierigkeiten kommt, kommen ihm Tausende von Fledermäusen zu Hilfe und verwirren die Polizei, die ihn festnehmen und ausschalten will (. Abb. 2). Batman ist offenbar inzwischen selbst eine Fledermaus. Rachel wird zu Alfred gebracht. Dort hat Lucius Fox ein Gegenmittel entwickelt. Die »Gesellschaft der Schatten« hat die Dampfwaffe nach Gotham gebracht. Sie soll mit der U-Bahn ins zentrale Wasserdepot der Stadt transportiert werden. Dieses Wasserdepot liegt unter dem Hochhaus von »Wayne Enterprices«. Dann würden in der ganzen Stadt die Menschen unter Horrortrips leiden und sich gegenseitig umbringen. In den Vororten, den Narrows, sind alle Verbrecher aus Arkham inzwischen frei und verbreiten unter dem Einfluss der Angstdroge Panik, Chaos und Schrecken. Batman kann seinen Lehrer im Kampf Mann gegen Mann überwinden und grenzt sich ab gegen dessen faschistische Haltung, dass alles Niedere, alles Kriminelle und Bösartige ausgerottet werden muss (»Erzeuge genug Hunger und jeder wird zum Verbrecher«). Anschließend übernimmt Bruce Wayne seine Firma wieder, macht Lucius Fox zum Firmenleiter und es herrscht eitel Sonnenschein über Gotham City. Mit dem Spruch »Das, was wir tun, zeigt, wer wir sind« gibt sich Batman Bruce seiner Rachel zu erkennen. Alles scheint seinen guten Weg zu gehen, ein klassisches Happy End droht schon am Horizont: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Bruce Wayne hat seine posttraumatische Angst besiegt, indem er in einer gut vorbereiteten In-vivoKonfrontation ganz mit ihr verschmolzen ist, selbst zur Angst geworden ist. Dadurch ist er unbesiegbar geworden. Er hat seinen Körper geschult und gestählt, bis er alle Feinde und Gegner an Mut, Kraft und
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. Abb. 3 Filmplakat (Ausschnitt) The Dark Knight, USA 2008, Quelle: Warner Bros./Cinetext
List übertrifft. Er ist zum Rächer geworden, hat alle Gefühle von Trauer, Schuld und Ohnmacht umgewandelt in Wut und Zorn, ohne da stehen zu bleiben. Den Schritt in die faschistische Lösung des Traumas, dass alles Niedere, Verbrecherische und Amoralische ohne jede Moral ausgerottet werden sollte, hat er von sich gewiesen. Den Protagonisten dieser faschistischen Weltsicht hat er besiegt, obwohl der sein Lehrer, Mentor und Meister war. Bruce Wayne ist somit vom traumatisierten Jungen zum Helden »Batman« aufgestiegen.Da meldet sich für den nächsten Film als neuer Verbrecher: Der Joker. Das wird lustig
The Dark Knight Ist Batman Begins ein einfaches Heldenmärchen mit einer schlichten, moralisch einwandfreien, politisch korrekten Handlung, so ist The Dark Knight (. Abb. 3) verschachtelt, kompliziert, dunkel, chaotisch und verwirrend.In Gotham hat sich in den letzten Jahren so einiges verändert. Die Nächte sind ruhiger geworden, weil Batman nachts das Böse jagt und brutal zusammenschlägt. Batman ist allerdings kein Killer. Er tötet die Verbrecher nie. Inzwischen findet er sogar schon Nachahmer, die in sein Kostüm schlüpfen und wie er zu Helden der Nacht werden. Das ist natürlich ungünstig für die Mafia. Die Mafia hat eigentlich nur noch eine letzte Bastion: Fünf Mafiabanken. Genau diese Banken überfällt nun ein Freischärler, der »Joker«. Den Joker werden wir in seiner schillernden Vielschichtigkeit noch genauer kennenlernen. Im Finanzsektor arbeitet die Mafia zusammen mit einem Chinesen aus Hongkong, der gleichzeitig versucht, mit »Wayne Enterprices« ins Geschäft zu kommen. So bestehen aufseiten des Bösen also drei Gruppierungen: die Mafia, die chinesische Gruppierung aus Hongkong und den Einzelkämpfer Joker. Dem stehen auf der Seite des Guten gegenüber die junge Staatsanwältin Rachel Dawes (in diesem Film: Maggie Gyllenhaal) und der redliche Polizist Jim Gordon, der in seiner Abteilung allerdings einige Mitarbeiter hat, die schon mal Schwierigkeiten bei internen Ermittlungen der Polizei hatten. Aufsteigender Star von Gotham City ist
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der ehemalige Leiter der internen Ermittlung der Polizei und jetzige Leitende Staatsanwalt Harvey Dent (Aaron Eckhart), der sich zunächst konsequent und überzeugend zum »White Knight«, zum weißen Ritter von Gotham entwickelt. Verbündet mit dem Guten ist natürlich der »Dark Knight«, der dunkle Ritter Batman, der tagsüber den gelangweilten Großunternehmer Bruce Wayne spielt, sich die Zeit mit Frauen des russischen Staatsballetts vertreibt und heimlich zu Rachel hinüber sieht, die Harvey Dents Freundin ist. Gordon und Dent erreichen, dass alle Mafiabanken gleichzeitig durchsucht werden, um das Mafiageld zu beschlagnahmen. Dabei stellt sich heraus, dass der Chinese das Geld schon aus den Banken heraus geholt und an einem geheimen Ort versteckt hat. Er gibt sich jetzt als »Treuhänder« der Mafiagelder, natürlich mit eigenen Interessen und hat sich erfolgreich nach Hongkong abgesetzt. Es ist mehr eine Actionnebenhandlung mit Unterhaltungswert, dass Batman ihn aus seinem Hochhaus in Hongkong herausholt und nach Gotham City – beinahe hätte ich gesagt: nach New York – bringt In dieser misslichen Situation, in der die Mafia ihr Geld verloren hat und von Batman nachts immer weiter zurückgedrängt wird, tagsüber aber unter zunehmenden Druck von Gordon, Rachel und Dent gesetzt wird, in dieser Notlage also wendet sich die Mafia an den Joker. Der bietet sich an, das Geld zurückzubeschaffen, fordert dafür aber 50% des Geldes. Die Szene des Jokers im Kreis der Mafiosi ist eine der Meisterleistungen von Heath Ledger, der hier einen der brillantesten gebrochensten und perfidesten Psychopathen der Filmgeschichte spielt. Dieser Joker ist als Psychopath völlig anders als der Joker von Jack Nicholson oder der Hannibal Lecter von Anthony Hopkins. Für mich ist dieser Joker die überzeugendste Gestaltgebung eines Psychopathen im Film bisher. Heath Ledger ist bald nach Beendigung des Filmes an einer Überdosis Medikamenten gestorben.Der Joker ist lustig. Er hat ein lustig geschminktes Clownsgesicht. Von den Mafiosi wird er verächtlich als Freak bezeichnet. Dieses lustige Gesicht kommt nicht nur durch die dick aufgetragene Schminke zustande, sondern auch dadurch, dass der Joker immer breit lächelt. Irgendjemand hat ihm irgendwann einmal mit einem Messer beide Wangen von den Mundwinkeln bis zu den Ohren aufgeschnitten, und das hat tiefe Narben hinterlassen. Diese Narben zaubern stets ein breites Grinsen auf sein Gesicht (. Abb. 4) Der Joker ist also vermutlich auch schwer traumatisiert. Aber er verhöhnt diese seine Traumageschichte. In drei verschiedenen Situationen erzählt er drei verschiedene Storys. Einmal war es sein brutaler Vater, der ihm diese Narben beigebracht hat. Dann hatte er eine Frau, die verunstaltet wurde und in Depressionen verfiel. Um sie aufzuheitern, hat er sich selbst so entstellt, damit ihr deutlich wird, dass er auf ihre Entstellungen nichts gibt und sie intensiv liebt. Leider hat seine Frau sich umgebracht, als sie ihn gesehen hat. Und die dritte Geschichte kommt gar nicht erst zur Entfaltung, weil Batman sie nicht hören will. Auch der Joker ist traumatisiert, verarbeitet sein Trauma aber im Sinne der »Pseudologia Phantastica« Darunter versteht man Geschichten, die sinnstiftend sind, die nicht wahr sind, aber wahr sein könnten, ohne so einfach als Lügen eingeordnet werden zu können; meist glaubt derjenige, der diese Geschichten erzählt, selbst zumindest zeitweise an sie, so wie ein wirklich überzeugender Hochstapler von seiner Hochstapelei selbst überzeugt sein muss, um wirksam zu werden. Der Joker spielt gerne. Insbesondere liebt er böse Spiele. Anfangs hat einer der Mafiosi auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt: 500.000 Dollar tot, 1.000.000 lebendig. Zum Schein lässt sich der Joker dem Mafioso als Leiche ausliefern, überwältigt ihn dann und bringt ihn um. Anschließend äußert er sich anerkennend zum Mut und zur Leistung der drei Bodyguards des Mafioso. Er bietet ihnen an, in seine Dienste zu treten. Die blicken ihn hocherfreut an, weil sie damit gerechnet haben, umgebracht zu werden. Der Joker bedauert: »Leider ist zurzeit nur eine Stelle frei. Dies ist also so eine Art – Casting.« Mit diesen Worten wirft er den Dreien einen zerbrochenen Billardstock als Waffe hin und macht deutlich, dass der übernommen wird, der den Kampf zwischen den Dreien überlebt.Der Joker ist jedoch nur vordergründig ein spontaner, perfider Spieler. Im Hintergrund plant er brutal und eiskalt. Bei einem Banküberfall hat er jeweils Gruppen von zwei oder drei Kriminellen zusammengestellt und dafür ge-
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. Abb. 4 Der Joker lächelt immer breit – Filmszene aus The Dark Knight mit Heath Ledger, Quelle: Warner Bros./Cinetext
sorgt, dass derjenige, der seine Aufgabe erfüllt hat, vom anderen erschossen wird, »damit durch weniger geteilt werden muss«. So bleibt er selbst schließlich als Einziger übrig. Einer seiner ersten Sprüche: »Alles, was einen nicht tötet, macht einen – komischer.« Im Laufe des Filmes wird der Joker noch weit bösere Spiele erfinden. Bei einem Essen sitzen Rachel, Dent, Bruce und die Primaballerina des russischen Balletts zusammen. Bruce Wayne sehnt sich danach, dass Dent der offizielle weiße Ritter von Gotham City wird. Er möchte sein Schattendasein als Batman beenden, möchte Rachel erobern, Dent bei Rachel verdrängen und in einer Stadt leben, in der Recht und Ordnung und Frieden herrschen. Dabei kann ein weißer Ritter durchaus vorübergehend diktatorische Vollmachten bekommen. So haben es schon die alten Römer gehalten, wenn der Feind vor den Toren stand. Rachel weist darauf hin, dass der letzte Diktator Roms ein gewisser Julius Cäsar war, der dann die Republik Rom abgeschafft hat. Offenkundig ist es nicht so leicht, Diktatoren die Macht wieder zu nehmen. Bruce Wayne formuliert prophetisch seine zentrale Sorge:
R »Man stirbt als Held oder man lebt so lange, bis man selbst der Böse wird.« Das ist die Gefahr für Batman, das ist die Gefahr für weiße Ritter der Staatsmacht, die mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet werden, das ist die Gefahr für alle Guten, die lange an der Macht sind Gordon und Dent ist es gelungen, mit dem Chinesen im Gefängnis ein Bündnis zu schließen. Der wird vor Gericht aussagen, dass er für alle Mafiagruppierungen die Gelder in einem gemeinsamen Fond verwaltet hat. Das macht alle Mafiosi zu Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung, die gemeinsam verurteilt werden können. Auf einem Schlag werden etwa 500 Mafiosi, große und kleine Gauner verhaftet. Eine Richterin erlässt gegen alle Haftbefehl. Das Gute triumphiert.
151 Batman Begins und The Dark Knight – Bruce Wayne/»Batman« (Christian Bale)
Kurz darauf wird der oberste Polizeichef vergiftet, die mutige Richterin fliegt mit ihrem Auto in die Luft. Der Staat kann offenkundig seine obersten Ordnungshüter nicht schützen. In der Bevölkerung entsteht Unruhe, in der Polizei auch. Der Joker ergreift die Initiative. Er greift sich ein Batman-Double, foltert den Mann vor laufender Kamera und teilt über die Medien mit, dass er jeden Tag einen Menschen töten werde, bis Batman die Maske fallen lässt. Von diesem Zeitpunkt an ist Batman in einem Dilemma: Gibt er sich zu erkennen, ist er ausgeschaltet, weil er nachts Selbstjustiz verübt und die Polizei offiziell nach ihm sucht und ihn verhaften will – wenn auch mehr pro forma. Jim Gordon hat neben seinem Schreibtisch drei Bilder derjenigen hängen, die er für die Hauptverdächtigen hält, Batman zu sein: George Washington, King Kong und den Yeti. Gibt sich Bruce Wayne als Batman zu erkennen, müsste er verhaftet werden. Damit wäre er machtlos und würde erstmal ins Gefängnis wandern. Gibt er sich nicht zu erkennen, wird er mitschuldig am Tod vieler Menschen. Genau dies sind die Lieblingsspiele des Jokers: Spiele, bei denen der andere in einer Zwickmühle steckt, nicht gewinnen kann, keinen Ausweg hat. Der Joker hat für die Inszenierung solcher Spiele eine besondere Begabung, für Zwickmühlen, Dilemmata, Aporien und tragische Situationen Um Dent zu unterstützen, organisiert Bruce Wayne eine Spenderparty. Er will aktiv den Tag herbeiführen, an dem Gotham Batman nicht mehr braucht, weil Dent im Bunde mit dem Gesetz für Ruhe, Recht und Ordnung sorgt. Der Joker überfällt die Party Batman stellt sich ihm entgegen, er lässt die Maske aber nicht fallen. In einer dramatischen Actionszene rettet er Rachel, die vom Joker aus dem Fenster geworfen wird. Über die Medien hat der Joker angekündigt, dass er bei der Beisetzungsfeier für den vergifteten Polizeichef den Bürgermeister umbringen wird. Schließlich hat sich Batman immer noch nicht zu erkennen gegeben. Diese Feier wird zwar von der Polizei optimal geschützt, trotzdem gelingt es dem Joker und dem jetzt mit ihm zusammenarbeitenden irren Irrenarzt Dr. Crane, in einem Feuergefecht ein Chaos anzurichten. Dabei wird der gute Polizist Jim Gordon anscheinend erschossen.Batman beschließt sich zu demaskieren. Auf einer Pressekonferenz mit Harvey Dent will er sich stellen. Rachel warnt ihn, dass seine Zukunftspläne nicht aufgehen werden: »Von den Tag, an dem ich aufhöre, können wir zusammen sein.« – »Bruce, mach mich nicht zu deiner einzigen Hoffnung auf ein normales Leben.« Später wird sie ihm in einer anderen Situation deutlich machen, dass er sich von Batman nicht einfach verabschieden kann. Diese Freiheit hat er nicht mehr. Er ist zum Gefangenen seines Geschöpfes geworden. Auch Alfred ist mit seiner Entscheidung nicht einverstanden. Bruce erträgt es einfach nicht mehr, dass seinetwegen immer mehr Menschen sterben. Alfred drängt ihn, diese Nebenwirkung seiner guten Taten zu ertragen. Gerade darin könnte seine Größe liegen. Seine Erfolge hätten das Verbrechen in die Ecke getrieben, jetzt würden die Verbrecher mit allen Mitteln umso verzweifelter um ihre Existenz kämpfen: Fighting like a cornered rat (Kämpfen wie eine in die Enge getriebene Ratte). Das sei die unvermeidliche Konsequenz seiner Erfolge, damit solle er leben. Der rundum sympathische Alfred vertritt von der Tendenz her also so etwas wie: Mit Nebenwirkungen wie dem Tod von Menschen muss man leben, wenn nur das Hauptziel gut und richtig ist. Was kann ich für meine Nebenwirkungen? Ich kann in einer komplexen Welt doch nicht für jeden und alles zur Verantwortung gezogen werden, was ich unintendiert, ungewollt auslöse. Da ist natürlich was dran. Aber dieses Denken könnte auch die sog Kollateralschäden in Kriegen rechtfertigen, die den USA in der öffentlichen Diskussion zurzeit große Probleme machen. Es findet sich in der katholischen Sozialethik und diente zur Rechtfertigung der offenen Unterstützung faschistischer Regime durch den Vatikan und PiusXII. Wenn bestimmte Nebenwirkungen und Kollateralschäden erst offensichtlich sind, kann sich niemand mehr auf die Position zurückziehen »Also das hab ich ja gar nicht gewusst, und gewollt erst recht nicht.« Auf der Pressekonferenz gibt sich zur Überraschung von Bruce Wayne Harvey Dent selbst als Batman zu erkennen. Er lässt sich verhaften und macht sich zum Lockvogel für den Joker. Bei seiner Überstellung nach Arkham in einem Gefängnisbus kommt es zu einer dramatischen Actionjagd zwischen
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Heldendämmerung
mehreren Lkws. Schließlich kommt auch Batman mit seinem futuristischen Fahrzeug dazu und liefert sich mit dem Joker ein faszinierendes Gefecht. Der Joker gibt sich als »Stressjunky«, der die Aufregung der Lebensgefahr über alles schätzt: »Ein geiler Job! Geiler Job!« Das ist bekanntlich auch eine Form der Traumabewältigung. In einer Szene hat Batman die ganz konkrete Möglichkeit, den Joker zu töten. Der Joker rechnet auch damit und geht voller Hoffnung auf den finalen Kick auf Batman los: »Ich will, dass Du es tust. Gib’s mir!« Zu seiner Enttäuschung nimmt Batman ihn nur gefangen, der gar nicht tote Jim Gordon nimmt den Joker fest. Er wird ins Gefängnis gebracht. Beim Verhör im Gefängnis durch Batman verteidigt der Joker sein Verhalten. Er hält die Menschen im Grunde genommen gar nicht für schlecht, nur für schwach. »Sie sind nur so gut, wie ihnen die Welt erlaubt zu sein.« Das erinnert geradezu an Bert Brecht. Er macht Batman deutlich, dass der sich an zu viele Regeln hält. Und dann zieht der Joker seinen größten Trumpf: Er hat durch bestechliche Mitarbeiter des Polizisten Jim Gordon sowohl Harvey Dent als auch Rachel Dawes entführen lassen, und jetzt stellt er Batman vor die Wahl: »Du musst mein Spielchen mitspielen, wenn Du einen von ihnen retten willst. … Beim Töten geht es um Entscheidungen. Für das eine Leben oder das andere.« Diese Konstellation, mit jeder Entscheidung zwingend schuldig zu werden, wird als tragisch bezeichnet. Außerdem werden dadurch Opfer einer Straftat mitschuldig gemacht. Soldaten werden von Partisanen überfallen, ein Soldat wird getötet, und die anderen dringen in ein Dorf ein und nehmen 20 Einwohner gefangen. Dann stellen sie dem Dorfpriester ein Ultimatum: Er darf in der nächsten Stunde entscheiden, welche 10 Gefangenen überleben und welche erschossen werden. Entscheidet er sich nicht, werden alle 20 erschossen. Jetzt kann der Priester nur schuldig werden: Spielt er nicht mit, entscheidet er sich nicht, dann sterben 10 Menschen, die er hätte retten können. Trifft er eine Wahl, macht er sich mitschuldig, denn er trifft ja auch die Wahl, wer sterben muss. Selbstverständlich darf er sich nicht selbst erschießen lassen. Diese Konstellation hat es übrigens auf dem Balkan und in Italien bei den Rückzugsgefechten der deutschen Wehrmacht einige Male gegeben. Nach solchen Entscheidungen haben Priester manchmal Selbstmord verübt. Auch Missbrauchstäter stellen ihre Opfer manchmal vor eine Alternative, in der sie nicht nichtschuldig bleiben können. Ein solches Verhalten ist perfide. In dieser Situation sind jetzt auch Batman und der auferstandene Jim Gordon. Batman entscheidet: Gordon soll Rachel retten, er selbst rettet Harvey, weil Dent für Gotham wichtiger ist als Rachel Damit entscheidet er sich gegen die angebetete, geliebte Freundin seiner Kindheit. Batman bleibt integer und unbestechlich, entscheidet sich gegen sein Herz für das, was politisch geboten ist. Er ist heroisch, heldenhaft, groß auch gegenüber der eigenen Liebe.Dent und Rachel sind über Sprechanlagen miteinander verbunden. Beide sitzen an weit voneinander entfernten Orten auf Ölfässern, die mit einem Zünder verbunden sind und zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Luft fliegen werden. Beide erklären sich ihre Liebe, und Rachel entscheidet sich in diesem Augenblick gegen Bruce für Harvey Dent. Dent wird von Batman knapp gerettet und hört durch die Sprechanlage wie Rachel in die Luft fliegt. Auch in diesem HollywoodFilm kommt eine absolute Sympathieträgerin zu Tode. Die Zeit der sicher berechenbaren Hollywood-Märchen scheint zu Ende zu gehen – Heldendämmerung. Bei seiner Rettung wird Dent schwer verletzt. Sein halbes Gesicht verbrennt. Von nun an ist er »TwoFace«. Wie der Joker wird auch TwoFace zum Feind Batmans. Die Botschaft des Filmes lautet: Wenn Menschen nur gemein und brutal genug behandelt werden, kann jeder zum platten Rächer degenerieren Durch geschickte Provokationen seiner Wärter gelingt es dem Joker, mit dem Chinesen aus dem Gefängnis zu fliehen. Der Joker provoziert seinen Aufpasser dadurch, dass er dem schildert, wie er elf Polizisten langsam mit dem Messer getötet hat. Er breitet das sadistisch genüsslich aus, bis der Polizist ihn angreift. Damit kommt er in seine Nähe und kann von ihm überwältigt werden. Die Situation eskaliert weiter. Die Mafia will sich vom Joker distanzieren, wird aber das Gespenst nicht mehr los, das sie riefen. Und der Joker spielt ein neues Spiel. Ein ehemaliger Mitarbeiter von Bruce Wayne will diesen im Fernsehen als Batman enttarnen. Das passt dem Joker nicht. Er verbreitet über die
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Medien, dass in zwei Stunden ein öffentliches Gebäude in die Luft fliegen wird, wenn bis dahin dieser Verräter nicht umgebracht worden ist. Und wieder findet sich in der Bevölkerung ein Mob der jetzt Jagd auf den Verräter an Batman macht und ihn lynchen will. Der Joker hat sich das Krankenhaus ausgesucht, in dem Harvey Dent jetzt als Two-Face liegt jede Schmerzmedikation und jede plastische Chirurgie verweigert und seinen Hass, seinen Zorn umwandelt in Rachepläne. Der Joker sucht ihn dort auf, schiebt der Mafia die Schuld für den Tod seiner Freundin in die Schuhe und bindet ihn vom Bett los, an das er fixiert ist. Der Joker vertritt, dass dieser Aktion ein Plan zugrunde gelegen hätte, und er sei planlos. »Ich bin ein Hund, der Autos nach jagt. Ich wüsste gar nicht, was ich tun sollte, wenn ich einen erwische. Ich bin kein Pläneschmieder.« Und dann erläutert der Joker, dass es in der Welt keine Panik gibt, solange Dinge vorhersehbar, berechenbar sind:
R »Nimm einen kleinen Schuss Anarchie!« »Ich bin das Chaos. Und weißt Du, was Chaos eigentlich ist? Es ist fair.« Dieser Philosophie, dass der Zufall, das Chaos und die Willkür das eigentlich göttliche Prinzip der Welt sind, lebt der Joker und wird in Zukunft auch Two-Face Harvey Dent leben. Die Welt ist ungerecht, sie ist unfair, und es ist infantil Recht und Ordnung zu vertreten. Der Joker kündigt über die Medien, die alles verbreiten, was man ihnen zuspielt, an, dass er jetzt die Stadt übernehmen wird. Bis zur Nacht könnten die Bürger Gotham verlassen, leider ist auf den Fluchtwegen wie Brücken und Tunnels aber einiges an Überraschungen versteckt. Also sind die Bürger von Gotham eingeschlossen. Sie können fliehen, müssen dabei aber etwas riskieren. Wieder ein schönes Spiel. Gordon hat entschieden, die Killer aus Arkham mit einer Fähre fortzuschaffen, damit sie nicht vom Joker befreit werden können. Auf der anderen Fähre sind ehrbare Bürger, die in der Schlange vorne standen und ebenfalls aus Gotham herausgefahren werden. Auf den beiden Fähren »Liberty« und »Spirit« sind also zwei völlig unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Und jetzt macht der Joker ein »soziales Experiment« das an die MilgramExperimente der Stanford University erinnert. Der Joker hat auf beiden Booten Sprengladungen angebracht. Der Zünder für die jeweils andere Fähre ist auf dem jeweils anderen Fährschiff. Beide Fähren werden um Mitternacht in die Luft fliegen, wenn nicht eine Fähre die andere vorher in die Luft sprengt. Auf beiden Fähren entwickelt sich ein Nervenkrieg zwischen den Rechtschaffenen und denjenigen, die für ihr sicheres Überleben auch ein Verbrechen begehen würden. Dabei erweisen sich die Berufsverbrecher aus Arkham übrigens als moralisch den gut situierten Bürgern ebenbürtig. Der Joker hat sich in einem Hochhaus einen Logenplatz für die Explosion der Fähren verschafft und das Wachpersonal des Hochhauses überwältigt. Dieses Wachpersonal hat jetzt Clownmasken und muss von Batman vor den Angriffen der Polizei gerettet werden, die das nicht merkt. Diese Perfidie wird bei Geiselnahmen ja durchaus angewendet. Dann tarnt sich der Geiselnehmer als Opfer, sodass es wohl auch schon vorgekommen ist, dass von den Polizeikräften irrtümlich auf eine Geisel geschossen wurde. Batman und Joker kämpfen gegeneinander, aber wieder weigert sich Batman, den Joker endgültig zu töten:
R »Was willst Du beweisen? Das jeder in seinem Kern so vollkommen ist wie Du?« Ja, unter anderem das will der Joker beweisen. So kämpfen am Rande eines Hochhauses zwei Freaks darum, was stärker ist: Das Chaos oder die Ordnung. Der Joker hat ja schon triumphiert »Ich habe Gotham’s weißen Ritter auf unsere Verhältnisse herunter gebracht, was nicht schwer war.« Der Joker wird erneut überwältigt. Parallel dazu hat Harvey Dent die Familie des Polizisten Gordon als Geiseln genommen und lässt den jetzt spüren, wie es ist, in einer aussichtslosen Situation zu sein. Two-Face spielt das Spiel des Jokers. Er wirft eine Münze, wer von der Familie zuerst getötet wird. Bat-
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Heldendämmerung
man und Gordon gelingt es gemeinsam, Harvey Dent in den Suizid zu treiben. Auf seinem bisherigen Rachefeldzug hat Two-Face aber schon fünf Menschen getötet. Würde das öffentlich, wäre in ganz Gotham City klar, dass die guten weißen Ritter zu schäbigen Rächern und Helden der Selbstjustiz werden, wenn das Verbrechen sie selbst einholt. Auch das ist in vielen Filmen verdeutlicht worden. Einer ist »Collateral Damage« mit Arnold Schwarzenegger. Wenn es um die eigene Tochter, die eigene Frau, die eigene Familie geht, wird jeder rechtschaffene Familienvater zum Bluträcher. Nun bekommt der Film ganz zum Schluss eine sehr merkwürdige Wendung. Batman bekommt Jesus ähnliche Züge, er wird das Lamm Gottes. Er nimmt die Schuld für die fünf Opfer von Two-Face auf sich, damit Harvey Dent der weiße Ritter bleibt und die Menschen die Hoffnung behalten, dass Recht und Ordnung besser sind als Chaos und Verbrechen. Alfred unterstützt ihn dabei: Es ist die Stärke des wahren Helden, dass er nicht nur ein Held ist. Ein Held ist angewiesen darauf, dass er der Gute ist und bleibt. Wer mehr ist als ein Held, kann das Böse auf sich nehmen, obwohl er dieses Böses gar nicht verschuldet hat weil die Welt das braucht. Das schlichte, dumme Volk ist der Wahrheit nicht gewachsen. Es braucht die manipulierte Wahrheit, es braucht die Notlüge, es braucht gute Menschen, es braucht Helden. Denn nur so kann es die Hoffnung bewahren, kann sich der Ordnung unterordnen. Dieser Ansicht sind ja auch Kirchen und Religionen. Im Spätmittelalter und der Renaissance wäre Batman mit dieser Haltung eindeutig auf dem Weg zur Heiligsprechung gewesen. Bruce Wayne wäre damit am Ende des Filmes vom Helden zum Heiligen befördert. St. Bruce? St. Batman? Schauen wir mal, wie es diesem Heiligen im nächsten Film bei der Auseinandersetzung mit Catwoman ergehen wird
Achill in Vietnam Es lohnt es sich, das Buch von Jonathan Shay (Shay 1998) Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust mit einem Vorwort von Jan Philipp Reemtsma zu lesen. Der amerikanische Militärpsychiater Shay schildert differenziert, wie amerikanische Durchschnittsbürger durch die Mechanismen des Krieges in Vietnam zu Berserkern werden, zu seelenlosen, manischen Kampfmaschinen. Durch den Verlust jeder Rechtsordnung im Krieg, durch List, Tücke, Hinterhalt und Verrat, durch Inkompetenz von Entscheidungsträgern und Feigheit brechen Moral, Kultur und Humanität zusammen. Diese Reaktion hat schon Homer im ältesten uns erhaltenen literarischen Dokument unseres Kulturkreises beschrieben. Die Ilias des Homer handelt nicht vom gesamten Trojanischen Krieg, sondern von einem kurzen Zeitfenster gegen Ende dieses Krieges. Der egoistische und hinterhältige Oberbefehlshaber der Griechen Agamemnon nimmt seinem obersten Offizier der Eliteeinheit Achill dessen Kriegsbeute Briseis, eine Sklavin, in die Achill sich verliebt hat. Achill stellt die Kampfhandlungen ein, die Griechen kommen in Probleme, die Trojaner gewinnen die Oberhand. Achills bester Freund Patroklos wird von Hektor besiegt und getötet. Achill versinkt zunächst in dumpfe Suizidalität, dann verwandelt er seine Trauer und Verzweiflung in unbändigen Hass. Die »Mänis«, die manische Raserei des Achill äußert sich in völlig unmenschlichem Verhalten. Er besiegt Hektor und schändet seine Leiche, obwohl das gegen jede Kriegskultur verstößt. Erst ein Gespräch mit Priamos dem Vater Hektors, der sich zu ihm ins griechische Lager schleicht, macht ihm deutlich, dass dieser Kampf auch umgekehrt hätte ausgehen können, wenn die Götter anders entschieden hätten, dass nur das Kriegsglück auf seiner Seite war. Es bringt ihn zur Besinnung, und er beendet seine Raserei. Schon viele Jahrhunderte lang beschäftigt die Literatur und das Schauspiel also die Frage, was der Krieg, was ein Verbrechen, was Unrecht, was ein schweres Trauma aus Männern macht. Was wird aus mir, wenn ich Opfer eines Schicksalsschlages werde? Ein Berserker? Ein Verbrecher? Ein Held? Ein Faschist? Ein Rächer? Ein Joker? Ein Two-Face? Ein Batman? Ein Heiliger?
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Literatur Shay J (1998) Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust. Mit einem Vorwort von Jan Philipp Reemtsma. Hamburger Edition, Hamburg Sachsse U (1990) Rache: Destruktive Wiedergutmachung. In: Herdieckerhoff E, von Ekesparre D, Elgeti R, Marahrens-Schürg C (Hrsg) Hassen und Versöhnen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 52–59
Originaltitel
Batman Begins
Erscheinungsjahr
2005
Land
USA
Buch
Christopher Nolan, David S. Goyer
Regie
Christopher Nolan
Hauptdarsteller
Christian Bale (Bruce Wayne/Batman), Sir Michael Caine (Alfred Pennyworth), Liam Neeson (Ra‘s al Ghul/Henri Ducard)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
Originaltitel
The Dark Knight
Erscheinungsjahr
2008
Land
USA
Buch
Christopher Nolan, David S. Goyer, Jonathan Nolan
Regie
Christopher Nolan
Hauptdarsteller
Christian Bale (Bruce Wayne/Batman), Heath Ledger (Joker), Gary Oldman (Jim Gordon), Aaron Eckhart (Harvey Dent/Two-Face)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Hermann Mitterhofer und Pia Andreatta
»Hätte aber die Liebe nicht« – zwei Formen von Freiheit Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) und »komplizierte Trauer« (Anpassungsstörung ICD-10: F43.23) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Der Regisseur und Drehbuchautor/Hintergrund . . . . . . . . . . . . . 165 Die Farbe Blau und die Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Symptomatik und diagnostische Einordnung. . . . . . . . . . . . . . . . 167 Trauern um den traumatischen Verlust: die Schlussszene . . . . . 169 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
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Filmplakat Drei Farben: Blau, Frankreich 1993 Quelle: Cinetext
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Drei Farben: Blau Julie (Juliette Binoche)
Zwei Kameraeinstellungen kündigen das drohende Unglück zu Beginn des Films an: Flüssigkeit, die langsam entlang der Bremsleitung eines Autos rinnt, um dann nahe am Reifen auf den Asphalt zu tropfen, und Neonlichter eines Tunnels, die, von oben betrachtet, beinahe rhythmisch über die Stirn eines Kindes im fahrenden Wagen gleiten. Die Sequenzen sind in ein frühmorgendliches, kühles Blau getaucht. Die Szenen selbst – unterbrochen durch die Worte einer Frau, die ein Kind zum neuerlichen Einsteigen in das Auto auffordert und die Großaufnahme eines Jungen, der wenig später das vorbeifahrende Auto sehen wird – enden mit einem Geräusch, das nicht eigentlich laut ist, eher blechern und dumpf: dem Geräusch des aufprallenden Wagens. Diese ersten drei Minuten des Films, durchsetzt von Elementen der seit Alfred Hitchcock bekannten Filmtechnik des »Suspense« (Truffaut 2004), der Spannungserzeugung bei den Zuschauern angesichts eines zu erwartenden Ereignisses, fungieren als Prolog des Films Drei Farben: Blau (. Abb.1): Julie, die Protagonistin, verliert bei diesem Autounfall ihre kleine Tochter Anna und ihren Mann Patrice, einen berühmten Komponisten.
Die Handlung Die Handlung des Films unterteilen wir im Folgenden in drei Kapitel: Die ersten Bilder zeigen Julie, selbst schwer verletzt im Krankenhaus liegend. Die Kamera ist einzig auf ihr Auge in Großaufnahme gerichtet, in ihm spiegelt sich die Gestalt eines Arztes. Nachdem er ihr die Nachricht vom Tode ihrer Tochter und ihres Mannes überbracht hat, schließt sich Julies Auge. Später, noch im Krankenhaus zerschlägt Julie eine Scheibe, sie möchte sich mit Medikamenten, die sie aus einem Schrank stiehlt, das Leben nehmen. Sie bricht den Suizidversuch jedoch ab, sie kann sich nicht umbringen. Noch im Krankenhaus beginnt sie sich vor der Außenwelt zu verschließen, sie möchte weder einer Journalistin ein Interview geben, noch mit Olivier, dem ehemaligen Assistenten ihres Mannes Patrice sprechen. Nachdem Julie das Krankenhaus verlassen kann, kehrt sie zunächst in ihr Haus am Land zurück und trifft dort auf die weinende Haushälterin. Julie umarmt sie und fragt:
R »Warum weinen Sie?«, die Angestellte entgegnet, »Weil Sie nicht weinen.« Julie beginnt umgehend mit den Vorbereitungen für ihr »neues«, anderes Leben: Sie sucht den Rechtsanwalt der Familie auf und verfügt den Verkauf des Hauses. Anschließend fährt sie nach Paris, um die letzte, noch unvollendete Symphonie ihres Mannes zu Ehren der Vereinigung Europas abzuholen, um die Partituren gleich darauf in einen Müllwagen zu werfen. Bevor Julie das Haus mit einem einzigen Pappkarton verlässt, ruft sie Olivier an und bittet ihn zu sich (. Abb.2). Sie schläft mit ihm, verlässt am Morgen das leere Haus und fährt nach Paris – Ende des ersten Kapitels. In Paris angekommen, mietet Julie ein Appartement in einem belebten Pariser Viertel. Sie führt ein gänzlich anonymes Leben, geprägt von Routinen: Kaffeehausbesuche, Aufenthalte im Park, abendliches Schwimmen in einer Halle. Ihre Zurückgezogenheit und Trennung von den Ereignissen des Lebens zeigen beispielhaft zwei Sequenzen: Scheinbar teilnahmslos beobachtet sie eine alte Frau, die verzweifelt versucht, eine leere Flasche in einen Container zu werfen und in einer anderen Szene beobachtet sie eine Schlägerei vor ihrem Haus, die sich später im Inneren des Treppenhauses fortsetzt mit ebensolcher Distanziertheit. Sie möchte keine Bindungen zu anderen Menschen eingehen, weder zu Antoine, dem
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»Hätte aber die Liebe nicht« – zwei Formen von Freiheit
. Abb. 2 Julie ruft Olivier an und bittet ihn zu sich – Szene mit Juliette Binoche, Quelle: Cinetext
Jungen, der den Unfall beobachtet hatte – ihm schenkt sie eine goldene Halskette mit Kreuz, die einst sie besaß und die er am Unfallort fand – noch zu anderen Bewohnern des Hauses, wie Lucille, die in einem Nachtklub arbeitet. Abweisend verhält sie sich auch gegenüber Olivier, dem es gelungen ist, sie ausfindig zu machen und mit dem sie sich in einem Café trifft. Charakteristisch für Julies Verhalten in dieser Phase ist eine Bemerkung, die sie ihrer Mutter gegenüber bei einem Besuch im Altenheim macht, diese erkennt Julie allerdings nicht als ihre Tochter, sondern hält sie für ihre längst verstorbene eigene Schwester: Sie, Julie, wolle nichts mehr tun und sie fügt hinzu,
R »Ich [will] keinen Besitz mehr, keine Erinnerungen, keine Liebe, keine Bindung, keine Freunde. Das alles sind nur Fallen.« Julies Leben in »Freiheit« wird in diesen Phasen des Films jedoch immer wieder unterbrochen, dann, wenn die ersten Töne des Musikstücks anklingen, an dem ihr verstorbener Gatte vor seinem gewaltsamen Tod gearbeitet hatte: Die ersten Takte der Symphonie dringen plötzlich und ereignishaft in die Filmszenen ein. Die Protagonistin erlebt eine Art von »Blackout«, das von Regie und Kamera auch filmtechnisch »wörtlich«, als »Abdunkelung« der Leinwand inszeniert wird. Diese Schnitte in den Handlungsverlauf kündigen das Thema des dritten Kapitels an: die Musik und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit dem Unfall wie dem Leben davor, aber auch mit Julies Leben in der Gegenwart und den Menschen um sie. Zwei Szenen fungieren als Schnittstellen zwischen den Kapiteln: Julie beobachtet fasziniert einen Flötenspieler vor dem Café, der eine Melodie ihres verstorbenen Mannes spielt und sie entdeckt eine Maus mit Jungen in ihrer Wohnung, was sie so entsetzt, dass sie den Makler aufsucht und ihn um die Möglichkeit der Anmietung einer anderen Wohnung bittet. Kündigt die erste Sequenz Julies allmähliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart an, ihrer eigentlich »vergessenen« Profes-
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sion, der einer Komponistin, so symbolisiert sich in den unliebsamen Mitbewohnern der Fortgang des Lebens selbst, auch in seiner »ekelerregenden« Form (Žižek 2001, S. 231 f.). Julie beginnt ihre selbst auferlegte Zurückgezogenheit und Defensive aufzubrechen: Sie »leiht« sich den Kater eines Nachbarn für die Mäuse. Lucille, die Julie wenig später im Schwimmbad besucht, erfährt von ihr von den Mäusen und bietet Julie daraufhin ihre Hilfe an – Beginn einer zaghaften Freundschaft. Erstmal öffnet sich Julie ein wenig und während sie von den Mäusen spricht, springen Kinder in das Becken. Am Abend ruft Lucille Julie aus dem Nachtklub an und bittet sie ihrerseits um Hilfe – und Julie geht hin. Im Nachtklub, Lucilles Problem hat sich längst gelöst, sieht Julie einen Beitrag im Fernsehen, wo Olivier in einem Interview ankündigt, anhand erhalten gebliebener Partituren die Symphonie zu Ende komponieren zu wollen. Julie erkennt, dass es ihr nicht gelungen ist, alle Kopien zu vernichten. Was sie in diesem Beitrag jedoch auch sieht, sind Bilder einer anderen Frau an der Seite ihres verunglückten Gatten. Julie konfrontiert Olivier mit den Bildern: Es handelt sich um Sandrine, eine Anwältin, die Geliebte ihres Mannes. Julie sucht Sandrine auf und erfährt, dass diese ein Kind von Patrice erwartet. In der Begegnung mit dieser »anderen« Wahrheit ihrer Ehe, beschließt Julie sich auch einer weiteren Seite ihrer Vergangenheit zu stellen: Sie entschließt sich, die Symphonie für das Vereinigte Europa selbst zu vollenden. Julie gewinnt mit diesem Entschluss eine neue, andere Form von Freiheit zurück: Der Besitz von Patrice soll nicht verkauft werden, sondern an das Kind von Sandrine gehen. Sie selbst nimmt die Liebe Oliviers an, fährt zu ihm und verbringt die Nacht mit ihm.
Der Regisseur und Drehbuchautor (Hintergrund) Der früh verstorbene polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski schuf mit Blau den ersten Teil einer Trilogie, dem weitere Filme mit den Titeln Weiß und Rot folgten. Als seine letzte Arbeit gilt die DreiFarben-Trilogie neben seinen Werken Die zwei Leben der Veronika und dem zuvor in Polen gedrehten Dekalog, einer Auseinandersetzung mit den Zehn Geboten in zehn Filmen, als sein filmisches Hauptwerk. Die Trilogie entstand in Zusammenarbeit von polnischen und französischen Filmschaffenden, symbolisiert die drei Farben der französischen Nationalflagge: Im Blau – Weiß – Rot der Trikolore sind die drei Ziele der Französischen Revolution repräsentiert, Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. Drei Farben: Blau ist ein Film, in dem die Symbolik von Farben, Gegenständen, Licht und Ton neben den offenkundigen Inhalten vom traumatischen Ereignis und seiner Wirkungen eine große Rolle spielt. Daher möchten wir im Folgenden drei beispielhafte Symbole herausgreifen und ihre Bedeutung für die Protagonistin Julie in der Schlussszene näher beleuchten: Die Farbe Blau, einen speziellen Gegenstand und die Rolle der Musik.
Die Farbe Blau und die Musik Zahlreiche Einstellungen des Films, vor allem die Sequenzen während der ersten beiden Kapitel werden durch die Farbe Blau oder durch blaue Farbreflexe unterstrichen: Noch während des Aufenthalts im Krankenhaus sieht man die zurückgezogene Julie am Balkon hinter einer blauen Glastrennwand sitzen. Immer dann, wenn die einsetzende Musik eine Szene gleichsam zerschneidet, tritt Blau in Erscheinung, meist auf Julies Gesicht projiziert und mit dem Hintergrund verschwimmend: Beispielhaft immer an jenem Ort der Einsamkeit, der Schwimmhalle, wenn sie aus dem Blau des Wassers auftaucht, reflektieren sich blaue Lichtstrahlen auf ihrer Haut und in ihrem Gesicht. Die Farbe Blau symbolisiert in diesen Szenen nicht nur die Rückwendung auf die eigene Person, den Rückzug in die eigene Erlebniswelt, Blau repräsentiert auch die emotionale Taubheit, beispielhaft in der Sequenz mit den Mäusen, die von blauen Lichtreflexen begleitet wird oder während der Beobachtung der Schlägerei vor ihrer Wohnung in Paris, die ganze Szene ist in ein Nachtblau getaucht. Doch Blau steht nicht nur für diese beiden Reaktionen, sondern auch für Schwermut und Trauer, wovon das Englische »feeling blue« und der Musikstil des
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»Hätte aber die Liebe nicht« – zwei Formen von Freiheit
»Blues« zeugen. Welche strukturierende Funktion hat nun dieses Stilmittel Kieślowskis, das zudem auf »Freiheit« anspielen soll? Dazu möchten wir auf wunderbare Passagen eines Textes aus der Geistestradition zurückgreifen, auf Goethes Farbenlehre, die wir mittels Montage zu bestimmten Sequenzen des Films in Beziehung setzen, um letztere zu verstehen. In Goethes Farbenlehre besitzt Blau eine gewisse Bandbreite: [Blau] gibt uns ein Gefühl der Kälte, so wie es uns auch an Schatten erinnert (Goethe 2000, S.498),
an Schatten des Vergangenen, die wie die Musik in Julies Leben unvorbereitet einbricht, ihr »neues Leben« für einen Moment zumindest aus den Angeln zu heben droht: Daher bildet Blau eine Art Spur des Vergangenen, sichtbares Zeichen von Stockungen, von Kälte und Introvertiertheit. Bezogen auf ihre Freiheit handelt es sich um eine »abstrakte« Größe (Žižek 2001, S.213), da sie von Julie ohne Beziehung zu anderen Menschen gelebt wird. Blau wird somit zum Kristallisationspunkt zwischen Julies Vermeidungsverhalten und den jeweiligen Möglichkeiten des intrusiven Einbruchs von Erinnerungen. Als würde Goethe in gewisser Weise zu unserem Film sprechen, gibt er einen weiteren Hinweis aus der Farbenlehre: Zimmer, die rein blau austapeziert sind, erscheinen gewissermaßen weit, aber eigentlich leer und kalt (Goethe 2000, S.498)
»Kalt« und »leer« – Julie fragt die Haushälterin, nach ihrem Krankenhausaufenthalt und angesichts ihres Entschlusses, Hab und Gut zu verkaufen: »Haben Sie das Blaue Zimmer schon ausgeräumt?« Es bleibt unklar, ob es sich bei diesem Zimmer um das Schlafzimmer oder das Kinderzimmer handelt (Erbstein 2000, S.61). Und aus eben diesem Zimmer nimmt sie in ihr Leben nach Paris einen einzigen Gegenstand mit, verpackt in Karton: Eine Glasperlenlampe, die sie in der neuen Wohnung sofort aufhängen wird. Die Lampe besteht aus kleinen blauen Glasplättchen, die entlang von Schnüren kreisrund befestigt sind. »Blaues Glas zeigt die Gegenstände im traurigen Licht«, meint Goethe und Julie, im »blauen Zimmer« des Landhauses stehend, reißt einige blaue Kristalle ab und hält sie in der Hand (auch später noch umklammert sie das Kristall, als sie mit dem Anwalt spricht). Es ist ein einzigartiger Gegenstand für Julie, wir nennen ihn daher »Objekt der Trauer«. Dieses unscheinbare Objekt ist in gewisser Weise ambivalent wie die Farbe, die die Kristalle tragen, denn Blau, so Goethe, macht für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung. Sie ist als Farbe eine Energie; … Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe im Anblick (Goethe 2000, S.498)
Diese Ambivalenz von »Reiz und Ruhe« möchten wir als die biphasisch verlaufende Traumareaktion charakterisieren – das ungewollte Wiedererleben von Erinnerung und Vermeidung, die als Charakteristika nach Traumatisierungen häufig anzutreffen sind (Fischer u. Riedesser 2009; Horowitz 1986) – wir werden später darauf zurückkommen. Diese Ambivalenz als zugrundeliegendes Vorhandensein des antagonistischen Reaktionsmusters charakterisiert Julies Gesicht als ihr Lucille bei ihrem ersten Besuch in der Pariser Wohnung erzählt, auch sie hätte als Kind eine solche Lampe besessen. »Ist es ein Andenken?« fragt Lucille, Julie – sichtlich die Erregung kontrollierend – nickt. Welche Funktion hat die Glaskristalllampe als »Objekt der Trauer« für Julie? Sie funktioniert in ihrer kalten Freiheit zugleich als Symptom und Fetisch im psychoanalytischen Sinn. Der Lampenschirm als blauer Schatten der Ver1 Das Wort »Blues«’ selbst ist die Pluralform des substantivierten Adjektivs, entstanden durch Ellipse aus der Fügung »blue devils« (»blaue Teufel«), womit kulturhistorisch dämonische Gaukelbilder gemeint sind, die einem Menschen bei einem Anfall von Schwermut erscheinen (Paraškevov 2004, S. 40). Wir danken Stephan Doering für den Hinweis.
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gangenheit ist zum einen als Fetisch die Kehrseite des Symptoms, der Wiederkehr des Verdrängten Der Tod wird »rational« akzeptiert (Žižek 2001, S. 216) – in der Szene mit Antoine und der Halskette erinnert sich Julie sehr genau an Details des Unfalls – aber im Fetisch, als Objekt, verkörpert sich zugleich die Leugnung dieses Todes. Da Julie dieses Objekt hat, kann sie scheinbar die Dinge akzeptieren wie sie sind, denn wie jedes Erbstück eines Verstorbenen (Erinnerungsstücke, Kleidung) lebt dieser in gewisser Weise in diesem Objekt weiter. Dadurch wird der Tod zugleich aber geleugnet. In diesem Sinne kann Žižek den Fetisch als ein Objekt charakterisieren, das jenen »Glauben« verkörpert, »dem anzugehören wir offiziell bestreiten« (Žižek 2001, S.217). Die »Wiederkehr des Verdrängten« steht hier in der neuroseparadigmatischen Tradition. Im Sinne der Traumasymptomatik müssen diese jedoch vor allem traumaparadigmatisch verstanden werden und d. h., Verleugnen und Vermeiden fungieren als Schutzfunktion vor der überwältigenden Konfrontation mit der traumatischen Wirklichkeit.Gleichzeitig steht der Lampenschirm aber auch an der Schnittstelle zum Symptom, denn er wird Julie immer an den Tod der Geliebten erinnern. Exakt diese Funktion, näher dem Symptom als dem Fetisch, übernimmt im Verlauf des Films in stärkerem Maße die Musik: Der Schatten der musikalischen Vergangenheit – ereignishaft und immer eingetaucht in blaues Licht – oszilliert (Žižek 2001, S.218) zwischen Symptom und Fetisch: In der Musik lebt der verstorbenen Ehemann weiter – wir erinnern an die Sequenz mit dem Flötenspieler und später an eine Einstellung, in der die Flöte allein, objekthaft, als Fetisch auf dem Gehsteig liegt. Die Musik dringt aber auch als Symptom in Form des Blackouts in die »abstrakte« Freiheit Julies als Ort des verdrängten »anderen Schauplatzes« ein. Diese Blackouts möchten wir als eine Form der Aphanisis (Žižek 2001, S.216), aus dem griechischen wörtlich »verschwinden lassen«, dem Verlust des Bewusstseins für wenige Augenblicke, charakterisieren2. Lacan hatte zuvor schon den Begriff der Aphanisis verallgemeinert: Er versteht darunter das Verschwinden des Subjekts im »fading« (wörtl. »Abblendung«!) als Prozess der Entfremdung (Žižek 2001, S.217ff): Julie erlebt in diesen Momenten somit einen Augenblick der Entfremdung von sich selbst. Wiederum im Sinne der Traumatisierung werten wir dies als Dissoziation. Die Dissoziation steht im Dienste des Schutzes vor überwältigenden Affekten und die Entfremdung kann als dissoziativer Vorgang verstanden werden: Elemente des Traumas werden nicht in das Selbstgefühl integriert, sondern bleiben aufgespalten, d.h. sie bleiben erhalten, aber als unzusammenhängende Elemente (Van der Kolk et al. 2000). Wie kann Julie aber scheinbar plötzlich, im dritten und letzten Teil des Films, die Musik anerkennen? Bevor wir uns dieser Wendung in der Geschichte annehmen, möchten wir die diagnostische Perspektive einnehmen.
Symptomatik und diagnostische Einordnung Diagnostisch betrachtet führt »Drei Farben: Blau« einerseits zur posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS; ICD-10: F43.1; WHO 2005), andererseits in das Feld der in der ICD-10 nicht klassifizierten komplizierten Trauerreaktion (Znoj 2004). Die Symptomtrias der PTBS – intrusives Wiedererleben, Vermeidung von Situationen die an das Trauma erinnern und Übererregtheit – findet sich in deutlichen Spuren in Julies Leben. Dazu möchten wir nochmals auf einige Szenen des Films näher eingehen. Die drohenden Gefühle der Verzweiflung und des emotionalen Überwältigtseins durch den traumatischen Schmerz zeigen sich erstmals in der suizidalen Reaktion zu Beginn des Films im Krankenhaus. Mit Horowitz (1986) möchte wir dies als Phase des »outcry« bezeichnen, die einem unmittelbaren Schockzustand folgen kann. Dass Julie hier mit einem Suizidversuch reagiert, interpretieren wir als 2 Selbst im »Black«out existiert noch eine Verbindung zur Farbe Blau: Im Deutschen gibt es ein Wort, mit dem schillernde Farbschleier (sic!) bezeichnet werden, die sich bei einem Schwindelanfall über die Augen legen: blümerant. Bei diesem Wort handelt es sich um eine Übernahme zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges aus der französischen Wendung »bleu mourant« (»blassmattblau«), die wörtlich »sterbendes Blau« meint (Paraškevov 2004, S. 40).
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»Hätte aber die Liebe nicht« – zwei Formen von Freiheit
Versuch der Schmerzabwehr, eine Reaktion, die im peritraumatischen oder unmittelbar postexpositorischen Zeitraum beobachtet werden kann. Diese Form der Suizidalität kann grundsätzlich traumatheoretisch erklärt werden (Andreatta u. Beck 2006) und findet sich auch in der ICD-10 als mögliche Reaktion innerhalb der PTBS Charakteristisch für die PTBS zeigt Julie eine ganze Reihe an Vermeidungsverhalten: Mehrfach sind Reaktionen von »emotionaler Stumpfheit« (Begriff: ICD-10) zu beobachten, die von Gefühlen des Betäubtseins geprägt sind. Dazu zählen z. B. Szenen, in denen ihr ihre »fehlende« Trauer vorgelebt wird, so in den Sequenzen mit der Haushälterin, die an ihrer statt weint, weil Julie nicht weinen kann: Julie erinnert nicht und trauert nicht. Ihre Vermeidung wird aber auch deutlich aktiver, dann, wenn sie sich in einem Akt der Wut der Musiknoten entledigt, die Bögen in den Müllcontainer wirft – um damit auch ihr eigenes (Lebens-)Werk zu vernichten. Julie ist auch unfähig für zärtliche Gefühle: Bei ihrer ersten sexuellen Begegnung mit Oliver bleibt sie kalt, die anschließend hervorbrechende Verzweiflung darüber sieht man in der darauffolgenden Szene, wiederum in einem selbstverletzenden Verhalten: Sie fährt mit der zur Faust geballten Hand eine Steinmauer entlang und reißt sich damit Wunden in die Haut. Entsprechend den ICD-10Kriterien der PTBS zeigt Julie auch deutlich Zeichen der Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen bzw. eine generelle Teilnahmslosigkeit ihrer Umwelt gegenüber Auf die betreffenden Szenen wurde schon weiter oben hingewiesen: Es handelt sich zum einem um die Szene, in der sie eine Schlägerei vor ihrem Haus beobachtet und später in ihrem eigenen Treppenhaus wahrnimmt; eine Szene, in der sie in gewisser Weise nicht nur die Realität ausblendet, sondern darüber hinaus keine der Situation angemessene Angst zeigt. Zum anderen ist ihre Gleichgültigkeit bzw. Wirklichkeitsflucht deutlich in der Szene erkennbar, in der die alte Dame verzweifelt versucht, eine leere Flasche in einen Container zu deponieren: Julie ist völlig teilnahmslos, ja schließt sogar die Augen. Sie möchte keine Alltagsereignisse mehr an sich binden. Um den Erinnerungen an ihr Leben vor dem Trauma und somit an das Trauma selbst zu entkommen, wählt Julie bei der Unterzeichnung ihres neuen Wohnungsvertrages ihren Mädchennamen. In derselben Absicht, so nehmen wir an, nimmt sie die Halskette, ein Kreuz, nicht an, das ihr der Junge, Antoine, der den Unfall beobachtet hat, zurückgeben möchte, nachdem er sie endlich gefunden hat, mehr noch, sie schenkt ihm die Kette. In all diesen Szenen entdecken wir Julies Versuch der Distanzierung vom Ereignis selbst, also ein wesentliches Symptommuster der PTBS. Demgegenüber finden sich immer wieder Momente des drohenden intrusiven Wiedererlebens, zuvor von uns als Aphanisis oder »fading« beschrieben und von Kieślowski stilistisch meisterhaft umgesetzt: Die in Blau getauchten Szenen, die Glasperlenleuchte, die ersten Takte der Symphonie. Als weitere Kriterien, die als typisch für die Diagnose der PTBS betrachtet werden, sehen wir in Julies Zuständen vegetativer Übererregtheit und übermäßiger Schreckhaftigkeit: besonders markant in der Szene in Julies Wohnung, als Lucille an der Wohnungstür läutet und sie voll Schreck einen Blumenstock auf den Boden fallen lässt. Die Sequenz ist zudem symbolisch stark aufgeladen, denn das Gefäß, die Hülle so zusagen, zerspringt nicht nur, es werden die Wurzeln der Pflanze dadurch gleichsam ungeschützt offengelegt. Zusammenfassend können wir sagen, dass deutliche Spuren der PTBS vorliegen, hervorgerufen durch ein extrem belastendes Ereignis, das durch eine außergewöhnliche Bedrohung (schwerer Unfall) und katastrophenartigem Ausmaß (Tod der Angehörigen) gekennzeichnet ist, das, so lautet das Kriterium in der ICD-10, »bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (ICD-10, WHO 2005)« aber auch dass das diagnostische Bild der »komplizierten Trauer« (Znoj 2004) vorliegt. Letztere wird in der ICD-10 als «Anpassungsstörung« verschlüsselt. Im Falle Julies wäre am ehesten die F43.23 zu diagnostizieren, die Symptome verschiedener affektiver Qualitäten beinhaltet, so z.B. Angst, Depression, Sorgen, Anspannung und Ärger. Die Unterscheidung zwischen komplizierten Trauerformen und der PTBS ist in der Literatur wenig deutlich (Znoj 2004). Horowitz (1986) fasst aufgrund der thematischen Nähe die (komplizierten oder
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pathologischen) Trauerreaktionen, die dissoziativen amnestischen Zustände sowie die akute und PTBS unter dem Stichwort »Stress-Response-Syndroms« zusammen. Gerade ein Ereigniskriterium wie in diesem Film inszeniert, das des unnatürlichen, plötzlichen und traumatischen Verlusts, kann zur Komplizierung einer Trauerreaktion führen. Zumindest wird zwischen beiden Reaktionsmustern, das der PTBS und das der »komplizierten Trauerreaktion«, eine Komorbidität von 30% beschrieben, bezogen auf die Leitsymptome (Intrusion und Vermeidung) zwischen 60% und 80% (Znoj 2004). Die Problematik bei der »komplizierten Trauerreaktion« ist allerdings, dass das Vermeiden von Reizen, die mit der verstorbenen Person assoziiert sind, nicht gelingt. Paradoxerweise führt das forcierte Vermeiden geradezu zum Gegenteil, die Inhalte drängen sich wie bei Julie immer wieder ins Bewusstsein. Bevor wir uns im letzten Teil dem Wendepunkt, also jenen Szenen zuwenden, in denen die Versuche des Wegdrängens der Wirklichkeit in der Weise scheitern, als es für Julie nicht mehr notwendig ist, sie wegzudrängen, möchten wir nochmals auf die Szene mit den Mäusejungen rekurrieren: Auch wenn die eigentliche Veränderung Julies hin zum Leben erst später im Film eintritt, kündigt sich bereits in dieser Szene das Ertragenmüssen der Erinnerungen unausweichlich an. Die Szene steht wie eine grausame Aufforderung, sich mit der Wirklichkeit, dem Leben in Form dieser rohen und schutzbedürftigen Nacktheit von Mäusejungen auseinanderzusetzen. Und wir erinnern: Auf diese Szene folgt mittels Schnitt unmittelbar die nächste, jene im Hallenbad, Julie klammert sich an den Rand des Beckens und eine Schar von Kindern springt laut schreiend und tobend in ihren »blauen Pool«. Julie wird der Grausamkeit gewahr, ihr Mädchen, Anna, in eben diesem Alter, in dem diese Kinder jetzt sind, verloren zu haben.
Trauern um den traumatischen Verlust: die Schlussszene Werfen wir einen Blick auf die letzte »aphanisische« Vermeidungsszene des Films: Nachdem Julie von Olivier erfahren hat, dass Sandrine die Geliebte ihres Mannes war, wird sie von Olivier gefragt: »Was wollen Sie jetzt machen?« Julie erleidet wiederum mit dem Einbrechen der Musik eine Aphanisis und antwortet dann mit einem völlig veränderten Blick: »Sie kennenlernen!« Was Julie in diesem Moment (an-)erkennt, ist die Tatsache, dass sie ihren Gatten schon vor dem Unfall verloren hat. Die Verknüpfung »Ehemann – Musik« kann in diesem Augenblick gelöst werden: Sie kann sich mit Sandrine als einem bisher unbekannten Teil ihrer Vergangenheit auseinandersetzen (mit dem »ersten Tod« ihrer Ehe) und sie kann zugleich ihr eigenes »Erbe« aus der Vergangenheit annehmen, die Musik. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis gelingt es Julie, die Symphonie zu Ende zu komponieren. Selbst das Flötenspiel integriert sie an zentraler Stelle in die Partitur, Patrices Musik müsste dadurch »leichter« sein wie sie sagt. Die Bedeutung dieser Wendung in der Geschichte, der Akzeptanz des eigenen Begehrens und der damit erlangten konkreten Freiheit, zeigt sich komprimiert in der Schlusssequenz: Das Ende des Films ist zugleich der Kulminationspunkt des Geschehens. Die lange Schlussszene bildet den Rahmen einer (wieder-)gefundenen Freiheit in der Identität (Komponistin) und Bindungsfähigkeit (Liebe), der neuerlichen Sinngebung durch die Liebe zum Leben nach dem traumatischen Schmerz. Während in verschwommenen Einstellungen zunächst der Liebesakt mit Olivier zu sehen ist – wie hinter Glas, Schleiern des Traums gleich – ziehen Bilder der Menschen vorbei, mit denen Julie nun eine besondere Beziehung gefunden hat: Antoine, Julies Mutter, Lucille, die schwangere Sandrine. Begleitet wird diese Szene musikalisch von der Wiedergabe der von Julie zu Ende komponierten Symphonie, ein Orchester und ein Chor, der jetzt in griechischer Sprache die berühmten Zeilen aus dem »Hohelied der Liebe« (Erster Brief an die Korinther, Kapitel13) singt, beginnend mit Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. (1 Kor 13,1)
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Während dieser pompösen, zwar nicht religiösen (Erbstein 2000, S.63), aber zumindest sakralen Unterstreichung der Szene ist die Kamera wieder wie zu Beginn des Films in Bewegung, sie gleitet von szenischem Bild zu Bild, der Schnitt ist nicht mehr zu erkennen. Die Kamera fährt zuletzt in einer Großaufnahme zu ihrem Auge, der Kreis zum Beginn des Films scheint sich wieder zu schließen. Aber der Wechsel von der abstrakten Freiheit der selbstbezüglichen Negativität zur »konkreten« Freiheit der liebenden Anerkennung und des Sich-selbst-als-frei-Erfahrens (Žižek 2001, S.225) ist vollzogen: In ihrem Auge spiegelt sie sich selbst, ihr nackter Körper auf dem Bett sitzend. Erst in diesem Moment kann Julie weinen und die eigentliche »Trauerarbeit« beginnen, im »Hohelied« heißt es dazu an dieser Stelle der Sequenz: Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; / doch am größten unter ihnen ist die Liebe. (1 Kor 13,13)
Kieślowskis Film Drei Farben: Blau ist kein Film über das Trauern, sondern ein Film über die Herstellung der Bedingungen der Möglichkeit zu trauern. Die letzten Bilder zeigen Julies Gesicht, am linken, unteren Bildrand ist ein sich leicht bewegender blauer Schatten zu sehen, die Farben ihres Gesichts aber sind in blassen Rottönen gehalten.
Literatur Andreatta P, Beck T (2006) Die suizidale Überwältigungsreaktion und ihre Bedeutung in der Akutbetreuung. ZPPM 4, Heft 3: 81–95 Die Bibel (in der Einheitsübersetzung). http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/bibel/1kor13.html Erbstein M (2000) Untersuchungen zur Filmsprache im Werk von Krysztof Kieślowski. 2. Aufl.,Coppi Alfeld/Leine Fischer G, Riedesser P (2009) Lehrbuch der Psychotraumatologie. 4. Aufl. Reinhardt UTB, München Goethe JW v (2000) Werke. Naturwissenschaftliche Schriften I, Bd 13. Hamburger Ausgabe. 11. Aufl. DTV, München Horowitz M (1986) Stress Response Syndroms. Aronson, New York Paraškevov B (2004) Wörter und Namen gleicher Herkunft und Struktur. Lexikon etymologischer Dubletten im Deutschen. de Gruyter, Berlin Truffaut F (2004) Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? 2. Aufl. Heyne, München Van der Kolk B (2000) Dissoziation und Informationsverarbeitung beim posttraumatischen Belastungssyndrom. In: van der Kolk B, McFarlane A, Weisaeth L (eds) Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Junfermann:, Paderborn, pp 241–261 WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2005) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. 5. Aufl. Huber, Bern Žižek S (2001) Keine Angst vor echten Tränen. Volk & Welt, Berlin Znoj H (2004) Komplizierte Trauer. Hogrefe, Göttingen
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Originaltitel
Trois couleurs: Bleu
Erscheinungsjahr
1993
Land
Frankreich, Polen
Buch
Krzysztof Kieślowski, Krzysztof Piesiewicz
Regie
Krzysztof Kieślowski
Hauptdarsteller
Juliette Binoche (Julie Vignon), Benoît Régent (Olivier), Florence Pernel (Sandrine), Charlotte Véry (Lucille), Emmanuelle Riva (Mutter)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Dirk Blothner
Was Menschen ertragen können … Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) Traumatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Kumulatives Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Anpassungsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Handlung und Filmerleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Ein Film so hart wie das Leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
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Filmplakat Million Dollar Baby, USA 2004 Quelle: Kinowelt/Cinetext
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Million Dollar Baby Maggie Fitzgerald (Hilary Swank)
Maggie Fitzgerald (Hilary Swank) ist 33 Jahre alt, als sie auf der Intensivstation zu Bewusstsein kommt. Ihre Arme und Beine kann sie nicht bewegen, ihren Körper nicht fühlen. Die regelmäßigen Geräusche einer Maschine deuten darauf hin, dass sie künstlich beatmet wird. Sie gibt ein leises Wimmern von sich. Vor wenigen Tagen stand sie im Ring und kämpfte um den Weltmeisterschaftstitel. Das war ihr bisher größter Auftritt als Boxerin. Voller Sympathie hatten die Zuschauer die gälischen Worte gerufen, die ihren Sportmantel schmücken: »Mo cuishle«. Ihr Trainer und Manager Frankie Dunn (Clint Eastwood) hatte ihr den Mantel geschenkt. Die Worte, die er auf ihn drucken ließ, bedeuten »Mein Schatz«. Maggie ging als Siegerin aus dem Kampf hervor und erlebte den glücklichsten Augenblick ihres Lebens. Doch kurz nachdem sie im Jubel die Arme in die Luft gestreckt hatte, musste sie einen heimtückischen Angriff ihrer Gegnerin hinnehmen, stürzte unglücklich und brach ihre beiden obersten Halswirbel. Nun liegt sie hilflos auf der Intensivstation. Da es sich bei ihr um eine Filmfigur handelt, können wir Maggie nicht fragen, wie sie ihre Situation nach dem Erwachen tatsächlich erlebt. Aber wir können versuchen uns in sie hineinzuversetzen
Traumatisierung Selbstverständliche Empfindungen sind ausgefallen und haben eine klaffende Lücke hinterlassen. Maggie kann ihren Körper nicht mehr spüren, hat kein Gefühl von ihren Gliedern. Nach den Gegenständen, die sie umgeben, kann sie nicht greifen. Sie kann ihr Bett nicht verlassen. Ja, sie kann noch nicht einmal ihren Kopf drehen. Ansätze zur Bewegung, zur Mitteilung bleiben stecken oder verdrehen sich in Gefühle des Unvermögens. Sie ist an Maschinen angeschlossen, die ihr das Weiterleben abnehmen. Pflegekräfte kümmern sich um sie, die Teile eines Betriebes sind, den sie nicht überblicken kann. Sie befindet sich in einem Umfeld, das ihr zwar vieles ab-, damit aber auch wegnimmt. Nur Stück für Stück wird ihr all dies deutlich und nur langsam kommt ihr zu Bewusstsein, welch ungeheure Verkehrung von Triumph in Ohnmacht sie erlitten hat. Sie ist Weltmeisterin geworden und hat doch alles verloren. Sich im Unbekannten vorwärts tastend, muss sie überprüfen, was in dieser Situation Halt geben kann. Worauf kann sie setzen, was erweist sich als trügerisch? Es ist nicht übertrieben, diesen Umbruch als einen Weltuntergang zu fassen. Oder als das Entstehen einer unbekannten Welt, in der es noch keine Orientierungen, keine Selbstverständlichkeiten gibt, auf die man sich stützen kann. Die Kategorien, mit denen die Welt bisher gefasst wurde, sind fremd geworden. Die vertraute Mechanik der Verhältnisse von groß und klein, aktiv und passiv, oben und unten funktioniert nicht wie bisher. Der ganze Rahmen des Lebens ist aus den Fugen geraten. Erlebt sich Maggie wie Jonathan Swifts Gulliver, als er sich auf seinen Reisen plötzlich unter Riesen wieder fand? Kommt ihr das Ganze wie ein Horrorfilm vor? Vielleicht wird sie an ihrem Verstand, ja an ihrer Existenz zweifeln. Wir können es im Detail nicht sagen. Auf jeden Fall aber wird sie darum bemüht sein, eine Ordnung zu finden, die ihren widersprüchlichen und miteinander streitenden Empfindungen, Gedanken und Impulsen einen Sinn verleiht. Maggie ist bisher gut mit ihrem Leben zurechtgekommen. Ihr Charme, ihr Humor und ihre Bereitschaft, sich auf andere einzustellen, haben ihr immer wieder Sympathien eingebracht. Als sie sich dazu entschloss, Boxerin zu werden, ist sie jeden Morgen vor Sonnenaufgang aufgestanden und hat trainiert. Sie hat sich den störrischen Frankie Dunn als Trainer und Manager ausgesucht und ihn nach langem Werben für sich eingenommen. Sie hat gezeigt: Schwere Belastungen kann sie ertragen, ja in Aktivität
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Was Menschen ertragen können …
verwandeln. Mit dieser Haltung hat sie es bis zu einem hoch dotierten Weltmeisterschaftskampf in Las Vegas gebracht. Nicht einmal hat sie geklagt oder Vorwürfe gemacht. So wie sie sich über Jahrzehnte verhalten hat, so gibt sie sich auch nach dem Unfall. Als sie Frankie nach auf Aufwachen aus dem Koma wiedersieht, macht sie einen Witz über seine Bartstoppeln. Als Eddie (Morgan Freeman) – ehemaliger Boxer und Freund Frankies – sie im Krankenhaus besucht, erfährt der Zuschauer, dass es nicht ihre eigene hoffnungslose Situation ist, die ihr Sorgen bereitet, sondern viel mehr die »Enttäuschung«, die sie ihrem Trainer mit dem Sturz zugefügt haben könnte. Über sich selbst witzelt sie mit charmantem Lächeln:
R »Ich bin tief gefroren für den Rest meines Lebens.« Man kann an ihrem Verhalten beobachten, welch eine gewaltige Kraft das Seelenleben aufbringt. Physisch geht in Maggies Leben gar nichts mehr. Aber auf psychischem Gebiet scheint alles weiterzulaufen wie bisher. Der gewaltige Umbruch hat ihrem entgegenkommenden Wesen kaum etwas anhaben können. Von Frankie erhält sie die größtmögliche Unterstützung. Er setzt sich dafür ein, dass sie schon bald in eine schön gelegene Rehabilitationsklinik verlegt wird. Er kontaktiert die besten Ärzte im Land und sucht vergeblich nach Wegen, den Querschnitt der obersten Halswirbel zu heilen. Frankie wäscht seinen Schützling, liest ihm jeden Wunsch von den Augen ab und verbringt ganze Tage an seiner Seite. Maggie lässt sich auf seine Fürsorge ein. Mit der Zeit entsteht eine zärtliche Nähe zwischen den beiden, die manche Zuschauer aufgrund des hohen Altersunterschiedes als irritierend erleben. Aber diese neue Qualität in der Beziehung kann auch als eine Anpassungsleistung verstanden werden. Indem sich Maggie und Frankie auf das Spiel »Wir sind ein Liebespaar« einlassen, etabliert sich ein nicht hinterfragter, psychischer »Übergangsraum« (Winnicott 1971), der dem erlittenen, schweren Schicksalsschlag die Wucht zu nehmen versteht. Das persönliche Unglück verwandelt sich – auch wenn es ein Spiel ist – in den Auftakt eines gemeinsamen Unternehmens. Man weiß nicht, ob die beiden es ernst meinen oder ob es ein Gedankenspiel ist, aber über einen Text des gälisch dichtenden Schriftstellers William Butler Yeats (1865–1939) malen sich Maggie und Frankie aus, wie sie zusammen »eine Hütte« beziehen und dort das Leben gemeinsam verbringen.
Kumulatives Trauma Doch dann bekommt Maggie Besuch von ihrer Familie. Ihre übergewichtige Mutter und ihre beiden Geschwister haben einen Anwalt mitgebracht. Sie wollen Maggie dazu bewegen, ihr Eigentum auf sie zu übertragen. Falls der Boxverband ihre Versorgung ablehne, wäre ihr Geld dann in sicheren Händen. Niemand könne ihr etwas wegnehmen. »Keine Arztkosten, kein Geld für die Beerdigung …« erklärt ihr Bruder grinsend. Frankie möchte eingreifen, aber Maggie bittet ihn, sich zurückzuhalten. Als die Mutter ihr den Kugelschreiber zur Unterschrift in den Mund stecken will, fragt Maggie ob sie den Kampf gesehen habe. Sie sei gut gewesen im Ring. Fast flehentlich blickt die Kranke ihrer Mutter ins Gesicht. Doch der ist die Frage unbehaglich. Sie weicht aus. »Du kannst nichts dafür, hab ich gehört, aber du hast verloren« lautet die Antwort. Es dauert nur noch einen Moment und Maggie bittet ihre Angehörigen das Krankenzimmer zu verlassen. Ihr egoistisches Ansinnen hat sie verletzt. Auch ist sie davon getroffen, dass ihre Mutter sich den im Fernsehen übertragenen Kampf nicht einmal angesehen hat. Als die Familie gegangen ist und Frankie ins Zimmer kommt, wirkt Maggie zum ersten Mal niedergeschlagen. Und als ein Arzt ihr kurze Zeit später mitteilt, das wund gelegene, linke Bein müsse amputiert werden, verliert sie schließlich doch ihren Lebensmut. Frankie spürt, dass sich Maggies zuversichtliche Stimmung verändert. Die Phasen, in denen sie mit ernstem Gesicht in ihrem Bett liegt, werden länger. Er möchte gegen die sich anbahnende Depression angehen. Scheinbar beiläufig blättert er in dem Vor-
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lesungsverzeichnis einer Universität. Er werde ihr einen Hightech-Rollstuhl beschaffen, den sie über eine Art Strohhalm mit dem Mund bedienen könne. Damit werde sie aufs College gehen und studieren. Doch in Maggie beginnt sich eine ganz andere Sicht ihrer Lage zu formieren. Diese teilt sie Frankie mit ernster Miene mit. Mit dem Weltmeisterschaftskampf habe sie ihr wichtigstes Ziel im Leben erreicht. Sie habe die Welt gesehen. Die Menschen hätten ihr zugejubelt. All das habe sie sich niemals träumen lassen. Jetzt wolle sie dieses Leben verlassen. Frankie solle sie nicht so lange hilflos liegen lassen, bis sie die Menschen nicht mehr jubeln hört. Es ist nicht genau auszumachen, wie viele Monate es Maggie gelang, den Zusammenbruch ihrer Welt mit ihrem Optimismus, ihrem Humor zu kompensieren. Aber an dieser Stelle des Films ist es so weit. Nun fühlt sie sich von den Anforderungen ihres neuen Lebens so sehr überfordert, dass sie es hingeben will. Als Frankie ihr mit Nachdruck sagt, er könne ihr nicht beim Sterben helfen, dauert es nicht mehr lange, bis sie den einzigen, ihr verbleibenden Weg der Selbsttötung ausgemacht hat. Sie zerbeißt ihre eigene Zunge, um zu verbluten. Maggie Fitzgerald hatte bisher keine psychische Symptomatik gezeigt. Sie schien auf einem guten Weg zu sein. Doch jetzt bildet sie eine schwere Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) aus.
Anpassungsstörung Mit der der ICD10-Diagnose »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen« (F43) hat die WHO einen Symptomkomplex abgegrenzt, der die Frage aufwirft, wann ein Mensch unter der Wucht des Faktischen Symptome von Krankheitswert ausbildet. Vereinfacht wird dieser Vorgang als »Traumatisierung« oder als Durchbruch des »Reizschutzes« bezeichnet. Genauer betrachtet handelt es sich um den Zusammenbruch einer Lebensform und den gescheiterten Versuch, eine neue, anders tragende Kultivierung auszubilden. Die Unterkategorien fassen den jeweiligen Stand, auf dem der Prozess der Umordnung steht, bzw. stecken geblieben ist. Die »akute Belastungsreaktion« (F43.0) meint Zustände unmittelbarer Überforderung. Der Patient steht aktuell unter dem Eindruck eines schweren Ereignisses. Seine Lebensform wird von der Wucht der Belastung massiv durcheinandergebracht. Alles steht Kopf, die vertrauten Kategorien greifen nicht mehr. Er entwickelt Symptome, die seine Überforderung unmittelbar anzeigen: Herzklopfen, Lähmung, Angst, Ruhelosigkeit, Schlaflosigkeit, Bewusstseinsstörungen, gesteigerte Aktivität etc. Maggie war unmittelbar nach ihrem Unfall bewusstlos. Wahrscheinlich hatte man sie medikamentös sediert. Jedenfalls sind Ausdrucksformen einer akuten Belastungsreaktion bei ihr nicht festzustellen. Die »posttraumatische Belastungsstörung« (F43.1) bezeichnet einen Zustand, in dem sich die Versuche nach dem Zusammenbruch der »alten Welt« eine »neue Ordnung« aufzubauen, nach längerer Zeit erschöpft haben. Es ist zu dauerhaften Verdrehungen und Verformungen gekommen, mit denen sekundäre Belastungen entstanden sind, die den Patienten nun in einer chronischen Alarmstimmung halten. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas (Flashbacks), Albträume, Schreckhaftigkeit oder Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen. Auch die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung lassen sich bei Maggie nicht feststellen. Sie wirkt bis zum Ende kontrolliert und zielstrebig. Die »Anpassungsstörungen« (F43.2) sind zeitlich zwischen diesen beiden Endpunkten der Reihe anzuordnen. Sie beziehen sich auf die mittelfristigen Versuche, das belastende Ereignis zu bewältigen. Als häufigstes Symptom gilt die depressive Reaktion, oft auch in Verbindung mit Suizidalität. Viele Anpassungsstörungen lösen sich mit der Zeit spontan auf. Denn das Seelische verfügt über Mechanismen und kulturelle Hilfsformen, mit denen es das Gleichgewicht wieder finden kann. Stieglitz (2005) grenzt für diesen Prozess einen Zeitrahmen zwischen einem Monat und zwei Jahren ein. Andere Autoren setzen die zeitliche Grenze für eine Anpassungsstörung bei ca. sechs Monaten an (Sonnenmoser 2007). Eine praxisnahe Übersicht über Diagnostik und Therapie von Anpassungs- und akuten Belastungsstörungen gibt das Buch von Bengel (2009). In Maggies Fall haben wir es mit einer Anpassungsstörung zu
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tun, die sich nach der Traumatisierung über längere Zeit unterschwellig entwickelte. Die Verletzung und ihre Folgen, der enttäuschende und kränkende Besuch der Familie sowie die Amputation summieren sich zu einer kumulativen Traumatisierung, der Maggies Bewältigungsversuche schließlich nicht mehr gewachsen sind.
Handlung und Filmerleben In der 90. von insgesamt 120 Minuten lässt Million Dollar Baby (. Abb. 1) Maggie auf der Intensivstation zu sich kommen. Mit ihrer Anpassungsstörung wurde bisher also nur das letzte Viertel des Films thematisiert. Aber Filme bilden im Erleben der Zuschauer ein Ganzes. Wenn sie ihm – im Unterschied zu uns – kein spezielles, inhaltliches Interesse entgegenbringen, werden sie von einem fesselnden Wirkungsprozess erfasst, der weitgehend unbewusst abläuft. Jede Figur, jede Szene, die Musik und die Schnittfolge gestalten diesen Wirkungsprozess mit aus (Blothner 1999). Man kann ihn auch als eine »Doppelwirkung« (Salber 2006, S.59f.) beschreiben: Indem die Zuschauer den Bildern und Tönen auf der Leinwand folgen, den Figuren und ihren Interaktionen zuschauen, entfaltet sich ein Erlebensprozess, der sein Material nicht nur aus dem sichtbaren Film, sondern auch aus ihren eigenen Lebenszusammenhängen bezieht. Es formiert sich ein bedeutsamer Komplex, gerät in Entwicklung, wird über die sichtbare Geschichte zentriert, aufgefächert, gesteigert und in mitreißende Drehungen versetzt. Wenn der Film gut ist, können die Zuschauer über ihn eine nachhaltige Erfahrung über ein »Konstruktionsproblem« (Salber 1977) des Lebens machen. Im folgenden Abschnitt wird der Wirkungsprozess von Million Dollar Baby in seinen wichtigsten Zügen beschrieben. Die empirische Grundlage dafür bilden ein Gruppeninterview des Verfassers mit 16 Zuschauern zwischen 24 und 42 Jahren und eine Diplomarbeit im Fach Psychologie der Universität zu Köln auf der Basis von 10 Tiefeninterviews (Hauser 2006). Es ist keine einladende Filmwelt, in die Million Dollar Baby seine Zuschauer führt. Grobheiten des Faustkampfes, klaffende Wunden, eine heruntergekommene, von zwei alten Männern geführte Halle, in der Jungs aus den Slums von Los Angeles trainieren, setzen sich in Empfindungen von Ekel, Perspektivlosigkeit und Stillstand fort. Das in schmutzigen, grünlich-blauen Farben gehaltene Boxstudio gehört Frankie Dunn, ein gebrochener, alter Mann, dessen Zögerlichkeit es verhindert, seinen begabten Schützling Willie (Mike Colter) zum Titel zu führen. So tritt alles auf der Stelle. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung. Die neu ins Studio gekommene Maggie Fitzgerald treibt ein hartnäckiger Wille. Sie will ihr Talent entwickeln und sich als besondere Gestalt aus dem schmierigen Umfeld herausheben. Wie der halbblinde, ehemalige Boxer Eddie, der als Faktotum die Halle sauber hält, in seinem OffKommentar feststellt:
R »Beim Boxen geht es nicht um Gewalt, es geht um Anerkennung.« Aber zunächst erschöpft sich das Geschehen im Boxstudio noch in großmäuligen Behauptungen und engen Wiederholungskreisen. Erste Ansätze zum Fortkommen formieren sich, wenn Maggie in ihrer freundlichen, offenen Art den störrisch abweisenden Frankie dazu zu bewegen sucht, sie zu trainieren. Sie finden eine Verstärkung, als sich eines Abends Eddie der jungen Frau annimmt und ihr zeigt, wie sie den Boxsack zum Training nutzen kann. Schließlich gibt auch Frankie seine Bedenken auf, macht aber auch gleich eine Einschränkung: Für einen Titelkampf stehe er nicht zur Verfügung. Er wolle nicht dafür verantwortlich sein, dass sich die junge Frau eine schwere Verletzung zuzieht – wie vor vielen Jahren Eddie, der im lange vorbereiteten Titelkampf ein Auge verlor. Trotzdem kommt jetzt eine Entwicklung in Gang. Eine fünfminütige Montage von Trainings- und Übungssituationen lässt ein mitreißendes Gefühl von Form- und Richtungsgewinnen aufkommen. Es ist, als käme nun endlich etwas in Gang, das Aussichten hat, sich aus dem schmierigen Stillstand zu befreien.
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. Abb. 2 »Beim Boxen geht es nicht um Gewalt, es geht um Anerkennung« – Szene mit Clint Eastwood und Hilary Swank, Quelle: Kinowelt/Cinetext
Viele unangenehme Dinge, viel Stillstand und Perspektivlosigkeit müssen die Zuschauer in diesem Film hinnehmen. Aber sie setzen auch darauf, dass eine Entwicklung stattfinden wird und sich die Verhältnisse wandeln. So findet der Film von Anfang an seinen Rhythmus im Wechsel von Steckenbleiben und Weiterkommen. Sich auf die Entwicklung der charmanten und disziplinierten Boxerin Maggie Fitzgerald einzulassen, stimmt zuversichtlich. Niemals verliert sie ihre Freundlichkeit, steckt die Kritik ihres Trainers ohne Murren ein und findet auf diese Weise in eine Form, die darauf drängt im ernsten Kampf erprobt zu werden. Hier will etwas heraus- und weiter kommen. Daher ist es enttäuschend, wenn Frankie seinen Schützling schließlich für »reif« erklärt, aber selbst die Betreuung der Profikarriere ablehnt und Maggie einem windigen Manager überlässt. Als Zuschauer empfindet man das als Verrat an der gemeinsamen Sache. Wieder setzt sich das bedrückende Gefühl durch, aus dem Kreiseln der Ausgangslage nicht herauszukommen. Doch dann kommt es zu einer anrührenden Wendung. Frankie beobachtet, wie schlecht Maggie von ihrem Manager bei ihrem ersten Kampf betreut wird. Er gibt sich einen Ruck und der Verrat findet doch nicht statt. Damit formiert sich erneut ein gemeinsames Unternehmen, das in großen Schritten, von Kampf zu Kampf weiterkommt. Die Zuschauer bekommen einen anschaulichen Anhalt dafür in den immer größeren Hallen, in denen Maggie ihre Auftritte hat, im anschwellenden Brausen der Anfeuerungsrufe und der schnellen Folge ihrer mühelosen Siege. Das Geld, das die bescheiden lebende Boxerin anspart, mit dem sie ihrer Mutter ein Haus kauft, der mit dem gälischen Ausdruck »Mo Cuishle« versehene, seidig-grüne Mantel, den Frankie ihr schenkt (. Abb.2), die sich vertiefende Zuneigung und Verbindlichkeit zwischen ihnen – all das trägt mit dazu bei, dass die Zuschauer nun für längere Zeit den Schwung des Weiterkommens genießen könnenSchließlich ist die Entwicklung der Boxerin so weit gediehen, dass sie die Herausforderung der amtierenden Weltmeisterin wagen kann. Frankie scheint seine Zögerlichkeit verloren zu haben. Aber die Gegnerin wird als gefährlich und unfair beschrieben.
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Was Menschen ertragen können …
Spürbar bedroht von einem erneuten Steckenbleiben, verfolgen die Zuschauer die Vorbereitungen. An dem umjubelten Einmarsch Maggies in die riesige Halle in Las Vegas formiert sich dem zum Trotz der Wunsch auf ein gutes Durchkommen. Der Kampf selbst wird als sehr hart erlebt und die Sorgen um Maggie nehmen zu. Als die Karten gar nicht gut für sie stehen, gibt Frankie seiner Boxerin einen Rat. Sie solle versuchen, den Ischiasnerv ihrer Gegnerin zu treffen. Der Eingriff zeigt Wirkung und die furchtbare Gegnerin geht zu Boden. Die Zuschauer sind erleichtert und das Gefühl von Bedrohung lässt nach. Der Sieg Maggies ist zum Greifen nah und damit ist auch das Weiterkommen, das sich in den Zuschauern gegen alle Schwierigkeiten und Unverrückbarkeiten formierte, kurz davor eine erfolgreiche Abrundung zu finden. Doch dann müssen sie die wohl härteste Wendung des Films hinnehmen: Maggie wendet sich im Triumph von ihrer Gegnerin ab, die nutzt einen vom Schiedsrichter unbeobachteten Moment und versetzt ihr einen Schlag von der Seite, sodass sie mit dem Kopf auf einen bereits in den Ring gestellten Schemel fällt und regungslos liegen bleibt. Dieser hinterlistige Angriff und die vom Film eindringlich dargestellten Folgen qualifizieren sich im Erleben vieler Zuschauer als ein kaum aushaltbarer, sogar körperlich verspürter Schmerz. Man möchte am liebsten Augen und Ohren davor verschließen. Eine Mischung aus Schreck, Unrecht und Unfassbarkeit stellt den Zuschauer vor eine völlig neue, nicht mehr erwartete Situation. Die Siegerin liegt schwer getroffen auf dem Boden. Frankie eilt ihr zu Hilfe. Der Schock über diese unerwartete Wendung färbt alles ein. Man kann die Wucht dieses Drehpunkts nur aus dem gesamten Erlebnisverlauf heraus verstehen. Es hat so lange gedauert, bis sich das gemeinsame Unternehmen von Trainer und Boxschülerin aus dem zähen Sumpf des Feststeckens heraushob. Es hatte sich gegen viele Widerstände durchzusetzen und man war erleichtert, dass es endlich eine Richtung nahm und sich als etwas Eigenständiges erwies. Und nun dies. Kurz vor dem hart erarbeiteten Triumph ist alles zunichtegemacht, was vorher das Erleben trug. Wie viel soll man eigentlich noch ertragen? Eigentlich wollte man sich doch nur unterhalten lassen. Entweder gehen die Zuschauer an dieser Stelle auf Distanz zum Film oder sie nehmen die unerwartete, harte Wendung hin und fügen sich in das sich nun erneut durchsetzende Gefühl des Feststeckens. Künstlich beatmet liegt Maggie auf der Intensivstation und kann ihre Glieder nicht einen Millimeter bewegen. Das wirkt wie das Ende. Und doch regen sich auch hier wieder Ansätze zu einem Weiterkommen. Sie haben nicht den ausladenden Schwung wie vorher, aber an dem Lächeln der Gelähmten, an den selbstironischen Bemerkungen, die sie mit zarter Stimme hervorbringt, kann sich die Hoffnung der Zuschauer auf ein Entkommen aus der misslichen Lage heften. Vielleicht ist die Verletzung doch nicht so schlimm, vielleicht finden Frankie und Maggie einen Weg, den harten Schicksalsschlag abzufedern. Sie haben doch auch im ersten Teil des Films so viel zusammen bewegt! Der Verlegung der ab dem obersten Halswirbel Gelähmten in die schöne Rehabilitationsklinik, in der sich viele hilfreiche Menschen um sie kümmern, gibt dieser Hoffnung Nahrung. Es muss doch für diese schwierige Lage eine Lösung geben! Doch als Maggie den oben erwähnten Besuch von ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern erhält, erleiden solche Hoffnungen einen Rückschlag. Denn es schmerzt, wie sie von ihren Verwandten behandelt wird. Wie muss sich die junge Frau fühlen, wie soll sie mit einer solchen Behandlung umgehen? Es tut gut, dass sie ihre Kräfte bündelt und die gierige Familie hinauswirft. Und doch hat sich seit dem Besuch ein Schatten auf ihre Stimmung gelegt. Sie wirkt lange nicht mehr so zuversichtlich wie vorher. Und als kurze Zeit später ihr wund gelegenes Bein amputiert werden muss, gibt Maggie auf. Sie bittet Frankie darum, ihr beim Sterben zu helfen. Nur gut, dass er ihren Wunsch deutlich zurückweist. Denn er rüttelt an selbstverständlichen Wertungen der Zuschauer. Sterbehilfe berührt ein Tabu, das nicht angetastet werden darf. Viele wollen hier nicht weiter mitmachen und klinken sich aus. Sie verfolgen den Film mit Distanz und vermeiden es, sich noch einmal von ihm berühren zu lassen.
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Andere lassen sich dennoch auf die weitere Handlung ein, die zwar nicht als willkommene Lösung für die aufgebauten Schwierigkeiten erlebt wird, aber immerhin doch als ein Weg, auf dem es weitergeht. Die Zuschauer können kaum glauben, was sie sehen. Maggie zerbeißt sich die eigene Zunge. Ihr Wunsch zu sterben ist stark. Und Frankie sucht darauf nun doch die nötigen Medikamente und Instrumente zusammen, um sie aktiv zu töten. Teils wehrt man sich dagegen, teils empfindet man es als letzten Liebesdienst. Gar nicht wenige Zuschauer erleben den durch Frankie herbeigeführten Tod, seinen letzten Kuss auf den Mund der jungen Frau als den Moment tiefster Verbundenheit zwischen dem ungleichen Paar. Auch wenn die Situation mit all ihrem schlimmen Leiden und ihren moralischen Fallstricken als unlösbar erscheint, stellt sich doch das Gefühl einer (Er)Lösung ein. Sie ist beileibe nicht perfekt und lässt viele Fragen, durchaus auch ein Schuldgefühl offen, aber sie kann doch als ein letzter Schritt im Weiterkommen akzeptiert werden. Einiges zum Gefühl der Abrundung trägt der Abschluss eines bisher nicht erwähnten Spannungsbogens bei. Eddies immer wieder zu hörende Off-Stimme entpuppt sich als ein Brief an Frankies Tochter, die ihren Vater einst verstieß und auf seine Briefe niemals antwortete. Darin wirbt er um das Verständnis für einen Vater, der – das ist seine Überzeugung – die Liebe seiner Tochter in jeder Hinsicht verdiene. Diese Bitte um Verständnis und Vergebung, in deren Argumentation man die gesamten zwei Stunden unwissentlich eingebunden war, verleiht dem fragwürdigen Ende des Films eine versöhnliche Tönung
Ein Film so hart wie das Leben? Auch wenn sie fiktiv ist, eignet sich die Geschichte der Filmfigur Maggie Fitzgerald recht gut zur Veranschaulichung einer Anpassungsstörung aufgrund schwerer, körperlicher Traumatisierung. Aber die Beschreibung der Wirkungsprozesse zeigt: Der Film Million Dollar Baby geht über dieses Thema hinaus. Er ist ein komplexes, filmisches Werk, das seine Zuschauer mit der Härte des Lebens, mit schwer zu ertragenden Wendungen konfrontiert und ihnen dennoch das Gefühl vermittelt, tief berührt und gut unterhalten zu werden. Diese Wirkung ist ausschlaggebend dafür, dass der Film beim Publikum auf Resonanz stieß und Clint Eastwood, sein Film und seine Hauptdarstellerin mit zahlreichen hoch dotierten Filmpreisen ausgezeichnet wurden. Zum Abschluss wird nun die Frage aufgeworfen, was Million Dollar Baby zu einem bewegenden Film macht. Kaum ein erfolgreicher Film der vergangenen Jahre führte wie Million Dollar Baby seine Zuschauer in eine derart realistisch anmutende, schmutzige, abstoßende und Hoffnungslosigkeit ausstrahlende Welt. Die Figuren, die wir in Frankies Boxklub kennenlernen, sind gebrochene Gestalten, von der Härte des Lebens gezeichnet. Viele von ihnen leben am Rande des Existenzminimums. Bis auf die wenigen, kurzen Szenen, in denen Maggie am Strand joggt, bekommt man keine im üblichen Sinne »schönen Kinobilder« zu sehen. Die intensiven Boxkampfinszenierungen Eastwoods wirken auf viele Zuschauer abstoßend. Man bekommt unmittelbar vor Augen geführt, wie verletzbar der menschliche Körper ist, blickt in blutige Augen, auf gebrochene Nasen und wird Zeuge, wie Frankie seinen Schützlingen Blut und Schleim aus dem geschundenen Gesicht entfernt. Mit solchen Bildern, aber auch mit seiner einfachen, unprätentiösen Erzählform gelingt es Clint Eastwood, seinen Zuschauern das Unperfekte der menschlichen Wirklichkeit unmittelbar erfahrbar zu machen. Eine Wirkung, die man von einem Hollywood-Film in der Regel nicht erwartet. Die Geschichte von Million Dollar Baby spielt zwar im Boxmilieu, aber sie spricht auch Menschen an, die von Boxen nichts verstehen und für diesen Sport keinerlei Interesse aufbringen. Dem Drehbuchautor Paul Haggis und Clint Eastwood gelingt es, den meisten Trainings- und Kampfszenen universelle, menschliche Grundsituationen zu unterlegen. Sie verleihen den Erfahrungen, die die Zuschauer mit den Schwierigkeiten ihres eigenen Lebens machen, einen zugespitzten Ausdruck. Die Anläufe, die in sich zusammenbrechen, das Einstecken, Aushalten und Austeilen von Schlägen, die Ansätze zum
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Was Menschen ertragen können …
Weiterkommen, die immer wieder stecken bleiben, führen aufgrund des intensiven Milieus im Erleben der Zuschauer ein gutes Stück über den gelebten Alltag hinaus. An den dunklen Farben des Films, den gebrochenen, aber kämpfenden Figuren, den kippligen Auftritten im Ring wird das »Durchboxen« durch die Realität des Lebens zum Ereignis. Filme haben eine besonders starke Wirkung, wenn sie »Konstruktionsprobleme des Lebens spürbar« machen (Salber 1977, S.102f.). Bei Million Dollar Baby handelt es sich um die Erfahrung, wie fragil die menschlichen Unternehmungen sind und welch ungeahnten Gegenwirkungen sie ausgesetzt sind. Wir hätten gerne, dass unsere Pläne geradlinig zum Ziel führen, doch in den meisten Fällen entwickeln sie sich nur in einem mühseligen Wechsel von Anpeilen und Verfehlen, Richtung und Brechung, Werden und Vergehen. Das sind Wendungen, die wir gerne verleugnen, die unseren Alltag aber dennoch ausmachen. Wir sehen uns gerne als Sieger und »Weltmeister«, tatsächlich aber haben wir es in der Regel mit Aufgaben zu tun, die uns eine »kniffige Behandlung der Realität« (Freud 1938, S.61) abverlangen. In Million Dollar Baby kommen wir nicht eine Minute aus diesem unperfekten Rahmen heraus. Und schließlich führt uns der Film auf den Punkt zu, dass in manchen Situationen »das Falsche«, nämlich die Sterbehilfe, »das Richtige« sein kann. Auch das ist eine schwer zu ertragende Zumutung, die man von einem Hollywood-Film nicht unbedingt erwartet. Das hört sich alles schwierig an. Aber Clint Eastwoods Film ist auf einer anderen Ebene erstaunlich einfach und übersichtlich. Denn er bezieht das Filmerleben in eine schlichte, dem organischen Leben entlehnte Figuration ein. Man kann sie als langen, mühseligen Aufbau einer Gestalt (Boxerin) beschreiben, die ihre beste Ausprägung erlangt, um schon im nächsten Augenblick wieder in sich zusammenzufallen. Dieses schlichte Aufblühen und Vergehen einer Gestalt ist die übergreifende Figuration, die dem Erleben der Zuschauer eine spürbare Ausrichtung und damit auch Halt gibt. Der Filmfigur Maggie Fitzgerald fühlt sich von den Folgen ihrer Verletzung überfordert und entwickelt eine Anpassungsstörung. Mit seinem wenig anziehenden Milieu, seinen schwer zu verdauenden Wendungen verlangt Million Dollar Baby im Ganzen von seinen Zuschauern offenbar auch eine beachtliche Anpassungsleistung. Nicht alle kommen durch ihn mit dem Gefühl hindurch, eine wertvolle Erfahrung zu machen. Wenn es jedoch gelingt, die Zuspitzungen des Filmwerks als Ausdruck einer universellen Grundsituation zu verstehen, entfaltet es eine Wirkung, an die man sich auch nach Jahren noch gerne erinnert.
Literatur Bengel J (2009) Anpassungsstörung und akute Belastungsstörung. Hogrefe, Göttingen Blothner D (1999) Erlebniswelt Kino. Lübbe, Bergisch Gladbach Freud S (1938) Die Ichspaltung im Abwehrvorgang. GW XVII, Fischer, Frankfurt, 57–62 Hauser A (2006) Psychologische Untersuchung zu Wirkungsprozessen beim Film »Million Dollar Baby«. Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Universität zu Köln Salber W (1977) Kunst. Psychologie. Behandlung. Bouvier, Bonn Salber W (2006) Goethe zum Film. Bouvier, Bonn Sonnenmoser M (2007) Anpassungsstörungen: Wenig beachtet und kaum untersucht. Deutsches Ärzteblatt, April 2007, 171 Stieglitz R-D (2005) Anpassungs- und Belastungsstörungen in der ICD-10. psychoneuro 31(1): 16–20 Winnicott D (1971) Vom Spiel zur Kreativität. Klett Cotta, Stuttgart
179 Million Dollar Baby – Maggie Fitzgerald (Hilary Swank)
Originaltitel
Million Dollar Baby
Erscheinungsjahr
2004
Land
USA
Buch
Paul Haggis
Regie
Clint Eastwood
Hauptdarsteller
Clint Eastwood (Frankie Dunn), Hilary Swank (Maggie Fitzgerald), Morgan Freeman (Eddie »Scrap« Dupris)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Synchronfassung erhältlich
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Svenja Taubner und Elisabeth Pauza
... alles, was du sein wolltest, bin ich! Multiple Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F44.81) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Die klinische Theorie der multiplen Persönlichkeitsstörung. . . 190 Die multiple Persönlichkeitsstörung als Identitätsstörung am Beispiel des Fight-Club-Erzählers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Exkurs: zwei potenzielle »Missverständnisse« in der Interpretation des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Die Integration der Destruktion und Verantwortungsübernahme als Bewältigung der Persönlichkeitsspaltung . . . . 196 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
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Filmplakat Fight Club, USA, Deutschland 1999 Quelle: Cinetext
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Fight Club David Fincher, Tyler Durden (Edward Norton, Brad Pitt)
Der Film Fight Club (. Abb. 1) wurde von dem Regisseur David Fincher nach der gleichnamigen Romanvorlage von Chuck Palahniuk verfilmt. Als der Film 1999 in den Kinos erschien, war die Reaktion der Presse gespalten. Einerseits wurde die offene Darstellung von Gewalt kritisiert und der Filmkritiker Roger Ebert bezeichnete den Film als »fascist big-star movie« bzw. »macho porn«, andererseits erklärte ihn die New York Times als einen der besten Filme des Jahres (wikipedia 2009a), The Guardian titulierte die Kameraführung als bahnbrechend und innovativ (wikipedia 2009b). Erst mit den Erlösen aus DVD-Verkäufen wurde der Film zu einem kommerziellen Erfolg, gilt heute als Kultfilm und wurde von den Lesern der Cinema zum siebtbesten Film aller Zeiten gewählt (Cinema 2006). In den Rezeptionen des Films wird häufig auf die im Film dargestellte Konsumkritik und den Generationenkonflikt in der westlichen Gesellschaft verwiesen sowie auf die Anspielungen zum amerikanischen Faschismus sowie dem Scheitern des modernen Mannes (Shuck u. Stroup 2007; White 2007). In unserer Rezeption werden wir den Film als Illustration nutzen, um die Diagnose einer multiplen Persönlichkeitsstörung zu verlebendigen. Keinesfalls gehen wir davon aus, dass der Regisseur dies ebenfalls intendierte, weshalb unsere Interpretation nicht beabsichtigt, dem Film als einem Gesamtkunstwerk gerecht zu werden (! Beitrag von T. Storck in diesem Band zur Methodologie der psychoanalytischen Filminterpretation).
Die Handlung Bereits im Vorspann verfolgt der Betrachter aus der Ich-Perspektive wie ein Angstimpuls in einer rasanten Rückwärtsfahrt durch das neuronale Netzwerk des Protagonisten rast. Die Kamerafahrt dringt weiter nach außen, tritt aus einem Haarfollikel schließlich aus dem Kopf des Protagonisten heraus und eröffnet den Blick auf eine Szene. Der Zuschauer erblickt einen blutverschmierten Mann in der Gewalt eines anderen, der ihm die Mündung eines Revolvers in den Mund hält. Fast unbeteiligt an der gefährlichen Szene, ertönt die Stimme des Opfers aus dem Off, der dem Zuschauer berichten will, wie er in diese Situation geraten sei. Das tödlich bedrohte Opfer entpuppt sich als der namenlose Ich-Erzähler (Edward Norton), der den Zuschauer durch den Film mit seinen Gedanken und Interpretationen begleiten wird, um eine »Phase« seines Lebens zu beschreiben. Begonnen hätten die – für den Zuschauer vorerst nur in Form des Revolvers in seinem Mund erkennbaren - »Schwierigkeiten« mit Schlaflosigkeit, an der der Erzähler sechs Monate lang gelitten habe; auch würde er manchmal an Orten aufwachen und nicht wissen, wie er dorthin gelangt sei. Als er sich Hilfe suchend an einen Arzt wendet, zeigt dieser kaum Mitgefühl, empfiehlt Baldrian und verweist auf die Menschen, die wirklich leiden würden wie z.B. Patienten mit Hodenkrebs. Neugierig sucht der Protagonist daraufhin eine Hodenkrebs-Selbsthilfegruppe auf und kann dort erstmals »loslassen« und an der Brust des echten Hodenkrebspatienten Bob (Meat Loaf) weinen. Daraufhin schläft er wie ein Baby und wird süchtig nach Selbsthilfegruppen körperlich todkranker Menschen:
R »Wenn Menschen glauben, du stirbst, dann hören sie dir richtig zu und warten nicht einfach darauf, bis sie reden können.« Als jedoch Marla (Helena Bonham Carter) ebenfalls als eine Krankheit vortäuschende »Selbsthilfegruppentouristin« an seinen Gruppen teilnimmt, beginnen die Schlafstörungen erneut, da Marlas Lüge seine eigene spiegelt.
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. Abb. 2 Im Keller einer Diskothek erhalten die Schlägereien einen Rahmen und einen Namen: »Fight Club« – Szene mit Brad Pitt, Quelle: Cinetext
Der Zuschauer erfährt, dass der Ich-Erzähler in einer Wohnung lebt, die er vollständig mit Ikea-Möbeln ausgestattet hat, was er als »Ikea-Nestbautrieb« bezeichnet und sich fragt, welche Esszimmergarnitur am besten seine Persönlichkeit definiere. Er arbeitet bei einer Autofirma als »Rückrufkoordinator«, d.h. er besichtigt Unfallorte und berechnet, ob seine Firma aufgrund der Mängel der Automobile einen Rückruf durchführen sollte. Ironisch kommentiert er, dass hier nur die »Formel« zähle, die die Kosten abwäge, und nicht die Sicherheit der Autofahrer. Bei seinen zahlreichen Dienstreisen betet er um einen Absturz oder eine Kollision des Flugzeugs, um seinem unerfüllten Leben »eine neue Wendung« zu geben. Als er im Flugzeug Tyler Durden (Brad Pitt) kennenlernt, ist er von diesem fasziniert. Zurück bei seinem Wohnblock, findet der Erzähler seine Wohnung explodiert vor, die schönen Ikea-Möbel liegen zerstört auf der Straße. Später stellt sich heraus, dass Tyler die Wohnung mit selbst gebautem Dynamit gesprengt hat. Ohne zu wissen warum, wählt der Protagonist die Telefonnummer von Tyler Durden und bezieht mit ihm ein baufälliges verlassenes Haus. Tyler entpuppt sich als ein in das Essen urinierender Kellner und als Filmvorführer, der Bilder von Geschlechtsteilen in die Übergänge der Filmrollen einfügt. Seine Haupteinnahmequelle besteht daraus, nachts abgesaugtes Körperfett aus Schönheitskliniken zu stehlen, um daraus Seife zu produzieren. Bereits am ersten gemeinsamen Abend initiiert Tyler zwischen den beiden eine Schlägerei. Der Schmerz fasziniert den Ich-Erzähler, sodass die Prügeleien zwischen den beiden jeden Samstag, bald mit Publikum und später Mitschlägern fortgesetzt werden. Im Keller einer Diskothek erhalten die Schlägereien einen Rahmen und einen Namen: »Fight Club« (. Abb. 2). Der Klub basiert auf einer Regelsatzung mit acht Gesetzen, die von Tyler ausgerufen wird. Das wichtigste Gesetz ist, dass über den »Fight Club« nicht gesprochen werden darf.
185 Fight Club – David Fincher, Tyler Durden (Edward Norton, Brad Pitt)
Der Protagonist verzichtet in der Folge auf seine Selbsthilfegruppen, da diese durch den »Fight Club« ersetzt wurden:
R »… nach einem Kampf ist alles andere im Leben leiser gedreht.« Marla meldet sich wieder und droht am Telefon mit einem Suizid. Der Protagonist reagiert sichtlich genervt und legt den Hörer beiseite, den Tyler dann wieder aufhebt. Der Erzähler träumt in der Nacht von Geschlechtsverkehr mit Marla und ist dann sehr überrascht, dass er Marla am nächsten Morgen beim Frühstück trifft. Diese war von Tyler abgeholt worden und hatte mit diesem Sex. In der Folge fühlt sich der Erzähler durch den regelmäßigen und sehr lauten Sex von Tyler und Marla erheblich gestört und lässt dies Marla immer wieder spüren, sodass diese dann enttäuscht das Haus verlässt. Selbst als Marla ihn bittet, einen Knoten in ihrer Brust zu ertasten, reagiert er gleichgültig und kalt, erfüllt ihr jedoch den Wunsch. Der »Fight Club« wird zu einer festeren Gemeinschaft und Tyler zu einer Heldenfigur, die mehr und mehr Einfluss auf die Mitglieder gewinnt, z.B. »Hausaufgaben« verteilt, die zunächst Prügeleien beinhalten und später zu gezieltem Vandalismus gegen die Konsumgesellschaft beauftragen. Der IchErzähler verprügelt sich selbst und kann dies seinem Chef anlasten, sodass er bei vollen Bezügen und einer hohen Wiedergutmachungssumme von seiner Arbeit freigestellt wird. Tyler gründet das Projekt »Chaos«, das eine paramilitärische Gruppe darstellt, die gezielte terroristische Aktivitäten planen und durchführen, jedoch ohne dass Menschen dabei verletzt werden. Die Gruppe wohnt in dem gemeinsamen besetzten Haus, der Erzähler wird jedoch offenbar in die Pläne der Gruppe nicht miteinbezogen. Während die terroristischen Aktivitäten der Gruppe »Chaos« sich stetig in ihrer Intensität steigern, werden auch die Handlungen von dem Erzähler und Tyler immer destruktiver: Der Protagonist prügelt auf einen bereits Ohnmächtigen ein und verursacht den Verlust von dessen Auge, Tyler fährt als Geisterfahrer auf eine Autobahn und verursacht einen schweren Unfall, den jedoch beide Beteiligten überleben. Die Entwicklung gipfelt in dem Tod von Bob, der bei einem Akt des Vandalismus von der Polizei erschossen wird. Dieser Verlust leitet eine Wende ein, der Erzähler macht sich auf die Suche nach Tyler, der in den ganzen USA Filialen des »Fight Club« gegründet hat. Als ein Barkeeper ihn als Tyler Durden wieder erkennt und anspricht, entwickelt er einen schrecklichen Verdacht und ruft Marla an. Diese bestätigt, dass sie ihn ebenfalls als Tyler Durden kenne, regelmäßig erst Sex mit ihm habe und dann abgelehnt werde und die zwei Seiten seiner Persönlichkeit kaum ertragen könne. Als der Protagonist erkennt, dass er und Tyler Durden eine Person sind, erscheint dieser in seinem Zimmer und droht, dass er nun Marla ermorden werde, da sie die einzige Zeugin für die doppelte Persönlichkeit sei. Der Protagonist schläft gegen seinen Willen ein und als er erwacht, ist Tyler verschwunden. In der Zentrale des Projekts »Chaos« entdeckt der Protagonist, dass die Gruppe die Sprengung der Hauptsitze der Kreditinstitute und Schuldenstelle plant, damit alle Bürger mit denselben Finanzen ausgestattet »von Null« anfangen können. Sein Versuch, sich als Anführer einer terroristischen Organisation festnehmen zu lassen, scheitert, da die Beamten Teil der Chaosgruppe sind und ihn als Verräter kastrieren wollen. Der Protagonist kann sich befreien und trifft im Keller des zu sprengenden Hochhauses auf Tyler. In einer wilden Schlägerei versuchen beide, ihre Ziele durchzusetzen, was filmisch derart umgesetzt ist, dass aus der subjektiven Sicht Tyler und der Erzähler zu sehen sind, während aus der (objektiven) Sicht der Überwachungskameras nur ein Prügelnder (Edward Norton) anwesend ist, der sich selbst attackiert. Aus Sicht des Protagonisten gewinnt schließlich Tyler die Überhand, fesselt den Ich-Erzähler und schiebt ihm den Lauf seiner Pistole in den Mund. Tyler lässt sich von seinem Sprengungsplan nicht abbringen und gebietet dem Ich-Erzähler, dass er die alleinige Kontrolle über die Persönlichkeit übernehmen werde, da er alles das verkörpere, was der Ich-Erzähler immer habe sein wollen. Der Protagonist kann sich innerlich dagegen wehren und bringt so die Waffe in seinen Besitz. Um Tyler loszuwerden, schießt er sich in den
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... alles, was du sein wolltest, bin ich !
Mund, tötet Tyler und überlebt selbst. Der Film endet damit, dass Marla zu ihm tritt und beide Hand in Hand die Sprengung von drei Hochhäusern betrachten. Der Protagonist bemerkt lakonisch zu Marla:
R »Du hast mich in einer komischen Phase meines Lebens kennengelernt.«
Die klinische Theorie der multiplen Persönlichkeitsstörung Frühe Fallschilderungen von Bewusstseinsspaltungen (Dissoziationen), die unangenehme Erinnerungen oder Ideen aus dem Bewusstsein fernhalten sollen, wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem von Janet, Charcot und Freud zum Verständnis hysterischer Erkrankungen beschrieben. Der Zusammenhang von dissoziativen Phänomenen und frühen Traumatisierungen wurde bereits dort hergestellt, wobei zwei verschiedene Konzepte der Ätiologie der Dissoziation in einem Widerspruch zueinander standen: Während Janet die Dissoziation auf ein Defizit an psychischer Energie aufgrund einer Traumatisierung zurückführte, konzeptualisierte Freud die Dissoziation als dynamisch-konflikthafte Abwehr im Sinne eines aktiven Ausschließens schmerzhafter Inhalte (Nemiah 1998). Vermehrt kontrovers diskutiert und beforscht wird das Störungsbild wieder seit Mitte der 1970er Jahre, wobei die Dissoziation nicht mehr mit der Hysterie in Verbindung gebracht wird, sondern ein eigenes Störungsbild darstellt. Die Schätzungen zur Prävalenz der multiplen Persönlichkeitsstörung liegen bei bis zu 1%, Frauen sind häufiger betroffen als Männer (Fiedler 2001). Die diagnostischen Kriterien ICD-10 (Dilling et al. 2000) werden folgend aufgelistet1Diagnostische Kriterien der multiplen Persönlichkeitsstörung (F44.81) der ICD-10 E Das grundlegende Merkmal ist das offensichtliche Vorhandensein von zwei oder mehr verschiedenen Persönlichkeiten bei einem Individuum. Dabei ist zu jedem Zeitpunkt jeweils nur eine sichtbar. E Jede Persönlichkeit ist vollständig, mit ihren eigenen Erinnerungen, Verhaltensweisen und Vorlieben. Diese können in deutlichem Kontrast zu der prämorbiden Persönlichkeit stehen. E Bei der häufigsten Form mit zwei Persönlichkeiten ist meist eine von beiden dominant, keine hat Zugang zu den Erinnerungen der anderen, und die eine ist sich der Existenz der anderen fast niemals bewusst. E Der Wechsel von der einen Persönlichkeit zu der anderen vollzieht sich beim ersten Mal gewöhnlich plötzlich und ist eng mit traumatischen Erlebnissen verbunden. Spätere Wechsel sind oft begrenzt auf dramatische oder belastende Ereignisse oder treten in Therapiesitzungen auf. Übergreifend kennzeichnend für die unterschiedlichen Facetten der dissoziativen Identitätsstörung ist die Unfähigkeit der Betroffenen, verschiedene Aspekte der Identität, des Gedächtnisses und des Bewusstseins zu integrieren. Es gelingt ihnen nicht, innerpsychisch eine ganzheitlich erlebte und ganzheitlich wirkende Selbstsicht bzw. Erfahrungswelt aufzubauen. (Fiedler 2001, S. 185) Bei der Dissoziation findet eine Unterbrechung der integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung der Umwelt statt. Die wichtigsten differenzialdiagnostischen Abgrenzungen der multiplen Persönlichkeitsstörung bestehen darin, dass sie nicht zu den schizophrenen Erkrankungen gehört, d. h., dass die verschiedenen Persönlichkeitsanteile keine 1 Im diagnostisch-statistischen Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (DSM-IV) (Saß et al. 2003) hat sich die Bezeichnung »dissoziative Identitätsstörung« durchgesetzt und wird von der Fachwelt akzeptiert, da diese dem Störungsbild in Hinblick auf die besondere Form der zeitweilig dissoziierten Identitätszustände besser zu entsprechen vermag. Trotzdem werden wir im Folgenden die Begrifflichkeit des ICD-10 nutzen und von einer »multiplen Persönlichkeitsstörung« sprechen.
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wahnhaften Erscheinungen oder Halluzinationen sind. Darüber hinaus ist die Erkrankung trotz ihres Namens keine Persönlichkeitsstörung im engeren Sinne, obwohl diese komorbid vorhanden sein können. Insbesondere sind die Borderline-Persönlichkeitsstörung mit Instabilität der Identität, Stimmungsschwankungen und möglicherweise selbstverletzendem Verhalten und die schizotype Persönlichkeitsstörung mit magischen Denkinhalten und/oder seltsamen Denküberzeugungen, aufgrund von diagnostischen Überschneidungen von der multiplen Persönlichkeitsstörung schwer abzugrenzen. Liegt zusätzlich zur dissoziativen Identitätsstörung eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine affektive Störung vor, sollen diese auch diagnostiziert werden. Organmedizinische Erkrankungen wie z. B. Epilepsie schließen die Diagnose aus (Fiedler 2001). Schwierig ist ebenfalls, dass die Diagnose »multiple Persönlichkeitsstörung« oft erst nach Jahren psychotherapeutischer Behandlung gestellt wird, da meist die Gastgeberpersönlichkeit (»host«), die gewöhnlich den Namen der Person trägt, sich aufgrund anderer psychischer Probleme in Behandlung begibt, ähnlich wie im Film leidet der »host« häufig unter depressiven Symptomen. Ätiologisch ist der Zusammenhang von schwersten traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und dissoziativer Identitätsstörung zahlreich empirisch belegt worden (Putnam 2003). Erinnerungen und Erlebnisse insbesondere traumatische Inhalte, werden abgespalten. Die Defizithypothese von Janet hat sich weitestgehend durchgesetzt, sodass Dissoziationen als das Versagen kognitiver Verarbeitungsprozesse verstanden werden (Van der Kolk et al. 1996). Gullestad (2008) kritisiert zu Recht, dass eine Vernachlässigung des psychoanalytischen Beitrags zum Traumadiskurs zu einer mechanistischen Konzeptualisierung führt, da die subjektive Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses vernachlässigt wird. Das Konzept der Mentalisierung, das in den letzten Jahren von der Forschergruppe um Fonagy und Target innerhalb der Psychoanalyse wiederentdeckt wurde, erscheint hier als Brückenkonzept zwischen den defizit- und konfliktorientierten Auffassungen zur Dissoziation und wird daher im Folgenden etwas ausführlicher erläutert. Mentalisierung bezieht sich auf die Fähigkeit, sich selbst und andere auf der Grundlage mentaler Befindlichkeiten (Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse) zu verstehen (Fonagy et al. 1998). Durch Mentalisierung wird das eigene Verhalten mit der eigenen emotionalen Erfahrung verbunden und somit als sinnvoll erfahrbar Darüber hinaus wird auch das Verhalten anderer als sinnvoll wahrgenommen und wird damit ebenfalls vorhersehbar (Allen 2003; Bateman u. Fonagy 2004). Somit kann Mentalisierung als Gegenstück zur Dissoziation verstanden werden. Innerhalb der psychoanalytischen Theorie der Seele ist Mentalisierung ein bedeutender Baustein in der Organisation der Abwehr, der Affektkontrolle und der Kohärenz innerpsychischer Repräsentationen(vgl. die Londoner-Eltern-Kind-Studie: Fonagy et al. 1991; Fonagy et al. 1994). Luquet (1981, 1987 zit nach Lecours u. Bouchard 1997) bezeichnete Mentalisierung treffend als »Immunsystem« der Psyche, mit dessen Hilfe innere und äußere Stressfaktoren absorbiert und durch die Anreicherung mit innerpsychischer Bedeutung (Elaborierung) letztlich integriert werden können. Die Fähigkeit zu mentalisieren stellt eine Entwicklungserrungenschaft dar, die sich etwa im Alter zwischen drei und fünf Jahren im Kontext einer sicheren Bindung entwickelt(Fonagy et al. 2007). Die Entwicklungstheorie basiert auf den Erkenntnissen der Säuglings- und Emotionsforschung und folgt der Grundannahme, dass Säuglinge angeborene und automatische Primäraffekte aufweisen, die sie weder verstehen noch kontrollieren können (Fonagy et al. 2002). Daher ist der Säugling bezüglich seiner Affektregulierung zunächst auf seine Betreuungsperson angewiesen und verfügt erst dann über eine emotionale Selbstkontrolle, wenn sich sekundäre Regulations- oder Kontrollstrukturen über Repräsentationen entwickelt haben. In der Entwicklung des Kindes werden also affektive Prozesse durch sekundäre Kontrollstrukturen kognitiv zugänglich, d.h. Affekte können dann überwacht und gesteuert werden (Affektregulierung) und dienen als Grundlage zur Vorhersage von Verhalten, da affektive Zustände dem Selbst oder anderen zugeschrieben werden können (Mentalisierung). Mentale Repräsentationen von Beziehungserfahrungen werden von Bindungsforschern und Objektbeziehungstheoretikern als vorsprachliche Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses angesehen,
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die nicht bewusstseinsfähig sind und dem Individuum nur innerhalb einer Handlung ein Schema des »Wie« bereitstellen (Innere Arbeitsmodelle von Bindung Bowlby 1973; Selbst-Objekt-Affekt-Triaden, Kernberg 1984). Selbstrepräsentanzen werden als sekundäre Repräsentanzen des primären kindlichen Selbst aufgefasst, die durch die Affektspiegelung der Betreuungsperson gebildet werden. Die gelungene frühe Affektspiegelung zeichnet sich dadurch aus, dass der Affekt des Säuglings akkurat und markiert gespiegelt wird. Eine fehlende Kongruenz in der Affektspiegelung bedeutet, dass die Betreuungsperson zwar markiert spiegelt, aber den Affekt des Säuglings missversteht. Der inkongruente Affekt wird vom Säugling als sekundäre Repräsentanz verankert. Folglich wird eine verzerrte sekundäre Repräsentanz des gespiegelten primären Affekts internalisiert, was zu einer verzerrten Wahrnehmung der eigenen Gefühlszustände führt (Fonagy et al. 2002). In der Folge können pathologisch verzerrte Selbstrepräsentanzen entstehen, wie sie von Winnicott in seinem Konzept des »Falschen Selbst« beschrieben wurden(Winnicott 1960). Unter diesen Umständen ist der Säugling gezwungen, die mütterlichen Repräsentationen als Kern seines Selbst zu internalisieren. Diese Strukturen bleiben jedoch fremd, da sie keine Verbindung zu ihm aufweisen(Winnicott 1967). Ein Selbst, dessen Wesen nicht anerkannt worden ist, ist ein leeres Selbst. Die Leere spiegelt die Aktivierung sekundärer Repräsentationen, denen die entsprechenden Verbindungen zur affektiven Aktivierung innerhalb des Selbst fehlen. Emotionale Erfahrungen bleiben bedeutungslos. Der Betreffende hält möglicherweise Ausschau nach starken anderen, mit denen er verschmelzen kann, um das innere Vakuum mit geborgter Kraft und geborgten Idealen aufzufüllen(Fonagy u. Target 2002). Die nicht zum Selbstzustand passenden mentalen Repräsentanzen bilden einen unerträglichen Fremdkörper im Selbst des Kindes, da sie nicht die kindlichen Selbstzustände, sondern die der Bezugsperson repräsentieren. Die Externalisierung fremder Selbstanteile, die dann im anderen gehasst, entwertet und bekämpft werden können, dient der Kohärenz des Selbst. Wenn die Abwehrorganisation der Spaltung in gute und böse Teile zusammenbricht, können fragmentierte Selbstanteile zu neuen Einheiten verschmelzen (Steiner 1982). Die Dissoziation verschiedener eigener und fremder Selbstanteile in Alter-Ego-Persönlichkeiten stellt einen noch radikaleren Schutzmechanismus dar, da die Selbstkontinuität damit unterbrochen wird. Gleichzeitig muss sie als eine Anpassungsleistung des Subjekts verstanden werden, da nur so eine Bewältigung traumatischer Affekte und damit das psychische Überleben gewährleistet ist. Im Gegensatz zur projektiven und Spaltungsabwehr der Borderline-Persönlichkeitsorganisation bedeutet die Dissoziation unerträglicher Affekte in verschiedene Persönlichkeitsanteile darüber hinaus eine Unabhängigkeit von einem physisch anwesenden Objekt. Nach Fonagy et al. (2002, S19) birgt jeder in sich den Keim des fremden anderen: Wir alle tragen ein fremdes Selbst in uns, weil vorübergehende Fehlabstimmungen auch bei normaler Versorgung des Kindes nicht zu vermeiden sind; mit der Entwicklung der Mentalisierung und unter der Voraussetzung, dass das Individuum in der mittleren Kindheit keiner Traumatisierung durch die Umwelt ausgesetzt war, werden die Lücken im Selbst, die der nicht-kontingenten Betreuung entsprechen, durch die Selbstnarrative überbrückt, die ein angemessenes mentales Funktionieren hervorzubringen vermag. (Fonagy et al. 2002, S19)
Reife Mentalisierung bewirkt also die Integration internalisierter fremder Selbstzustände in eine kohärente Selbststruktur. Das fremde Selbst wird sich vorrangig dann pathologisch entwickeln, wenn die Mentalisierung gehemmt ist und spätere Traumatisierungen es im Kontext von Abwehrprozessen aktivieren, d.h. hier wird die scheinbare Dichotomie zwischen Konflikt und Defizit aufgehoben und verdeutlicht, dass diese in der Realität multipler Persönlichkeitsstörungen ineinandergreifen.
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Die multiple Persönlichkeitsstörung als Identitätsstörung am Beispiel des Fight-Club-Erzählers Der Ich-Erzähler im Film Fight Clubs kann u.E. im Sinne der klinischen Theorie der multiplen Persönlichkeitsstörung als Illustration einer Gastgeberpersönlichkeit (»host«) bezeichnet werden, deren Entwicklung und besondere Merkmale im Folgenden nachgezeichnet werden soll. Die für die multiple Persönlichkeitsstörung typische Identitätsstörung wird durch unterschiedliche filmische Mittel umgesetzt. So bleibt der Ich-Erzähler für den Zuschauer im gesamten Film namenlos, gibt sich in den Selbsthilfegruppen verschiedene Pseudonyme. In dem verlassenen Haus findet er Texte eines »Jacks«, die aus der Sicht von dessen Körperteilen geschrieben sind. Diese Texte greift der Ich-Erzähler auf, um seine Gefühle zu beschreiben. In einer Situation der Enttäuschung beschreibt er sich z.B. als Jacks gebrochenes Herz. Dieses stilistische Mittel hat andere Interpreten des Films dazu verführt, den Ich-Erzähler als »Jack« zu bezeichnen (Ziob 2005), was darauf verweist, wie schwierig das Namenlose einer Person auszuhalten ist, die sich hinter den Körperteilen eines anderen oder Pseudonymen verbirgt. Eine physische oder sexuelle Traumatisierung wird nicht benannt, aber in seinem Job ist der IchErzähler immer wieder mit schweren Traumata konfrontiert wie den Überresten verkohlter Leichen aus Autounfällen. Von den Gefühlen, die ein solches Leiden auslösen könnten, distanziert sich der Erzähler in zynischer Weise mit der Hilfe der »Formel«, die berechnet, ob eine mögliche Regressforderung die Kosten einer Rückrufaktion übersteigen würde. Biografisch erfährt der Zuschauer wenig. Der Ich-Erzähler berichtet von seinem Vater, der die Familie verließ als er sechs Jahre alt war, um eine neue Familie zu gründen. Als Tyler eine sexuelle Beziehung zu Marla aufnimmt, fühlt sich der Erzähler wieder wie ein 6-jähriger Junge, der Botschaften zwischen seinen Eltern vermitteln müsse. Man kann sich daher ein Elternhaus vorstellen, in dem auf die kindlichen Bedürfnisse des Erzählers aufgrund der Konflikte der Eltern keine Rücksicht genommen wurde. So wie der Erzähler sein eigenes Leben führt und andere behandelt, wirkt es auf den Betrachter so, als sei er selbst als ein Objekt behandelt worden. Die Enttäuschung an dem zurückweisenden vernachlässigenden Vater sowie die mangelnde empathische Fürsorge stellen eine Brücke zu der Identitätsstörung und der offensichtlichen Störung der Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle dar, die im Film immer wieder angesprochen werden. Neben dem mangelnden Zugang nach innen, auf den später noch weiter eingegangen werden wird, existiert kein integriertes Konzept reifer Männlichkeit. Während Tyler eine offen unkonventionelle Sexualität lebt, ist der Ich-Erzähler nicht als männlich-sexuell präsent. Der Protagonist fühlt sich als sexuelles Neutrum. Richtig wohl ist ihm zunächst nur bei den Kastraten in der »Hodenkrebs-Gruppe«. Die Figur des Bob wird als Sinnbild eines Hermaphroditen eingeführt: nicht ganz Mann, nicht ganz Frau, ein mütterlicher Vater, wenn er sagt: »an meiner Brust kannst du weinen«. Zunächst lehnt sich der »host« an den Hermaphroditen an, der ein Kippbild darstellt aus einer vollkommenen Zweigeschlechtlichkeit und einem Kastrierten. Das Zwitterwesen Bob nimmt ihm die eigene Zerrissenheit ab, als vermeintlicher Todkranker kann der Erzähler sich den Gefühlen von Schwäche, Leid und Schmerz hingeben, für die er vorher keinen Trost finden konnte. Dies wird im Film durch einen wenig empathischen Arzt dargestellt und kann aber auch als Spiegel dafür betrachtet werden, wie wenig Zugang er innerlich zu den eigenen peinigenden Affekten findet. Im Sinne der Theorie vom fremden Selbst würden die Selbsthilfegruppen die Funktion einer falschen Affektspiegelung übernehmen. Wenn das falsche Selbst wesentlich darüber bestimmt ist, im eigenen Kern auf das Affektleben der frühen Bezugsperson zu treffen, dann bleibt das eigene affektive Erleben immer daran gebunden, etwas davon am anderen vorgeführt zu sehen (das man dann fälschlicherweise als sein eigenes missversteht). Der Erzähler stellt Situationen her, in denen er am anderen etwas findet, das ihm an sich selbst unzugänglich bleibt. Somit stellen die Selbsthilfegruppen eine Vorstufe zu der späteren Erschaffung des dissoziierten Persönlichkeitsanteils dar. Innere Destruktivität kann auf die tödlichen Krankheiten projiziert werden und in der Lüge kann er
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alle schmerzlichen Gefühle ausleben, ohne tatsächlich von der Destruktivität der Krankheit bedroht zu sein. Somit ist die Situation vollständig unter Kontrolle, was die Gefahr einer Retraumatisierung bannt. Die Position des Erzählers, gleichzeitig teilnehmend und beobachtend, ist typisch für das Erleben Traumatisierter. Nicht nur Erleben zu müssen, sondern aus einer traumatischen Situation als Beobachter heraustreten zu können, ist eine Möglichkeit, durch die mentale Kontrolle der Situation das psychische Überleben zu sichern. In den Armen des »Zwitters« fühlt der Erzähler sich wie ein Baby, bis Marla durch ihr Auftreten in den Gruppen ihm die Illusion nimmt und ihm die Destruktivität seiner Lüge vor Augen führt. Die Affektkontrolle kollabiert, weshalb eine erneute Dissoziation notwendig wird, um sich der destruktiven Selbstanteile zu entledigen. Daraufhin entwickelt sich der Kontakt zu seinem dissoziierten Persönlichkeitsanteil, an den er sich wiederum anlehnt. Tyler Durden verkörpert einen »Super-Macho«, der klischeehaft männlich ist, anderen Männern ganz konkret mit Kastration droht (z.B. dem Sonderermittler der Polizei und später auch dem Ich-Erzähler), sich jenseits fetischisierter Sexorgien als beziehungsunfähig erweist und somit ebenfalls eine nicht integrierte männliche Geschlechtsidentität darstellt. Das sich wiederholende Kastrationsthema kann im Film als ein Sinnbild der eingeschränkten Wirkmächtigkeit des Ich-Erzählers verstanden werden. Darüber hinaus kann es als ein konkretistischer Versuch verstanden werden, der Lücke im eigenen Erleben eine reale oder äußere Entsprechung zu geben. Im Sinne von psychischer Wirkmächtigkeit ist der Ich-Erzähler zu schwach und findet in seinem Leben keinen Weg außer der Anpassung. So wie Bob ist Tyler ein Kippbild, diesmal aus schillernder Originalität und Potenz auf der einen und monströser Destruktivität auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu Bobs Angebot einer zärtlichen Nähe, verkörpert Tyler die Aggression als beziehungs- und identitätsstiftendes Mittel. In den beiden Figuren bildet sich das Spannungsfeld nicht integrierter Affekte und Selbstrepräsentanzen des Erzählers ab, der zwischen Vollkommenheit und Minderwertigkeit, sowie zwischen Omnipotenz und Ohnmacht kippt. Die Entfremdungs- und Konsumkritik, die an der Gesellschaft geübt wird (Gruppe »Chaos«) spiegelt sich auf der individuellen Ebene wider, da auch der Protagonist sich selbst entfremdet ist. Der IchErzähler ist von seinem Ich-Gefühl und seinen Affekten wie abgeschnitten. Über die Möbelauswahl versucht er seine Persönlichkeit zu definieren und resümiert nach der Sprengung der Wohnung, dass er doch schon fast »vollständig« gewesen sei. In seiner verzweifelten Suche nach sich selbst und einem Sinn versucht der Erzähler über tote Objekte (Möbel) eine Identität zu zimmern. Das Scheitern oder die Dekompensation dieser Abwehrstrategie ist in der Explosion der Wohnung versinnbildlicht. In den Selbsthilfegruppen kann er in dem psychischen Leid der todkranken Menschen mit schwimmen und später im »Fight Club« gewinnt er einen Zugang zu einer Gefühlsintensität über das Erleben von körperlichem Schmerz, aber seine eigenen Affekte bleiben dennoch verschlossen. Eine Distanzierung von Affekten kann hier einerseits eine Schutzfunktion einnehmen gegen die Überflutung durch traumatische Affekte. Durch seine zynische Selbstinszenierung wirkt der Erzähler jedoch so, als habe er generell keinen Zugang zur eigenen Innerlichkeit im Sinne einer Mentalisierungshemmung. Zunächst sind die Gastgeberpersönlichkeit und ihr dissoziiertes Alter Ego vollständig getrennt, so dass die Gastgeberpersönlichkeit an Orten erwacht, die sie nicht aufgesucht zu haben meint. In den schlaflosen Nächten übernimmt Tyler die Oberhand, arbeitet in den verschiedenen Jobs als Kellner, Filmvorführer und Seifenhersteller. Tyler und die Gastgeberpersönlichkeit stellen sich als regelrechte Antipoden dar, auch wenn sich beide durch eine überdurchschnittliche Intelligenz auszeichnen. Der Ich-Erzähler erscheint in seinen Designeranzügen konturlos und wirkt in seiner künstlichen Ikea-Welt so wenig individuell wie ein Massenprodukt vom Fließband. Seine Affekte sind flach, die ganze Welt wird zynisch kommentiert, echte Beziehungswünsche werden nicht deutlich, sondern nur die heimliche Teilhabe an den Gefühlen anderer. Mit seiner Schlaflosigkeit und permanenten Anhedonie erscheint er dem Zuschauer depressiv und zugleich mitleidslos anderen gegenüber, wenn er sich über einen Flugzeugabsturz ein neues Leben wünscht oder den Todkranken mimt. Trotz seiner unsympathischen
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Anteile bietet er sich als Identifikationsfigur an, vermutlich gerade weil er den durchschnittlichen modernen Menschen verkörpert, den neuen »Otto-normal-Verbraucher«, der an seiner Angepasstheit und Verdinglichung verzweifelt. Man lernt ihn als eine zerrissene Figur kennen, die deutlich konflikthaft agiert und immer wieder ihren Ärger herunterschluckt, während Tyler Durden eine eher eindimensionale Figur ist, die sich von niemandem etwas gefallen lässt. Der Ich-Erzähler fühlt sich wie eine Kopie in einem portionierten Leben mit portionierten Kontakten. Tyler ist deutlich attraktiver, flippig-bunt gekleidet, charismatisch und handelt immer planvoll, manipulativEr lebt in einem »Drecksloch«, raucht permanent und äußert unverhohlen beißende Kritik an der Konsumgesellschaft zugunsten politischer Parolen:
R »Erst nachdem wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit alles zu tun!« Um seine Ziele zu erreichen, geht er rücksichtslos vor, zeigt niemals Reue oder ambivalent-konflikthafte Gefühle. Ihm fehlt Innerlichkeit, er ist nur über seine Handlungen bestimmt. Offen spricht er über die Möglichkeiten, aus Haushaltswaren Sprengstoff herzustellen, was sinnbildlich für das Ausmaß seiner Destruktivität steht. Um seine Ziele zu erreichen, geht er regelmäßig an die eigenen Grenzen, z.B. lässt er sich ohne Gegenwehr krankenhausreif schlagen, damit der Raum für den »Fight Club« erhalten bleibt. Dadurch kommt er in den Status eines Helden oder Märtyrers, dem die Gruppe blind und voller Bewunderung folgt. Auch der Zuschauer liebt und bewundert Tyler zunächst aufgrund seiner unkonventionellen Art, seiner Potenz und seines Charmes. Die Destruktivität wird verleugnet bis seine Gefährlichkeit und seine Radikalität unabweisbar werden. Tyler verkörpert hier einen idealisiert omnipotenten Selbstanteil, der den Erzähler vor der Destruktivität anderer schützt und die eigene Destruktivität »containt«. Daher hat die Erschaffung eines Alter Egos wie Tyler Durden einen dem Protagonisten nicht bewussten aber psychodynamisch-wirksamen Sinn. So verschafft Tyler dem IchErzähler einen Ausweg aus seinem fremdbestimmten, entfremdeten Leben und einen Zugang zu Authentizität im Schmerz. In seiner Radikalität fehlen Tyler jedoch bestimmte Aspekte wie die Sorge um den anderen und die Fähigkeit von Verantwortungsübernahme, Wiedergutmachung und Schuld. Zwar erscheint auch der Ich-Erzähler als herzlos und kalt, als er den Hilferuf von Marla ignoriert, es existiert jedoch ein rudimentäres Verantwortungsgefühl für den anderen, was zu einem Konflikt zwischen den beiden Persönlichkeitsanteilen führt. Die Dissoziation, wie sie im Film dargestellt wird, erscheint als eine vorübergehend gute Lösung, die jedoch nicht dauerhaft trägt.
Exkurs: zwei potenzielle »Missverständnisse« in der Interpretation des Films Für die weitere Interpretation sollen zwei Aspekte besondere Beachtung erfahren, die dem Betrachter des Films das Verständnis einer multiplen Persönlichkeitsstörung erschweren, wenn die eingesetzten filmischen Mittel konkretistisch missverstanden werden. Zum einen handelt es sich um das Treffen der beiden Persönlichkeitsaspekte, die von Brad Pitt und Edward Norton dargestellt werden. Hier liegt das Missverständnis nahe, dass es sich bei der Figur des Tyler Durden um eine komplexe visuelle Halluzination handeln könnte, was jedoch differenzialdiagnostisch gegen eine multiple Persönlichkeitsstörung sprechen würde. Aus unserer Sicht des Films handelt es sich hierbei um ein filmisches Mittel, das die Unterschiedlichkeit der beiden Persönlichkeitsanteile zueinander in Szene setzt. Hier bleibt in Erinnerung zu rufen, dass zumeist nur ein Persönlichkeitsteil als alleiniger Akteur aktiv ist wie z.B. in den Arbeitsszenen und im Verlauf des Films noch deutlicher wird, wenn der Ich-Erzähler ungewollt einschläft. Der Zuschauer erfährt auch nicht, wie lange Tyler Durden bereits existiert hat, bevor ein Kontakt zwischen den beiden entsteht.
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Der Film stellt in seiner ihm eigenen Geschwindigkeit somit im Schwerpunkt die Integration der beiden konträren Persönlichkeitsanteile dar und verlässt mit seinen filmischen Mitteln die Realität einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Unrealistisch ist ebenfalls, dass der Persönlichkeitsanteil »Tyler« durch einen Schuss in den Kopf getötet werden kann und dadurch verschwindet. Menschen mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung fallen zum Teil durch suizidale Handlungen auf, allerdings ist es dann meist so, dass dieser von einem dissoziierten destruktiven Persönlichkeitsanteil verübt wird. Auch hier verstehen wir die Szene als filmisches Mittel, das die mühevolle Integration des dissoziierten Persönlichkeitsanteils wie in einem dramatisch zugespitzten Zeitraffer darstellt. Denn natürlich kann man sich auf diese Weise der dissoziierten Anteile nicht entledigen, sondern es würde die gesamte Person daran sterben. In der Szene ist in besonders verdichteter Weise dargestellt, dass der Ich-Erzähler Verantwortung für seine gesamten Handlungen übernimmt, auch für die Taten als Tyler Durden.
Die Integration der Destruktion und Verantwortungsübernahme als Bewältigung der Persönlichkeitsspaltung Das allgemeine Therapieziel bei der Behandlung von multiplen Persönlichkeitsstörungen ist die Integration der dissoziierten Persönlichkeitsaspekte. Dies ist insofern schwierig, als die Abspaltungen einen wesentlichen Schutzmechanismus der Person vor einer traumatischen Überflutung darstellen und die Behandlung somit als langwierig und komplex beschrieben wird (Putnam 2003; Sachsse 2004; Richtlinien der »International Society for Treating Dissociative Identity Disorder« ISSD 2005) Das Treffen der beiden Persönlichkeiten des namenlosen Erzählers und Tyler Durdens muss wie beschrieben als filmisches Mittel angesehen werden, das den Kampf um die Vorherrschaft zwischen dem abgespaltenen Teil und der Hauptpersönlichkeit darstellt, der sich ebenfalls auf anderer Ebene in der Gründung des »Fight Clubs« widerspiegelt. Dort kann es in jedem Kampf nur einen Gewinner geben. Die Beziehung der Persönlichkeitsanteile entwickelt sich zunächst als harmonische Symbiose (»wie ein altes Ehepaar«). Es kommt zu Verschmelzungen der beiden Persönlichkeiten in dem Sinne, dass Tyler die Führung über beide Persönlichkeiten übernimmt, was der Protagonist so erlebt, dass Tyler für ihn spricht, ihm Antworten souffliert bzw. Tylers Worte spontan aus seinem Mund kommen. Aufgrund der unterschiedlichen Motive und zunehmenden Radikalisierung Tylers (hier ist die Schlüsselszene die, in der Tyler einem Kioskangestellten eine Waffe an den Kopf hält, um dessen Leben zu verändern) sind die Persönlichkeiten wieder scharf getrennt und Tylers Aktivitäten finden außerhalb des Bewusstseins der Gastgeberpersönlichkeit statt. Dies ist als typisch für multiple Persönlichkeiten zu verstehen, die keine Kontrolle über die Wechsel der Persönlichkeiten haben. Der Weg des Bewusstwerdens der Persönlichkeitsspaltung verläuft auf verschiedenen Ebenen. Einerseits beneidet der Erzähler Tyler um dessen Erfolg. Was insbesondere seinen Selbstwert im Sinne einer narzisstischen Kränkung schädigt, ist die Heldenverehrung Tylers, in dessen Licht sein eigener Beitrag zur Gründung des »Fight Clubs« in den Schatten gerät. Bedeutsamer jedoch erscheint die Beziehung zwischen Marla und Tyler, die der Ich-Erzähler so erlebt, als habe Marla erneut sein inneres Gleichgewicht zerstört, denn Marla kommt ihm näher als alle anderen Personen im Film und könnte als einzige die Persönlichkeitsspaltung benennen. Auslöser für die aktive Suche nach Tyler ist schließlich der Tod von Bob, der bei einem vandalistischen Auftrag Tylers von der Polizei erschossen wird. Er trauert um Bob und vor dem Hintergrund dieses ersten eigenen authentischen Affektes übernimmt er die Verantwortung für sich und andere, die er vorher vollständig an Tyler delegiert hatte. Das Realisieren der Persönlichkeitsspaltung ist in filmischer Rasanz dargestellt. Obwohl er nach wie vor keine Kontrolle über die Persönlichkeitswechsel hat, ist er erstmals emotional, ziel- und planvoll vor dem Hintergrund dreier sinnstiftender Motivationen:
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E Selbsterhalt: Tyler soll nicht die Herrschaft über die Person übernehmen. E Sorge um Marla: Der Erzähler will Marla vor Tylers Mordabsichten schützen, weil sie ihm
etwas bedeutet. E Sorge um die Welt: Er will die terroristischen Anschläge der »Chaos-Gruppe« verhindern.
Bedeutsam erscheint hier ebenfalls, dass er sich seiner Gefühle für Marla bewusst wird, die zuvor als eine Art Spielball zwischen den beiden Persönlichkeitsanteilen existiert hat. In der dramatischen Schlussszene übernimmt die Gastgeberpersönlichkeit schließlich die Verantwortung für die Taten der »ChaosGruppe«. Der Satz »Ich habe das getan« vereinigt die beiden Anteile seiner Persönlichkeit im Sinne einer kohärenten Ich-Identität. Obwohl Tyler ihn damit konfrontiert, dass er doch alles sei, was sich der Erzähler immer gewünscht hätte, entscheidet dieser sich gegen den omnipotenten Persönlichkeitsanteil und damit auch für die schwachen Seiten seines Selbst. Der Erzähler gewinnt Kontrolle über seinen Körper zurück, was im Film dadurch ausgedrückt wird, dass die Waffe aus Tylers Hand über die psychische Erkenntnis der Einheit der beiden in die Hand des Ich-Erzählers wandert. Der Film endet so, dass der Erzähler Marla die Hand reicht, was sinnbildlich dafür stehen kann, dass er sich nunmehr der äußeren (Beziehungs-)Welt zuwenden kann statt nur innere Auseinandersetzungen mit dissoziierten Persönlichkeitsanteilen zu führen.
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Originaltitel
Fight Club
Erscheinungsjahr
1999
Land
USA, Deutschland
Buch
Chuck Palahniuk
Regie
David Fincher
Hauptdarsteller
Edward Norton (Erzähler), Brad Pitt (Tyler Durden), Helena Bonham Carter (Marla Singer)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Andreas Hamburger und Vivian Pramataroff-Hamburger
»Damage« oder die sexuelle Besessenheit des Zuschauers Sexuelle Besessenheit/sexuell zwanghaftes Verhalten (ICD-10 F52.7) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Stephen Fleming und die Seinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Filmische Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 »Damage« und sexuelle Besessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
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Filmplakat Damage (deutscher Titel: Verhängnis), Frankreich, Großbritannien 1992 Quelle: Cinetext
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Damage Dr. Stephen Fleming (Jeremy Irons) und Anna Barton (Juliette Binoche)
Die Handlung Ein würdiges Ambiente: Empfang in der französischen Botschaft. Jeremy Irons als Staatssekretär Dr. Fleming plaudert etwas gelangweilt, als aus der Menge eine mit eleganter Strenge gekleidete junge Frau auf ihn zusteuert – mit einer eigenen, flüssigen und selbstbewussten Bewegung, die unmittelbar Spannung erzeugt, noch bevor sie ihn erreicht hat. Sie stellt sich ihm als Anna Barton, die Freundin seines Sohnes vor – und schon während dieses harmlosen Satzes verhaken sich ihre Blicke. Die Sekunde, die seine konventionelle Antwort zu spät kommt, schlägt ein wie ein Blitz. Ohne weitere Worte ist klar: Hier ist etwas zwischen einem Mann und einer Frau geschehen, das genau zwischen ihnen nicht geschehen darf. Schon in den ersten Minuten des Films (. Abb. 1) ist das »Verhängnis«, das den ganzen Film durchziehen wird, im Raum. Das Leben des Dr. Stephen Fleming scheint eigentlich in Ordnung. Als Arzt durch die Heirat mit der Tochter eines einflussreichen Politikers selbst in die Politik gekommen, hat er einen kometenhaften Aufstieg hinter sich und das Ministerportefeuille in greifbarer Nähe. Auch zu Hause scheint alles zu stimmen. Seine kluge, gutaussehende Frau Ingrid empfängt ihn herzlich bei seiner Rückkehr, seine adoleszente Tochter ist, wie adoleszente Töchter eben sind. Fleming aber bleibt in einer Aura von Melancholie gefangen. Im prächtigen Ambiente seines Erfolges ist er ein Fremder, ein Beobachter. Ganz anders sein Sohn Martyn, der im Sportwagen vorfährt, um den Eltern die Neue vorzustellen: Er strahlt Gesundheit und Tüchtigkeit aus. Nur dass die Neue eben Anna Barton ist, und dass Dr. Fleming und Anna in heimlichem Einverständnis jene erste Begegnung in der Botschaft verschweigen. Als sie sich wie Fremde begrüßen, besiegeln sie die Verstrickung, die schon im ersten Augenblick offenbar war. Wenig später ruft sie ihn an, ein wortkarges Telefonat, eine Adresse, ein Treff: Stumm und leidenschaftlich fallen die beiden übereinander her. Folgerichtig entwickelt sich die Affäre zwischen den beiden zur Liebestragödie. Anna verspricht dem verschlossenen Fleming grenzenlose Erfüllung:
R »Alles und immer«, lautet die Formel, die sie beschwörend wiederholt; dabei bleibt sie stets die Überlegene, die alles steuert. Fleming hingegen wird von immer heftigerer Leidenschaft, ja Besessenheit ergriffen, verfolgt sie auf ihrer Reise mit seinem Sohn, lässt die Vorsicht immer mehr außer acht. Er will mit ihr leben, seine Familie verlassen. Sie entzieht sich, bleibt die unerreichbare Geliebte, die alles gewährt, aber nichts gibt. Nach und nach erfährt er die Lebensgeschichte der rätselhaften Anna. Es gibt keine Rückblende, die Zuschauer erfahren (genau wie Fleming) alles erst durch Annas Erzählung. Diese Erzählung selbst ist die zweite, dichte Begegnung zwischen Anna und Fleming. Erneut öffnet sie ihm – und dem Zuschauer – in einer fast gewaltsam anmutenden Preisgabe ihr Inneres. Annas Geschichte: Ihr Bruder Aston, der ihr in inzestuöser Liebe verfallen war, kann den Gedanken nicht ertragen, dass irgendwann seine Schwester von anderen sexuell begehrt werden wird: »There are all going to fuck you …« Ihr erster, altersgemäß vorsichtiger Kuss vor der Haustür löst die Katastrophe aus: Der hilflos an die Schwester gebundene Bruder nimmt sich das Leben. Anna wird vom Schock vorzeitig in die sexuelle Realität getrieben. Noch in dem vom Blut des Bruders befleckten Nachthemd geht sie zu Peter, dem Freund, der sie zuvor, noch unschuldig, geküsst hatte, mit der derben Aufforderung, die sie nun ihrem Geliebten ebenso direkt, in atemloser Anspannung wiederholt: »I asked him to fuck me. ‚Fuck me!‘ I said.« Es ist, also
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ob das Blut der fast gewaltsam eingeforderten Defloration den Tod des Bruders bannen sollte. Seither benutzt sie offenbar Sexualität als Mittel, diese niemals geschlossene Wunde zu überdecken. »Always and anything« lautet das Versprechen an ihren Geliebten – sie offeriert die vollständige Benutzbarkeit. Die leidenschaftliche Beziehung mit Fleming wird durch die Mitteilung dieses inneren Abgrundes nur noch heftiger – zugleich aber setzt Anna scheinbar kühl ihren Weg einer bürgerlichen Beziehung mit Flemings Sohn fort. Noch in der Nacht ihrer Verlobung mit Martyn, auf dem Landsitz des Schwiegervaters, schleicht Stephen Fleming zu ihr. Sie beweist ihm erneut das »always and anything«, will aber nichts am Doppelleben ändern. Er unternimmt einen Versuch, sich von ihr loszureißen, als Entdeckung droht und ihn auch Annas Mutter, eine zwielichtige, aber hellsichtige Person, gewarnt hat, ihr nicht im Weg zu stehen. Daraufhin schickt Anna ihm wortlos den Schlüssel zu einem von ihr gemieteten Liebesnest. Im obersten Stockwerk eines Altbaus findet er eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung, auf dem Tisch ein Buch, in dem die Termine ihrer Treffs minutiös vorausgeplant sind. Das Treffen in dieser Wohnung am Vorabend ihrer Hochzeit mit Martyn ist der Höhepunkt ihrer sexuellen Beziehung. Aus dem harten, gewaltsamen Liebeskampf ist ein gegenseitiges, intensives Genießen geworden, das immer noch deutliche Elemente sexueller Gewalt enthält, aber nur in Andeutungen und Accessoires, nicht mehr dem direkten Blick der Kamera präsentiert. Im Moment der höchsten Lust schwingt die Tür auf und Martyn, den die Zuschauer in einer Suspense-Sequenz nach Hitchcock-Zuschnitt die Treppe hatten heraufkommen und den Schlüssel im Schloss vorfinden sehen, als habe der Vater durch diese Fehlleistung selbst den Weg zum Showdown ermöglichen wollen, erblickt die Liebenden. Von Grauen geblendet stolpert er rückwärts ins Treppenhaus, über das Geländer in den Tod. Fleming, noch nackt, rast die Treppen hinunter und hält seinen sterbenden Sohn im Arm, wie eine Persiflage der Pietà. Anna schreitet an beiden vorbei und verschwindet. Die Coda des Films – die hochintensive Auseinandersetzung Flemings mit seiner Frau Ingrid (für deren Darstellung Miranda Richardson mit Recht eine Oscar-Nominierung erhielt), Rücktritt, Beerdigung, Trennung, Exil – zeigt, wie die von der Naturgewalt des Begehrens zerstörte Ordnung in einer unheilbaren Narbenbildung endet. Anna hat jedoch scheinbar ihr Trauma überwunden. Flemings Schlusssatz, aus dem Off, ihr riesig vergrößertes Foto betrachtend:
R »I saw her once more only. I saw her by accident, at an airport, changing planes. She didn’t see me. She was with Peter. She was holding a child. She was not different than anyone else.«1
Stephen Fleming und die Seinen Erst langsam und meist nur in Andeutungen entfaltet der Film die Motivhintergründe der Figuren. Der Protagonist des Films, durch dessen Augen die Zuschauer die Handlung erleben, ist der von Jeremy Irons überzeugend gespielte Staatssekretär Dr. Fleming. Äußerlich attraktiv durch Eleganz, Intelligenz und eine mit Bescheidenheit gepaarte Aura des Erfolges, ist es doch erst seine Ungreifbarkeit – auch für sich selbst – seine subtile Ausstrahlung grenzenloser Einsamkeit, die seine Anziehungskraft magnetisch macht. Jeremy Irons spielt seinen Dr. Fleming mit unablässig tastendem Blick, dem Blick eines ängstlichen Kindes im Maßanzug. Diese unterschwellige Bedürftigkeit löst auch Schutzreflexe aus, nicht nur beim Zuschauer. Sie spiegelt sich auch in der Haltung fast aller Frauen des Films ihm gegenüber. Im intimen Gespräch mit Ingrid, seiner Frau, erlebt man mit wie viel mütterlicher Einfühlung sie auf seine 1 »Ich sah sie nur einmal noch. Es war ein Zufall. Auf einem Flughafen, beim Umsteigen. Sie hat mich nicht gesehen. Peter war bei ihr. Sie hielt ein Kind an der Hand. Sie war nicht anders als all die anderen.«
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Stimmung eingeht. Sein Alltag ist umrahmt von Versorgung, doch wirkt er nicht wirklich versorgt; er bleibt von der ihn umgebenden Fürsorge unberührt, geht durch sie hindurch wie ein Fremder. Schon die ersten Schritte in der heimatlichen Villa zeigen ihn als Alien. Nach einem kurzen Gespräch in der Küche mit seiner Frau, einem flüchtigen Kuss, schlendert er ins Wohnzimmer, bleibt am Kaminsims stehen, rückt eine Vase gerade. Plötzlich setzt ein hochgespanntes, dissonantes Cello ein, Fleming dreht sich wie in Zeitlupe zur Kamera, sieht ins Leere, im Hintergrund ein Ölgemälde mit einer üppigen dekolletierten Dame. Das Bild blendet ab, nur Flemings traumverlorenes Gesicht und die Brust. Flemings zentrales Charakteristikum ist die Kontrolle. Wie auf dem Kaminsims die Vase, so rückt er auch stets seine Gefühle gerade. Seine Bekundungen von Freude und Anteilnahme wirken hölzern, seine Äußerungen diplomatisch, als müsse er jede aufkeimende Regung dirigieren. Hinter dieser kontrollierten und kontrollierenden Fassade entfaltet der Film aber eine zweite psychische Realität. Unterschwellig signalisiert der Film die Kindlichkeit des Protagonisten, etwa in den zahlreichen Szenen, in denen er von Polstern umgeben ist: Im Fond seines Dienstwagens, im Bett, ja in der Fürsorge seiner Familie. Die bereits erwähnte Szene in der Küche etwa zeigt ihn vor einem mit Töpfen, Schüsseln, Kannen überladenen Küchenbord und versorgt von Frauen, die mit Backen beschäftigt sind. Woher dieser widersprüchliche Charakter des Helden rührt, darüber gibt der Film – anders als die Romanvorlage – kaum Auskunft. Der übermäßig auf Karriere bedachte Vater, die irgendwie verletzte, »abgestorbene« Mutter, die im inneren Monolog des Protagonisten in Josephine Harts gleichnamigem Roman eine wesentliche Rolle spielen, spiegeln sich im Film nur in Jeremy Irons virtuoser Darstellung eines unbewusst verzerrten, verletzten Beziehungserlebens. Dass er sich blitzartig auf die Grenzüberschreitung einlässt, die sich ihm in Gestalt der rätselhaften Anna anbietet, zeigt indirekt das Psychogramm einer Beziehungsstörung. Sie enthüllt die Vulnerabilität des scheinbar in sicheren Verhältnissen Angekommenen, ohne irgendwelche Aufschlüsse über die Gründe für diese Brüchigkeit anzubieten. Der Film verweigert sich insofern einem direkten figurenanalytischen Zugang. Er will dem Zuschauer nichts erläutern, sondern verweist ihn auf sein eigenes Erleben. Um mit Stephen Fleming in die lockende Welt des Inzests zu gehen, muss er bei sich selbst den Rausch der sexuellen Besessenheit empfinden. Diese Identifikation wird vom Film durch die Interaktion mit anderen Protagonisten gesteuert. Etwa in Ingrids Zuwendung zu Stephen, die eher als tiefe Freundschaft denn als Leidenschaft geschildert wird. Was sie an ihm liebt, ist sein Anstand, seine Intelligenz und sein Ehrgeiz. Sie selbst, die früh die Mutter verloren hat und deren Platz an der Seite des charismatischen Vaters eingenommen hat, versucht wie selbstverständlich den Ehemann nach dem Bild des Vaters zu formen, auch wenn sie ihn dabei immer weiter von sich selbst entfernt. In naiv-liebender Vereinnahmung entfaltet sie mit ihm eine Kopie ihrer Herkunftsfamilie. Und er zieht mit, erfüllt die Erwartungen, weil er sich seines eigenen Kerns, seiner Identität nicht bewusst ist. Ingrids Persönlichkeit ist durch britische Zurückhaltung und Stil gezeichnet; dass sie hintergründig die Karriere des Mannes und den Lebenszuschnitt lenkt, wird nur in Andeutungen vermittelt. Instinktiv ablehnend reagiert sie auf die radikal anders auftretende Anna.Spät erst erfährt man, dass wohl auch Ingrid seit Langem ihre Liebe von ihrem Mann abgezogen und auf den Sohn übertragen hat. Alles Abgewehrte tritt in einem Ausbruch sexueller und aggressiver Impulse zutage, als sie den Tod des Sohnes und zugleich die Affäre ihres Mannes mit ihrer Schwiegertochter erfährt. Jetzt schleudert sie Stephen, der sie zu trösten versucht, entgegen:
R »I think, for everyone there‘s just one person. For me it was Martyn.« 2
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»Für jeden gibt es nur einen Menschen. Für mich war es Martyn.«
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Jetzt erst lernt der Zuschauer die hinter Ingrids diplomatisch ausgleichender Persönlichkeit verborgene leidenschaftlich Liebende kennen. Wer ist das Objekt dieser Liebe? Stephen ist es nicht. Aber ist es, wie sie selbst sagt, Martyn? Wohl nur indirekt. An vielen Stellen signalisiert der Film, dass ihr Begehren sich auf die Bewahrung der väterlichen Linie richtet. Als Symbol dieser Vaterlinie kann der Siegelring gelten, den sowohl Ingrids Vater als auch Stephen und sein Sohn Martyn am kleinen Finger der linken Hand tragen – eine genealogische Legitimierung der Tochterlinie, die übrigens auch das britische Königshaus kennzeichnet. Erst im Ausbruch ihrer verzweifelten Trauer versteht man, dass sie Stephen Fleming gewählt hat, um das Leben ihres Vaters unsterblich zu machen, Fleming, der doch immer ein Außenseiter blieb. Martyn aber, blutsverwandt mit ihrem Vater, kann und soll die Linie fortsetzen. Deshalb auch hatte sich ihre instinktive Abwehr gegen die ältere, unkonventionelle, berufstätige Anna Barton gerichtet: Sie wäre eine Mesalliance, ein Makel der väterlichen Linie. Ingrid Fleming bleibt die an den Vater gebundene Tochter, und nicht von ungefähr ist es der Vater, der sie schließlich aus der Filmhandlung geleitet. Dieses vom Film dargebotene Psychogramm der Beziehung wirft ein Licht auf die Figur des Helden. Fleming, als Transmissionsriemen dieser Reinkarnation des Großvaters im Enkel, zugleich als stiller Nutznießer der um ihn herum errichteten Familienidylle, erscheint nun doch deutlich als jemand, der eigene objektale Beziehungen nicht gestaltet. Er lässt sich in eine Inszenierung hineingleiten – nicht nur im Komfortraum der Upper-Class-Familie, sondern auch in der leidenschaftlichen Affäre mit Anna. Er ist Zwischenglied, Vermittler, Moderator. Den eigenen Arztberuf hat er, so erfährt man, längst aufgegeben zugunsten der für die Erhaltung der Dynastie erforderlichen Funktion, die er geräuschlos und perfekt erfüllt. Schon die allererste Szene schildert ihn so: Der Premierminister nimmt ihn zur Seite und gratuliert ihm zu einem diplomatischen Erfolg in der Fraktion: Er hat die Hinterbänkler gezähmt. Ein eigenes Begehren scheint ihn nicht zu bewegen. Bis Anna auf den Plan tritt, und mit ihr die Tragödie des Begehrens. Dieser abhängig-passive Charakter von Fleming bleibt bis zuletzt stabil. Konventionelle Filmdramaturgie ließe erwarten, dass nach der Katastrophe Läuterung eintritt, Stephen schreckhaft die bislang verleugnete Innenperspektive der Frau mentalisieren und liebend zu ihr zurückkehren kann, beide nun die Verstrickung und den von ihr vernichteten Sohn betrauern können. Aber das geschieht nicht. Noch im dramatischen
R »Give his death to me. Give it to me«,3 begleitet von der Verabreichung der in der Küchenschublade bereitliegenden Tranquilizer, ist Stephen Fleming kein Partner, sondern ein Messias, bereit, die Sünden der Welt zu tragen. Die große Gebärde kann als erneute Blasphemie verstanden werden: Bietet er doch an, die Schuld für das zu übernehmen, was er ja tatsächlich angerichtet hat, und mutet dieses Abgeben der Schuld noch der Frau als Handlungsentscheidung zu: »Give it to me …« Ein der versorgenden Zuwendung der Ehefrau in vieler Hinsicht gerade entgegengesetztes Beziehungsangebot geht von Anna aus. Auch sie übernimmt die Rahmen schaffende Aktivität, doch ist ihre sexuelle Hingabe von einer geradezu durchdringenden Passivität gekennzeichnet. Das Aufreizende an ihr ist gerade der unverwandte Blick, mit dem sie Stephens Begehren liest und sich ihm darbietet, so wie er sie will, ohne jede von ihr selbst unmittelbar initiierte Bewegung. Dies beginnt bereits mit jenem ersten, tiefen Standhalten des Blicks in der französischen Botschaft (. Abb.2). Es wiederholt sich in der ersten sexuellen Begegnung in ihrer Wohnung: Stumm sitzt sie da und wartet, schaut, was er wollen wird – und ihr stummer Blick kommuniziert ihm, dass er es bekommen wird. Es ist wesentlich an die-
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»Lad seinen Tod auf mich. Lad ihn auf mich«,
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. Abb. 2 Das Aufreizende an ihr ist gerade der unverwandte Blick, mit dem sie Stephens Begehren liest … – Szene mit Juliette Binoche und Jeremy Irons, Quelle: Cinetext
sem Augenspiel, dass Anna kein eigenes Begehren ausdrückt, vielmehr wie ein Zauberspiegel Stephens Verlangen erst sichtbar macht. Der eigenartige Sog, der von ihr ausgeht und den Juliette Binoche zwingend verkörpert, wird im Film nach und nach motiviert. Man erfährt viel über die Psychogenese, die Backstory der Anna Barton: Das nomadisierende Leben als Diplomatenkind, in dem Nähe und Geborgenheit nur zwischen den beiden Geschwistern möglich war und sich zu einem gefährlichen inzestuösen Gemisch zusammenbraute. Die traumatische Erfahrung, als in diese Zweieinigkeit die Sexualität einbricht. Diese Innenperspektive der Anna Barton ist aber aus der Rückschau erzählt, man erfährt sie in Worten, sieht sie aber nicht. Der Film verzichtet auf das Mittel der Rückblende, das Auge der Kamera bleibt in der Gegenwart. In jener ersten zentralen Verknotung des Films, in dem Anna ihrem Geliebten ihr »Fuck me!« entgegenkeucht, erzählt sie nicht nur, sie fordert auch. Sie verlötet Stephen und Peter mit Aston, mit dem verbotenen inzestuösen Objekt, in dem sie in ihnen gewaltsam das Begehren entfacht, das den Bruder in den Suizid geführt hat. Die direkte Parallele zwischen Annas traumatischer Erfahrung und der ebenfalls eine Katastrophe in sich bergenden Liebesbeziehung mit dem Vater ihres Verlobten wird vom Film mehrmals hergestellt. Übrigens weist auch Martyn in diesem verbackenen Pulk der Objekte seine Parallele zu Ashton auf: Annas Mutter betont konsterniert die physische Ähnlichkeit der beiden. Ist es nur diese Ähnlichkeit, oder doch etwas anderes, warum Anna Martyn liebt? Peter, der erfahrene Freund, und auch ihre Mutter stimmen in ihrem Urteil überein: Es ist seine Fähigkeit, Anna Freiheit zu geben.
R »He seems to know how to handle her. To give her the freedom she really needs.«4
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»Du kennst sie noch nicht. Sie hat Seiten, die kennst du gar nicht. Sie kommen nur zum Vorschein, wenn wir allein sind.«
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Aber auch diese Eigenschaft wirkt unterschwellig mit dem Geist des Bruders verbunden: Die Toleranz, die Festigkeit des Felsens in der Brandung ist ein Gegenpol zum eifersüchtig-vereinnahmenden Bruder. Martyn ist so etwas wie ein Anti-Ashton. Er ist der Nachfolger von Peter, dem Jugendflirt – und diesem noch überlegen. Denn Peter gesteht rückblickend: »I couldn’t.« Dennoch scheint Anna wie unter Zwang genau diese Sicherheit und Geborgenheit missbrauchen zu müssen, indem sie gerade den Gebrauch von ihrer Freiheit macht, den Peter ihr unmöglich zugestehen kann: Sie wählt Martyns Vater aktiv als Geliebten. Es ist, als müsste sie jede Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit durchkreuzen. Warum aber ist Martyn zu dieser geradezu gläubigen Hingabe bereit? Wie macht der Film seine Bereitschaft plausibel, dem Vamp Vertrauen zu schenken? Martyn wird als gesunder Junge präsentiert, lebensfroh, sportlich, geistvoll, immer mit blonden Mädchen zu Gange. Als erstaunliche Wendung seiner Vorlieben wird die Beziehung zu Anna im Film eingeführt – Anna mit den dunklen Haaren und dem dunklen Gemüt, ganz anders als seine früheren Mädchen, Anna, mit der es ernst wird und bleibt wie mit keiner bisher. Anna, die mit der gleichen Konsequenz die Verlobung mit Martyn wie die Affäre mit seinem Vater vorantreibt. Letzteres kann er zwar nicht wissen; doch muss er ihrer Aura entnehmen, dass sie nicht die Frau ist, der man blind vertrauen sollte. Annas Auftreten weist sie als unkontrollierbare, entschlossene Frau aus. In einem wichtigen Gespräch mit seinem Vater, in dem dieser versucht, ihm die Entscheidung zur Verlobung auszureden, sagt er:
R »You don’t know her. There’s a whole side of her you can’t see. It’s only there when we are alone.«5 Abgesehen von der Situationskomik dieses Satzes, die das Publikum mit einem der seltenen Lacher in diesem Film zu erfassen pflegt, besagt er auch, dass Martyn Annas Abgrund wahrgenommen hat. Martyn versucht Anna zu retten. Warum? Ist er seinem Vater ähnlicher als es scheint? – An manchen Stellen legt die Filmhandlung tatsächlich nahe, dass seine sorgenfreie Jugendlichkeit nur eine Maske ist, dass er sehr viel mehr versteht als alle, auch die Zuschauer, denken. Er hat die zentrale Rolle von Annas immer wieder auftauchenden ersten Geliebten, Peter, erkannt und mit diesem Kontakt aufgenommen, lange bevor Stephen von dessen Existenz erfuhr. Er gibt Anna Freiheit und Boden zugleich, und er scheint genau zu wissen warum. Auch ist er seinem kontrollierten Vater in der Wahrnehmung nichtrationaler Empfindungen weit überlegen. Eine Schlüsselszene für diesen Kontrast ist Stephens Besuch in der Redaktion seines Sohnes nach seinem gescheiterten Versuch, die Affäre mit Anna zu beenden. Der Zuschauer weiß nicht: Wird er sein Gewissen erleichtern, den Sohn einweihen? Ihn um Verzeihung bitten? Ihn bitten, auf Anna zu verzichten? Alles bleibt unausgesprochen – nur ein Foto wechselt seinen Besitzer, ein Foto, das Anna, Stephen und Martyn zeigt. Es ist das Foto, mit dem der Film enden wird. Im Gespräch sagt Stephen einen Satz, der bisher so gar nicht zu ihm gepasst hätte; er wirkt wie ein verschlüsselter Platzhalter alles Unausgesprochenen:
R »There are things you can’t control.«6 Martyn antwortet lakonisch: »So that’s right, yeah.« Und Stephen, perplex: »So somehow you know that.« Die Erkenntnis, die Stephen gerade erleidet, nämlich dass sein Ich nicht Herr ist im eigenen Haus, ist seinem Sohn ganz selbstverständlich vertraut. Auch hier ist es die Interaktion mit dem anderen, die indirekt das Psychogramm des Protagonisten konstituiert. Erst im Kontrast zu Martyn sieht man, wie abstrakt und emotionsfern Stephens Innenwelt gewesen war. 5 »Es gibt Dinge, die kann man nicht kontrollieren.« 6 »Wissen Sie das denn nicht? Wie beim letzten Mal Sie hat Ihnen doch die Geschichte erzählt von damals. Sie wird zu Peter zurückgehen. Das müssen Sie doch wissen.«
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Martyn wirkt als der »Reifere« von beiden, weil er trianguläre Beziehungen zur Kenntnis nehmen und respektieren kann. Die ödipale Rivalität zwischen Stephen und Martyn scheint eher vom Vater als vom Sohn auszugehen. Der Vater ist es, der die Geliebte des Sohnes begehrt, der sie noch aus seinem Bett holt, um mit ihr schnellen Sex zu haben, der sie mit dem Sohn im Hotelzimmer heimlich beobachtet. Der Vater ist in die Rolle des Kindes geschlüpft. Auch hier zeigt sich die Psyche des Protagonisten – die Psyche, die der Film durch den Protagonisten konstruiert – in der Interaktion. Ist Martyn ein Spiegel seines Vaters, in dem dessen psychische Struktur kontrastierend gespiegelt wird, so ist Sally, seine Schwester, der kontrastierende Spiegel zu Anna. In der Hintergrundhandlung von Damage (deutscher Titel: Verhängnis), Annas Trauma, geht es ja um ein vorzeitiges Ende der Kindheit: um die (tödliche) Sexualität, die die Kindheit beendet. Fast unbemerkt läuft neben der dramatischen Haupthandlung zwischen Stephen Fleming und Anna Barton eine weitere Nebenhandlung ab: die Paarung der Fünfzehnjährigen. Sally, sehr kindlich in den Film eingeführt, wie sie die Treppe hinunter hüpft, wird in aufeinander aufbauenden kleinen Nebenszenen zur sexuell reifen Frau. Bereits zu Beginn des Films hat sie eine besondere Rolle inne: Sie ist ein deutlicher Gegensatz zu dem aus Ehefrau und Haushälterin bestehenden Versorgungssystem des Stephen Fleming. Sally wird beiläufig als mit sich selbst beschäftigter Teenager eingeführt, nicht mit der narzisstischen Spiegelung des Protagonisten beschäftigt. Schon in der ersten dramatischen Zuspitzung, als Martyn seine Freundin Anna zu Hause vorstellt und Anna und Stephen ihre frühere Begegnung verschweigen, zeigt die Kamera in einer Großaufnahme, wie sie etwas sehr Signifikantes tut: Sie wirft einen »wissenden Blick« auf das heimliche Liebespaar, einen Blick, der sie mit dem Zuschauer, dem anderen Wissenden, verbindet. Im weiteren Verlauf des Films wird auch ihre Geschichte erzählt. Sie verliebt sich in einen Jungen, der sich zunächst nur dem Essen und seinem Walkman zu ergeben scheint, dann aber schon mit auf die Familienfeiern geladen wird und ist schließlich, als im Landhaus des Großvaters die Betten zugewiesen werden – eine spannungsvolle Dramaturgie der Verteilung sexueller Rechte und Tabus – selbst Teil des Spiels. In jener nächtlichen Szene auf dem Gang, in der ihr Vater sich zu Anna schleicht, ist auch sie auf dem Gang unterwegs, mit einem Glas Wasser Seit Hitchcocks Suspicion (USA 1941) ist dieses Bild Bestandteil der Filmikonografie. Wann immer ein solches obskures Trinkgefäß in einem Treppenhaus auftaucht, assoziiert der Zuschauer, dass es Gift enthält. In Damage dürfte es das »Gift« der Sexualität sein. Sally ist hier auch ein Alter Ego der traumatisierten Anna: Sie ist so alt, wie Anna beim Selbstmord ihres Bruders war. Ihr könnte es gelingen, den Übergang zur erwachsenen Frau anders zu bewältigen – wenn nicht gerade an der Stelle, wo in Annas zerrüttetem Leben der Tod des Bruders einbrach, auch ihr Bruder indirekt durch die Verstrickung des Vaters den Tod fände. Wie diese Tragödie auf Sally wirkt, zeigt der Film nicht mehr, der sich ab dem Treppensturz ganz auf die Erwachsenen konzentriert. Dass er es nicht zeigt, ist aber eine signifikante Lücke. Auch hier wird ein Kind vergessen, das Sally ja durchaus noch ist. Da der Zuschauer ja die Handlung durch die Perspektive von Stephen Fleming erlebt, ist Sallys Verschwinden aus dem Film auch eine Aussage über dessen Beziehungswelt: Wir haben miterlebt, wie seine sexuelle Besessenheit auch durch die Katastrophe von Martyns Tod, auch nicht durch die Zerstörung von Familie und Karriere kathartisch gelöst wird; unverrückt sucht er nach Anna. In dieser Fixierung ist ihm die Einfühlung in eine andere Innenwelt, eine von ihm und seinen Bedürfnissen unabhängige Psyche unmöglich. Sally verschwindet aus seiner Wahrnehmung und somit aus dem Film. Dass wir, die Zuschauer, dieses Verschwinden in der Regel nicht bemerken, ist Teil der raffinierten Inszenierung des Films, der eben die Psychologie der sexuellen Besessenheit nicht nur in einer Figur, sondern im Zuschauer selbst inszeniert. Auch wir sind viel (neu)gieriger darauf, zu sehen ob Stephen Anna wiederfinden wird, als uns um das verschwundene Mädchen zu kümmern. Eine Parallelfigur zu Sally bildet Miss Snow, Flemings Sekretärin, die nicht nur mit wissendem Blick Anrufe durchstellt, sondern auch die Überbringerin des fatalen Objekts, des Schlüssels zur Wohnung ist, in der sich der Showdown abspielen wird. Sie überreicht ihm das ominöse Päckchen mit der vordergründig auf die Sicherheitskontrolle bezogenen Bemerkung: »It’s quite save« Dabei kann sie aber ihren
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Blick nicht losreißen, will ihm beim Öffnen zuschauen, bis sie sich entschuldigend zurückziehen muss. Die (trügerische) Sicherheit garantierende Mutterfigur ist unterschwellig eine Wissende, die die Gefahr wittert. Auch Annas Mutter spürt das Verhängnis. Sie ist eine filmische Zusammenziehung, komponiert aus beiden Eltern der jungen Frau in der Romanvorlage (Hart 1991). Eine klischeehafte Frau, viermal geschieden, oberflächlich-logorrhoisch, taktlos, dabei aber hintergründig scharf beobachtend. Auch sie ist eine »Wissende«. Sie ist die Einzige, die Fleming seine Affäre auf den Kopf zusagt, mit der einfachen Begründung: »You couldn‘t even look at her.« Sie wirkt selbstbezogen und unempathisch der Tochter gegenüber, ist aber doch deren einzige Vertraute. Zu ihr geht Anna nach Martyns Tod; nur sie weiß, wo Anna zu finden ist. Sie kennt Annas Lebensgeschichte, ihre Wiederholungszwänge, die immer wieder die Katastrophe heraufbeschwören. Die Heirat mit Martyn sieht sie als Heilungschance für ihre Tochter, deshalb bittet sie Stephen, ihr nicht im Weg zu stehen. Als alles vollbracht, die Katastrophe dennoch eingetreten ist, sagt sie: »I tried to warn you. I did try to warn you.« Auf seine Frage: »Do you know where she‘s gone?« – eine Frage, die zeigt, dass er noch nach Martyns Tod der Leidenschaft zu Anna verfallen ist – antwortet sie nur:
R »But I think you know. You must remember. She told you the story of what happened last time. She’d go back to Peter. You must know that.« Damit ist die letzte wichtige Nebenfigur, vielleicht eine heimliche Hauptfigur des Films eingeführt. Peter, Annas Jugendliebe, den Stephen wie einen zufälligen Besucher in Annas Wohnung trifft – er ist (allerdings nur in der Romanvorlage; Hart 1991) der Vormieter oder sogar der Besitzer des Liebesnests, in dem die Tragödie kulminiert, er ist der Basso continuo in Annas getriebener Passion. Er ist der Erste und der Letzte, zu ihm kehrt sie immer zurück, bei ihm wird sie nach der erlösenden Katastrophe bleiben – das verraten uns die letzten Sätze des Films: »She was with Peter. She was holding a child. She was not different than anyone else.” So abgeklärt das klingen mag, als ob nun alles seine Ordnung hätte, Stephen im neuen, druckfreien Leben angekommen, Anna an der Hand ihrer Jugendliebe, so viel sagend sind doch seine Auslassungen. Was nicht gefragt, nicht gesagt wird: Ist Peter der Vater des Kindes? Oder wer? Es könnte auch Martyn sein. Oder Stephen? Ist hier wieder ein Kind in die Welt gesetzt, hinter dessen »normalem« Auftritt auf dem Arm seiner Mutter eine abgründige Geschichte steht, ein misshandelter Messias?
Filmische Mittel Die Aussage des Films zu seinem Thema der sexuellen Obsession wird aber nicht nur durch die Handlungen und Aussagen der Figuren vermittelt, sondern durch deren Inszenierung. Mit Ausschnitt, Farbe, Schärfe, Schnitttempo und Ton komponiert der Film eine virtuelle Affektwelt, in der sich der Zuschauer unbewusst verliert. Erst durch die ästhetischen Mittel des Films gewinnt die Handlung, gewinnen die psychischen Konstrukte Plausibilität und Lebendigkeit. Von besonderer Bedeutung sind die Raumkompositionen in Damage. Es gibt vier verschiedene Innenraumtypen: Zum einen Flemings Auto, dessen üppige Lederpolsterung und extravagante Kopfstützen eine intrauterine Anmutung verbreiten, zum anderen die herrschaftlichen und altmodischen Interieurs mit auffallend vielen Gemälden, wie sie in der Fleming-Villa, vor allem aber in ihrem Vorbild, dem Landsitz von Ingrid Flemings Vater auf Hartley zu sehen sind. Sie signalisieren Gediegenheit und aristokratische Linie. Das von Anna eingerichtete Liebesnest zitiert und parodiert dieses Altbau-Ambiente: Wo auf Hartley alles gediegen und eingewohnt ist, befindet sich der Altbau der Liebenden noch in Renovierung, abgeblätterte Wände werden überarbeitet, Leitern stehen herum. Wo im bürgerlichen Zuhause der Flemings frische Blumen Heiterkeit verströmen, stehen auf dem Tischchen, geheimnisvoll in einem Spiegel verdoppelt, düster wirkende Papageientulpen, die an fleischfressende Pflanzen erin-
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nern. Es mag ein Anschlussfehler sein, dass diese Tulpen noch dazu zwischen zwei Schnitten in die Vase zurückzuschrumpfen scheinen – ein Fehler aber, der die magische Spannung des Raums unterstreicht. Eine ganz andere Räumlichkeit präsentiert das Büro des Staatssekretärs im durchweg futuristischen Ministerium. Das Büro, Glas, Licht und Kühle, scheint dem reinen Denken verschrieben, während die Eingangshalle an ein archaisches Klaustrum gemahnt: Eine erdfarbene, düstere Halle, deren Stirnseite von der überdimensionalen Röhrenmündung eines Wandbrunnens beherrscht wird. Ähnlich modernistisch wie die Eingangshalle des Ministeriums muten die holzverkleideten Innenräume von Annas Wohnung an. Der gesamte Raum ist von glatter, edler Holztäfelung bedeckt. Die Kamera bewegt sich auf der Spur der ersten, fast gewalttätig leidenschaftlichen Sexualakte der Liebenden durch den gedämpft musealen, verwinkelten Raum. Diese beiden »modernen« Raumkompositionen bilden ein Gegenstück zum gediegenen Stil der bürgerlichen Räume. Auch sie könnten in ihrer Geschlossenheit mit einem Uterus in Verbindung gebracht werden, allerdings nicht mit einem Leben und Sicherheit spendenden, sondern mit einem gefährlich-verschlingenden, unheimlichen Innenraum. Dabei ist jedoch ihre Anmutung durchaus verschieden. Die Kombination übergroßer Röhren, die in die Halle des Ministeriums ragen und in deren untere sich das Rinnsal aus der oberen ergießt, vermitteln eher eine Anspielung auf eine wässrig-organische Innenwelt, während Annas Wohnung, ein geschlossener, vom rechten Winkel dominierter Holzquader, an einen Brutkasten gemahnt – oder an einen Sarg. Solche Raumstrukturen versetzen den Zuschauer in einen Zwiespalt zwischen Sicherheitsgefühl und Angst vor Verschlungenwerden. Als verbindende Elemente aller Raumtypen in Damage können die bei Louis Malle ohnehin beliebten Treppen gelten. In Damage haben sie ihren größten Auftritt – den ganzen Film über saugt sich die Kamera immer wieder an Ihnen fest. Der Film beginnt mit schattenhaft ein schweres Treppenhaus im Parlament herabschreitenden Gestalten. In der Villa, im Landsitz, und vor allem im letzten Haus, wo das Liebesnest ist und wo sich alles vollendet. Liest man das Treppenhaus hier als freudianische Anspielung, so mag es nicht ohne Bedeutung sein, dass es sich gerade in Renovierung befindet; die Sexualität, die es vermittelt, ist eine beschädigte. Wichtiger aber noch als eine solche der (von Freud selbst ja noch stark relativierten) frühen Symboltheorie folgende Lesart ist die filmästhetische Bedeutung des Treppenhauses. Martyn tastet sich, langsam und zögernd, die Treppe zu einer vernichtenden Erkenntnis hinauf, wie nur je seit Hitchcock ein tragischer Held; einer Erkenntnis, die der Zuschauer schon antizipieren kann. Das Treppenhaus, die Sexualität, ist Martyns Golgatha, an der er das Ausmaß seiner Verlassenheit erkennt. Die wuchtige Antithetik der Räume wird erst nach der Katharsis des Films aufgelöst: Stephen, in einem unbestimmt-südlichen Exil, lebt nun in der mönchischen Strenge, aber klaren Wärme eines in natürlichen Tönen gehaltenen schlichten Zimmers – ebenerdig, nahe am Boden. Treppenfrei. Es scheint, als ob er den Raum gefunden hätte in dem er ein wenn auch reduziertes Leben ertragen kann. Die Ausstrahlung von Authentizität, die der Raum gewährt, könnte als Erfüllung eines früh gestörten Bedürfnisses nach Geborgenheit gelten. Nicht nur die Raumumgebung, auch der er unmittelbare Bildausschnitt ist signifikant: Immer stehen Rahmen im Hintergrund – Gemälde, Fenster, Türfüllungen sogar noch in der »Straßensex«-Szene in Paris. Nur in der Klärung zwischen Stephen und Anna sind Bäume, Natur da – aber auch diese Natur gezähmt, gefangen von Zäunen, von Zuschnitt, Kunst. Was hier zu sehen ist, wiederholt sich im Dialog: Der Liebe wird nun ein Stundenplan gegeben. Die filmische Betonung des Rahmens, des Bedürfnisses nach einer Grenze, deutet auf die Wucht der Entgrenzung hin. Es gibt im Film eigentlich nur zwei Szenen, die in der Bildästhetik radikal abweichen. Die eine ist ein kurzer Gegenschnitt aus der Welt der Anna Barton. Stephen war ihr von seiner Brüsseler Konferenz aus nach Paris nachgereist und hatte sie heimlich getroffen. Nun wird er im Fernsehen über den Erfolg der Konferenz interviewt. Hier folgt ein Schnitt auf Anna, die in ihrer Wohnung vor dem Fernseher sitzt und gierig einen Hamburger verschlingt. Das blaue Licht der Röhre flutet in die geometrisch getäfelte
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Wohnung, die plötzlich trist und kahl wirkt, trotz des lodernden Kaminfeuers. Anna verliert während des Essens Stücke, angelt sie zurück – keine Spur mehr vom aseptischen Styling des schwarzen Engels. Ein triebhaft, wahllos essender Körper kauert im bleichen Licht. Dazu Stephens Stimme aus den Nachrichten:
R »We have to face the fact that toxic waste does never respect our national frontiers … it’s an image… but when is an image ever true?«7 Die andere formal abgehobene Szene ist die Coda der Tragödie: Stephen als Aussteiger in einem südlichen Land, langhaarig und in Baumwollklamotten gewandet. Licht, Kadrierung, Tiefe, Tempo – alles deutet auf ein freieres, dem Zwang entronnenes Lebensgefühl. Es gibt keine Treppen mehr. Die rechtwinkligen Fenster und Hintergründe, die den ganzen Film über dominant das Motiv der Eingeschlossenheit signalisiert hatten, sind jetzt ersetzt durch harmonische, ruhige Spitzbogenformen; selbst noch im spartanischen Zimmer des Protagonisten weist so eine frühgotisch anmutende Nische darauf hin. Hier wiederholt der Film ein frühes Motiv: Die Zeichnung einer stilisierten Vagina, die Stephen während der Konferenz in Brüssel auf sein Papier kritzelt. Er lebt jetzt ganz in der weichen Welt des Mutterleibs. Auf die Vergangenheit weist nur noch eine riesige Schwarz-Weiß-Fotografie von Martyn, Anna und ihm hin. Ein Bild, und offenbar lebt Stephen jetzt ganz darin – »…but when is an image ever true?« Neben der räumlichen Komposition ist es vor allem auch die Musik, die das Psychogramm der sexuellen Besessenheit entfaltet. Preisner, der auch die Musik zu Kieślowskis Farbentrilogie komponiert hat, schrieb für Damage eine durchkomponierte Partitur. Er verwendet meist kammermusikalisch arrangierte Melodien von großer Eingängigkeit. Fastenau hat anhand präziser Analysen einzelner Musikstükke des Films gezeigt, dass die Musik hier vor allem dazu dient, dem Zuschauer permanent die innere Haltung, die Gedanken und Gefühle des zentralen Protagonisten Stephen Fleming mitzuteilen. Damit fungiert sie – entgegen Louis Malles sonstigem Programm – als konkrete Illustration der psychischen Befindlichkeit einer Person (Fastenau 2004) Stephen Flemings musikalisch vermittelte Befindlichkeit schwankt zwischen Sehnsucht und Verlangen, schmerzlicher Erinnerung, sexueller Ekstase und Panik. Dabei färbt die Musik gleichzeitig die jeweilige Szene atmosphärisch ein. Unmittelbar nach der ersten Begegnung ertönt sein persönliches Motiv, das den Protagonisten durch alle Stationen begleiten und immer wieder seine Sehnsucht zeigen wird – zugleich enthält es warnende, ungemütliche Klänge, wie einen versteckten, hohen Tritonus. Auch die zweite Hauptfigur des Films, Anna, bekommt ein ihr zugeordnetes Stück. Es ist im Film in zwei Versionen zu hören: »AnnaI« wird unbegleitet von hohen Streichern gespielt, während die Melodie bei »AnnaII« gleichzeitig gestrichen und von Pizzicato-Streichern gezupft wird. Stand die Musik im Falle von Stephen eher für das quälend leidenschaftliche und sehnsüchtig klagende Element, so ist es bei Anna das Geheimnisvolle, das betont wird (Fastenau 2004)
Wirkung Damage entfaltet die psychologische Darstellung der Amour fou nicht als ausgefeilte psychografische Figurendarstellung, sondern in einem austarierten Beziehungsdrama, das sich zwischen allen Protagonisten abspielt. Gerade diese Darstellungsweise macht deutlich, dass die psychologische Ebene des Films niemals in den Figuren anzusiedeln ist, sondern in den Fantasien, die sich die Zuschauer über das vermeintliche Innenleben der Figuren machen. Dies bewirkt der Film durch seine ästhetischen Mittel. Kameraführung, Schärfe, Schnitt, Ton tragen dazu bei, im Zuschauer eine bestimmte, affekthaltige In7 »Bei Giftmüll [handelt es sich] um ein Problem …, das nicht an der Landesgrenze halt macht … Es ist doch nur ein Image, das uns anhaftet. Aber entspricht ein Image je der Wahrheit?«
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terpretation des Gesehenen zu erzeugen. Die eigentliche Dramatik des Geschehens erzählt der Film durch seine stilistischen Mittel. Die quadratischen Bild- und Hintergrundmotive, seien es Gemälde, Täfelungen, Türfüllungen kontrastieren scharf mit den rätselhaften Innenräumen – Annas Wohnung, der Halle des Ministeriums – und der ebenso rätselhaften Programmmusik. Mit diesen Mitteln wird der Zuschauer selbst in das Dilemma zwischen Ordnung und zerstörerischer Leidenschaft gezogen, und er spürt die diesem Dilemma zugrundeliegende existenzielle Verlorenheit. Die wesentliche Achse, durch die sich die Filmdramaturgie erschließt, ist der Blick. Damit arbeitet der Film genau mit dem Medium, das den Zuschauer mit der Leinwand verbindet, und repräsentiert zugleich diesen gebannten Zuschauerblick auch in den Blickrelationen des Films selbst. Schon in den ersten Minuten der Handlung ist es ein Blick, dessen besondere Beschaffenheit die Katastrophe ahnen lässt: Wenn Stephens und Annas Augen sich bei ihrem ersten Treffen in der französischen Botschaft treffen und nicht mehr loslassen. Die Qualität dieses verhakten Blicks kommt durch seine Verlängerung über das sozial erwartete Maß hinaus zustande. Alleine dadurch, dass sie ruhig Stephens Blick standhält, ohne etwas zu erwidern oder den Blickkontakt aufzugeben, schafft Anna eine ungewöhnliche, markierte Gesprächssituation Bavelas et al. 2002; Kleinke 1986). Durch diese Verletzung der sozialen Konvention wird der Kontakt plötzlich mit einer Bedeutung aufgeladen, die von einem der beiden Interaktanten einen Kommentar oder die Beendigung des Blickkontakts erfordern würde. Nichts davon geschieht. Die beiden schauen einander an, bis die Achse durch das Dazwischentreten von Stephens Mitarbeiter, von außen gelöst wird. Dieser initiale Blick wird nun den ganzen Film über immer wieder gesucht und variiert – nicht nur zwischen den Liebenden selbst, sondern auch in den von der Kamera signifikant herausgestellten Blicken anderer. Erwähnt haben wir bereits Sallys »wissenden« Blick – ähnlich dem von Flemings Sekretärin –, der die Entdeckung der heimlichen Liebesbeziehung antizipiert, den Zuschauer schlagartig in die Lage versetzt sich zu fragen, ob nun etwa Entdeckung droht (und ihn dadurch zu Stephens Komplizen macht). Schließlich erfüllt er sich im gebannten Blickdreieck zwischen Martyn, Anna und Stephen. Als Martyn sie in der Wohnung überrascht, und ohne sich abzuwenden, gewissermaßen auf dem Leitstrahl dieses Blicks rückwärts in den Tod stürzt. Auch die Coda des Films, das südliche, entspannte Ende, wird von einem Blick regiert. Es ist ein zirkulärer, das überdimensional vergrößerte Foto des Trios immer wieder abtastender Blick. Wir wissen, dass Stephen nur für dieses Bild und in diesem Bild lebt. Er hat einen Stuhl davor gestellt, dort sitzt er, um es immer wieder zu betrachten. Sein sparsamer Gang, das spartanische Zimmer, die zwanghaft ritualisierte, frugale Mahlzeit bilden nur noch den Rahmen für diesen Blick. Er ist nur für diesen Blick da. Zuletzt sitzt Stephen wie der Zuschauer vor einer Leinwand, verloren in Betrachtung. Mit den letzten Worten des Films: »She was not different than anyone else« ist durchaus auch der Zuschauer gemeint.
»Damage« und sexuelle Besessenheit Sexuelle Besessenheit/sexuell zwanghaftes Verhalten (ICD-10: F52.7) Die Amour fou, die in Damage geschildert wird, scheint in ihren Folgen so desaströs, die Handlungsweisen der Protagonisten so zwanghaft und fremdbestimmt, dass der Zuschauer nach und nach beginnt, an ein krankhaftes Geschehen zu glauben. Aber welches? Es ist nicht leicht, in der – ohnehin der symptomatischen Oberfläche verpflichteten – ICD-10 die richtige Diagnose zu finden, die auf den hier dargestellten Protagonisten oder auf die Protagonistin, zutreffen würde.. Die Grenze zwischen Leidenschaft und seelischem Leiden ist ohnehin dünn, und schließlich bleibt wenig übrig als die etwas aus der Mode gekommene Diagnose der »sexuellen Besessenheit« – »too much sex«, um es zu quantifizieren (und man sollte sich dabei immer Kinseys Definition der Nymphomanin vor Augen halten:
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Someone who has more sex than you do (Kinsey 1953)
Im ICD-10 wird die hypersexuelle Störung noch mit den überkommenen Begriffen »Nymphomanie« und »Satyriasis« in Verbindung gebracht. Das passt nicht ganz auf den hier beschriebenen Film: »Satyrismus« und »Nymphomamie« liegen hier, jedenfalls im Wortsinne, nicht vor. Anna Barton unterscheidet sich von einer Nymphe wie Stephen Fleming von einem Satyr. Die Anspielung auf die griechische Mythologie legt freilich ein Szenario nahe, das mit der Krankheitskategorie exzessiver sexueller Besessenheit schwer vereinbar ist. Nymphen und Satyrn sind in der griechischen Mythologie Naturgeister, die entsprechend ihrem Naturell und ihrem Charakter durchaus sexuell erlebnisfreudig geschildert werden, jedoch ohne die pathognomische Fixierung auf die Sexualität. Später wurde die Satyriasis durch den etwas feinsinnigeren »Donjuanismus« ersetzt, eine Begriffswahl, die eher auf die Partnerwahl als auf die schiere Frequenz abhebt. Dennoch ist auch dieser Begriff inzwischen obsolet; beim »Donjuanismus« steht ja der zwanghaft-süchtige Partnerwechsel im Vordergrund, während die sexuelle Leidenschaft, die ja auch mit einem festen Partner ausgelebt werden kann, sich in dieser Bezeichnung ebenso wenig wiederfindet wie die Tatsache, dass auch eine Frau ihrer fähig ist. In neuerer Zeit hat sich der Begriff »Hypersexualität« eingebürgert, der zwar neutraler ist, jedoch ein quantifizierendes Moment enthält, das dem Syndrom nicht ganz gerecht wird. Es handelt sich bei der sexuellen Besessenheit ja nicht um ein »mehr« an Sexualität, sondern um ein qualitativ andersartiges Erleben der sexuellen Beziehung bzw. des sexuellen Begehrens. Es scheint, als habe mit der gesellschaftlichen Legitimierung von Sexualität die Pathologisierung ihrer verstärkten Ausübung an Faszination verloren. Gesteigertes sexuelles Verlangen ist in hohem Ausmaß sozial erwünscht, da es dem Ideal des allzeit aktiven Lustsuchers in der postmodernen Erlebnisgesellschaft entspricht (Baumann 2005; Schulze 1992). Im Zentrum der Abhandlungen zu sexuellen Funktionsstörungen stehen inzwischen die Appetenzstörungen im Sinne des Ausbleibens der gewünschten sexuellen Erregbarkeit (Strauß 2007). Exzessive und süchtige Formen sexueller Betätigungen werden heute eher unter dem Kapitel der Persönlichkeitsstörungen beschrieben (Sigusch 2002). Die Verbindung des gesteigerten sexuellen Verlangens mit Suchterkrankungen wurde auch vonseiten der neurobiologischen Forschung wahrscheinlich gemacht. Hirnphysiologische Suchttheorien gehen davon aus, dass nicht nur Psychostimulantien, sondern auch »nichtstoffgebundene Stimulantien« zu einem suchtartigen Gebrauch führen können. Dieses nichtstoffliche Suchtverhalten wurde vor allem bei der Spielsucht, aber auch bei Formen des Kaufrauschs und sportlichen Exzessen beschrieben. Aus der Sicht der ICD-10-Klassifikation wären alle diese suchtförmigen Verhaltensweisen eigentlich im Kapitel F10–F19 (Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen) einzuordnen, wenn dieses eben nicht auf Subtanzen festgelegt wäre; sie finden sich nun im Bereich F60–F69 (Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen). Aber auch hier hat eine Ausgliederung des Sexuellen stattgefunden: Statt die Sexsucht den anderen Verhaltenssüchten, wie z.B. der Spielsucht, im Kapitel F63 (abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle) zur Seite zu stellen, hat man sie zusammen mit den Paraphilien in ein eigenes Kapitel F65 (Störungen der Sexualpräferenz) zusammengefasst und damit ausgegliedert. Die in Damage beschriebene imperative sexuelle Beziehung lässt sich jedoch weder unter die Süchte noch unter die Paraphilien fassen. Die leidenschaftliche Beziehung von Stephen und Anna ist nicht wie eine Sucht ein unkontrollierbarer Drang, und auch keine Störung der Sexualpräferenz, die den sexuellen Akt an eine unumgängliche, fixe Lustbedingung knüpft. Am ehesten erscheint daher die alte, fast außer Gebrauch geratene Kategorie der sexuellen Besessenheit geeignet, das unwiderstehliche Aufflammen der Leidenschaft gegenüber einem bestimmten Menschen zu erfassen.
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Sexualität in »Damage« Methodisch sei hier noch einmal daran erinnert, dass Filmfiguren keine Patienten sind, sondern laufende Bilder. Ob ihre Äußerungen psychologisch oder gar psychopathologisch stimmig sind, ist eine Frage der Einfühlung und Recherche des Drehbuchautors, des Regisseurs und natürlich des Schauspielers. Sie müssen es nicht unbedingt sein, und in der Tat gibt es viele psychologisch nicht stimmige Filmcharaktere. Dennoch können Filme ganz außerordentlich starke Wiedererkennungswerte besitzen. Die Figuren und ihre filmische Präsentation rufen beim Zuschauer, bei der Zuschauerin – und die sind in der Tat Träger einer realen Psyche – Erlebnismöglichkeiten auf, die aus dem eigenen Erfahrungsschatz stammen. Sexualität in Damage ist also immer vor dem Hintergrund der sexuellen Erwartungen, Erfahrungen, Erregungen und Hemmungen seines Publikums zu lesen. Immer seltsam starr, mechanisch erscheint Sexualität in diesem Film. Stephen fügt Anna Schmerzen zu. Ein überraschter, kurzer Aufschrei nur zeigt den ersten Orgasmus; beim zweiten Mal schlägt er ihren Kopf auf den Boden, einmal, zweimal, oft. Das zitiert filmisch eine mörderische Geste, aber abgemildert in der Kraft und durch den Teppich, neben dem der nackte Boden die gerade vermiedene Härte signalisiert. Unmittelbar davor sieht man eine höchst eigenartige Pose: Stephen, zwischen den weit gespreizten, bestrumpften Beinen von Anna, im Hintergrund Max Ernsts Gemälde »Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind«, auf dem das nackte Kind verrenkt und unbequem quer über dem Schoß seiner Mutter liegt. Sind es die Schläge aus seiner eigenen Geschichte, ist es eine fremde Gewalt, die durch seine Hand, in zwanghaftem, langsamem Rhythmus, Annas Kopf immer wieder auf den Boden schlägt? Das sexuelle Begehren bringt der Film hier zusammen mit dem Begehren zu schlagen und zu töten – erst danach, in einer von weichen Kissen umgebenen Erzählszene in Annas Bett, werden längere, weichere Blicke, eine zärtliche Berührung möglich. Jetzt kann Anna von ihrem Kindheitstrauma berichten, dem Selbstmord ihres ihr sexuell verfallenen Bruders Aston. Alternativentwürfe zu dieser bedrohlichen Leidenschaft zeigt der Film in der noch im Anfang situierten Sequenz um die spontane Parisreise des Protagonisten: Durch ein Hotelfenster beobachtet Stephen das zärtlich-erotische Frühstück von Anna und Martyn – Minuten nachdem er selbst mit Anna harten und fast wortlosen »Straßensex« hatte. Kurz nach dieser Szene zeigt der Film auch die immer noch zärtliche Beziehung zwischen Stephen und seiner Frau: Er kommt von der Konferenz nach Hause, sie hat ihn im Fernsehen gesehen – wie auch Anna, aber ganz anders als diese: Anna, gierig essend vor der Mattscheibe, ist ein sinnlicher Kontrast zu Ingrid, die sich hingebungsvoll, fast in entsagender Madonnenpose die älter werdende Haut eincremt. Genau aus seinem letzten, noch über Annas Bildschirm flirrenden Satz:
R »But when is an image ever true?«8,9 schneidet der Film auf diese eheliche Szene, und Ingrid sagt, als ihr Mann hinter sie tritt, lächelnd – und wie eine Antwort:
R »It’s pretty good. I never miss your performance.«10 Dann geht sie zu einer unerwarteten Liebeserklärung über:
8 »Aber wann entspricht ein Image je der Wahrheit?« 9 An dieser Stelle wird deutlich, mit welchen Folgen Synchronübersetzungen oft den Bedeutungsgehalt der Sprechbarkeit unterordnen müssen. 10 »War ziemlich gut. … Ich hab noch nie einen Auftritt versäumt.«
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R »It‘s a real gift – to be good in things. I remember when I first saw you, when you where a doctor – doing simple things well. I still love that.«11 Ein Kompliment, das zu einer Annäherung führt, aber ganz im Gegensatz zur Leidenschaft, die der Zuschauer stets bezeugen kann, bleibt die Liebe zur Ehefrau verhüllt von der Montage. Was aus dem vorsichtigen Liebeserinnern zwischen Ingrid und Stephen wird, sehen wir nicht, können wir nur fantasieren. Die »Hure« ist sichtbar, während die »Heilige« verborgen bleibt. Die Hure aber, sie spürt den verborgenen, verletzlichen, kindlichen Kern, während die Heilige an ihrem Mann die Kunst der Inszenierung, der Verstellung liebt, sein falsches Selbst. Die dämonische Qualität des sexuellen Begehrens zwischen Anna und Stephen verändert sich im Lauf des Films. Mit jeder Begegnung wird die Sexualität der beiden kühner, umfassender, experimentierender, aber auch wärmer und fließender. Anfangs sind die Sexszenen ohne Musik, von atemloser Spannung getragen, eine Dramaturgie der Stille. Mit der Zeit werden die Berührungen weicher, länger, responsiver. Es gibt jetzt auch Musik im Hintergrund. Eine erste Wende der sexuellen Tiefe ist Stephens spontaner Entschluss, Anna und Martyn von seiner Brüsseler Konferenz aus nach Paris zu folgen. Telefonisch dringt er in ihr Zimmer ein, holt die leidenschaftlich Begehrte aus dem Schlaf. Verzweifelt und wortlos nimmt er sie, vor einer Kirche, unter Glockengeläut. Auch hier also, in Gestalt der Kirche, ist die Mutter im Hintergrund präsent, wie zuvor die dekolletierte Dame auf dem Ölgemälde oder die Madonna, die ihr Kind züchtigt. Als er danach Anna und seinen Sohn durchs Hotelfenster beobachtet, wirft ihn der Schock der Einsamkeit in embryonaler Haltung auf sein einsames Bett. Von nun an will er sie ganz. Sie widersteht, und gibt sich dabei doch grenzenlos hin, übernimmt immer mehr den regulierenden Part. Wie eine Mutter, die die ungesteuerten, verzweifelten Wünsche ihres Babys gelassen erfüllt. In einem Augenblick, in dem ihm das klar wird, schreit er sie an, ihren Kopf zwischen seinen Händen: »Who are you?« – Immer deutlicher wird die kindliche Verlassenheit, die den Kern seines sexuellen Begehrens ausmacht. Der Film entfaltet die Sexualität mit Anna wie einen schrittweisen Prozess der Selbsterkenntnis, ja Heilung für Stephen – genauer: für den mit Stephen identifizierten Teil des Zuschauers, der direkt angesprochen wird durch ein filmisches Zitat aus Bertoluccis Last Tango in Paris: Die beiden Liebenden, nackt, sitzen ineinander verschränkt auf dem Boden und halten einander die Augen zu Sie wiegen sich in dieser Stellung in einem tänzerischen Rhythmus, dann schlagen sie sich, steigern ihr Begehren – es ist eine Mechanik der Lust und zugleich ein Spiel, weniger impulsiv und getrieben als die ersten sexuellen Szenen. Der Spannungsbogen wird länger. Stephen kann die bisher eisern festgehaltene Kontrolle aufgeben ohne sogleich impulsiv zu handeln. Er lässt sich von Anna in ihrer mütterlichgewährenden Funktion steuern und gibt sich seinen Impulsen hin. Damit wird er weicher, ruhiger, spontaner. Auch der Zuschauer entspannt sich, möchte fast glauben, dass aus all dem doch noch etwas Gutes werde. Doch dieses scheinbare Gelingen lockt uns nur in die Illusion, in das Vergessen der latenten Katastrophe. Unaufhörlich verstricken sich die beiden in eine immer unhaltbarere, unmöglichere Beziehung. Die Tragödie vollendet sich im Moment der zärtlichsten, wildesten sexuellen Vereinigung Martyn öffnet die Tür, und es entsteht sichtbar wie ein Menetekel im Raum das Blickdreieck des Todes. Rückwärts, mechanisch zurückweichend vor dem Verhängnis, das er erblickt, stürzt er mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen ins Leere. Die sexuelle Leidenschaft, die das ungleiche und doch wie füreinander geschaffene Paar Stephen – Anna verbindet, zeigt sich als Ausdruck einer weit unter der Ebene einer wirklich sexuellen Ich-Du-Beziehung angesiedelten Störung der Identität. Stephen Fleming ist kein »ödipaler Held«, dessen sexuelles Begehren ihn in die Tragödie führt – er ist ein »postödipaler Held«, wie ihn moderne psychoanalytische 11 »Das ist wahres Talent. Wenn man gut ist in allem. Das ist mir gleich aufgefallen an dir, als du noch Arzt warst damals. Wie gut du warst in den einfachsten Dingen. Ich liebe das. Ich liebe es immer noch.«
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Filmtheoretiker wie Zizek (1991) und andere beschrieben haben. Sie beziehen sich dabei auf Lacans Theorie der »Jouissance«, des rückhalt- und rücksichtslosen Genießens, vor dem Eintritt des Verbots in die psychische Welt (Hofmann-Howley 2004; Mellard 1998) Nach dieser Auffassung wird Stephen Fleming zwar als klassischer gereifter Ödipus eingeführt, ausgestattet mit allen Insignien der Karriere im Sinne einer erfolgreichen Bewältigung des Kampfes mit dem Vater: Er ist vom Schwiegervater/Premierminister geschätzt, ihm winkt der Aufstieg in die Klasse der herrschenden Väter. Er hat sein Begehren gebändigt, ist perfekt verhandlungsfähig, kann mit Macht umgehen und sie ausüben. Dann aber entpuppt sich schlagartig eine andere Person in ihm: In einer einzigen Sekunde, in der er in den Blick einer jungen Frau fällt, übernimmt ein von jeder sozialen Rücksicht und Taktik freies Lust-Ich das Regime, er riskiert alles, bis zur völligen Zerstörung seiner bürgerlichen Existenz, ja sogar das Leben seines Sohnes, um unbedingt die sexuelle Vereinigung mit Anna zu erlangen. Das zentrale Moment dieser Vereinigung ist genau das Unmittelbare, Aufschublose. Rückhaltlose. »Always and anything« lautet das Paradies, das Anna ihm mehrmals verheißt. Es ist das Paradies des ungekränkten Kindes, das noch kein Nein gehört hat und keines erträgt. Die Sexualität, die sich aus dieser Situation ergibt, ist ebenfalls keine bezogene, keine auf Beziehungen gerichtete. Sie ist keine Eroberung einer verbotenen Frau und sie hat nichts mit Liebe zu tun. Sie bleibt wortlos, beziehungslos bis auf die notwendigen Mitteilungen, die den permanenten Ausnahmezustand des grenzenlosen Begehrens aufrechterhalten sollen. Die Frau, Anna, ist so gesehen, keine Person, sie ist eine Funktion, ein austauschbares Objekt. Dies mag verwundern, ist doch Anna Barton die Figur mit der am stärksten konturierten Persönlichkeit. Als Konstrukt und Kunstfigur des grenzenlosen Genießens ist sie aber dennoch ohne Widerstand. Das Pointierte an ihr ist gerade diese radikale Nicht-Anwesenheit, das Nicht-Einwirken. Zwischen Stephen Fleming und Anna entsteht so eine Zwillingsbeziehung, in der er sich nur noch durch die Verschmelzung mit ihr existent erleben kann. Damit wiederholt Stephen Fleming die Position von Aston, Annas Bruder, der ohne sie nicht leben konnte. Die Diagnose der sexuellen Besessenheit, die der Film durch die Identifikation mit dem Protagonisten dem Zuschauer stellt, enthält ihre Objektlosigkeit. Sexualität richtet sich hier nicht auf einen antwortenden anderen, sondern auf das Phantasma einer omnipotenten Fusion, das die eigene, vom Zerfall bedrohte Integrität garantieren soll. Am Schluss des Films steht die Erkenntnis:
R »She was not different than anyone else.«12
Literatur Baumann Z (2005) Leben in der flüchtigen Moderne. Dt. (2007) Suhrkamp, Frankfurt am Main Fastenau V (2004) » ... comme si on appuyait sur une sonnette«?: Untersuchungen zur filmklangästhetischen Konzeption in den Spiel- und Dokumentarfilmen Louis Malle. Universität Osnabrück Hart J (1991): Damage. Knopp, New York Hofmann-Howley I (2004): The Post Oedipal Subject in Damage and American Beauty. Contribution to: Symposium on Masculinities: Gender, Art & Popular Culture. The Ian Potter Museum of Art, University of Melbourne. http://www.art-museum. unimelb.edu.au/resources.ashx/events.transcripts/8/PDF/57D4C6CEFC358B3BCFAA6FC0AED70195/Hofmann-Howley.pdf. Gesehen 14. Mai 2009 Kinsey A (1953) Sexual Behavior in the Human Female. Saunders, Philadelphia Mellard JM (1998) Lacan and the New Lacanians: Josephine Hart’s Damage, Lacanian Tragedy, and the Ethics of Jouissance. PMLA 113(3): 395–407 Schulze G (1992) Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Campus, Frankfurt am Main Sigusch V (2002) Leitsymptome süchtig-perverser Entwicklungen. Dt. Ärzteblatt 99(50): 3420–3423 Strauß B (2007) Sexuelle Störungen. In: Senf W, Broda M (Hrsg) Praxis der Psychotherapie. Thieme, Stuttgart, S 623–634
12
»Sie war nicht anders als all die anderen.«
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»Damage« oder die sexuelle Besessenheit des Zuschauers
Zižek S (1991) Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Merve, Berlin Bavelas JB, Coates L, Johnson T (2002) Listener Responses as a Collaborative Process: The Role of Gaze. Journal of Communication 52(3): 566–580 Kleinke CL (1986) Gaze and Eye Contact: A Research Review. Psychological Bulletin 100(1): 78–100
Originaltitel
Damage
Erscheinungsjahr
1992
Land
Frankreich, Großbritannien
Buch
Josephine Hart (1991)
Regie
Louis Malle
Hauptdarsteller
Juliette Binoche (Anna Barton), Jeremy Irons Dr. Stephen Fleming, Miranda Richardson (Ingrid Fleming), Rupert Graves (Martyn Fleming)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Marga Löwer-Hirsch
Nein, ich denke, ich habe für heute genug! Schizoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.1) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Warren Schmidt – Charakterstudie einer schizoid strukturierten Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Beschreibung der Persönlichkeit Schmidts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Grundmisstrauen in Beziehungen und die Welt . . . . . . . . . . . . . . 218 Aspekte der Mutterimago . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die schizoide Persönlichkeitsstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Schlüsselszenen der Wandlung Schmidts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Person und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
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Filmplakat About Schmidt, USA 2002 Quelle: Cinetext
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About Schmidt – Warren Schmidt (Jack Nicholson)
Die Handlung Dieses sehr spezielle Roadmovie beginnt mit der Berentung des Protagonisten Warren Schmidt und dem kurz auf seine Berentung folgenden plötzlichen Tod seiner Ehefrau Helen; nun bricht der biedere amerikanische Mittelstandsrentner auf, um der Leere seines Heims zu entfliehen (. Abb. 1). Der Film beginnt mit dem letzten Arbeitstag von Schmidt (Jack Nicholson) bei der »Woodmen of the World«Versicherung. Obwohl er dort viele Jahre seines Berufslebens verbracht hat, zuletzt als leitender Angestellter, muss er schmerzlich registrieren, dass die jungen Kollegen froh sind, dass er endlich in Rente geschickt wird. In den Ruhestand verabschiedet, fühlt er sich völlig entwurzelt. Es tut sich ein Loch auf, ein »Horror vacui«, das er mit seinem Privatleben nicht füllen können wird. Zudem hat sich seine einzige Tochter Jeannie in den Kopf gesetzt, mit ihrem Verlobten Randall einen Dummkopf – in geschäftlicher Hinsicht gesehen– zu heiraten. Schmidt ist seit 42 Jahren verheiratet, die Ehe und der Alltag werden durch ein Gerüst von Äußerlichkeiten zusammengehalten, eine wirkliche Begegnung der Eheleute findet nicht statt. Die Angst Schmidts vor sich selbst und den eigenen Gefühlen korrespondiert mit der defizitären Beziehung zu Tochter und Ehefrau. Was soll er nun mit seinem eintönigen Leben anfangen? Impulsiv übernimmt er, durch eine Fernsehwerbung angelockt, eine vom Kinderhilfswerk »Plan International« beworbene Patenschaft für einen 6-jährigen afrikanischen Waisenjungen namens Ndugu. Wie von der Vermittlungsorganisation empfohlen, beginnt er ihm Briefe zu schreiben. Während des Schreibens setzt ein Prozess ein, in dem er mehr und mehr aus seiner Sprachlosigkeit hervortritt und beginnt, Rechenschaft über sein Leben abzulegen. Er schüttet ausgerechnet dem fremden Kind sein Herz aus, und es ist erschütternd und tragikomisch zugleich, wie sein finanziell abgesichertes, aber unlebendig gelebtes Leben angesichts des fremden, tansanischen Kindes, das auf einem anderen Kontinent elternlos und in Armut lebt, vor diesem ausgebreitet wird. Während des Schreibens entdeckt und gesteht er, dass ihm seine Frau Helen fremd vorkommt und ihn viele Dinge an ihr stören. Gerade als er zu spüren beginnt, wie sehr ihn seine Frau nervt, stirbt sie unerwartet bei Hausarbeiten an einem Blutgerinnsel im Gehirn. Nun gerät sein Leben ganz aus den Fugen, vor allem als er nach der Beerdigung auch noch von einer früheren Affäre seiner Frau mit seinem besten Freund Ray erfährt. Er achtet nicht mehr auf sein Äußeres, räumt die Wohnung nicht mehr auf, und verwahrlost immer mehr. Seine Tochter macht ihm unmissverständlich klar, dass sie sich nicht um ihn kümmern wird und nicht vorhat, nach Omaha/Nebraska zurückzukehren. Schmidt entschließt sich nun, mit dem riesigen Wohnmobil, mit dem er und seine Frau gemeinsam auf eine große Reise hatten gehen wollen, die Fahrt allein zu unternehmen. Diesen Traum, nach dem Arbeitsleben auf große Fahrt gehen zu wollen, lassen viele Amerikaner, die es sich leisten können, Wirklichkeit werden. Der Weg und Aufbruch des »Helden« wird für ihn zu einer »Straße der Selbsterkenntnis« werden Warren trifft gleich auf der ersten Station seiner Reise auf einem Campingplatz auf ein Ehepaar, das sich auf einer solchen Reise befindet, wie er sie mit seiner Frau geplant hatte. Er wird von ihnen zum Abendessen in deren Wohnwagen eingeladen und gerät in für ihn ungekannte Abgründe menschlicher Begegnung, die er nur durch eine überstürzte Flucht mit seinem Campingwagen weg vom Platz wieder auf die Straße bewältigen kann. In dieser Sequenz beschließt er in einem Monolog, seiner Frau und Ray den Ehebruch zu verzeihen; wohl auch, weil er nach der Verstrickung des Abends in Nähewünsche und
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deren Abwehr spürt, was ihm seine Frau vielleicht erspart haben könnte. Die abgründige Begegnung auf dem Campingplatz wird weiter unten ausgeführt. Er bricht auf von Nebraska zu den Stätten seiner Kindheit und Jugend hin zu seiner Tochter Jeannie nach Denver als mittelfristigem Ziel, wo er sich mit Jeannie aussöhnen möchte. Doch als er ihren Bräutigam, den erfolglosen Wasserbettenverkäufer Randall, und dessen Familie dort erlebt, fasst er den Entschluss, Jeannies Hochzeit unbedingt zu verhindern. Als Versicherungs- und Finanzmathematiker ist ihm vollkommen klar, dass die Geschäftsideen, in die ihn sein zukünftiger Schwiegersohn einweiht und obendrein Geld von ihm erbittet, illusorisch sind. In Denver angekommen, lebt er bei Randalls Mutter Roberta (Kathy Bates). Die Lebensverhältnisse hier gleichen so gar nicht seinem vormals aufgeräumten und von seiner Frau dekorierten »Puppenstubenzuhause«. Die »unordentlichen« Verhältnisse werden mit dem »hot bath tub« im Vorgarten bebildert, in dem man nackt badet. Diese Familienverhältnisse, in denen man geschieden ist, wieder verheiratet, getrennt und doch zusammenlebt, verstören ihn. Nach einem turbulenten Abendessen zusammen mit seiner Tochter, Randall, dessen Bruder, Roberta, und Randalls Vater mit seiner Frau, versucht er nun, seine Tochter von der Ehe abzubringen. Sie geht jedoch nicht darauf ein. In der Nacht vor der Hochzeit versucht Randalls Mutter, Schmidt zu verführen, was bei ihm Entsetzen hervorruft. Die Heirat findet statt, und Schmidt ringt sich wider Erwarten zu einer freundlichen Rede auf die Familie der Braut durch, nachdem er erneut »Beziehungsabgründe« durchlebt hat. Auf seiner weiteren Reise und Heimreise sehen wir ihn als amerikanischen Touristen, der mit der mittlerweile zu einer Art Plastikshow verkommenen Geschichte der Eroberung und Besiedlung Nordamerikas an den entsprechenden Touristenorten in Berührung kommt. Wieder zu Hause eingetroffen gesteht er sich am Ende der Reise ein, dass sein Leben für seine Mitmenschen unwichtig erscheinen muss. Warren:
R »Ich bin schwach und ich bin ein Versager. Das lässt sich einfach nicht leugnen. In nicht allzu langer Zeit muss ich sterben. … Welche Bedeutung hatte mein Leben für irgendeinen Menschen?« Seine durch die Pensionierung und den Tod seiner Frau hervorgerufene Krise findet in dieser Einsicht ihren Höhepunkt. Der Film endet mit dem Erhalt eines Briefs von seinem afrikanischen Patenkind, das ihm als Zeichen seiner Dankbarkeit ein Bild gemalt hat. Schmidt bricht darüber in Tränen aus, Tränen die gleichzeitig ein Gemisch aus echter Freude und Trauer ausdrücken, weit entfernt von seinem sentimentalen, selbstbezogenen Seelenzustand zu Beginn des Films. Er lässt sich wirklich berühren.
Warren Schmidt – Charakterstudie einer schizoid strukturierten Persönlichkeit About Schmidt ist eine brillante, bewegende, feine Charakterstudie einer schizoid strukturierten Persönlichkeit, das Wort schizoid hier mit aller Vorsicht gebraucht in unserer westlichen (amerikanischen) Gesellschaft. Mithilfe einer Korrespondenz und imaginierten Bezogenheit auf sein Patenkind in der Dritten Welt (das Patenkind ist ja erst 6 Jahre alt), setzt nach seiner Pensionierung und dem darauffolgenden plötzlichen Tod seiner Frau ein selbstheilender Prozess ein, in dessen Verlauf seine abgewehrten Beziehungsängste und -wünsche durchbrochen werden und authentische Trauer zugelassen werden kann. Bewegend an der Charakterstudie ist der Weg Schmidts zu sich selbst, das Aufbrechen seines verkrusteten Seins. Der Film entspricht einem Entwicklungsroman in bewegten Bildern im Genre des Roadmovies, aber nicht wie üblicherweise von der Adoleszenz sondern dem Alter ausgehend. Der Entwicklungsweg wird hier also nicht am Beginn eines sonst häufig behandelten Lebensabschnitts (Geburt, Erwachsenwerden oder Midlife-Crisis) beschritten, sondern nach der Pensionierung mit Beginn der letzten Lebensphase. Der Zuschauer wird auf die Reise eines Menschen zu sich selbst mitgenommen,
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einer mitunter rührenden, tragikomischen, aber auch kraftvollen Reise mitten in das seelische Zentrum des Protagonisten. In seinem Zentrum angelangt, am Ende des Films, weint Schmidt bitterlich, als er die Zeichnung seines Patenkindes erhält, auf der ein Kind einem Erwachsenen die Hand reicht. Am Anfang des Films steht umgekehrt der Fernsehspot, in dem ein armes Kind weint, mit der Aufforderung, ihm zu helfen. Wem aber hier seelisch geholfen wird, ist eben nicht Ngudu, sondern das verschüttete Kind im Innern Schmidts. Sein bisher »ungelebtes Leben« schwebt nach Verlust seiner Arbeit überdeutlich über ihm, versinnbildlicht im Film durch die Zeiger der Uhr. Außer in seinen Briefen an Ngudu, deren Inhalt der Zuschauer als Schmidts gesprochene Gedanken während des Schreibens erfährt, erleben wir Schmidt als stillen, stummen Menschen, aber in einer sehr beredten Körperlichkeit. Er bewegt sich in einer zugleich präsenten und dennoch zurückgenommenen Art. Es geht also bei About Schmidt sowohl um die fast sprachlose Visualisierung seiner Persönlichkeit, als auch um einen Prozess der Regression hinab in eine mütterliche Urwelt, personifiziert durch Roberta (die zukünftige Schwiegermutter seiner Tochter), eine Hexenwelt, um neugeboren wieder aus ihr hervorzutreten. Dieser Prozess ist durchaus einem psychoanalytischen Therapieprozess vergleichbar, wie es Rank (1924), ein Mitstreiter aus den ersten Tagen der Psychoanalyse, in seinem schönen Buch Das Trauma der Geburt hat zeigen können. Dieses wuchtige Thema der Selbstfindung wird im Film ganz unsentimental und oft urkomisch entfaltet. Es ist zugleich eine witzige, ironisch-sarkastische Bestandsaufnahme unserer Kultur, der in ihr gelebten Beziehungen und vor allem auch der Ehe. Darauf komme ich später noch einmal zurück.
Beschreibung der Persönlichkeit Schmidts Szenen aus dem Film Die Beschreibung von Persönlichkeitsstrukturen in der Psychoanalyse basiert auf klinischen Eindrükken, das soll heißen auf Erfahrungswerten, die aus Behandlungen und Anamnesen stammen. Ich möchte versuchen, kurz zu umreißen, wie eine schizoide Persönlichkeitsstruktur beschrieben werden könnte und werde die entsprechenden Parallelen zur Filmhandlung ziehen. Der schizoide Mensch kann sein Selbst und die Objekte (also andere Menschen) nicht wirklich als getrennt von sich erleben oder strebt zumindest immer einen Zustand an, in dem die Trennung zwischen sich und den anderen aufgehoben wird (König 1999). Das mutet paradox an, da bei einem Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstruktur nach außen hin nur eine Distanziertheit und Unverbundenheit im Kontakt mit anderen Menschen wahrnehmbar ist. Die nach außen gelebte Beziehungslosigkeit kann als unbewusster Schutz gegen den im Inneren ersehnten Verschmelzungswunsch verstanden werden. Das schizoide Element, das sich Winnicott (1965) zufolge in einer nichtpsychotischen Persönlichkeit verbergen kann, ist gekennzeichnet durch eine unvorstellbare Angst, die in Schach gehalten werden muss. Die Angst kann charakterisiert werden als Angst vor E Zusammenbrechen, E unaufhörlichem Fallen, E keine Beziehung zum Körper haben, E keine Orientierung haben. E (Winnicott 2002, S.74) E
Mit allen vier Ängsten wird Schmidt nach dem Tod seiner Frau und dem Verlust seiner Arbeit in Berührung kommen, und zwar in der Begegnung mit anderen Menschen auf seiner Reise. Als Beispiele für die schizoiden Elemente in Schmidts Persönlichkeitsstruktur mögen hier folgende Filmszenen dienen:
Die Schminktischszene In der Beziehung zu seiner Frau macht Schmidt nach außen hin einen völlig distanzierten Eindruck. Er kennt seine Frau nicht als von ihm abgegrenzte und eigenständige Persönlichkeit. Tief im Inneren erwartet er aber von ihr, dass sie so ist, wie er es sich vorstellt – ungetrennt von ihm. Nach ihrem Tod
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setzt er sich an den Schminktisch und cremt sich das Gesicht dick mit der Creme seiner Frau ein, so wie sie es immer getan hat, und schaut sich im Spiegel an. Augenfällig wird hier das Paradoxon seiner Persönlichkeitsstruktur erlebbar, dass nämlich bei aller Abgegrenztheit ein ungeheurer Wunsch nach Ungetrenntheit vorherrscht bei gleichzeitiger Panik davor. Sein Gesicht sieht mit der Creme aus wie das eines traurigen Clowns und ähnelt damit dem Gesicht seiner Frau.
Auseinandersetzung mit der Tochter nach der Beerdigung In der Beziehung zu seiner Tochter: Kontakt zu seiner erwachsenen Tochter hatte er nur über seine Frau. Er hegt und pflegt die Vorstellung von ihr als kleinem Mädchen, als einem Teil seiner selbst. Nach dem Tod der Ehefrau soll die Tochter gleich nahtlos die Versorgungslücke ersetzen, die seine Frau hinterlassen hat, in Verkennung der Person und Lebensrealität seiner Tochter. Er sagt:
R »Wer soll sich denn dann um mich kümmern?«
Grundmisstrauen in Beziehungen und die Welt Menschen mit schizoider Grundstruktur können zwar freundlich sein, wirken dabei aber häufig distanziert, emotional unterkühlt und unempathisch. Es herrscht ein Unvermögen vor, über Gefühle und innere Bewegungen zu sprechen, gleichzeitig ist immer der Wunsch vorhanden, endlich »erkannt« zu werden, wieder mit gleichzeitiger Furcht davor.Drei Campingszenen verdeutlichen diese Aspekte der Persönlichkeitsstruktur: E Seine Frau hat als große Überraschung den Frühstückstisch statt im Haus im Campingwagen, mit dem sie auf Fahrt gehen wollen, gedeckt und verspricht ihm, dass sie von nun an noch viele ähnlich schöne (Nähe-)Frühstücke miteinander erleben werden. Er kann weder sagen, dass er den Gedanken schrecklich findet, noch sich freuen. Er bleibt freundlich distanziert, stumm. Der Zuschauer ahnt aber, dass es ihm gänzlich unangenehm ist, aus seiner Routine herausgerissen worden zu sein und mit seiner Frau dort zu sitzen. Er würde es aber nicht wagen, dies zu äußern. E Auf der oben erwähnten ersten Station seiner Reise auf einem Campingplatz, grüßt ein Nachbar ihn vor seinem Wagen mit den Worten: »Ahoi, bitte an Bord kommen zu dürfen«. Er versteht den Nachbarn nicht, kommt nicht von selbst auf die Idee, jemanden hereinzubitten.
R Nachbar: »Ahoi« Schmidt steckt seinen Kopf zur Tür heraus: »Ja?« Nachbar: »Ich sagte Ahoi.« Schmidt: »Ja dann Ahoi auch für Sie.« Es erfolgt ein Gespräch über seinen besonders großen und schönen Campingwagen und der Nachbar setzt noch einmal an: »Bitte an Bord kommen zu dürfen, Käpt‘n.« Schmidt: »Wie war das?« Nachbar: »Ich würde den Wagen gern von innen sehen.« Schmidt: »Oh ja, selbstverständlich.«
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Als er dann an Bord des anderen Campingwagens zum Abendessen, zu dem er eingeladen wurde, kommt, ist er unempathisch und stellt die indiskrete Frage, ob es etwas angebrannt rieche, was dem Gastgeber peinlich ist. Offensichtlich war der Gastgeber gerade auf der Toilette gewesen und hatte ein Streichholz angesteckt, um mit dem Schwefel einen möglichen Geruch zu übertönen. E Nach seinem »unempathischen« Eintritt in den fremden Campingwagen stellt ihn der Hausherr seiner Frau Vicki vor, einer Beschäftigungstherapeutin. Das Bier, das während des Essens getrunken wird, wird »Wahrheitsserum« genannt, und tatsächlich, nachdem Vicki grenzüberschreitend gesagt hat, sie sehe, dass er ein trauriger Mann sei, sehr, sehr traurig, aber dass sie hinter der Traurigkeit auch Wut, Furcht und Einsamkeit sehe, fühlt er sich endlich erkannt. Erkannt wie von seiner Frau nie in all den langen Ehejahren. Er ergibt sich dem Mütterlichen, sinkt an ihren Busen, verwechselt dann aber frühkindliche Bedürftigkeit mit Erotik und versucht sie zu küssen. Eigentlich kann man sagen, dass Vicki nun das bekommt, was sie mit ihrer Hausapotheken-Psychologie hervorgerufen hat, die sie ungefragt verabreicht hat. Aber auch er bekommt das, wovor er sich doch so sehr fürchtet, eine Abweisung nach erfolgter Intrusion durch ein Mutterobjekt.
Aspekte der Mutterimago Schizoid strukturierte Persönlichkeiten sehnen sich nach verschmelzender Harmonie oder, anders ausgedrückt, nach Einswerden mit dem imaginierten Mütterlichen und fürchten gleichzeitig das unempathische, bedrängende oder in sie eindringende Mutterobjekt. Daraus entsteht ein Existenzgefühl, das sich in dem Satz verdichten lässt: Ich bin, was ich vor den anderen retten kann. (Wendl-Kempmann 1988, S.45)
Drei Frauen, seine Ehefrau, Vicki vom Campingplatz und die zukünftige Schwiegermutter seiner Tochter, Roberta, werden jede in ihrer Weise als gefürchtete Mutterobjekte gezeigt. Projektion und Realität vermischen sich in der Funktionalisierung der Mutterobjekte. Seiner Frau kam dabei wohl eher die, durch viele tägliche Rituale begrenzte, Funktion des kontrollierend Mütterlichen zu, Vicki die Funktion der intrusiven Mutter, Roberta die Funktion der bedrohlichen Urmutter. Helen erscheint dabei über die langen Ehejahre hinweg weit weniger bedrängend als Vicki oder Roberta. Mit ihr ließ es sich – eingeschränkt – leben.
Filmbeispiele für die Imago der mächtigen Mutter Helen »schwingt« zu Hause den Staubsauger, während er ihr sagt, dass er zur Post gehen wolle und ob er ihr etwas mitbringen könne. Sie gibt ihm mit auf den Weg, dass sie nichts brauche, aber er solle nicht herumtrödeln (in der englischen Version: »Don’t dilly dally!«). Er entschließt sich dann aber zum Trödeln und kauft sich eine »Icecream-Soda« (!) wie ein Kind, das sich unerlaubt etwas zum Lutschen gönnt. Außerdem beschwert er sich in einem Brief an Ndugu, dass Helen darauf bestehe, dass er im Sitzen uriniert. Einer Auseinandersetzung stellt er sich nicht. Roberta erscheint als Inkarnation einer Urmutter mit ihrer überbordend üppigen Figur und den wallenden Hippiekleidern, aber vor allem in der Szene, wo sie nackt in ihrem »hot bath tub« unterm Sternenhimmel sitzt und ihn hinein bittet, während der große Busen dieser Urmutter auf dem heißen Wasser schwebt (. Abb.2). In dieser Badeszene verdichtet sich das Doppelte von Sehnsucht nach und Furcht vor dem Mütterlichen, ausgedrückt durch die Sexualangst, die Schmidt nach der Einladung ergreift – eine genial gespielte Szene von Bates und Nicholson.
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. Abb. 2 Roberta erscheint als Inkarnation einer Urmutter – Szene mit Kathy Bates, Quelle: Cinetext
Aber es sind nicht nur Ängste, die sich hinter der distanzierten Fassade verbergen, sondern tatsächlich verbirgt sich häufig auch ein enormes Ausmaß an lang angestauter Aggressivität.Auch diesen Zug der schizoiden Persönlichkeit arbeitet der Film sehr stimmig heraus. Die anfänglichen Briefe an Ngudu, das Patenkind, zeigen diese seelische Bewegung ganz deutlich. Er fängt die Briefe meist freundlich distanziert an, um seine Welt von außen zu beschreiben, und redet sich dann zunehmend in eine innere Rage hinein. Seine tiefe Wut kommt während des Schreibprozesses heraus, die Wut auf seinen Nachfolger an der Arbeitsstelle, auf seine Frau, »diese alte Frau in meinem Haus«, auf seinen zukünftigen Schwiegersohn etc.
Die schizoide Persönlichkeitsstörung Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; WHO 2006) zeigt eklatant die der Definition der schizoiden Persönlichkeitsstörung (F60.1) inhärenten Schwächen ihrer phänomenologisch-deskriptiven Orientierung: die neun diagnostischen Kriterien beschreiben ausschließlich die an der Oberfläche des schizoiden Menschen sichtbare Kälte, Distanziertheit und ein fehlendes Interesse an der Gemeinsamkeit mit anderen Menschen. Wie Warren Schmidt – der mühelos ausreichend viele dieser Kriterien erfüllt – uns zeigt, handelt es sich dabei aber nur um die Spitze des Eisbergs. Darunter verbergen sich wie ausgeführt eine Sehnsucht nach symbiotischer Verschmelzung mit gleichzeitiger Angst vor dem Zerstörtwerden durch intrusive Nähe sowie eine beträchtliche Aggression. Unter der Oberfläche scheinbarer Gleichgültigkeit tobt ein oft unbewusster und dramatischer Kampf. Eine psychoanalytische Sichtweise der schizoiden Persönlichkeitsstörung bezieht im Gegensatz zur ICD-10 die psychodynamischen Hintergründe des schizoiden Erscheinungsbildes mit ein.
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Schlüsselszenen der Wandlung Schmidts 1. Schlüsselszene Eine erste Wende setzt ein, als seine Tochter ihn abweist und nicht die Stelle der Mutter übernehmen will. Danach nimmt er sein neues Leben in die Hand. Er macht sich auf die Reise in seine Vergangenheit, und nach dem Erlebnis mit Vicki, die ihn zwar durchschaut hat, aber durch seinen Kuss als Antwort auf ihre Einfühlung/Eindringung entsetzt war, fühlt er sich beschämt und erkennt, dass er mit seiner Frau nie wirklich gesprochen hat.
2. Schlüsselszene Auf dem Dach seines Campingwagens hält er Zwiesprache mit seiner verstorbenen Frau und bittet sie um Verzeihung. Danach scheint er gewandelt, der nächste Brief an Ngudu klingt neu, die Wutausbrüche sind durchstanden. Am Ende seiner Reise ist er damit allerdings noch nicht angelangt, denn nun möchte er seine Tochter an seiner neuen Erkenntnis teilhaben lassen und muss in der Beziehung zu ihr erneut und anders entdecken, dass er seine Erkenntnisse nicht der Tochter überstülpen kann.
3. Schlüsselszene Im Wasserbett im Haus von Roberta findet Schmidts Kampf mit dem sprichwörtlichen »Drachen« statt. Der Drache ist hier auf der Symbolebene das Wasserbett, in dem er herumschlingert, nicht schlafen kann und mit einem furchtbar schmerzenden, verzerrten Hals aufwacht. Das Wasserbett als verschlingender Uterus und Roberta als füllige Urmutter, die seine schlimmsten Männerängste weckt. Ausgerechnet der Sohn Robertas, den seine Tochter heiraten wird, handelt mit diesen Wasserbetten, ist aber erfolglos. Schmidt kann sich mit seinem schmerzenden Körper und verrenkten Hals nicht mehr rühren, nicht mehr »retten«, und ist liegend mit angetaner Halskrause zu kindlicher Hilflosigkeit verdammt. Orales – Roberta füttert ihn –, Anales – sie fragt nach seinem Bettschieber – und Sexuelles – sie redet während des Fütterns über Sex – vermischen sich für Schmidt unheimlich und treiben ihn in einen regressiven Zustand, der eben jenen oben aufgeführten Ängsten vor Zusammenbrechen, unaufhörlichem Fallen, keine Beziehung zum Körper und keine Orientierung haben, gleicht. Roberta fragt beim Füttern und während des Redens über Sex:
R »Willst Du noch mehr?« Und er antwortet: »Nein, ich denke, ich habe für heute genug.« Mit letzter Kraft versucht er sich die Krawatte für das Hochzeitsfest selbst umzubinden, wenigstens die Krawatte als Symbol seiner Männlichkeit vor der »Mutter« zu retten. Diese »Halskrause-PflegeSequenz« ist sicher auch eine Art Filmzitat, denn ein Image des Unheimlichen kann mit dieser Schauspielerin verbunden werden, was Schmidts Angst vor der Abhängigkeit einen komischen und auch nachvollziehbareren Zusatz verleiht. Denn Kathy Bates hat Rollen in Filmen nach Stephen King gespielt, z.B. in Misery 1990. In diesem Film hält sie einen Schriftsteller gefangen und hat für diese Rolle einen Oscar als beste Hauptdarstellerin bekommen (diesen Hinweis verdanke ich Johannes Hirsch). Psychoanalytisch gesprochen könnte man sagen, dass Schmidt bis zu frühkindlichen Zuständen des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und Hilflosigkeit regrediert angesichts eines Bettes gefüllt mit »Fruchtwasser«, in dem man versinkt, und einer Urmutter, die dem lahmgelegten »Kindmann« verkündet, sie brauche extrem viel Sex, habe ihren Sohn bis zum 5. Lebensjahr gestillt und dann alle Hüllen fallen lässt, um zu ihm in den »hot bath tub« zu steigen. Schamanistisch könnte man auch sagen, dass er dieses Erneuerungsritual brauchte, den Abstieg in die Unterwelt, um gewandelt emporsteigen zu können, um endlich am Schluss des Films seine Tochter
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ihren Weg gehen zu lassen und über das Beziehungsangebot in der Kinderzeichnung weinen zu können. Der heiße Badezuber steht unterm Sternenzelt – übrigens immer nachts, und häufig wird Schmidt beim Einschlafen und beim Aufwachen gezeigt, also Situationen des Übergangs (»transition«). Die genannten Schlüsselszenen spielen alle im Dunkeln, was man auch als Symbolisierung der traum-nächtlichen Arbeit des Unbewussten interpretieren könnte.
Person und Kultur Aber nicht nur die Person Schmidts, die in diesem Film in ihrer Eigenart porträtiert wird, sondern auch ihre Einbettung in die amerikanische Kultur findet im Film ihren Platz. Louis Begleys Roman, auf dem das Drehbuch basiert, und das Drehbuch, das der Regisseur Alexander Payne mit Jim Taylor zusammen geschrieben hat, nehmen eine Gesellschaftsanalyse vor, in der Persönliches und Soziales miteinander verbunden werden. Winnicott sagt zu der Verbindung zwischen Person und Kultur: Gewöhnlich entwickelt sich eine Persönlichkeitsstörung, die von dem Umstand abhängig ist, dass in einer im übrigen gesunden Persönlichkeit ein schizoides Element verborgen ist. Schwer schizoide Elemente werden insofern sozialisiert, als sie sich in einem Muster der schizoiden Störung verbergen können, das in der lokalen Kultur eines Menschen akzeptiert ist. (Winnicott 2002, S. 76)
An dieser von Winnicott beschriebenen Nahtstelle zwischen Person und Kultur ist der Film angesiedelt und spricht deshalb ein breites Publikum an. Jeder kann ein wenig sich selbst entdecken. Sicher auch, was Schwierigkeiten in Partnerschaften angeht. Die Ehen, die im Film gezeigt werden, kommen insgesamt recht schlecht weg. Sowohl Schmidts Ehe, in der er wie ein »Sohn« von einer »Mutter« verwaltet wird, dabei aber stumm und entfremdet als Macho agiert, als auch die geschiedene Ehe der Schwiegereltern seiner Tochter als nicht minder gruseliges Kontrastprogramm. Hier wird schamlos gestritten und ausgesprochen, was man aneinander hasst. Aber auch die beginnende Ehe der Tochter scheint unter keinem guten Stern zu stehen, wobei man es dem Vater Schmidt eigentlich nicht verübeln kann, dass er keine rosigen Zeiten für seine Tochter heraufkeimen sieht. Jeder hat in der Ehekonstellation den Partner, den er braucht, und die Verantwortung für sein Tun. Dennoch scheinen alle Eheleute tragisch in Destruktion verwickelt zu sein. Es werden einige Male Eheszenen mit solchen gekoppelt, in denen Fleisch gehackt oder geschnitten wird. Gegen die Verletzungen in verstrickten Ehen steht der Wunsch des Individuums und der Gesellschaft, den der Pfarrer in der Kirche bei den choreografischen Proben für die Trauung ausspricht:
R »Sie müssen sich so bewegen, dass sie dem Paar auch Luft lassen. Sie sollen sich ja in Freiheit bewegen.« Und wofür steht Ngudu, das afrikanische Waisenkind? Ngudu ist fast bis zum Ende des Films, bis Schmidt seine Zeichnung in den Händen hält, zum einen die Projektionsfigur seines verschütteten inneren Kindes, zum anderen schlägt Ngudu hier die Brücke zum sozialen Sein. Schmidt fährt am Ende seiner Reise bezeichnenderweise durch Indianerland. Geradezu erschütternd komisch und trivial, wie das weiße Amerika sich die Ursprungsgeschichte des Landes sinn- und seelenentleert zu eigen macht. Es sieht nur scheinbar so aus, als rette der weiße Mann oder die weiße Frau die Urvölker oder die armen Völker der Dritten Welt. Unsere Seelen scheinen so verkrustet, dass der Rettungsweg hier wie ein umgekehrter aussieht: Ngudu weist den Weg.
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Literatur Eliade M (1989) Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Suhrkamp, Frankfurt am Main König K (1999) Kleine psychoanalytische Charakterkunde. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Rank O (1924) Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt am Main, 1988 WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2006) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. 4. Aufl. Huber, Bern Wendl-Kempmann G, Wendl P (1986) Partnerkrisen und Scheidung. Beck, München Winnicott DW (1965) Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Psychosozial, Gießen, 2002
Originaltitel
About Schmidt
Erscheinungsjahr
2002
Land
USA
Buch
Originalstory: Louis Begley Drehbuch: Alexander Payne, Jim Taylor
Regie
Alexander Payne
Hauptdarsteller
Jack Nicholson (Warren R. Schmidt), Kathy Bates (Roberta Hertzel), Hope Davis (Jeannie Schmidt), June Squibb (Helen Schmidt), Dermot Mulroney (Randall Hertzel)
Verfügbarkeit
DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Thomas Ross und María Isabel Fontao
»No women, no kids« – eine Geschichte von der Liebe und vom Untergang Schizoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.1), dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Léon – die Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Diagnostische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Ätiologie der schizoiden Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . 232 Prävalenz und Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Schlussbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
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Filmplakat Léon – Der Profi, Frankreich, USA 1994 Quelle: Cinetext
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Léon Der Profi – Léon Montana (Jean Reno)
Die Handlung Léon ist ein Profikiller, der einsam und zurückgezogen im New Yorker Stadtteil »Little Italy« sein Dasein fristet. Seine Aufträge, die er selbst und sein Umfeld als »Arbeit« bezeichnen, bekommt er von einem italienisch stämmigen Mafiaboss, der ihn schon als jungen Mann in seine Obhut genommen hatte. Seine spärliche »Freizeit« widmet Léon einzig und alleine der Pflege seiner Zimmerpflanze, die er täglich putzt, gießt, und auf dem äußeren Fenstersims am warmen New Yorker Tageslicht gedeihen lässt. Eines Tages steht Mathilda, ein Mädchen aus der Nachbarwohnung vor seiner Tür und bettelt unter Tränen um Einlass. Mathildas Familie, in Drogengeschäfte verwickelt, war nur Minuten zuvor von einer verdeckt operierenden Polizeieinheit unter Führung des korrupten und selbst substanzabhängigen Polizeichefs Norman Stansfield ermordet worden. Nach einigem Zögern gewährt Léon Einlass. Aus Angst vor dem Verlust seiner professionellen Identität steht er kurz davor, Mathilda im Schlaf zu erschießen, weicht von diesem Vorhaben aber unter Verweis auf seinen Berufsethos, der ihm verbietet, Frauen und Kinder zu töten (»no women, no kids«), zurück. In der Folge entwickelt sich eine von Anfang an unmögliche Beziehung zwischen den beiden. Mathilda verliebt sich in Léon mit der Liebe eines 12-jährigen Mädchens, die diesen vollkommen überfordert. Er weist sie aus formalen Gründen zurück, bleibt aber unweigerlich mit ihr verbunden und läutet damit den Anfang des Endes seiner professionellen Karriere als unfehlbarer Killer ein. Die Beziehung zu Mathilda macht im Laufe der Handlung aus der Tötungsmaschine Léon einen Menschen aus Fleisch und Blut, der am Ende an diesem seit vielen Jahren ersten und einzigen Glück, mit Mathilda für einige Wochen gelebt zu haben, zugrunde geht (. Abb.1)
Léon – die Figur 1 Ein dicker Mann zieht sich panisch keuchend in eine dunkle Ecke seiner Wohnung in einem New Yorker Hochhaus zurück. Zwei halbautomatischen Pistolen in seiner Hand feuern mehrfach nach vorne, nach hinten, zur Seite. Ihr Ziel treffen sie nicht. Die Gefahr lauert irgendwo da draußen, sie ist schon spürbar nah, schon in die Wohnung eingedrungen, aber ungreifbar wie eine Wolke aus giftigem Gas. Nach dem Feuergefecht, das unten im Gebäude seinen Anfang nahm, sich Stockwerk für Stockwerk immer bedrohlicher werdend dem Zentrum des Geschehens näherte und dem am Ende alle Vertrauten des Mannes zum Opfer fallen, steht dieser halb ohnmächtig im Schweiße seines Angesichts. Der Brustkorb hebt und senkt sich panisch, das Herz rast in höchster Not, das Gesicht badet in Angst. Doch plötzlich wird alles ganz still. Die Hand mit dem Messer senkt sich aus der Dunkelheit zum Kehlkopf des Mannes und bringt ihn augenblicklich zum Verstummen. Der Mann, dem die Hand gehört, überbringt dem Dicken in wenigen, fremdländisch anmutenden Worten die ultimative Warnung seiner Auftraggeber, sich nicht wieder in der Stadt blicken zu lassen. Dann löst sich das Messer vom Hals seines Opfers und geht dorthin zurück, von wo es gekommen war. Totenstille. Der Spuk ist vorbei.
1 Charaktereigenschaften, Symptome, bzw. lebensgeschichtliche Ereignisse, die für die diagnostische Einordnung des Störungsbildes wichtig sind, werden in diesem Abschnitt kursiv hervorgehoben.
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»No women, no kids« – eine Geschichte von der Liebe und vom Untergang
Léon erledigt seine Aufträge, die er ausschließlich von »Tony«, dem italienisch stämmigen Mafiaoberhaupt des Viertels erhält, mit der Präzision eines gut gewarteten Uhrwerks. Er ist im Gebrauch mit allen Waffenarten versiert, und erledigt seine Aufträge schnell, präzise, kompromiss- und erbarmungslos. Die Teilnahmslosigkeit, mit der er das tut, macht ihn sehr wertvoll für seinen Auftraggeber. Neben seinen Aufträgen führt Léon ein zurückgezogenes und sowohl materiell als auch emotional äußerst karges Leben. Sein Auftraggeber, der zugleich sein einziger regelmäßiger Sozialkontakt ist, bekräftigt Léon in seiner bisherigen Lebensführung (Tony: »Change ain‘t good, Léon«) und gibt ihm Ratschläge über den passenden Umgang mit anderen Menschen. In einer Szene überreicht er Léon einen Koffer mit einer Waffe und fordert ihn auf zu überprüfen, ob alles richtig ist, woraufhin Léon erwidert:
R »I trust you.«2 Der Mafiaboss aber entgegnet: »One thing has nothing to do with the other. Remember that, Léon.«3 Zu Tony befindet sich Léon in mehrfacher Hinsicht in kindlicher Abhängigkeit. Da er weder lesen noch schreiben kann, und sehr wahrscheinlich keinen regulären Aufenthaltsstatus in den USA hat (er hat keine Personalpapiere, kein Bankkonto und es scheint auch sonst keinen formalen Hinweis auf seine Existenz zu geben), ist die Abhängigkeit von Tony erheblich. Das Geld, das ihm für die Erledigung der Aufträge theoretisch zusteht, wird ihm nicht ausbezahlt. Statt dessen verbleibt es bei Tony, der es ganz ohne den lästigen »Papierkram«, den reguläre Banken einfordern würden, für Léon verwaltet. Natürlich ist dies Tony nur recht so, denn er kann in dieser perversen Beziehungskonstellation weiter erhebliche Kontrolle auf Léon ausüben. Dem Zuschauer wird es im Laufe der Handlung immer deutlicher, dass der (schlechte) Übervater Tony León auf perverse Art und Weise ausbeutet, indem er sich seine psychischen Defizite zunutze macht und ihn in eine moderne Form der Leibeigenschaft zwingt. Persönliche bzw. sexuelle Beziehungen hat Léon seit vielen Jahren überhaupt keine Wünsche nach Beziehungen bzw. sexuelle Wünsche scheinen nicht vorhanden zu sein. Er lebt in einer kleinen, spärlich und nur mit dem Notwendigsten eingerichteten Altbauwohnung seines Stadtteils. Als Symbol für die emotionale Lebendigkeit ihres Besitzers, der sonst nur Tod und Verderben kennt, pflegt Léon seine einzige Zimmerpflanze4 mit Hingabe. Er gießt sie regelmäßig, sprüht die Blätter mit Wasser und Pflegemitteln ein, und stellt sie jeden Morgen ans Licht. Sie dankt es ihm durch ihr gesundes, sattes, lebendiges Grün. Die Pflanze bindet sein nur noch rudimentär vorhandenes Spektrum positiver affektiver Schwingungsfähigkeit. Er schützt sie um jeden Preis, auch unter Einsatz seines (physischen) Lebens. Erklären kann man sich das nur, indem man die Pflanze als Symbol und Projektionsfläche all jener positiv besetzten Seelentätigkeit ansieht, zu der Léon in der Lage ist. Den Kontakt mit Menschen scheut Léon und er meidet sie, wo er nur kann. Diese Zurückgezogenheit ist keineswegs nur dem Umstand geschuldet, dass er sich als professioneller »Hitman« zu allen Seiten hin vorsichtig verhalten muss. Léon lebt wie unter einer Glasglocke, seine innere Welt wirkt fremd, blass und farblos. Gefühle bringt er kaum zum Ausdruck, seine affektiven Regungen sind erheblich eingeschränkt. Genussvolles Essen oder Trinken sowie entspanntes Schlafen sind ihm fremd. Unter den für sein Leben kennzeichnenden Zuständen der Isolation und Anhedonie scheint aber Léon nicht besonders zu leiden. Erst nachdem er Mathilda kennengelernt hat, wird dem Zuschauer das Ausmaß seiner Hemmung spontaner Erlebnisfähigkeit bewusst. Die Lebendigkeit und Lebenslust eines jungen Mädchens, mit der Mathilda ihn überschüttet, überfordert ihn restlos, und er zieht sich emotional immer wieder unter eine Glocke zurück. Im Kontakt mit Mathilda ist Léon zwiespältig, hin und her gerissen von der Anziehungs2 »Ich vertraue dir.« 3 »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Denk dran, Léon.« 4 Es handelt sich dabei um eine Agloanema, zu deutsch Kolbenfaden, eine tropische Pflanzengattung aus der Familie der Araceae (Aronstabgewächse). Alle Pflanzenteile sind giftig. Dennoch ist sie als Zimmerpflanze beliebt.
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kraft, den sie auf ihn ausübt und der Ablehnung jeglicher emotionaler Bindung. Die immer gleiche und sehr rigide Tagesstruktur, die nach dem Aufstehen aus »sit ups« zum Fitnesstraining, einem Glas Milch, der Routine zur Pflege der Pflanze und der anschließenden Arbeit besteht, scheint seine fragile und für ihn ungreifbare innere Welt wie einen Ballon zu umschließen. Zugleich gibt sie ihm äußeren Halt für die große innere Leere, die keine Worte hat. In einigen Szenen wird deutlich, wie sehr das Innere Léons sich von seiner äußeren Erscheinung unterscheidet. Einmal sitzt der kaltblütige Killer mit einer Tüte Popcorn in einem fast leeren Kinosaal und schaut sich mit kindlichem Vergnügen zum wiederholten Male Gene Kellys »Singing in the rain« an. Um Mathilda aufzumuntern, nachdem ihre komplette Familie brutal ermordet wurde, holt Léon ein rosaroten Ofenhandschuh in Form eines Schweinchens aus seiner tristen Küche, imitiert das Grunzen von Schweinen und stellt damit Kontakt zu ihr her. Nach außen ist er zurückgezogen, unabhängig, geistesabwesend, asexuell und moralisch streng (selbst wenn seine moralischen Grundsätze nicht den sozial akzeptierten Normen entsprechen). In der Beziehung mit Mathilda zeigt sich aber die verdeckte innere Welt Léons, ein äußerst sensibler, emotional bedürftiger, naiver, für eine pädophile Beziehung anfälliger Mensch. Der Zuschauer stellt sich von da an die Frage, welche von den abgespaltenen, kaum integrierbaren Seiten der Figur Léons wohl bestehen wird, zumal ihre Widersprüche im Laufe der Handlung immer deutlicher werden. Der Eintritt von Mathilda in Léons Leben eröffnet ihm jedenfalls neue, ungeahnte seelische Perspektiven. Das Mädchen ist als Sinnbild einer verlorenen Lebendigkeit zu verstehen, aus der es, nachdem er von der süßen Milch dieses jungen Lebens gekostet hat, kein Entrinnen mehr gibt. Zugleich eröffnet sich dem Zuschauer die zeitliche Dimension der Figur Léons, die bis dahin in einer immerwährenden, aus starren Routinen bestehenden Gegenwart festgesteckt war. Die lebensgeschichtliche Perspektive wird vorwiegend durch symbolische Elemente aufgezeichnet. Die Zukunftsperspektive, so wie sich Léon sie vorstellt, klärt sich dagegen erst gegen Ende des Filmes auf. Milch hat in diesem Zusammenhang neben der Grünpflanze eine besondere Symbolik. Zum einen dient sie Léon als Grundnahrungsmittel, denn er trinkt täglich mehrere Gläser davon (essen sieht man ihn hingegen lange nicht). Milch ist aber nach der Geburt auch die erste Nahrung aller Säugetiere überhaupt, sie sichert das physische Überleben in den ersten Lebensmonaten, und die erfolgreiche Ausschöpfung dieser Nahrungsquelle ist nicht nur eine Frage von Leben oder Tod, sondern auch untrennbar mit dem Aufbau einer emotionalen Bindung zwischen Mutter und Kind verbunden. In einer Szene bietet Mathilda Léon ein Glas Milch an, dankt ihm damit für seinen, zu diesem Zeitpunkt schon erheblichen Einsatz für ihre Ausbildung als Profikillerin. Symbolisch untermauert sie damit ihr zuvor offen dargebrachtes Angebot, ihm im Austausch für Ausbildung und Training zur »cleanerin« den gesamten Haushalt zu besorgen. Mathilda wird zur Ernährerin Léons, zu einer Mutterfigur, die er in dieser Form vermutlich nie gehabt hat, und sie wird auch zu seiner Erzieherin, denn sie bringt dem Analphabeten Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Auf einer anderen Ebene aber bringt diese Beziehung sowohl Mathilda als auch Léon in reale Gefahr. Als Mathilda sich zu ihrem geplanten Rachefeldzug für die Auslöschung ihrer Familie in der Lage fühlt, schreibt sie Léon eine Notiz, in der sie ihren Plan darlegt und die ihm, der nun lesen kann, verrät, wo sie und damit auch die Mörder ihrer Familie sich aufhalten: in der Polizeidirektion ihres Viertels. Léon ist sich sofort darüber im Klaren, dass dieser Plan nicht gut gehen kann und er geht ein hohes Risiko ein, um Mathilda zu retten. Indem Mathilda ihre kindliche Identität durch eine Identität als Killerin austauscht (. Abb.2) und die Rache für die Vernichtung ihrer Familie in die eigene Hand nimmt, bringt auch sie sich in erhebliche Gefahr. Vor dem Hintergrund dieser realen Gefahren bekommen die Beziehungsängste Léons ein noch höheres Gewicht, nämlich als Ausdruck eines Konfliktes zwischen dem Wunsch, Beziehungen zu anderen aufzubauen, und der Angst, dass die eigene Bedürftigkeit anderen schaden könnte.
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. Abb. 2 Mathilda tauscht ihre kindliche Identität durch die einer Killerin aus – Szene mit Natalie Portman und Jean Reno, Quelle: Cinetext
In einer Szene erlaubt Léon Mathilda, seine Pflanze im Arm über die Straße zu tragen. Symbolisch gibt er sich damit in ihre Hände. Als Mathilda sieht, wie Léon seine Pflanze mit Hingabe pflegt, sagt sie:
R »If you really love it, you should plant it in the middle of the park so that it can have roots.«5 Genau dies schafft Léon aber nicht aus eigener Kraft, denn er verfügt über keinen inneren Anhaltspunkt darüber, wo er Wurzeln schlagen soll. Am Ende des Films lässt Mathilda die Pflanze (und damit symbolisch Léon) in der Erde eines Schulhofs Wurzeln schlagen und markiert damit gleichzeitig das Ende eines alten und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Die Entwicklungsperspektive der Beziehung zwischen den beiden kommt in einer einzigen Szene klar zur Sprache. Als Léon sich von Mathilda in der gemeinsamen Wohnstätte zur Arbeit verabschiedet, sagt sie:
R »I have finished growing up, Léon. I just get older«6; woraufhin dieser antwortet: »For me it’s the opposite. I’m old enough. I need time to grow up«7. Dieser Austausch verdeutlicht, in welchem subjektiven Zeitfenster beide Charaktere sich treffen. Léon wird spätestens jetzt klar, dass er in seiner emotionalen Entwicklung jahrelang stehen geblieben ist. Da sich aber in seinen eigenen Worten seit dem Auftauchen Mathildas alles verändert hat (»everything’s 5 »Ich habe aufgehört erwachsen zu werden, Léon. Ich werde nur älter.« 6 »Für mich ist es das Gegenteil. Ich bin alt genug. Ich brauche Zeit, um erwachsen zu werden.« 7 »Du hast mir Lust am Leben gegeben. Ich will glücklich sein, in einem Bett schlafen, Wurzeln schlagen. Du wirst nie wieder alleine sein, Mathilda. Ich liebe dich, Mathilda.«
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been different«), braucht er aber immer wieder den emotionalen Rückzug, den er in der Erledigung seiner Aufträge auslebt. Die dabei inszenierte Omnipotenzfantasie in der Rolle des unbesiegbaren Killers wird in dem Maße brüchig, in dem die Beziehung zu Mathilda sich vertieft. In einer Szene kommt Léon von der Arbeit und ist zum ersten Mal verletzt. Die Verletzung verbirgt er und überbringt Mathilda stattdessen ein rosarotes Kleidchen als Geschenk. Eine eiserne Regel dient Léon als Orientierung: »No women, no kids«. Wenn die Gewaltakte im Dienste des emotionalen Rückzugs verstanden werden, dann weist diese Aussage symbolisch auf eine fantasierte liebevolle Mutter-Kind-Beziehung als privaten inneren Raum hin, den es mitten in der realen Verwüstung zu schützen gilt. Letztlich bringt das Mädchen Léon auf den Weg, ein emotional reiferes, »normaleres« Leben zu führen, und frühe soziale und emotionale Defizite wettzumachen. Mit dem Aufbau dieser Fähigkeiten, die Mathilda ihm beibringt und der gleichzeitig einsetzenden emotionalen Beziehung, die sich zwischen beiden entwickelt, werden damit aber endgültig die Weichen für den Niedergang des hoch professionellen Killers gestellt, denn die Attribute von Normalität, Liebe, Ausbildung, Freizeit, Vergnügen und Selbstverwirklichung haben in diesem Leben keinen Platz. Die emotionale Beziehung zwischen Léon und Mathilda, in deren Verlauf es nie zu sexuellen Kontakten kommt, mündet in einer Schlüsselszene: Mathilda und Léon haben sich in der Wohnung verbarrikadiert. Draußen baut eine zweihundert Mann starke Polizeieinheit schweres Geschütz auf, um den wehrhaften und mit konventionellen Mitteln nicht zu stellenden Léon aus der Wohnung zu holen. Es gibt kein Entrinnen außer durch einen Belüftungsschacht, der jedoch nur Platz für die zierliche Mathilda bietet. Beiden ist klar, dass er zurückbleiben muss und möglicherweise nicht überleben wird. Léon wickelt zunächst seine Pflanze in eine Decke, wirft sie in den Schacht und als Mathilda nicht alleine hinabsteigen will, sagt er:
R »You’ve given me a taste for life. I wanna be happy, sleep in a bed, have roots. You’ll never be alone again, Mathilda. I love you, Mathilda.« Unter größter Gefahr steigt sie hinab. Mathilda rettet die Pflanze, die schließlich ganz zum Sinnbild des Lebens von Léon wird, indem sie sie von den engen Fesseln ihres Topfes befreit, und der Erde übergibt, wo sie Wurzeln schlagen kann. Für den Zuschauer endet damit die Geschichte des Profikillers, der die willkommene Befreiung aus dem Kerker seiner Seele durch den Schlüssel, den Mathilda ihm reicht, schließlich mit dem Leben bezahlt.
Diagnostische Einordnung Diagnostisch erfüllt Léon die Kriterien von zwei Persönlichkeitsstörungen, nämlich der schizoiden und der antisozialen. Sowohl zur Diagnose der schizoiden als auch der antisozialen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 mindestens drei Kriterien vorliegen. Von neun Kriterien der schizoiden Störung erfüllt Léon mindestens sieben, die alle im vorherigen Abschnitt aufgeführt sind. Léons emotional karges Leben und sein Aufblühen im Zusammenhang seiner Erlebnisse mit Mathilda bilden das Kernthema des Films. Seine Funktion als Auftragskiller ist die Rahmenhandlung, vor deren Hintergrund diese unmögliche Beziehungsgeschichte entwickelt wird. Aus diesem Grunde steht hier die Diagnose der schizoiden Persönlichkeitsstörung im Vordergrund. Für die Diagnose herausragend sind eine tiefgehende Kontaktstörung, tiefes Misstrauen anderen gegenüber und damit verbundene erhebliche Schwierigkeiten, emotionale Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen. Für den Diagnostiker, der mit schizoiden Menschen zu tun hat, bleibt deren innere Welt blass und leer. Die spontane emotionale Schwingungsfähigkeit ist häufig herabgesetzt, eigene Gefühle können nur selten benannt und noch seltener gut nachvollziehbar erklärt werden. Gleichzeitig kann jedoch durchaus ein Beziehungswunsch mit anderen Menschen vorhanden sein. Patienten mit schizoider Persönlichkeitsstörung haben mitun-
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ter starke Bedürfnisse nach Anerkennung durch andere, nach Wichtigkeit, d.h. im Leben anderer eine Rolle zu spielen, nach Verlässlichkeit und nach Hilfe und Unterstützung durch andere (solidarische Beziehung; Doering u. Sachse 2008). Hier zeigt sich dann die ausgeprägte Zwiespältigkeit im Erleben der betroffenen Person, die der Störung ihren Namen gegeben hat (gr. schizo= abgespalten). Während also ein Wunsch nach Nähe vorhanden sein kann, sind die sozialen Ausdrucks- und Mitteilungsmöglichkeiten stark gehemmt. Sie wirken deshalb im Kontakt oft starr, hölzern und ungeschickt. Schizoide Personen sind in der Regel hochgradig kontrolliert, können aber, wie es bei vielen Störungsbildern, die durch hohe Selbstkontrolle imponieren, der Fall ist, bei Kontrollverlust infolge erheblicher äußerer Stressoren, gelegentlich auch dekompensieren. Ein wichtiger Stressor in dem Zusammenhang besteht in Beziehungsangeboten anderer, die für die Betroffenen zu viel Nähe ohne ausreichende Rückzugsmöglichkeiten vermitteln und damit eine Bedrohung ihres brüchigen Selbst darstellen. Infolge ihrer sozialen Zurückgezogenheit führen schizoide Menschen häufig ein recht freudloses Leben. Auch an sexuellen Erfahrungen und Kontakten haben sie vergleichsweise wenig Interesse. Wenn sie soziale Normen oder Konventionen übertreten, geschieht das, im Gegensatz zu der hier dargestellten Filmfigur, in der Regel unabsichtlich. Léon erfüllt aber auch einige Merkmale der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Hierzu gehören der offensichtliche Mangel an Einfühlungsvermögen in andere sowie mangelnde Empathie und Gefühlskälte gegenüber seinen Opfern. Das Training mit Schusswaffen, das Léon Mathilda angedeihen lässt, gleicht einer gut vorgeführten olympischen Turnübung. Indem er sich selbst als »cleaner« (Reiniger) und seine Opfer regelmäßig als »clients« (Kunden) bezeichnet, wie es sonst Geschäftsleute, Rechtsanwälte oder auch Psychotherapeuten tun, bedient sich Léon einer zweckentfremdeten, zynischen und zugleich vollkommen abwegigen, weil hochgradig verschleiernden Sprache. Ein Erleben von Schuld oder Reue ist aus Léons Verhalten und verbalen Äußerungen nicht ersichtlich. Die Tätigkeit, aus der er sich den Lebensunterhalt sichert, ist eine Missachtung aller tragenden sozialen Normen schlechthin und geprägt von hochgradig aggressivem und gewalttätigem Verhalten. Als weiteres bestimmendes Merkmal der dissozialen Persönlichkeitsstörung kommt die offenkundige Beziehungsschwäche bzw. eine tiefgreifende Bindungsstörung hinzu, die wir allerdings vor dem Hintergrund der schizoiden Grundstörung sehen. Weitere Elemente der dissozialen Persönlichkeitsstörung fehlen hingegen völlig. Dazu gehören anhaltende Reizbarkeit, geringe Frustrationstoleranz und Impulsivität. Léon hat ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Disziplin und er ist auch nur deshalb in der Lage, über längere Zeit zu überleben. Neben dem Empathiedefizit und einer defizitären Gewissensbildung sind es insgesamt eher Korrelate dissozialen und antisozialen Verhaltens als diagnosespezifische affektiv-interpersonale Besonderheiten, die Léon diese Diagnose einbringen. Letztere sind vor dem Hintergrund seiner schizoiden Züge besser zu verstehen.
Ätiologie der schizoiden Persönlichkeitsstörung8 In der klassischen deutschen Psychiatrie wurde die schizoide Persönlichkeitsstörung, die freilich damals noch nicht so hieß, von der aber die heutigen Begriffe der Schizoidie bzw. des schizoiden Charakters geprägt wurde, als eine mit der Schizophrenie assoziierte Charaktereigenschaft angesehen (Bleuler 1911). Vermutet wurde ein Kontinuum, in dem sich die Grenzen zwischen schizoidem Charakter und einer latenten Schizophrenie mit den typischen Denkstörungen und den entsprechenden sozialen Dysfunktionen aber nicht eindeutig festlegen ließen. Auch heute noch überlappt die Kriterienliste der schizoiden Persönlichkeitsstörung nach ICD und DSM deutlich mit den Merkmalen schizothym-schizoider Personen, die Kretschmer 1921 in seinem berühmten Buch Körperbau und Charakter, Untersuchungen
8
In den folgenden Abschnitten steht die schizoide Persönlichkeitsstörung als Hauptdiagnose der Filmfigur im Vordergrund.
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zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, vorschlug. Deutlich später wurde von Kety et al. ein Schizophreniespektrum mit den Endpunkten Schizophrenie auf der einen und schizoide Persönlichkeitsstörung auf der anderen Seite vorgeschlagen, und in dessen Mitte die BorderlinePersönlichkeitsstörung angesiedelt wurde (Kety et al. 1971). Die Einordnung schizoider Merkmale in das Spektrum schizophrener Erkrankungen ist jedoch bis heute Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Das psychodynamische Verständnis der schizoiden Störung betont die grundlegende Spaltung oder Zersplitterung des Selbst in verschiedene Selbstrepräsentationen, die nicht integriert werden. Die Folge ist eine Identitätsdiffusion, die es schizoiden Personen schwer macht, eine Beziehung zu anderen aufzubauen. Dennoch haben schizoide Personen nur scheinbar keine Beziehungen zu anderen. Eine wichtige klinische Einsicht besteht darin, dass sie wohl Gefühle für andere haben, aber auf einer sehr frühen Entwicklungsstufe der Bezogenheit stehen geblieben sind (Gabbard 2005). Nach Fairbairn (1952) liegt der Ursprung der schizoiden Störung in bestimmten Erfahrungen in der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Das zentrale schizoide Problem kann als »Liebe, die gierig wird« umschrieben werden. Das schizoide Individuum befürchtet, dass die Kraft seiner Bedürfnisse andere letztlich zerstören könnte und kommt in der Folge zu dem Schluss, dass Lieben gefährlich ist. Um seine Liebe zu verstecken und sich selber vor der Liebe anderer schützen, die durch Projektion gefährlich geworden ist, errichtet das schizoide Individuum eine Abwehr gegen das Lieben und das Geliebtwerden. Es fühlt sich gezwungen, Distanz zu anderen zu wahren, z.B. indem es gleichgültig oder rüde erscheint (Fairbairn 1952; Guntrip 1969; Akthar 1987). Winnicott (1965) sah die schizoide Störung als eine Variante des »falschen Selbst« Das falsche Selbst ist keineswegs nur als eine Maske zu verstehen, sondern als Beschützer des wahren Selbst, solange bis die Bedingungen dafür gegeben sind, dass das wahre Selbst zur Geltung kommen kann. Die Verhaltens- und lerntheoretische Perspektive betont das Kompetenzdefizit im Umgang mit zwischenmenschlichen affektiven Beziehungen im Allgemeinen und richtet sich dabei nicht ausschließlich auf intime Beziehungen. Das Defizit geht letztlich zurück auf den Mangel frühkindlicher Interaktionserfahrungen. Die frühe Vermeidung interpersoneller Konflikte resultiert der Modellvorstellung nach aus einem Fehlen von adäquat gelösten Stress- und Belastungserfahrungen im Umgang mit anderen Menschen. Verstärkt werden schizoide Charakterzüge oft durch die soziale Umwelt, die auf den schroffdistanzierenden Rückzug der Betroffenen oft mit Kritik, Ablehnung, oder Ausgrenzung reagiert und damit den unbewussten Erwartungen schizoider Personen, dass der Umgang mit anderen zu nichts Gutem führt, Vorschub leistet (Fiedler 2007).
Prävalenz und Komorbidität Die schizoide Persönlichkeitsstörung wird nur selten diagnostiziert. In der Allgemeinbevölkerung liegt die Prävalenz zwischen 0,5 und 1,5% (Kalus et al. 1993; Torgersen 2001), wird aber oft noch niedriger geschätzt. Auch in klinischen Populationen ambulanter und psychiatrischer Patienten ist die Prävalenz niedrig (1,8%; Loranger et al. 1994). Die niedrigen Zahlen dürften unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass sich Menschen mit schizoiden Charakterzügen selten aus eigenem Antrieb in psychotherapeutische oder psychiatrische Behandlung begeben. Wenn Personen mit schizoiden Persönlichkeitsmerkmalen eine Behandlung aufsuchen, dann geschieht es oft aufgrund komorbider Erkrankungen. Die häufigste komorbide Erkrankung bei schizoider Persönlichkeitsstörung ist die Depression (Major Depression). Differenzialdiagnostisch müssen das Asperger Syndrom, der residuale Typus der Schizophrenie, die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung und die schizotypische Persönlichkeitsstörung in Betracht gezogen werden. Ein wichtiges Abgrenzungskriterium ist hierbei das Ausmaß der Kontaktschwäche, der sozialen Isoliertheit und des Einzelgängertums aus Mangel an Interesse an anderen Menschen (Herpertz u. Wenning 2003)
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Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erhöht die Wahrscheinlichkeit der Diagnose einer zweiten deutlich (Herpertz u. Saß 2002; Fiedler 2007). Die Muster der Komorbidität zwischen den Persönlichkeitsstörungen wurden aber bisher nur in wenigen Studien untersucht, von denen hier nur zwei exemplarisch skizziert werden. In einer Studie von Zimmerman et al. (2005) wurden die Komorbiditätsmuster bei 859 Patienten untersucht. Für Personen, bei denen eine schizoide Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, war die Wahrscheinlichkeit, gleichzeitig die Diagnose einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung zu erhalten, deutlich erhöht. Alle anderen Persönlichkeitsstörungen einschließlich der antisozialen hatten unter der Voraussetzung einer schizoiden Persönlichkeitsstörung als Erstdiagnose keine erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit. Eine etwas ältere Arbeit einer amerikanischen Arbeitsgruppe, in der vier Studien mit insgesamt 568 Patienten zusammengefasst wurden, ergab für die schizoide Persönlichkeitsstörung eine Komorbiditätsrate von 83%, d.h. es wurden in 83% der Fälle, in denen eine schizoide Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde, auch mindestens eine weitere diagnostiziert. Komorbid traten am häufigsten selbstunsichere, gefolgt von schizotypischen Persönlichkeitsstörungen auf (Widiger et al. 1991). In nur zwei Fällen berichten die Autoren auch von einer Kombination aus schizoider und antisozialer Persönlichkeitsstörung. Eine gemeinsame Diagnose von schizoider und antisozialer Persönlichkeitsstörung, wie sie hier für den Filmcharakter Léon vorgenommen wurde, dürfte demnach in der Realität also nur sehr selten vorkommen.
Behandlung Eine medikamentöse Behandlung der schizoiden Persönlichkeitsstörung ist nicht bekannt. Eine Behandlung mit Psychopharmaka ist jedoch indiziert, wenn gleichzeitig eine gravierende Angstsymptomatik oder depressive Symptomatik in Form einer Major Depression oder Dysthymie besteht. Im Zentrum der psychodynamisch orientierten psychotherapeutischen Behandlung der schizoiden Persönlichkeitsstörung steht das behutsame Herstellen einer vertrauensvollen und tragfähigen therapeutischen Beziehung. Dies gelingt am ehesten durch ein empathisches, verständnisvolles Beziehungsangebot der Therapeutin oder des Therapeuten an den Patienten, das dessen grundlegende Schwierigkeit zur Beziehungsaufnahme im Auge behält. Die Sicherheits-, Distanz- und Autonomiebedürfnisse der Patienten müssen respektiert, aber auch behutsam infrage gestellt werden. In der therapeutischen Beziehung geht es vornehmlich um die Förderung der Fähigkeit zur Wahrnehmung interpersonaler Vorgänge, zur Differenzierung und zum Ausdruck von Emotionen und schließlich um die Vermittlung einer gelingenden Beziehungserfahrung, vor deren Hintergrund der Patient seine bisherigen Überzeugungen über die Natur zwischenmenschlicher Beziehungen auf den Prüfstand stellen kann. Die Patienten sollen emotional erfahren können, dass eine Beziehung möglich ist, ohne gleichzeitig verletzend oder zerstörend zu sein (Wöller et al. 2002). Für einige schizoide Patienten liegt aber das sinnvollste Therapieziel im Aufbau von Bewältigungsmöglichkeiten, die ihnen helfen, ihr einsames Leben erträglicher zu machen (Stone 2005). Die klassische psychodynamische Technik (z.B. Anwendung der Couch, passive Haltung des Therapeuten) sollte unter Berücksichtigung der Vulnerabilität schizoider Personen auf den interpersonellen Stress angepasst werden. Auch die psychodynamische Gruppentherapie kann schizoiden Patienten bei der Sozialisierung helfen. Die Gruppe stellt eine Situation dar, in der eine neue (elterliche) Fürsorge stattfinden kann. Dies ermöglicht dann die Internalisierung guter Objekte, die ein Gegengewicht zu den negativen und angstauslösenden inneren Objekten bilden können (Gabbard 2005). Konzeptuelle Ansätze in der Verhaltens- und Schematherapie fokussieren dysfunktionale Einstellungen und kognitive Schemata der Patienten, die zunächst durch das Erstellen von Protokollen über dysfunktionale Gedanken diagnostiziert werden, und zu deren Veränderung auf die Stärkung der sozialen Fähigkeiten und Wahrnehmungsübungen gesetzt wird (Beck u. Freeman 1999; Young et al. 2005).
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Auch hier wird Wert auf einen aufmerksamen und feinfühligen Umgang mit den Patienten gelegt. Es wird empfohlen, an die Distanzierungs- und Selbstschutzbemühungen der Patienten anzuknüpfen und sie zur Kontaktaufnahme zu aktivieren. Dazu gehören Tagesprotokolle, Tagebuchaufzeichnungen und – wo möglich – »Videofeedback« und Rollenspiele. Briefliche Kontakte oder E-Mails werden oft akzeptiert, um eine angemessene Form der Kommunikation und Nähe-Distanz-Regulierung zu finden. Erst im weiteren Verlauf der Therapie sollte eine stärkere Fokussierung und Förderung des Beziehungs- und Affekterlebens und der Empfindung von Empathie für sich selbst und andere erfolgen. Zur Veränderung der dysfunktionalen Einstellungen werden Techniken wie Disputation, Rollenspiele, Verhaltensexperimente oder Imaginationsübungen eingesetzt. Die Stärkung sozialer Fähigkeiten erfolgt im Rahmen sozialer Kompetenztrainings und von Gruppenangeboten, in denen Rollenspiel und andere In-vivo-Übungen eingesetzt werden. Zur Verbesserung der Körperwahrnehmung werden Wahrnehmungsübungen über die Atmung und Achtsamkeitsübungen eingesetzt.Gelegentlich wird sich das Therapieziel bei schizoiden Persönlichkeiten aber auf eine Akzeptanz und bessere Gestaltung des Alleinseins beschränken müssen (Herpertz u. Wenning 2003). Eindeutige Wirksamkeitsnachweise psychotherapeutischer Ansätze zur Behandlung von schizoiden Persönlichkeitsstörungen mit hohem Evidenzgrad, also in einer methodischen Form, wie sie heute von vielen gefordert wird, stehen noch aus (Gabbard 2005). Dies dürfte vor allem dem Umstand geschuldet sein, dass die Störung zu selten diagnostiziert wird, um in großen Stichproben untersucht zu werden. Psychologische Therapien mit schizoiden Patienten können aber durchaus erfolgreich sein. Als aussichtsreich gelten neben verhaltens- und schematherapeutischen Verfahren auch psychodynamisch orientierte oder psychoanalytische Behandlungen sowie die Kombination von Einzel- und Gruppentherapien im stationären Setting (Fiedler 2007; Herpertz u. Saß 2002, 2003). Im Gegensatz zur Behandlung der schizoiden Persönlichkeitsstörung, für die es aus besagtem Grund relativ wenige Wirksamkeitsnachweise gibt, hat die Behandlung der dissozialen bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörung insbesondere in den vergangenen zwanzig Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Mit Erfolg durchgeführt werden neben psychodynamisch orientierten und verhaltenstherapeutischen Einzeltherapien auch Gruppentherapien, die sich oft auf die Vermittlung und Einübung sozialer Fertigkeiten konzentrieren. Der Gesamteffekt der sozialtherapeutischen Behandlung liegt bei etwa d=010 (Lösel et al. 1987). Das heißt, dass für aus sozialtherapeutischen Anstalten Entlassene (behandelte Straftäter) etwa 10% weniger Rückfälle zu erwarten sind als bei Entlassenen des Regelvollzugs (nicht behandelte Straftäter). Lösel (1994) konnte diesen Effekt nochmals bekräftigen und auch eine von amerikanischen und deutschen Forschern gemeinsam durchgeführte Metaanalyse (Egg et al. 2001) kam zu ähnlichen Ergebnissen (mittlere Effektstärke: d=13). Diese Ergebnisse entsprechen den Befunden aus anderen Ländern (Lipsey 1992; Lipsey u Wilson 1993; Hall 1995; Redondo et al. 1999), wobei im Allgemeinen manualgeleitete und verhältnismäßig rigide strukturierte kognitiv-behavioral orientierte Behandlungsprogramme am besten abschneiden, z.B. das »Reasoning and Rehabilitation« (R & R) Programm von Ross et al. (1986) mit einer mittleren Effektstärke von d=14 (Tong u Farrington 2006; Lipsey u. Cullen 2007). Einschränkend muss man festhalten, dass die oben zitierten Studien nicht nur Personen einschließen, bei denen eine antisoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde. Demzufolge entsprechen die Behandlungseffekte für antisoziale Menschen nicht exakt jenen, die oben angegeben sind. Die Größenordnung der Effekte bleibt aber insbesondere unter Berücksichtigung jüngerer Gruppentherapieprogramme erhalten.
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Schlussbemerkung Der Film ist eine französisch-amerikanische Koproduktion, die einen erheblichen kommerziellen Erfolg feiern konnte. Das Script knüpft an Nikita an, eine frühere Produktion des Regisseurs Luc Besson, der dort den Profikiller Victor als Verfolger von Nikita, einer Spezialagentin im Auftrag des Staates, auftreten lässt. Victor, ebenfalls gespielt von dem französischen Schauspieler Jean Reno, diente dem Regisseur als Vorlage für die Entwicklung von Léon, dem er allerdings im Gegensatz zum Erstgenannten, Seelenleben einhaucht. Der Film erschien in einer Kino- und einer etwas längeren Director’s-Cut-Fassung. Im »Director’s Cut« werden die beiden Hauptfiguren wesentlich detaillierter beschrieben und neben der Ausbildung Mathildas als Profikillerin dominieren sexuell konnotierte Szenen, ohne dass es freilich zum Ausleben von Sexualität kommt. Die Beziehung der beiden wird damit filmisch in einer (sexuell) spannungsvollen Schwebe gehalten, die sie interessant und anspruchsvoll macht. Eindrucksvoll ist der daraus entbrennende innere Kampf Léons, der sich der Annäherung Mathildas konsequent zu entziehen versucht, und dem das aber immer nur insoweit zu gelingen scheint, als er nie Hand an sie legt. Die Faszination, die die 12-jährige Mathilda auf ihn ausübt, ist offenkundig, aber die Beurteilung der Frage, ob Léon nun tatsächlich sexuelle Wünsche an Mathilda hat, bleibt letztlich ganz dem Zuschauer überlassen. Natalie Portman war zum Zeitpunkt des Drehs zwölf Jahre alt. Es war ihre erste Filmrolle, die ihr dauerhaften Ruhm einbringen sollte. Ihre Eltern nahmen einen wesentlichen Einfluss auf die filmische Umsetzung des ursprünglichen Skripts, das die Sexualität der Akteure als Beziehungselement noch sehr viel deutlicher in den Vordergrund gerückt hatte, und insgesamt einen weitaus härteren Film skizzierte. Sexuell allzu freizügige Szenen wurden zum Schutze Portmans herausgenommen. Ferner setzten die Eltern durch, dass Natalie während des Films das Rauchen aufgab. Der Film erhielt überwiegend positive Kritiken und gilt vielen als bester von Luc Besson, der das Drehbuch nach eigenen Angaben in nur zwanzig Tagen verfasste. Über die Idee dazu lassen wir abschließend den Regisseur selbst zu Wort kommen: Es interessierte mich, in dieser unzerstörbaren Figur Léon, der keine Papiere, kein Bankkonto hat, nur Milch trinkt und seine Topfpflanze gießt, einen schwachen Punkt zu finden. Welche Falle gibt es für ihn, wie bringt man ihn zum Stürzen? Seinen wunden Punkt konnte nur eine Figur finden, die das genaue Gegenteil Léons ist: zwölf Jahre, schön und unschuldig, ein Kind, ein Mädchen. Diese Konfrontation gefiel mir: Wie sich in derselben Gesellschaft jemand entwickelt, der unzerstörbar wird, und ihm gegenüber eine Figur, die das genaue Gegenteil ist – und seinen Untergang bedeutet, seine Achillesferse. (Luc Besson zitiert aus dem Zusatzmaterial der kommerziell erhältlichen Langfassung »Director’s Cut«)
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»No women, no kids« – eine Geschichte von der Liebe und vom Untergang
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Originaltitel
Léon
Erscheinungsjahr
1994
Land
Frankreich, USA
Drehbuch
Luc Besson
Regie
Luc Besson
Hauptdarsteller
Jean Reno (Léon Montana), Natalie Portman (Mathilda Lando), Gary Oldman (DEA-Agent Norman Stansfield)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Heidi Möller
Lug und Trug Dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD 10: F60.2) und narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Zur Paardynamik von Tanja und Frank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Zur Pathologie des Hochstaplers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Zur dissozialen Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Zu den Zuschauern des Betruges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
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Filmplakat So glücklich war ich noch nie, Deutschland 2009 Grafikdesign: Katja Clos, Foto: Nik Konietzny Quelle: EIKON Media
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So glücklich war ich noch nie Frank Knöpfel (David Striesow)
Die Handlung Wir begleiten einen jungen Mann in zunächst verschwommenen Bildern beim Einkaufsbummel. In einem hochpreisigen Geschäft tätigt er einen Großeinkauf und der von ihm schelmisch verhandelte Gratisgürtel wird ihm gern gewährt. Unser Protagonist entdeckt eine Frau, die einen ausgefallenen Mantel probiert und spricht sie an:
R »Der steht Ihnen aber, der Mantel. Der ist ja wie für Sie gemacht. Er ist wirklich wunderschön.« Sie zieht den Mantel abrupt aus: »Es geht leider nicht. Klasse hat eben ihren Preis.« Er: »Ach, Klasse hat überhaupt keinen Preis. Sie brauchen den Mantel nicht, um Klasse zu zeigen. Es ist eher umgekehrt. Der Mantel braucht Sie, weil er für Sie gemacht ist.« Der Anfang des Films So glücklich war ich noch nie (. Abb. 1) setzt die Struktur und wir Zuschauer werden direkt in das betrügerische Spiel geworfen. Frank Knöpfel (grandios gespielt von Devid Striesow) erreicht die Sehnsucht der Kundin. Er will ihr den Mantel schenken, einfach so, weder den Namen will er wissen noch anderes von ihr fordern. Er will nur gewiss sein, dass sie ihn trägt und sich gut dabei fühlt (. Abb.2):
R »Der Mantel ist Ihre Bestimmung.« Er erzählt ihr, soeben eine Geschäftsidee realisiert zu haben, das gebe ihm eine gewisse Freiheit, er könne es sich leisten. Sie verweigert sich, verlässt das Bekleidungsgeschäft und erfährt nicht mehr, dass Frank Knöpfel alias Dr. Rodenstein wenige Minuten später verhaftet wird. Es gab »Unstimmigkeiten« mit der Kreditkarte, »sicher eine Verwechselung«, die sich schnell aufklären möge, da sein Flieger gleich geht. Seine Flucht durch das Toilettenfenster scheitert und Frank kann noch einen Blick auf die Kundin (Tanja) werfen, bevor er verhaftet wird. Nach zwei Jahren Gefängnis wird Frank entlassen und wir wundern uns über einen überaus höflichen, selbstlosen Autofahrer, der Frank in die Stadt mitnehmen will, da doch gerade der Bus weggefahren ist. Schnell wird klar, dass der so selbstlose Autofahrer einer von Franks Kriminalitätsopfern ist. Er fährt mit einem Gebrauchtwagen, seine Frau ist ihm davongelaufen – alles dies weil Frank ihm eine (erfundene) Kapitalanlage verkauft hat. Der Autofahrer ist für sein Leben, wie er sagt, ruiniert und:
R »Die Sau kommt raus und macht weiter.« Zusammengeschlagen und blutüberströmt gelangt Frank zu seinem jüngeren Bruder Peter. Er und seine Freundin Marie gewähren ihm überschwänglich freundlich Unterkunft. Stark idealisiert werden Geschichten aus der Kindheit erzählt: wie Frank – den Schularzt nachahmend – Peter durch die Vortäuschung einer Windpockeninfektion aus einer misslichen Schulsituation befreite, wie Marie und Peter sich kennenlernten… Die familiäre Idylle wird durch die wichtigen beruflichen Positionen, die Marie (»ich bin im Managementbereich«) und Peter (»ich bin Politikberater der ‚Freien Liberalen‘«)
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Lug und Trug
. Abb. 2 »Der Mantel ist Ihre Bestimmung.« – Szene mit Nadja Uhl und David Striesow. Quelle: EIKON Media 2009, Foto: Nik Konietzny
vorgeben, untermauert. Der familiäre Plan steht, Frank soll nie wieder ins Gefängnis müssen – koste es den Bruder und seine Frau, was es wolle. Das Leben von Frank soll in gemeinsamer Kraftanstrengung wieder gut werden. Wie jenseitig jeder wahren Beziehungsaufnahme dieses Gespräch zu dritt verläuft, lässt sich daran erkennen, dass das Paar Frank mit Prosecco »betankt«, ohne an die Folgen massiven Alkoholkonsums nach zwei Jahren unfreiwilliger Abstinenz im Gefängnis zu denken. Frank verabschiedet sich torkelnd zur Toilette mit der im Film immer wieder zu hörenden Phrase: »Ich muss zum Flieger.« Immer wieder sehen wir ihn Flughafenszenen fantasieren oder sehnsüchtig Flugzeuge verfolgen. In der nächsten Szene erleben wir Frank Knöpfel bei seinem Bewährungshelfer. Er gestaltet die Gesprächssituation wie eine Selfmarketingshow:
R »Ich bin ein sehr guter Verkäufer, ich habe das im Blut. Ich kann mich in Menschen reinversetzen. Ich sehe, was die Leute brauchen.« Der Bewährungshelfer konfrontiert ihn damit, dass er bislang alle Stellen hingeschmissen habe, kontinuierliche Arbeitsverhältnisse hat es wohl noch nie gegeben er warnt ihn:
R »Das nächste Mal gibt es zehn Jahre! Ist das ihr Bedürfnis: der Knast?«, und spielt auf ein vermutetes unbewusstes Strafbedürfnis bei Frank an. Dem »Topverkäufer« wird eine Stelle in einer straff hierarchisch organisierten Reinigungsfirma angeboten. Das auch nicht seinetwegen, sondern »weil ihr Bruder so nett ist.« Wir begleiten Frank an seine Arbeitsstelle, wo er selbstverloren in einem autoerotisch anmutenden Kokon, Volkan u. Ast (1994) nennen es »Glasglocke«, gekonnte
243 So glücklich war ich noch nie – Frank Knöpfel (David Striesow)
Wischmuster kreiert. Wir schauen einem Tanz mit dem Schrubber zu und fragen nach der Fantasiewelt, in die Frank sich zurückgezogen haben mag. Während seiner Tätigkeit als Reinigungskraft lauscht Frank einer Führungskraft, die einen »Underperformer« der Firma ordentlich abwatscht. Das scheint ihm zu gefallen, identifiziert mit der Führungskraft tankt er Macht und Selbstbewusstsein. Denn sein hungriges Selbst (Volkan u. Ast 1994) wird durch Bodenwischen schon arg gebeutelt, zumal seine weibliche Vorgesetzte ihn kritisch von oben herab kontrolliert. Die Stunde seiner Genugtuung kommt jedoch bald, denn er findet ein prall gefülltes Portemonnaie und übergibt es der Vorarbeiterin. Sie und nicht der kriminelle Frank steckt es ein. Sein Verzicht auf den Diebstahl und die gleichzeitige Verführung einer hierarchisch Überlegenen hilft ihm, die interpersonelle Diskrepanz zu mindern. Um seine Resozialisierung unter Beweis zu stellen, aber auch um die Vorarbeiterin weiter zu beschämen leiht er sich Geld vom Bruder, das er als gefunden bei ihr abgibt. Er bittet sie, ihm auf die Beine zu helfen, er wolle mehr arbeiten. So wird er an einen Anwalt vermittelt, der das Leben lebt, von dem Frank immer träumte: Designerwohnung, Bildungsbürger, Weltmann. Des Anwalts Identität, dessen beiläufige Statements: »In Moskau, da spielt jetzt die Musik« werden im weiteren Verlauf Ausgangspunkt für Franks falsches Selbst. Daheim gerät das fröhliche Beisammensein der Kleinfamilie zunehmend unter Spannung. Marie muss sich während des Geschlechtsaktes akustisch reduzieren, damit der große Bruder nicht spürt, dass er allein ist. Das Gerangel um die Zeit im Bad entsteht. Marie wird zunehmend ärgerlich:
R »Er schläft. Keine Rede davon, was ich zehn Stunden am Tag mache.« Die Fürsorge Peters wird aus ihrer Sicht recht uneinheitlich auf Frank und sie verteilt. Frank mit ungewöhnlich sensiblen Antennen für emotionale Nuancen wittert einen heraufziehenden Konflikt. Er sucht die Managerin mit Blumen auf ihrer Arbeitsstelle auf:
R »Die sind so fröhlich und schön, passen so gut zu Dir. Du bist auch fröhlich und schön!« Doch seine Intention verkehrt sich ins Gegenteil. Denn die angebliche Managerin arbeitet als Serviererin, die Lüge fliegt auf – und das auch noch im Beisein einer ihrer Kolleginnen. Für Frank gibt es erneut Gelegenheit, Selbstwert zu tanken. Sein kleiner Bruder Peter gerät bei seinem Auftraggeber – dem Chef der »Freien Liberalen« – heftig unter Druck. Die Kampagne macht ihn nicht »wuschig«, habe seine 12-jährige Tochter gesagt, es fehle an Wärme und an Menschlichkeit im Webauftritt der Partei. Als Frank nach Hause kommt, hält ihn der »Freie Liberale« für eine Reinigungskraft, also für den Prototyp des »kleinen Mannes von der Straße«. Seine Kommentare zur Website der Freien Liberalen sind gefragt. Franks Statement erfolgt:
R »Ganz ehrlich? Jede Partei will ja mehr Macht. Ich halte jede Partei für arrogant und überheblich, aber die Freien Liberalen halte ich für einen großen Scheißverein.« Dem Zuschauer wie dem Bruder stockt der Atem bis Frank schließt:
R »Ich bin oft im Netz, die Farben, die Buchstaben der Website. Die Freien Liberalen sind eine gute Partei, die es wirklich so meint.« Der Auftraggeber ist überzeugt und Peter der Job gerettet. Dafür will Frank gelobt werden: »Wie war ich?«, fragt er später seinen Bruder und erläutert seinen Erfolg:
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Lug und Trug
R »Weil ich respektlos war, Kraftausdrücke benutzt habe, ein bisschen auf blöd gemacht, so stellt der sich den kleinen Mann vor.« Er kritisiert den Bruder als zu devot und erläutert ihm, wie es richtig geht:
R »Der sieht so aus wie einer, dem ich früher alles verkauft habe, der will Macht.« Dazu wird es im weiteren Verlauf des Films auch kommen. Auf einem seiner nächtlichen Spaziergänge im vom Bruder abgelegten Dreiteiler sieht Frank Tanja wieder, die Frau aus dem Modegeschäft. Er fühlt sich von ihr wie magisch angezogen und folgt ihr bis zum Klub22, ihrer Arbeitsstätte. Als er eines Abends zu ihr will, baut er zunächst sein falsches Selbst (Winnicott 1985) durch weltmännisches Zeitunglesen in anspruchsvollem Café auf, wo er sich ein Taxi bestellen lässt. Gerade aus Oslo gekommen, scheint er den »Klub« nicht als Bordell zu begreifen. Die Puffmutter Fritzi (Elisabeth Trisenaar) ruft Tanja: »Ich habe die ganze Zeit gehofft, dass er kommt. Wann kommt er denn? Wo ist er gewesen?« Frank glaubt am Ziel seiner Wünsche zu sein. Tanja umgarnt ihn: »Die Guten vergisst man nicht. Und Du machst es richtig gut.« Er kann nicht gemeint sein, da beide nie sexuell miteinander verkehrten, aber er erkennt den Wa(h)rencharakter der Situation nicht. Er kontert in der Szene mit der Identität des Managers einer Plattenfirma und beschreibt den Charakter der Bestimmung ihrer Wiederbegegnung bis Tanja ihn mit der Realszene konfrontiert: »Wir können jetzt total schön reden, aber das kostet auch 400.« Auch nach der Geldübergabe bleibt er höflich, fragt sich, ob er nicht ausreichend auf die Umstände geachtet habe, ihr gar zu nahe getreten sei? Frank will sie zu einem Treffen außerhalb des »Klubs« überreden, will sie, die wie er sagt, aussieht wie ein Topmodell, zum Essen einladen. Aber jetzt müsse er gehen. Er muss erneut zum Flieger, aber habe sie vom Taxi aus gesehen, sei gleich rein zu ihr und der Flieger sei nun weg. Er beginnt langsam Tanja zu beeindrucken: »Ist doch nicht wahr?« Bei ihrem ersten Rendezvous »erkennt« sie ihn:
R »Bei Ihnen weiß ich nie, ob Sie sich was ausdenken.« Tanja konfrontiert ihn mit der ganzen Härte ihres Geschäfts, verweigert den Champagner, den sie täglich trinken muss, erzählt von den Taxifahrern, die meinen auf dem Weg vom Bordell nach Hause auch noch mal – aber gratis – über sie steigen zu können. Sie versucht dieser Situation der Begegnung von Frank und ihr, die Nähe und Intimität gebären könnte, schnell zu entkommen: »Ich blas dir einen.« Frank aber will sie in eine andere Welt entführen, zu den stilvollen Menschen, die nicht gemein reden. Er will dass sie seine illusionäre Perspektive übernimmt:
R »Für die Leute sind wir eine wunderschöne Frau und ein sehr glücklicher Mann, vielleicht eine junge Schauspielerin; die merken, die kommt im Fernsehen, oder eine Malerin, sicher sehr reich, die am See ausreitet.« Konfrontiert mit dem Quatsch, den er redet, beschreibt Frank sein Dasein als Chamäleon:
R »Man ist doch nie gleich, man ist doch ständig jemand anders. Wir sind doch eigentlich frei.« Tanja will nicht ausgehalten werden, ist immer noch skeptisch, wenn er ihr Geld mit dem Kommentar gibt: »Behalten Sie es doch, ich habe genug davon.« Als Frank ihr aber eine Kette schenkt, die er wie sich später herausstellt seiner Schwägerin gestohlen hat und mit den Worten überreicht: »Die Kette passt zu Ihren Augen, Sie sind ein echter Kettentyp!«, erreicht er sie und Tanja küsst ihn sanft auf die Wange.
245 So glücklich war ich noch nie – Frank Knöpfel (David Striesow)
Zurück an ihrem Arbeitsplatz wird sie jedoch unsanft zu Boden gerissen, als Fritzi, die Puffmutter, sie damit konfrontiert, dass kein Schritt von Tanja unbeobachtet bliebe, sie es schließlich sei, die sie aus dem Dreck geholt habe während sie nichts weiter sei als eine »kleine, dreckige, ordinäre Rutsch.« Peter hingegen wird eine glückliche Zweisamkeit vorgegaukelt. Er habe seine Freundin auf der Arbeit kennengelernt. Der kleine Bruder ist vom großen Bruder begeistert: »Siehst Du wie Du durchstartest?« Bei einem gemeinsamen Friedhofsspaziergang zum Grab der Eltern werden in albernem Ton traumatisierende Kindheitsszenen erzählt. Affektisoliert tauschen sich die Brüder über die immense Brutalität der Mutter aus, die Frank einen Gürtel in die Eier gehauen habe und ein Abdeckgitter auf dem Kopf des Bruders zertrümmerte. Die Geschichte ist wiederum eingebettet in Betrug. Frank wird vorgegaukelt, die Mutter habe kurz vor ihrem Tod nach ihm gefragt. Die Brüder träumen von einem friedlichen Familienleben miteinander als Kompensation der kindlichen Atmosphären geprägt von mütterlicher Gewalt Der kleine und der große Knöpfel haben es lustig miteinander, stehlen einen Kranz von einem frischen Grab in Ermangelung eigener mitgebrachter Blumen. Als sie erwischt werden, weiß der große Knöpfel wieder Rat, gibt sich als Kriminalbeamter Berlin/Brandenburg aus, der im Grab nach Rauschgift suchen muss.Nicht nur Peter schwärmt von der Wende im Leben seines kriminellen Bruders, ebenso der Bewährungshelfer fällt auf Franks illusionäres Gehabe herein:
R »Sie können es schaffen! Sie sind beliebt am Arbeitsplatz, wenn Sie nur fleißig an sich arbeiten. Ich bete für Menschen wie Sie.« Tanja darf sich nun nicht mehr mit Frank treffen. Er stärkt ihr den Rücken, sich den Zwängen des Prostituiertenmilieus zu entziehen. Er macht ihr ein Versprechen:
R »Ich lasse mir von anderen Leuten keine Vorschriften machen, das ist nicht meine Art, ich kann da sehr unangenehm werden.« Und Tanjas Hoffnung auf ein anderes Leben erstarkt, obwohl sie weiß, dass Frank vermutlich ebenso mittellos ist wie sie selbst, er sein Auto nur geliehen hat und immer den gleichen Anzug trägt. Frank ist um keine Replik verlegen: »Der gefällt mir, ich habe ihn gleich sieben Mal.« Überheblich macht er ihr klar, dass sie eine Lebenschance verspielt habe, er nun nach Moskau müsse und dann auf die iberische Halbinsel. Das Rotlichtmilieu will Tanja nicht verlieren und Bruder Peter wird Opfer einer Verwechselung. Der Zuhälter schlägt ihn zu Brei. Die Schwindeleien nehmen kein Ende. Frank gibt den Patienten im Krankenhaus als Privatpatient Peter von Weizsäcker aus. Dieser erfährt zwar die optimale Behandlung, dennoch verliert er sein Auge und Marie klärt den Betrug auf. Sie ist es auch, die Franks Pathologie entlarvt und ihren Mann auffordert zum Wohle seines Bruders die Polizei einzuschalten. Sie droht mit Trennung, wenn er den »Psychopathen« weiter schützt. Unterdessen schreitet Franks Plan zur »Rettung« Tanjas voran. Die »Ablösesumme« von 15.000€ ergaunert er, indem er die Wohnung des Anwalts, bei dem er putzt, mehrfach vermietet und die Provision gleich in bar einbehält. Zugleich baut er sich als Retter seines nun mittellosen Bruders auf, indem er dessen ehemaligen Auftraggeber, den Chef der Freien Liberalen, in finanzielle Scheingeschäfte verwickelt. Immer wieder triggert er raffiniert dessen Gier, bis der ihm sein Vermögen zur Verfügung stellt. Wir schauen ihm zu, wie er immer wieder seine Opfer in charmanter Manier kränkt und demütigt. Niemand – auch der Zuschauer nicht – kann Frank wirklich böse sein. Es gelingt unserem Betrüger sogar die Verbrecherwelt zu blenden; geschickt inszeniert er sich als Teil der Russenmafia, sodass er sogar Tanjas Ablösesumme nahezu freiwillig zurückbekommt. Alle Versuche der Bordellbesatzung Frank über die »Natur« der Nutte aufzuklären, ihm klar zu machen, dass Tanja niemals mit ihm ginge, beeindrucken ihn nicht. Er will sie haben, den Engel, der so wunderschön ist:
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Lug und Trug
R »Sie sind die schönste Frau, die mir je begegnet ist, und ich habe wirklich schon viele gesehen.« Und sie folgt ihm. Hannelore Blic, so ihr wirklicher Name, deren Eltern aus Siebenbürgen stammen (Reframing Frank: »Also aus dem Süden.«), konfrontiert ihn in der anwaltlichen Wohnung angekommen:
R »Wie heißt Du? Wer bist Du? Wem gehört die Wohnung? Sage es mir sofort, oder ich gehe!« Er offenbart sich als Trickbetrüger hält aber an der Illusion fest, sie beide seinen weltweit die nahezu einzigen freien Menschen, denen zudem eine glückliche Zukunft bevorstehe. Die beiden verleben einen »Altes-Ehepaar-Abend«, sehen fern, sie schläft ein und er deckt sie in altruistischer Abtretung in der Inszenierung eines Mutter-KindSpiels zu. Der »Freie Liberale« verspricht für den nächsten Tag noch eine größere Geldsumme, versäumt Frau Dr. von Stein (Hannelore) und Frank zur bevorstehenden Hochzeit zu gratulieren. Hannelore steigt ein und erwidert: »Dann laden wir ihn auch nicht ein!« Frank tagträumt mit Hannelore von einer unauffälligen Existenz als Kioskbesitzer auf Ibiza. »Probehalber« und »theoretisch« will Hannelore ihm folgen. Frank ist mit dieser vagen Aussage
R »so glücklich wie noch nie«, während die Polizei vor dem Haus zur Verhaftung bereitsteht.
Zur Paardynamik von Tanja und Frank Mit Tanja und Frank treffen sich zwei »Outlaws«: Sie stammt aus dem Prostitutionsmilieu und er aus der kriminellen Welt der Betrüger. Damit ist ein Beziehungsfundament gelegt; zwei verwandte verwundete Seelen haben sich getroffen. So ähneln sich ihre geheimen Wünsche nach romantischer Liebe, nach einem Zuhause, das Geborgenheit und Harmonie verspricht. Es eint sie zudem der Verkauf von Illusionen, das ist ihrer beider Geschäft. Frank überhöht Tanja von Anfang an. Er schenkt ihr die Illusion eine andere, besondere Frau zu sein, die mit ihm, dem ebenso besonderen Menschen, glücklich werden könnte. Zwar weist Tanja seine Übertreibungen zurück, konfrontiert ihn immer wieder mit der Realität: Frank: »Ich hol dich hier raus!« Tanja: »Wieso, ich bin doch froh, dass ich hier arbeiten kann«, aber dennoch gefällt ihr die Lüge, knüpft seine Scheinwelt unmittelbar an ihre Sehnsüchte an. Der Wunsch nach einem Leben in Normalität, fast spießig anmutend, nach einem Retter aus dem Rotlichtmilieu, vielleicht auch nach totaler Verschmelzung mit einem geliebten Objekt, könnte wahr werden. Frank schafft ihr eine Gegenwelt, geht mit ihr fein aus, lässt ihr alle Freiheit, macht ihr keine Vorschriften. Er gibt an, es sei nicht seine Art unangenehm zu werden. Tanja weiß, dass sie einem Lügengebäude aufsitzt, aber es stößt sie nicht ab zu wissen, dass Frank selbst nichts hat. Sie glaubt ihm und glaubt ihm zugleich nicht, sie weiß und weiß nicht. Zu groß ist der Reiz seines Zweisamkeitsentwurfs Zwar sieht sie, dass er immer den gleichen Anzug trägt, fühlt sich aber dennoch emotional stark zu ihm hingezogen. Beide erkennen sich in der Lüge: Frank sieht, wie Tanja einen Freier (seinen frommen Bewährungselfer!) mit den gleichen Worten empfängt, wie sie einst ihn begrüßte. Tanja weiß, dass Frank ein Aufschneider ist. Und sie mögen sich dennoch! Beider Sehnsucht danach, geliebt zu werden, obwohl sie ihr wahres Gesicht zeigen, scheint in Erfüllung zu gehen. Das Ende der Einsamkeit ist dann erreicht, wenn es ein »Trotzdem« gibt. Naiv muten seine Beziehungskonzepte an, kindlich seine Versprechen. Die Wirkmächtigkeit seiner Worte und Gesten verweisen auf ein präödipales Regressionsniveau, das
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die beiden einander schaffen. Hier hat die Sexualität keinen Platz. Die Intimität entsteht durch gemeinsames Fernsehen und Vater-Tochter-Spiele. Da trifft sich die abgespaltene Sexualität der Prostituierten mit der Unfähigkeit des Narzissten zu echtem sexuellen Erleben.
Zur Pathologie des Hochstaplers Betrüger sind Betrüger, sie begehen nicht nur einen Betrug Das unterscheidet sie von Angehörigen anderer Deliktgruppen. Der »gute« Betrüger ist ganz und gar mit seiner verzerrten Selbst- und Realitätswahrnehmung verschmolzen. Im Moment der Blendung befindet er sich in Kongruenz mit seinem Ich-Ideal. Er spielt sich und zugleich mit dem Gegenüber. Das Geheimnis seines Erfolges ist gerade die nicht vorhandene Distanz zum Delikt. Seine Eindeutigkeit und Unerschütterlichkeit machen ihn so überzeugend. Betrüger sind ausgezeichnete Menschenkenner. Sie sehen sofort ungestillte Bedürftigkeiten ihres Gegenübers, die sie – und nur so funktioniert das Delikt – scheinbar stillen. Sie stellen sehr rasch Vertrauen her und übliche Distanzen schmelzen. Sie benutzen sensible Punkte, Eitelkeiten und Empfindlichkeiten ihrer Interaktionspartner als Vehikel für ihre Manipulation Über die biografischen Hintergründe von Frank Knöpfel erfahren wir im Film nicht viel. Wir hören von massiven Misshandlungen in der Kindheit und können uns die Flucht in die Träumerei als überlebenswichtigen Schutzimpuls denken. Eine andere Lesart zur Entstehungsgeschichte seiner betrügerischen Kompetenz ist der Selbstschutz. Vielleicht war es ihm möglich, die brutale Mutter zu befrieden, wenn er ihr den Sohn präsentierte, den sie sich gewünscht haben mag: erfolgreich, charmant und einfühlsam. Seine Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden zu ahnen, was sein Gegenüber tun wird, hat ihm womöglich das Leben gerettet. Um die gewaltsamen Übergriffe der Mutter zu vereiteln, mag er sich besonders witzig oder erfolgreich dargestellt haben, um das häusliche Klima zu deeskalieren. Charme, Lüge und Harmonisierungsstrategien mögen auch geholfen haben, den kleinen Bruder zu schützen, der ihn dafür heute noch idealisiert. Und immer wieder sehen wir Franks Bemühungen, seinem Ideal-Ich gerecht zu werden. Auch Peter zweifelt, trotz Gefängnisaufenthalten, bis heute nicht an der Großartigkeit seines kindlichen Helden. Betrüger lernen früh, exakt wahrzunehmen, was die momentane Bedürfnislage der Eltern oder eines Elternteils erforderte und was es zu tun galt, um sie zu stillen. Sie wuchsen mit der Botschaft auf: »Sei der, den ich brauche, nicht der, der Du bist!« Durch die Parentifizierung prägten sie eine hohe soziale und emotionale Kompetenz aus. Ihre Antennen zur Wahrnehmung der Befindlichkeit ihres Dialogpartners sind äußerst sensibel. Ihre genaue Beobachtungsgabe zeigt ihnen, wann es ihrem Gesprächspartner nicht gut geht, bei welchen Inhalten er oder sie schluckt, wann die Augen flackern. All diese Informationen werden registriert, gespeichert und bedarfsgerecht benutzt. Heute, als Erwachsene, spielen die Täter ihr differenziertes Instrumentarium zum Nachteil der anderen aus. Sie machen sich die Bedürfnisse der anderen zur Blendung und Manipulation zunutze. Die frühere Instrumentalisierung wird quasi umgekehrt. Auf diese Weise holen sie sich zurück, um was sie selbst in Kindheit und Jugend betrogen wurden, nämlich in ihrem »Sosein« beantwortet zu werden. Der Moment des Blendens stellt für sie eine Art »Sekundärstillen« dar (Möller 2009, S. 243). Die Verführung kompensiert scheinbar die Entbehrungen als Kind. Die Täter verbünden sich mit der Sehnsucht in jedem von uns, geliebt und anerkannt zu werden. Sie identifizieren den jeweiligen spezifischen Mangel, füttern und sättigen das Gegenüber und werden dadurch für Momente selbst satt. Eigene Kleinheitsgefühle werden in der betrügerischen Inszenierung durch altruistische Abtretung kompensierbar. So treten sie als falsche Ärzte in den Status des Allwissenden (Postel 1998), sie lieben, wie die Opfer noch nie geliebt worden sind (vgl. die Milliardärin Susanne Klatten und der Schweizer Betrüger Sgarbi 2008). Sie nutzen die ubiquitäre Sehnsucht, das Selbst hinter der Fassade möge Liebe erfahren. Für Momente heben sie unser aller existenzielle Einsamkeit auf und suggerieren dem Opfer, nun sei es in seiner Verletzbarkeit, Unvollkommenheit und endlosen Sehnsucht beantwortet. Kets de
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Vries (1998) beschreibt es folgendermaßen: Mit Hilfe ihrer empathischen Responsivität und ihrer Sensibilität gegenüber den Signalen, die ihr Publikum aussendet, gelingt es auch den Hochstaplern, die Bedürfnisse ihrer Zuhörer in ihren eigenen Mythos einzuarbeiten und auf diese Weise einen Illusionsteppich zu weben, der im Laufe seiner Entstehung immer glaubwürdiger wird. (Kets de Vries 1998, S.128)
Betrug stellt das Delikt dar, das mit dem niedrigsten offenen Aggressionspotenzial einhergeht; es ist die »leiseste« Form von Delinquenz, die ohne die Opfer-Mitspieler nicht funktioniert: Ob der Zahnarzt als Chef der Freien Liberalen nun meint, in Frank Knöpfel endlich jemanden gefunden zu haben, der ihm die Verantwortung zur Vermehrung seines Vermögens abnimmt und ihm damit die Bequemlichkeit ermöglicht, von der Tatsache abzusehen, dass Geld auch bedient werden muss oder ob er seine immense Gier nach immer mehr materiellen Gütern durch den Anlagebetrüger Frank gestillt sieht Giernalczyk (2009) nennt es die »fusionäre Lüge«, die im Betrug zur Anwendung kommt. Beide, Opfer und Täter, stellen miteinander einen emotional positiven Modus her. Das Opfer genießt uneingeschränkte Aufmerksamkeit und Versorgung. Im Kontakt werten sich beide narzisstisch auf. Ist kein Gegenüber zur Stabilisierung greifbar, muss er es selbst richten: Während des Films sehen wir Frank sich immer wieder im Spiegel seiner selbst vergewissern. Selbst der Schwägerin fällt es auf:
R »Warum schaut der sich den ganzen Tag im Spiegel an? Gibt es im Knast keine Spiegel?« In der indirekten Form des Aggressionsausdrucks finden wir ein frühzeitig erworbenes Überlebensmuster: In der Kindheit der Betrüger war offener Widerstand äußerst bedrohlich. Ihre Angst, verstoßen zu werden oder durch Liebesentzug am »ausgestreckten Arm« zu verhungern, hatte durchaus realistische Hintergründe. Das heute ergaunerte Geld verleiht Macht und macht scheinbar souverän Doch daneben lassen sich aggressive Durchbrüche immer wieder beobachten: wenn Frank die (vermutlich teuren) Pralinen des Anwalts und dessen Brille aufsaugt, sein Geschirr in den Müllbeutel entsorgt oder wenn der Chef der Freien Liberalen von ihm entwertet wird mit der Bemerkung, dass er nicht der Typ für wirklich großes Geld sei. Die unbewusste Rache der Betrüger denen gegenüber, die es vermeintlich besser haben, zeigt sich in einer Freundlichkeit, die die Grenze zum Devotismus oft überschreitet. Die vordergründige Anpassungsbereitschaft ist durchsetzt von giftigen Pfeilen und Spitzen, die der Gesprächspartner kaum bemerkt, die aber hinterher deutlich ihre Wirkung tun, indem sie ein Unwohlsein und eine große Verunsicherung hinterlassen. Die Motivkraft der Betrüger ist zudem die Freude an der Wandlung, das Schlüpfen in immer neue, ganz andere Rollen. Gewandet im Klischee (gute Garderobe, teure Aktentasche) tritt er auf und ist gerüstet mit genau den Eigenschaften, die wir den »Erfolgsmenschen« zuschreiben. Es verbindet sich das gierige Potenzial des Betrügers mit dem seines Opfers: Sobald das Opfer am Haken hängt, beginnt das gesteigerte Spiel: die Oszillation von Macht und Ohnmacht, wie wir es in der Vermietungsszene beobachten können. Frank fragt das junge Paar nach seinem Kinderwunsch. Sie antizipieren gewünschte Kinderlosigkeit in dieser feinen Immobilie und Frank verblüfft sie mit dem großen Herzensanliegen des Vermieters, Kinder in seinem Haus zu beherbergen. Die Opfer werden zu den Unterlegenen, zu Dummköpfen, die ja selbst lügen und betrügen. Nun hat der Betrüger die Fäden in der Hand, er kann sich Zeit lassen, sich immer wieder bitten lassen, vertrösten und schweigen. Es wird Rache geben, wissen wir Zuschauer, wenn die Puffmutter Fritzi Frank demütigt:
R »Für einen Loddel zu schwach und ein bisserl zu hässlich, armer kleiner Zutschi.«
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Der Reiz in diesem Stadium des Betrugs mag dann als »testing the limits« beschrieben werden: »Es reizt mich, wie weit man Menschen kriegen kann, bis das Spiel zu Ende ist«, so Thomas S., der im Dokumentarfilm Hochstapler von Alexander Adolph (2008) interviewt wird. »Lügensucht im Dienste der IchErhöhung« nennt es Lamott (2009). Ist die Rollenverteilung erst inszeniert und der Triumph genossen, tritt schnell Desinteresse ein. Dies mag den Suchtcharakter der betrügerischen Inszenierung erklären – das Spiel muss immer wieder von Neuem gespielt werden. Das Phänomen »Betrug« lässt sich als eine Spezialform der narzisstischen Persönlichkeitsstörung beschreiben. Es beschreibt damit eine Person, die den Ausdruck ihres Selbst aufgrund früherer Verletzungen begraben hat und es durch ein hoch entwickeltes, kompensatorisches falsches Selbst ersetzt hat (Johnson 2006, S.53),
in diesem Fall mit dem Betrüger-Selbst. Selbstredend konnte Frank dem oben skizzierten Auftrag seiner Mutter (vom Vater hören wir nichts) nicht entsprechen. Die damit verbundene Kränkung die Insuffizienzgefühle und Nichtigkeitsfantasien kennzeichnen beide Brüder noch heute. So versuchen Täter dieser Deliktgruppe durch Betrug zu genügen oder gar vollkommen zu sein. »Ich hatte alles: Jugendstilvilla, täglich Golf und Tennis, reichste Nachbarn«, so noch einmal Thomas S. Sie erjagen durch ihre Taten provisorischen Selbstwert, der immer nur vorübergehend und unbefriedigend sein kann. Für sie gibt es nur den Triumph, begleitet von der Euphorie des Augenblicks als Ersatz für echten Lustgewinn. Ihre Grundstimmung wird getrübt durch Neid auf die anderen, bei denen sie wahren Kontakt und Gefühl vermuten: Ich kann es ganz gut mit den Menschen, ich lasse aber keinen an mich ran. Ich spiele auf einer Bühne vor, was die haben wollen. Ein Betrüger glaubt nichts. Peter G. im Film Hochstapler
Schauen wir auf die ICD-10Diagnosekriterien für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (F60.80), so finden wir einige Kriterien wieder: Die Größengefühle, die Übertreibung eigener Leistungen und Talente finden im Deliktvollzug statt. Die Anspruchshaltung, ohne angemessene Leistung als überlegen angesehen zu werden, sehen wir nicht, denn Frank leistet auf seine Weise einiges. Die unbegründete Erwartung besonders günstiger Behandlung können wir verfolgen, wenn er betrügt. Sicher ist Frank beschäftigt mit der Fantasie über unbegrenzten Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder ideale Liebe. Aber er verkörpert diese Merkmale in der betrügerischen Interaktion auch. Er nutzt zwischenmenschliche Beziehungen, um seine eigenen Ziele zu erreichen. Er hat ein übermäßiges Bedürfnis nach Bewunderung. Dennoch fehlt es ihm gerade nicht an Empathie – nur zu genau kennt er Gefühle und Wünsche anderer, aber er handelt nicht zu ihren Gunsten. Wir wissen nicht, wie Frank sich außerhalb seines betrügerischen Tuns fühlt, mehr noch, ob es einen Frank jenseits des Betruges überhaupt gibt. Hält er sich überdauernd für einmalig oder gelingt ihm diese Emotionsregulierung nur im kriminellen Tun? Einige Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind erfüllt, aber die hohe Empathiefähigkeit macht ihr Störungsbild untypisch, sodass wir ohne die Kategorie der dissozialen Persönlichkeitsstörung nicht auskommen.
Zur dissozialen Persönlichkeitsstörung Der psychoanalytischen Theorie Rauchfleischs (1981, S. 16ff.) zufolge wird »das Delikt als Symptom eines zugrundeliegenden Konfliktes oder einer Mangelerfahrung angesehen«. Rauchfleisch verwendet den Begriff der Dissozialität zur Kennzeichnung von Persönlichkeit, die sich durch ein fortgesetztes und allgemeines Sozialversagen auszeichnen. Ihnen sind folgende Charakteristika eigen: E Desintegration der Persönlichkeit (gestörte Entwicklung der Ich-Funktionen), E Kontaktstörungen (Nähe und Hingabe werden als außerordentlich gefährlich erlebt, hohe
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Quantität, aber instabile Qualität in Beziehungen, hohe Ambivalenz: fast süchtiges Verlangen nach Zuwendung und Bestätigung bei gleichzeitiger massiver Angst, Einsatz archaischer Abwehrmechanismen, Störungen in den Realitätsbezügen, Frustrationsintoleranz, handelndes Inszenieren innerer Konflikte in der Außenwelt (Agieren), pathologische Entwicklungen im narzisstischen Bereich, depressive Problematik (herabgesetztes Selbstwertgefühl, dessen Ursache ein aggressiver Konflikt ist bei gleichzeitigem Agieren, um diesem Konflikt nicht ausgesetzt zu sein), Über-Ich-Pathologie (mangelnde Integration des Über-Ichs in die Gesamtpersönlichkeit), Chronizität der Störung (starre Muster repetitiven Fehlverhaltens im Wechselspiel mit sozialen Faktoren), Fehlentwicklung im Bereich der Sexualität und Aggressivität (mangelnde Integration dieser Bereiche in die Persönlichkeit bei starker Triebhaftigkeit).
Diese Charakteristika bilden zusammen einen depressiven-narzisstischen Kernkonflikt auf der Grundlage einer Borderline-Organisation (mit Strukturpathologie in Ich und Über-Ich), verbunden mit starken Externalisierungstendenzen (Rauchfleisch 1981, S. 19)
Auch wenn wir wenig von Frank Knöpfels Biografie wissen, können wir von einer präödipalen narzisstischen Störung im »zentralen Selbst« ausgehen. Er schafft sich ein kohärentes Selbst, das ihm als Bezugsrahmen dient, indem er seine Identität erfindet, sich (seinem Über-Ich) und anderen eine Person vorgaukelt, die er gern sein würde. Auf diese Weise bringt er Konstanz in sein Leben, wobei auffällt, dass er sich Rollenkonserven oder Klischees bedient, die aus einer »Vorabendsoap« entsprungen sein könnten. Wir erfahren keine spezifische pathogene frühkindliche Situation, jedoch können wir durch die wenigen Bemerkungen der Brüder am Grab der Eltern von einer frühen tiefgreifenden Störung der Mutter-Kind-Beziehung ausgehen, die keine konstante, emotional tragende Zuwendung bereitstellte. In einem solchen Milieu kann kein stabiles, tragendes Selbst aufgebaut werden. Entsprechend lassen sich bei Frank Knöpfel sowohl dissoziale als auch narzisstische Persönlichkeitszüge beobachten: ausgeprägte Insuffizienzgefühle, die durch Omnipotenz- und Größenfantasien kompensiert werden, um das narzisstische Gleichgewicht wiederherzustellen. Als Grund hierfür kann ein diktatorisches, hypertrophiertes Ich-Ideal angenommen werden, dessen extreme Forderungen der dissoziale Mensch letztendlich nicht erfüllen kann. Aber auch die (projizierten?) Erwartungen der Umwelt vom Bruder dem Bewährungshelfer und letztlich auch Tanja überfordern ihn. Dieses Unvermögen verstärkt die Unsicherheitsgefühle und bedeutet wiederum eine narzisstische Kränkung, da kein stabiles Selbst vorhanden ist, das ausgleichend wirken könnte. Dem inneren Konflikt entgeht er, indem er handelt und die Person verkörpert, von der er ausgeht, dass sie Anerkennung erfahren würde. Er inszeniert Größen- und Omnipotenzvorstellungen und gerät damit in noch größere, fast süchtige Abhängigkeit von narzisstischer Gratifikation durch die Umwelt Dass auch dissoziale Persönlichkeiten häufig depressive Verstimmungen zeigen und ebenso wie Depressive hochgradig verletzbar und kränkbar sind, ist auf ihre Selbstwertproblematik zurückzuführen. Beide sind extrem abhängig von narzisstischer Zufuhr und zeichnen sich weiterhin durch ihre orale Abhängigkeit aus. Die Ursache ist in einem aggressiven Konflikt zu sehen: Ein Kind, das sich permanent abgelehnt fühlt, aber noch keine Wut und Trauer gegenüber der Person empfinden kann und darf, die ihr Überleben sichert, wird in der Folge eine depressive Störung als (missglückten) Kompensationsversuch ausbilden. Zu seiner Unterstützung werden archaische Abwehrmechanismen wie Projektion und
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Spaltung herangezogen. Während jedoch der Depressive sich als hilflos und unfähig erlebt, verlagert der Dissoziale seine Konflikte durch Externalisierung in die Außenwelt, um sie dort zu bekämpfen und so dem Gefühl der Depression zu entgehen. Auch »handelt« der Dissoziale, um die ihm unerträglichen Konflikte und die damit verbundenen Gefühle zu vermeiden. (S.103) Der Dissoziale handelt, um dem Erleben von Angst, Unlust und anderen ihm unangenehmen Affekten zu entgehen. Er »lebt«, statt zu erleben. (Rauchfleisch 1981 S.83)
Die Beziehung zur Realität ist getrübt, er kann nicht zwischen innen und außen unterscheiden. Diese Differenzierung kann vom Dissozialen nur unzureichend vorgenommen werden, was sich in seiner Tendenz zum Agieren und zum Projizieren bzw. zur projektiven Identifikation zeigt. Eigene negative Gefühle werden nach außen projiziert und dort bekämpft. Zudem leiden Dissoziale oft unter Derealisations- und Depersonalisationsgefühlen. »Eigentlich ist gar nichts Schlimmes geschehen« – so ließe sich dieses Phänomen beschreiben. Es ist dann weder eine Lüge oder Ausflucht noch eine psychotische Wahrnehmung, sondern Ausdruck eines Fremdheitsgefühls sich selbst und der Umgebung gegenüber. Frank ist, wie viele Dissoziale, unfähig, aus Erfahrungen zu lernen, also sich zu ändern Die Identitätsunsicherheit hat … die Unfähigkeit eines solchen Menschen zur Folge, sich selbst in den verschiedenen Situationen immer wieder als denselben zu erleben. … Es fehlt diesen Menschen an einer die einzelnen Funktionen übergreifenden, die Persönlichkeit in ihrem Erleben und Handeln zu einer Einheit verschmelzenden, integrativen Kraft (Rauchfleisch 1981, S. 175)
So wenig wie die eigenen Gefühle werden auch andere Menschen und Ereignisse nicht als Kontinua empfunden, sondern nur als punktuelle Erlebnisse. Dissoziale erleben Kontakte sowohl zu sich selbst als auch zu anderen Personen nur in dem Moment, in dem sie stattfinden. Dies lässt auf eine Störung im Aufbau der Objektpermanenz schließen. Wird bei einzelnen Persönlichkeitsaspekten oft darauf hingewiesen, dass es keine Integration in die Gesamtpersönlichkeit gibt (z.B. beim Über-Ich, der Sexualität und Aggressivität), so kann an dieser Stelle festgestellt werden: Es gibt keine Gesamtpersönlichkeit im Sinne einer Einheit. Durch diesen Mangel kann es zu einer Entwicklung der von Winnicott (1985) beschriebenen »Als-ob-Persönlichkeit« oder eines »falschen Selbst« kommen.Ein weiterer Punkt, in dem sich die Borderline-Struktur beim Dissozialen zeigt, ist die Spezifität der Abwehrmechanismen. Es herrschen archaische Abwehrformen vor: E Spaltung, eine der frühesten und primitivsten Abwehrmechanismen. Gut und Böse werden sowohl bei der Selbst- als auch bei der Fremdwahrnehmung nicht als nebeneinander existent wahrgenommen, sondern als sich in rascher Folge abwechselnd und jeweils absolut. Ambivalenzen werden nicht zugelassen. E Verleugnung offensichtlicher Sachverhalte. Die Wahrnehmung geschieht in starkem Maße selektiv. Dieser Abwehrmechanismus wird bei normaler Entwicklung im Alter zwischen drei und vier Jahren überwunden. E Projektion und projektive Identifikation. Zunächst wird das Über-Ich in archaischer, rigider Weise in Form von sadistischen Vorwürfen in die Außenwelt projiziert, dann erfolgt die Identifizierung mit dem Über-Ich-Träger. Da dieser gnadenlose Angriff auf das schwache Selbst nicht ausgehalten werden kann, beginnt ein Kampf, was wiederum die Schuldgefühle verstärkt. Diese Schuldgefühle haben eine Verstärkung des Über-Ichs zur Folge, das dann wieder in die Außenwelt projiziert wird. Ein Teufelskreis hat begonnen, der seine Entladung z.B. in einer Straftat finden kann. Angesichts der Schwere der Symptome stellt sich die Frage nach dem »Gewinn« des Störungsbildes. Es sei hier auf Mahler (1990) verwiesen, die Abwehrmechanismen
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generell Erhaltungsmechanismen genannt hat. Sie dienen dem Dissozialen zum Schutz vor der psychotischen Dekompensation. Wir finden bei Frank Knöpfel einige der typischen kognitiven Manöver, die Sykes u Matza (1979) als Neutralisierungstechniken beschrieben haben. Sie stellen die These auf, dass Delinquente sehr wohl prinzipiell die Normen der Gesellschaft anerkennen. Es lässt sich beobachten, dass sie diese häufig in einer eher für Kleinbürger typischen Rigidität vertreten. Sie beschreiben Phänomene, die wir bei Frank wieder finden. Er legt sein illegales Verhalten ohne Scham- und Schuldgefühle an den Tag und empfindet – gemeinsam mit uns Zuschauern – einiges als moralisch richtig (der Kampf mit dem Rotlichtmilieu, die Befreiung Tanjas, die Nutzung der bevorzugten Behandlung von Privatpatienten). Wie kommt es, dass Menschen, die Gesetze, an die sie prinzipiell glauben, dennoch außer Kraft setzen? Die Antwort lautet, dass Delinquente dadurch die kognitive Dissonanz neutralisieren, dass sie den Geltungsbereich ihrer sie leitenden Normen im Hinblick auf Zeit, Ort, Personen und soziale Umstände variieren. Abweichendes Verhalten kann nach Sykes u Matza mit folgenden Neutralisierungstechniken legitimiert werden: E Ablehnung der Verantwortung: Delinquenz wird unbeabsichtigtes Unrecht, der Täter fühlt sich mehr in kriminelles Tun getrieben, als dass er sich selbst als Handelnden sieht. Lieblose Eltern, schlechter Umgang und Verführung werden als ursächlich für die Straftat angesehen. E Verneinung des Unrechts: Der angerichtete Schaden gilt als nicht gravierend, der Autodiebstahl gilt als »Borgen«, eine gewaltsame Auseinandersetzung als privater Streit. E Ablehnung des Opfers: Unrecht wird zu gerechter Strafe oder Rache umgedeutet, das Opfer zu einer Person, die Strafe verdient hat: Bei Versicherungsbetrug trifft es ja keinen Armen, beim Banküberfall diejenigen, die überhöhten Zinsen ihren Wohlstand zu verdanken haben und vieles mehr.
Zu den Zuschauern des Betruges Trotz der massiven Dissozialität Franks erhält der Film ein hohes Maß an Sympathie für unseren »Felix Krull« bereit. Nutzen wir diese Gegenübertragungsreaktion des Kinobesuchers als wesentliches Diagnostikum (Mentzos 2005), so ist eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit anzunehmen. Gehen wir nicht deshalb ins Kino, weil uns wie Frank die normale Welt zu grau und unser normales Ich zu klein erscheint? Ist der Beruf des Schauspielers nicht die Lizenz zum legalen, gewollten Betrug? Gewohnte Sicherheiten schwinden, die Moral und Ethik gerät beim Betrachten des Films ins Wanken. Franks Taten erreichen für uns ein hohes Maß an Plausibilität. Sicher will er nur die beste medizinische Behandlung für seinen Bruder, wenn er ihn als wichtigen Privatpatienten ausgibt. Was ist schon dabei, Blumen von fremden Gräbern zu räubern? Hat es der unsympathische Chef der Freien Liberalen nicht verdient, »abgezogen« zu werden, zumal uns Frank nahelegt, dessen Geld sei doch sowieso an der Steuer vorbei lanciert worden? Wir identifizieren uns mit dem Aspekt Franks Sozialneids, wenn wir verfolgen, wie er den windigen, in Moskau tätigen Anwalt schädigt. Freuen wir uns nicht daran, wenn Frank dem 4000€ teuren Raben des Anwalts »ganz andere Freizeitmöglichkeiten« schafft, indem er ihn frei lässt? Es kommt Freude auf, wenn Frank den Kampf mit den Zuhältern gewinnt, in der Oszillation zwischen Macht und Ohnmacht, der Entwertung und Idealisierung im Rotlichtmilieu die Oberhand behält. Das macht Spaß, oder?! Der Film erreicht, dass auch unsere moralischen Bezugssysteme ins Wanken geraten und die Wirklichkeitskonstruktionen des Betrügers in uns Raum gewinnen. Und so und nicht anders funktioniert dieses Delikt! Es bleibt ein Rest von Unwohlsein bei uns Zusehern, eine Unsicherheit: Was ist »wahr« und was »falsch«, was ist »rechtens« oder »verwerflich«? Aber ist es nicht gerade diese so schwierige Grenzziehung zwischen legal und illegal, die die Fassung des Delikts Betrug auch juristisch (Kaiser
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1996) so schwierig macht? Manöver im Grenzbereich des Betrugs sind uns allen vertraut. Sind wir alle mehr oder weniger Opfer und Täter im Betrugsgeschehen? Nehmen wir nicht hin, dass »Bordelle« wie selbstverständlich »Klubs« genannt werden? Wer von uns ist den Börsenmagiern der letzten Finanzkrise nicht erlegen? Wer feilt nicht an seinem innerbetrieblichen »impression management«? Selfmarketing wird bereits in den Seminaren zum Erwerb von Schlüsselkompetenzen an der Universität gelehrt. Postmoderne Karriereplanung scheint auf Momente der Heuchelei kaum verzichten zu können. Die Diskrepanz zwischen dem entwerteten hungrigen Selbst als Träger des Unbehagens der Moderne und den kompensatorischen Größenfantasien werden intrapsychisch kaum noch konflikthaft erlebt. Die Männlichkeitsentwürfe postmoderner Arbeitswelt sind den Inszenierungen von Frank Knöpfel durchaus ähnlich. Zu vertraut erscheint uns die Szene, in der Frank in der Firma, die er reinigt, den Filmmagnaten spielt und den fantasierten Loser am Telefon herunterputzt:
R »Wir sind hier kein Debattierklub, ich muss auch mal nach Hause zu Weib und Kind.« Es ist Alexander Adolphs großes Verdienst, uns diesen liebenswerten und zugleich bitterbösen Film geschenkt zu haben. Regie und Drehbuchlegung zeugen von einer hohen psychologischen Expertise. Die Welt will betrogen werden!?
Literatur Adolph A (2008) Die Hochstapler, DVD Arthouse Giernalcyk T (2009) Lug und Trug in Organisationen – Psychodynamik der fusionären und antifusionären Lüge. Unveröff. Vortrag 6. Hamburger Symposium für Persönlichkeitsstörungen 04.09.2009 Johnson StM (2006) Der narzisstische Persönlichkeitsstil. Edition Humanistische Psychologie, Köln Kaiser G (1996) Kriminologie. Müller, Heidelberg Kets de Vries M (1998) Führer, Narren und Hochstapler. Klett-Cotta, Stuttgart Lamott F (2009) Hochstapler, Gauner und andere Ganoven. Unveröff. Manuskript, Ulm Mahler M (1990) Die psychische Geburt des Menschen. Fischer, Frankfurt am Main Mentzos S (2005) Neurotische Konfliktverarbeitung. Fischer, Frankfurt am Main Möller H (2009) Verführen, Belügen, Manipulieren – Zur Psychopathologie des Betrügers. Persönlichkeitsstörungen 4: 241–247 Postel G (1998) Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers. Eichborn, Frankfurt am Main Rauchfleisch U (1981) Dissozial. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Sykes GM, Matza D (1979) Techniken der Neutralisierung. In: Sack F, König R (Hrsg) Kriminalsoziologie. Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesbaden, S. 360–371 Volkan VD, Ast G (1994) Spektrum des Narzißmus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Winnicott DW (1985) Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta, Stuttgart
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Lug und Trug
Originaltitel
So glücklich war ich noch nie
Erscheinungsjahr
2009
Land
Deutschland
Drehbuch
Alexander Adolph
Regie
Alexander Adolph
Hauptdarsteller
Nadja Uhl (Tanja), Devid Striesow (Frank), Jörg Schüttauf (Peter), Floriane Daniel (Marie)
Verfügbarkeit
Als DVD erhältlich
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Sabine Scheffler
Nicht anfassen – bitte nicht anfassen! Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ (ICD-10: F60.30) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Charakterisierung der Hauptfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Biografische Versatzstücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Diagnostische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Eigene Deutungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
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Filmplakat Vier MInuten, Deutschland 2004 Quelle: Kordes & Kordes Film 2007
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Vier Minuten Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung)
Inhalt Die alte Klavierlehrerin, Traude Krüger, gibt ehrenamtlich Musikunterricht in einer Frauenstrafanstalt. Der Sinn ihrer Arbeit wird vom Direktor der Anstalt bezweifelt, sie aber kämpft um diese Möglichkeit und so stellt sie ihren Flügel zur Verfügung, der schließlich in einer Ecke der Turnhalle landet. Im Gefängnis begegnet ihr Jenny von Loeben, eine 20-jährige Mörderin, deren Begabung, technisches Können und deren Aggressivität, Feindseligkeit und selbstverletzendes Verhalten die alte Dame tief beeindrukken und herausfordern. Sie macht es sich zur Aufgabe, mit Disziplin, Distanz, Strenge und Stetigkeit die talentierte junge Frau auf einen Musikwettbewerb vorzubereiten. Durch die trotzige, stets brüchige Zustimmung der Jungen entwickelt sich ein Kampf um Talent, Selbstaufgabe und Selbsterfüllung, der kathartische Funktion hat und Entwicklungspotenziale für beide Frauen eröffnet (. Abb.1)
Hinführung Hinter diesem kargen Inhalt verbirgt sich ein furioses, packendes Seh- und Hörerlebnis. Bildgestaltung (Licht, Kamera und Schnitt) Musik (Schumann, Beethoven, Mozart und die Filmmusik von Anne Focks) Rückblenden und Dialoge ziehen einen sofort in den Bann. Jede Szene ist von dialektischer Spannung getragen, die nach einer Lösung drängt. Der Film nimmt gefangen, sorgt für schnelle Identifizierungen, die im nächsten Moment zu Nichte gemacht werden, die TäterOpferPerspektive wechselt ständig. Man lässt sich mittragen von den trügerisch ruhigen Momenten der Musik, ebenso wie von den vitalen Gestaltungen und wird mit »Leib und Seele« in den nächsten Konflikt gezogen.Nachfolgend wird die Handlung ausführlicher wiedergegeben um die Beziehungsdichte und Dramatik ein wenig zu spiegeln. Es gibt in etwa 80 Szenen, davon sind 6 Rückblenden aus dem Kriegserleben von Frau K. Jennys Lebensgeschichte dagegen wird im Dialog stückweise von ihr und anderen erzählt. Das später interpretationsleitende erste Bild wird zunächst genauer beschrieben.
Die Handlung Das erste Bild Früher Tag, das Morgenlicht eines nasskalten Wintertages, ein Schwarm Vögel zieht in geordneter keilförmiger Formation über den Himmel hinweg, rhythmisch militärisch anmutendes Stakkato (Drums) setzt ein, es steigert sich und die Kamera schwenkt über einen Gefängnishof, der Ausschnitt wird enger und enger, ein Wärter in einem Wachraum, halb verdeckt, eine Zelle, ein schlafender Mensch im Doppelstockbett, am Fenster der Unterkörper einer erhängten Frau … Stille. Die Frau im Bett wacht auf (Jenny von Loeben, gespielt von Hannah Herzsprung), spürt ein Unbehagen, dreht sich um, sieht die Erhängte, kriecht aus dem Bett, durchsucht ganz »cool« die Taschen der Toten nach Zigaretten, setzt sich, will sich die Zigarette anzünden, zögert, drückt auf den Nothilfeknopf, ohrenbetäubender Lärm … die Gefängnismaschinerie setzt sich in Gang. Bis jetzt wurde kein Wort gesprochen, Bilder und Musik tragen einen fort, die Thematik von Freiheit und Unterdrückung, Veränderung und Bestehen, (Selbst) Vernichtung und Anarchie ist angeschlagen wie in einem Vorspiel auf dem Theater.
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Nicht anfassen – bitte nicht anfassen !
. Abb. 2 Ihre Vergehen und Ihre Geschichte interessieren nicht. Sie sind begabt!« – Szene mit Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung, Quelle: Kordes & Kordes Film 2007
Weiterer Verlauf Danach werden weitere Hauptrollen, das Klavier und Frau K. (Monica Bleibtreu) eingeführt. Die alte Klavierlehrerin, Frau K., hager, stolz und zäh, kämpft mit dem Direktor um Klavierstunden, die sie im Gefängnis gibt und die abgeschafft werden sollen. Sie kritisiert nicht zimperlich den Direktor, vergleicht sein unbestimmtes Verhalten mit einem SS-Mann im Krieg, den sie kannte, der auch nie Chef sein wollte. Beim Beerdigungsgottesdienst für die Erhängte spielt Frau K. Orgel; Jenny sitzt zunächst unbeteiligt dabei und popelt in der Nase; im Spiegel der Orgel bemerkt Frau K. jedoch, wie die junge Frau auf einer vorgestellten Tastatur der Kirchenbank die Orgelmelodie mitspielt. In der Folge beschreiben einzelne Bilder die Subkultur des Gefängnisses, die Mitgefangenen unterstellen Jenny, die sagt, sie habe geschlafen und vom Suizid nichts gemerkt, unterlassene Hilfe:
R »Du hast sie baumeln lassen! Dafür bezahlst Du!« Jenny von Loeben meldet sich zum Klavierunterricht Frau K. moniert streng ihre wundgekauten Hände und verweigert den Unterricht. Herr M., der Wärter (Sven Pippig) soll sie in die Zelle zurückbringen. Sie flippt völlig aus, improvisiert am Klavier vitalen Jazz und schlägt den Wärter, der sie anfasst brutal zusammen. In der Folge der Gewaltszene wird rückgeblendet: Frau K. wird in einer angedeuteten Liebesbeziehung zu einer Frau in den Kriegswirren gezeigt, sie selbst ist Krankenschwester, Bomben fallen, Mauerwerk stürzt ein. Offenbar hat die Gewalttätigkeit von Jenny die Erinnerung an die Vernichtungsangst im Kriege aber auch die Erinnerung an den Halt der ersten großen Liebe freigesetzt. Dann sitzt Frau K. bei Jenny in der Strafzelle, diese ist festgeschnallt, hustet und windet sich, ohne Blickkontakt (. Abb.2). Frau K., scheinbar unbeeindruckt, äußert sich klar und distanziert, dass sie die »Negermusik« überhaupt nicht schätze, das verderbe zu-
259 Vier Minuten – Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung)
dem ihren Anschlag, sie glaube auch, dass sie als Person niederträchtig sei, aber das interessiere hier nicht, sie habe die Pflicht eine Gabe zu erhalten und als ihre Lehrerin könne sie Jenny helfen besser zu spielen. Sie wolle sie auf einen Wettbewerb vorbereiten. Die Gegensätzlichkeit der gedemütigten hilflosen jungen Frau und die Sachlichkeit und Zielstrebigkeit von Frau K schaffen in dieser Situation so etwas wie einen Raum von Hoffnung, Ruhe und Klarheit, der die Ohnmachtserfahrung perspektivisch öffnet. Neben dem persönlichen Elend gibt es ein anderes, das Verzweiflung bindet. Gleichzeitig wird rückgeblendet, der Geliebten werden zur Strafe die Haare geschoren. Man ahnt, obwohl wir so wenig über das Leben der beiden im Krieg wissen, dass die Lehrerin und Jenny durch einen ähnlichen Kernkonflikt miteinander verbunden sein könnten.Wieder in der Gegenwart, getrennt durch eine Glasscheibe, Jenny in Handschellen, kommt es schließlich zur »Aushandlung« der Arbeitsbedingungen zwischen den beiden Frauen.
R Jenny: »Muss ich denn alles fressen!?« Elitär und autoritär verlangt Frau K. eine Entschuldigung beim zusammengeschlagenen Wächter M. Demut, keine Widerrede, gepflegte Hände und sauberen Körper. »Sie stinken«, erklärt sie der jungen Frau, ihre Person interessiere nicht, auch nicht, was sie getan und was ihr passiert sei, es gehe um die Aufgabe und bei ihrem Talent sei das der Wettbewerb. Jenny stimmt widerwillig zu, wirft ihr vor, sie brauche einen Sklaven, worauf Frau K. sie auffordert ein Stück Papier zu essen, ohne Widerrede, was Jenny tut. Elitär wird Schuberts Impromptu As-Dur als Übungsstück vorgeschlagen.Frau K.s Dominanz bewirkt so etwas wie Akzeptanz und Respekt, die Strenge gibt beiden Halt und Schutz. Jenny willigt trotzig ein, sie erzählt zum ersten Mal etwas Persönliches. Sie sei bis zu ihrem zwölften Lebensjahr als Wunderkind gesehen worden, habe bei vielen Wettbewerben gespielt bis ihr Stiefvater sie angefangen habe zu missbrauchen. In verschiedensten Szenen wird wieder und wieder gezeigt, wie das Personal, Herr K. ein weiterer Wärter (Richy Müller), der Wächter M., die Mitgefangenen, der alkoholkranke Vater (Vadim Glowna) mit seinen Beziehungen – er schleust einen Journalisten ins Gefängnis ein, der die Klavierstunde fotografiert, sie spielt in Handschellen Jazz – für Jenny und Frau K Situationen provozieren, die ständig die Beziehungsfähigkeit und Frustrationstoleranz der jungen Wilden prüfen. Jenny handelt gewalttätig, die innere Haltlosigkeit und Selbstverachtung der jungen Frau wird sichtbar. Die permanente Verteidigungsposition, die Jenny herstellt führt zum Chaos, die unbeirrte Zielstrebigkeit von Frau K. dagegen gibt ruhige Momente. Jenny beginnt ihre Hände zu pflegen, übt in der Zelle Klavier; es gibt Übungsszenen mit einem tastenden Lächeln zwischen den beiden, einer vorsichtigen unterstützenden Berührung der Lehrerin an der Schulter, beim Abschied winken sie sich verhalten zu. Humorige Bilder und Dialoge entlasten. Sie tauschen die Kleider, Frau K. trägt bei einem Vorwettbewerb Jennys Punk-T-Shirt mit einem »Haufen drauf«, Jenny selbst das mausgraue Hemdblusenkleid von Frau K aber sie spielt mit blutigen Händen, da sie sich zuvor in einem Streit mit Frau K. über Angst vor dem Spiel und »Psychokacke« an einem Spiegel selbst verletzt hat. Die Nachsorge ihrer verletzten Hand im Krankenhaus führt zu einem weiteren autoaggressiven Ausbruch. Sie flieht und rennt gegen eine Scheibe, sie geht zu Boden, und erzählt: In diesem Krankenhaus hatte sie vor Kurzem eine Totgeburt, die Ärzte setzten den Kaiserschnitt nach 16 Stunden zu spät – »die will ja nur Haftverschonung« – das Kind ist tot. Jenny weint, sie lehnt sich an Frau K. Jennys Sonderposition führt in der Anstalt zu Eifersuchts- und Neidreaktionen beim Personal (Herr M., Herr K.) aber auch bei den Mitinsassinnen. Sie spielen z.B. provokant auf dem Klavier Tischtennis. Herr M., der bei Frau K. Opernzitate für eine Quizshow übte, verliert dieses Quiz mit seinem Vokabelwissen und beginnt sich zu rächen. Er erscheint wie ein kleiner Junge, der eben auch mal gewinnen und beachtet sein will. Von ihm wird Jenny zu den Mitgefangenen verlegt, die sich für den vorausgegangenen Suizid rächen wollen. Außerdem bedroht er sie vor einem weiteren Übungswettbewerb mit
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Nicht anfassen – bitte nicht anfassen !
einer Pistole. Auf dem Heimweg machen sie Pause in einem Gartenlokal, wo gerade eine Hochzeit gefeiert wird, Herr M. hält sich gekränkt zurück. Auf Frau K.s naive Aufforderung hin, alle sollten sich doch wieder vertragen, entschuldigt Jenny sich halbherzig, wendet sich Frau K. zu und fragt sie, ob sie sie – Jenny – denn möge. Frau K. zögert unbeholfen, da steht Jenny auf, sagt: »Ich mag Sie« und hebt die Arme mit dem Handschellen über Frau K.s Kopf, sie ist umgefasst in einer geschlossenen Umarmung, beide beginnen sich langsam zur Hochzeitsmusik miteinander wiegend zu bewegen. Derweil uriniert Herr M. mit dem Rücken zu ihnen. In der nächsten Szene verbrennen die Mitgefangenen ihr kurz vor dem Wettbewerb im Schlaf die Hand, dies führt zur Eskalation, Jenny schlägt eine Mitbewohnerin krankenhausreif, sie sitzt erschüttert bei Frau K. und weint bitterlich. Herr M. als Wärter tut nichts, um die Eskalation in der Zelle zu verhindern, er dreht lediglich die Musik lauter. Das Auftrittsverbot für den Wettbewerb folgt. Nun erst sieht Frau K. die Akte von Jenny ein und erfährt, dass sie wegen Mordes verurteilt ist. Ein Besuch des angetrunkenen Vaters von Jenny bei Frau K. stellt die Schuld von Jenny infrage. Der Vater meint, sie decke ihren Freund, einen Stricher, »eine absolute Null«. Er bittet und jammert, Jenny weiter zu betreuen. Jenny habe den Klavierunterricht damals nur abgebrochen, »bloß« weil er mit ihr geschlafen habe. Frau K. leert seine Ginflasche in den Ausguss und verweist ihn der Wohnung. In der folgenden Rückblende wird gezeigt, dass ihre Geliebte, die im 2. Weltkrieg im kommunistischen Untergrund tätig war entdeckt wurde. Frau K. kann sich ihrer eigenen Verhaftung nur durch Protektion von Furtwängler entziehen – sie ist Meisterschülerin bei ihm – und durch Verleugnung ihrer Geliebten Die Geliebte wird gehenkt, Frau K. findet sie. Dieses Mal bleibt sie parteilich. Während Jenny sich mit »Negermusik« an der Orgel entlastet, spielt sie selbst wehmütig und erschüttert Mozart, Klaviersonate A-Dur, KV331und sie kämpft bei der Gefängnisleitung weiter um die Teilnahme am Wettbewerb, die verweigert wird. Sie bittet Herrn M. zu sagen, dass er von der Verbrennung gewusst habe und nicht eingeschritten sei. Er lässt sich schließlich überreden, dass Jenny zusammen mit Frau K. und dem Klavier, das sie dann aus dem Gefängnis abholen lässt, verschwindet (entweicht!) zum Wettbewerb. In der Wohnung von Frau K. kommt es zu einer dramatischen Auseinandersetzung. Jenny begutachtet abfällig die altmodische Wohnung, findet die leere Alkoholflasche und weiß sofort, dass ihr Stiefvater da war, ist überzeugt, dass Frau K. gekauft ist, alles eingefädelt ist, sie rast, schlägt die alte Dame, sie beschimpft sie als eitel und ehrgeizig, als Hure. Frau K. reicht ihr das Dossier aus der Nazizeit, nein, sie sei kein blöde Hure, nur eine blöde Lesbe; Jenny provoziert und kränkt sie weiter – »iss das Dossier auf!« – bis Frau K. losschimpft, für ihre Verhältnisse wie ein Marktweib:
R »Jetzt halten Sie mal die Klappe und lüften Sie Ihren bequemen A…! – … Talent ist ein Geschenk, das verpflichtet …!« Frau K. fährt fort, sie –Jenny – habe daher eine Aufgabe und zögernd, das sei doch der Sinn im Leben. Sie fahren mit einer Nachmeldung zur Oper. Der Vater taucht auf, Jenny wendet sich ab, wünscht ihm, dass er sterbe, der Vater geht. Während Jenny die Bühne betritt, rücken vor der Oper Einsatzfahrzeuge der Polizei an, ein Polizeiaufgebot beginnt das Gebäude zu stürmen. Frau K. wünscht ihr Glück und bewundert ihre schönen Hände. Jenny spielt Frau K.s Wahl Schumanns a-Moll-Klavierkonzert. Die Polizei und der Direktor stürmen das Gebäude, Frau K. bittet ihn um »vier Minuten«. Sie stehen gemeinsam da und hören zu. Jenny beginnt ihren Vortrag klassisch und variiert dann zur Vorlage, sie bearbeitet das Klavier, greift in den Klangraum, zupft und schlägt die Seiten, nutzt den Rahmen als Klangkörper und Rhythmusmöglichkeit, kehrt zum Schumann Motiv zurück und variiert erneut. Ein Vortrag mit Form und Kreativität, Struktur und »Negermusik« sind versöhnt. Frau K., die nie trinkt, schüttet drei Gläser Rotwein in sich hinein, Jenny verbeugt sich in Handschellen bei tosendem Applaus.
261 Vier Minuten – Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung)
Charakterisierung der Hauptfigur Jenny von Loeben ist eine 20-jährige Frau, die provokant gleichgültig und unangepasst, dabei immer auf dem Sprung und wachsam, den Blick vorsichtig fragend oder spöttisch abweisend den Gefängnisalltag zu bewältigen versucht. Ohne sichtbare Gefühlsregung nimmt sie den Suizid ihrer Zellengenossin zur Kenntnis, die geschnorrte Zigarette der Toten beruhigt, dann drückt sie die Klingel. Während des Gottesdienstes popelt sie in der Nase, isst die Popel auf, Drohungen nimmt sie ohne Anzeichen von Panik zur Kenntnis, jedoch bei jeder Körperberührungen gibt es eine deutliche fühlbare Grenze. Das mit kalter Ruhe gesetzte, messerscharfe:
R »Nicht anfassen – bitte nicht anfassen«, macht ihre Toleranzgrenze überdeutlich und bei der nächsten Berührung schlägt sie in blinder Wut los. Das Ausmaß der Gewaltexzesse steht scheinbar in keinem Verhältnis zum Anlass, der Auslöser wird nichtig. Das Sich-Wehren wird unwichtig, physische Überlegenheit und die Überschreitung des Alltäglichen in der Gewalt, wie in einem Rausch also intrinsische Gewaltmotive bestimmen sie (Sutterlüty 2002; Bruhns u Wittmann 2002). Im gewaltaffinen Milieu des Gefängnisses wirkt ihr musikalisches Talent wie eine Ressource aus fernen vergangenen Zeiten, ihr Potenzial als Person scheint gebrochen, sie verletzt sich selbst, kaut ihre Fingerkuppen wund, wäscht sich nicht, die Anstaltskleidung trägt dazu bei ihren Körper zu verhüllen, ihre privaten Klamotten, Punkerkluft, noch mehr. Ihr impulsives Verhalten, ihre Unberechenbarkeit, ist für alle eine Herausforderung. Sie enttäuscht die Vollzugsbediensteten, wenn sie ihr entgegenkommen und stellt Frau K. ständig vor nicht kalkulierbare Herausforderungen. Dabei kann sie sich durchaus zielgerichtet verhalten, was die Klavierübungen und ihre Selbstfürsorge angeht, wenn sie die Vorgaben von Frau K. als Halt gebend annehmen kann. Ihre musikalischen Improvisationen sind wie ihre Gewaltausbrüche eine Überschreitung des Alltäglichen, mächtig, vereinnahmend, kompromisslos. Zuwendung und Unterstützung sind für sie als Person kaum erträglich. Wenn es um ihre Angst und Verzagtheit, ihren Selbstzweifel geht die sichtbar werden kann sie diese Beachtung kaum tolerieren. Wenn sie sich zugewandt verhält, wirkt sie kindlich und zerbrechlich, sie weint und lehnt sich an, sie fragt Frau K., ob sie gemocht wird, sie umarmt sie mit Handschellen und tanzt mit ihr; sie meckert Frau K. wegen ihrer Wohnung, die wie ein Mausoleum wirke an und fast gleichzeitig gibt sie ihr einen Kuss auf die Wange.
Biografische Versatzstücke Es gibt nur Versatzstücke aus Jennys Leben. Sie wurde in ihrer Kindheit als Wunderkind behandelt und gehandelt. Es gibt sichtlich einen Bruch, sie gibt an, dass der Stiefvater »sie gefickt« habe, seit sie zwölf Jahre alt war, sie entzieht sich, lebt im Punkermilieu, ist des Mordes an einem Mann schuldig, möglicherweise deckt sie aber auch ihren Partner. Von ihm ist sie schwanger, sie ist bereits verurteilt und nach einem verspäteten Kaiserschnitt kommt das Kind tot zur Welt. Sie versucht im Krankenhaus aus dem Fenster zu springen. Von ihrer Mutter erfährt man gar nichts.
Diagnostische Einordnung Man kann man vertreten, dass es sich um eine typische Gewaltkarriere als Antwort auf permanente Demütigung, Missachtung und Überforderung handelt, die letztendlich auch traumatisierend wirkt. Diese Erfahrungen des Missbrauchs führt dann u.a. zum gezeigten autoaggressiven Verhalten, zur feindlichen Haltung der Welt gegenüber. So werden Leere, Ohnmachts- und Vernichtungsgefühle ab-
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wehrt. Die Selbstverachtung wächst in der Demütigung und Entwertung ebenso wie die Erfahrung von möglicher Potenz. Es gibt im Krankenhaus sichtlich eine Triggersituation, die zur traumatischen, leidvollen Erfahrung der Geburt ihres Kindes führt, die sie mit extremer Autoaggression abwehrt. Die Verurteilung wegen Mordes und das Gefängnis sind weitere Extrembelastungen. Die Verarbeitung all dieser Ereignisse in diesen extremen Verhaltensweisen, so ist zu vermuten, haben aber auch mit der Wunderkinderfahrung zu tun. Das gezeigte Verhalten ist häufig bestimmt durch eine Gleichgültigkeit gegenüber den Gefühlen von anderen. Soziale Regeln und Verpflichtungen gelten nicht. Trotz aller Schwierigkeiten ist der Klavierunterricht für sie immer wieder möglich. Ihre aggressiven Ausbrüche haben etwas Rauschhaftes Grandioses, es fällt ihr schwer, Verantwortung zu übernehmen, sich zu entschuldigen (ICD-10 WHO 1993, S.229). Es ist anzunehmen, dass sie mit ihrer Begabung für die Eltern AlterEgoFunktionen erfüllt hat, dass Akzeptanz und Zuneigung funktionalisiert wurden und sie früh das Gefühl entwickelte, als Person nicht bedingungslos geliebt zu sein. Gleichzeitig mag es aufgrund der Begabung überbehütende und bewundernde Reaktionen gegeben haben, die ein unrealistisches Selbstbild genährt haben, »ich kann alles erreichen« vs »wer ich wirklich bin, ist völlig egal«. Haltende, eingrenzende, führende und tragende Zuwendung hat sie sicherlich vermisst. Es ist davon auszugehen, dass sie infolge der belasteten Kindheit und Adoleszenz eine Persönlichkeitsstörung entwickelt hat. Diese geht mit deutlicher Tendenz, impulsiv zu handeln ohne Berücksichtigung von Konsequenzen und mit wechselnder instabiler Stimmung einher. Die Fähigkeit vorauszuplanen, ist gering und Ausbrüche intensiven Ärgers können zu oft gewalttätigem und explosiblem Verhalten führen. Dieses Verhalten wird leicht ausgelöst, wenn impulsive Handlungen von anderen kritisiert oder behindert werden. Dies entspricht den diagnostischen Kriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30). Vor dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit und angesichts der Intoleranz, die Jenny für körperliche Nähe zeigt, ist es durchaus denkbar, dass bei ihr zusätzlich zur Persönlichkeitsstörung eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, ICD-10: F43.1) vorliegt. Die diagnostischen Kriterien lassen sich am Filmmaterial allerdings nicht eindeutig ablesen. Die Kombination von emotional instabiler Persönlichkeitsstörung und PTBS nach anhaltend traumatisierenden kindlichen Beziehungserfahrungen ließe sich auch als komplexe posttraumatische Belastungsstörung beschreiben, die in der ICD-10 jedoch nicht enthalten ist.
Eigene Deutungsansätze Das Ausgangsbild, das die Deutungsansätze leitet, ist das oben beschriebene erste Bild: der dämmernde Morgen, die Vögel und das Gefängnis. Das Bild der Zugvögel in geordneter Formation und der Schwenk über und in das Gefängnis bis in die Zelle, in die Enge, die Bedrohung, die Stagnation und die verwaltete Dissozialität (Zeul 2006). Der Film ist dicht und »prall«. Es gibt »viel zu futtern und zu verdauen«, manches Schwerverdauliche ist dabei wie im richtigen Leben. Zuweilen wirkt der Film mit den vielen Konfliktlinien, die gezeichnet werden etwas überladen, als ob die Darstellung der Beziehung von Frau K. und Jenny nicht ausreiche und trage oder als ob die Beziehung in ihrer Tiefe und Bedeutsamkeit durch andere Aspekte erst erträglich wird. Das Gefängnis wird zum Symbol der gesellschaftlich strafenden Instanzen, der Ausgrenzung des sozialen und persönlichen Todes ein Symbol mörderischer Über-Ich-Impulse. Das Gefängnis ist wie ein Code, der das Persönliche verbirgt, es verschwindet in dieser strafenden, entindividualisierenden Lebensform; auch durch die Uniformen, das Persönliche wird zum bestgehüteten Geheimnis, die Bedürftigkeit und das Gefallen wollen, die Sehnsucht nach Bindung, Sicherheit und Anerkennung. Alle Verhaltensweisen sind gesteuert und geprägt vom Schutzbedürfnis innerhalb der vorgegebenen Spielräume. Das Klavier als Möglichkeit sich und etwas zu bewegen, persönlicher Ausdruck, Gefühl, Gestaltung wird denn auch in den Bewegungsraum, die Turnhalle als
263 Vier Minuten – Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung)
Ort ganzheitlicheren Erlebens verfrachtet und kreativ provokant auch zum Tischtennisspielen genutzt. In dieser Welt von Ordnung, Strafe und Sadismus gibt es nun dieses Klavier, die Musik und Frau K., offensichtlich eine mühsam geduldete Gegenwelt, die ständig bedroht wird. Dabei sorgt die Musik für nonverbale Verständigung, Erleben und Ausdruck, das Klavier bietet die Möglichkeit spielerisch Erleben und Verstehen zu gestalten. Das Klavier wird zum Übergangsobjekt. Es wird gestreichelt, misshandelt, mit Blut beschmiert, traktiert, gehasst, geliebt, verfrachtet, man kann alles mit ihm machen, es rührt sich nicht, ist immer da, auch in der Gefängniszelle auf den Tisch gemalt und antwortet mit spiegelgleichen Tönen. Innerhalb dieser Welt gestaltet sich die Beziehung zwischen Frau K., der altmodischen Lehrerin und Jenny, als Entwicklungsprozess auf der Basis einer notwendig präödipalen homosexuellen MutterTochter-Beziehung. Themen der Gleichheit und der Differenzierung wie der erotischen Anziehung bestimmen diese Phase der kindlichen Entwicklung, die in Erweiterung zur klassischen Weiblichkeitstheorie der Psychoanalyse von mehreren Autorinnen beschrieben und in ihrer Bedeutung hervorgehoben wurde (Chodorow 1985; Fast 1984; Benjamin 1993, 1994; Poluda-Korte 1993; Torelli 2006; Zeul 2006). Beide Frauen erahnen im jeweiligen Gegenüber ein Verstehen, das von der Erfahrung von Verlust (Geliebte, Kind, Unschuld), von Unterdrückung, Bedrohung und Todesangst (Faschismus, Krieg, Missbrauch), Träumen von Erfolg und Beliebtheit (Meisterklasse, Wunderkind) bestimmt ist. In der jungen Frau kann sich der eigene Sinn für die Ältere fortsetzen – »ein Talent ist ein Geschenk und dessen Pflege und Weitergabe macht Sinn im Leben«. Die Verschlossenheit und das Misstrauen machen sie beide vorsichtig und sensibel für die gegenseitigen Verletzlichkeiten (die Eitelkeit, der Ehrgeiz der Alten, ihre kompensatorische Not, die Bindungsangst und Strukturlosigkeit der Jungen). Der »spezielle Glanz im Auge der Mutter – Pianistin« (Olivier 1984) äußert sich hier in der beharrlichen Überzeugung vom Talent ihrer Schülerin, in ihrem Engagement und Einsatz, in ihrer Parteilichkeit. Im Verhalten nimmt die Lehrerin genau das an Beziehung auf, was Jenny kennt und verkraften kann und sie lässt sich nicht durch Ausfälle erschüttern, sie weiß um Verzicht und Verrat, um Versagen und Todesangst. Sie ist aber auch die dominante, kontrollierende Mutter die Abhängigkeits- und Selbstbehauptungswünsche der jungen Frau wiederbelebt. Vom »alles fressen müssen« über Sklavin sein, sich pflegen, bis zum »Masturbationsverbot« (sich ausleben in orgiastischen Klavierimprovisationen) alles wird in dieser Beziehung korrigierend modelliert. Die Engstirnigkeit, Sachlichkeit und Sturheit erlaubt es Jenny wieder und wieder ihren persönlichen Raum auszuloten, wie viel Verbundenheit sie ertragen kann, ihre tobende Wut wird ausgehalten ohne zu weichen. Frau K. trägt sie (fasst sie wie beiläufig an der Schulter, lächelt sie an), sie überwindet ihre Abneigung und sie tauschen die Kleider, sie bewegen sich wiegend miteinander – und wahrscheinlich anders als in der Kindheit ist Jenny vom kritischen Respekt und der Achtung dieser Frau getragen, sie fühlt sich nicht manipuliert, sondern wird überzeugt von ihrer Potenz. Frau K stellt sich dem Zorn und der verzweifelt aggressiven Sehnsucht nach Liebe mit ihrer eigenen Verletzlichkeit, sie erzählt ihre Geschichte, die Angst vor dem Bekennen, die tragische Entscheidung für sich selbst, die Vertreibung aus dem »Paradies der Liebe«. Die Beziehung zwischen den beiden ist exklusiv, bis zur Schlussszenerie gibt es keine gelungene Dreieckssituation zwischen Frau K., Jenny und einem Dritten. Der Neid und die Eifersucht der Geschwister–Wärter–Mitgefangenen spiegeln die wortlose Intimität der beiden Frauen. Da kann »Mann« nur resigniert am Rande stehen und schauen, wie weit man eben pinkeln kann, oder den eigenen Status nutzen, um instrumentelle Macht auszuüben (das Verhalten des Personals; Popitz 1992). Erst ganz zum Schluss stehen der Direktor und Frau K. in der Loge der Oper und lauschen gemeinsam dem Spiel »ihres Kindes« – freilich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven Der »Vater-Direktor« vertraut dem ihm fremden Wunsch der »Mutter-Lehrerin« und lässt die beiden gewähren. Es ist wie bei Freud ein zögerlicher Blick: »Was will das Weib?« (Jones 1955). Die Eigenständigkeit ist anerkannt, »die Eltern« lassen sie gewähren.
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Frau K. stellt sich »auf ihre alten Tage« ihrem dramatischen »coming out« – »…und ich liebe sie immer noch!« Schließlich kann sie von der Vitalität und Fremdheit des Klaviervortrags erschüttert und angezogen – ihre Möglichkeiten sind erschöpft – zum Genuss übergehen. Mehr kann sie nicht tun. Sie genehmigt sich drei schnelle Gläschen Wein und schaut der fließenden, fliegenden Verbeugung der Jenny von Loeben in Handschellen zu.In dieser vogelartigen Bewegung ist der Kreis zur ersten Szene des Films vollendet und geschlossen.
Literatur Benjamin J (1993) Phantasie und Geschlecht, Studien über Idealisierung Anerkennung und Differenz, Stromfeld, Basel Benjamin J (1994) Unbestimmte Grenzen. Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter, Nexus, Frankfurt am Main Bruhns K Wittmann S (2002) Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen – Mädchen und junge Frauen in gewaltbereiten Jugendgruppen, Leske und Budrich, Opladen Chodorow N (1978/dt 1985) Das Erbe der Mütter, Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter Frauenoffensive, München Fast I (1984) Gender identity. A differentiation model. Hillsdale, NJ, London, dt 1991 Jones E (1955) Letter to Marie Bonaparte. In: Sigmund Freud Life and Work Basic Books, New York, Vol 2, Pt 3, Ch 16 Olivier C (1980/dt 1984) Jokastes Kinder – Die Psyche der Frau im Schatten der Mutter. Claassen, Düsseldorf, Poluda-Korte ES (1993) Der lesbische Komplex – Das homosexuelle Tabu und die Weiblichkeit. In: Alves EM (Hrsg) Stumme Liebe. Der lesbische Komplex in der Psychoanalyse. Kore, Freiburg, S 73–132 Popitz H (1992) Phänomene der Macht, 2. Aufl. Mohr, Tübingen Sutterlüty F (2003) Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Mißachtung, Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie Bd 2. Campus, Frankfurt Torelli M (2008) Psychoanalyse lesbischer Sexualität. Psychosozial, Gießen WHO (Weltgesundheitsorgansation) (1993) (Hrsg) Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien2. Aufl. Huber, Bern Zeul M (2006) »Das Höhlenhaus der Träume« Überlegungen zur Erstellung einer psychoanalytischen Filmtheorie aus weiblicher Sicht. Inauguraldissertation, Universität Kassel, 982375980.pdf. Gesehen 03. Okt 2009
Originaltitel
Vier Minuten
Erscheinungsjahr
2006
Land
Deutschland
Drehbuch
Chris Kraus
Regie
Chris Kraus
Hauptdarsteller
Monica Bleibtreu (Traude Krüger), Hannah Herzsprung (Jenny von Loeben), Sven Pippig (Jenny von Loeben), Richy Müller (Kowalski), Vadim Glowna (Kowalski), Nadja Uhl (Nadine Hoffmann)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Beate West-Leuer
Und fänden die Liebe nicht … Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, BorderlineTyp (ICD-10: F60.31) Der deutsche Autorenfilm – eine cineastische Einführung . . . 267 Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ (F60.31). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Cahit Tomruk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Migration und Psychodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Repräsentanz eines fremden Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Kernschmelze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Rückkehr als Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
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Filmplakat Gegen die Wand, Deutschland 2004 Quelle: Interfoto/MNG Collection
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Gegen die Wand Cahit Tomruk (Birol Ünel)
Der deutsche Autorenfilm – eine cineastische Einführung In München gibt es die Türkenstraße. In letzter Zeit wird oft beklagt, wie herunter gekommen und charmelos dieser legendäre Teil Schwabings geworden ist. Das Restaurant »La Bohème« gibt es nicht mehr; es ist einem modischen Italiener, der Pizzeria »Riviera«, gewichen. Und doch hat alles hier angefangen: Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzte das Autorenkino von hier aus an, den deutschen und europäischen Film aus der Bedeutungslosigkeit zu befreien. In einer ehemaligen Schusterwerkstatt residiert die Oscarprämierte Filmtechnikfirma »Arri«. Kameramann Michael Ballhaus machte sie weltberühmt. Volker Schlöndorff und Reinhard Hauff gründeten in Schwabing ihre Filmproduktion »Bioskop«, im »Türkendolch« ließ sich Fassbinder von Filmen Douglas Sirks inspirieren. Ganz in der Nähe gründete er sein »Antitheater«; man traf sich im »Gläsernen Eck«. Auch dies wurde im vergangenen Jahr zum Restaurant »Falckenberg« gesellschaftsfähig umfirmiert. Dennoch: Wenn man heute durch Schwabing spaziert, spürt man immer noch etwas vom Geist Fassbinders. Und der Autorenfilm – will heißen: Drehbuch und Regie aus einer Hand, anspruchsvolle originäre Themen, mutig und experimentierfreudig umgesetzt – hat in den letzten Jahren erfreulichen Zuwachs bekommen. Neben Tom Tykwer ist es vor allem der türkischstämmige Regisseur Fatih Akin, der dafür sorgt, dass der deutsche Film nicht nur auf internationalen Festivals vertreten ist, sondern auch bei einem breiten Publikum ankommt. Aufgewachsen ist er zwar nicht in der Münchener Türkenstraße, aber als Sohn türkischer Migranten 1973 in Hamburg geboren. Fatih Akin studierte »Visuelle Kommunikation« an der Hamburger Hochschule für bildende Künste und wurde bereits für seinen Debütfilm 1998 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Es folgten Streifen wie Im Juli (2000) sowie Solino (2002) über das erste italienische Restaurant im Duisburg der 1960er Jahre. Mit seiner eigenen Produktionsfirma startete Akin 2004 die ehrgeizige Trilogie Liebe, Tod und Teufel. Der erste Teil, Gegen die Wand, wurde sofort mit Preisen überhäuft: Unter anderem dem »Goldenen Bären« der Berlinale und fünf »Lolas in Gold« beim Deutschen Filmpreis (in den Kategorien Film und Regie sowie für die beiden Hauptdarsteller Sibel Kekilli und Birol Ünel und für die Kameraarbeit von Rainer Klausemann). Auch beim Europäischen Filmpreis wurde Gegen die Wand als bester Film prämiert und erhielt zusätzlich den Publikumspreis für die beste Regie. Während der Berlinale 2004 kamen auch die ersten »Enthüllungen« über die Hauptdarstellerin Sibel Kekilli an die Medienoberfläche. Bevor sie für Gegen die Wand entdeckt wurde, spielte sie nämlich in diversen Pornofilmen mit. Der Rummel und die Kontroversen um die Hardcore-Pornos einer türkischstämmigen Hauptdarstellerin trieben die Zuschauerzahlen für Akins Film weiter in die Höhe. So mag man spekulieren, wie viel davon auch cleveres Marketing war. Der Deutsche Presserat schließlich rügte im November 2004 öffentlich die Berichterstattung der Bild über die Schauspielerin Sibel Kekilli. Fatih Akin, der 2005 in die Jury der Filmfestspiele von Cannes berufen wurde, erhält dort zwei Jahre später den Drehbuchpreis für Auf der anderen Seite, den zweiten Teil seiner Filmtrilogie über türkisch-deutsche Identitäten. Seine Hauptdarstellerin ist diesmal Hanna Schygulla, die Grande Dame des deutschen Autorenfilms. Es folgt 2009 Soul Kitchen, abermals ein Film im Restaurantmilieu und eine Hommage an Akins Heimatstadt Hamburg. Bei den Filmfestspielen von Venedig wurde er mit dem Spezialpreis der Jury prämiert. Damit ist die Trilogie, die mit Gegen die Wand begonnen hat, abgeschlossen (Felbeck 2009).
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Und fänden die Liebe nicht …
Die Handlung Gegen die Wand (. Abb. 1) schildert die Liebesgeschichte zwischen Sibel, einer 20-jährigen Türkin, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, und ihrem 40-jährigen Landsmann Cahit. Der DeutschTürke lebt in Hamburg am Rande der Gesellschaft. Zu Beginn des Films fährt Cahit alkoholisiert und ungebremst »gegen die Wand«. Er überlebt diesen Selbstmordversuch nur knapp. Im Krankenhaus trifft er Sibel. Sie hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, um gegen ihr traditionell-türkisches Elternhaus zu rebellieren. Sie bittet Cahit unvermittelt, sie zu heiraten. Ihre Eltern akzeptieren ihn als Schwiegersohn, weil er aus der Türkei stammt. Unter dem Deckmantel einer Scheinehe will Sibel ihr eigenes Leben verfolgen:
R »Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen.« Als Sibel einen weiteren Selbstmordversuch inszeniert, herrscht Cahit sie an:
R »Bist Du bescheuert oder was?« Sibels Plan zeigt Wirkung. Cahit willigt schließlich in die Scheinehe ein. Cahit verdient sein Geld als Gläserabräumer in der »Fabrik«, einem Kultur- und Veranstaltungszentrum in Altona. Bei Sibels Familie gibt er allerdings vor, Geschäftsführer der »Fabrik« zu sein. Seinen guten Freund Seref überredet er, als »Onkel« für ihn um Sibels Hand anzuhalten. Vom Standesbeamten erfährt Sibel zufällig, dass Cahit Witwer ist und früher schon einmal mit einer deutschen Frau verheiratet war. Nach der Hochzeit formen Cahit und Sibel eine Lebens- und Wohnungsgemeinschaft. Cahit sieht anscheinend unberührt zu, wie Sibel mit unterschiedlichen Männern flirtet und diverse Affären hat. Er nimmt Kontakt zu Maren auf, einer Freundin, mit der er gelegentlich Sex hat. Maren bietet Sibel einen Job in ihrem Friseursalon an, damit Sibel den gemeinsamen Lebensunterhalt finanzieren kann. Nicht überraschend nähern sich Sibel und Cahit allmählich an. Es gelingt ihnen, etwas Ordnung und Freude in ihr Leben zu bringen. Sie verlieben sich. Dann kommt es zu einer Katastrophe: Als Niko, mit dem Sibel einen »One-night-stand« hatte, schlecht über Sibel spricht und sie mit einer Hure vergleicht, schlägt Cahit zu. Niko fällt unglücklich und bricht sich das Genick.Cahit wird zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Sibel verspricht, auf ihn zu warten. Da sie gegen die Familienehre verstoßen hat, droht ihr Bruder, sie zu töten. Seref, Ehestifter wider Willen, hilft Sibel, nach Istanbul zu entkommen. Dort findet sie Arbeit in einem Hotel, in dem ihre Cousine Selma als Managerin angestellt ist. Überfordert von der Routine des Arbeitsalltags im Hotel, stürzt sie ab und taucht in der Drogenszene unter. Sie wird von ihrem Drogendealer vergewaltigt und anschließend von drei Männern, die sie wiederholt provoziert, fast getötet.Als Cahit Sibel nach seiner Haftentlassung in Istanbul aufsucht, hat sie ihr Leben neu geordnet und lebt in einer Beziehung mit Mann und Tochter. Cahit und Sibel verbringen zwei gemeinsame Tage und Nächte in einem Hotel. Cahit wünscht sich, dass Sibel mit ihrer Tochter mit ihm fortgeht. Sie verabreden sich am Busbahnhof, um von dort aus in Cahits Heimat, die Hafenstadt Mersin, aufzubrechen und dort ein neues Leben zu beginnen. Doch Sibel erscheint nicht und Cahit fährt allein los. Thematisch inszeniert Gegen die Wand die speziellen Probleme von Immigranten der zweiten oder dritten Generation in Deutschland. Gefangen zwischen ihrem traditionsbewussten türkischen Elternhaus und den verführerischen Versprechungen der modernen westlichen Konsumgesellschaft, steht Sibel stellvertretend für eine ganze Generation junger Türkinnen. Cahit, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt, hat seine ethnischen Wurzeln fast verloren: Er spricht nur noch gebrochen türkisch und begegnet den Bräuchen seiner Kultur vor allem mit Ablehnung. Durch diesen Themenschwerpunkt etabliert sich Akin als Filmemacher unserer multikulturellen Gesellschaft. Mit schonungsloser Direktheit inszeniert
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er die selbstzerstörerischen Charaktere der beiden Protagonisten, die sich auf die Suche nach ihrer Identität begeben haben. So entsteht ein hochgradig intensiver, äußerst emotionaler Kinofilm (Helmke 2004).
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ (F60.31) Sibel und Cahit lernen sich in der Psychiatrie kennen. Sibel hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Cahit weist darauf hin, dass sie, um sich ernsthaft zu verletzten, die falsche Schnittrichtung gewählt hat.
R »So stirbt man nicht«, stellt er fest, »du musst senkrecht schneiden, nicht waagerecht – waagerecht ist Scheiße.« Suizidale Handlungen und Selbstverletzungen sind prominente Symptome einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung. Die in dieser Gruppe zusammengefassten Individuen zeichnen sich durch dramatisch-chaotisches Erleben mit einer Neigung zu impulsiven Verhalten und affektiver Instabilität aus. Die Literatur zu dieser Gruppe ist bunt und uneinheitlich, gelegentlich widersprüchlich und kontrovers (Ahrens 1997, S.208). In der Klassifikation gemäß ICD-10 (WHO 1993, S. 229 f.) zerfällt die Kategorie F60.3 in zwei Untergruppen, den impulsiven Typus (F60.30) und den Borderline-Typus (F60.31) (ICD10 WHO 1993, S.230). Das Klassifikationssystem zur Diagnose psychischer Störungen DSM-IV nennt als übergeordnete Definitionskriterien »ein tiefgreifendes Muster der Stimmungslabilität, der interpersonalen Beziehungen, des Selbstbildes und der Affekte sowie eine ausgeprägte Impulsivität« (American Psychiatric Association 1994, zit. bei Bateman u. Fonagy 2008, S.29). Der Protagonist des Films Cahit Tomruk soll hier als Fallbeispiel für einen Menschen mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom BorderlineTypus vorgestellt werden. Da seine Neigung zu impulsiven Affekt- und Gewaltausbrüchen für den Handlungsverlauf ganz wesentlich ist, seine Persönlichkeit differenzialdiagnostisch aber weniger dem impulsiven als dem BorderlineTypus entspricht (Ahrens 1997, S.209) bezieht sich die Autorin in der »Diagnostik« auf die Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) nach DSM-IV. Diese bezieht Impulsivität als Kriterium mit ein.
Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) nach DSM-IV Nach DSM-IV müssen mindestens fünf der folgenden Kriterien erfüllt sein: E Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Erläuterung: Die Fähigkeit, allein sein zu können, ist von der inneren Sicherheit abhängig. Dabei spielt die Fähigkeit eine Rolle, die nicht anwesende Person »im Herzen zu tragen«. Gelingt die Ausbildung dieser inneren Objekte nicht, stellt sich ein Gefühl der Einsamkeit ein. E Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. Erläuterung: Beziehungen folgen immer einer Dialektik und einer Abfolge von Widersprüchen. Damit wird die Lebendigkeit der Bindung erhalten. Stabilität und Kontinuität von Bindungen ist von der Akzeptanz dieser Dialektik abhängig. E Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.Erläuterung: Die Identität ist eng verbunden mit dem Selbstbild. Das Selbstbild setzt sich aus einer Stellungnahme (so bin ich) und einer Bezugnahme (im Verhältnis zu anderen) zusammen. Ein Gefühl der Sicherheit (Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen) ist Grundlage dafür, dass Entwicklung stattfinden kann. E Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (z.B. Sexualität, Geldausgaben, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, »Fressanfälle« etc.).
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Erläuterung: Die Psyche produziert fortlaufend Impulse, die zum Teil auch kontrolliert und abgewehrt werden müssen. Gefährliche Impulshandlungen haben eine hohe Wahrscheinlichkeit wieder aufzutreten, wenn durch sie der Abbau innerer Spannungen gelingt, etwa durch Substanzmissbrauch. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen, Selbstverletzungen. Erläuterung: Suizidgedanken und suizidale Handlungen drängen sich besonders in Stresssituationen passiv auf. Sie heften sich an die inneren Spannungszustände und sich mit der Vorstellung verbunden, dass dieser Spannung nur durch den Suizid entgangen werden kann. Ähnliches gilt für selbstverletzendes Verhalten. Die Selbstverletzungen sind weniger mit dem Erleben von Schmerzen als mit einem Gefühl der Erleichterung verbunden. Affektive Instabilität in Folge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung. Beispiel: »Ich fühle mich schnell angegriffen, selbst bei Lappalien, und werde aggressiv. Ich habe kein Ziel für mein Leben und wäre oft lieber tot. Ich habe schlimme ‚seelische‘ Schmerzen, dass ich denke, ich kann nicht mehr; will dann nur noch, dass es vorbeigeht und endlich aufhört.« Chronische Gefühle von Leere. Erläuterung: Erleben resultiert immer aus inneren und äußeren Reizen. Sie erzeugen Erinnerungen, die aber auch an Emotionen gekoppelt sind, die häufig auch negativ sind. Um sich davor zu schützen, schalten die Betroffenen die inneren Reize aus und werden damit umso abhängiger von äußeren Reizen. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren. Erläuterung: In der ICD-10 wird diese Form der Impulsivität als eigenständiges Problem gesehen. Emotionen haben den Charakter von Grundeinstellungen und Ergebniserwartungen. Sie helfen, auf Situationen angemessen zu reagieren. Sind sie nicht passend und unangemessen, folgen erhebliche Störungen in den sozialen Beziehungen. Durch Belastungen ausgelöste, vorübergehende paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome. Erläuterung: Die BPS ist sicherlich keine Variante der paranoiden Psychose. Trotzdem treten paranoide Symptome auf. Einfache Formen solchen Denkens sind etwa Ideen wie »Alle haben etwas gegen mich«, »Ich werde von den anderen sehr kritisch beobachtet«, »Die anderen wollen mir Übles; sie verfolgen mich«. Dissoziative Symptome sind mit Einschränkungen als Tagträume zu umschreiben. Dabei kann die Realitätskontrolle vorübergehend abhandenkommen.
Begleiterkrankungen: Die BPS tritt häufig in Zusammenhang mit anderen psychischen Erkrankungen auf, etwa Essstörungen, Depressionen, Störungen der Sexualität, Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen. Einige dieser Krankheiten entstehen als Folge der BPS (z.B. depressive Symptome) oder sind als Bewältigungsversuche zu verstehen (z.B. Essstörungen oder Substanzmittelmissbrauch), doch verstärken sie die Probleme der Betroffenen (Psychiatrienetz 2009). Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass die Bezugspersonen von Menschen mit BPS häufig unfähig sind, eine Beziehung herzustellen. Dadurch kann sich – weil der Kontext des gelingenden Spiegelns fehlt – bei den Betroffenen keine Wahrnehmung des Selbst als psychische Entität entwickeln. Da diese Menschen ihre Selbstzustände nicht als psychische Zustände fühlen können, sind sie gezwungen, das Selbst über die Aktion im Außen (Inszenierungen) zu erfahren. Gedanken, Gefühle und auch Konflikte werden auf der körperlichen Ebene, durch Gewalt gegen den eigenen Körper oder gegen andere Menschen ausgedrückt und bewältigt (Bateman u. Fonagy 2008, S. 143). Weil von den neun BPS-Kriterien lediglich fünf erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu rechtfertigen, sind nicht weniger als 151 unterschiedliche Kombinationen denkbar (Bateman u. Fonagy 2008, S.30). Neben den oben erläuterten Kriterien findet sich bei Menschen mit einer Borderline-Persön-
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lichkeit eine hohe Regressionsanfälligkeit und die Verwendung primitiver Abwehrmechanismen (Bateman u. Fonagy 2008, S.30; zur Thematik »Regression u. primitive Abwehrmechanismen bei schweren Persönlichkeitsstörungen« vgl. Kernberg 1989). Aufgrund der großen Heterogenität der Erkrankung gibt es die »typische« Borderline-Persönlichkeit nicht (Springer-Kremser u. Schuster 2008). Umso interessanter ist die Analyse des Einzelfalls.
Cahit Tomruk In mehreren Filmszenen »rastet« Cahit Tomruk völlig aus. Der Zuschauer wird so auf Merkmale seiner Persönlichkeit aufmerksam – ein hohes Maß an Impulsivität und an unangemessen großer Wut –, die zu Nikos Tod führen. Bereits in der Eingangsszene stößt Cahit auf ähnliche Weise einen Kneipenbesucher vom Stuhl und prügelt auf ihn ein, als dieser ihn als schwul bezeichnet (7 Kriterium8). Er wird ausgerechnet von Niko, der in der Kneipe kellnert, gestoppt und aus dem Lokal geworfen. Statt nun wiederum auf Niko einzuschlagen, wendet Cahit die Aggression gegen sich selbst und rast in der Folgeszene mit dem Auto gegen die Wand (7 Kriterium5). Diese Szenen zeigen, dass bei einer BPS Aggression und Autoaggression zwei Seiten derselben Medaille sein können. Als Sibel am Abend ihrer Hochzeit Cahit nach dem Namen seiner ersten Frau fragt, explodiert er für Sibel und die Zuschauer völlig überraschend (7 Kriterium8). Sibels Nachfragen konfrontiert Cahit mit seiner Erfahrung, dass der Tod seiner Frau ihn auf sich selbst zurückgeworfen und »mutterseelenallein« zurückgelassen hat (7 Kriterium1). Es ist ihm nicht möglich, positive innere Objekte zu bilden, oder positive Erinnerungen und Übergangsobjekte zu Hilfe zu nehmen, um seine Frau zu betrauern und sich schließlich zu trösten. Da er die resultierende Einsamkeit und innere Leere zu verdrängen sucht, löst Sibels Frage so etwas wie »Signalangst« in ihm aus. Das Trauma droht sich zu reinszenieren (Hirsch 2004). Entsprechend reagiert Cahit mit heftiger Zurückweisung auf Sibels Frage (7 Kriterien6 und 7). Der Film erlaubt keine Einblicke in frühe Bindungserfahrungen des Protagonisten oder Erkenntnisse über die Gründe, warum er seine Heimatstadt Mersin verlassen hat. Cahit gibt an, dass seine Eltern tot sind und eine Schwester in Deutschland lebt. Wir können allerdings vermuten, dass der Tod seiner Frau eine Retraumatisierung darstellt. Die Forschung dokumentiert, dass Menschen mit einer BPS in erheblichem Umfang traumatisierende Missbrauchs- und Verlusterfahrungen mit »bedeutsamen Anderen« (wichtigen Bezugspersonen) erlebt haben (Bateman u. Fonagy 2008, S.59f.; Hirsch 2004). Die Beziehung zu seiner jungen deutschen Frau, einer Malerin, nutzt Cahit, um seine Muttersprache »wegzuwerfen« und seine kulturelle Herkunft zu vergessen (7 Kriterium2). Auch nach dem Tod seiner Frau hält er Distanz zu türkischen Traditionen. Er entwertet seine Landsleute (und damit gleichzeitig sich selbst, wie Sibel ihm sagt), wenn er verächtlich von »Scheißtürken« und »Kanaken« spricht. Die Verleugnung seiner persönlichen Biografie und kulturellen Herkunft bezahlt er mit einer ausgeprägten und andauernden Instabilität des Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung ( 7 Kriterium3). Aus objektbeziehungstheoretischer Perspektive nutzt er Alkohol und Drogen, um abgespaltene, nur gute Selbst- und Objektvorstellungen zu aktivieren und gleichzeitig nur böse oder schlechte verinnerlichte Objektbeziehungen zu verleugnen. So gelingt vorübergehend die Flucht vor unerträglichen Schuldgefühlen, die Cahit in Bezug auf den Tod seiner Eltern oder seiner Frau haben könnte, und vor demGefühl innerer Verfolgung (7 Kriterium9)
1 Kernberg differenziert die Funktion der Droge bei unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen: Bei Depressiven bewirkt das Hochgefühl die Versöhnung und Wiedervereinigung mit dem verlorenen, verurteilenden, aber letztendlich verzeihenden Objekt, bei narzisstischen Persönlichkeiten werden Alkohol oder Drogen genutzt, um das pathologische Größen-Selbst wieder aufzutanken und um sich dessen Omnipotenz- und Schutzfunktion zu versichern, bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen soll letztendlich ein Gefühl des Nur-Gutseins erzeugt werden (Kernberg zit. bei Gasper u. Hadrich 2007, S. 185).
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Migration und Psychodynamik Cahit und auch Sibel greifen immer wieder auf selbst schädigende Mittel zurück, wie Alkohol, Drogen oder promiskuitives Verhalten; sie wenden Gewalt an gegen Sachgegenstände, den eigenen Körper oder den anderen (7 Kriterium4). Mit diesem Verhalten brechen sie permanent die »Gebote« der türkischislamischen Kultur. Auf der Suche nach ihrer persönlichen Identität scheint es zunächst zwingend notwendig, sich von den Normen und Werten ihrer Herkunftskultur radikal zu entfernen (7 Kriterium3). Sibel will ihrer traditionellen türkischen Familie entfliehen. Die Mitglieder werden als »(stereo-) typische« Angehörige einer »kalten« Gesellschaft skizziert (Levi-Strauss zit. bei Erdheim 1988, S.289). Ziel einer kalten Gesellschaft ist die Nicht-Veränderung, was sich besonders in der Adoleszenz (Jugendliche bis zum jungen Erwachsenenalter) destruktiv auswirkt. Oberstes Gebot ist die Wahrung und Pflege der Traditionen. Überspitzt gesagt: »Kalte Gesellschaften« sind darum bemüht, gegen jede Veränderung ihrer Struktur verzweifelt Widerstand zu leisten, während »heiße Gesellschaften« wie die westlichen Industriegesellschaften ein gieriges Bedürfnis nach Entwicklung und Veränderung haben (Levi-Strauß zit. bei Machleidt 2007, S.19). Die Migrationsforschung zeigt, dass die Spannung zwischen zwei so unterschiedlichen Kulturen bei den Migranten in den Westen sowohl Eu-Stress als auch Dis-Stress hervorruft. Es treten »große Gefühle« auf, etwa Begehren, Unersättlichkeit, Faszination und Euphorie in Bezug auf alles Neue. Aber nicht nur die positiven großen Gefühle und Affekte müssen ausgehalten und bewältigt werden. Auch negative Empfindungen wie existenzielle Ängste vor dem Scheitern, vor Identitäts- bis hin zu SelbstVerlusten und tiefe Trauer gilt es zu meistern. Die Anfälligkeit für Stresserkrankungen, funktionelle und psychosomatische Störungen sowie Suchtverhalten nimmt in der ersten Generation der Migranten, besonders aber in der zweiten Generation deutlich zu. Regressive Abschottungsprozesse und Abwertung gehen einher mit heftiger Idealisierung der Herkunfts- oder Aufnahmekultur im Sinne einer Spaltung. Bei entsprechender Disposition kann es zu massiven Störungen des psychischen Gleichgewichts kommen. Diese Phase im Migrationsprozess ist verbunden mit einer erhöhten Vulnerabilität für psychische Fehlverarbeitungen und Traumatisierungen sowie für die Aktualisierung latenter neurotischer oder psychotischer Persönlichkeitsanteile (Machleidt 2007).
Repräsentanz eines fremden Selbst Identitätsbildung geht von der frühesten Beziehung zwischen Säugling und Mutter aus, insbesondere von Momenten, in denen intensive Affekte, die entweder lustvoll oder quälend sein können, das Erleben des Kindes bestimmen. Die Erinnerungsspuren, die sich so bilden, enthalten Kernschemata einer Interaktion zwischen der Selbstrepräsentanz des Kindes und der Objektrepräsentanz der Mutter unter dem Vorzeichen eines lustvollen oder eines unangenehmen Affekts. Infolgedessen bauen sich intrapsychisch zwei parallele, anfangs voneinander getrennte Stränge von Repräsentanzen auf, die mit positiven und negativen Affektdispositionen gekoppelt sind. Diese entweder »nur guten« oder »nur bösen« Repräsentanzen von Selbst und Objekt werden schließlich zu einer Repräsentanz des ganzen Selbst und zu einer umfassenden Repräsentanz bedeutsamer Bezugspersonen zusammengefügt (Kernberg 1998, S.29). Gelingt dieser Integrationsprozess nicht, entwickelt sich z. B. eine BPS. Wenn das Kind in der Mutter kein Gegenüber hat, das es angemessen spiegelt, kann es keine Version seines eigenen Erlebens internalisieren. Das Kind verinnerlicht stattdessen Repräsentationen des Zustands der Bezugsperson, auch in Bezug auf deren lustvolle und quälende Affekte. Das Selbst des Kindes wird von dem Bild kolonialisiert, das die Bezugsperson von ihm hat. Weil das fremde Selbst als Selbstanteil empfunden wird, zerstört es das Gefühl der Selbstkohärenz oder Identität, das dann nur durch ständige und intensive Projektionen wiederhergestellt werden kann (Bateman u. Fonagy 2008, S.149).
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Der Film sagt nichts darüber, wie Cahits inkohärentes Selbstgefühl entstanden ist, wer seine primären Bezugspersonen waren und welche frühen Beziehungserfahrungen er gemacht hat. Akin setzt diese defizitäre Bindungserfahrung bei Cahit in Szene, indem er dessen fremdes Selbst in seiner Beziehung zu seinem Herkunftsland, der Türkei verankert. Cahit verhält sich so, als habe ihn die Kultur des eigenen Landes – verstanden als primäres kollektives Objekt (West-Leuer 2009a) – inakkurat gespiegelt . Eine solche unmarkierte oder mangelnde Spiegelung zeigt sich symbolisch an seinem Namen. Der Psychiater in der Klinik möchte mit ihm über die »blumige« Bedeutung seines Namens sprechen. Cahit verweigert unvermittelt und brüsk jede Auskunft. Eine Recherche der Autorin ergibt: »Cahit« ist im türkischen Wörterbuch nicht zu finden, kommt aus dem Arabischen und bezeichnet einen Soldaten des Cihad . »Tomruk« findet man im türkischen Wörterbuch und bedeutet »Klotz« und »Block«. Frühe Identifizierungen werden sprachlich internalisiert. Die Muttersprache ist der Zugangsweg zu Fantasien und Symbolen und der zentrale Organisator der Psyche. Wortvorstellungen vermitteln zwischen kognitiven und affektiven Zuständen. Sprache ist die Brücke zwischen dem Ich und vorbewusst gespeicherten Erinnerungen und Erfahrungen (Kohte-Meyer 2009, S.149). An Cahits Namen zeigt sich, wie der Prozess der Kolonialisierung seines Selbst durch »kalte« Repräsentanzen des Herkunftslandes funktioniert. Er verhält sich – aufgrund einer verdrängten Zuschreibung oder eines »exkommunizierten Klischees« (Lorenzer 1973) – wie ein »militanter Klotz«, und fühlt sich gleichzeitig partiell fremd. Daneben bestehen auch die verdrängten, primitiven Idealisierungen weiter fort. Sie zeigen sich in der Beziehung zu Sibel, wenn sie türkische Traditionen in ihre Wohngemeinschaft einführt. »Nur gute« und »nur böse« Beziehungsrepräsentanzen stehen unintegriert nebeneinander (Kernberg 1998, S.66). Die »Migrationskultur«, die Cahits Selbst kolonialisiert hat, steht aufgrund einer frühen primärprozesshaften Verankerung im Zentrum seiner Identität und seiner Identitätsstörung. Sie wird zu einem externen verfolgenden Objekt, wenn Cahit im Tanzklub von anderen Türken zusammengeschlagen wird, weil sie ihn als Penner verachten und nicht als Mitglied ihrer Ethnie akzeptieren. Er fungiert als »Sündenbock«, auf den die anderen die negativen Aspekte ihrer türkischen Herkunft projizieren, um diese loszuwerden. Kulturelle Vergangenheit und türkische Traditionen entfalten innerpsychisch und interpersonell Wirksamkeit, egal wie sehr Cahit sich ihrer zu entledigen versucht.
Kernschmelze In der bindungstheoretischen Literatur umfasst das Kernselbst ein sensomotorisches Schema, das anders als das psychoanalytische Körper-Ich, affektive Züge mit einschließt (Stern 1992, S.47). Im Film erscheint Sibel zunächst als die psychisch stabilere. In ihrer Geschichte inszeniert sich das Bindungsdilemma vieler türkischer Frauen der zweiten Migrationsgeneration. Der Film zeigt in mehreren Szenen eine starke Mutter-Tochter-Solidarität, die sich aus der Einschränkung der Autonomie der Frauen in der türkischen Kultur ergibt (Erim 2009). Als Folge verzichtet die Tochter häufig auf eigene Separa-
2 Wie konsequent die deutsche Kultur ein fremdes »ausstoßendes« Selbst in deusch-jüdischen Künstlern verankerte, und welche Ambivalenz sich in Folge bei den Betroffenen gegenüber der Muttersprache entwickelte, zeigt Troller (2009) in seinem Essay über Sprache und Emigration: »Der aus seiner Sprache Verbannte konnte sie nicht mehr nach sich befragen. Er geriet in eine Freiheit, die grenzenlos war. Doch diese Freiheit war verwirrend. Nichts von dem, was er begonnen hatte, konnte fortgesetzt werden« (Peter Weiss, zit. bei Troller). »Aber dazu kommt ja noch das Problem: Durfte man denn weiter dichten in der Sprache seiner Vertreiber, seiner Mörder? Mußte man nicht? Mußte man nicht die Sprache in die Pflicht nehmen auch dazu?« (S. 94). 3 Cihat(d) kommt aus dem Arabischem und bedeutet; bemühend, anstrebend. Im Koran »geh zur Front auf dem Weg zu Allah«. Nicht nur der Kampf ist gemeint; es gilt etwas für Allah zu tun, um den anderen zu überzeugen. Im fanatischen Milieu steht der Name aber auch für den Soldat im Cihad mit der Aufforderung: Wenn nötig, töte, um vom Islam zu überzeugen. Quelle: Ansiklopedik isim Sözlügü von Abdurrahman Dilipak. Semra Babal-Koruogullari, E-Mail-Mitteilung 23.11.2009.
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tionswünsche, zugunsten der Beziehung zur Mutter, die ihr Leben wenig gelebt hat. Für Sibel steht sexuelle Freiheit, zusammen mit Drogen und Alkohol, für die westliche Kultur. Sie möchte an diesen Aspekten der westlichen Gesellschaft partizipieren, ohne die reale Mutter zu kränken, oder die guten Aspekte der internalisierten Mutterrepräsentanz aufzugeben. Die traditionelle »Als-Ob-Ehe« erscheint wie ein ideales Konstrukt, um beides zu erhalten. Doch Sibel täuscht sich über ihre Motivation: Sie wählt Cahit, weil sie so verdrängen kann, dass sie sich unbewusst wünscht, »eine verheiratete türkische Frau« zu sein, weil ihr dies mit der westlichen Kultur unverträglich erscheint. Darüber hinaus sucht und vermutet Sibel in Cahit die männliche Version des eigenen Selbst. Statt den anderen in seinem Anderssein zu unterstützen und zu fördern, und in der Beziehung – im Wissen um das letztendliche Getrenntsein – zwischen Nähe und Distanz, Fusion und Separation hin und her zu wechseln, besteht eine unbewusste Sehnsucht nach »psychischer Kernschmelze« (West-Leuer 2009b). Die »Kernschmelze«, die die Trennung vom idealisierten Objekt rückgängig macht, wird durch die körperliche Vereinigung im Orgasmus unwiderruflich hergestellt – so ihre unbewusste Illusion. Mit Sibels bewusstem Konstrukt einer Ehe ohne Sexualität scheint die Gefahr einer solchen unkontrollierbaren Folge – die unwiderrufliche Verschmelzung mit Cahit – erst einmal gebannt. Sibel kann Cahit wie ein gutes mütterliches Objekt versorgen und gibt ihm neuen Halt. Sie richtet die Wohnung her, schneidet ihm die Haare, schickt ihn zum Duschen und kocht türkisch. Dabei achten beide darauf, Wohngemeinschaft und Sexualität strikt getrennt zu halten. Wie zunehmend prekär diese situative Trennung ist, zeigt sich z. B., wenn Sibel ihrem Mann die Haare schneidet. Sie nähert sich ihm und berührt ihn fast mit ihrer Brust und Achselhöhle; als sie aber merkt, dass Cahit ihren Geruch wahrnimmt und genießt, geht sie abrupt auf Distanz. Schrittweise weckt Sibel so Cahits abgespaltene Sehnsucht und sein Verlangen nach einem erotisierten idealisierten Objekt türkischer Tradition.
Sexualität vs (pathologische) Liebe Wenn Cahit mit seiner deutschen Freundin Maren schläft, stehen sadomasochistische Rituale im Vordergrund. In wechselnden Rollen scheint die einzige Alternative zur totalen Unterwerfung unter ein sadistisches Objekt im Streben nach Dominanz zu liegen, das die eigene Sicherheit gewährleistet. Die Sexualität von Cahit und Maren besteht aus regressiven Fixierungen auf abgespaltene frühe symbiotische Erfahrungen mit erogenen Zonen und idealisierten Körperoberflächen – Fixierungen, die die Unfähigkeit kompensieren, eine stabile Liebesbeziehung und Kontinuität in der Beziehung aufzubauen. Die Idealisierung reicht nur aus, um ein rein sexuelles Interesse zu erzeugen, eine Idealisierung von Körperteilen, die sich nicht zur Idealisierung des gesamten Menschen ausweitet (Kernberg 1998, S.107f). Cahit und Sibel sind sich einig: »Maren hat einen geilen Arsch« Dies ist in der Tat eine wunderbare dramaturgische Verschiebung, denn den »geilsten Arsch« im Film hat Sibel Kekilli alias Sibel Güner. Nachdem Cahit von den anderen Türken im Tanzklub zusammengeschlagen wurde, versorgt Sibel seine Wunden. Dabei stellt sie fest, dass sie so gut wie nichts über ihn weiß, und er antwortet:
R »Dann lern‘ mich doch kennen!« So kommt zum ersten Mal seine Suche nach menschlicher Nähe zum Vorschein. Als sie anschließend miteinander schlafen, will Sibel vor dem Orgasmus die Reißlinie ziehen:
R »Ich kann‘s nicht. Wenn wir das tun, bin ich deine Frau und du mein Mann, verstehst du?« So versucht sie, ihre Beziehung vor der Destruktivität der unbewusst herbeigeführten »Kernschmelze« zu schützen. Wenn sie miteinander schlafen, sind sie als Mann und Frau der Kultur ihres Herkunfts-
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. Abb. 2 »Wenn wir das tun, bin ich deine Frau und du mein Mann, verstehst du?« – Szene mit Sibel Kekilli und Birol Ünel, Quelle: Timebandits/Cinetext
landes ausgeliefert, die sie teilweise als fremde, teilweise als authentische Selbstrepräsentanz verankert haben (. Abb. 2). Diese Herkunftsgesellschaft wird sich – im Sinne eines malignen Über-Ichs – dafür rächen, dass sich Sibel und Cahit von den Geboten ihrer Kultur entfernt und alle möglichen Verbote übertreten haben. Doch es ist zu spät. In ihrer Liebesbeziehung kollidieren tief voneinander abgespaltene idealisierte und verfolgende Aspekte und verschmelzen zu einer verführerischen, aber fremden »Zwillingsrepräsentanz«. In dieser Kollision kann es den beiden Protagonisten nicht gelingen, das jeweils eigene autonome Kernselbst zu bewahren (Kernberg 1998, S.108).
Externalisierung von Destruktivität und Zerstörung Die gemeinsam erlebte Intimität erzeugt in Cahit eine heftige Erregung, die er bei einem Besuch im Kulturzentrum »abzuführen« versucht. Neben Alkohol und Drogen sollen Schmerzen regulierend wirken. So zerschlägt er ein Bierglas, um seinem Freund zu demonstrieren, was mit ihm los ist; die Glassplitter dringen tief in Hände und Arme. Die Schmerzen im Außen und die Erregung im Innen lassen ihn einen ekstatischen Rausch erleben. Die Verliebtheit führt zur Wiederbelebung primitiver Idealisierungen, während gleichzeitig Destruktion und Verfolgungserfahrungen mit dem kulturellen fremden Selbst, verkörpert durch die Herkunftsgesellschaft, verdrängt werden. Als Sibel nun erfährt, dass Maren gelegentlich mit Cahit »fickt«, reagiert sie eifersüchtig: Cahit ist nun »ihr Mann«. Emotional aufgeladen, schreit sie Niko an, sie sei eine verheiratete türkische Frau und droht ihm, ihr Mann werde ihn tot schlagen, falls er sie nicht in Ruhe lasse. Sie provoziert so die Katastrophe des Ehrenmordes. Denn Niko fühlt sich zurückgewiesen und provoziert Cahit, indem er ihm 50Euro bietet, um mit Sibel Analsex praktizieren zu können: »Ich will eine Türkin griechisch ficken.« Daraufhin schlägt Cahit Nikos Stuhl unter ihm weg und bewirkt so einen tödlichen Unfall. Cahit unterwirft sich intuitiv dem Anspruch seines türkischen fremden Selbst, die Ehre seiner Frau zu schützen (Hartkamp 2009, S.257).
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Und fänden die Liebe nicht …
In ihrer Sehnsucht nach einer idealisierten Beziehung haben Cahit und Sibel unabsichtlich eine Situation produziert, in der ein Verfolger in der Außenwelt »erzeugt« werden muss, auf den die eigene Destruktivität projiziert werden kann. Eine Möglichkeit, die Bedrohung durch das böse »Selbst im Selbst« zu bewältigen, besteht darin, dieses auf einen externen Aggressor zu übertragen. Cahits Gewaltakt geschieht nicht in blinder Wut, sondern ist ein verzweifelter Versuch, die fragile Liebesbeziehung vor anbrandender Scham zu schützen. Das Gefühl der Demütigung, das Nikos Beleidigung in Cahit auslöst, belebt das böse fremde Selbst. Es verführt Cahit dazu, sich mit der Verachtung des Angreifers zu identifizieren, und stellt so eine existenzielle Bedrohung für die gerade aufkeimende Liebesbeziehung zwischen Cahit und Sibel dar. Das böse fremde Selbst muss augenblicklich externalisiert werden. Niko löst die Bedrohung aus und bietet sich gleichzeitig als ein Täter in der Außenwelt an, auf den das böse »Selbst im Selbst« projiziert werden kann. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, das fremde Selbst auf einen Kulturfremden zu projizieren und mit ihm ein für alle Mal zu zerstören. In diesem Sinne ist die Gewalttat eine Geste der Hoffnung, ein Wunsch nach einem Neubeginn, selbst wenn sie in der Realität einen tragischen Endpunkt markiert (Bateman u. Fonagy 2008, S. 168).
Rückkehr als Chance Es gelingt Sibel nicht, auf Cahit zu warten. Mithilfe von Seref, dessen Name – ganz anders als Cahits Name – seine Ehrbarkeit unterstreicht (Hartkamp 2009), gelingt Sibel die Flucht nach Istanbul. Dadurch entgeht sie dem Ehrenmord durch ihren Bruder; doch unbewusst sucht sie den Tod. Auf dem Tiefpunkt ihrer Selbstachtung lässt sie sich – als eine Art Wiedergutmachung – »griechisch ficken«. Sie ist zu einer Hure geworden, so wie Niko es ihr unterstellt hat. Anschließend versucht sie, sich zu opfern, damit das Leid ihrer Familie gesühnt und die Ehre wiederhergestellt wird. Sie provoziert drei männliche Passanten, die sie fast erschlagen. Erst danach kommt das verfolgende fremde Selbst zur Ruhe. Nach Cahits Haftentlassung wird sie für zwei Tage in einem Hotel in Istanbul »seine Frau« und löst so ihr Versprechen ein. Der Film endet mit der Trennung von Cahit und Sibel, eine Trennung, die nicht auf einer tragischen Entzweiung oder schuldhaften Verstrickung, sondern auf einer bewussten Entscheidung beruht. Sie übernehmen Verantwortung für sich selbst, den anderen und ihre Beziehung. Trennung ist zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, das gerade errungene labile psychische Gleichgewicht nicht zu gefährden. Dieses neue psychische Gleichgewicht wird symbolisiert durch beider Abstinenz von Alkohol- und Drogenkonsum, den Ausstieg aus promiskuitiven sexuellen Praktiken und den Verzicht auf aktiv selbstschädigendes Verhalten. Cahits Akzeptanz seiner realen Schuld – der Tötung eines äußeren Fremden – hat die inneren Verfolger zur Ruhe kommen lassen. Vor seiner Liebesbeziehung mit Sibel war er psychisch tot; jetzt ist er auf der Suche nach sich selbst. Bis zu einer gelungenen intrapsychischen Konfliktverarbeitung ist es allerdings noch ein langer Weg. Dieser führt ihn zunächst zurück nach Mersin, seine Heimatstadt. Zum Schluss: Auf einem Kongress in Istanbul sagt Fatih Akin, er habe in Gegen die Wand wenig über die türkisch-deutsche Migrationskultur, schon eher etwas über die Präsenz von Gewalt in randständigen Subkulturen, im Wesentlichen aber Autobiografisches inszeniert (Hartkamp, mündliche Mitteilung 2007). Sollte dies zutreffen, dann finden wir Akins autobiografisches Material vermutlich in der »selbstironischen Inszenierung des Protagonisten im Film« Birol Ünel erinnert in seiner wunderbaren schauspielerischen Verkörperung des Cahit mehr als einmal an Don Quijote, der sich auf Anregung seines Knappen den Übernamen »Der Ritter von der traurigen Gestalt« gibt. Und als solcher kehrt Don Quijote übel zugerichtet auf dem Ochsenkarren in sein Heim zurück, wo er schließlich, desillusioniert vom Rittertum, stirbt. Dieses Schicksal mag Fatih Akin antizipieren oder fantasieren. Die Realität einer integrierten bikulturellen Identität ist zum Glück eine andere.
277 Gegen die Wand – Cahit Tomruk (Birol Ünel)
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Und fänden die Liebe nicht …
Originaltitel
Gegen die Wand
Erscheinungsjahr
2004
Land
Deutschland
Drehbuch
Fatih Akin
Regie
Fatih Akin
Hauptdarsteller
Birol Ünel (Cahit Tomruk), Sibel Kekilli (Sibel Güner)
Verfügbarkeit
DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Stephan Doering
Was ich will ist – Magie! Histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Polarisierung in der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Sex – das Schlachtfeld der Geschlechter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Künstler und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Das wollte ich hören, ein Kompliment von Ihnen! . . . . . . . . . . . . 288 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
22
Filmplakat A Streetcar Named Desire (deutscher Titel: Endstation Sehnsucht), USA 1951 Quelle: Cinetext
281
Endstation Sehnsucht Blanche Du Bois (Vivian Leigh)
Die Handlung R Blanche: »Ist es ihre Absicht, mich zu beleidigen?« Mitch: »Nein, aber ich liebe die Wahrheit.« Blanche: »Ich will nicht die Wahrheit, ich will Magie …« Mitch: »… Magie …« Blanche: »… ja, ja, Magie. Verzaubern will ich die Menschen, darum stelle ich oft Dinge anders dar – nicht wie sie sind, sondern so wie sie sein sollten.« – … Mitch: »Sie haben mich belogen, Blanche.« Blanche: »Sagen Sie das nicht, Mitch!« Mitch: »Lügen, Lügen, innen und außen, alles Lügen!« Blanche: »Nicht innen! In meinem Herzen habe ich nie gelogen!« Auf diese Weise zerplatzt die Hoffnung, dass Mitch, der Ersehnte und zugleich Verachtete, Blanche doch noch zur Frau nehmen und ihr dadurch einen sicheren Hafen bieten würde. Zunächst hatte es anders ausgesehen: Mitch bemühte sich rührend und linkisch um Blanche, die sich ihm ehrbar, rein und etwas prüde präsentierte, seine ohnehin behutsamen Annäherungsversuche mit gespielter Entrüstung zurückwies. Erst als Mitch erfahren hatte, dass Blanche alles andere als prüde und rein, sondern mit vielen Männern intim gewesen war und schließlich wegen einer Affäre mit einem ihrer 17-jährigen Schüler ihren Job als Lehrerin verloren hatte, schlug seine Verehrung in Enttäuschung, Wut und Verachtung um. Blanche war gemeinsam mit ihrer Schwester Stella auf dem Gut Belle Rêve1 in den amerikanischen Südstaaten in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Während Stella rechtzeitig den Absprung schaffte und den polnischstämmigen Arbeiter Stanley heiratete, blieb Blanche auf dem Gut, bis die gesamte Familie gestorben und das Vermögen durchgebracht war. Unklar bleibt, ob es die »unpraktischen Großväter, Väter, Onkel und Brüder« waren, die »das Land Stück für Stück verschachert haben, für ihre patriarchalischen Hurereien« (wie es Blanche in Tennessee Williams’ Drama 2 (1947/2004) wesentlich expliziter formulieren konnte, als es im zensierten Film möglich war), oder ob es Blanche durch Ungeschick und Verschwendung versäumte zu retten, was noch zu retten war. Wir erhalten kaum Hinweise auf das familiäre Klima, in dem Blanche und Stella aufwuchsen, allerdings sagt Stella über ihre Schwester:
Französisch »schöner Traum«. 1 2 A Streetcar Named Desire (dt. Endstation Sehnsucht) von Tennessee Williams wurde 1947 als Theaterstück am Broadway uraufgeführt. Für den 1951 erschienenen Film schrieb Williams das Drehbuch, das sich in Details vom ursprünglichen Text unterscheidet. Hier und im Folgenden wird von »Drama« gesprochen bzw. die Referenz »Williams (1947/2004)« angegeben, wenn auf den vom Film abweichenden Text des Theaterstücks Bezug genommen wird.
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Was ich will ist – Magie !
R »Du hast Blanche als Mädchen nicht gekannt. Niemand war so zartfühlend und vertrauensvoll wie sie. Aber Menschen, wie du einer bist, haben sie missbraucht, und das hat sie gezwungen, anders zu werden!« Im Alter von 16 Jahren liebte Blanche einen Jungen namens Allen, den sie heiratete und bald darauf mit einem älteren Mann im Bett erwischte. Was im Film dank der Zensur nur vage angedeutet wird, ist dem Drama zu entnehmen: Alle drei Beteiligten verließen die In-flagranti-Szene und gingen gemeinsam tanzen, als ob nichts gewesen wäre. Blanche verlor beim Tanz dann doch die Fassung: »Ich weiß alles! Du ekelst mich an!« daraufhin verließ Allen den Saal und erschoss sich. Zeit ihres Lebens fühlte sich Blanche verantwortlich für den Tod ihres jungen Geliebten und wurde darüber hinaus von »flash backs« heimgesucht: Situationen, die sie an Allens Tod erinnern, lassen vor ihrem inneren Ohr die Musik – eine Polka, die »Varsouviana« – ablaufen, die zu ihrem letzten Tanz mit Allen gespielt wurde. Dramatischer Höhepunkt des unfreiwilligen inneren Wiedererlebens ist jedes Mal der Todesschuss. Nach Allens Tod, so Blanche, war »intimer Umgang mit Fremden« das Einzige, womit sie die Leere in ihrem Herzen habe ausfüllen können. Noch in Belle Rêve leistete sie den lüsternen Rufen halb betrunkener Soldaten Folge, indem sie sich hinter dem Haus mit ihnen traf; später empfing sie ihre Liebhaber in einem offenbar wenig angesehenen Hotel in der Stadt Laurel, Mississippi. Umstritten ist, ob Blanche von den Männern Geld genommen hat: Während z. B. Sievers (1955, S.378) davon überzeugt ist, dass Blanche als »Prostituierte in Laurel aus dem übelsten Hotel der Stadt geworfen« worden war, stand für Vivian Leigh – die erfolgreichste Blanche aller Zeiten – fest, dass sich Blanche niemals für ihre sexuellen Kontakte bezahlen ließ (Staggs 2005, S. 124f.). Nachdem Blanche im Alter von über dreißig3 wie erwähnt ihre Stelle und ihr Einkommen als Lehrerin in Laurel wegen einer Affäre mit einem Schüler verloren hatte, blieb als letzte Zuflucht ihre Schwester Stella im 220km südlich gelegenen New Orleans. In einem nicht genannten Jahr der 1940er trifft Blanche bei Stella und Stanley Kowalski in New Orleans ein, um sich dort »Frühjahr, Sommer und bei Herbstbeginn« (Williams 1947/2004, S.5) aufzuhalten. Das Zusammenleben in der Zweizimmerwohnung der Kowalskis gestaltet sich von Beginn an schwierig. Zum einen ist Blanche in höchstem Maße anspruchsvoll (sie okkupiert das Badezimmer für häufige und ausgedehnte Bäder und nimmt wie selbstverständlich eines der beiden Zimmer in Beschlag), zum anderen verhält sie sich ihren Gastgebern gegenüber provokativ und herablassend. Sie kritisiert Stella
R »Aber du, mein Kind – du bist ein wenig voller geworden, ja, rund wie ein Täubchen!« deren Wohnverhältnisse
R »Nie, nie, nie, auch nicht in meinen schlimmsten Träumen, hätte ich mir das vorstellen können …« und ganz besonders immer wieder deren Ehemann, Stanley
3 Blanches Alter wird von Tennesse Williams nicht genannt. Wir erfahren jedoch, dass sie »ungefähr fünf Jahre älter als Stella« ist, und dass Stella bereits zehn Jahre zuvor Belle Rêve verlassen hatte. Geht man davon aus, dass Stella vermutlich nicht vor ihrem 18. Lebensjahr ihrem großbürgerlichen Elternhaus den Rücken kehren konnte, so müsste Blanche zur Zeit der Handlung mindestens 33 Jahre alt gewesen sein.
283 Endstation Sehnsucht – Blanche Du Bois (Vivian Leigh)
R »Er benimmt sich wie ein Tier, er hat die Gewohnheiten eines Tieres! Isst wie ein Tier, er bewegt sich wie ein Tier, er spricht wie eines! Er hat sogar etwas Untermenschliches, etwas, das das menschliche Niveau noch nicht erreicht hat!« Williams (1947/2004) schildert Stanley als einen sehr muskulösen, kräftig gebauten Mann, der in allen seinen Bewegungen und Stellungen eine »animalische Lebensfreude« verrät, und im Umgang mit Frauen »die überlegene Kraft und den Stolz eines Prachtexemplars von einem Hahn unter Hennen« zeigt. Stanley ist Blanche gegenüber von Beginn an misstrauisch und er reagiert sehr empfindlich auf ihre Überheblichkeit. Als er erfährt, dass das Familienvermögen (auf das er als Erbteil seiner Frau offenbar spekuliert hatte) verloren ist, wird seine Ablehnung Blanches immer deutlicher. Blanche hingegen scheint ambivalent: Immer wieder sucht sie – durchaus auf Stellas Kosten – den Flirt mit Stanley
R »Die arme Kleine [Stella] ist da draußen gestanden und hat uns zugehört, und ich habe die Idee, dass sie sie nicht so gut begreift wie ich …« und entwertet ihn gleichzeitig:
R »Sie sind ein schlichter Mann, geradeheraus und ehrlich, ein wenig nach der primitiven Seite hin, …« Die Katastrophe tritt ein, als Stanley in seiner Verärgerung Informationen über Blanches Vergangenheit in Laurel einholt (die er dann auch noch Mitch mitteilt) und darüber hinaus Blanche signalisiert, dass er sie so schnell wie möglich aus dem Haus haben will. Schließlich vergewaltigt Stanley Blanche als die beiden eine Nacht allein in der Wohnung verbringen müssen, da Stella in der Klinik ihr erstes Kind entbindet. Danach lebt Blanche in einer Fantasiewelt und bereitet sich darauf vor, mit einem reichen Freund eine Karibik-Kreuzfahrt anzutreten. Stella entschließt sich, Blanches Bericht von der Vergewaltigung nicht zu glauben und lässt sie stattdessen in eine psychiatrische Klinik einweisen.
Polarisierung in der Rezeption A Streetcar Named Desire (. Abb. 1) – von Tennessee Williams 1947 als Theaterstück publiziert – ist eines der epochalen und skandalösen Kunstwerke, wie es z. B. Manets Frühstück im Freien war: Tabus und menschliche Abgründe, die auch zuvor schon das Thema künstlerischer Auseinandersetzung waren, werden plötzlich ihrer traditionellen artifiziellen Brechung beraubt und in schockierend realistischer Weise präsentiert. Der unvorbereitete Rezipient verliert die schützende Distanz zum Stoff und sieht sich in das Geschehen hineingezogen: Er könnte selbst Teil einer Handlung sein, die in seiner eigenen Lebenswelt spielt. Bei Tennessee Williams’ Stück kommt noch hinzu, dass er auf die übliche Schwarz-Weiss-Logik verzichtet und offen lässt, wo Gut und Böse zu verorten sind. Wer sich mit welchem Protagonisten auch immer identifiziert (dessen man sich schwer entziehen kann), gerät unweigerlich in einen moralischen Zwiespalt. Das machte das Stück damals und auch heute noch schwer erträglich. Williams wusste um die Neigung seines Publikums, durch Vereinfachung und Verdrehung die moralische Ordnung wieder herzustellen und warnte seinen Regisseur Elia Kazan:
284
Was ich will ist – Magie !
R »Blanche is not an angel without a flaw … and Stanley is not evil. I know you’re used to clearly stated themes, but this play should not be loaded one way or the other«4 (Kazan 1988, S.346) Wie von Williams befürchtet war die Rezeption seines Stücks von Polarisierungen geprägt. Zwar war A Streetcar Named Desire als Theaterstück und ebenso als Film ein großer Erfolg – das Stück gewann den Pulitzer Preis, der Film vier Oscars –, in mehr oder weniger subtiler Weise wurden jedoch von den Interpreten und der Kritik »moralische Klarifizierungen« vollzogen, die vermutlich meist unbewusst unerträgliche Ambivalenz beseitigen sollten. Beispielhaft sind hier die Opfer, die bei der Verfilmung im Jahr 1951 der Zensur gebracht werden mussten. Nicht nur mussten »anstößige« Szenen herausgeschnitten werden (im Detail nachzulesen bei Staggs 2005, S.253ff.), sondern es musste bereits vorab der Schluss geändert werden. Während es im Theaterstück am Ende zu einer verstörenden Wiedervereinigung von Stella und Stanley kommt, wobei er die weinende Stella umarmt und »mit einer sinnlichen Zärtlichkeit, die etwas Wollüstiges hat« zu ihr spricht (Williams 1947/2004, S.150), erhält Stanley am Ende des Films die »gerechte Strafe« für sein Vergehen: Stella nimmt ihr Baby und flieht zu den Nachbarn:
R »Nein, nein, ich geh’ nicht mehr zu ihm zurück. Diesmal nicht – ich geh’ nicht zurück, niemals.« Während der Film dazu neigt, Blanche als (gutes) Opfer und Stanley als (bösen) Täter erscheinen zu lassen, gab es schon früh die umgekehrte – wohl eher männliche – Lesart. Sievers (1955) sah Blanche als Mädchen, gequält von sexuellen Ängsten und gefangen zwischen Es und Ich-Ideal, das Stanley unbewusst herausfordert, sie zu erobern (Sievers 1955, S.377). Ihre Tragik liege darin, dass sie unfähig sei, sexuelle Triebe und Sehnsucht nach Zärtlichkeit zu integrieren (S.380), was schließlich in ihre Schizophrenie gemündet sei. Hier ist Blanche zumindest unbewusst selbst Schuld an ihrem Schicksal, Stanley wird nicht unter moralischen Gesichtspunkten diskutiert, implizit erscheint er als instrumentalisierter Helfer, ausersehen, Blanches Schicksal zu vollenden. Der zeitgenössischen Kritik war es entsprechend dem herrschenden Zeitgeist wohl am liebsten, über Stanley nicht weiter nachdenken zu müssen und Blanche als das »böse Weib«, das lügt, betrügt, Ehen zerstört und sich prostituiert in der Psychiatrie eingesperrt zu wissen (Staggs 2005, S.123f.). Auseinandersetzen musste man sich mit ihr dann nicht mehr – schließlich war sie verrückt und daher nicht mit uns Zuschauern zu vergleichen. Nicht alle machten es sich so leicht. So schrieb Elia Kazan 1947 während seiner Tätigkeit als Theaterregisseur von A Streetcar Named Desire:
R »The more I work on Blanche, the less insane she seems«5 (zit nach Staggs 2005, S.118) Auch der Regisseur und Theaterkritiker Harold Clurman (dessen Frau Stella Adler übrigens Marlon Brandos wichtigste Lehrerin und phasenweise auch intime Freundin war) argumentierte ähnlich:
4 »Blanche ist kein makelloser Engel … und Stanley ist nicht böse. Ich weiß, dass Sie klar formulierte Themen gewohnt sind, aber dieses Stück sollte nicht in die eine oder andere Richtung polarisiert werden. Versuchen Sie nicht, die Dinge zu simplifizieren.« 5 »Je mehr ich an Blanche arbeite, umso weniger erscheint sie mir verrückt.«
285 Endstation Sehnsucht – Blanche Du Bois (Vivian Leigh)
R »Blanche is not insane when she is committed to the asylum. She is an almost willing victim of a world that has trapped her and in which she can find ‘peace’ only by accepting the verdict of her unfitness for ‘normal’ life«6 (zit nach Staggs 2005, S.123) Lässt man sich so weit auf die Protagonisten ein, entfaltet das Stück sein ganzes subversives Potenzial. Wir erkennen plötzlich, dass man nicht verrückt sein muss, um so zu empfinden und zu handeln wie Blanche und Stanley, und dass wir vielleicht alle mehr oder weniger ausgeprägte »Blanches« oder »Stanleys« in uns tragen. Befragt nach dem Sinn von A Streetcar Named Desire hat Tennessee Williams in einem Interview gesagt:
R »It means if you don’t watch out, the apes will take over«7 (Tennessee Williams zit. nach Griffies 2007, S.118)
Sex – das Schlachtfeld der Geschlechter In seiner luziden und drastischen Analyse sah Davis (1994) in Streetcar eine Infragestellung unser aller sexueller Identität. Blanche und Stanley repräsentierten wie niemand sonst die Grundstörung der Beziehung zwischen Mann und Frau: Männer wollen sein wie Stanley, Frauen wollen Männer wie Stanley, und alle haben Angst davor, sexuell zu versagen und allein zu bleiben. Vor diesem Hintergrund stellen »normale« respektvolle Beziehungen (wie z.B. Mitch sie anbietet) eine »Flucht in die Gesundheit« dar, die nur gelingt, wenn verborgene Sehnsüchte und Ängste verdrängt werden. Ein Ausweg aus diesem Dilemma sei nicht in Sicht. Für Davis sind Stanley und Blanche das perfekte Paar, da sie denselben Konflikt um ihre psychosexuelle Identität austragen (. Abb. 2). Beide sind zutiefst selbstunsicher, können sich nur stabilisieren indem sie Beziehungen sexualisieren, da sie sich auf diesem Schauplatz sicherer fühlen. Dadurch bedrohen sich beide gegenseitig extrem: nur eine(r) von beiden kann überstehen. Blanche verführt und kastriert Männer, um sich an ihnen für das zu rächen, was Männer ihr angetan haben (diese Annahme nimmt Bezug auf den angedeuteten sexuellen Missbrauch, dem Blanche in ihrer Kindheit ausgesetzt war). Stanley dagegen geht als »wandelnder Phallus« durch die Welt, um den Kastrationsspielen von Frauen wie Blanche zu begegnen. Zudem bekämpft Stanley seine Verlassenheitsängste mit seinem Machismus, während Blanche sich selbst und die Männer für ihre Abhängigkeit von ihnen verachtet. Verstärkt wird ihr Selbsthass durch Schuldgefühle ihren »Opfern« gegenüber, wobei natürlich ihrem homosexuellen Ehemann Allen, der sich auf dem Höhepunkt eines Konfliktes mit ihr das Leben nahm, eine Schlüsselstellung zukommt. Im Sinne eines Wiederholungszwangs sucht Blanche unbewusst gefährliche Männer, von denen Verletzungen drohen und die sie für ihre Schuld bestrafen. Vor diesem Hintergrund kommt Davis zu dem Schluss, dass Blanche aufgrund ihrer inneren Konflikte mit der Gefahr flirtet und einen lustvollen Nervenkitzel verspürt, wenn sie Stanley provoziert und entwertet: Gewinnt sie das Spiel, d.h. behält sie die Kontrolle darüber, was wann und wie auf sexueller Ebene zwischen ihnen geschieht, hat sie ihm seine männliche Potenz genommen. Verliert sie, wird sie Opfer seiner sexuellen Aggression und ihrer weiblichen Integrität beraubt.
6 »Blanche ist nicht verrückt als sie in die Psychiatrie eingewiesen wird. Sie ist ein nahezu willfähriges Opfer einer Welt, die sie in die Falle gelockt hat, und in der sie ihren Frieden nur dadurch finden kann, dass sie das Urteil annimmt, nicht für tauglich das normale Leben zu sein.« 7 »Es bedeutet: Wenn du nicht aufpasst, übernehmen die Affen das Steuer.«
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. Abb. 2 Stanley (Marlon Brando) und Blanche (Vivian Leigh), Quelle: Cinetext
Staggs (2005) illustriert Davis Interpretation mit seinem Hinweis auf den Spiegel im Film A Streetcar Named Desire, der das weibliche Geschlecht symbolisiere. Erstmals schaut Blanche in den Spiegel, als sie von Stellas Schwangerschaft erfährt. Später hat sie – sehr zu Stanleys Verdruss – nicht nur »ihr« Zimmer mit bunten Accessoires geschmückt, sondern auch den Spiegel dekoriert, indem sie eine nach innen gerichtete Krause aus Krepppapier entlang des längsovalen Spiegelrahmens appliziert hat. Das Resultat kann tatsächlich als »Vagina dentata« gelesen werden, die im Film symbolisch stellvertretend für die nicht gezeigte Vergewaltigung zerschlagen wird. (Die abergläubische Vivien Leigh weigerte sich übrigens während der Dreharbeiten die abgebrochene Flasche in den Spiegel zu werfen – ein Bühnenarbeiter zertrümmerte an ihrer statt insgesamt elf Spiegel.) (Staggs 2005, S.158)
Künstler und Werk Tennessee Williams wurde mit seiner Biografie und seiner Persönlichkeit oft und in verschiedener Weise mit Blanche und Stanley in Verbindung gebracht und hat dies auch selbst getan. Über seine Werke sagte er:
R »My work is emotionally autobiographical. It has no relationship to the actual events of my life, but it reflects the emotional currents of my life«8 (zit nach Griffies 2007, S.112) und über Blanche und sich selbst: 8 »Meine Arbeit ist emotional autobiografisch. Sie hat keine Beziehung zu den realen Geschehnissen in meinem Leben, spiegelt aber die emotionalen Strömungen meines Lebens wider.«
287 Endstation Sehnsucht – Blanche Du Bois (Vivian Leigh)
R »We are both hysterics«9 (zit nach Jacobs 2006, S.329) Tennessee Williams wurde 1911 in Columbus, Mississippi, geboren und wuchs als Sohn eines aggressiven, später alkoholkranken Vaters, der sich kaum um ihn kümmerte und ihn ablehnte, und einer sensitiven, schillernden und künstlerisch ambitionierten, aber auch überprotektiven Mutter auf (Spoto 1985). Seine zwei Jahre ältere Schwester Rose erkrankte früh an einer schweren Schizophrenie, verbrachte viele Jahre ihres Lebens in psychiatrischen Kliniken und wurde im Alter von 34 Jahren lobotomiert. Williams, der von dem Eingriff nichts gewusst hatte, hat sich nie verziehen, diesen nicht verhindert zu haben. Seine Mutter, Edwina, wurde im Alter von 71 Jahren mit Halluzinationen und bizarren Wahnvorstellungen in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Aus historischer Perspektive wurde bei ihr die Diagnose einer »schizophrenie-ähnlichen Psychose mit sehr spätem Beginn« gestellt (Jeste et al. 2004). In seinen Memoiren (Williams 1977) berichtete Williams von einer Reihe von psychischen Erkrankungen unter denen er selbst litt. In seiner Jugend war er extrem schüchtern und errötete, sobald er in der Schule etwas sagen wollte. Weitere Symptome einer Angsterkrankung bestanden in Form von panikartigen Zuständen mit Herzrasen, Zittern und Schweißausbrüchen und Angst verrückt zu werden. Er selbst erklärte seine soziophobischen Züge mit dem »schrecklichen oder gar anrüchigen Geheimnis«, das er in sich trug, womit er seine Homosexualität gemeint haben dürfte. Später litt Williams unter ausgeprägten hypochondrischen Ängsten. Darüber hinaus war Williams in Phasen seines Lebens alkohol und tablettenabhängig (er selbst berichtete unter anderem von »Ritalinspritzen«) – insbesondere der Alkohol habe ihm geholfen, seine Schüchternheit zu überwinden. Er bezeichnete sich wiederholt als »hysterisch« und hatte mehrere depressive Phasen; einmal kam es zu einer psychiatrischen Behandlung auf einer geschlossenen Station. Außerdem war Williams mehrfach in psychiatrischer und auch in psychoanalytischer Behandlung. Auch seine »sexuelle Zügellosigkeit« sah Williams als ein Symptom an. Zeit seines Lebens hatte er eine Vielzahl homosexueller Beziehungen, die nicht selten mit beträchtlichen Gefahren für ihn einhergingen, da er immer wieder gewaltbereite Partner wählte. Seine längste Partnerschaft, mit Frank Merlo, währte 14 Jahre und gab ihm eine gewisse Stabilität, doch war es ihm auch während dieser Zeit nicht möglich, auf sexuelle Abenteuer zu verzichten. Aus der Vielzahl von Interpretationen, die A Streetcar Named Desire mit Tennessee Williams’ Biografie in Beziehung setzten, seien beispielhaft drei referiert. Jacobs (2006) fokussierte mit seiner Deutung die enge Beziehung zwischen Tennessee Williams und seiner Schwester Rose. Er habe sich von seiner Schwester distanzieren und lösen müssen, da ihn die Schrecken ihrer Krankheit und die Ängste, selbst das gleiche Schicksal wie Rose zu erleiden, zu sehr belastet hätten. Später machte er sich den Vorwurf, sich nicht genug um Rose gekümmert zu haben und so die Chance verpasst zu haben, ihre Lobotomie zu verhindern. Jacobs argumentiert, dass Williams in Blanche seine Schwester Rose abgebildet habe, um in sublimatorischer Weise seine verstrickte Bindung an sie und seine Schuldgefühle zu verarbeiten. Aus dem Skalpell des Neurochirurgen sei dabei der Penis Stanleys geworden. Sowohl Williams als auch Stanley hätten ein anderes Leben opfern müssen, um das eigene zu retten. Auch Griffies (2007) sah in A Streetcar Named Desire einen Reparationsversuch. Anders als Jacob sah er Blanche und Stanley jedoch als Repräsentanten eines inneren Konfliktes Williams’ an, bei dem auf der einen Seite die Identifikation mit dem aggressiven alkoholkranken Vater und auf der anderen die mit der sensiblen künstlerischen Mutter stand. In dem beständigen gewalttätigen Kampf zwischen einem passiv-abhängigen Opfer-Selbst und einem sadistisch-aggressiven Täter-Selbst erkannte er Williams’ Kernkonflikt. Trotz der symbolischen Externalisierung der verinnerlichten Täter-Opfer-Dyade 9 »Wir sind beide Hysteriker.« 10 Lobotomie: Durchtrennung von Nervenfasern im Gehirn, die früher zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wurde. Heute wird die Methode aufgrund ausgeprägter Nebenwirkungen nicht mehr eingesetzt.
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in den Figuren des Dramas konnte Williams die abgespaltenen Selbstanteile nie integrieren. Bis an sein Lebensende erlebte er sich und erlebten andere ihn in Beziehungen immer wieder als Blanche (insbesondere in jüngeren Jahren) oder als Stanley (insbesondere im höheren Alter). Griffies erkannte zwischen Blanche und Stanley wechselseitige projektive Identifikationen, die dazu führten, dass sie den anderen zerstören mussten, um nicht selbst zerstört zu werden. Stanley kann seine passiv-abhängigen Gefühle nicht tolerieren und fürchtet, von Frauen wie Blanche kannibalistisch verschlungen zu werden. Blanche kann ihre oral-aggressiven und kastrierenden Wünsche nicht tolerieren, da sie fürchtet, den verzweifelt ersehnten Mann zu zerstören. Beide sind darin wie füreinander geschaffen und stellen eine Täter-Opfer-Beziehung her, die derjenigen auf der intrapsychischen Bühne Williams entspricht. Die biografischen Determinanten von Williams’ innerer Situation fand Griffies in der traumatischen Bindungserfahrung mit einer narzisstisch fragilen aber verschlingenden und kastrierenden Mutter sowie einem unsicheren Vater, der seine passive Abhängigkeit mit aggressiver Zurückweisung und Rückzug abwehrte. Einen ähnlichen, wenngleich stärker der klassischen psychoanalytischen Triebtheorie verpflichteten Deutungsansatz lieferte Schneidermann (1986). Er sah in den Protagonisten aus Streetcar Abbilder von Williams’ Kernfamilie in ihrer ödipal-inzestuösen Verstrickung. Blanche verkörperte Williams selbst in seiner Identifikation mit der Mutter als Verführerin und zugleich Opfer sexueller Traumatisierung, die sich in Liebesbeziehungen immer wieder selbst erniedrigt. Stanley steht für den bedrohlichen Vater, der die Demütigung der Mutter barbarisch vollzieht. Eine andere Seite der Mutter erkannte Schneidermann in Stella, die ihren ödipalen Sohn (Blanche/Tennessee) betrügt, indem sie sich dem gefürchteten Vater (Stanley/Tennessees Vater) hingibt. Der ödipale Sohn (also Tennessee als ca. 5-jähriger) findet sich sowohl in Alan, Blanches homosexuellem Ehemann, für dessen Tod sie sich verantwortlich fühlt, als auch in Mitch. Während Alan, der Blanche nicht befriedigen konnte, Tennessees unbewusste Haltung seiner Mutter gegenüber verkörpert, repräsentiert Mitch dessen bewusste sublimierte Haltung seiner eigenen Mutter gegenüber (der aufrichtige, idealisierende Verehrer).
Das wollte ich hören, ein Kompliment von Ihnen! 11 Im Folgenden soll nun Blanche allein Inhalt unserer Betrachtungen sein. Ihre Persönlichkeit und ihre psychische Störung werden zunächst unter dem phänomenologischen Aspekt der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; WHO 2005) betrachtet, bevor mithilfe aktueller psychoanalytischer Konzeptualisierungen die psychodynamischen Hintergründe ihrer Entwicklung beleuchtet werden. Bei den Persönlichkeitsstörungen handelt es sich um eine Gruppe psychischer Erkrankungen, welche die charakterliche Konstitution und das Verhalten betreffen und mit beträchtlichen persönlichen sowie sozialen Beeinträchtigungen einhergehen. Dabei besteht eine »deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten in mehreren Funktionsbereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken sowie in den Beziehungen zu anderen« (WHO 2005, S.227). Die Störung beginnt in der Kindheit und Adoleszenz und ist dauerhaft vorhanden, verläuft also nicht phasenhaft. Die ICD-10 definiert neun spezifische Ausformungen der Persönlichkeitsstörungen sowie zwei weitere vorläufig beschriebene. Blanche erfüllt eindeutig die diagnostischen Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.412; WHO 2005, S.230f.):
11 Williams (1947/2004, S. 36) 12 Darüber hinaus finden sich bei Stella Hinweise auf einen Alkoholabusus und eine Traumafolgestörung („flash backs“). Auf beide wird hier nicht näher eingegangen, da im Drama detailliertere Informationen dazu nicht enthalten sind.
289 Endstation Sehnsucht – Blanche Du Bois (Vivian Leigh)
E Dramatisierung bezüglich der eigenen Person, theatralisches Verhalten, übertriebener Ausdruck
von Gefühlen. E Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch andere Personen oder Umstände. E Oberflächliche und labile Affektivität. E Andauerndes Verlangen nach Aufregung, Anerkennung durch andere und Aktivitäten, bei denen
die betreffende Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. E Unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten. E Übermäßiges Interesse an körperlicher Attraktivität. E Egozentrik, Selbstbezogenheit, anhaltendes Verlangen nach Anerkennung, erhöhte Kränkbarkeit
und andauernd manipulatives Verhalten zur Befriedigung eigener Bedürfnisse können zusätzliche Merkmale sein. Bei Blanche ist diese Diagnose auch deshalb leicht zu stellen, weil die genannten ICD-10Kriterien im Wesentlichen auf das oberflächlich sichtbare Verhalten der Betroffenen abzielen, also phänomenologisch-deskriptiv gehalten sind. Eine Aussage darüber, wie es zu der Persönlichkeitsstörung gekommen ist, bzw. was im einzelnen Fall das Verhalten motiviert, ist anhand der ICD-10 allerdings nicht möglich. Hierfür liefern psychoanalytische Modelle wertvolles Material. Vorab ist zu klären, dass der Begriff »histrionisch« seit 1980 den Terminus »hysterisch« ersetzt hat. Die Initiative ging von den USA aus, wo das Adjektiv hysterisch als diskriminierend Frauen gegenüber angesehen wurde. Ob die neue, politisch korrekte Bezeichnung weniger diskriminierend ist, sei dahingestellt, waren doch die »Histriones« Schauspieler im antiken Rom, die dem Sklavenstand entstammten und einen denkbar schlechten Ruf genossen: Die Frauen galten als Flittchen und die Männer als Verführer (Hoffmann 2000). In der Psychoanalyse hat sich der Begriff Hysterie bis heute gehalten, nicht zuletzt deshalb, weil er sehr viel mehr umfasst als das, was unter den oben zitierten diagnostischen Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung verstanden wird. Die biografische Entwicklung von Blanche lässt sich nur sehr unvollständig rekonstruieren. Wir erfahren, dass die männlichen Familienmitglieder einschließlich »der Väter« das Vermögen für »patriarchalische Hurereien« verschwendet haben, und dass Blanche als Kind oder Jugendliche missbraucht wurde, was ihr zartfühlendes und vertrauensvolles Wesen verändert habe. Ob es sich um einen sexuellen Missbrauch handelte bleibt offen, auch, wer der oder die Täter waren. Für die weitere Interpretation soll hypothetisch angenommen werden, dass Blanches Vater zumindest offen war für ihre weiblicherotische Seite, die sie möglicherweise schon als Kind zur Geltung bringen konnte. Über die Mutter erfahren wir ebenso wenig: Gegen Ende des Films sagt sie zu Mitch, der sie zuvor erniedrigt hatte:
R »Ich habe in einem Haus gelebt, wo alte Frauen an ihre toten Männer dachten. Welke, sieche Frauen – dauernd Beschuldigungen: »Wäre das nicht passiert, hätte ich das nicht getan.« …»Mein Platz war immer hier, der meiner Mutter immer da. Der Tod war so nahe, wie Sie es sind. Tod – ewige Nacht anstelle des Lichts. Wie können Sie sich wundern? Wie können Sie sich da wundern, dass ich leben wollte?« Bereits im ersten Akt des Dramas, als Blanche Stella eröffnet, dass Belle Rêve verloren ist, erzählt sie vom Sterben der Eltern und Angehörigen:
R »Ein Todesfall nach dem anderen! Diese lange Prozession zum Friedhof: Vater, Mutter!« …
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Was ich will ist – Magie !
R »Manchmal keucht der Atem der Sterbenden heiser, und manchmal rasselt er, und manchmal schreien sie dir sogar ins Gesicht: »Lass mich nicht gehen!« Als ob man im Stande wäre, sie zurückzuhalten!« … R »Wenn du nicht am Bett gesessen hast, als sie schrien: ‚Halte mich!‘, dann kannst du dir diesen Kampf um jeden Atemzug, um jeden Blutstropfen gar nicht vorstellen!« (Williams 1947/2004, S. 23) Wir wissen, dass Blanche bei ihren Eltern in Belle Rêve blieb, während Stella die Familie früh verließ. Es kann also vermutet werden, dass Blanche intensiver und möglicherweise verstrickter an die Eltern gebunden war. Die kurzen Zitate lassen erahnen, dass die Mutter bis zu ihrem Tod Blanche an sich gebunden hatte, vielleicht sogar auf manipulative Weise mit unerfüllbaren Anforderungen und erpresserischen Schuldzuweisungen. Diese biografischen Mosaiksteinchen lassen sich zwanglos mit dem Hysterie-Modell von Rupprecht-Schampera (1995) zur Deckung bringen. Rupprecht-Schampera geht davon aus, dass der Vater als dritte Person schon vor der ödipalen Phase (4. bis 6. Lebensjahr) von großer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes ist, da er ihm hilft, sich aus der Abhängigkeit von der Mutter zu lösen. Gelingt dieser Separations-Individuations-Prozess nicht, da die Mutter entweder zu vereinnahmend ist oder der Vater seine Rolle nicht übernehmen kann bzw. will, versucht das Kind »aktiv das Interesse des ‚entfernten‘ Vaters zu gewinnen« (Rupprecht-Schampera 1997, S.644). Im Falle eines Mädchens13, wie Blanche es war, können diese Versuche darin bestehen, dass eine ödipale, sexualisierte Hinwendung zum Vater erfolgt14. Geht der Vater auf das »Werben« der Tochter ein und reagiert eventuell sogar auf erotisierte Weise, hat sie den Vater zwar für sich gewonnen und kann sich potent und autonom fühlen, gleichzeitig steht aber eine gefährliche und inzestuöse Verbindung mit dem Vater im Raum, die in doppelter Weise bedrohlich ist: Zum einen wäre eine reale sexuelle Nähe zwischen beiden eine zerstörerische Grenzüberschreitung, zum anderen muss das Kind fürchten, durch den ödipalen Sieg über die Mutter, deren Rivalität, Aggression und Kontrolle in vermehrter Weise auf sich zu ziehen. Neben den Ängsten entstehen beim Kind in der Folge massive Schuldgefühle. Eine derartige Entwicklung stellt ein erneutes Versagen des Vaters als drittes Objekt dar. Im Modell Rupprecht-Schamperas folgt nun ein mehrstufiger Abwehrvorgang, im Rahmen dessen die inzestuösen Wünsche sowie Angst- und Schuldgefühle durch Verdrängung aus dem Bewusstsein ferngehalten werden, der Vater idealisiert wird, um ihn als gutes Objekt nicht auch noch zu verlieren, und auf weitere intellektuelle und emotionale Entwicklung unbewusst verzichtet wird, um sich mit der verdrängten Realität und insbesondere dem negativen Selbstbild nicht auseinandersetzen zu müssen (»Rückzug in die Kindlichkeit«). Im Erwachsenenalter verhalten sich die Betroffenen ähnlich, wie sie es bereits als kleine Mädchen auf Vaters Schoß getan haben – mit dem Unterschied, dass sie nun keine Kinder mehr sind und ihnen eine genitale Sexualität zur Verfügung steht. Im Rahmen eines Wiederholungszwangs 15 suchen hysterische Frauen häufig ältere Männer (nach dem Vorbild des Vaters), von denen sie sich väterliche 13 Es sind keineswegs nur Frauen von der Hysterie bzw. der histrionischen Persönlichkeitsstörung betroffen. RupprechtSchampera geht in ihrer Analyse explizit auch auf die Entwicklungslinie bei männlichen Patienten ein – da Blanche im Mittelpunkt unserer Analyse steht, wird hier nicht näher darauf eingegangen. 14 Hiermit ist nicht eine genital-sexuelle Verführung des Vaters durch das Mädchen zu verstehen, sondern der Einsatz körperlichen Ausdrucks mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit und (nichtsexuelle) Zuwendung des Vaters zu erreichen. Dabei kann es sich z. B. um kokette Blicke, Einnehmen einer fraulichen Körperhaltung oder anschmiegsames Sitzen auf dem Schoß des Vaters handeln. 15 Das unbewusste Aufsuchen bzw. Wiederherstellen vertrauter zwischenmenschlicher Situationen. Zum einen, da das Vertraute, auch wenn es unangenehm ist, immer noch weniger Angst macht als das neue. Zum anderen – im Falle negativer Erfahrungen – verbunden mit der Hoffnung, es möge doch einmal anders kommen, was in magischer Form mit einer Wiedergutmachung früher erfahrenen Leids gleichgesetzt wird.
291 Endstation Sehnsucht – Blanche Du Bois (Vivian Leigh)
Zuwendung und Liebe erwarten. Wie in den o.g. diagnostischen Kriterien der ICD-10 formuliert setzen sie dabei ihre körperliche Attraktivität ein, geben sich unangemessen verführerisch und suchen durch theatralisches, übertrieben emotionales Verhalten die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen. Hoffmann (1979) betont, dass es dabei so gut wie nie um das Ziel einer genital-sexuellen Beziehung geht, sondern vielmehr um (»mütterliche«) Zuwendung, Liebe und Anerkennung, die für das labile Selbstwertgefühl der Betroffenen von besonderer Wichtigkeit sind. Reife Sexualität wird hier in zweifacher Hinsicht zum Problem: Sie ist nicht das, was eigentlich benötigt wird, und sie mobilisiert inzestuöse Ängste. Wird nämlich das umworbene Gegenüber unbewusst mit dem Vater gleichgesetzt, so wäre die reale sexuelle Vereinigung eine Inzesthandlung, die sowohl Ängste als auch Schuldgefühle hervorruft. Aus diesem Grund vermeidet ein Teil der hysterischen Menschen Sexualität, was im Falle einer potenziell erotischen Begegnung zu der viel zitierten Abfolge von Locken, Blocken und Frohlokken führt. Hoffmann (1979) beschreibt eine typische hysterische Konstellation, in der ein Partner idealisiert und erträumt wird, der unerreichbar ist, da er verheiratet, katholischer Geistlicher oder Filmstar ist. Falls sich diese Voraussetzungen wider Erwarten ändern und der vermeintlich Unerreichbare zu einer realistischen Alternative wird, wird er oft postwendend entwertet und die Idealisierung schlägt in Verachtung um. Dahinter stehen zum einen die besagten Ängste und Schuldgefühle, zum anderen aber auch eine scheinbar lächerliche Logik, die vor dem Hintergrund der unbewussten Selbstverachtung des hysterischen Menschen zur bitteren Realität wird: Ich muss den verachten, der mich liebt, weil ich mich selbst verachte. Den zuletzt geschilderten hysterischen Typus verkörpert idealtypisch Scarlett O’Hara im Film Vom Winde verweht, die übrigens auch von Vivian Leigh gespielt wurde. Etwas anders verhält es sich mit Blanche Du Bois, die – zumindest in der Vergangenheit – nicht unter einer sexuellen Hemmung gelitten, sondern Sexualität exzessiv gelebt hat. Den Schlüssel zum Verständnis ihres Verhalterns liefert sie uns selbst im Gespräch mit Stella:
R »Stella, ich kann nicht allein sein. Ich muss in deiner Nähe sein. Ich muss Gesellschaft haben. Weil ich, weil ich, wie du schon bemerkt haben wirst, nicht sehr gesund bin.« und gegen Ende des Films Mitch gegenüber:
R »Nach dem Tod von Allen war der Umgang mit Fremden das einzige Mittel, um meine innere Angst zu betäuben. Ich glaube, es war Panik, ja, Panik, die mich von einem Mann zum anderen trieb auf der Suche nach Schutz, hier, da, dort … bei den unmöglichsten Menschen. Zuletzt sogar bei einem 17-jährigen Jungen.« Bei einer schwereren Ausprägung der hysterischen bzw. histrionischen Persönlichkeitsstörung wird für die Betroffenen die Fähigkeit zur Verdrängung der Selbstverachtung, der Ängste und der Schuldgefühle immer geringer, ebenso die Fähigkeit zur Impulskontrolle. Die Folge ist, dass sie sowohl unter Stress als auch beim Alleinsein in quälender Weise von den belastenden Gefühlen und Gedanken heimgesucht werden. Eine gleich wie oberflächliche und eventuell sogar demütigende sexuelle Begegnung schafft Ablenkung und für einen Moment die Illusion von Nähe und Liebe – jedoch meist keine sexuelle Befriedigung. Danach freilich schlagen Schuldgefühle und Selbstverachtung umso stärker zu. In ähnlicher Weise werden Alkohol, Tabletten oder Drogen eingesetzt um die quälenden inneren Zustände zu betäuben. Diese Unterscheidung von »leichten« und »schweren« Formern der hysterischen/histrionischen Persönlichkeitsstörung wurde in der Literatur häufig vorgenommen, so von Kernberg (1967), der eine hysterische (leichte) von einer infantilen (schweren) Verlaufsform unterschied, oder Easser u. Lesser (1965), die hysterische den hysteroiden Persönlichkeiten gegenüberstellten. Vivian Leigh hat
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Was ich will ist – Magie !
mit ihren beiden berühmtesten Rollen, der Scarlett O’Hara und der Blanche Du Bois das obere und das untere Ende des Kontinuums hysterischer Pathologie abgebildet. Die Analyse lässt deutlich werden, warum Blanche die Magie der Realität so entschieden vorzieht. Vordergründig nutzt sie die Magie, um sich den anderen Menschen – insbesondere den Männern – als begehrenswert und dadurch liebenswert darzustellen. Sie verwendet viel Zeit und Energie auf ihr Äußeres und lässt sich möglichst nicht im hellen Tageslicht betrachten. Außerdem erzählt sie über sich Unwahrheiten, die ihr teilweise bewusst sind, die sie zum Teil aber auch selbst glaubt. Auf einer tiefer liegenden, unbewussten Ebene »denkt« Blanche magisch, wenn sie versucht, ihre Ängste, Schuldgefühle und Selbstverachtung überwinden zu können, indem sie sich ablenkt und dabei beständig eine verzweifelte Scheinnähe mit anderen Menschen aufbaut. Darin gleicht sie dem Kind, das die Hand vor die Augen hält und sagt: »Du siehst mich nicht.« Auf der verborgensten und magischsten Ebene ist Blanche von der unbewussten Sehnsucht getrieben, die Liebe des idealen Partners könnte die erlittenen Verletzungen der Kindheit nicht nur heilen sondern ungeschehen machen. Leider ist die hysterische Magie kein echter Zauber, sodass am Ende nicht Erlösung sondern meist Schmerz und Leiden stehen. In diesem Sinne verstehe ich – ebenso wie Kazan und Clurman – Blanches Zustand am Ende des Dramas nicht als »verrückt« oder Ausdruck einer schizophrenen Erkrankung, sondern als ihren verzweifelten Versuch, der unerträglichen Realität eine magische Fantasie entgegen zu setzen. Diese hat den Retter zum Inhalt, der Blanche auf seinem Schiff in erlösende Sicherheit bringt. Sie erkennt sehr wohl, dass der Psychiater nicht der ersehnte Shep Huntleigh ist, lenkt ihre magische Hoffnung dennoch sofort auf ihn und geht mit ihm. Ihre letzten Worte haben Geschichte geschrieben:
R »Wer sie auch sind – ich habe mich immer auf die Güte von Fremden verlassen.«
Literatur Davis WA (1994) The Perfect Couple: A Streetcar Named Desire. In: Davis WA (Hrsg) Get the Guests. Psychoanalysis, Modern American Drama, and the Audience. University of Wisconsin Press, Wisconsin, S 60–102 Easser BR, Lesser SR (1965) Hysterical Personality: A Re-Evaluation. Psychoanal Q 34: 390–405 Griffies WS (2007) A Streetcar Named Desire and Tennessee Williams‘ Object-Relational Conflicts. Int J Appl Psychoanal Studies 4: 110–127 Hoffmann SO (1979) Charakter und Neurose. Ansätze zu einer psychoanalytischen Charakterpathologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main Hoffmann SO (2000) Editorial. Persönlichkeitsstörungen 3: 127 Jacobs D (2006) Blanche, Stella, Tennessee and Rose. The Sibling Relationship in A Streetcar Named Desire. Psychoanal Study Child 61: 320–333 Jeste ND, Palmer BW, Jeste DV (2004) Tennessee Williams. Historical Case Conference. Am J Geriatr Psychiatry 12: 370–375 Kazan E (1988) Elia Kazan – A Life. Knopf, New York Kernberg OF (1967) Borderline Personality Organization. J Am Psychoanal Assoc 15: 641–685 Rupprecht-Schampera U (1997) Das Konzept der »frühen Triangulierung« als Schlüssel zu einem einheitlichen Modell der Hysterie. Psyche 51: 637–664 Schneidermann L (1986) Tennessee Williams: The Incest-Motif and Fictional Love Relationships. Psychoanal Rev 73: 97–110 Sievers WD (1955) Freud on Broadway. A History of Psychoanalysis and the American Drama. Hermitage House, New York Spoto D (1985) The Kindness of Strangers. The Life of Tennessee Williams. Little, Brown and Company, Toronto Staggs S (2005) When Blanche Met Brando. The Scandalous Story of »A Streetcar Named Desire«. St. Martin’s Griffin, New York WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2005) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinischdiagnostische Leitlinien. 5. Aufl. Huber, Bern Williams T (1947/2004) Endstation Sehnsucht. 41. Auflage. Fischer, Frankfurt am Main Williams T (1977) Memoiren. Fischer, Frankfurt am Main
293 Endstation Sehnsucht – Blanche Du Bois (Vivian Leigh)
Originaltitel
A Streetcar Named Desire
Erscheinungsjahr
1951
Land
USA
Drehbuch
Tennessee Williams, Oscar Saul
Regie
Elia Kazan
Hauptdarsteller
Vivian Leigh (Blanche DuBois), Marlon Brando (Stanley Kowalski), Kim Hunter (Stella Kowalski), Karl Malden (Harold Mitchell)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Wolfgang Tress
Das radikal Böse: die Zerstörung der Moral Narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80) Mord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Dramatis Personae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Vorspiel und Prolog über einen hin und her fliegenden Tennisball . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Nachspiel: die narzisstische Tragödie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
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Filmplakat Match Point, USA 2005 Quelle: Prokino/Cinetext
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Match Point Chris Wilton (Jonathan Rhys Meyers)
Mord Das leidenschaftliche Interesse der Menschen gegenüber dem Phänomen des Mordes erklärt sich, insofern Töten und Getötet werden an den innersten Kern unserer Instinkte heranreicht, an unsere archaische Destruktivität, an das Böse in uns, das wir durch tradierte Wertorientierungen und Erziehungsprozesse in Schach zu halten suchen. (von Hentig 1956, S.1, zit. nach Schmidt-Degenhard 2006, S.185) … im Spiegel des Mordes erblickt die Menschheit ihr unbewachtes Antlitz. (von Hentig 1956, S.2)
Jede Tötung eines Menschen bedeutet einen jähen Bruch scheinbar stabiler Verhältnisse und widerlegt den illusionären Glauben, dass wir unseren archaisch-aggressiven Ursprüngen entronnen seien und uns in einem unaufhaltsamen Prozess fortschreitender Humanisierung befänden.
Dramatis Personae »Lieber Glück als Talent«, sagt der Dichter. Chris Wilton: Tennislehrer und mäßiger Ex-Profi liest Dostojewski’s Verbrechen und Strafe (bekannt
als Schuld und Sühne). Er hat sich aus der irischen Unterschicht nach oben gekämpft, gegen alle Widerstände. Chris ist nicht sehr klug, nicht sehr selbstbewusst, er hat aber übermäßiges Glück, ein Antiheld. Nicht gut in irgendetwas, in sich gespalten, cool, subtil, mysteriös, einschleimend, leicht widerwärtig. Chris ist polizeilich nie aufgefallen, nie vorbestraft, nicht einmal zu schnell gefahren. Er glaubt an das Schicksal, an das Glück in seiner doppelten Bedeutung, ohne Plan und Zweck. Die Karriere als Tennisprofi diente Chris dazu, aus der Armut herauszukommen. Wie Tom Hewett (7 unten) liebt er die tragische Oper. Überhaupt gibt die Oper dem Film seinen Hintergrund aus Verlangen, Eifersucht und Mord: La Traviata, Othello, Macbeth. Nola Rice: Nola ist mit Tom liiert, Chloes Bruder. Er ist Nolas Einlass in die Upperclass ganz so, wie bei
Chloe und Chris, Nola’s Pendant. – Nola verkörpert Leidenschaft, Sexualität, Vulgarität, große Energie, zugleich elende Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste. Nola trägt Züge einer emotionalen Instabilität (Borderline-Störung) und einer abhängigen Persönlichkeit. Schon allein deshalb ist sie von dem, was der weitere Gang der Handlung ihr abverlangt, heillos überfordert. Sie ist die kleine erfolglose amerikanische Schauspielerin, voller Illusionen und überaus launenhaft. Sie kommt aus einem kleinen Kaff in Colorado, vergeigt ihre Probeauftritte. Ist schauspielerische Autodidaktin. Nolas Schwester Linda hängt an Drogen, an Alkohol, ist allerdings eine klassische Schönheit. Die Eltern haben sich getrennt, der Vater ist abgehauen, hat nie Geld geschickt. Die Mutter war Trinkerin, ebenfalls.Nola sagt zu Chris über Chloe, seine Verlobte und ihre Gegenspielerin:
R »Sie ist unheimlich lieb und du wirst richtig absahnen oder alles vermasseln, wenn du mich nämlich anmachst. Männer wollen es doch immer wissen.«
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Das radikal Böse: die Zerstörung der Moral
Alec Hewett: erfolgreicher Industrieller und spendabler Papa, der alle um sich herum nur glücklich
sehen will, und daher, Chris, dem Wunschschwiegersohn eine viel versprechende Stelle vermittelt und nach der Hochzeit mit Chloe eine Luxuswohnung mit Blick auf Westminster schenkt. Eleanore Hewett: Nolas böse Schwiegermutter in spe, Mutter von Chloe und Tom: je beschwipster,
umso boshafter, aber ehrlich. Sie demütigt Nola als Träumerin, die ihre schauspielerische Niederlage nicht eingestehen möchte. Chloe Hewett Wilton: Chris’ Frau, sie liebt ihn wirklich, sie ist lieb, intelligent, sexy und jung. Sie glaubt
an Erfolg durch harte Arbeit und vertraut auf ihren Daddy. Nach einer generösen Tennisnachhilfestunde von dem großen Meister verliebt sie sich in Chris. Für den ist Chloe, groß, apart und intelligent das ideale Sprungbrett in den Jet-Set. Tom Hewett: mit goldenem Löffel im Mund geboren, die Freude seiner Eltern, intelligent, ehrgeizig und
ein Freund der Oper wie Chris. Darüber kamen die beiden sich näher und Chris in die High Society. Tom blieb letztlich sogar in seinen Liebesdingen abhängig von der Billigung seiner Mutter. Ihr zuliebe verstößt er Nola und wendet sich einer standesgemäßen Tochter aus gutem Hause zu. Mrs. Eastby: Zu ihrem Unglück zog kürzlich Nola als neue Nachbarin der netten englischen Witwe ein. Dies prädestinierte sie als Mordopfer. Sie muss sterben, um den anschließenden Mord an Nola, eigentlicher Zweck des tückischen Unterfangens, als »unglücklichen Zufall« erscheinen zu lassen. Detective Banks: Er ist zuvorkommend, gründlich, nachdenklich und fasst beharrlich nach. Er entwik-
kelt kreative kriminalistische Intuitionen, die zwar zutreffen, leider zum Glück des Täters am falschen Schein des Zufalls zerplatzen.
Vorspiel und Prolog über einen hin und her fliegenden Tennisball Nahaufnahme: In Zeitlupe fällt ein Tennisball senkrecht auf die Netzkante und springt wieder in die Höhe. Auf welche Seite wird er fallen? Sieg oder Niederlage: eine reine Sache des Glücks.
1. Akt: Irrungen und Wirrungen1 Beim ersten Treffen mit Chris an der Tischtennisplatte fragt sich Nola (. Abb.1):
R »Wo bin ich da rein geraten?« – »Reinlegen und den Ball durchziehen«, sagt Chris, der Wettkampf liegt ihm im Blut. Chris hat sich von Anfang an in Nola verliebt. Sie ist seine Droge. Die erregte Liebesszene im Kornfeld im Regen:
R »Wir dürfen das nicht tun – das führt zu gar nichts – ich weiß das.« Nola will zurück in das realistisch-vernünftige Leben als Schwager und Schwägerin, Chris dagegen beharrt auf ihrer beider Leidenschaft. 1 Titel eines Romans von Theodor Fontane, 1888, der von der unschicklichen Liebschaft eines Barons mit einer Arbeiterin handelt.
299 Match Point – Chris Wilton (Jonathan Rhys Meyers)
Mittlerweile ist Chris der vom Schwiegervater in spe (Alec) protegierte Manager mit eigenem Wagen und Chauffeur, erringt die Anerkennung seines früheren Kumpels aus dem Tenniszirkus.
R »Ist es nicht unglaublich, wie viel im Leben davon abhängt, ob der Ball über das Netz geht oder darin hängen bleibt?« – Der Andere: »Du warst immer konstant, unter Druck cool und kreativ.« Chris’ Leidenschaft gilt eindeutig Nola, die Karriereaussichten verlangen aber die Heirat mit Chloe, in der Familie hochwillkommen. Papa spendiert eine Wohnung mit Blick auf Big Ben und Westminster, umwerfend, und Chloe will sofort schwanger werden, was Chris ins Zögern bringt.
R »Du schaffst das, du hast einen mächtigen Aufschlag!« feuert Chloe ihn an. Derweil hat sich Tom, Chloe’s Bruder, von Nola getrennt, die Mutter hat ihre Beziehung vergiftet. Tom hat sich halb bewusst, der Mutter zu Liebe, eine andere erwählt. Und Nola scheint auch für Chris unerreichbar verschwunden.
2. Akt: Szenen einer Ehe
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Chris ist seelisch am Ende, stellt den Sex mit seiner Frau weitgehend ein. Chloe verdächtigt Chris für einige Minuten sogar eines Verhältnisses, seiner Lustlosigkeit und heimlichen Telefonate wegen, verwirft diese Gedanken aber sofort wieder. Das Schwangerschaftsprojekt ist gefährdet, während Tom mit der neuen Auserwählten bereits Vaterfreuden entgegensieht. In der Tate Modern kommt es unerwartet zum großen Wiedersehen mit Nola: »Gott sei Dank, sie ist zurück.« Und sofort beginnt das Doppelleben mit Chloe und Nola: Nola als das Objekt der leidenschaftlichen Begierde (. Abb. 2), Chloe als Inbegriff der Langeweile, der ehelichen Fortpflanzungspflicht und des gesellschaftlichen Höhenflugs: »So oft wie möglich morgens«, hat der Arzt gesagt, natürlich nicht ohne vorherige Temperaturmessung. Chloe ödet Chris an. Der weiß gar nicht, was er ohne Nola tun würde. Ganz eindeutig ist Chris leidenschaftlich in Nola verliebt. Sie ist für ihn kein Spielzeug, sondern sein Lebenselixier.Nun aber wird Nola fordernd, sie will seine Gegenwart. Nola ist keinesfalls bereit und wäre, selbst wenn sie wollte, aufgrund ihrer tiefgehenden Borderline-Persönlichkeitsstörung auch gar nicht dazu in der Lage, sich auf die Bedingungen des Spiels einzulassen, wie Chris sie vorgeben will, nämlich als Geliebte nur die gelegentlichen Stunden der Leidenschaft miteinander zu genießen und ansonsten ihr eigenes Leben zu leben. Sie ist schon aufgrund ihrer Störung angewiesen auf Objektpräsenz: kein Aufschub, kein Warten, keine Frustrationstoleranz. All dies wiederum kann Chris sehr gut. Er kann im Dienste seines Narzissmus Ambivalenzen aushalten bis ins Stadium der Unerträglichkeit, denn es geht ja schließlich um den gesellschaftlichen Aufstieg und den Erhalt des längst Erreichten. Er kann andererseits von seiner wirklichen großen Liebe, der Liebe zu Nola nicht lassen. Nola jobt, schmeißt sämtliche Castings beim Theater und – ist schwanger, ein Kind der Leidenschaft und nicht eines Befruchtungsprojektes. Sie verweigert die erneute Abtreibung. Hier findet sie als Frau zu ihrer Eindeutigkeit. Dieses Kind der Liebe will sie endlich haben.
Intermezzo: Selbstkorrumpierung In diesem unerträglichen Spannungsfeld beginnt sich bei Chris zu entwickeln, was Schmidt-Degenhard (2006) Selbstkorrumpierung nennt: Das Phänomen der Selbstkorrumpierung meint eine der Tat vorangehende und sie begünstigende Veränderung zentraler Werthaltungen einer Person: Es kommt zu
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Titel eines Filmes von Ingmar Bergman, 1973
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Das radikal Böse: die Zerstörung der Moral
. Abb. 2 Nola als das Objekt der leidenschaftlichen Begierde … – Szene mit Jonathan Rhys Meyers und Scarlett Johannson, Quelle: Prokino/Cinetext
tiefgreifender Verwerfung des biografischen Sinnzusammenhanges, des tragenden und fundierenden Wertgefüges. Selbstkorrumpierung bedeutet die Verweigerung einer ethisch-moralischen Reflexion und ist damit die subjektive Vorbedingung, aus der heraus die Bereitschaft zur Tat entsteht. Wir beobachten die Unterminierung und schließlich Ausschaltung der Tötungshemmung gegenüber Menschen. Dennoch bleiben die Einsicht- und die Steuerungsfähigkeit erhalten. Selbstkorrumpierungsprozesse gehen regelhaft aus heftigsten Gefühlsbewegungen hervor. Intensive zwischenmenschliche Emotionen sind dabei über längere Zeiträume einer Beziehungsdynamik ausgesetzt, welche die individuelle Struktur und das persönliche Wertgefüge eines Menschen verformen und somit über veränderte Werthaltungen in die Entscheidungsprozesse hineinwirken. Dasselbe meint auch Neiman (2006), wenn sie schreibt: Das Böse zerstört die Moral selbst. Moralische Unterscheidungen verschwinden. Opfer werden zu Komplizen (S420). Denn das radikal Böse will nichts weniger, als das Sittengesetz selbst zu zerstören (Neiman 2006, S.394)
Üblicherweise vollzieht sich Selbstkorrumpierung als eine Abfolge von bewussten, in starken Emotionen fundierten Abwägungs- und Entscheidungsprozessen. Sie begünstigen ein sukzessives Nachgeben gegenüber devianten Impulsen und Fantasien, ein »SichgehenLassen« und schließlich ein »Sichauf dieTat-Einlassen«. Die damit einhergehende Deformation der Wertorientierung vollzieht sich unter dem bedrängenden emotionalen Einfluss einer leidenschaftlichen Beziehung. In dieser Perspektive reicht Selbstkorrumpierung weit über den kriminologischen Kontext hinaus und beschreibt den einem jeden Menschen möglichen Prozess weitgehender Anpassung an eine mit höchstem Begehren gewünschte Situation bzw. Position, ein Anpassungsprozess, dem alle anderen Lebensbezüge untergeordnet werden, was mit einer tiefgreifenden Veränderung zentraler individueller Werthaltungen ein-
301 Match Point – Chris Wilton (Jonathan Rhys Meyers)
hergeht. Dies lässt uns Straftaten verstehen, die nicht aus einem dissozialen-kriminellen Milieu heraus geschehen und die eine erhebliche Diskontinuität oder gar Verwerfung des bisherigen Lebensentwurfes einer Person darstellen. Immer aber gilt, dass bei Selbstkorrumpierung die Möglichkeit distanzierender Reflexion und des steuernden Innehaltens erhalten bleibt. Die Ich-Funktionen sind intakt, insbesondere die Fähigkeit der Handlungssteuerung.
3. Akt: Mord und andere Kleinigkeiten
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Chris ist jetzt endgültig in der selbst gestellten Falle gefangen. Er sucht die Aussprache mit Chloe. Als sie ihn direkt auf ein mögliches Verhältnis anspricht, leugnet er, beteuert seine Liebe zu ihr und seine Befürchtung, sie zu enttäuschen, was Chloe alleine auf die noch nicht eingetretene Schwangerschaft bezieht. Geht es Chris um den Konflikt zwischen Liebe und Lust oder zwischen Liebe und Lebensstandard? Nola bekennt jetzt ihre Eifersucht auf sein Leben mit Chloe im romantischen Luxus, was sie nicht länger hinnehmen will, und ihre Eifersucht auf seinen »Blümchensex« mit Chloe. Nola erwischt Chris bei der Lüge eines angeblichen Familienurlaubs und flippt aus, im wahrsten Sinne des Wortes. Wer also sagt Chloe Bescheid, Nola selbst oder doch Chris? Nola will kein heimliches zweites Eheverhältnis. Nola hat als schwangere Frau zu absoluter Eindeutigkeit gefunden. Chris verzweifelt, er sieht seine schöne neue Welt der High Society schon so gut wie verloren, seine Selbstkorrumpierung gewinnt nun wirklich an Fahrt. Sein persönliches moralisches System, psychoanalytisch: sein Über-Ich, gerät unter das Diktat seiner grenzlosen Sehnsucht, in dessen Dienst sein Ich, sein Realitätssinn gestellt wird: Bejaht und gewollt sind von Chris der Erhalt von Reichtum und Macht sowie die Abwehr von Beschämung und sozialer Vernichtung. In einer schlaflosen Nacht neben Chloe reift sein Plan zum ebenso raffinierten wie heimtückischen Dreifachmord, zum Raubmord an der Nachbarin als Tarnung der eigentlichen Absicht und zum Mord an Nola und ihrem wie seinem Embryo als scheinbarem Kollateralschaden, letzteres in Wirklichkeit aber das Hauptziel des bösen Planes. Wir erleben nun den Ablauf von zwei Morden, die – nach aller Wahrscheinlichkeit – zehnfach hätten misslingen und aufgedeckt werden müssen, aber sie »glücken«. Dabei spielen Alecs Schrotflinten, bislang nur Utensilien harmloser Jagdvergnügen, eine tödliche Rolle. Ebenfalls – und darin wiederholt sich das Motiv des auf die Netzkante senkrecht herabfallenden Tennisballs – ist von Entscheidung, dass Chris als letzten Akt der Vertuschung seiner Taten, den zur Vortäuschung eines Raubmordes und Beschaffungsvergehens den gestohlenen Schmuck der toten Witwe Eastby in die Themse schleudert. Dann findet er noch als Letztes den gravierten Ehering der Frau, wirft ihn eher nachlässig und weniger kraftvoll hinterher. In Analogie zum Tennisball vom Anfang fällt auch der Ring senkrecht auf das metallene Ufergeländer, springt hoch und fällt zurück auf den Fußweg – dem zum eigenen Schauder bereits fest mit dem Täter identifizierten Zuschauer verschlägt es den Atem, Chris scheint verloren, umso eindeutiger, da der genialische Detective Banks buchstäblich im Traum den Fall Nola Rice bereits exakt gelöst hat. Weil aber der Film die Rolle des Zufalls und des »Glücks« thematisiert, findet ein Junkie auf dem Uferweg den Ehering, nimmt ihn an sich und wird später in der Nacht ermordet. Als die Polizei den Ring bei dem Toten findet, ist für sie der Fall gelöst. Die korrekte Intuition des Inspektors kommt als überbordende Fantasie ad actas. Die perfiden Morde bleiben ohne Aufklärung und Sühne, ohne Strafe, zumindest juristisch. Die Qualen, die er, der selbstsüchtige Täter dabei im Niedertrampeln seiner ursprünglichen moralischen Empfindungen und seiner Liebe erleidet, diese Qualen sind durchaus echt, indessen sie halten ihn ab – von nichts. Chris erschießt seine Liebe, seine Nola. Er leidet wie ein Tier und macht weiter. Der Polizist fällt auf die tödliche Inszenierung herein und sagt trotzdem richtig über Nola:
3 Titel eines Filmes von W. Allen, 1989, worin ebenfalls eine unbequeme Geliebte für den Initiator folgenlos durch einen Auftragsmörder beseitigt wird.
302
Das radikal Böse: die Zerstörung der Moral
R »Es gibt Menschen, die haben einfach kein Glück. Zur falschen Zeit am falschen Platz.« Und zugleich ist Chloe zur höheren Ehre ihrer grauenhaft übergriffigen Mutter nun doch noch schwanger, schwanger von Chris. Die heilige Familie ist gebührend erschüttert über Nolas Tod und unendlich glücklich über die eigene, unbefleckte Empfängnis. Man könnte kotzen, bei genauer Betrachtung über Chris, oder noch genauer, über sein Verbrechen als dem Verrat an seiner Liebe und als Triumph eines grenzenlosen, absolut verblendeten Eigennutzes. Und die Champagnerkorken knallen. Im Polizeiverhör vollendet Chris den Verrat an seiner tiefen Liebe auf infame Weise. Konfrontiert mit Nolas Tagebuch:
R »Ich wollte die sexuelle Beziehung nicht beenden, aber ich mache doch nicht meine Ehe kaputt Meine Frau und ich haben uns sehr bemüht, ein Kind zu bekommen. Zerstören Sie mit Ihren Ermittlungen nicht verantwortungslos das Leben von Menschen. Nie würde ich jemanden verletzen, schon gar nicht Nola Rice.« – Der Detective: »Wir fällen keine moralischen Urteile, wir untersuchen ein Verbrechen.« Die große Leistung des Drehbuches und der Schauspieler besteht darin, uns sehr eindrücklich die Gewissensqualen, aber auch die Ängste und den absoluten, kreativen Siegeswillen des Mörders vor Augen zu führen, bis hin zur Offenbarung vor der Polizei, dass der Schwiegervater zwar Schrotflinten besitzt, mit denen Chris angeblich aber nicht umzugehen verstehe. Man möge dies doch nachprüfen. Ein Motiv, es beweist noch gar nichts. Wäre da nicht der Ring in diesem finalen Match, der eben nicht über das Netz, über das Geländer, flog, sondern dort aufsprang und zurück fiel. Diesmal fiel der Tennisball in Form des Eherings der alten Frau zurück ins eigene Feld, im Tennisspiel eine Niederlage, hier jedoch, paradox, der Freispruch kraft falsch gedeuteter Indizien. Eine verrückte Welt, meint der Kommissar. Psychodynamisch sind die Wurzeln der Tat bei Chris in seiner narzisstischen Persönlichkeit begründet: Bedeutet doch die Ehe mit Chloe und damit die Zugehörigkeit zur High Society eine radikale Aufwertung der eigenen Person und eine quasi kurzschlussartige Lösung aller Selbstwert- und Beziehungsprobleme. In der emotionalen Fixierung auf den gesellschaftlichen Aufstieg, der vermeintlich seine tiefen Selbstunwertgefühle besiegt, erscheint eine doch tief ersehnte Beziehung zu der Geliebten, zugleich verbunden mit einem nicht zu bewältigenden sozialen Verlust, für dessen Vermeidung er letztlich die Tötung der Geliebten und seines eigenen Kindes und quasi als Kollateralschaden auch noch den Tod der Nachbarin billigend in Kauf nimmt, um alle Hindernisse, die der Verwirklichung seines intensiv gewollten gesellschaftlichen Aufstieges im Wege stehen, zu beseitigen. Wenn nun Täter aus Selbstkorrumpierung im ethisch-moralischen Sinn, allerdings aus menschlicher Freiheit heraus böse sind, muss uns dies betroffen machen, denn wir sehen in unseren eigenen Spiegel, den wir alltäglich hinter hübschen, ehrenwerten Kulissen vor uns selbst verborgen halten. So stellt uns die Geschichte des Films selbst permanent vor die Frage: »Was würde ich tun?« Es geht um Geld, hohe berufliche Positionen, Familie, um Lust, Eifersucht, Betrug und Liebe und es geht um den entscheidenden Moment im Leben, in dem man endlich einmal Glück haben kann. Endlich Glück im ziellosen, sinnlosen, chaotischen und erschreckenden Leben, wo harte Arbeit nur die Illusion der Kontrolle über unser Schicksal verschaffen kann, aber dem Zufall nicht wirklich ins Handwerk zu pfuschen vermag.
303 Match Point – Chris Wilton (Jonathan Rhys Meyers)
Nachspiel: die narzisstische Tragödie Man lernt im Zuge der Selbstkorrumpierung, Schuldgefühle zu verdrängen und weiterzumachen. Es geht nicht anders, sonst wird man davon überwältigt. Und die Nachbarin, unschuldig und unbeteiligt, musste ausgelöscht werden, um eines größeren Zieles willen.
R Chris: »Sophokles hat gesagt, niemals geboren zu sein, ist vielleicht der größte Segen von allen, denn du musst deine Schuld auf Dauer wirklich unter den Teppich kehren oder sie überwältigt dich.« Psychoanalytisch betrachtet, hat Chris in Nola einen Teil von sich selbst ermordet. Nola war zu ihm wie ein Zwilling, aus kleinen und seelisch traumatisierenden Verhältnissen. Er liebte sie als sein Alter Ego. Mit ihr verstand er sich emotional viel direkter und tiefer gehend als mit allen anderen. Chris und Nola kamen aus derselben Welt, aber am Ende konnte nur einer überleben. Chris sitzt jetzt völlig vereinsamt im goldenen Käfig und kann aufgrund seiner erdrückenden Schuld nicht trauern, wohl aber in Selbsthass, Depression, Sucht, Wut und Missgunst sein eigenes Leben und das der anderen über die kommenden Jahre zerstören. Er geht dem seelischen, körperlichen und sozialen Selbstmord auf Raten entgegen. Selbstkorrumpierung geht immer einher mit der Zerstörung der eigenen Persönlichkeit. Chris hätte mit Nola zur Liebe finden können. Er wählte allerdings den schalen Glanz und die innere Verbitterung. Wie bei Macbeth erscheinen Chris zwischen Wachen und Träumen seine toten Opfer.
R Lola: »Alle deine Aktivitäten waren voller Lücken. Fast so wie einer, der darum bettelt, festgenommen zu werden.« Fortan nimmt sein Gewissen ihre Stimmen an, die von Nola und der alten Witwe. Sie fordern die gerechte Strafe ein. Dies wäre angemessen, meint Chris, es wäre ein kleines Zeichen von Gerechtigkeit und ein winziger Funken von Hoffnung, dass es überhaupt im Leben einen Sinn geben könne. Derweil hält endlich das eheliche Kind Einzug im trauten Heim, Terence, ein Glückspilz. Der Enkel wird in allem hinreißend sein, was immer er sich auch vornimmt. Ganz der Vater! Und er wird Glück haben, transgenerational bis an sein bitteres Ende.
Literatur Hentig v H (1956) Zur Psychopathologie der Einzeldelikte Bd 2: Der Mord Mohr, Tübingen Neiman S (2006) Das Böse denken. Suhrkamp, Frankfurt am Main Schmidt-Degenhardt M (2006) Mord und Selbstkorrumpierung – Ein kasuistischer Beitrag zum Problem des Verstehens in der forensisch-psychiatrischen Begutachtungssituation. In: Duncker H, Koller M, Foerster K (Hrsg) Forenische Psychiatrie – Entwicklungen und Perspektiven. Pabst Science Publishers, Lengerich, Berlin Die Opern: La Traviata; Macbeth, Rigoletto, Othello, Wilhelm Tell, Il Taravatore, Plésire d’amour.
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Das radikal Böse: die Zerstörung der Moral
Originaltitel
Match Point
Erscheinungsjahr
2005
Land
Großbritannien, USA
Buch
Woody Allen
Regie
Woody Allen
Hauptdarsteller
Jonathan Rhys Meyers (Chris Wilton), Scarlett Johannson (Nola Rice), Emily Mortimer (Chloe Hewett Wilton)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Mathias Lohmer und Corinna Wernz
Gier ist gut Narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80) und dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Narzissmus und Dissozialität als interaktionelle und kulturelle Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Die Charakterisierung der Hauptfigur und ihre Symptomatik im Spiegel der ICD-10. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Zur Psychodynamik von Narzissmus und Dissozialität und der Attraktivität des »bösen« Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
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Filmplakat Wall Street, USA 1987 Quelle: Cinetext/RR
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Wall Street Gordon Gekko (Michael Douglas)
Die Handlung Der Film Wall Street (. Abb. 1) handelt von der Beziehung des skrupellosen, erfolgreichen Milliardärs Gordon Gekko zu dem ihn bewundernden, aufstrebenden jungen Börsenmakler Bud Fox (Charlie Sheen) im New York der 1980er Jahre. Fox (Charlie Sheen), der mit großen Ambitionen als kleiner Börsenmakler in einer großen Wall StreetFirma arbeitet, gelingt es, den lang ersehnten Kontakt zu Gekko (Michael Douglas), einem »Star« der Broker-Szene, herzustellen, indem er ihm vertrauliche Informationen über die Fluggesellschaft »Blue Star« als Insiderinformationen weitergibt. Über diese verfügt er durch seinen Vater Carl (Martin Sheen, tatsächlicher Vater des Schauspielers Charlie Sheen), der als Monteur und Gewerkschaftler bei der Firma arbeitet. Fox bemüht sich um die Gunst von Gekko, wird von ihm gefördert und kommt immer mehr in die Rolle seines »Zöglings«. So lernt er, dass der Schlüssel zum Erfolg an der Börse in der Beschaffung von Insiderinformationen liegt, die einen Vorsprung vor Konkurrenten und damit eine gewinnbringende Spekulation mit Aktienkursen ermöglichen. Durch Gordon Gekkos Vermittlung lernt Fox die mit Gekko befreundete Innenarchitektin Darien Taylor (Daryl Hannah) kennen. Es gibt Andeutungen, dass sie eine Vergangenheit als Callgirl hat und in einer engen Beziehung zu Gekko steht. Beide verlieben sich ineinander und der Erfolg von Fox, den er wiederum durch Tipps von Gekko in seinem Beruf als Börsenmakler hat, erlaubt ihm, aufzusteigen, Reichtum zu erwerben und mit Darien in einer luxuriösen Penthousewohnung in Manhattan zu wohnen. Der rasante Aufstieg von Fox kommt erst ins Stocken, als es Fox gelingt, seinen Gönner Gekko zu der Übernahme von »Blue Star Airlines« in einer wirtschaftlichen Krise zu gewinnen. Er selber möchte die Firma, in der sein Vater arbeitet, sanieren und ihre Leitung übernehmen. In einer Schlüsselszene kommt es zur Auseinandersetzung in Fox’ Wohnung zwischen Gekko und seinem Vater Carl, in der Carl seinen Sohn vor der Skrupellosigkeit Gekkos warnt und das Meeting abbricht. Die idealisierte Beziehung von Fox zu Gekko kommt in die Krise, als Fox durch einen Zufall erfährt, dass Gekko in der Art der »Heuschrecken« »Blue Star Airlines« aus Gewinnstreben aufzulösen und die Teile einzeln zu verkaufen beabsichtigt. Aufgrund der Dramatik der Situation erleidet Fox’ Vater einen Herzinfarkt. Am Krankenbett kommt es zur Versöhnung zwischen Bud und seinem Vater. Fox beschließt Rache an Gekko zu nehmen und verbündet sich mit einem mächtigen Rivalen von Gekko, Larry Wildman, der ihm verspricht, die Firma selbst zu übernehmen und zu erhalten. Mit seiner Hilfe gelingt es ihm, Gekko zu täuschen und seine Pläne zu vereiteln. Fox wird von Polizei und Börsenaufsicht wegen Insiderhandels festgenommen und in einer beklemmenden Szene an den stummen Kollegen vorbei in Handschellen aus dem Büro geführt. Eine letzte Begegnung zwischen Gekko und Fox findet auf einer Wiese im Central Park statt, in der Gekko, der sich von Fox verraten fühlt, ihn ins Gesicht schlägt und ihm in einem Wutausbruch die Namen von Unternehmen nennt, die offenbar in früheren Insidergeschäften eine Rolle spielten. Gekko weiß jedoch nicht, dass Fox sich zur Kooperation mit den Behörden entschlossen hat und ein Aufnahmegerät am Körper trägt, was auch zur Überführung und Verhaftung von Gekko führt. Für seine Darstellung des Gordon Gekko wurde Michael Douglas mit dem Oscar für die beste männliche Hauptrolle ausgezeichnet Der Regisseur des Filmes, Oliver Stone, drehte 2009 den 2. Teil, Wall Street – Geld schläft nicht in dem Michael Douglas erneut die Rolle des Gordon Gekko spielt.
308
Gier ist gut
Narzissmus und Dissozialität als interaktionelle und kulturelle Phänomene Der Film ist aus mehreren Gründen geeignet, um die Phänomene »Narzissmus« und »antisoziale Persönlichkeit «zu beleuchten. Zum einen zeigt er durch die Darstellung des Paares Fox und Gekko, dass Narzissmus und antisoziale Störung immer auch interaktionelle Phänomene sind. Der Narziss Gekko vermag im Aufsteiger Fox die Sehnsucht nach Erfolg und Reichtum anzufachen, den Wunsch, ihm als seinem Idol zu dienen. Im Verlauf des Filmes kann gut beobachtet werden, wie Fox Gekko imitiert und sich ihm in Haartracht, Kleidung und Verhalten immer mehr annähert (. Abb.2) Mit dieser Imitation kommt es zu einer Introjektion, in der Fox idealisierte Objektaspekte von Gekko in sich aufnimmt. Umgekehrt lebt Gekko davon, in Figuren wie Fox Spiegelung, also Bewunderung für seine »Großartigkeit« zu erhalten. Neben dieser narzisstischen Thematik spielt das Thema Dissozialität eine große Rolle. Es geht hier ja um Betrug durch Handel mit Insiderinformationen, um arglistige Täuschung von Aktionären und anderen »Stakeholdern«, um das Übervorteilen von Rivalen und gekonnte Manipulation, z. B. in der Schlüsselszene, in der es Gekko gelingt, eine Aktionärsversammlung gegen den Vorstand einer Firma einzunehmen. Auch diese Thematik und die Dissozialität von Gekko wird als interaktionelles Phänomen gezeigt: Seine Skrupellosigkeit, seine Lust am Ausbeuten und Manipulieren wird von ihm keineswegs kaschiert, sondern offen gezeigt. Dies kommt besonders in seiner grandiosen Rede vor der Aktionärsversammlung zum Ausdruck, in der er den Vorwurf, nur aus Gier zu handeln, aufnimmt und offensiv ins Positive wendet:
R »Der Punkt ist, meine Damen und Herren, dass Gier – da wir nun kein besseres Wort haben – gut ist. Gier ist richtig. Gier funktioniert. Gier klärt und fängt die Essenz eines evolutionären Geistes ein!« Dissoziales Handeln als interaktionelles Phänomen überschreitet so nicht nur die Grenzen eines einzelnen Handelnden, der als Betrüger, Heiratsschwindler oder Hochstapler andere täuscht, und Gegenüber braucht, die unbewusst auch getäuscht werden wollen, um an einer grandiosen Fantasie teilhaben zu können (Lohmer 2004). Dissozialität wird hier zu einem kulturellen Phänomen, in dem ganze gesellschaftliche Gruppen eine dissoziale Subkultur mit den Normen der Selbstbereicherung, des Ausnützens, des Betrugs und des Hochstapelns leben. Durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise erfährt somit ein Film von 1987 eine ungeahnte Aktualität: Wir alle haben als Zeitgenossen bis Leidtragende miterleben können, wie eine »WallStreet-Kultur« eigene Werte und Normen entwickeln konnte, die sich ablösten von gesamtkulturell – wenn auch ambivalent – geteilten Normen eines guten geschäftlichen Gebarens. Narzisstische Themen wie Grandiosität und Realitätsverleugnung mischten sich hier mit dissozialen wie Manipulation, Betrug und bewusste Täuschung. Die Figuren des Gordon Gekko und seines Bewunderers Bud Fox führen vor, wie verführerisch die Etablierung einer solchen Subkultur sein kann und wie die Teilhaber an dieser Kultur dagegen gerichtete Bedenken und Skrupel zerstreuen. In diesem Zusammenhang ist rezeptionsanalytisch interessant, dass die Figur des Gordon Gekko in der Welt der Investment Banker und Börsenmakler nach Erscheinen des Films eine ähnliche magnetische Wirkung ausübte, wie sie im Film auf Bud Fox hatte: Plötzlich wurde es Mode, sich mit den gleichen breiten Hosenträgern, weißen Kragen zu gestreiften Hemden und gegelt nach hinten zurückgekämmten Haaren zu zeigen, wie es Gordon Gekko in Oliver Stones Film vormachte. Aus dem eigentlichen »Bösewicht« des Filmes wurde plötzlich ein »Role Model« und die von Stone ja beißend kritisch gedachte Rede über »Gier ist gut« wurde zum durchaus ernst gemeinten Bekenntnis zahlloser Börsentätiger. Der Film entfaltete so eine ungeahnte Rückkoppelung auf die soziale Realität, wurde keineswegs nur als schonungslose Kritik (als die er gemeint war), sondern von vielen als Ausdruck eines stolzen Selbst-
309 Wall Street – Gordon Gekko (Michael Douglas)
. Abb. 2 Fox imitiert zunehmend Gekko und nähert sich ihm in Haartracht, Kleidung und Verhalten immer mehr an – Szene mit Michael Douglas und Charlie Sheen, Quelle: Cinetext
bewusstseins und manipulativ erfolgreichen Handelns verstanden. Eine ähnliche Welle der Rezeptionsästhetik hatte es übrigens schon in den 20er und frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben, als sich die »Mobster«, die Gangster der Prohibitionszeit, genauso kleideten und benahmen, wie sie es in den Filmen z.B. von Howard Hawks, Mervyn LeRoy und Raoul Walsh mit den Filmfiguren von George Raft,James Cagney, Edward G. Robinson und Humphrey Bogart gesehen hatten. Die Fiktion, von der realen Welt angeregt, wird so, über das Medium Film, wiederum zur Realität.
Die Charakterisierung der Hauptfigur und ihre Symptomatik im Spiegel der ICD-10 Gordon Gekko und die narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.80) Betrachten wir die Figur des Gordon Gekko zunächst unter dem Aspekt der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Fünf von sieben Kriterien müssen erfüllt sein: E Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung (z.B. die Betroffenen übertreiben ihre
Leistungen und Talente, erwarten, ohne angemessene Leistung, als überlegen angesehen zu werden); E Beschäftigung über Fantasien, über unbegrenzten Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder ideale Liebe; E Überzeugung, »besonders« und einmalig zu sein und nur von anderen besonderen Menschen oder solchen mit hohem Status (oder von entsprechenden Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen zusammen sein zu können; E Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung;
310
Gier ist gut
E Anspruchshaltung; unbegründete Erwartung besonders günstiger Behandlung oder automatische
Erfüllung der Erwartungen; E Ausnutzung von zwischenmenschlichen Beziehungen, Vorteilsnahme gegenüber anderen, um
eigene Ziele zu erreichen; E Mangel an Empathie; Ablehnung, Gefühle und Bedürfnisse anderer anzuerkennen oder sich mit
ihnen zu identifizieren. Vergleicht man diese Kriterien mit der Figur des Gordon Gekko, so ist das erste Kriterium teilweise erfüllt. Das Größengefühl in Bezug auf die eigene Bedeutung ist gegeben, aber Gekko ist auch ein harter Arbeiter für den Erfolg. Man sieht ihn kaum schlafen oder essen, auch die private Atmosphäre der Party in seinem Hause dient letztlich der Anbahnung von Geschäften und der Festigung von Kontakten. Das Privatleben ist kurz und nebensächlich. Sicher möchte er als überlegen angesehen werden, aber – so könnte man sagen – durchaus unterstützt von einer angemessenen Leistung. Das zweite Kriterium kann durchaus als erfüllt angesehen werden: Im Gegensatz zu seiner Gegenfigur Bud Fox versucht er, die Bindung zu seiner niederen Herkunft zu kappen, sich quasi selbst neu zu erfinden und sich Statussymbole und die Zugehörigkeit zu einer neuen sozialen Gruppe zu erwerben:
R »Ich habe mich hier eingekauft, jetzt lecken mir hier alle die Stiefel«, sagt Gekko zu Fox, als er ihn in seinen teuren Fitnessklub einführt. Erfolg und Macht haben dabei eindeutig die Oberhand über die Vorstellung von Schönheit oder idealer Liebe. Das dritte Kriterium der Einmaligkeit und der »Specialness« tritt weniger deutlich in den Vordergrund, hier dominiert eher die dissoziale Lust, andere zu manipulieren und sich – wie im obigen Zitat illustriert –Zugang zu den Spielorten der Menschen mit hohem Status erkaufen und die Personen unterwerfen zu können. Dabei ist gleichzeitig die Verachtung für Aufstiegsmechanismen und gegenüber denen, die sich täuschen lassen, deutlich zu spüren. Das vierte Kriterium, das Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung wird in der Anlage seines Machtzentrums und seiner besonderen Rolle deutlich. Wolfe (1987) hat in seinem Roman Fegefeuer der Eitelkeiten das spezielle Selbstgefühl der Wall-Street-Börsenmakler beschrieben, sich als »Master of the Universe« zu fühlen. Als solcher inszeniert sich Gekko und genießt die Bewunderung seiner Umgebung und auch die Werbungsversuche von Fox um ihn. Es ist schwer, zu ihm Zugang zu bekommen, er betont seine Sonderrolle, die knappe Zeit, man muss Barrieren überwinden, um zu ihm zu gelangen. Er lädt zur Idealisierung ein und gewährt anderen eine Teilhabe an dieser Größenfantasie, einen speziellen Zugang zu ihm erhalten zu können. Das fünfte Kriterium ,die Anspruchshaltung, z. B. die Erwartung, in besonderer Weise behandelt zu werden, drückt sich in der Filmfigur in der Konstruktion dieser eigenen Welt mit einer eigenen Wirklichkeit aus. Auch hier wiederum beeindruckt die Hermetik seiner Welt, die durch Vorzimmer und Sekretäre beschützt wird, und nur durch die elektronischen Medien Telefon und Computer mit der Außenwelt vernetzt ist. Zugang zu dieser Welt erhält man nur durch eine eindeutige und unkritische Imitation und Identifikation mit dieser. So muss sich Fox mehrfach entscheiden, ob er sich kompromisslos dem Kurs seines Meisters anschließt, nur denkt und tut, was dieser denkt und tut, sich zum Klon macht und sein ganzes Leben auf den Meister ausrichtet – oder aber die Ausstoßung aus dieser Welt riskiert. Auch hier wird das narzisstische Phänomen wieder in seiner interaktionellen Inszenierung deutlich. Das sechste Kriterium, die Ausbeutung von zwischenmenschlichen Beziehungen, ist sicher das dominierende der Filmfigur. Es gibt quasi keine anderen Beziehungsformen bei dem Protagonisten, außer vielleicht einer gegenseitigen augenzwinkernden Anerkennung zwischen Gekko und seiner Freundin und Vertrauten Darien Taylor Hier erinnern sie, in ihrer gemeinsamen Lust an der manipulativen Beherrschung anderer Menschen an die Hauptfiguren aus dem Film Gefährliche Liebschaften von Stephen
311 Wall Street – Gordon Gekko (Michael Douglas)
Frears (1988). (Dessen Handlung nach dem gleichnamigen Briefroman von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos spielt in Frankreich zur Zeit des Rokoko. Die Marquise Isabelle de Merteuil (Glenn Close) schlägt dem galanten Vicomte Sébastien de Valmont (John Malkovich) vor, die Braut Cécile de Volanges (Uma Thurman) ihres früheren Geliebten noch vor der Hochzeitsnacht zu verführen. Für die Verführung der verheirateten Marie de Tourvel (Michelle Pfeiffer) verspricht sie ihm sogar eine Liebesnacht) Gegen die ausbeuterisch-manipulative narzisstische Welt setzt der Film Wall Street etwas platt den familiären Hintergrund des Zöglings Bud Fox, der im entscheidenden Moment sich doch auf die Seite der Welt des Vaters schlägt, mit den Werten von Solidarität, zurücktretendem individuellem Eigeninteresse, Engagement für die Gemeinschaft, Bindung an die Familie und Orientierung an den Werten gesellschaftsbezogenen Handelns. An einer Stelle sagt Gordon Gekko:
R »Wenn du einen Freund brauchst, kauf’ dir einen Hund« Damit wird deutlich, dass sich die Filmfigur durch Beziehungsbedürfnisse und Abhängigkeit als verwundbar und verletzbar erleben würde und deswegen ein zynisches Verhältnis dazu entwickeln muss. Diese »innere Unabhängigkeit« erlaubt ihm auch den kalt lächelnden Verzicht auf Bindung, lässt ihn allerdings nicht rechtzeitig erkennen, dass er seinen Zögling Bud Fox in einen Loyalitätskonflikt treibt, der diesen sich schließlich gegen ihn wenden lässt. Menschliche Bindung ist für ihn weniger entscheidend als dabei zu sein und dazuzugehören, was er in einem anderen Zitat beschreibt:
R »Wenn du nicht dazugehörst, fliegst du raus.« Hier wird deutlich, dass die Grundangst nicht die des Liebesverlustes, sondern die des Ausschlusses aus der Gruppe und der Verlust von Bedeutung und Macht ist. Beziehungen haben Surrogatcharakter und sind prinzipiell durch Geld und Macht verfügbar:
R »Ich werde dich so reich machen, dass du dir ein Mädchen wie Darien leisten kannst« Hier drückt Gekko gegenüber Fox aus, dass Beziehungen prinzipiell als etwas Käufliches betrachtet werden können und sollten. Das siebte Kriterium, der Mangel an Empathie und damit die fehlende Einfühlung in die Bedürfnisse anderer zeigt sich, wie gerade beschrieben, in der mangelnden Fähigkeit von Gekko, das Ausmaß der Loyalität von Fox zu der Welt seines Vaters, der Gemeinschaft der Fluglinie und dem eigenen gegebenen Wort gegenüber den Firmenangehörigen nachvollziehen zu können. Es ist ihm schlicht nicht einfühlbar, dass jemand sehenden Auges auf die Möglichkeiten zu Macht und Reichtum verzichten könnte, weil er in einen Gewissenskonflikt gerät Hier stoßen wir auf ein spannendes narzisstisches Phänomen: Das gleichzeitige Existieren von höchster manipulativer Fähigkeit und damit einer gewieften Einfühlung in die Sehnsüchte und Ängste anderer, mit einer Blindheit gegenüber anderem Denken und Fühlen als es im eigenen inneren Universum vorkommt. Man könnte auch sagen, dass Gekko Bud Fox so sehr als »Selbstobjekt« behandelt, dass er es schlichtweg nicht imaginieren kann, dass dieser eine eigene, von ihm abweichende und im Konflikt gegen ihn gerichtete Haltung entwickeln könnte. Im Rahmen dieser »Selbstobjekt-Übertragung« (Kohut 1971) wird »der Andere« als Teil des eigenen Selbst, als wichtige Ergänzung, als Zögling eben gesehen und nicht mehr in seiner Eigenart wahrgenommen.
312
Gier ist gut
Gordon Gekko und die dissoziale Persönlichkeitsstörung (F60.2) In der psychoanalytischen Konzeptualisierung der narzisstischen Störung in der Tradition von Kernberg (Kernberg 2006) sehen wir ein Kontinuum von pathologischem Narzissmus als einer Selbstwertstörung mit einem Pol der Grandiosität und einem der Minderwertigkeit, über den malignen Narzissmus mit dem Phänomen des Sich-unberührbar-Machens und einem ausbeuterischen Verhältnis zu anderen Menschen bis hin zur dissozialen Persönlichkeitsstörung. Diese stellt die extreme Ausformung einer narzisstischen Störung dar und gleichzeitig den Pol stärkster Pathologie. Durch Psychotherapie ist sie nur schwer zu beeinflussen. In diesem Sinne könnte man Gordon Gekko als eine narzisstische Persönlichkeit mit starken dissozialen Zügen verstehen. Allerdings tritt er – wie oben beschrieben – nicht als ein Ausgestoßener oder banaler Krimineller der Gesellschaft gegenüber, sondern als ein bewunderter Exponent von Macht und Reichtum, der sich im kulturellen Einverständnis weiß mit seiner Bezugsgruppe und sich eher als ein besonders raffinierter und »fleißiger« Vertreter dieser grandiosen ausbeuterischen Haltung verstehen kann. In diesem Sinne drücken die Kriterien der dissozialen Störung nach ICD-10 auch eine besondere Akzentuierung der oben schon beschriebenen narzisstischen Thematik aus.Diese Kriterien sind: E herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer; E deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen; E Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen, aber keine Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen; E sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten; E Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewusstsein oder zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung; E Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch welches die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist. Entsprechend unseren Überlegungen über ein Kontinuum des Narzissmus bis hin zur dissozialen Persönlichkeitsstörung können wir bei unserer Figur Gordon Gekko deutliche dissoziale Züge feststellen. Die manipulative Objektbeziehung dominiert, entsprechend wird er von den Gefühlen anderer nicht wirklich berührt (erstes Kriterium) – so z. B. von dem Konflikt von Bud Fox angesichts seiner Loyalitätsgefühle gegenüber der Firma »Blue Star Airlines«, seinem Vater und den Gewerkschaftlern einerseits und dem Wunsch nach geschäftlichem Erfolg andererseits. Weder kann Gordon Gekko wirkliche Loyalitätsgefühle nachvollziehen, noch sich in die Seelenlage von Bud Fox hineinversetzen Das zweite Kriterium, das der Verantwortungslosigkeit und Missachtung sozialer Normen ist zwiespältiger zu beurteilen, da hier wieder die kulturelle Einbettung des »Leitwolfs« Gekko in die gemeinsam geteilten subkulturellen Normen der Wall-Street-Bruderschaft, der »Masters of the Universe« zum Tragen kommt. In dieser Subkultur der Konkurrenz der Leistung und der Vorteilssuche verhält sich Gekko normkonform und nur aus der Außenperspektive, wie sie durch den Vater Carl Fox und die Gruppe der Gewerkschaftler vertreten wird, erscheint seine Haltung als verantwortungslos. Die umstandslose Benutzung von Insiderinformationen ohne Unrechtsbewusstsein, das konfliktfreie Lügen und das Desinteresse an dem Schicksal der Firmenangehörigen unterstreichen die Dominanz der dissozialen Verhaltensmuster, was aber – wie oben ausgeführt – subkulturkonform ist. Die Figur der Darien Taylor nimmt hier eine interessante Zwischenstellung ein: Sie erkennt zusammen mit Bud Fox die Verantwortungslosigkeit und den Ausbeutungscharakter des Verhaltens von Gekko, rationalisiert diese Haltungen aber als »notwendig«, um Macht und Erfolg zu erringen. Sie verfügt also über ein Unrechtsgefühl, stellt dieses aber angesichts der Möglichkeit der Teilhabe an Macht, Geld und Erfolg bewusst hintan.
313 Wall Street – Gordon Gekko (Michael Douglas)
Was das dritte Kriterium, das Vermögen, längerfristige Beziehungen einzugehen betrifft, so fällt auf, dass Gekko im Prinzip nur Geschäftsbeziehungen unterhält, die wiederum nur auf Vorteil ausgerichtet sind. Sie sind diskontinuierlich und stehen unter dem Primat von Macht und Profit – deutlich wird das in seiner ambivalenten Beziehung zu Sir Larry, der mal in einer väterlichen, dann in einer Konkurrenzsituation zu ihm erscheint. Heterosexuelle Beziehungen spielen ebenfalls keine wichtige Rolle, die Beziehung zu seiner Frau scheint eher konventionell zu sein bzw. – ebenso wie seine Kunstsammlung – den gesellschaftlichen Hintergrund für sein Agieren abzugeben. In diesem Sinne erscheinen Beziehungen arbiträr und austauschbar zu sein. Eine Affäre zu Darien Taylor dient hier eher der Selbstvergewisserung, dem heterosexuellen Spiegelbild. Auch hier geht es eher um fusionäre Aspekte als um die Erkennung eines wirklichen »Du«. Das vierte Kriterium das der geringen Frustrationstoleranz ist bei unserem Helden nicht gegeben. Die Handlung spielt sich in einem elaborierten Kontext ab, in dem offene Aggression durch das übergeordnete Ziel der Profitmaximierung und Machterweiterung dysfunktional wäre. Lediglich in der Schlussszene kommt es zu einem Aggressionsdurchbruch gegenüber Bud Fox, dessen Verhalten er als direkte Attacke gegenüber sich selbst empfindet. Das fünfte Kriterium, die Unfähigkeit zu Schuldbewusstsein kann als deutlich gegeben angesehen werden: Innere Konflikte zwischen Es und Über-Ich-Aspekten spielen bei Gordon Gekko keine Rolle. Es geht um Siegen oder Unterliegen, um günstige Gelegenheiten, um Machtbeweis, vielleicht um ein kurzfristiges Bedauern über einen Gang des Geschäfts oder auch Wut gegenüber Übervorteiltwerdens und nicht um Bedauern und Schuldgefühle gegenüber eigenen Handlungsimpulsen. Interessant ist hier der Gegenspieler Larry Wildman, der als im Prinzip ebenso geschäftstüchtig und skrupellos geschildert wird, aber eine gewisse Wandlung durchzumachen scheint, Züge von Menschenfreundlichkeit entwikkelt und sich daher auch als Bündnispartner für Bud Fox in seinem Rettungsversuch für die Flugzeugfirma »Blue Star« eignet. Anhand dieser Figur wird vorgeführt, dass es auch möglich ist, aus Erfahrung zu lernen, im Gegensatz zu Gordon Gekko. Der junge Bud Fox selbst erscheint hier wie ein Mischbild zwischen der Möglichkeit loyal zu sein gegenüber Vater und Firma und der Verführung von Macht und Profitgier. Das sechste Kriterium der Beschuldigung anderer bzw. die Tendenz zu Rationalisierung zeigt sich am ehesten in seiner »Gier-Ideologie«, die als eine Rationalisierung für den direkten Zugriff zu Macht und Reichtum verstanden werden kann, als bewusst vertretene Ideologie, aber auch als geschickt eingesetzte Manipulationsstrategie. – An dieser Stelle ist nicht zu unterscheiden, inwiefern Gekko Distanz zu seinem eigenen Verhalten und Denken hat und dieses quasi gebrochen einsetzt oder ungebrochen diese Haltung verkörpert.
Zur Psychodynamik von Narzissmus und Dissozialität und der Attraktivität des »bösen« Objekts Die Entstehung der Störung kann nicht an der Filmfigur nachvollzogen werden, da nur Weniges über ihre Geschichte bekannt wird – das sich Lösen aus kleinen Verhältnissen, die Furcht vor dem sozialen Abstieg (»Wenn du nicht dazugehörst, fliegst du raus!«), das Vermeiden von Abhängigkeit, in gewisser Weise der Kampf gegen das gesellschaftliche und finanzielle Establishment. In diesem Sinne ist Gekko auch ein Rebell, ein »Maverick«, ja ein Einzelgänger, der lustvoll gegen die Spielregeln verstößt und gleichzeitig durch seine Statussymbole (Ehefrau, Geliebte, Wochenendhaus in den Hamptons mit Kunstsammlung) seine Zugehörigkeit dokumentiert. An diesen wenigen Details kann man schon die prekäre Existenz narzisstischer Persönlichkeiten mit antisozialen Zügen erkennen. Die narzisstische Persönlichkeit vollführt einen gewagten Balanceakt über dem Abgrund: Größenfantasien, aber auch Charisma und die Fähigkeit für andere zum Idol zu werden, sind von plötzlichem Absturz und depressiven Krisen bedroht. Ein im Kern labiles Selbst, das oft durch nicht ausreichend gute Bindungserfah-
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Gier ist gut
rungen und zu wenig basale Wertschätzung verursacht wird, ist auf ständige Spiegelung, Erfolgserlebnisse und rauschhafte Triumphe angewiesen, um nicht zu kollabieren und in Gefühle von Versagen, Kleinheit, Unzureichendsein zu geraten. Die antisoziale Ausprägung der narzisstischen Störung hält diese depressive Gefahr durch eine ausgesprochene Gefühlsferne, ein mangelndes Angsterleben und eine generelle Geringschätzung menschlicher Beziehungen und Bindungen besonders wirkungsvoll in Schach. Obwohl häufig in Kombination mit ausgesprochen paranoiden Erlebnisweisen und daher einer besonderen Witterung für Gefahren ausgestattet, fehlt antisozialen Persönlichkeiten auf der anderen Seite oft eine Menschenkenntnis, die auch die »depressive Position« von menschlichem Erleben umfasst. So ist es für Gekko nahezu uneinfühlbar, dass sich Bud Fox gegen das Bündnis mit ihm, Erfolg, Macht, Reichtum und die Zugehörigkeit zu den »Masters of the Universe« entscheidet. An dieser Stelle weist die antisoziale Persönlichkeit eine Schwäche auf, die sie durch erhöhten Manipulationsaufwand auszugleichen trachtet. Während die narzisstische Persönlichkeit oft von narzisstischen Einbrüchen und Krisen bedroht ist, in denen auch eine Chance zur Umkehr und zur Reflexion liegt, sind die antisozialen Züge einer Persönlichkeit oft dafür verantwortlich, dass auch aus Rückschlägen nicht ausreichend gelernt werden kann und an einem ausbeuterischen Muster festgehalten werden muss. Inzwischen geht man davon aus, dass für diese Züge auch hereditäre Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Kulturell interessant ist jedoch, dass »Don Juans«, Hochstapler, Heiratsschwindler und Betrüger eine eigenartige Faszination ausüben und immer wieder bereitwillige Opfer und Bewunderer finden. Was macht die antisoziale Persönlichkeit in vielen Fällen so attraktiv? Sicherlich wirkt das Schillernde der antisozialen Persönlichkeit auf viele reizvoll und gewinnend – erinnert sei hier daran, dass es immer wieder zu sexuellen und Liebesbeziehungen zwischen inhaftierten antisozialen Tätern und ihren professionellen Betreuerinnen kommt. Die spezifische narzisstisch-dissoziale Aura führt dazu, dass dafür empfängliche Menschen an der Macht und der Aura erfolgreich dissozialer Persönlichkeiten partizipieren wollen. Auf diese Weise kann Gekko auch zum Idol für Fox werden. Verhaltensweisen wie die leichte Art und Weise, sich über gesellschaftliche Konventionen angstfrei hinwegzusetzen, das konfliktfreie Voranstellen des eigenen Interesses und die Lust an Manipulation und Ausbeutung drücken in faszinierender Reinform den »Schatten« vieler Menschen und Kulturen aus: Das, was verpönt ist, nicht Über-Ich-konform, nicht kulturkonform, erscheint auf der anderen Seite umso faszinierender und anziehender. Die Figur des Don Giovanni, des Hochstaplers Postel, aber auch skrupellose Börsenprofis verkörpern so gleichzeitig die Lust am rebellischen Sich-Hinwegsetzen über Normen und der Freiheit von Konflikten und Bindungen als auch die Lust am raschen Erfolg. Vielleicht kann man so auch verstehen, dass der »negative« Held Gordon Gekko in der Rezeptionsgeschichte des Films Wall Street zum attraktiven Helden für viele Zuschauer wurde, die sich selbst nur allzu gerne in die Welt der »Masters of the Universe« fantasierten. Und natürlich gilt auch hier, wie so oft im Film: Der »negative« Held, der kunstreich-böse ist faszinierender als der mit Skrupeln behaftete »positive« Held. Wir interessieren uns, so gesehen, mehr für »Mephisto« als für »Faust«.
Literatur Kernberg OF (2006) Die narzisstische Persönlichkeit und ihre Beziehung zu antisozialem Verhalten und Perversionen – pathologischer Narzissmus und narzisstische Persönlichkeit. In: Kernberg OF, Hartmann HP (Hrsg) Narzissmus. Grundlagen, Störungsbilder, Therapie. Schattauer Stuttgart, S 263–307 Kohut H (1971) Narzissmus. Suhrkamp Frankfurt am Main Lohmer M (2004) Das Unbewusste im Unternehmen: Konzepte und Praxis psychodynamischer Organisationsberatung. In: Lohmer M (Hrsg) Psychodynamische Organisationsberatung . Konflikte und Potentiale in Veränderungsprozessen, 2. Aufl Klett-Cotta Stuttgart, S 18–39 WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2005) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. 5. Aufl Huber, Bern Wolfe T (1987) Fegefeuer der Eitelkeiten. Kindler, Reinbek
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Originaltitel
Wall Street
Erscheinungsjahr
1987
Land
USA
Drehbuch
Stanley Weiser, Oliver Stone
Regie
Oliver Stone
Hauptdarsteller
Charlie Sheen (Bud Fox), Michael Douglas (Gordon Gekko), Daryl Hannah (Darien Taylor), Martin Sheen (Carl Fox)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Jutta Menschik-Bendele
Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich auch meinen kleinen Sohn verspielt Pathologisches Spielen (ICD-10: F63.0) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Betroffene berichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Zur Diagnose: Spielsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Verteilung und Gefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Eine typische Spielerkarriere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Spieler und Spielerinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Biologische Hintergründe der Spielsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Zur Psychodynamik der Spielsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Der Spielautomat oder der Spielsalon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Faszination Roulettespiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Zu diesem Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
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Filmplakat Die blonde Sünderin, Frankreich 1962 Quelle: Cinetext
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Die blonde Sünderin Jackie Demaistre (Jeanne Moreau)
Die Handlung Vorspann Eine wasserstoffblonde Dame (Jeanne Moreau) in einem tollen weißen Kostüm spaziert, sich in den Hüften wiegend, über die berühmte »Promenade des Anglais« an der französischen Riviera. Eine Kreisblende fängt kurz ihr Gesicht ein – unschuldig und verführerisch zugleich. Die Kamera verlässt sie und wechselt in eine kleine Bankfiliale in Paris. Am Schalter arbeitet Jean Fournier (Claude Mann), ein junger, gut aussehender Bankangestellter, der durch Mimik und Gestik deutlich zeigt, dass er seinen Job recht langweilig findet. Als ein Kollege ihm anbietet, ihn mit seinem brandneuen Wagen nach Hause zu fahren, nimmt er freudig an. Der Freund gesteht ihm, nicht durch eine Erbschaft, sondern durch einen hohen Gewinn beim Roulette zu einem kleinen Vermögen gekommen zu sein. Allerdings bedrückt ihn, dass er seine Frau über die Herkunft des Wagens belügen muss, da er beim Leben seines Kindes versprochen hat, nicht mehr zu spielen. Als Jean seinem Vater, einem Uhrmacher, bei dem er lebt, vom finanziellen Glück seines Freundes berichtet, reagiert dieser reserviert. Für ihn sind alle Spieler verkommen, er kennt Unternehmer, die nach Spielverlusten jetzt als Nachtwächter arbeiten müssen, und ist überzeugt, dass Jeans Freund Caron den Wagen in ein paar Tagen wieder verkaufen muss (womit er Recht hat).
Alles oder nichts Und schon einige Tage später bittet Caron ihn, am Samstagabend zum Spiel mitzukommen, da er eine größere Summe aufbringen müsse, weil er sonst erledigt sei. Sie fahren nach Amiens und werden Zeuge einer hässlichen Szene, in der die elegante blonde Frau aus dem Kasino gejagt wird, da sie betrogen hat. Noch weiß Jean nicht, dass er diese Dame später wieder treffen und ihr verfallen wird. Caron weist seinen Freund in die Grundzüge des Roulettes ein: »plain«, »pair«, »impair«, »rouge et noir«, »transversale«, »cheval«, »faîtes vous jeux«. Das Anfängerglück beschert Jean eine stattliche Summe von sechs Monatsgehältern innerhalb einer knappen Stunde. Das Geld kommt ihm vor »wie gestohlen«, und er ist entschlossen, mit dem Spielen aufzuhören. Caron ist beeindruckt über Jeans »Talent« und überzeugt ihn, dass sich das Spielen nur in den großen Häusern der Côte d‘Azur lohnen würde. Jean eröffnet seinem Vater, dass er dieses Jahr nicht wie sonst in die Sommerfrische auf das Land fahren möchte, sondern seinen Urlaub in Nizza zu verbringen gedenke, um zu spielen. Sein Vorsatz, nicht mehr zu spielen, ist vergessen. Der wütende Vater schimpft, dass er keinen Spieler im Haus dulde, und wirft ihn hinaus.
Ankunft in Nizza In Nizza mietet Jean ein Zimmer in einer einfachen Pension, lässt vorsichtshalber etwas Geld zurück und fragt die Wirtin nach dem Kasino. Sie verlangt von ihm, im Voraus zu bezahlen:
R »Wenn jemand spielt, weiß man nie …«
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Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich auch meinen kleinen Sohn verspielt
Erster Einsatz Am helllichten Tag geht er mit seinem Gewinn zögernd in den Spielsalon. Drinnen herrscht geschäftiges und lebhaftes Treiben. Er sieht die blonde Frau wieder, sie ist fahrig, nervös, kettenrauchend und fragt ihn: »Worauf soll ich setzen?« Er empfiehlt die »17«, sie gewinnt. Beide stecken die Köpfe über ihren Listen zusammen und haben schließlich viel gewonnen. Die elegante Spielerin stellt sich als Jackie vor. Sie gibt zu, vor seinem Eintreffen alles verloren zu haben, Fahrkarte, Schmuck, Geld. Sie war schon am Bahnhof, mit den besten Vorsätzen, nach Hause zu fahren. Dann ist sie im letzten Moment ins Kasino zurückgegangen und hat wie besessen gespielt, bis nach dem letzten Jeton »nichts mehr ging«.
R Jean ergänzt: »Wie in Amiens?« Sie lügt: »Ich war noch nie im Leben in Amiens.« Jean fragt sie: »Wenn Sie alles verspielt hätten, was dann?« Sie antwortet: »Dann wäre mir schon etwas eingefallen.« Die Spielerin Leicht überdreht, fast manisch fällt ihr ein, dass sie seit Tagen nichts gegessen hat und möchte ganz teuer soupieren. Während des Essens will Jean wissen, warum Jackie spielt. Sie antwortet, dass ihr nichts einen solchen Reiz vermitteln kann wie das Spiel, dass sie besessen davon sei. Ihr Ehemann, ein reicher Waffenfabrikant, habe sie angefleht, nicht mehr zu spielen. Er war eifersüchtig auf das Spiel, aber nichts habe genutzt. Sogar ihren 3-jährigen Sohn hat sie zurückgelassen. Er wurde dem Vater zugesprochen. Sie darf ihn ab und zu sehen und sagt später:
R »Mir kommt es vor, als hätte ich auch meinen Sohn verspielt.« Jean erzählt, dass er allein ist und bei seinem Vater lebt. Seine Mutter ist gestorben. Einmal war er verlobt, aber die Vorstellung, sich zu endgültig zu binden und eine Familie zu gründen, habe ihn eingeengt. Er hat die Verlobung gelöst, um wieder frei zu sein.
Was sagt das Gefühl? Während des Essens wird Jackie nervös. Ihr Gefühl sagt, dass jetzt das große Glück wartet –»sofort«. Sie hetzen zum Kasino, wechseln das ganze gewonnene Geld in Jetons ein, spielen wie wild und wenig später ist alles weg. Jackie ist zerknirscht, sie könnte sich ohrfeigen. Beide kramen in ihren Taschen nach etwas Wechselgeld für einen oder zwei Whisky. Jean nimmt Jackie mit in sein Hotelzimmer, nachdem sie ihren Koffer vom Bahnhof geholt haben. Etwas erstaunt fragt er sie, ob es oft vorkomme, dass sie mit einem Mann ein Zimmer teile, den sie gar nicht kenne. Sie antwortet, dass sie ihn so gut kenne, wie manch einen anderen und dass sie nicht kleinlich sei, »was diese Dinge angehe«. Aus ihrem schicken handlichen Koffer zaubert sie ein kleines Roulettespiel hervor (. Abb. 2), mit dem sie unterwegs trainiert, wenn sie kein Geld zum Spielen hat, außerdem eine Flasche Whisky und ein verführerisches, mit Marabufedern gesäumtes Negligé. Sie gibt zu, ihn belogen zu haben, nämlich, dass sie doch jene Frau in Amiens war, die man dort hinausgeworfen hat. Sie war oft dort. Er will das nicht mehr so genau wissen. Er ist verliebt. Sie wirft sich in seine Arme und bittet ihn, ihr zu helfen. Sie muss schnell weg von hier.
Ein Traum Am nächsten Morgen huscht Jackie rauchend, in ein hinreißendes »Korselettchen« gekleidet, ins Bad. Jean wacht auf, sieht den leeren Platz neben sich, folgt ihr und erzählt, dass er geträumt habe, sie sei fort. Sie entschließt sich, nach Paris zu fahren, bedankt sich bei ihm, gibt ihm ihre Adresse und will vorher noch ihre Freundin besuchen, bevor sie auf den Zug wartet und abfährt. Jean würde sich freuen, wenn
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. Abb. 2 »Wenn ich kein Geld habe, spiele ich für mich allein. Manchmal habe ich Tage damit im Hotelzimmer zugebracht – viele Sonntage.« – Szene mit Jeanne Moreau. Quelle: Cinetext
ihr noch Zeit bliebe, ihn am Strand zu besuchen, wo er den Tag verbringen möchte. Als er dort liegt, kommt sie mit ihrem Koffer über den Kies gestöckelt. Sie ist deprimiert, weil niemand in Paris auf sie wartet, und ist überzeugt, dass, wenn sie 100.000 Franc gewönne, sie nie mehr einen Spielsalon betreten würde. Sie spottet über die fetten Leute im Badeanzug, deren Anblick sie nicht ertragen kann, und geht davon. Nach kurzem Zögern folgt er ihr.
Verzweifelt Als er sie im Kasino trifft, hat sie gerade das Geld für die Fahrkarte verspielt. Ein fremder Mann spricht sie an und lädt sie ein, mit ihm »etwas zu trinken«. Wenig später kommt sie mit einem Jeton zurück. Jean, der inzwischen sein letztes Geld gewechselt hat, beschimpft sie als Hure, die bereit ist, für einen Jeton auf den Strich zu gehen. Sie zeigt sich ungerührt, ist froh über ihren Chip und gemeinsam gewinnen sie ein Vermögen. Sie stopfen das gewonnene Geld in den Koffer und entschließen sich, nach Monte Carlo zu gehen. Natürlich brauchen sie dafür einen eleganten Wagen, Abendkleid und Smoking. Das alles wird gekauft und wie berauscht sausen sie mit ihren Einkäufen im schnittigen Cabriolet die Küstenstraße der Baie des Anges (Bucht der Engel) entlang.
Ein glückliches Leben Im Grandhotel nehmen sie eine vornehme Suite. Jean fragt Jackie, ob sie diesen Luxus so sehr liebe. Sie antwortet, dass es ihr nicht um das Geld gehe, sondern um das Auf und Ab zwischen Gewinn und Verlust und vor allem um das Spiel der Zahlen. Er möchte so gern hören, dass sie ihn liebt, aber für sie sind beide nur Komplizen beim Spiel.
R »Du bringst mir Glück, deshalb zerre ich Dich wie einen Hund hinter mir her.«
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Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich auch meinen kleinen Sohn verspielt
Er ohrfeigt sie.
Rien ne va plus Sie verliert beim Spiel und will aufhören, aber er besteht darauf, weiter zu machen, weil sie gewinnen müssen. Schließlich haben sie alles verloren. Sie »verramschen« den Wagen. Vorher suchen sie noch die Taschen nach Münzen ab. An der Promenade spielt Jackie am einarmigen Banditen und gewinnt noch Geld für einen Whisky.
Alles erlogen Mit dem Zug fahren sie zurück nach Nizza in die schäbige Pension. Jackie hat den großen Katzenjammer, sie fühlt sich wie verfault, ekelt sich vor ihren Lügen und dem Verrat. Sie hat keine Freundin, die ihr Geld schuldet und auch ihr Mann würde ihr keinen Sou mehr geben. Jean schreibt seinem Vater, damit er ihm Geld schickt. Der Vater tut dies und verspricht seinem Sohn, dass er zurückkommen kann. »Ich werde nichts fragen«. Als Jean mit dem Geld von der Post zurückkehrt, ist Jackie fort. Er weiß, wo sie ist.
Lass mich gehn Im Kasino sitzt sie niedergeschlagen am Spieltisch. Sie hat ihre teure Armbanduhr versetzt. Er bittet sie aufzuhören und mitzukommen. Sie jagt ihn weg. Jean geht, Jackie gibt sich einen Ruck, läuft ihm nach und stürzt mit dem Schrei: »Jean!« in seine Arme. Eng umschlungen gehen beide die Promenade entlang, bis das Auge der Kamera sie verliert. Das Ganze ist zu schön, um wahr zu sein. Trotz all der Abenteuer, die Jackie überstanden hat, zeigt ihr weißes Kostüm nicht einen einzigen Fleck. Wie ein reiner Engel schmiegt sie sich an Jean und erzeugt die Illusion, es könnte mit einem Schlag alles gut werden. Es gibt einen weiteren beeindruckenden Spielfilm, der die Spielleidenschaft einer Frau zum Thema macht: 2005 drehte Erhard Riedlsperger das Psychogramm einer von ihrer Sucht getriebenen und verzweifelten Spielerin. Er orientiert sich an Motiven des Romans Der Spieler von Dostojewski (1867) und nennt seinen Film konsequent: Die Spielerin. Polina Sieveking (glaubwürdig von Hannelore Elsner gespielt) ist eine wohlhabende geschiedene Frau Mitte fünfzig, die einen Rechtsanwalt trifft, der in geschäftlichen Schwierigkeiten und großer Geldnot steckt. Er überredet sie, mit Geld, das er ihr gibt, für 30 Minuten im Kasino für ihn zu spielen, weil ihr Horoskop so günstig sei. Sie gewinnt, verliebt sich in ihn und gerät in den Strudel der Abhängigkeit. Beklemmend wird ihr Weg in das psychische und soziale Elend dokumentiert. Ihr Schicksal gleicht eher als das von Jackie jener Wirklichkeit, die süchtige Spieler und deren Angehörige beschreiben.
Betroffene berichten Tillmann beschreibt in ihrem Buch Verspieltes Glück (2003), wie ihr Bräutigam am Wochenende vor der Hochzeit loszieht, um die Ringe und einen schwarzen Anzug zu kaufen – und wie er ohne Geld, ohne Anzug, ohne Ringe zurückkommt. Er hat alles am Spielautomaten verzockt – und das nicht zum ersten Mal. An einem Dritten des Monats steht sie mit ihrem kleinen Sohn am Geldautomaten ihrer Bank und erlebt, wie der Display anzeigt: Keine Auszahlung möglich. Sie ist schwanger mit dem zweiten Kind, hat noch knapp sieben Mark in der Tasche und weiß, dass das Konto mit 15.000 Mark überzogen ist. Mit klopfendem Herzen und schamroten Wangen betritt sie die Bank, das Kind im Kinderwagen vor sich herschiebend. Sie fühlt sich mit ihren alten Jeans, dem dicken Pulli und den achtlos zusammengebundenen Haaren schäbig, beschämt, erniedrigt und verzweifelt. Da sie handeln muss, bittet sie die Kassiererin, Karte und Konto noch einmal zu überprüfen. Aber die Bankangestellte kann auch nur sagen, dass der Überziehungskredit ausgeschöpft ist, und verweist sie an den Filialleiter.
323 Die blonde Sünderin – Jackie Demaistre (Jeanne Moreau)
Der lässt sich wohl von dem kleinen Kind und dem Babybauch erbarmen und toleriert, dass sie ein weiteres Mal um 200 Mark überzieht. Mit den kostbaren 200 Mark in der Tasche ging ich zum Aldi und deckte mich mit den Grundnahrungsmitteln ein. Ich fühlte mich verbittert und so gedemütigt, wie noch nie zuvor in meinem Leben. (Tillmann 2003, S. 83)
Heimowski lässt in seinem Buch Spielsucht (2004) die Leser daran teilhaben, wie er nach der Trennung von seiner Freundin fieberhaft nach etwas suchte, das ihn den Schmerz vergessen lassen würde. Nach Betäubungsversuchen mit Alkohol und Haschisch fand er plötzlich die alles entscheidende Ablenkung – in der Spielhalle. Er bekennt, wie ein Spieler sich im Gegensatz zu Drogen- oder Alkoholsüchtigen selbst stilisiert, nach dem Motto: Immer schön cool bleiben. In der Spielhalle konnte er die Illusion aufrecht halten, sich unter Kontrolle zu haben, nämlich seine Gedanken und Bewegungen zu steuern. Er rastete nicht wie beim Alkohol aus und es gelang ihm auch, im Gegensatz zu vielen verwahrlosten Süchtigen, äußerlich gepflegt aufzutreten. Zu der Verleugnung gehörte auch die Attitüde, dass ein Spieler niemals verliert. Fragt man einen, so erfährt man sofort von großen und fetten Gewinnen, die er mehrmals eingestrichen hat. Verluste gibt keiner gerne zu. Nur ganz selten überkommt dich das große Jammern: ‚Alle haben Glück, bloß ich nicht!‘ Doch dich selber zu beklagen, bringt dir eh nichts ein, da man dich in solchen Augenblicken nur spöttisch belächelt. In Tat und Wahrheit verliert ein Spieler immer. Sämtliche Gewinne werden samt und sonders wieder verspielt. (Heimowski 2004, S. 53)
Die Befreiung aus seiner Sucht erlebte er in der Gemeinde einer evangelischen Freikirche, in der er heute als Pastor arbeitet. Varnholt, ein Architekt, Maler und Hochschullehrer (ohne Vornamen), legt mit seinem Buch Roulette (2001) das Protokoll einer Selbstzerstörung vor. Er vergleicht seine Spielphasen mit epileptischen Anfällen. So ein Anfall reißt ihn plötzlich mitten aus dem normalen Leben – mehrtägig oder -wöchig. Aber tatsächlich hat der Gedanke an Kasino und Spiel schon vorher latent in ihm gebohrt. Um der Versuchung zu entgehen, plant er alle mögliche Aktionen und Begegnungen, nur um keine freie Zeit zur Verfügung zu haben. Noch kann er sich an die Peinlichkeiten und das Bewusstsein von Unwürdigkeit erinnern, wenn er nach großen Verlusten bei seiner Bank um Kredit vorsprach. In solchen Phasen zieht er sich ganz in sich zurück, ordnet seine Verhältnisse, stellt Finanz- und Lebenspläne auf, kümmert sich um den Aufschub der offenen Rechnungen und lebt dabei auf sparsamstem Fuß. Während dieser Bunkerzeit denke ich überhaupt nicht an Spiel und Spielbank, weder im Guten noch im Bösen. Ich bin ganz weit entfernt davon, kann es mir gar nicht vorstellen. Mittellos, wie ich gerade bin, vermeide ich jede Erinnerung, so wie wohl ein Impotenter das Gedenken an frühere Liebestaten meidet. (Varnholt 2001, S. 72)
Aber nach diesen Phasen von Beruhigung und Scham wird der Druck immer größer, bis alle guten Vorsätze dahinschwinden und der Rückfall fällig ist. Jahrelang konnte ich die Balance halten zwischen diesen beiden Bereichen meines Lebens, der ernsthaften Arbeit und dem leidenschaftlich betriebenen Glücksspiel. Sie zerbrach schließlich an meiner Maßlosigkeit – das Spiel gewann die Oberhand! Ich opferte ihm meine sämtlichen Ressourcen. Als sie erschöpft waren, war mein Leben zu Ende. (Varnholt 2001, S. 128)
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Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich auch meinen kleinen Sohn verspielt
Er hat sich mit seinem Leben in Armut arrangiert, kann sich sogar wieder einem Kasino nähern, das für ihn keine Gefahr mehr ist. Er hat nichts mehr zu verspielen. Herr G. S., 43 Jahre, Hartz-IV-Empfänger, erzählt: Am Anfang bin ich nur am Wochenende in die Spielhalle gegangen, doch dann ging ich auch unter der Woche und meine Einsätze wurden höher. Schon der Anblick von Spielautomaten machte mich unruhig und meine Hände wurden feucht. Meine Gedanken kreisten immer mehr um das Spielen – das System müsste doch zu knacken sein … Erst verspielte ich unsere Haushaltskasse, stahl meinen Kindern das Taschengeld, verspielte mein gesamtes Gehalt, die Rechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden. Ich pumpte sämtliche Freunde, Verwandte und Nachbarn um das Geld an, verkaufte unseren Wagen, nahm eine Hypothek auf unsere Eigentumswohnung auf. An den Kauf neuer Kleidung und Schulsachen war nicht mehr zu denken … und Weihnachten gab es auch keinen Weihnachtsbaum mehr. Meine Frau ließ sich von mir scheiden und nahm die beiden Kinder mit. Von nun an war ich täglich am zocken, ich fing an zu betrügen und zu belügen, um weiterhin an Geld zu kommen, wurde straffällig und verlor meine Arbeit. Heute bin ich Hartz-IV-Empfänger (das Geld reicht natürlich längst nicht für meine Spieleinsätze aus) und wenn der Spieldruck und die Frustration zu groß werden, ertränk ich sie im Alkohol … … Manchmal möchte ich meinem Leben am liebsten ein Ende setzen … (Zit. nach Grüsser u. Albrecht 2007, S. 51)
Zur Diagnose: Spielsucht Der Begriff des Spielens (althochdeutsch »spil«: Tanzbewegung) meint eine Tätigkeit ohne besonderen Sinn, ohne bewussten Zweck, ohne größere Anstrengung. Das Spiel dient der Entspannung und dem Vergnügen und wird allein aus Freude an seiner Ausübung ausgeführt. Der Spieler geht ganz in dem Spiel und den durch das Spielen erzeugten Illusionen auf, so wie es das Kind von sich aus tut. In der Frühgeschichte und Antike wurde dem Spielen auch Magie und Übernatürlichkeit zugeschrieben. Der griechische Gott Hermes soll das Würfelspiel und damit das Spiel an sich erfunden haben. Mit dem Werfen der Lose oder Würfel wurde dabei versucht, den göttlichen Willen zu erschließen. Zweckgebundene Tätigkeiten, wie Glücksspiele, die danach streben, Gewinn zu erzielen, sind demnach nicht Spiele im eigentlichen Sinn. Sie werden auch als Hazardspiel (Zufall) bezeichnet und sind durch das ungewisse, vom Zufall bestimmte Ergebnis gekennzeichnet (Grüsser u. Albercht 2007, S. 13). Kohtes hat eine Kulturgeschichte Über Glücksspieler und Spielerglück (2009) geschrieben und nennt sich selbst einen Hazardeur, einen, der sich selbst »aufs Spiel setzt«. Er sagt: Anders als der Zocker liebt der wahre Spieler das Spielen an sich, so wie ein Dichter die Sprache um ihrer selbst willen liebt. Der wahre Spieler findet sein Glück nicht im Gewinn, es sei denn, im Gewinn von Spielzeit. (Kohtes zit. in Henning 2009)
Das pathologische Glückspiel (Spielsucht) gehört zu den anerkannten nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten (neben Essstörungen, Arbeitssucht, Liebes-/Sexsucht, Kaufsucht, Sportsucht, Mediensucht, Okkultismussucht). Allerdings herrscht diagnostisch immer noch Uneinigkeit darüber, ob die Spielsucht als Zwangsstörung, Impulskontrollstörung oder Abhängigkeit einzustufen ist. 1991 wurde das pa-
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thologische Spielen in der »Internationalen Klassifikation Psychischer Störungen« (ICD-10) verankert. Gemeinsam mit pathologischer Brandstiftung (Pyromanie), pathologischem Stehlen (Kleptomanie) und pathologischem Haarausreißen (Trichotillomanie) bildet das pathologische Glücksspiel (F63.0) unter der Überschrift »Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle« eine gewisse »Restkategorie, in die verschiedene Störungen hineingepackt wurden, die man offenbar woanders nicht untergebracht hat« (Groß 2010), sagt Musalek, Leiter des Wiener Anton-Proksch-Instituts, der größten Suchtklinik Europas. Er plädiert dafür, dass die Spielsucht wirklich eine Sucht ist. Bei Störung der Impulskontrolle wird ein unangenehm erlebter Anspannungszustand durch ein bestimmtes, impulsiv ausgeübtes Verhalten abgewehrt. Das Verhalten wird dranghaft, oft automatisch ausgeführt. Es wird zwar bewusst erlebt, kann aber willentlich nicht oder nur schwer gesteuert werden. Im Unterschied zu Impulskontrollstörungen gibt es beim pathologischen Spielen eine kontinuierliche Entwicklung, ausgehend von gelegentlichem Gebrauch, erhöhtem Gebrauch, schädlichem Gebrauch, bis hin zur Sucht. Ein krankhafter Spieler könne natürlich auch eine Impulskontrollstörung haben, was aber bei Weitem nicht seine gesamte Psychopathologie erfasse, führt Musalek aus. Er wendet sich auch gegen die Interpretation des pathologischen Spiels als Zwang. Zwänge werden als imperative Erlebnisse definiert. Man muss etwas machen, was man eigentlich nicht will und selbst als unsinnig empfindet. Beides trifft auf die Spielsucht nicht zu. (Groß 2010)
Auch andere Forscher bestätigen, dass zwischen pathologischem Glücksspiel und substanzgebundener Abhängigkeit (Sucht) eine große Ähnlichkeit besteht: Spielsüchtige zeigen unwiderstehliches Verlangen, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung und Entzugssymptomatik. Bereits 1561 schrieb der flämische Arzt Pascasius Justus Turck: Ich glaube, dass das Würfelspiel genau dieselbe Wirkung hat wie der Wein … Die sichtbarsten und schlimmsten Auswirkungen (der Spielsucht) sind Folgende: ständige geistige Ruhelosigkeit, Pflichtvergessenheit, Armut, Verfluchung, Diebstahl und Verzweiflung. (Zit. nach Grüsser u. Albrecht 2007, S. 14)
Auch das »Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen« (DSM-IV) führt das pathologische Spielen (seit 1980) unter Störungen der Impulskontrolle (312.31). Scholz, Primarius mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Behandlung süchtiger Patienten, weist darauf hin, dass die erwähnten Diagnosemanuale stets charakteristische krankheitsspezifische Phänomene festschreiben wollen. Um die Persönlichkeit der Betroffenen besser verstehen und ihr Leiden angemessen behandeln zu können, sollten vor allem die in den Diagnosemanualen nicht aufgeführten Phänomene berücksichtigt werden, wie Wirkungsanflutung (Kick), magisches Denken, Glücksoder Freiheitsgefühl, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, fehlendes Selbstvertrauen, Schuldgefühle usw. (Scholz 2005, S. 6 f.). Ähnlich argumentiert auch der Suchtexperte Springer (2009), der sich sogar dagegen ausspricht, den stoffungebundenen Abhängigkeiten eine eigene Klassifizierung durch die Diagnosemanuale vorzugeben. Er plädiert gegen eine Kategorisierung exzessiven Verhaltens als Sucht, weil den verschiedenen zusammenwirkenden Ursachen bei der Suchtentstehung und der individuellen Betrachtung des Betroffenen der Vorrang gegenüber einer Einheitsdiagnose gegeben werden soll. Um der Komplexität der Suchtphänomene gerecht zu werden, genüge es nicht, von einem »Entweder/Oder« (süchtig/nichtsüchtig) auszugehen. Vielmehr sollte in jedem einzelnen Fall eine differenzierte Diagnose erfolgen, die die Dimension des maßlosen Verhaltens – des Zwangs, der Impulskontrollstörung und der Süchtigkeit – nebeneinander und in ihrer Verschränkung erkennt und berücksichtigt (Springer 2009, S. 37 ff.).
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Trotz dieser berechtigten Einwände soll der Kriterienkatalog des DSM-IV im Folgenden dazu dienen, Jackies Verstricktheit und ihre Abhängigkeit zu illustrieren (DSM-IV 2001, S. 700 f.). (Das DSM-IV ist an dieser Stelle deutlich differenzierter als die ICD-10, daher wird ihm hier der Vorzug gegeben.) Besetztsein: Der Spieler ist stark eingenommen vom Glücksspiel (z.B. starkes Beschäftigtsein mit gedanklichem Nacherleben vergangener Spielerfahrungen, mit Verhindern oder Planen der nächsten Spielunternehmungen, Nachdenken über Wege, Geld zum Spielen zu beschaffen). E Für Jackie ist nichts so wichtig wie das Spielen. Sie ordnet dem Spiel ihre Familie, ihren Sohn, auch ihre beginnende Romanze zu Jean unter. Toleranzentwicklung: Der Spieler muss mit immer höheren Einsätzen spielen, um die gewünschte
Erregung zu erreichen. E Jackie kann nicht einmal das Essen genießen. Sie weiß, dass Geld da ist, und ist getrieben, es zu
setzen. Abstinenzunfähigkeit: Der Spieler hat wiederholt erfolglose Versuche unternommen, das Spielen zu kontrollieren, einzuschränken oder aufzugeben. E Die kurzen Ausführungen über ihre Ehe lassen vermuten, dass ihr Mann sie immer wieder zur Abstinenz bekehren wollte, aber ganz offensichtlich ohne Erfolg. Entzugserscheinungen: Der Spieler ist unruhig und gereizt beim Versuch, das Spielen einzuschränken oder aufzugeben. E Wenn Jackie nicht spielen kann, lenkt sie sich mit dem Miniroulette aus ihrem Koffer ab. Sie raucht unentwegt und nimmt die letzten Münzen, um einen Whisky zu ergattern. Wenn gar nichts mehr geht, spielt sie auch am einarmigen Banditen. Flucht: Der Spieler spielt, um Problemen zu entkommen oder um eine dysphorische Stimmung (z. B.
Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld, Angst, Depression) zu erleichtern. E Jackie zeigt nach Phasen des Verlustes Stimmungen von Selbstekel, Wut, Autoaggression und
Katzenjammer. Statt sich diesen Gefühlen zu stellen und reale Auswege zu finden, flieht sie so schnell wie möglich wieder ins Kasino. Chasing: Der Spieler kehrt, nachdem er/sie beim Glücksspiel Geld verloren hat, oft am nächsten Tag zurück, um den Verlust auszugleichen (dem Verlust »hinterherjagen«). E Jackie kommt nicht weg aus Nizza. Sie klebt am Ort, weil dort im Kasino ihr Geld gebunden ist. Sie muss es zurückholen und so pendelt sie zwischen Bahnhof und Spieltisch hin und her. Verheimlichung: Der Spieler belügt Familienmitglieder, den Therapeuten oder andere, um das Ausmaß
der Verstrickung in das Spielen zu vertuschen. E Sie lügt Jean an, gaukelt vor, eine Freundin zu haben, die ihr Geld schuldet und bei der sie jederzeit
unterkommen kann, behauptet, ihr geschiedener Mann würde ihr uneingeschränkt Geld geben, wenn sie nur darum bäte und sagt ihm glatt ins Gesicht, sie sei nie in Amiens gewesen, obwohl er ihren Rauswurf beobachtet hat.
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Beschaffungsdelinquenz: Der Spieler hat illegale Handlungen wie Fälschung, Betrug, Diebstahl oder
Unterschlagung begangen, um das Spielen zu finanzieren. E Die eindrückliche Szene, in der Jackie aus dem Kasino entfernt und mit Besuchsverbot belegt wird
und ihre laute, unfeine Art, darauf zu reagieren, machen deutlich, dass es sich nicht um die erste Auseinandersetzung dieser Art handelt. Existenzbedrohung: Der Spieler hat eine wichtige Beziehung, seinen Arbeitsplatz, Ausbildungs- oder Aufstiegschancen wegen des Spielens gefährdet oder verloren. E Jackie hat ihren Sohn Michou »verspielt«, ihre Familie aufgelöst, ihren Mann verächtlich gemacht und die Beziehung zu ihrer Freundin manipulativ ausgenutzt. Freikaufen (Bail-out): Der Spieler verlässt sich darauf, dass andere Geld bereitstellen, um die durch das
Spielen verursachte hoffnungslose finanzielle Situation zu überwinden. E Jackie ist bereit, sich für einen Jeton zu prostituieren. Sie geht auch ohne Zögern mit Jean aufs
Zimmer, weil er ihr Glück bringt, und bittet ihn gierig, ihr sein letztes Geld zu leihen, weil ihres verspielt ist.
Verteilung und Gefährdung Das kommerzielle Glücksspiel zählt mit einem geschätzten Jahresumsatz von 600 Mrd. Euro zu den größten Wirtschaftszweigen in Europa. Die daraus lukrierten Steuern für Länder und Gemeinden dekken zwischen 1% und 5% des jeweiligen Gesamtbudgets ab. Die jährlichen Wachstumsraten liegen zwischen 5% und 10%, die Einnahmen des Staates liegen dabei weit über den Erträgen aus der Alkoholsteuer (Sonderausgabe Clinikum, S. 3). Eine Zunahme der Anzahl der Spielsüchtigen, insbesondere der Jugendlichen, wird vor allem der Liberalisierung und leichteren Zugänglichkeit zu Automatenspielen zugeschrieben. Die Umfunktionierung der ursprünglich für Geschicklichkeitsspiele konzipierten Automaten ohne Gewinnmöglichkeit (z. B. Flipperautomaten) zu reinen Geldspielautomaten, hat dazu geführt, dass diese Spiele zu der am meisten problembehafteten Spielart geworden sind. Schon ein Freispiel wird als Gewinn erlebt. Ein Kasinobesuch erfordert Kleidungsvorschriften und Ausweispflicht. Das ergibt eine gewisse Hemmschwelle. Konzessionierte Betreiber haben außerdem nach dem Glücksspielgesetz relativ strenge Kontrollpflichten. So müssen die Häufigkeit und die Intensität der Spielteilnahme beobachtet werden. Bonitätsauskünfte sind einzuholen: Bei Verdacht auf süchtiges Verhalten eines Spielers muss der Konzessionär eine schriftliche Warnung ausgeben oder sogar die Sperre des Betroffenen vornehmen. Zusätzlich gibt es eine Aufzeichnungspflicht, wonach die Daten mindestens fünf Jahre aufbewahrt werden müssen. Diese Beschränkungen gelten nicht für das sog. »kleine Glücksspiel«, also für Automatenbetreiber. Durch den leichten Zugang zu Spielautomaten sind auch Jugendliche zunehmend gefährdet, abhängig zu werden. Der Verein für »Anonyme Spieler« (AS) Wien geht davon aus, dass fast 40 % der spielabhängigen Menschen vor dem gesetzlichen Mindestalter von 18 Jahren zu spielen begannen (Fischer u. Schreiberhuber 2010S. 6). Eine aktuelle Studie aus Deutschland bestätigt, dass 9% der untersuchten Jugendlichen problematisches Spielverhalten zeigen (Erwachsene 1–3%). Dies führt zu sozialen Konsequenzen, wie Belügen der Eltern, Diebstähle, Schulversagen, Substanzmissbrauch, Selbstwertproblematik. Die Folgen der Spielsucht sind für alle Beteiligten – unabhängig von Geschlecht und Alter – massiv. Auf der Liste der gefährlichen Begleiterscheinungen rangiert an erster Stelle Alkoholabhängigkeit (73,2%), danach folgen Persönlichkeitsstörungen (60,8%), affektive Störungen (44,6%), Angsterkrankungen (41,3%), schädlicher Gebrauch von Drogen (38,1%), (Sonderausgabe Clinikum, S. 7). Daneben spielen Beziehungsstörungen, finanzielle Probleme, hohe Verschuldung, delinquentes Verhalten eine Rolle. Die Hälfte aller pathologischen Spieler plagt sich mit Suizidfantasien und Suizidversuchen.
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Eine typische Spielerkarriere Eine Spielerkarriere bis zur Manifestierung der Sucht verläuft in typischen Phasen: (Vent 1999, S. 33 f.): E Gewinnphase oder positives Anfangsstadium. Im Vordergrund stehen positive Erfahrungen.
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Kleinere oder größere Gewinne werden erzielt und anregende euphorische Gefühle steigern das Selbstwertgefühl. Das Spielverhalten ist auf die Freizeit beschränkt. Der Alltag verläuft noch weitgehend normal. In diesem Stadium lernen wir Jean kennen. Er kennt die Regeln des Roulettes nicht und ist erstaunt, was sich bereits am helllichten Tage hinter den prächtigen Eingangstüren des Kasinos abspielt. Zunächst findet das Glücksspiel am Feierabend und am Wochenende statt. Doch schon bald ist er bereit, seinen Urlaub dafür herzugeben. Wie viele Anfänger, die intuitiv setzen, hat er Erfolg und wird von den Routinespielern bewundert und ermutigt, weiterzuspielen, da man eine solche Glückssträhne nicht einfach so vorüberziehen lässt. Auch Polina (aus dem Film Die Spielerin) lässt sich überreden, ein erstes Mal zu spielen. Sie ist bereits in den fremden Mann verliebt und überglücklich, für ihn so viel gewonnen zu haben. Ihre Entwicklung zeigt, wie schnell (einsame) Frauen in die Abhängigkeit geraten. Sie spielt bald fast jeden Tag aus eigenem Antrieb, redet sich allerdings ein, jederzeit aufhören zu können – aber erst morgen. Verlustphase oder kritisches Gewöhnungsstadium. Die Spielintensität steigt und der Spieler wählt risikoreichere Spielvarianten. Höhere Einsätze und Gewinne sind erforderlich, um eine beruhigende Wirkung zum Ausgleich innerer und sozialer Konflikte zu erreichen. Die Verluste übersteigen die Gewinne und es entsteht ein System von Lügen und kleineren Betrügereien gegenüber Partnern, Familie, Kollegen. In dieser Phase hat Jackie sich eingerichtet, wenn es ihr »gut geht« .Das Verheimlichen und Lügen gehören zur Tagesordnung, deswegen meldet sich ihr Gewissen nicht. Sie weiß, dass sie von nirgendwoher mehr Geld bekommt, so wird das Spielen zur einzigen Einnahmequelle. Einmal versucht sie, den Croupier durch heftiges Flirten dahin zu bringen, die Kugel zu ihren Gunsten zu werfen. Aber er schaut nicht mal hin, und ihr verführerisches Lächeln entgleist zur schaurigen Grimasse. Für Jean scheint die Kontrolle über das Spielen noch möglich, obwohl er bereit ist, das »Rückkehrgeld« des Vaters zu verspielen. Aber er verlässt den Salon, als Jackie ihn zu sehr demütigt und ermöglicht ihr dadurch möglicherweise den Ausstieg. Polina dagegen kann nicht mehr aufhören. Sie verspielt nicht nur die eiserne Geldreserve ihres neuen Freundes, sondern auch ihr Barvermögen, ihr Aktiendepot, ihre Gemälde und ihr Haus. Als sie für das Spielkasino kein Geld mehr hat, versucht sie ihr Glück mit Euromünzen am Spielautomaten. In einer Spielhalle stiehlt sie sogar eine Handtasche, um an Geld zu kommen. Verzweiflungsphase oder Suchtstadium. Extensives Spielen bis zum völligen Geldverlust wird zur Regel, gesetzliche und ungesetzliche Geldbeschaffungsaktionen bestimmen das Leben des Spielers. Die gesellschaftliche Stellung und das Ansehen stehen auf dem Spiel, wenn sie nicht gar schon verloren sind. Zeit und Geld werden ausschließlich für das Spiel verwendet. Hoffnungslosigkeit, Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche sind letzte Verzweiflungstaten. Jackie ist sicherlich immer wieder am Endpunkt. Die ehemals reiche Fabrikantengattin übernachtet jetzt in Wartesälen, wenn sie kein Geld mehr hat. Ihr Sohn ist erst drei Jahre alt und es scheint schon eine Weile her zu sein, dass sie ihn und ihren Mann verlassen hat. Panik, Schuldgefühle und Selbstekel überfallen sie, wenn sie verloren hat, und wechseln sich ab mit übertrieben euphorischen Gefühlsausbrüchen, wenn sie Gewinne einstreicht, die sie sobald als möglich wieder verspielt. Sie pflegt ihren Körper und kleidet ihn exquisit, aber sie gibt ihm keinen Wert, es sei denn zum Einbringen von Spielgeld.
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E Polina erkennt ihre fatale Situation und lässt sich für alle Kasinos in Deutschland und Österreich
sperren. Aber die Spielsucht bringt sie dazu, in illegalen Klubs weiterzuspielen. Kurz bevor sie sich vom Dach eines solchen Hauses stürzen will, findet ihr Freund sie und führt sie davon.
Spieler und Spielerinnen Der Anteil der Spielsüchtigen ist überwiegend männlich, wenn auch die Anzahl der spielsüchtigen Frauen eine ansteigende Tendenz aufweist. Fischer spricht von einem Verhältnis von 83 % Männer zu 17 % Frauen (Fischer u. Schreiberhuber 2010, S. 5). Frauen beginnen in der Regel später als Männer zu spielen, allerdings entwickeln sie nach dem Einstieg eine schnellere Abhängigkeit und damit zusammenhängende Problematik. Nach Fischer bevorzugen Männer eher strategische Spielarten, wie Poker oder Black Jack, Frauen hingegen eher nichtstrategische Spielarten, wie Bingo oder Spielautomaten. Während Männer eher aus Sensationslust spielen, weisen Frauen eher ein Vermeidungsverhalten auf. Sie spielen, um Kummer abzuwehren (Fischer u. Schreiberhuber 2010, S. 13). Beide Geschlechter sind mit Spielschulden als Folgeerscheinung ihrer Sucht konfrontiert. Frauen berichten wesentlich häufiger als Männer über mit dem Spiel zusammenhängende Angststörungen und Selbstmordversuche. Glücksspielerinnen stehen im Widerspruch zu gültigen Rollenanforderungen und unterliegen daher eher gesellschaftlicher Verurteilung als Männer. Berühmte Glücksspieler, wie der Abenteurer Casanova, der Dichter Lessing, der Teufelsgeiger Paganini, der Schriftsteller Dostojewski, der Pistolenheld Earp werden wegen ihrer Risikobereitschaft eher bewundert. Spielende Frauen dagegen gelten als gescheiterte Existenzen und werden sozial gemieden. Dieses Musters bedienen sich die Filme Die blonde Sünderin und Die Spielerin, teils im Titel, teils in der Handlung, denn eine zentrale Botschaft lautet, dass spielende Frauen – im Gegensatz zu grandios scheiternden männlichen Spielern – einfach oder doppelt abhängig sind: die »Sünderin« von der Spielsucht, die »Spielerin« zusätzlich von dem Mann, der sie dorthin lenkt.
Biologische Hintergründe der Spielsucht Beim Spiel spielt das Belohnungssystem eine Rolle, das vor allem von den Neurotransmittern Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Glutamat, Gammaaminobuttersäure (GABA) und Opioiden gesteuert wird. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass besonders dem Transmitter Acetylcholin eine wichtige Rolle bei der Fixierung des Spielverhaltens als pathologisches Spiel zukommt. Dieser Botenstoff vermittelt die Erregungsübertragung zwischen Nerv und Muskel. Viele kognitive Prozesse sind an ihn gebunden. Er spielt auch bei Lernvorgängen eine maßgebliche Rolle. Interessant könnte sein, dass Acetylcholin an Rezeptoren wirkt, die auch durch Nikotin stimuliert werden. Spieler berichten, dass sie entweder starke Raucher sind oder durch das Spielen wieder heftig zu rauchen begonnen haben. Jackie ist Kettenraucherin und Polina, die sich das Rauchen längst abgewöhnt hatte, wird wieder zur süchtigen Raucherin. Beim pathologischen Spielen sind neben dem Belohnungssystem noch der Schmerzkontrollmechanismus und die Stressregulierung von Bedeutung. Der Botenstoff Dopamin setzt ein Signal für Lustempfinden, das Belohnung verspricht. Das dopaminerge System im Nucleus accumbens muss ständig durch das Glücksspiel stimuliert werden, um Unlustgefühle zu vermeiden. Auch die Basisemotionen – Neugier und Risikoverhalten – hängen mit dem Tonus des dopaminergen Systems zusammen. Bei Mangel an Belohnungserlebnissen kommt es zu Missstimmung und einem Stimmungsumschwung, der das Craving, die Gier nach dem Spiel, neu belebt. Das noradrenerge System beeinflusst den Eustress, der als stimulierend und angenehm erlebt wird und den Spieler, vor allem beim Gewinn begleitet. Gelingt im Eustress ein Vorhaben, so kommt es zur Bahnung einer Gewohnheit. Das serotonerge System ist ein wichtiger Integrator der Gehirnfunktion und für das Wohlbefinden verantwortlich. Die Messungen von Hirnaktivitäten durch bildgebende
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Verfahren zeigen, dass die Spielsucht auf ähnlichen Mechanismen beruht wie Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Einfach ausgedrückt kann gesagt werden, dass beim Glücksspiel das Belohnungssystem aktiviert wird und sich eine Art Suchtgedächtnis herausbildet. Abhängige werden sich daher für jene Handlungen entscheiden, die mit sofortiger Belohnung verbunden sind – egal, was das für langfristige Folgen hat. Verantwortlich ist letztendlich eine gestörte Balance zwischen dem »impulsiven System«, das vom Mandelkern (Amygdala) gelenkt wird und dem vom Vorderhirn gesteuerten reflektiven System, das die Folgen einer Handlung berücksichtigt: Alles wird riskiert, um Spannung und Erregung aufrecht zu erhalten. Die Mitbeteiligung des gesamten Nervensystems macht es auf jeden Fall schwieriger, therapeutisch zu behandeln. Im Schnitt dauert es 10–15 Jahre, bis ein süchtiger Spieler den Weg in die Therapie findet. In der Regel vertraut er sich Familienmitgliedern und Freunden an, ehe er sich an professionelle Berater wendet. Aber erst recht dann erfordert die Komplexität des exzessiven Spielens hohe Standards für die Behandlung. Experten für die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen wie Scholz betonen nachdrücklich, dass zu den unverzichtbaren Leistungsangeboten eine an der Individualität des Spielers orientierte Einzeltherapie, ein dazu passendes Gruppenkonzept, eine langzeitige Nachbetreuung sowie Familienarbeit, Sozialarbeit und Schuldnerberatung gehören (Scholz u. Quantschnig 2010).
Zur Psychodynamik der Spielsucht Ein biopsychosoziales Integrationsmodell zur Entstehung und Aufrechterhaltung krankhaften Glückspiels bieten Grüsser u. Albrecht (2007, S. 85 ff.). Sie gehen davon aus, dass es eine genetisch bedingte Anfälligkeit für krankhaftes Glückspielen gibt, die durch bestimmte, vorher genannte biologische Veränderungen in den Systemen der hirneigenen Botenstoffe bedingt sind. Hinzu komme bei Abhängigen noch eine psychische Anfälligkeit, die durch erste Früherfahrungen in der Kindheit bedingt ist, wie etwa nicht ausreichend erlernte Bewältigungs- und Problemlösefähigkeiten sowie das Auftreten besonderer kritischer bzw. traumatisierender Ereignisse, z. B. Tod oder Unfälle. Die durch neurobiologische und psychische Besonderheiten bedingten Anfälligkeiten werden durch aktuelle Störungen bzw. Probleme aktiviert. Wahrscheinlich hat der Betroffene bereits mehrere Male Glücksspiele ausprobiert und so erste positive Erfahrungen damit gemacht. Sollten aktuelle Lebensereignisse hinzukommen, die ihn aus der Bahn werfen, scheint das Glücksspiel Erfolg versprechend unangenehme Stimmungen zu bewältigen. Der geringe Selbstwert der Betroffenen und eine pseudonarzisstische Haltung, wie »ich bin ein Winner, ein Sonntagskind«, führen dazu, dass Betroffene glauben, einer schlechten Stimmungslage, dem ansteigendem Stress und der damit verbundenen, immer stärker werdenden Erregung nur durch erneutes Glücksspiel entkommen zu können. Bereits 1957 hat der amerikanische Psychiater Bergler an einer Stichprobe von 60 pathologischen Glücksspielern (Karten- und Würfelspieler, Roulettespieler, Pferdewetter und Börsenspieler) charakteristische Merkmale beschrieben (»A Psychology of Gambling«). Er erkannte bei diesen Menschen eine ausgeprägte Selbstwertproblematik mit einer nach außen gerichteten Fassade von Pseudoaggressivität, sowie E den beim Glücksspiel als lustvoll-schmerzhaft erlebten Erregungszustand, E typische Rationalisierungsversuche, E magische Denkweisen als Reaktion auf Verluste, E ausgeprägte Allmachts- und Gewinnfantasien, verbunden mit sozialer Vereinsamung und Entfremdung, E die herausragende Bedeutung des Geldes für das Selbstwertgefühl, E das gleichzeitige Auftreten affektiver und sexueller Störungen oder stoffgebundener Süchte.
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Bergler führt diesen Entwicklungsverlauf auf einen »psychischen Masochismus« als Kernursache zurück. Er beschreibt die tragisch komische Entwicklung des pathologischen Glücksspielers als ein Verlustgeschäft, in dessen Verlauf aus dem großen Gewinner ein armseliger »Einfaltspinsel« wird. Dem pathologischen Glücksspieler ist es in seiner Entwicklung nicht gelungen, seine reale Begrenztheit anzuerkennen, sodass unbewusste Größenfantasien fortbestehen. Aufgrund der damit verbundenen Aggressionen gegen die Eltern mit daraus resultierenden Schuldgefühlen besteht eine Tendenz zur Selbstbestrafung in Form des unbewussten Wunsches nach Verlust. Der lustvollschmerzhaft erlebte Erregungszustand beim Glücksspielen erklärt sich aus den lustvoll erlebten Größenfantasien auf der einen Seite und der schmerzhaften Erwartung einer gerechten Bestrafung auf der anderen Seite. (Petry 2003, S. 37)
Wenn auch in diesem Erklärungsmodell eindimensional alle Erscheinungsformen auf psychodynamische Ursachen zurückgeführt werden, belegen klinische Vergleichsstudien doch den empirischen Kern dieses Modells. Die Mehrheit der behandelten Glücksspieler zeigen im Zentrum ihrer Persönlichkeitsstruktur eine schwere Persönlichkeitsstörung, bei der das Selbst als Zustand der »Leere« oder als »Nichts« beschrieben wird (Petry 2003). Narzissmusforscher wie Kohut bringen das Spielerverhalten mit einem in der Kindheit wenig stimulierten Selbst in Verbindung. Kinder, die von ihren Eltern wenig Resonanz erleben, versuchen mit den unpassendsten Mitteln, sich selbst zu stimulieren: Kopf schlagen, zwanghaftes Masturbieren, tollkühne Aktivitäten in der Adoleszenz. Es fehlt ihnen an Vitalität, sie erleben sich selbst als langweilig und teilnahmslos und können das Glücksspiel als einen Bereich erfahren, in dem die gewünschte Erregung und ein Lebensstil mit angenehmer Geselligkeit erreicht wird. Die in Abhängigkeit führende Suche des Süchtigen nach Schutz kann in einem Liebespartner, einem Fetisch, einer Droge, einem System magisch wirksamer Handlungen oder eben auch in den jeweiligen Varianten des pathologischen Glücksspiels bestehen. Sucht ist, diesem Verständnis zufolge, nur eine Sonderform einer solchen Schutzphantasie und hat, wie andere Schutzsysteme auch, die unbewusste Aufgabe, den phobischen Kern abzuschirmen. (Vent 1999, S. 79) So wird das Spiel als gut erlebt und integraler Bestandteil einer dicken Kruste narzisstischer Abwehr, mit der die Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit bedeckt sind (Vent 1999). Wenn ein Süchtiger eine neue Beziehung eingeht, ist der neue Partner das fantasierte, beschützende Objekt. Zugleich wird es aber von der Verschmelzungsangst und der damit einhergehenden Abhängigkeitsscham verdorben.
Der Spielautomat oder der Spielsalon versprechen hier narzisstische Allmacht und Entfernung gegenüber dem nicht nur verzweifelt Gesuchten, sondern auch abgrundtief gefürchteten Partner. Die Omnipotenzphantasien während einer Serie lassen auch die innere Bedürftigkeit und die Scham über die Abhängigkeit von dem Liebespartner zeitweilig vergessen. (Vent 1999, S. 81) Jackie und Jean zeigen typische Züge einer narzisstischen Kollusion, eines unbewussten Zusammenspiels, das von einer Verschmelzungssehnsucht und zugleich tiefer Angst vor Verbindlichkeit bestimmt ist. Jean hat seine Verlobte weggeschickt, als es für ihn zu eng wurde, und lebt mit seinem bärbeißigem Vater, für den Leistungen wichtiger als Gefühle sind. Eine ausgleichende, vermittelnde Mutter gibt es nicht (gab es sie je?). Es scheint, als führe Jean ein recht unspektakuläres Leben, bis er Jackie trifft, die ihn in einen Rausch von Liebes- und Spielerglück hineinzieht. Wenn sie ihn schlecht behandelt, entschuldigt er sich bei ihr, weil er sie in diese schlimme Stimmung gebracht hat. Da er ihr aber Glück bringt, kann er sein Selbstwertgefühl hochfahren, ihr sogar seine Gefühle gestehen und seine Bereitschaft zeigen, sie zu retten.
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Jackie äußert sich zynisch über ihre Beziehung zu Männern – der eine oder der andere, es ist völlig egal. Mit Jean kann sie lachen, er kümmert sich um sie, nimmt sie (uneigennützig) mit zu sich, kauft ihr Obst, besorgt Geld, es könnte eine neue Erfahrung sein. Ein reicher Waffenfabrikant als Ehemann verheißt nicht gerade ein großes Maß an Sensibilität. Ihr Kind hat sie verloren, aber sie trägt sein Foto bei sich und zeigt es Jean beim ersten persönlichen Gespräch. Das Spiel ist ein Mittler zwischen ihnen, der zunächst einmal Nähe zulassen kann. Vielleicht brauchen sie irgendwann das Spiel nicht mehr, um einander wirklich nahe zu sein.
Faszination Roulettespiel Der wahre Spieler … braucht den stimulierenden Lebensduft der barockverzierten und gold verspiegelten, von menschlichen, allzu menschlichen Lastern durchwirkten Kasinosäle wie ein Lurch das Biotop … Tatsächlich sucht der Connaisseur, sowie er ein Kasino betritt, weniger das Spielglück als vielmehr das euphorisierende Gefühl, in seinem natürlichen Element zu sein, teilzuhaben an der Magie der pikanten Vergnügungsstätte, in der sich die Himmelspforte gleich neben dem Höllenschlund befindet. (Kohtes 2009, S. 99)
Für Kothes ist das Roulette die Königsdisziplin des Spielens. Es repräsentiert den Zufall in seiner reinsten Form. Dem klassischen Spieler sind die Entscheidungen des Zufalls heilig. Er würde nie das Geld anderer Leute aufs Spiel setzen, etwa wie der Börsenzocker. Ein Gentlemanspieler ruiniert sich auf eigene Rechnung. (Kohtes zit. in Henning 2009)
Roulettespieler scheinen eine besondere Spezies zu sein. Auffallend ist, dass hier mehr Frauen anzutreffen sind, als bei übrigen Glücksspielen. Roulettespieler unterliegen dem bekannten Trugschluss, nach dem sie die Wahrscheinlichkeit eines Spielausgangs aus den unmittelbar davor erfolgten Spielergebnissen ableiten »obwohl die Roulettekugel bekanntermaßen kein Gedächtnis besitzt« (Petry 2003, S. 28). Sie notieren die angezeigte Folge der Spielergebnisse und legen ausgeklügelte Systeme fest, an denen sie sich festhalten. Einen Gewinn sehen sie als Beleg für ihre Fähigkeit an, Verluste werden auf äußere Umstände zurückgeführt. Magisches Denken bestimmt die Wahrnehmung vieler Spielsüchtiger. So sind viele Spieler der Überzeugung, ein bestimmter Platz im Kasino, eine bestimmte Person neben ihnen oder eine bestimmte Zahl an einem bestimmten Tag würden eine Glückssträhne einleiten. Damit nähren sie die Illusion, sie könnten das Schicksal kontrollieren. Jackie hat die Angewohnheit, dem Tisch den Rücken zuzuwenden und Beschwörungsformeln zu flüstern, wenn die Situation brenzlig wird, weil entweder viel auf dem Spiel steht oder der letzte Jeton gesetzt ist. Der forensische Psychiater Kröber gibt eine idealtypische Beschreibung des Roulettespielers, die genauso gut für die Spielerin gelten kann: Roulettespieler beginnen das Spielen am Ende des dritten Lebensjahrzehnts, oft nach einschneidenden Verlusterlebnissen von Partnerschaft oder Beruf. Sie entstammen eher der Mittelschicht, sind aber fast durchgängig in sehr gespannten, ganz zerbrechlichen Familiensituationen aufgewachsen. Entweder fehlte der Vater als männliche Identifikationsfigur ganz, oder er war ein unerreichbarer herrischer Despot. Diese frühe Traumatisierung scheint aber zunächst überdeckt und kompensiert in einem nach außen zielstrebigen und relativ erfolgreichen Bemühen um beruflichen Erfolg und ideale Partnerschaft. Zu ständig neuen Erfolgen verurteilt, manövrieren sich diese intern oft narzisstischen Persönlichkeiten fast zwangsläufig in einschneidende Niederlagen, die dann den Beginn extensiven Spielens markieren. Ihnen gibt die Atmosphäre des Kasinos den adäquaten Rahmen für die
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Bewahrung des narzisstischen Anspruchs, der durch einen Gewinn nie hinreichend eingelöst, durch den Verlust nie endgültig verworfen wird. Zugleich bewahrt sie das Kasino vor der Auseinandersetzung mit der real existierenden, im Ergebnis doch nicht idealen Partnerin, die schließlich unaufgefordert das Weite sucht, und vor der kränkenden Alltagswelt, in der man nur Alltagsmensch ist. Diese wird oft als Realität zweiter Ordnung entwertet und muss möglichst rasch überbrückt, mit Schlafmitteln ausgeklammert werden, bis man wieder ins Kasino eintreten kann. Erst im Kasino ist der Spieler wieder bei sich, bei seinen Größen- und Omnipotenzphantasien. (Zit. nach Petry 2003, S. 28 f.)
Zu diesem Film Der Regisseur Jacques Demy ist vor allem durch seinen leichtfüßigen Film Die Regenschirme von Cherbourg bekannt geworden (1964). Zwei Jahre vorher besuchte er mit seiner Frau, der Regisseurin Agnes Varda, das Filmfestival in Cannes, um Geld für sein »Regenschirmprojekt« aufzutreiben. Eher im Scherz schlug seine Frau ihm vor, es doch mal im Kasino zu versuchen. Im Spielsaal faszinierten ihn die Atmosphäre, die angespannten Gesichter, die die Probleme nicht verbergen können, der spürbare ständige Wechsel aus Triumph und Verzweiflung. In ein paar Tagen schrieb er die Geschichte über Jean und Jackie nieder. Da Jeanne Moreau sich bereit erklärte, die Hauptrolle zu spielen, war es kein Problem mehr, das Geld für den Film zu bekommen. Er wurde in sechs Wochen in kühlem Schwarz-Weiß abgedreht. Der Originaltitel des Filmes lautet: La Baie des Anges (Bucht der Engel) und lässt Los Angeles, die Stadt der Engel an der kalifornischen Küste, Hollywoods Scheinwelt, in der Fantasie aufsteigen. Jeanne Moreau ist gestylt wie die traurige Imitation einer Hollywood-Diva, allerdings atemberaubend von Pierre Cardin in schwarze und weiße Kleider gehüllt. Sie sollte an Carole Lombard erinnern, vielleicht auch an deren größten Erfolg Sein oder Nichtsein (Ernst Lubitsch 1942). Jack Demy wollte mit den Kontrastfarben Licht und Schatten symbolisieren, auch seine eigene »dark side« offenbaren, in dem er die Côte D‘Azur als Ort der Perversion, zur Bühne der Lügen, Schwächen und Ableugnungen der Spielsucht macht. Der Film ist von der freiwilligen Selbstkontrolle ab 18 Jahre freigegeben worden – heute unvorstellbar. La Baie des Anges ist ein eleganter Film geworden. Die wunderbar romantischen Kompositionen Michel Legrands unterlegen ihn. Aber der Film ist eine charmante Lüge, denn das pathologische Spiel ist nicht elegant. Es lebt von der Idealisierung der Spielsalons und der Illusion, Spieler seien ganz besondere Menschen. Im Schlussmonolog seines Romans Der Spieler beschwört Dostojewski noch einmal den ganzen Kosmos von Verzweiflung, Aufrichten eines falschen Selbst und dem Getriebensein, trotz aller Versprechungen und guten Vorsätze weiter zu spielen: Begreife ich denn nicht, dass ich ein verlorener Mensch bin? Aber doch … warum sollte ich nicht auferstehen können? Ja! Ich brauche nur ein einziges Mal im Leben ein guter Rechner zu sein und Geduld zu haben; das ist alles! Ich brauche mich nur ein einziges Mal charakterfest zu zeigen, und in einer Stunde kann ich mein Schicksal völlig umändern! Die Hauptsache ist Charakterfestigkeit. Ich brauche nur daran zu denken, wie es mir in dieser Hinsicht vor sieben Monaten in Roulettenburg ging, in der Zeit vor meinem völligen Zusammenbruch. Oh, das war ein merkwürdiger Beweis von Entschlussfähigkeit! Ich hatte damals alles verspielt, alles. Ich verließ das Kurhaus, da merkte ich, dass in meiner Westentasche noch ein Gulden steckte. »Ah«, dachte ich, »da habe ich ja noch etwas, wofür ich Mittagbrot essen kann!« Aber nachdem ich hundert Schritte weitergegangen war, wurde ich anderen Sinnes und kehrte wieder um. Ich setzte diesen Gulden auf manque (beim vorigen Mal war manque gekommen), und wirklich, es ist eine ganz besondere Empfindung, wenn man ganz allein, in fremdem Land, fern von der Heimat und allen Freunden, ohne zu wissen, was man an dem Tag essen
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Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich auch meinen kleinen Sohn verspielt
soll, den letzten Gulden setzt, den allerletzten! Ich gewann, und nach zwanzig Minuten verließ ich das Kurhaus mit hundertsiebzig Gulden in der Tasche. Das ist eine Tatsache! Da sieht man, was manchmal der letzte Gulden ausrichten kann! Aber was wäre aus mir geworden, wenn ich damals den Mut verloren und nicht gewagt hätte, einen kühnen Entschluss zu fassen? … Morgen, morgen wird alles zum guten Ende kommen! (Dostojewski 1867, S. 255 f.)
Literatur Batthyány D, Pritz A (2009) Rausch ohne Drogen. Substanz ungebundener Süchte. Springer, Wien Bilitza K W (Hrsg) (2008) Psychodynamik der Sucht. Psychoanalytische Beiträge zur Theorie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen (DSM IV) (2001) Hogrefe, Göttingen Dostojewski FM (1867) Der Spieler. Anaconda, Köln, 2005 Fenz C (2010) medizin-medien. Spielsucht: Gefährliches Spiel. http://www.medizinmedien.at. Gesehen17. Feb 2010 Fischer G, Schreiberhuber A (2010) Spielsucht in Österreich. Medizinische Universität Wien. http://sucht-addiction.gpk.at Groß A (2010) medical-tribune. Was pathologisches Spielen ausmacht. Ich weiß, dass ich jetzt gewinne. http://www.medical-tribune.at. Gesehen 17. Feb 2010 Grüsser S, Albrecht U (2007) Rien ne va plus – wenn Glücksspiele Leiden schaffen. Huber, Bern Heimowski U (2004) Spielsucht. Mein Weg aus der Abhängigkeit. Naegele, Schiers Henning P (2009) Es geht um mehr als Leben und Tod. Die Zeit Online-Interview von Peter Henning mit Michael Kohtes, 17. Dezember 2009. http://www.zeit.de/kultur/literatur/2009-12/gluecksspiel-michael-kohtes?page=all. Gesehen Feb 2010 Kohtes M (2009) Va Banque. Über Glücksspieler und Spielerglück. Transit, Berlin Meyer G, Bachmann M (2005) Spielsucht. Ursachen und Therapie. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Petry J (2003) Glücksspielsucht. Entstehung, Diagnostik und Behandlung. Hogrefe, Göttingen Scholz H (2005) Clinikum Sonderausg: Spielsucht – eine nicht stoffgebundene Abhängigkeit. Med. Medien Austria GmbH, Wien Scholz H, Quantschnig B (2010) Qualifizierte Therapie spielsüchtiger Patienten. (Krankenhaus de La Tour in Treffen/Kärnten). Springer A (2009) Sollen stoffungebundene Süchte als eigenständige Krankheitskategorien gelten. In: Battyány D, Pritz A (Hrsg) Rausch ohne Drogen. Springer, Wien Tillmann A (2003) Verspieltes Glück. Mein Mann ist spielsüchtig. Lübbe, Bergisch Gladbach Varnholt (2001) Roulette. Protokoll einer Selbstzerstörung. Karin Fischer, Aachen Vent P (1999) Spielsucht als Affektregulation. Klett-Cotta, Stuttgart Wikipedia (2010) http://www.wikipedia.org/wiki/Spiel. Gesehen Feb 2010 Wurmser L (1987) Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen. Springer Verlag H'berg
Originaltitel
La Baie des Anges
Erscheinungsjahr
1962
Land
Frankreich
Drehbuch und Regie
Jacques Demy
Hauptdarsteller
Jeanne Moreau (Jackie Demaistre), Claude Mann (Jean Fournier), Paul Guers (Caron), Henri Nassiet (Monsieur Fournier, Jeans Vater)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Franziska Lamott und William Adamson
Urszenen Voyeurismus (ICD-10: F65.3) Von der Oberfläche in die Tiefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Das Ohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Das Auge, der Blick – der Augenblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Urszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Verkehrte Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Doppelgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Von der Tiefe zurück an die Oberfläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
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Filmplakat Blue Velvet, USA 1986 Quelle: Cinetext/RR
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Blue Velvet Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan)
»Das ist das Schöne am Kino: Jeder wird zum Voyeur.« David Lynch
Jeffrey Beaumont (Kyle Maclachlan) kehrt nach Lumberton, einer Kleinstadt in Amerika, zurück, um sich um seine Mutter zu kümmern, nachdem sein Vater einen Schlaganfall erlitten hat. Auf dem Weg zurück vom Krankenhaus entdeckt er ein abgeschnittenes menschliches Ohr, das er sofort bei der Polizei abliefert, die sich aber nicht sonderlich dafür zu interessieren scheint. Dieses Desinteresse regt Jeffreys Neugier an und bald wird er in ein Drama hineingezogen, das sich zwischen der Nachtklubsängerin Dorothy Vallens (Isabella Rossillini) und dem gewalttätigen, soziopathischen Frank Booth (Dennis Hopper) abspielt. Frank hat Dorothys Mann und Sohn gekidnappt und verwendet nun beide als Druckmittel, um Dorothy zu demütigen, zu schlagen und zu vergewaltigen. Jeffrey – unterstützt von Sandy (Laura Dern), der Tochter des Polizeichefs – enträtselt das Mysterium und entdeckt in seiner Beziehung zu Dorothy die dunkle Seite seines Wesens. Schließlich findet er heraus, dass ein Polizist (der Partner von Sandys Vater) und der Zuhälter Ben (Dean Stockwell) in Franks Machenschaften verwickelt sind. Am Ende erschießt Jeffrey Frank in einem surrealen Ausgang der Geschichte (. Abb.1)
Von der Oberfläche in die Tiefe Lumberton, eine idyllische amerikanische Kleinstadt, ein rotes Feuerwehrauto fährt langsam durch das Bild. Ein Feuerwehrmann winkt uns fröhlich zu. Vorbei an gelben Tulpen und weißen Gartenzäunen, die die Grundstücke sauberer Vorstadthäuser begrenzen, vorbei an dunkelroten Rosen, penibel gepflegten Gärten. Spielende Kinder. Wir teilen die scheinbare Unschuld dieser Stadt: Lynchs Kamera neigt sich leicht nach oben und der Zuschauer betrachtet die vorbeifahrenden Bilder aus der einfachen und neugierigen Perspektive eines Kindes. Tom Beaumont (Jack Harvey) sprengt zufrieden lächelnd seinen Rasen. Eine Idylle satter Behaglichkeit. Die Kamera richtet sich auf den Gartenschlauch, der sich langsam verknotet. Wie aus heiterem Himmel greift sich Tom Beaumont an den Hals und fällt schlagartig zu Boden. Der Gartenschlauch gibt einen unkontrollierten Wasserstrahl frei, ein Hund schnappt danach, während die Hausfrau und Mutter entspannt vor dem Fernseher sitzt und einen Kriminalfilm anschaut. Die Kamera nähert sich dem am Boden Liegenden – fährt zwischen die Grashalme, ist nun in einer anderen, einer ungeordneten Welt, in der Käfer aufgeregt durcheinander krabbeln bis sie größer und größer werden, um schließlich bedrohlich die gesamte Leinwand zu füllen. Die Idylle zerbricht, ein unheimliches Gefühl kommt auf. Und dazu die Musik. Lynchs Gabe, Klang und Musik in seinen Filmen effektiv einzusetzen, ist eines seiner Markenzeichen und nirgendwo deutlicher und durchgreifender als in diesem Film. Ebenso wie wir als Zuschauer visuell durch die Übersättigung und Schärfe der Farben und Bilder zwangsläufig in die Welt von Lumberton hineingezogen werden, genauso werden wir durch die Musik von der Umgebung und musikalisch intonierten Stimmung bezirzt und umhüllt. Der Vorspann läuft vor einem Hintergrund aus wallendem, blauem Samt, begleitet von Angelo Badalamentis orchestraler Musik, die hier eindringlich und leicht disharmonisch als musikalischer Vorbote wirkt. Dazu lautet die Regieanweisung:
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Urszenen
Blauer Himmel. Die Kamera schwenkt langsam nach unten auf einen sauberen weißen Palisadenzaun mit schönen roten Rosen davor. Vögel zwitschern in der Ferne. Ein leises Sprenkeln ist zu hören. Es spielt eine wunderbare süße Musik. (Lynch – Blue Velvet – The Screenplay)
Diese »very sweet music” ist »Blue Velvet«, gesungen von Bobby Vinton. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1963, war damals die Nummer eins der Hitparade, obwohl das Lied schon Anfang der 1950er Jahre geschrieben wurde und auch schon damals ein »Hit«war. Mit diesem Lied verführt Lynch die Zuschauer zu einer lieblich-harmonischen Vorstellung von jener amerikanischen Kleinstadt, in die er uns führt. Der Song hatte was Mysteriöses. Er rief in mir Assoziationen hervor. Ich dachte an Rasenflächen – Gärten in einer Wohngegend. (Lynch 2006 S. 179)
Die Bilder einer scheinbar heilen Welt, hinter der ein Abgrund lauert, ziehen den Zuschauer tief in Lynchs Welt hinein und halten ihn dort gefangen. Die Beunruhigung wird durch eine »doppelte Codierung« (Seeßlen 2007) erzeugt, einer harmonischen Aussage und gleichzeitig eines entgegen gesetzten Kommentars; ähnlich dem aus der Psychologie bekannten »double-bind« Wir folgen Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan): Er macht sich auf den Weg, seinen Vater im Krankenhaus zu besuchen, der nach dem Schlaganfall im Garten sprachlos an Maschinen und ein Stützgerät gebunden ist; dem Tod näher als dem Leben. Auch der Sohn verstummt angesichts des väterlichen Zustandes. Auf dem Heimweg durch die Wiesen stößt Jeffrey auf ein im Gras liegendes menschliches Ohr, mit dem die Geschichte nun ihren Lauf nimmt. Jeffrey will das Rätsel lösen.
Das Ohr Es musste ein Ohr sein, weil das Ohr ein Eingang ist. Er steht offen, man kann eindringen und gelangt in fremde Gefilde. (Lynch 2006 S. 181)
Die Kamera fährt nun in das vom Körper getrennte Organ, dringt ein in den Gehörgang wie ins Unbewusste, und wir folgen dem Sog der labyrinthischen Gänge. Die Allegorie könnte Bezug nehmen auf Freud, der sich auf das »dritte Ohr« (Reik 1976; Nietzsche 1977) konzentriert, indem er dem latenten Unbewussten gegenüber dem Manifesten und Sichtbaren den Vorrang gibt. Das »Ohrgan« (Speck 2005) hat eine besondere Bedeutung für die Psychoanalyse. In der Konzentration auf das Zuhören entzieht sich der Analytiker den Reizen und Blicken, lauscht den Worten und Geschichten, konzentriert sich auf das Symbolische und spürt hinter den Fehlleistungen und Assoziationen die verdrängten Fantasien und Affekte auf (Lamott 1998). Nicht nur das, was in den Worten ist, wird gehört, sondern auch das, was die Worte nicht sagen. Nicht nur das, was gesprochen wird, wird gehört, sondern auch die eigene innere Stimme, die eigenen Bilder, die beim Zuhören auftauchen. Es scheint also wichtiger zu erkennen, was das Sprechen verbirgt und das Schweigen offenbart. Der Verzicht auf Augenkontakt ist nicht nur ein Schutz vor übermächtigen Reizen, sondern das »Niederlegen des Blicks« (Lacan 1987, S.121) erleichtert den Eintritt in das Reich der Fantasie und fördert den freien Gedankenfluss sowie die Regression und Übertragung. So lässt sich Blue Velvet auch als eine psychoanalytisch inspirierte Reise ins Unbewusste lesen.
339 Blue Velvet – Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan)
Die Ästhetik des Eindringens ist typisch für die Filme von Lynch, besonders aus der Perspektive eines neugierigen Kindes. So ist das Ohr, das Jeffrey in Blue Velvet findet, zwar ein abgeschnittenes, aber dennoch hörendes Ohr, in das er, und wir mit ihm, hinein muss, um die wahre Geschichte zu erfahren. Für Jeffrey, der angesichts der Todesnähe seines Vaters seine kindliche Position verlassen muss, um die Position des Erwachsenen einzunehmen, also »zum Mann werden« muss, ist das Ohr ein Wegweiser in die Unterwelt. Und das im doppelten Sinne: im kriminalistischen, um zu erfahren, wem das abgetrennte Organ gehört und im psychoanalytischen, um Verlorenes wieder zu finden, um den spürbaren Mangel zu beheben (Seeßlen 2007). Der Jüngling auf dem Weg zum Mann macht sich also auf die Suche. Unkenrufe und Warnungen begleiten ihn: Keinesfalls solle er in die Lincoln Street gehen. Doch ausgerechnet Sandy (Laura Dern), jene brave, unbescholtene Freundin, Tochter des Polizeichefs, bringt Jeffrey auf die Spur der verruchten Sängerin Dorothy Vallens (Isabella Rossellini), die nicht nur in der 7. Straße im »Slow Club« arbeitet, sondern auch noch in jener verbotenen Lincoln Straße im 7. Stock eines Hauses wohnt. Sie soll etwas mit dem abgeschnittenen Ohr zu tun haben. Schon die Zahl »Sieben«, die magische Zahl, ist eine Vorwarnung, sie steht für das Tabu (Paneth 1952). In Blue Velvet wird die Zahl Sieben immer mit Orten der Dunkelheit assoziiert (Drazin 1998). Die erste Ebene der Hölle in Dantes Inferno ist schließlich auch der 7. Kreis, wo die Sünden der Gewalttätigkeit bestraft werden und so kann es nicht anders sein, als dass »Meadow Lane«, Schauplatz von Franks Gewalttaten, auf der Route »Sieben« liegt. Die Sieben fungiert ebenso wie die Stimmen der anderen als Mahnung, aber Jeffrey kann nicht widerstehen, muss seinem (An-)Trieb, seiner Neugier, seinem Wissensdrang folgen und antwortet der besorgten Sandy:
R Jeffrey: »There are opportunities in life for gaining knowledge and experience. Sometimes it’s necessary to take a risk«1
Das Auge, der Blick – der Augenblick Jeffrey will hinter das Geheimnis kommen und verschafft sich Zugang zu Dorothys Wohnung, indem er sich als städtischer Schädlingsbekämpfer ausgibt. Bei dieser Gelegenheit stiehlt er ihren Wohnungsschlüssel, in der Absicht zu einem anderen Zeitpunkt wiederzukommen, um sich in Ruhe der Spurensicherung zu widmen. Noch an demselben Abend besucht er mit Sandy den »Slow Club«, in dem Dorothy auftritt. Als Dorothy, die »Blue Lady«, ihr Lied singt, wirken Jeffrey und Sandy wie kleine Kinder in einer erwachsenen Welt. Es ist das zweite Mal, dass wir im Film nun »Blue Velvet« hören. Es handelt von einer Liebe, die längst verloren, aber nie vergessen ist – ein unerreichbares Ideal. Blue Velvet wird durch Dorothy verkörpert, einer Frau, die sich zwischen den Polen der Madonna und der Hure bewegt, immer mysteriös schillernd und ambigue: Jeffreys erste Berührung mit einer sexuellen Szene birgt die Gefahr des Begehrens (Atkinson 1997 S. 38)
So muss er von einem unaussprechlichen Drang getrieben seiner Mission folgen und in ihre Wohnung eindringen, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, während Sandy an seinem Motiv zu zweifeln beginnt.
1 Zitate aus dem Filmdialog sind in diesem Beitrag nicht ins Deutsche übersetzt, da die Originalsprache ein fundamentales Ausdrucksmittel dieser filmischen Erzählung ist.
340
Urszenen
. Abb. 2 »I wanted to see you … I didn’t mean to do anything except see you.« – Szene mit Kyle MacLachlan, Quelle: Cinetext
R Sandy: »I don’t know if you’re a detective or a pervert.«²Jeffrey: »That’s for me to know and for you to find out.« Mit dem gestohlenen Schlüssel betritt er ihr Reich. Als Dorothy überraschend nach Hause kommt, versteckt er sich in ihrem Kleiderschrank und beobachtet durch die Lamellen der Schranktür, wie sie sich auszieht (. Abb. 2). Die Kamera ist wohl das mächtigste Werkzeug in der Kunst des Filmemachers. Wir folgen dem elektronischen Blick, als sei es unser eigenes Auge; eröffnen uns den Raum durch die Schlitze der Schranktür – wie durch ein Schlüsselloch – gewöhnen uns an den eingeschränkten Blickwinkel. Lynch produziert durch seine Kameraführung und Filmtechnik ein Kinobild, das dem Blick des Voyeurs durch die Lamellen entspricht, auf das, was »da unten« passiert. Das Bild ist schmal und breit, die Perspektive öffnet einen Ausschnitt von oben nach unten. Ebenso wie jene Blickrichtung von Jeffrey aus dem Schutz des Schrankes, verfolgen wir aus dem Dunkel des Kinosaals die Handlungen auf der Leinwand und lassen den eigenen Assoziationen, Fantasien und Projektionen freien Lauf. Lynch bedient sich in genialer Weise des &LQHPDVFRSH-bzw. Breitwandverfahrens, das ein Projektionsformat hervorbringt, das 2,5-mal so breit wie hoch ist. Diese Kameratechnik kommt szenisch ganz zur Geltung, da der Blick durch die Lamellen dem Breitwandformat entspricht. Lynch schreibt mit seiner filmischen Erzählung nicht nur eine weitere selbstreflexive Geschichte des Kinos, sondern produziert darüber hinaus eine geniale Einbeziehung des Zuschauers durch ein neues Format. Auf diese Weise schreibt Blue Velvet ein Stück Filmgeschichte.
341 Blue Velvet – Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan)
Der Blick aus dem dunklen Raum, geschützt durch die nach unten weisenden Lamellen – wie durch gesenkte Lider – bleibt unerkannt. Bis ein Geräusch aus dem Inneren des Schrankes Dorothy auf den Eindringling aufmerksam macht. Sie bedroht Jeffrey mit einem Messer und will wissen, ob er sie beim Ausziehen beobachtet hat.
R Jeffrey: »I wanted to see you … I didn’t mean to do anything except see you. …« Dorothy: »Do you sneak into girls’ apartments to see them get undressed?« Jeffrey: »No, never before this.« Dann zwingt sie den Voyeur, sich vor ihr zu entblößen, also ihre vormalige Position einzunehmen, während nun sie ihrerseits ihn dabei beobachtet, bevor sie ihn schließlich mit dem Messer in der Hand zum Sex zwingen will. Die Verführungs- oder auch rollenverkehrte Vergewaltigungsszene wird jäh durch das Auftauchen des Killers Frank Booth (Dennis Hopper) unterbrochen. Er hatte Dorothys Mann Don verstümmelt und ihm ein Ohr, eben jenes von Jeffrey gefundene Ohr abgeschnitten, bevor er auch Donny, Dorothys Kind, in seine Gewalt gebracht hatte Jeffrey versteckt sich erneut im Schrank und wird nun – und wir mit ihm – Zeuge einer polymorphperversen Szene zwischen Frank und Dorothy, die einem sadomasochistischen Albtraum gleicht. Als Dorothy ihn unterwürfig mit »Hallo Baby« begrüßt beschimpft Frank sie wüst:
R Frank: »Shut up. It’s daddy, shithead – where’s my bourbon. Can’t you fuckin’ remember anything?« [Dorothy macht das Licht aus und zündet eine Kerze an] »Now it’s dark.« »Spread your legs. Wider. Now show it to me.« »Don’t you fuckin’ look at me!« [Frank inhaliert durch eine Sauerstoffmaske] »Mommy. Mommy! Mommy!« Dorothy: »Mommy loves you, Frank.« Frank: »Baby wants to fuck!« … »Don’t you fuckin’ look at me!« »Baby wants blue velvet.« [Frank stopft sich ein Stück von Dorothys Morgenmantel aus blauem Samt in den Mund] »Don’t you fuckin’ look at me! Don’t you fuckin’ look at me!« »Look at me! Daddy’s comin’ home.« Frank pendelt hin- und her zwischen der Position eines gierigen, sexuell stimulierten Kindes gegenüber der Mutter und der eines sadistischen, erwachsenen Mannes. Die Pendelbewegung oszilliert zwischen präödipalem, wildem Begehren und perverser Erwachsenenlust. Dabei scheint es, als löse Dorothys Blick, als Blick des Anderen – wie Sartre in Das Sein und das Nichts (1943) bemerkte – Scham darüber aus, erkannt worden zu sein, erkannt in einer infantilen, abhängigen Position (»Baby«), die durch den aggressiv initiierten Wechsel in eine (pseudo-unabhängige) erwachsene Position (»Daddy«) abgewehrt wird.
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Urszenen
Aus dem sicheren Ort des Schrankes, der ebenso wie das Kino für den intrauterinen mütterlichen Schutzraum steht, blickt der beobachtende Jeffrey in einen Spiegel, der ihm seine eigene Ambivalenz, sein eigenes Schwanken zwischen den Positionen vor Augen führt. Am Übergang des »nicht-mehr« und »noch-nicht« sucht er Schutz, während sich vor seinen Augen die Urszene, ein projiziertes inneres Szenario entfaltet, das für jede der drei Positionen (Vater, Mutter, Kind) spezifische Erregungspotenziale bereithält.
Urszenen Die Schlüsselszene des Films verdeutlicht jenen von Freud betonten Zusammenhang zwischen Voyeurismus und »Urszene«, in der die sexuelle Beziehung zwischen den Eltern durch das Kind beobachtet wird. Werden Kinder in so zartem Alter Zuschauer des sexuellen Verkehrs zwischen Erwachsenen, so können sie nicht umhin, den Sexualakt als eine Art von Misshandlung oder Überwältigung, also im sadistischen Sinne aufzufassen. (Freud 1905 S. 97)
Später misst Freud (1918) dem beobachteten oder fantasierten, als sadomasochistische Beziehung erlebten elterlichen Koitus eine weitere Bedeutung zu, indem er die der Urszene folgende sexuelle Erregung beim Kind thematisiert (Laplanche u. Pontalis 1977): Die Deutung dieser real beobachteten oder fantasierten sexuellen Szene basiere auf der eigenen präödipalen körperlichen Erfahrung mit der Mutter und den sich daraus ergebenden Wünschen des Kindes Das Kind will an der Welt der Erwachsenen teilhaben. Das Ausgeschlossensein von der Intimität des Paares bedeutet eine narzisstische Kränkung und eröffnet gleichzeitig einen Fantasieraum. So richtet sich – wie Fast (1996) betont – das Kind im Laufe der frühen psychosexuellen Entwicklung in der narzisstischen Fantasie ein, beide Geschlechter gleichzeitig leben zu können. Es folgt dem Wunsch nach »bisexueller Vollständigkeit«, der die Grenzen des eigenen Geschlechts verleugnet. Diese frühe omnipotente Fantasie muss – so Fast – im Zuge einer gelungenen psychosexuellen Entwicklung aufgegeben werden. An ihre Stelle soll die Anerkennung der Begrenzung auf das je eigene Geschlecht treten. Das Kriterium einer positiven Entwicklung besteht in ihrem Konzept also in der Überwindung dieser narzisstischen, nach bisexueller Vollständigkeit strebenden Größenfantasie Aron (1995) greift Fasts Modell auf und erweitert ihr Konzept, indem er das Vermögen veranschaulicht, gleichzeitig an zwei gegensätzlichen Vorstellungen festhalten zu können, ohne diese zu verschmelzen oder aufzuspalten: Bei der »bisexuellen« Phantasie geht es darum, alles zu haben sich sowohl mit der Mutter als auch mit dem Vater zu identifizieren und sie zu begehren sowie die maskulinen (masculine) und femininen (feminine) »Seiten« unserer Persönlichkeit miteinander in Kontakt treten, sich verbinden und eine neue Konzeption hervorbringen zu lassen (Aron 1995, S. 26)
Blue Velvet verkörpert – im wahrsten Sinne des Wortes – diese psychoanalytische Konzeption: Die Protagonisten Jeffrey, Frank und Dorothy inszenieren Fantasien der Transgression zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, Homo- und Heteroerotik, zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen Normalität und Perversion. Sie treiben sie voran, lustvoll und schmerzhaft, überschreiten Grenzen, zerstören Vertrautes durch »doppelte Codierungen« und konfrontieren uns den Zuschauer mit unserer (Un-) Fähigkeit, Chaos, Verwirrungen, Ambivalenzen und Ambiguitäten auszuhalten.
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Während Fast in ihrer Konzeptualisierung die Entwicklung vom omnipotenten Narzissmus hin zur Anerkennung der Realität als normative Forderung gelungener Entwicklung konstatiert, nimmt Aron eine andere Gewichtung vor, indem er betont, dass die Phantasie »bisexueller Vollständigkeit« in jedem erhalten bleibt und eine entscheidende, grundlegende und konstruktive Rolle hinsichtlich unserer Fähigkeit zur Kreativität und unserem Vermögen, zu denken und zu symbolisieren, spielt. (Aron 1995 S. 26)
Das heißt Aron geht es um die Notwendigkeit der Anerkennung der Vielfalt. Das konfrontiert uns mit einem Paradox: Während wir einerseits eine Kern-Geschlechtsidentität brauchen, um die Grenzen unserer Geschlechtsidentität aufrechterhalten zu können, müssen wir andererseits auch ein multigeschlechtliches Selbst bewahren, das die Beweglichkeit unserer mannigfaltigen Identifizierungen gewährleistet. [Wir brauchen die Fähigkeit] einen Mangel an Integration, Verwirrung, Widersprüche, Veränderungen und sogar Chaos als Teil [des eigenen] Selbstverständnisses anzuerkennen, auszuhalten und sogar zu genießen. (Aron 1995 S. 27f.)
Was mit Männlichkeit oder Weiblichkeit verbunden wird, ist eine relationale Erfahrung, die von den inneren, vielfältigen Männlich-weiblich-Beziehungen der eigenen Eltern geformt ist. Sie sind in den Fantasien enthalten, die der Urszene zugrunde liegen. Diese internalisierten Urszenenerfahrungen dienen der inneren Strukturbildung, der Regulierung von Narzissmus und Objektbeziehungen, wie den Fantasien von eigener Maskulinität und Feminität. Pointiert gesagt: Die Persönlichkeit ist strukturiert auf der Grundlage der Internalisierung der Eltern beim Geschlechtsverkehr (Aron 1995 S. 35)
In diesem Verständnis schafft die internalisierte Urszene einen »dreieckigen Raum«: Dadurch wird es möglich, sowohl an einer Beziehung teilzunehmen und dabei von einer dritten Person beobachtet zu werden, als auch Beobachter einer Beziehung zwischen zwei Personen zu sein. (Britton 1989 S. 86, zitiert nach Aron 1995 S. 44)
Während das Voyeurismusmodell strikt dualistisch ist – ein Subjekt beobachtet ein Objekt und wird dabei sexuell erregt – beinhaltet die Urszene drei Positionen. Sie »erklärt« das Rätsel der eigenen Existenz, sprengt die dualistische Situation, da sie dem Beobachter mehr als zwei Möglichkeiten der Identifikation offen hält. Er identifiziert sich mit sich selbst als Zuschauer, mit sich selbst als abwesend (schließlich geht es um die eigene Zeugung), mit den Eltern in ihrer aktiven und passiven Rolle und schließlich kann er in der Szene auch »in einer entsubjektivierten Form vorkommen; d.h. in der Syntax der angesprochenen Sequenz selbst (Hölzer 2006 S. 150)
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Urszenen
Verkehrte Liebe Während Jeffrey und Sandy romantische Gefühle austauschen und Sandy von Rotkehlchen, die das Glück ankündigen, träumt, entfacht Dorothy mit ihrer körperlichen Präsenz in Jeffrey eine ungestüme sexuelle Leidenschaft.
R Sandy: »You’re not going back to her apartment?« Jeffrey: »Yeah« Sandy: »Jeffrey, why?« Jeffrey: »I’m seeing something that was always hidden. I’m involved in a mystery. I’m in the middle of a mystery and it’s all secret.« Er gibt sich der Macht der Anziehung hin und wird nach anfänglichem Zögern ihr – wie sie es wünscht – zuschlagender Geliebter. Als Jeffrey danach Dorothys Apartment verlässt, passen ihn Frank und seine Gang ab und verschleppen ihn auf eine Vergnügungstour. Zusammen mit Dorothy, Frank und den anderen landet Jeffrey in einem Bordell, dessen Besitzer Ben eine seltsam befremdliche tuntige Figur mit geckenhafter Eleganz ist. Im Hintergrund spielt die Melodie »Honky Tonk Part I«, eine Art CountryRock-Musik, die der Szene eine entspannte Atmosphäre verleiht. Der homoerotische Flair dieser Szene verbreitet eine entspannte Stimmung. Bevor der Zuschauer jedoch erleichtert in den Sessel zurücksinken kann, kippt die Geschichte: Ben schlägt Jeffrey brutal in den Magen, um dann – während eine Lampe als Mikrofon dient – Roy Orbison mimend »In dreams I walk with you, in dreams I talk to you« singt. Als sein Gesicht auf surreale Weise beleuchtet wird und die süßlich-schmerzliche Melodie ins Ohr fährt, kann man sich dem Horror kaum entziehen. Die alten Songs von Roy Orbison locken in eine Vergangenheit, die mit der Gegenwart noch längst nicht abgerechnet hat. Demütigungen, Atemnot, Gewalt. Nichts ist vergessen. Alles ist irgendwo gespeichert. Und alles kommt wieder. (Althen 1989)
Lynch ist es gelungen, mit dem Einsatz dieser Musik eine Szene zu kreieren, die von Spannung und Furcht überflutet ist; der Zuschauer wird verunsichert, orientierungslos und weiß nicht mehr, was von wem zu erwarten ist. Die pantomimische Darstellung ist beunruhigend und gleichzeitig in perverser, verdrehter Form romantisch. Lynch versetzt den Zuschauer in einen tranceartigen Zustand und zwingt ihn so zur Teilnahme an diesem AlbtraumNach dem Besuch im Bordell geht die Spritztour weiter. Auf dem Brachland mit dem trügerischen Namen »Meadow Fields« wird Jeffrey – während wir »In Dreams …« zum zweiten Mal hören – von Frank gewaltsam auf die Lippen geküsst, bevor auch dieser ihn brutal zusammenschlägt. Das Zusammenspiel von Hören und Sehen ist beklemmend: Der Zuschauer, von der Darstellung der Gewalt entsetzt und sich gleichzeitig dem Genuss der Musik hingebend, wird auf diese Weise zum Komplizen. Die Szene überschreitet Grenzen. Die nach Romantik haschende Welt verwandelt sich in ein bedrohliches psychotisches Universum. »In Dreams« ist eine Ballade von der Liebe. Im Songtext geht es darum, dass das »Ich” des Liedes in einen Schlaf (von einem »candy-colored clown they call the sandman”) versetzt wird und in eine trügerische Fantasiewelt eintaucht. Nach dem Erwachen muss es (das »Ich«) erkennen, dass seine Liebe verschwunden ist. »In Dreams« ist passend und unpassend zugleich. Das Lied gehört Frank und ist sein Lieblingssong – ein Liebeslied, das in Szenen zum Tragen kommt, die alles andere als mit romantischer Liebe, sondern mit Gewalt und Perversion eben mit »verkehrter« Liebe assoziiert sind. Dennoch ist keine klare Grenze zwischen Perversem und Nichtperversem zu ziehen; darauf haben neben Freud eine ganze Reihe von Autoren hingewiesen (Stoller 1998; McDougall 1997)
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Wenn man akzeptiert, dass das Normale und das Perverse in der Sexualität nicht sauber voneinander getrennte Kategorien sind, so konfrontiert uns das mit einem seltsamen und abgründigen Paradox der Perversion – an Stelle der Abweichung von der Normalität finden wir zugleich das genuin »Menschliche«, die Lust (Stein 2006 S. 19)
Mit anderen Worten, das polymorph Perverse fungiert als das eigentliche sexuelle Erregungspotenzial In diesem »entbiologisierten« Sinn kann Sexualität als Ausdruck von Liebe und Hass, als Mittel gegen Angst, als Verführungstaktik, als Kunst oder als eine wichtige Beziehungserfahrung verstanden werden (Stein 2006). Perversion ist untrennbar mit der herrschenden Kultur verknüpft und in dieser durch Verdrängung oder Sublimierung – im Film oder im Kunstwerk – gebunden. Sie hat ihre Ursprünge in eben dieser Zivilisation und entspringt jener normativen Kultur, die sie gleichzeitig zu bedrohen scheint. Lynch gibt in Blue Velvet dem Schrecken und Hass einen Raum und verdeutlicht dabei, wie Bedrohung und Scham abgewehrt und in Triumph verwandelt werden, einen Triumph, der auf frühkindlich erfahrene Szenen verweist. Diese werden nunmehr verkehrt, indem das ehemals gepeinigte, verletzte und verratene Kind seinerseits die Rolle des Peinigers einnimmt und auf diese Weise seine eigenen Bedürfnisse befriedigt. Nicht umsonst spricht Stoller (1998) von der Perversion als der »erotischen Form von Hass«. Im Alltag wie in der Populärkultur jedoch wird die Verknüpfung von Hass und Sexualität als Angriff auf unsere romantische Vorstellung verstanden, in der Liebe und Sexualität untrennbar miteinander verwoben sind. Lynch attackiert in Blue Velvet systematisch diesen Kitsch und inszeniert stattdessen den Zusammenhang von Sexualität, Aggressivität und Perversion, die dazu dient, andere zu beherrschen und Intimität zu zerstören. Diese »verkehrte Liebe« ist durch einen »Mangel an Neugierde auf den Anderen und das fehlende Empfinden für das Rätsel, das der andere darstellt« gekennzeichnet (Stein 2006 S. 28). Der französische Psychoanalytiker David (1971) weist darauf hin, dass im perversen Drehbuch das auffälligste Element zwar die Sexualität sei, tatsächlich aber die perverse Beziehungsgestaltung entscheidend ist. Mit anderen Worten: Im »perversen Pakt« geht es um eine Beziehung zwischen zwei Komplizen, die unbewusst darauf bedacht sind, ihre frühen Traumata zuzudecken und sich dabei gegenseitig in Sicherheit zu wiegen, indem sie sich eine Liebe versprechen, die »verkehrt« ist. In diesem Pakt werden Unterschiede nivelliert, man unterstellt sich gegenseitig, den anderen von innen heraus zu kennen, als sei er ein zweites Selbst. Doch dabei geht es letztendlich darum, ihn zu kontrollieren und auf diesem Wege Gefühle des Ausgeliefertseins, der Einsamkeit und des Selbsthasses zu lindern. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Lynch den Protagonisten Frank, bevor er Jeffrey unter den Klängen von »In Dreams« auf den »Meadow Fields« zusammenschlägt, sagen lässt, dass dieser sein Doppelgänger sei.
Doppelgänger Blue Velvet wimmelt von Doppelgängern. So repräsentieren Sandy und Jeffrey zunächst die in romantischen Wünschen gebundene unschuldige kindliche Weltsicht, aus der alles Böse, Widersprüchliche, Unreine und Perverse verbannt sind, während Dorothy und Frank die dunklen Seiten menschlicher Existenz verkörpern. Doch je weiter wir in die Geschichte hineingezogen werden, desto drängender wird die Frage, ob nicht Sandy und Dorothy wie Frank und Jeffrey eine Person sind, die in zwei verschiedenen Welten lebt. Alle Figuren sind Wesen im Übergang: »nicht mehr« und »noch nicht«. Sie müssen sich finden – doch vorerst hat Sandy Dorothy so sehr … … »erfunden«, wie Jeffrey Frank »erfunden« hat, weil sie anders nicht zueinander hätten kommen können. Die einzigen Hauptpersonen dieses Films, die sich nie begegnen sind Frank und Sandy. Aber der männliche Dämon gilt nicht der unschuldigen, sondern ihrer schuldigen Projektion. Wenn
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Urszenen
sie Dorothy erfindet, hat Sandy die Existenz Franks wahrscheinlich gemacht; Jeffrey also befindet sich bei seiner Reise in das Geheimnis auf der dunklen Seite von Sandys Traum. … Wenn Jeffrey hingegen Frank »erfindet«, so als Antwort auf Dorothys Einsamkeit und vielleicht als Antwort auf ein inzestuöses Begehren, das sich auf Dorothy, die »Mommy« richtet. (Seeßlen 2007, S. 88)
Jeffrey wird mit seiner Abspaltung des Aggressiven und Bösen in Frank konfrontiert. Dabei wird Frank jene Rolle zugewiesen, der Jeffrey zu entkommen sucht und die er überwinden muss, will er nicht ausschließlich auf der polymorph-perversen Stufe seiner Sexualität stehen bleiben. Der weitere Fortgang der Geschichte, in der Jeffrey den mysteriösen Frank verfolgt, lässt sich auch als eine Auseinandersetzung mit der eigenen gewalttätigen Sexualität verstehen, die ihn bedroht (Neumann 1986). Das unannehmbar empfundene Eigene wird in einen feindseligen »Doppelgänger« (Frank) projiziert, an dem das Monströse dingfest gemacht wird. Das Böse wird ausgelagert, deponiert, und am Ende des Albtraums im Showdown entsorgt. Doch das unheimlich Monströse ist nichts Fremdes, sondern etwas Vertrautes, was der eigenen Seele durch Verdrängung entfremdet worden ist. In der Wiederkehr des Verdrängten, wenn die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwimmt, die bewusste Abwehr ins Leere läuft und die Eckpfeiler des Ichs zusammenzubrechen drohen, wird die Überschwemmung durch das »Unheimliche« gefürchtet (Lamott 1993). Die Projektion dient der Abwehr dieser Angst, aber auch einer erneuten Entfremdung. Das Unheimliche ist demnach das nach Außen verschobene, eigene beängstigende, ungeliebte Selbst, das – fremd geblieben und desintegriert – auf den anderen projiziert wird. Das fremd gemachte Eigene begegnet uns also wieder als das Fremde: Das andere, das ist mein (‚eigenes‘) Unbewusstes, mein unbewusstes (‚Eigenes‘) (Kristeva 1990, S. 199)
In der Metapher des Doppelgängers findet das Unheimliche seinen Ausdruck. Die Bedrohung wird als Ebenbild des eigenen Ichs wahrgenommen, was umso schrecklicher ist, als das Andere sich offensichtlich als das Gleiche erweist. (Lynch 2006 S. 8)
Dorothy stürzt nackt, verletzt und verwirrt auf die Straße. Sie bittet Jeffrey um Hilfe, der in ihr Apartment eilt und dort ein Horrorszenario vorfindet: ein toter Polizist mit Kopfwunde und ein toter Mann ohne Ohr. Jeffrey ahnt, dass Frank vor ihm da war und dass er selbst nun in einer Falle sitzt. Er lenkt Frank auf eine falsche Fährte. So gelingt es ihm am Ende doch, sich von dem Bösen zu befreien: Aus dem sicheren Ort des Schrankes erschießt Jeffrey Frank.
Von der Tiefe zurück an die Oberfläche Nun beginnt der Epilog mit einer Fahrt aus Jeffreys Ohr heraus, und der Zuschauer befindet sich wieder in dem kleinbürgerlichen Idyll eines blühenden Gartens. Langsam tauchen wir auf aus einem großen dunklen Loch. Wir sehen, dass wir eigentlich aus einem Ohr auftauchen, aber wir befinden uns immer noch in den Gängen des Ohrs. Sie sehen riesig aus. Wir bewegen uns weiter nach oben und schweben über dem Ohr und queren über eine Wange hin auf ein Auge. Jeffreys Auge. Sein Gesicht ist lichtdurchflutet. (Lynch – Blue Velvet – The Screenplay)
Dort verweilt Jeffrey glücklich lächelnd in einem Liegestuhl. Sandys und Jeffreys Eltern sind ein Herz und eine Seele, während Dorothy sorglos mit Donny, ihrem kleinen Sohn, spielt. Wir sind wieder in Lumberton, dieser idyllischen amerikanischen Kleinstadt. War alles nur ein Albtraum, der nun endlich
347 Blue Velvet – Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan)
zu Ende ist? Blue Velvet kann als die Geschichte einer sexuellen Initiation gelesen werden, einer Initiation, die den Knaben zum Mann werden lässt (Layton 1994). Lynch bedient sich zur Verdeutlichung dieser »rites de passage« (Van Gennep 2005) eines Kunstgriffs: Der Blick der Kamera fährt auf das Ohr zu und verschwindet im Labyrinth des Gehörgangs – aus dem er am Ende der Geschichte wieder hervortritt. Die metaphorische Bedeutung liegt auf der Hand: Jeffrey durchwanderte die geheimnisvolle, gefährliche, sexuelle Welt, die ihm als Jugendlicher verborgen war, und verlässt zusammen mit dem Zuschauer – reich an Erfahrung – dieses aufwühlend fantastische Universum (Neumann 2001). Auf ganz spezifische Weise erzeugt Lynch in Blue Velvet eine verstörende Intensität, die den Zuschauer befremdet und gleichzeitig in seinen Bann zieht: durch das Außerkraftsetzen von Regeln, durch das Verletzen unausgesprochener Erwartungen zersetzen sich jene Strukturen, die normalerweise das Behagen des Zuschauers sichern und seine Orientierung garantieren. Doch die gleichzeitig aufscheinenden Gegensätze von Kitsch und Kunst, Realismus und Surrealismus dezentrieren selbst den kritischen Betrachter. Die Angriffe richten sich auf das Zusammenspiel der Seh- und Hörgewohnheiten, die vertrauten Charaktere, die Erwartungen an die Erzählstruktur, auf die Empfindungen, die durch schockartige Attacken zu Albträumen werden. Sie zielen auf unsere emotionalen Engramme. Und die Affekte, die Blue Velvet beim Zuschauer auslöst, sind der Stoff, aus dem die Faszination wie die Empörung gegenüber diesem Film entstehen. Es ist jenes Kino … das zum Lachen, zum Weinen und Schaudern geführt hat, das im Dunkeln und in der Anonymität den Körper des Publikums zu einer anderen Leinwand macht, zu einer Landkarte der somatischen Affekte, auf denen … die visuelle Zote von Anfang an einen festen Platz hatte. Das Sehen selber wird im Kino sexualisiert als Schaulust genossen. (Koch 2001 S. 105)
So sind wir mitten drin, genießen oder verdammen im geschlossenen Raum, im Inneren des kinematografischen Guckkastens, das hemmungslose erotische Triebleben der Anderen, sind selbst der Voyeur, den wir eben noch beobachtet haben.
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Originaltitel
Blue Velvet
Erscheinungsjahr
1986
Land
USA
Drehbuch
David Lynch
Regie
David Lynch
Hauptdarsteller
Kyle MacLachlan (Jeffrey Beaumont), Isabella Rossellini (Dorothy Vallens), Dennis Hopper (Frank Booth), Laura Dern (Sandy Williams), Hope Lange (Mrs. Williams), Den Stockwell (Ben), George Dickerson (Det. John Williams), Priscilla Pointer (Mrs. Beaumont), Frances Bay (Tante Barbara), Jack Harvey (Mr. Tom Beaumont)
Verfügbarkeit
DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Udo Rauchfleisch
Die »Liebe« zum Kind Pädophilie (ICD-10: F65.4) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Charakteristik der Hauptfiguren mit Herausarbeitung der Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Zur Entstehung der Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Diagnostische Einordnung der Pädosexualität nach ICD-10. . . 356 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
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Filmplakat Pretty Baby, USA 1977 Quelle: Cinetext/RR
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Pretty Baby Bellocq (Keith Carradine)
Vorbemerkung Zunächst eine Vorbemerkung zur Terminologie. Die ICD-10 verwendet den Begriff »Pädophilie«, der jedoch die Brisanz des Verhaltens, um das es hier geht, meiner Ansicht nach verschleiert, wenn mit der Bezeichnung »-philie« die »Liebe« zum Kind ausgedrückt wird. Dies ist jedoch im Fall der Pädophilie nicht die Realität, sondern es geht um eine Grenzverletzung, ein Nichtrespektieren der Generationengrenzen, um sexuelle Ausbeutung und damit um eine Form der gegen Kinder gerichteten Gewalt. Ich verwende deshalb in diesem Beitrag den auch sonst in der Fachliteratur in neuerer Zeit verwendeten Begriff der Pädosexualität. Eine zweite nötige Vorbemerkung betrifft die Auswahl des Films. Es hat sich als äußerst schwierig erwiesen, einen Film zu finden, der das Thema der Pädosexualität behandelt. Entweder werden Mädchen wie Lolita (im gleichnamigen Film nach dem Roman von Nabokov) dargestellt, die den Mann verführen und deshalb selbst an ihrem Schicksal schuld zu sein scheinen. Oder es wird (wie im Film Short Eyes) die Situation eines – vermeintlich – pädosexuellen Mannes geschildert, der in der Untersuchungshaft von den anderen Gefangenen schikaniert und schließlich getötet wird, als sie erfahren, welches Vergehens er sich schuldig gemacht haben soll. In beiden Filmen, die hier beispielhaft für andere ähnliche Werke genannt sind, ist der pädosexuelle Mann letztlich das Opfer, das im Rezipienten Mitleid provoziert. Auch der hier gewählte Film Pretty Baby verschleiert die Persönlichkeit des/der Täter weitgehend, indem er das Mädchen ganz ins Zentrum rückt und es als eine treibende Kraft im Prozess des Missbrauchs darstellt. Diese Entschärfung der Brisanz des Themas wird vom Regisseur Louis Malle noch verstärkt, indem er die Situation betont unterkühlt darstellt, was den Film, abgesehen von ausgesprochen schönen Bildern, phasenweise fast langweilig und langatmig erscheinen lässt. Dies ist ein Eindruck, der in vielen Rezensionen dieses Films als Ausdruck eines nicht sehr gelungenen Werkes erwähnt wird. Dies scheint mir indes kein Zufall zu sein und lässt sich auch nicht durch mangelnde Fähigkeiten des Regisseurs erklären, sondern ist von einem Meister des Films wie Louis Malle zweifellos intendiert. Durch diesen Kunstgriff wird das Thema Pädosexualität für die Rezipienten erträglich – und konnte, als der Film im Jahre 1977 erschien, erfolgreich die Filmzensur passieren. Es fragt sich, ob er bei der gegenwärtigen Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema Pädosexualität heute in dieser Form noch hätte geschaffen werden können.
Die Handlung Die Handlung spielt im Jahr 1917 in New Orleans. Der Film basiert auf der Lebensgeschichte des realen Fotografen Ernest J. Bellocq, nach dessen Originalfotos viele Szenen des Films komponiert worden sind. Die 12-jährige Violet wächst dort bei ihrer Mutter Hattie, einer Prostituierten, in einem Bordell auf. Für sie ist dies eine ihr seit jeher bekannte, völlig »normale« Umgebung: die sexuell aufgeladene Atmosphäre der Prostituierten und ihrer Freier. Dies ist Violets »Familie«, in der sie sich wie selbstverständlich bewegt und deren Verhaltensweisen sie übernommen hat, da sie nichts anderes kennt. Immer wieder zeigt sich der Kontrast zwischen dem Kind und der frühreifen jungen Frau, die sich wie die erwachsenen Prostituierten auszudrücken und zu bewegen bemüht.
352
Die »Liebe« zum Kind
. Abb. 2 Mehrfach posieren Mutter und Tochter gemeinsam für Fotos – Szene mit Susan Sarandon und Brooke Shields, Quelle: Cinetext
Sie flirtet mit den Freiern und präsentiert sich kokett, wie sie es von den Prostituierten um sich herum sieht. Die Umgebung achtet jedoch darauf, dass die Männer bei Violet nicht zu weit gehen.
R »Sie darf noch nicht voll einsteigen. Sie ist noch jung«, begründet die Mutter diese Regel. Die Bindung an die »Großfamilie« des Bordells ist außerordentlich stark und ist Violet selbst wichtiger als die Beziehung zu ihrer Mutter. Als die Mutter z. B. nach einem Streit mit der Besitzerin des Bordells das Haus verlassen will, weigert sich Violet, ihr zu folgen. Sie will im Bordell bleiben, was die Mutter schließlich veranlasst, ihren Plan zunächst aufzugeben. Eines Tages taucht der scheue junge Fotograf Bellocq im Bordell auf, um Prostituierte zu fotografieren. Violet ist fasziniert von ihm, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil er nicht dem ihr sonst bekannten Muster der Männer entspricht, die im Bordell verkehren. Mehrfach posieren die Mutter und Violet gemeinsam für Fotos (. Abb.2), und zunehmend entwickelt sich von Violets Seite her eine Rivalität mit der Mutter um die Gunst und Aufmerksamkeit des Fotografen. Immer wieder versucht Violet Bellocq zu provozieren und präsentiert sich ihm in verschiedenen Situationen als begehrende »Frau«, wie sie es von den Prostituierten um sich herum kennt. Der Fotograf bleibt jedoch zurückhaltend und sieht in ihr in erster Linie das Kind, das er nicht anrühren möchte. Es naht der Augenblick, in dem Violet in einer Art Initiationsritual in die Welt der erwachsenen – sich prostituierenden – Frauen eingeführt wird: In einem grotesken Szenario wird sie, wie eine erwachsene Frau gekleidet und geschminkt, auf einer Sänfte in den Salon getragen, in dem sich die Freier versammelt haben. Sie soll an den Meistbietenden versteigert werden, der damit das Recht der »prima nocte« erwirbt.
353 Pretty Baby – Bellocq (Keith Carradine)
Die Freier umringen Violet und begutachten sie wie ein Stück Vieh auf dem Markt und überbieten einander, bis schließlich ein in diesem Kreis bisher völlig unbekannter Mann den Höchstpreis von 400Dollar bietet und damit das Recht erwirbt, ihr die Jungfräulichkeit zu nehmen. Die ganze Zeremonie wird im Film als ein Gemisch aus Kindergeburtstag, lüsterner Gewalttätigkeit und – von Violet selbst sehnsüchtig erwarteter – Initiation in die Erwachsenenwelt dargestellt. Kurze Zeit später nimmt Violets Mutter den Heiratsantrag eines Freiers an und beschließt, mit ihm nach St. Louis zu ziehen. Ihrem Bräutigam gegenüber gibt sie Violet als ihre jüngere Schwester aus, um ihn nicht zu erschrecken. Violet bleibt allein im Bordell zurück. Violet setzt ihre Bemühungen, Bellocq zu verführen, weiter fort. Immer wieder versucht sie auch, seine Eifersucht zu wecken, indem sie sich kokett den Freiern gegenüber verhält. Als sie wegen eines Ungehorsams auf Geheiß der Bordellbesitzerin brutal geschlagen wird, verlässt Violet das Bordell und sucht bei Bellocq Unterschlupf. Er nimmt sie bei sich auf, und sie wird seine Geliebte. Mit Äußerungen wie
R »Ich will, dass Du mein Geliebter wirst« und »Ich werde Dich irrsinnig glücklich machen« präsentiert sie sich ihm als erwachsene Frau. Obwohl Bellocq eine sexuelle Beziehung mit Violet eingeht, spürt er doch, dass sie noch ein Kind ist, und schenkt ihr eine Puppe. Auf ihre erstaunte Frage, warum er ihr eine Puppe schenke, erwidert er:
R »Jedes Kind sollte eine Puppe haben«, worauf Violet erstaunt fragt:
R »Bin ich für dich ein Kind?« Die Doppelrolle, in der sich Violet befindet, zeigt sich eindrucksvoll in einem von Bellocqs Fotos, das zugleich das Titelbild des Films ist: Violet, geschminkt, gekleidet und in der Pose einer erwachsenen Frau mit der Puppe im Arm (. Abb. 1, S. 350). Nach einem Streit mit Bellocq kehrt Violet ins Bordell zurück, das jedoch kurze Zeit später wegen massiven Protesten religiöser Gruppen aufgelöst werden muss. Auf der Straße vor dem Bordell trifft Violet Bellocq, der ihr einen Heiratsantrag macht, den sie annimmt. Einige Zeit später erscheint Violets Mutter, die sich in St. Louis mit ihrem Mann ein bürgerliches Leben aufgebaut hat und ihr Versprechen, Violet zu holen, nun einlöst. Bellocqs Argument, Violet sei seine rechtmäßig Ehefrau, entkräftet die Mutter mit dem Hinweis, die Ehe zwischen ihrer Tochter und dem Fotografen sei ungültig, da sie dazu nicht ihre Zustimmung gegeben habe. Violet ist zwiespältig, ob sie der Mutter folgen oder bei Bellocq bleiben soll. Er beschwört sie zu bleiben und beteuert Violets Eltern:
R »Ich kann nicht ohne sie leben!« Violet stellt sich vor, er könne doch mit ihnen nach St. Louis gehen und sie würden dann alle zusammen leben. Dies ist jedoch unmöglich. Violet verlässt Bellocq und folgt ihrer Mutter nach St. Louis.
354
Die »Liebe« zum Kind
Charakteristik der Hauptfiguren mit Herausarbeitung der Symptomatik Das Besondere dieses Films liegt darin, dass es eine ganze Gruppe von Menschen1 ist, die die sexuelle Integrität des Kindes verletzen und zumindest zum Teil die Kriterien der pädosexuellen Präferenz erfüllen. Im Fall von Pretty Baby sind es die Prostituierten, inkl. die Mutter von Violet, die im Bordell verkehrenden Freier und ganz ausgesprochen der Fotograf Bellocq. Untersucht man das Verhalten der genannten Personen, so zeigen sich etliche für pädosexuelle Menschen charakteristische Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen:Eine grundlegende Form der sexuellen Ausbeutung liegt darin, dass für die Umgebung, in der die Protagonistin aufwächst, Prostitution zu den Selbstverständlichkeiten des Lebens gehört. Dies, obwohl einige Prostituierte, so auch Violets Mutter, immer wieder davon träumen, dem Bordell den Rücken kehren und ein bürgerliches Leben führen zu können. Für die Prostituierten ist es in keiner Weise bemerkenswert, dass Violet von frühster Kindheit an in einer solchen sexuell aufgeladenen Situation aufwächst. Dies erscheint ihnen »normal«, und sie sind sich keiner Schuld bewusst, dass sie das Kind in einer solchen Umgebung aufwachsen lassen. Die Prostituierten, einschließlich Violets Mutter, sind es dann ja auch, die das Mädchen am Tag ihrer Entjungferung einkleiden, sie schminken und ihr Ratschläge geben, wie sie sich am besten bei der Defloration verhalten solle, damit der Mann, der sie ersteigert habe, größtmögliche Befriedigung und Genugtuung erlebe. Violet hat im Verlauf ihres bisherigen Lebens diese Einstellung ihres Umfelds zur Sexualität verinnerlicht und empfindet es geradezu als Geschenk, dass sie mit dem Initiationsritual der Entjungferung endlich eine erwachsene Frau wird und damit gleichwertiges Mitglied der Bordell-»Familie«. Die Tragik der Protagonistin liegt darin, dass Violet selbst sich in keiner Weise bewusst ist, dass ihr eigenes Verhalten und der Umgang der Erwachsenen mit ihr eine Verletzung ihrer Integrität darstellen. Für sie ist die sexuelle Ausbeutung, die sie erlebt, etwas Selbstverständliches, ja ein höchst erstrebenswertes Ziel, wie die Vorbereitungen auf ihre Versteigerung zum Zweck der Defloration zeigen. Konsequenterweise lässt der Film offen, ob Violets Schrei, den die im Salon versammelten Prostituierten und Freier bei der Entjungferung hören, ein echter Schrei des Schmerzes und der Verletzung ist oder lediglich ein Schrei, der die Erwartungen des sie deflorierenden Freiers erfüllen soll. Die Tatsache, dass Violet einen wesentlichen Anteil an den sexuellen Übergriffen hat, indem sie sich kokettierend und sich den Männern anbietend verhält und gekränkt ist, wenn sie nicht wie die erwachsenen Prostituierten behandelt wird, dient im Film dazu, die Brisanz der Grenzverletzungen herunter zu spielen. In den Rezipienten entsteht auf diese Weise der Eindruck, sie wolle doch selbst eine solche Behandlung. Damit trage sie zumindest einen Großteil der Verantwortung für das, was mit ihr geschieht. Die Freier repräsentieren eine Haltung, die bei Pädosexuellen nicht selten anzutreffen ist: Ihnen geht es lediglich um die Befriedigung ihrer eigenen Lust, ungeachtet dessen, was der sexuelle Übergriff für das Kind bedeutet. Für die Freier ist, wie für die Prostituierten, die sexuelle Ausbeutung etwas Selbstverständliches, das nicht weiter hinterfragt und mit moralischen Kriterien beurteilt werden muss. Einzig der Fotograf Bellocq zeigt, vor allem zu Beginn seines Aufenthaltes im Bordell, ein Stück weit Einfühlung in Violet und äußert sich ihr wie der Umgebung gegenüber mehrfach kritisch über die Art, wie mit ihr umgegangen wird. Zugleich spürt er aber auch die Faszination, die dieses Kind auf ihn ausübt, und gibt im Verlauf der Zeit, nicht zuletzt durch Violets Koketterie provoziert, mehr und mehr seinen Wünschen nach einer intimen Beziehung zu dem Kind nach, bis er schließlich mit der Minderjährigen eine Ehe eingeht Auch in dieser Zeit bleibt bei ihm ein Rest an selbstkritischer Reflexion 1 Charaktereigenschaften, Symptome, bzw. lebensgeschichtliche Ereignisse, die für die diagnostische Einordnung des Störungsbildes wichtig sind, werden in den beiden folgenden Abschnitten kursiv hervorgehoben.
355 Pretty Baby – Bellocq (Keith Carradine)
bestehen, wie sein Geschenk einer Puppe (denn »jedes Kind sollte eine Puppe haben«) zeigt. Aber dies hindert ihn nicht, mit Violet in einer intimen Beziehung zu leben. Seine moralischen Bedenken, die ihn während längerer Zeit davor geschützt haben, Violets Integrität anzutasten, werden durch sein auf das Kind gerichtetes Begehren außer Kraft gesetzt Dass er Violet schließlich, wenn auch unter Protest, mit der Mutter gehen lässt, mag Hinweis auf seine Einsicht sein, dass sie ein Kind ist und nicht als Geliebte oder Ehefrau mit ihm leben kann. Bellocq kommt jedoch nicht selbst zu dieser Einsicht und ändert sein Verhalten daraufhin, sondern das Erscheinen der Mutter zwingt ihn, Violet gehen zu lassen. Aber selbst in dieser Situation denkt und fühlt er nicht, was für das Mädchen das Beste ist, sondern stellt seine eigene Befindlichkeit ins Zentrum:
R »Ich kann nicht ohne sie leben!« Es seien noch einmal die beiden Hauptcharakteristika der verschiedenen Personen genannt, welche Täterinnen und Täter der sexuellen Übergriffe sind: E Die Täterinnen und Täter verletzen die Integrität der Persönlichkeit ihres Opfers durch den sexuellen Übergriff der Erwachsenen gegenüber dem Kind. E Sie empfinden dabei kein Schuldgefühl, sondern rechtfertigen ihr Handeln mit dem Argument, das Opfer habe die sexuellen Handlungen gewollt. Im Film Pretty Baby werden die pädosexuellen Grenzverletzungen noch dadurch speziell verharmlost und als solche letztlich geleugnet, dass sie in der Umgebung, in der Violet aufwächst, als selbstverständlich gelten. Anfängliche Skrupel und Hemmmechanismen, wie der Fotograf Bellocq sie empfindet, werden schon bald durch sein sexuelles Begehren außer Kraft gesetzt. Der Täter stellt sich selbst schließlich als Opfer dar, indem er (Bellocq) äußert, er könne ohne Violet nicht leben, und stellt sich somit als der Verführte dar.
Zur Entstehung der Störung Der Film Pretty Baby, wie auch etliche andere Filme, die das Thema Pädosexualität behandeln, spricht nicht von einer psychischen Störung der Täter. Deshalb erfahren wir auch nichts über die Entstehung dieser sexuellen, sich auf Kinder ausrichtenden Präferenz. Die sexuellen Grenzverletzungen, deren Opfer Violet ist, werden als etwas Selbstverständliches, von ihr selbst Gewünschtes dargestellt. Damit besteht keine Notwendigkeit, sich Gedanken über die mögliche Genese der Täterpersönlichkeit und seines Verhaltens zu machen, und es erübrigt sich jegliche Diskussion darüber, da es – nach der Anlage der Geschichte von Pretty Baby – ja keine Störung, sondern ein völlig »normales« Verhalten der Täter ist. Von wissenschaftlicher Seite liegen wenige gesicherte Befunde zur Entstehung der Pädosexualität vor (eine Übersicht über die aktuelle Forschung findet sich bei Fiedler 2004). Multifaktorielle Bedingungsanalysen (z.B. die Pfadanalyse von Ward u Siegert 2002) zur Untersuchung des Gesamtphänomens »sexueller Missbrauch mit und ohne Pädophilie« weisen auf fünf bedeutsame Wirkaspekte hin: E Defizite im intimen Beziehungsverhalten und fehlende soziale Kompetenz, E Störungen sexueller Präferenzen und im sexuellen Beziehungsverhalten, E Fehlregulationen im emotionalen Erleben und Handeln, E kognitive Defizite und kognitive Störungen sowie E spezifische Wechselwirkungen der aufgeführten Entwicklungsstörungen. Die zuletzt genannte Untergruppe scheint am ehesten der Pädosexualität zu entsprechen, wie sie die ICD-10 beschreibt. Dies sind indes nur erste Annäherungen an das komplexe Thema »Pädosexualität«, die einer weiteren Klärung bedürfen.Man geht heute davon aus, dass die Pädosexualität, wie die anderen sexuellen Präferenzen, wenn nicht anlagemäßig vorgegeben, sich doch sehr früh im Leben des betreffenden Menschen entwickelt und nicht veränderbar ist. Das diagnostische System der ICD-10
356
Die »Liebe« zum Kind
sagt, entsprechend seinem deskriptiven Ansatz, nichts über die Ätiologie aus. Die Analyse des Films Pretty Baby zeigt bei den verschiedenen Gruppen von Täterinnen und Tätern (die Prostituierten, die Freier und der Fotograf Bellocq) unterschiedliche Persönlichkeiten. Die Prostituierten begehen durch ihren Umgang mit Violet eindeutige sexuelle Grenzverletzungen, sind aber nicht pädosexuell im Sinne der ICD-10. Ebenso wenig ist vermutlich die Mehrzahl der Freier als pädosexuell zu bezeichnen, auch wenn sie die Integrität des Kindes verletzen, indem sie Violet als Objekt behandeln, das ausschließlich ihrer sexuellen Lust dienen soll. Die Prostituierten und die Freier begehen pädosexuelle Handlungen, die in dem sozialen Kontext, in dem sie leben, als »normal« gelten und damit sozial akzeptiert sind, ohne aber von ihrer sexuellen Präferenz her pädosexuell zu sein. Einzig der Fotograf Bellocq zeigt Persönlichkeitszüge, die auf eine Pädosexualität im Sinne der ICD-10 hinweisen: Er meidet den Kontakt zu den erwachsenen Frauen und ist total auf die kindliche Sexualpartnerin fixiert. Einige Zeit lang kämpft Bellocq zwar gegen die Impulse, sich Violet zu nähern. Er kann diese Kontrolle jedoch schließlich nicht mehr aufrechterhalten und geht eine intime Beziehung mit ihr ein. Er tut dies im ausdrücklichen Wissen und Spüren, dass sie noch ein Kind ist Bellocq gehört zu der Gruppe von Pädosexuellen, die ihre sexuelle Präferenz zumindest ansatzweises konflikthaft erleben und gegen sie zu kämpfen versuchen. Letztlich aber dominiert die Faszination, die für diese Täter vom Kind ausgeht, und sie geben, wie der Fotograf, ihrem Begehren nach und gehen eine sexuelle Beziehung zum Kind ein. Wenn unter den Freiern Männer mit pädosexueller Präferenz sind, dürften sie eher zur Gruppe der Pädosexuellen gehören, die sich keiner Schuld bewusst sind und ihr Verhalten als »normal« und sogar dem »Wohl des Kindes dienend« deklarieren. Täter dieser Art entwickeln oft eine ausgeklügelte Ideologie zur Begründung, warum ihr Handeln keine Grenzverletzung, sondern eine liebevolle Zuwendung zum Kind (deshalb Pädo-philie) sei und vom Kind gewünscht werde. Violet wäre in dieser Hinsicht sehr geeignet zur Stützung der Behauptung der Täter, sie verübten keine Gewalt, sondern erfüllten die Wünsche des Kindes. Übersehen resp. ausgeblendet wird dabei, dass die Sexualität des Kindes und seine Neugier auf die Beziehungen der Erwachsenen qualitativ etwas anderes ist als die Sexualität der Erwachsenen und dass wegen der Asymmetrie der Beziehung zwischen Kind und Erwachsenem das Kind sich immer in der schwächeren, abhängigen Position befindet.
Diagnostische Einordnung der Pädosexualität nach ICD-10 Die diagnostischen Leitlinien der ICD-10 sind betreffend Pädosexualität, im Vergleich zu anderen Diagnosen, eher »mager«. Das Kernsymptom ist die Ausrichtung des sexuellen Interesses auf das Kind und das daraus resultierende Verhalten. Die pädosexuelle Präferenz kann sich auf Mädchen oder Knaben oder auf beide Geschlechter richten, bevorzugt präpubertierende oder in der Pubertät stehende Kinder. Der Fotograf Bellocq ist Repräsentant des pädosexuellen Mannes, der auf das präpubertäre resp. früh pubertäre Mädchen ausgerichtet ist. Wie erwähnt, gehört Bellocq zu der Gruppe von Pädosexuellen, die ihre Gefühle und ihr dadurch gesteuertes Verhalten nicht bagatellisieren, ideologisch rechtfertigen oder positiv umdeuten, sondern die spüren, dass ihr sexuelles Begehren dem Entwicklungsstand des Kindes nicht entspricht und eine Grenzverletzung darstellt. Letztlich dominiert aber auch bei diesen Tätern die für sie vom Kind ausgehende Faszination, und es kommt zu manifesten Übergriffen, im Film dargestellt durch den Beginn der sexuellen Beziehung zwischen Bellocq und Violet. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Grenzverletzungen bereits viel früher begonnen haben. Man muss bereits in dem Moment von einem Übergriff pädosexueller Art sprechen, in dem Violet ihm als Fotomodell in erwachsen-weiblichen Posen dient, ganz ausdrücklich da, wo er Nacktfotos von ihr macht. Es sei hier kritisch angemerkt, dass die Hauptdarstellerin Brooke Shields selbst in gewisser Weise von den Erwachsenen (Eltern, Regisseur etc.) »missbraucht« worden ist, indem sie schon als 10-Jährige
357 Pretty Baby – Bellocq (Keith Carradine)
dem Fotografen Garry Gross nackt Modell stand und drei Jahre später in Louis Malles Film die jugendliche Prostituierte Violet darstellte. Man kann sich fragen, ob damit nicht eine Verletzung der Integrität des Kindes, das den Erwachsenen zur Erreichung ihrer ehrgeizigen Ziele dienen musste, erfolgt ist, was die Darstellung solcher Szenen durch Kinder (wie in Pretty Baby) höchst fragwürdig macht. Zur Diagnose der Pädosexualität gehört ferner die Forderung, dass es sich nicht um einen einzelnen Vorfall dieser Art, sondern um eine anhaltende oder vorherrschende Veranlagung handelt. Auch in dieser Hinsicht erfüllt Bellocq die Kriterien eines pädosexuellen Mannes. Er empfindet die erwachsenen Prostituierten zwar als interessant und macht sie zum Sujet seiner Fotos. Wirklich fasziniert ist er aber letztlich nur vom Kind Violet, und nur mit ihr nimmt er eine reale sexuelle Beziehung auf. Beim Kriterium der anhaltenden oder vorherrschenden Präferenz ist indes Folgendes zu berücksichtigen: Allein aus der Tatsache, dass ein Mann gelegentlich oder sogar häufig sexuelle Beziehungen zu erwachsenen Frauen unterhält, kann noch nicht geschlossen werden, dass keine Pädosexualität vorliegt. Es finden sich immer wieder Täter, die den Kontakt zu erwachsenen Frauen suchen, bevorzugt zu Frauen mit Kindern, um auf diese Weise den Kindern näher zu kommen. Oder sie lenken die Umgebung durch die Beziehung zur erwachsenen Frau von ihrer eigentlichen – nämlich pädosexuellen – Präferenz ab. In gewisser Weise ist dies über längere Passagen des Films Pretty Baby auch so. Bellocq richtet sein Interesse anfangs ausschließlich auf die erwachsenen Prostituierten. Doch schon bald wird spürbar, dass die Hauptfaszination für ihn von Violet ausgeht und sie für ihn zunehmend zum Zentrum seines Denkens, Fühlens und Begehrens wird.
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Originaltitel
Pretty Baby
Erscheinungsjahr
1977
Land
USA
Drehbuch
Louis Malle und Polly Platt
Regie
Louis Malle
Hauptdarsteller
Brooke Shields (Violet), Susan Sarandon (Hattie), Keith Carradine (Ernest James Bellocq)
Verfügbarkeit
Als DVD in Originalsprache und in deutscher Sprache erhältlich
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Cornelia Mikolaiczyk
Die Ambivalenz des Bösen – eine Einführung in die forensische Psychiatrie Störung der Sexualpräferenz (ICD10: F65) Was ist passiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Die Persönlichkeit im Längs- und Querschnitt, . . . . . . . . . . . . . . . 364 Kann man das Böse verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
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Filmplakat Der freie Wille, Deutschland 2006 Quelle: Kinowelt/Cinetext
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Der freie Wille Theo Stör (Jürgen Vogel)
Was ist passiert? Die Tatanamnese unter Berücksichtigung psychodynamischer Aspekte Um nichts zu vereinfachen, haben wir beschlossen, mit ihm an dem höchsten Grad der Aggression, zu der er fähig ist, einzusteigen und ihn dann erst danach kennenzulernen. (Zitat Jürgen Vogel, Hauptdarsteller, Koautor und Koproduzent)
Die ersten Minuten des Filmes zeigen einen dicklichen, ärmlich und ungepflegt wirkenden Theo Stör, der an seinem Arbeitsplatz als Abwäscher in einer Jugendeinrichtung Jugendliche angreift, als sie seiner Aufforderung, ihm zu helfen, nicht gleich nachkommen. Danach rast er in halsbrecherischer Fahrt mit seinem Auto über eine Landstraße. Eine Radfahrerin kommt ihm entgegen. Er wendet, lauert ihr auf, überwältigt und fesselt sie, verbindet ihr die Augen und vergewaltigt sie brutal, während er sie beschimpft und mit Faustschlägen ins Gesicht traktiert. Die Einschätzung von Jürgen Vogel stimmt hier nicht ganz, denn dass Theo Stör zu noch extremeren Gewaltexzessen in der Lage ist, verrät uns ein unvollendeter Halbsatz sehr viel später im Film. Eins seiner Vergewaltigungsopfer hat er auf eine heiße Herdplatte gesetzt. Für Jürgen Vogel ist Theo Stör ein Täter mit Schuldgefühlen. Der Film deutet dies schon früh an. Die vergewaltigte Frau läuft weg, stürzt und verletzt sich so noch mehr. Theo Stör löst daraufhin ihre Fesseln und holt aus dem Auto einen Verbandskasten. Als er zurückkommt, ist die Frau aber schon verschwunden. Inzwischen wurde sein Auto entdeckt, sodass er zu Fuß fliehen muss. Er versteckt sich im Wald und wird nachts von einem Suchtrupp aufgespürt und verprügelt. Hier macht der Film einen jähen Cut. Nach einigen Sekunden der Dunkelheit findet sich der Zuschauer in einer Einrichtung des Maßregelvollzugs wieder. Theo Stör, nun deutlich schlanker mit Kurzhaarschnitt und bieder-korrektem Streifenhemd sitzt einem schweigenden, ausgesprochen treffend in Szene gesetzten Therapeutenteam gegenüber und bewirbt sich um die Aufnahme in eine Wohngemeinschaft außerhalb des Vollzugs. Er schwankt zwischen Zuversicht und Skepsis und trifft damit genau die therapeutisch erwünschte Haltung, sodass er auf Bewährung entlassen wird. Sehr realitätsnah wird der Verlauf seiner neun Jahre und vier Monate dauernden Unterbringung zusammengefasst:
R »Vor vier Jahren hatte ich das erste Mal Ausgang mit Begleitung, vor zwei Jahren habe ich die Triebhemmer abgesetzt und seit einem halben Jahr darf ich tagsüber raus.« Angekommen in der WG wird Theo Stör vom Sozialarbeiter Sascha damit konfrontiert, dass einige der Mitbewohner die Bewährung als Anfang vom Ende bezeichnen würden – mit der Haustür als Tor zur Hölle. Der Zuschauer sieht nun wie Theo Stör versucht, mit seinem Leben in Freiheit zurechtzukommen. Sichtlich nervös absolviert er ein Vorstellungsgespräch in einer Druckerei, bei dem er berichtet, insgesamt drei Vergewaltigungen begangen zu haben. Statt ins Gefängnis sei er in den Maßregelvollzug gekommen, da Ärzte ihn für krank und therapiebedürftig gehalten hätten. Nun sei er wieder gesund und wolle zeigen, dass es möglich sei, ein normales Leben zu führen, auch wenn man falsch angefangen habe. Er bekommt die Stelle. Im Film und sicherlich auch bei Theo Stör gewinnt das Thema Frauen immer mehr Präsenz. Zunächst beobachtet er Frauen in alltäglichen Situationen. Insbesondere auf eine
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Die Ambivalenz des Bösen – eine Einführung in die forensische Psychiatrie
. Abb. 1 Theo Stör folgt der Kellnerin nach Feierabend in die U-Bahn – Szene mit Jürgen Vogel und Anna de Carlo, Quelle: Kinowelt/Cinetext
Kellnerin hat er ein Auge geworfen. Bei einem gemeinsamen Saunabesuch vertraut er Sascha an, dass »da etwas im Anmarsch sei«. Mal um Mal habe er mit seiner Therapeutin durchgesprochen, was dann zu tun sei. Sascha erfasst nicht im Ansatz die Dialektik des Problems und wendet ein, dass ihm die Kellnerin doch gefalle. Prägnant drückt Theo Stör sein Kernproblem mit dem Satz aus:
R »Ja, die Kellnerin, die gefällt mir und sie gefällt mir irgendwie auch nicht.« Nun tritt Nettie, die Tochter des Arbeitgebers von Theo Stör, auf die Bühne. Im eindrücklichen Szenen zeigt der Film ihre Versuche, sich aus der emotionalen Übergriffigkeit ihres Vaters und ihrer inneren Ambivalenz ihm gegenüber zu befreien. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich auch um Netties Beziehungsfähigkeit zu Männern nicht ums Beste bestellt, was durch einige weitere Szenen illustriert wird. Derweil gerät Theo über seine Versuche auf »normalem« Weg Kontakt zu Frauen aufzunehmen in immer größere Verzweiflung. Aufgewühlt ruft er von einer Disco aus Sascha an, als er realisiert, wie fest seine Libido an seine perversen Fantasien gekoppelt ist.
R »Das funktioniert nicht, das geht nicht, da ist nichts bei mir, erst wenn ich wieder zu Hause bin und allein bin, da ist dann wieder etwas.« Naiv und überfordert ermuntert Sascha ihn, Frauen anzusprechen, er könne sein Problem nicht über Nachdenken lösen. So sieht der Zuschauer wie Theo Stör der Kellnerin nach Feierabend in die U-Bahn folgt (. Abb. 1). Ein Spannungsbogen baut sich auf. Schließlich bittet er die Kellnerin um eine Verabredung und bekommt eine, wenn auch freundlich formulierte Abfuhr. Aber es tut sich eine neue Chance von einer zunächst nicht zu vermutenden Seite auf. Nettie spricht Theo Stör, den sie kurz einmal in der Druckerei
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gesehen hat, im Supermarkt an. Auf Netties Initiative hin treffen sie sich in einem Café. Beide schweigen sich an. Nettie meint schließlich, dass dies alles nichts bringe, da sie Männer nicht möge. Darauf antwortet Theo Stör, dass sich dies gut treffe, da er Frauen auch nicht besonders möge. Als Nettie begreift, dass das keine dumme Retourkutsche ist, entwickelt sie Interesse für Theo Stör. In der nächsten Szene onaniert Theo Stör zu einem Pornofilm und beschimpft die weibliche Darstellerin abfällig, wie er es auch in der Vergewaltigungsszene am Anfang des Films getan hat. Dies ist seine Reaktion auf das Näheangebot von Nettie und illustriert seine Ambivalenz, wie auch die Kopplung seiner Libido an destruktive Aggression. In Theo Störs Lebensalltag kommt es zu einigen Belastungen. Er erfährt, dass einer seiner Mitbewohner zurück in den Vollzug musste. Sascha teilt ihm mit, dass ihm gekündigt wurde und er nach Berlin zieht. Da erscheint es als positiver Ausgleich, dass Nettie erneut den Kontakt zu Theo Stör sucht und sich zwischen beiden eine vorsichtige Vertrautheit anbahnt. Zum ersten Mal sieht man echte Freude in seinem Gesicht, als Nettie seiner Einladung, gemeinsam mit ihm im Kampfsportstudio zu trainieren, folgt. Hier realisiert er, dass auch Nettie um die Beherrschung ihrer Aggression kämpfen muss, weswegen sie das Training schließlich abbricht. Der Film zeigt dann einen still am Boden sitzenden Theo Stör. Es bleibt offen, was in ihm vorgeht. Möglicherweise hat ihn die im Trainingskampf aufkeimende Aggression zwischen Nettie und ihm erregt. Nach dieser Begegnung möchte er Nettie wiedersehen. Die aber erklärt, wegen eines Praktikums eine Weile nach Belgien zu gehen. Auch Sascha ist inzwischen nach Berlin abgefahren. Die Fachfrau weiß, dass das für Theo Stör mehr bedeutet als ein Abschied und eine Trennung auf Zeit. Das durch äußere Realitäten begründete Weggehen von Sascha, der ihm sogar anbot, mit nach Berlin zu kommen, und die vorübergehende Trennung von Nettie erlebt ein derart Ich-strukturell schwacher und zu reifen Ganzobjektbeziehungen nicht fähiger Mensch wie Theo Stör als persönlichen Angriff und Missachtung seiner Bedürfnisse. Insofern überrascht es nicht, dass er in solch einer Krisensituation auf alte Bewältigungsmechanismen zurückgreift. Nach einer Zufallsbegegnung im Kaufhaus verfolgt Theo Stör eine Verkäuferin bis nach Hause, harrt im Hausflur aus und schleicht sich nachts in ihre Wohnung. Er beobachtet sie eine Weile, schlägt ihre Bettdecke zurück und nähert sich mit seiner Hand dem Po der schlafenden Frau. Was weiter passiert, bleibt offen. Nach einem Schnitt sieht man nur wie Theo Stör zunächst gemächlichen Schrittes, dann rennend das Weite sucht. Er flüchtet sich zu Nettie nach Belgien, die ihn in ihrer eigenen Ambivalenz zunächst zurückweist, dann aber in ihrem Zimmer schlafen lässt. Im Gästebett liegend scheint Theo Stör bei den Klängen des Ave Marias scheinbar zur Ruhe zu kommen. Am nächsten Morgen wacht Nettie auf und findet ihn neben sich im Bett. Sie beginnt ihn zärtlich zu berühren. Aufgewühlt und verzweifelt flüchtet er. Den Tag darauf hat Theo Stör für Nettie eine Überraschung vorbereitet. Er führt sie in eine menschenleere Kirche, von der Empore herab erklingt das Ave Maria. In dieser Szene finden beide zueinander. Eine Träne rollt über Theo Störs Wange. Nun scheint es wirklich bergauf zu gehen. Der Film zeigt wie Nettie und Theo Stör zurück in ihrer Heimatstadt eine Beziehung leben. Nach anfänglicher Zurückhaltung von seiner Seite gelingt auch der erste Geschlechtsverkehr für beide lustvoll (. Abb. 2, S. 360) Die anschließende Szene gemeinsamen Badens signalisiert entspannt-glückliche Intimität. So ist es Nettie möglich, Theo ihre Liebe zu gestehen. Dieser erstarrt voller Schrecken. Das ist zu viel der Nähe. Endgültig überfordert ist er, als Nettie ihn angeheitert anruft und ihm mitteilt, dass sie mit Kollegen einen Abschied feiere, er solle sich keine Sorgen machen. Er fährt zu ihr hin, beobachtet sie heimlich dabei, wie sie sich fröhlich mit zwei anderen Männern unterhält. Dann steht er gedankenverloren vor dem Haus, in der sich Netties Wohnung befindet, die in der letzten Zeit auch seine war. Er wird von einem für ihn unentwirrbarem Gefühlschaos aus Kränkung, Wut, Eifersucht, Hilflosigkeit und Angst, Nettie zu verlieren, beherrscht sein. Das Verhalten von Nettie wird er als Verrat an ihrem Liebesgeständnis erleben und seine pessimistischen Befürchtungen bestätigt sehen. Das Hupen einer Autofahrerin, die in ihre Garage möchte, stört ihn auf. Kurz bevor das Rolltor sich wieder schließt, läuft er ihr nach. Die Frau gerät in Panik, fängt an, ihn zu beschimpfen. Das Pendel seiner Ambivalenz gegenüber Frauen
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Die Ambivalenz des Bösen – eine Einführung in die forensische Psychiatrie
schlägt nun wieder aus in Richtung Hass und Wut. Er schlägt die Frau bewusstlos und vergewaltigt sie. Als szenischen Ausdruck seiner Schuldgefühle wäscht er sich in der nächsten Szene in Netties Bad seinen Penis. Beklommen und still lässt er das Heimkommen der angetrunkenen Nettie über sich ergehen. Am Abend des nächsten Tages erklärt er der völlig verblüfften Nettie, dass er die Beziehung beende. Sie liebe ihn nicht und er liebe sie auch nicht, er hasse sie. Im Laufe des Streitgesprächs gesteht er ihr die drei Vergewaltigungen und deutet auch den gestrigen Rückfall an:
R »Ich wollte, dass es alles gut ist zwischen uns, dass es aufhört, aber es ist hier drin, immer und es hört nicht auf, das weiß ich jetzt.« Nettie kehrt mitten in der Nacht zu ihrem Vater zurück. Kurz darauf sieht man sie und ihren Vater miteinander tanzen. Auch wenn dies nicht die Psychopathologie Theo Störs illustriert soll hier kurz darauf eingegangen werden. Der zuvor still leidende, von Rückenschmerzen geplagte Vater wirbelt mit triumphierendem Lächeln und sichtlichem Genuss elegant seine Tochter umher, die ihm gerade zuvor erklärt hatte, »Scheiße« zu sein und nun wehrlos und vor Leid stöhnend in seinen Armen liegt. Die Szene ist eine so brillante Verdichtung und Verbildlichung un- und vorbewusster Aspekte dieser hochkonfliktuösen Dyade, dass sie nicht unerwähnt bleiben soll. Aber Nettie gibt doch nicht auf. Man sieht, wie sie eine Frau, Inhaberin einer Boutique, aufsucht und um ein Gespräch über Theo Stör bittet. Man ahnt, dass es sich um eine der von ihm vergewaltigten Frauen handelt. Die Frau wirft Nettie zunächst hinaus. Wenig später lässt sie sich dann doch auf ein Gespräch in einem Café in der Annahme ein, auch Nettie sei ein Vergewaltigungsopfer. Als sich dieser Irrtum aufklärt, entlädt sich aller Hass dieser Frau gegen Nettie. Sie folgt Nettie auf die Toilette und vergewaltigt sie mit einer Klobürste. Auch für diese Szene ist die fachkundige Zuschauerin dem Regisseur äußerst dankbar, zeigt sie doch wie nah Opfer- und Tätersein beieinanderliegt und dass das aggressive Moment ein Teil jeder menschlichen Natur ist. Nettie macht sich weiter auf die Suche nach Theo Stör und findet ihn schließlich in Berlin bei Sascha. Unbemerkt verfolgt sie ihn den ganzen Tag über, beobachtet, wie er auf einem Rummel einer jüngeren Frau nachgeht. Der Zuschauer erleidet mit ihr die Angst, ob dies sein nächstes Opfer sein könnte. Sie will das Wachpersonal zur Hilfe rufen, macht dann aber einen Rückzieher. Auch dies eine gute Illustration von allgegenwärtiger emotionaler Ambivalenz und dem schmalen Grad zur Schuld, auf dem wir uns befinden, wenn wir durch unser Handeln unweigerlich Entscheidungen treffen. Am nächsten Tag setzt Nettie ihre Verfolgung fort. Theo Stör hat sich in einem Hotel am Meer eingemietet. Sie schleicht sich auf sein Zimmer und entdeckt, dass er Vorbereitungen für einen Suizid getroffen hat. Nachts am Strand begegnen er und Nettie sich wieder. Nettie versucht ihn zur Herausgabe der Rasierklingen zu bewegen. Während sie an ihn gelehnt bitterlich weint, beginnt er sich die Pulsadern aufzuschneiden. Netties Weinen geht in eine Mischung aus Schreien, Keuchen und Wimmern über. Wortlos stirbt Theo Stör in ihren Armen. Im Nachspann sitzt Nettie unverändert da, während am Strand ein neuer Tag beginnt. Der tote Theo Stör liegt weiter in ihren ArmenWer ist der Täter?
Die Persönlichkeit im Längs- und Querschnitt, diagnostische Erörterungen, ein Ausflug ins Strafgesetzbuch So aussagekräftig der Film das innere Ringen Theo Störs bebildert so wenig erfahren wir über ihn und seine Biografie. Wer könnte uns darüber Auskunft geben? Die fachkundige Zuschauerin schließt aus dem Film, dass Theo Stör im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen ihn psychiatrisch begutachtet wurde. Lassen wir also diesen Gutachter, es könnte auch eine Gutachterin gewesen sein, zu Wort kommen. Dieser Gutachter wird, die Zustimmung von Herrn Stör vorausgesetzt, ihn ausführlich in mehreren Sitzungen exploriert und auch alle weiteren ihm zugänglichen Informationen über seine
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Person gesammelt haben. So könnten wir erfahren, dass Theo Stör als einziger Sohn eines alkoholkranken Steinmetzes und einer Hausfrau in einer Kleinstadt aufgewachsen sei. Die frühe Heirat der Eltern noch während der Lehrzeit des Vaters sei wohl durch die Schwangerschaft bedingt gewesen. Die Mutter stamme aus einer streng katholischen Familie. Der Vater sei als Sohn von Kriegsflüchtlingen nicht der Wunschschwiegersohn gewesen, habe sich aber hochgearbeitet. Zu Hause sei wenig geredet worden. Die Eltern hätten sehr zurückgezogen gelebt. Einzig der Vater habe jeden Freitag den Stammtisch besucht. Das sei aber nicht der einzige Abend in der Woche gewesen, an dem der Vater zu viel getrunken habe. Soweit Herr Stör sich erinnern könne, habe der Vater schon immer den Feierabend mit einem Schnaps eingeläutet. Mit den Jahren sei das Trinken immer mehr geworden. Betrunken sei der Vater unberechenbar gewesen. Mal habe es Schläge gegeben, mal habe Vater geweint. Im Flur habe ein Ledergurt gehangen, damit habe der Vater ihn dann oft schon wegen Kleinigkeiten verprügelt. Wenn Vater seinen »Moralischen« bekommen habe, habe er sich zu ihm aufs Sofa setzen müssen und Vater habe ihm von seinem Traum, zur See zu fahren, erzählt. Nüchtern sei er mürrisch und unnahbar gewesen. Auch die Mutter, ein Engel, der liebste Mensch der Welt, habe unter ihm leiden müssen. Meist freitags nach dem Stammtisch sei es losgegangen. Oftmals sei er nachts davon aufgewacht, wie der Vater die Mutter beschimpft und geschlagen habe. Mehrmals habe er heimlich beobachtet, wie der Vater der Mutter in einer solchen Situation die Kleider vom Leib gerissen und sie auf dem Küchentisch vergewaltigt habe. Mutter habe immer alles stillschweigend hingenommen. Ihr sei nie eine Klage über den Vater über die Lippen gekommen. Manchmal habe er sich schon gewünscht, dass Mutter ihn nach Vaters Prügelattacken mal getröstet hätte, aber sie habe sich meist schweigend in die Küche zurückgezogen. Wie ausgewechselt sei Mutter beim sonntäglichen Kirchgang gewesen. Schon auf dem Weg dorthin – der Vater sei nie mitgegangen – habe sie ihm viel über Pflanzen und Natur erzählt. In der Kirche während der Messe habe sie gelegentlich seine Hand gedrückt. Besonders nahe habe er sich der Mutter vierzehnjährig bei einem Orgelkonzert in der Kirche gefühlt. Das Ave Maria sei gespielt worden und Mutter habe ihn ganz zärtlich in den Arm genommen. Noch heute habe er den süßlich schweren Duft ihres Parfüms in Erinnerung, das sie immer vor dem Kirchgang benutzt habe. Er sei ein durchschnittlicher Schüler gewesen. Nach dem Realschulabschluss habe er sich ohne Wissen der Eltern in einer Druckerei, dem einzigen größeren Arbeitgeber am Ort, um eine Lehrstelle beworben. Vater habe gewollt, dass er bei ihm in die Lehre gehe. Als klar gewesen sei, dass er ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht habe, habe Vater wieder zum Gurt greifen wollen. Er habe sich aber das erste Mal gewehrt. Danach habe Vater ihn weitgehend in Ruhe gelassen, da er auch körperlich immer hinfälliger geworden sei. Gegen Ende seiner Lehrzeit, kurz vor seinem 18. Geburtstag sei Vater verstorben Vermutlich habe die Leber wegen des Trinkens nicht mehr mitgespielt. Wegen Vaters Tod sei er nicht, wie eigentlich geplant, gleich nach Ende der Lehrzeit von zu Hause ausgezogen. Das habe er Mutter nicht antun können. Es sei ja auch finanziell bei ihr alles sehr knapp gewesen und er sei von der Druckerei übernommen worden. Zwei Jahre später habe er wegen Insolvenz der Druckerei seine Arbeit verloren. Da er im Ort nichts anderes gefunden habe, sei er Lagerarbeiter geworden. Schließlich habe er sich dann doch noch einmal in der nächstgelegenen Großstadt bei einer Druckerei beworben. Am Morgen des Vorstellungsgesprächs habe Mutter ihren ersten Herzanfall erlitten. Der Hausarzt habe ihm gesagt, dass sich dies jederzeit wiederholen könne. Es sei klar gewesen, dass er unter den Umständen nicht wegziehen konnte. Die Arbeit im Lager habe er aber als immer schrecklicher empfunden. Als seine Chefin ihn eines Tages zum wiederholten Male kritisiert habe, habe er alle Paletten umgeworfen und sei einfach gegangen. Einen Tag darauf sei ihm gekündigt worden. Er sei dann länger arbeitslos gewesen. Schließlich habe er eine ABM-Stelle als Küchenhilfskraft in einem Schullandheim bekommen. Dies sei seine letzte Tätigkeit vor der Inhaftierung gewesen. Nach seinen Sozialkontakten befragt, könnte Herr Stör berichtet haben, immer Einzelgänger gewesen zu sein. In den Kindergarten sei er nicht gegangen. Seine Mutter habe dies nicht für nötig gehalten,
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da sie ja den ganzen Tag über zu Hause gewesen sei. In der Schule habe er nur schwer Kontakte knüpfen können. Wegen Vater habe er sich nicht getraut, andere Kinder mit nach Hause zu bringen. Für ein halbes Jahr sei er mal im Fußballverein gewesen. Als er beim Training auf seine blauen Flecke und Striemen angesprochen worden sei, sei er nicht mehr hingegangen. Nur von der 7. bis zur 10. Klasse sei er mit einem Jungen befreundet gewesen, der damals in ihre Klasse gekommen sei. Dessen Vater sei aber Berufssoldat gewesen, sodass die Familie dann wieder weggezogen sei. Der Freund habe ihn damals noch dabei unterstützt, sich auf eigene Faust eine Lehrstelle zu suchen. Zur sexuellen Entwicklung von Theo Stör könnte der Sachverständige ausführen, dass der Proband einerseits als heimlicher Zuschauer schon früh mit den sexuellen Übergriffen seines Vaters konfrontiert worden sei, andererseits Sexualität in der Familie ein Tabuthema gewesen sei. Mit 14 Jahren habe Herr Stör begonnen zu onanieren dabei habe er sich meist ältere Frauen vorgestellt, die ihn aufgefordert hätten, sie hart anzufassen. Achtzehnjährig sei er bei einem Diskothekenbesuch das erste Mal mit einem Mädchen näher ins Gespräch gekommen, das sich ihm regelrecht aufgedrängt habe. Bei ersten Intimitäten im nahegelegenen Park habe er eine vorzeitige Ejakulation bekommen. Das Mädchen sei daraufhin ins Lokal zurückgerannt. Herr Stör habe dazu die Vermutung geäußert, dass so wie er von den anderen angeguckt worden sei, sie wohl alles brühwarm ihren Freundinnen erzählt habe. Danach sei es mit dem Onanieren immer mehr geworden. Er habe angefangen, sich vorzustellen, die Frauen dabei zu schlagen. Damals sei er noch davon ausgegangen, irgendwann die Richtige zu treffen und eine Familie zu gründen. Er habe auch Ausschau gehalten nach Frauen, besonders blonde, zart und mädchenhaft wirkende Typen hätten es ihm angetan. Er habe sich aber nie getraut, von sich aus eine Frau anzusprechen. Später, da habe er schon im Lager gearbeitet, sei er regelmäßig am Wochenende in die benachbarte Großstadt gefahren und habe sich dort im Rotlichtviertel rumgetrieben. Meist sei er zum Abschluss in ein Pornokino gegangen. Die Filme dort hätten ihn aber immer weniger erregt. Erst zu Hause, wenn er sich seinen Fantasien hingegeben habe, die immer brutaler geworden seien, sei er zum Orgasmus gekommen. Als er sich das erste Mal vorgestellt habe, wie Blut geflossen sei, habe ihn dies besonders erregt. An realen Kontakten zu Frauen habe er gar kein Interesse mehr gehabt. Im Grunde habe er bis zu seiner Verhaftung nie einen einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit einer Frau gehabt. Seine Fantasien in die Tat umzusetzen,daran habe er nie gedacht. Zur ersten Vergewaltigung sei es eher zufällig gekommen. Er könne es sich eigentlich nicht erklären. Wenige Tage nach dem geplatzten Vorstellungsgespräch sei er wieder mal im Rotlichtviertel unterwegs gewesen. Eine ältere Prostituierte habe ihn als Gaffer beschimpft und fortgejagt. Im Bus auf der Rückfahrt nach Hause habe er neben einer Frau gesessen und ihr Telefonat belauscht. Es sei darum gegangen, dass sie nicht wie verabredet von der Haltestelle habe abgeholt werden können. Er habe eigentlich an gar nichts gedacht. Als die Frau ausgestiegen sei, sei er urplötzlich in der letzten Sekunde mit aus dem Bus gesprungen und sei ihr gefolgt. Wie fremdgesteuert sei er über sie hergefallen und habe gemerkt, wie ihn die Schreie und die Angst der Frau erregt hätten. Danach habe er sich geschworen, so etwas nie mehr wieder zu tun, obwohl das der tollste Orgasmus seines Lebens gewesen sei. Auch die zweite Tat sei nicht geplant gewesen. Damals habe er diesen nervigen Job für wenig Geld in dem Kinderheim gehabt. Am Morgen habe er einen Streit mit seiner Mutter gehabt. Sie habe ihn als Taugenichts beschimpft, da er vergessen hatte, ihre Herztabletten zu besorgen. Dann sei er noch so »ausgetillt«, da die blöden Jugendlichen ihn alle Drecksarbeit hätten allein machen lassen. Auf dem Heimweg sei ihm die Radfahrerin entgegen gekommen. Wie in Trance habe er gewendet. Zunächst sei er gar nicht so erregt gewesen, aber als er dann begonnen habe, sie zu beschimpfen und zu schlagen, sei es bei ihm »ab gegangen«. Die dritte Tat habe sich einen Tag danach ereignet. Nachdem er im Wald aufgespürt und verprügelt worden sei, sei ihm im letzten Moment die Flucht gelungen. Er sei die ganze Nacht durch zu Fuß bis in die Großstadt gelaufen. Dort habe er sich am Bahnhof rumgetrieben mit der Idee, einfach irgendwohin abzuhauen und neu anzufangen. Er habe sich aber nicht getraut, ohne Fahrkarte in einen Zug zu steigen. Schließlich sei er von einer Gruppe Alkoholikern zum Bier einge-
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laden worden. Eine der Frauen, die deutlich älter als er gewesen sei, habe ihm angeboten, dass er bei ihr übernachten könne. In der Wohnung hätten sie weiter gezecht. Die Frau habe dann angefangen zu stänkern, dass er ein Schlappschwanz sei usw. Er wisse nur noch, dass er immer wütender geworden sei. Irgendwann sei er wie aus einem Rausch aufgewacht und habe realisiert, dass er sie auf eine Herdplatte gesetzt und vergewaltigt habe. Er sei aus der Wohnung gestürmt und habe sich freiwillig bei der Polizei gestellt. Neben dem Längsschnittbild der lebensgeschichtlichen Entwicklung wird der Gutachter auch zum psychischen Befund, als Querschnittsaufnahme der Persönlichkeit von Herrn Stör, Stellung nehmen. Hier könnte er Herrn Stör als einen gehemmt und unbeholfen wirkenden Menschen beschrieben haben, ohne psychopathologische Auffälligkeiten des Bewusstseins, der Orientierung, Aufmerksamkeit, Konzentration und Mnestik. Herr Stör habe wenig spontan von sich aus gesprochen, sei aber bemüht gewesen, alle Fragen zu beantworten. Das Denken ohne gröbere formale und inhaltliche Auffälligkeiten sei dabei ganz am Faktischen orientiert gewesen. Es sei ihm sehr schwer gefallen, sein affektives Erleben differenziert wahrzunehmen und zu verbalisieren, auch habe er nahe Bezugspersonen nur holzschnittartig charakterisieren können. Zum Schluss wollen wir dem Gutachter auch noch die Aufgabe überlassen eine Diagnose gemäß ICD-10 zu stellen. Er musste dies sowieso im Rahmen seines Gutachtens tun und erlöst nun die Autorin aus dem Konflikt, zugunsten einer rein deskriptiven Diagnose, die in diesem Fall kaum über die Beschreibung beobachtbaren Verhaltens hinausgeht, also ein Symptom mit einer Krankheitsentität gleichsetzt, die für das Verständnis des Störungsbildes höchst relevante psychodynamische Betrachtungsweise außer Acht zu lassen. So mag der Sachverständige zu der Einschätzung kommen, dass Herr Stör an einer Störung der Sexualpräferenz leidet, die unter die ICD-10-Kategorie F65.5 Sadomasochismus fällt. Zutreffend ist hier, dass das sexuelle Erleben von Herrn Stör bereits ab der Pubertät an bestimmte Vorstellungen gebunden ist und er unabhängig von diesen Fantasien und Impulsen vor seiner Behandlung im Maßregelvollzug nie zu einer befriedigenden Sexualität in der Lage war. Selbst der der ICD-10 verpflichtete Gutachter wird aber einwenden, dass die Diagnose Sadomasochismus der Beschreibung der psychischen Störung von Herrn Stör kaum gerecht wird, da Herr Stör ausschließlich sadistische Neigungen hat, die Nomenklatur des ICD-10 hier aber keine weitere Spezifizierung vorsieht. Verlassen wir also an dieser Stelle den Gerichtssaal. Wobei der Genauigkeit halber noch einige Anmerkungen notwendig sind. Allein dadurch, dass ein Psychiater bei einem mutmaßlichen Straftäter eine psychiatrische Erkrankung diagnostiziert, wird niemand in Deutschland statt ins Gefängnis in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen. Hier erweckt auch der Film einen falschen Eindruck. Die Gesetze sehen hier ein genau einzuhaltendes, mehrstufiges Vorgehen vor. Dabei ist der Gutachter immer nur Berater des Gerichts. Letztendlich treffen die Richter die Entscheidung über die Anwendung einer Maßregel. Das mehrstufige Vorgehen sieht vor, dass, sollte der Sachverständige zur Diagnose einer psychischen Erkrankung kommen, die den Kriterien gängiger, aktuell angewandter Diagnosemanuale, also ICD-10 oder DSM-IV, entsprechen sollte, eine Schweregradabschätzung dieser Störung erfolgen muss. Denn der Krankheitsbegriff der Justiz, der nicht so schnellen Wandlungen unterworfen ist und auch nicht sein sollte, ist ein grundsätzlich anderer als der der Medizin, der sich am jeweils aktuellen Stand der Forschung orientiert. So kennt z.B. das Strafgesetzbuch (StGB) im Hinblick auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit (§§20 und 21 StGB) vier Eingangskriterien, wenn man so will Krankheitsentitäten: die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung, den Schwachsinn und die schwere andere seelische Abartigkeit. Schon die Begrifflichkeiten verdeutlichen die Unterschiede zum psychiatrischen Denken unserer Zeit. Für den Sachverständigen gilt es also, die von ihm diagnostizierte Störung unter eine der vier Eingangskriterien zu subsumieren, was gerade z.B. bei Persönlichkeitsstörungen oder der hier zu betrachtenden sexuellen Devianz immer auch eine Schweregradbeurteilung beinhaltet. In einer zweiten, der sog normativen Stufe muss er dann abschätzen, ob die von ihm gefundene Störung zum Zeitpunkt der Tat einen Einfluss auf die Einsichts- und/oder Steue-
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rungsfähigkeit des Probanden gehabt haben könnte. Nur wenn er dies mit Sicherheit bejahen kann, der Proband also zumindest erheblich in seiner Fähigkeit das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln beeinträchtigt war, kann eine Einweisung in ein Krankenhaus des Maßregelvollzugs nach §63 StGB erwogen werden. Aber auch hier gilt es dann erst einmal zu prüfen, ob, wie es im Gesetzestext heißt, die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass vom Täter infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb eine Gefährdung für die Allgemeinheit darstellt. Dem vielfach verbreiteten Vorurteil, dass ein psychisch kranker Straftäter es ja gut habe, da er »nur« ins Krankenhaus käme und ihm das Gefängnis erspart bliebe, sei entgegengesetzt, dass die Unterbringung nach §63 StGB per se erst einmal unbegrenzt ist, also in der Regel erheblich länger als eine Haftstrafe dauert, und der Verurteilte unter bestimmten Bedingungen zusätzlich noch eine Haftstrafe erhalten kann, die formal gesehen dann ebenfalls noch vollstreckt werden muss. Auch nimmt eine Klinik des Maßregelvollzugs aufgrund der notwendigen Sicherungsmaßnahmen immer eine Mittelstellung zwischen Krankenhaus und Gefängnis ein.
Kann man das Böse verstehen? Überlegungen zur Psychodynamik aggressiver Sexualdelikte Weitaus der kleinste Teil der Menschen mit einer Störung der Sexualpräferenz, was man gemeinhin auch als Perversion bezeichnet, begehen aufgrund dieser Störung Straftaten. Auch ist die Anzahl der Sexualdelikte entgegen der landläufigen Meinung in der Gesellschaft seit Jahrzehnten stabil. Was macht also einen solchen Menschen zu einem Täter? Was ist die innere Dynamik solcher Taten? Der Film beleuchtet eindrucksvoll, dass Theo Stör nicht einfach ein gefühlskaltes Monster ist, dem es nur um die Befriedigung seiner perversen Triebe geht. Seine von mir erfundene, aus meiner Erfahrung als Gutachterin gespeiste Biografie verdeutlicht, wie eng in manchen Fällen erlittene und begangene Traumata miteinander verwoben sind. Es geht hier bei Weitem nicht nur um krankhaft veränderte libidinöse Triebe. Auch mit Freuds Theorie zur Perversion als Fixierung auf kindliche Partialtriebe auf der Grundlage der schon beim Kleinkind zu beobachtenden polymorph-perversen Anlage der Sexualität kommen wir hier kaum weiter. Es geht auch nicht um unbewusste Konflikte auf neurotischer Ebene und deren Ausgestaltung in Form von Symptomatik, sondern – wie bereits in der Interpretation des Films angedeutet und in der Biografie dargelegt – um Entwicklungsdefizite des Ichs und den Versuch eines Menschen, damit sein Leben trotzdem zu bewältigen. Um mit Morgenthaler (1974) zu sprechen, geht es um Lücken in der Selbstentwicklung, die durch die Perversion wie mit einer Plombe verschlossen werden und so im Außenleben oberflächlich gesehen ein Funktionieren ermöglichen. Das, was Theo Stör umtreibt, sind seine Ich-strukturellen Störungen, allen voran seine Unfähigkeit, seine negativen Affekte zu differenzieren und angemessen zu regulieren. Es geht um Aggression, um frühe Enttäuschungswut an den Primärobjekten und deren Sexualisierung. Das, was als Kind teilweise traumatisch und angstvoll erlebt wurde, wird reinszeniert, nun aber unter dem Vorzeichen des Triumphs und einer zumindest zeitweisen Befriedigung. Die Wut, die Theo Stör bewusst in Bezug auf seine ihn nicht schützende und ihn in seiner Autonomieentwicklung behindernde Mutter nicht wahrnehmen kann, agiert er in der Perversion aus, hier ganz identifiziert mit dem sicherlich ebenfalls Ich-strukturell nicht allzu gut ausgestatteten Vater. Ihm fehlt eine sichere männliche Identifikation. Sein Frauenbild ist hochambivalent. Er mag Frauen und mag sie nicht, möchte Nähe zu ihnen und bekommt Panik, wenn sie tatsächlich entsteht.
Aber was lässt aus perversen Fantasien Straftaten werden? Es kommt zu einer Progredienz der Störung getriggert durch äußere und innere, nicht weiter ungewöhnliche Belastungsfaktoren bzw. Entwicklungsanforderungen, denen er aufgrund seiner Ich-strukturellen Defizite aber kaum gewachsen ist. Dies stellt der Film sehr gut dar und auch die fiktive Biografie
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sollte diese Zuspitzungen im Lebensverlauf illustrieren. So wird aus einer Spielart sexuellen Erlebens, als Reaktion auf eine ödipale Versuchungssituation mit der Mutter in der Pubertät, allmählich ein immer ausgefeilteres Ritual, das ihn zunächst noch in Bezug auf seine tabuisierte Aggression im Rahmen des Autonomiekonfliktes ausreichend entlastet. Es entsteht ein festes Konfliktlösungsmuster und in einem weiteren Schritt, um die äußere Stabilität weiterhin zu gewähren, eine stabile Fixierung, indem sexuelle Befriedigung nur noch so erlebt werden kann. So rückt der Beziehungsaspekt sexuellen Erlebens immer mehr in den Hintergrund. Als ein weiteres Belastungsmoment hinzukommt, die Erkrankung der Mutter gerade in dem Moment, als er erneut versucht, sich von ihr zu lösen, kommt es zum ersten Delikt, das wie alle weiteren völlig Ich-fremd erlebt wird. Offensichtlich gelingt es ihm nicht mehr, seine destruktiven Impulse allein über das Onanieritual zu bannen. Die Störung greift immer mehr auf sein Leben über. Es ereignen sich auch im Alltag aggressive Durchbrüche, damit geht sein Versagen auf der Leistungsebene einher. Ein Teufelskreis kommt in Gang. Handlungsspielraum und Kompensationsmöglichkeiten der Lebensbewältigung werden immer geringer. In immer schnellerer Abfolge ereignen sich die Taten. In manchen Fällen von Sexualdelinquenz kann dementsprechend eine Art süchtige Entwicklung beobachtet werden. Die Behandlung von Theo Stör im Maßregelvollzug stellt erst einmal eine Zäsur dar. Aber wieder in Freiheit ohne strukturierende Hilfs-Ich-Funktion der Klinik und der Therapeuten wird er bald wieder mit seinen Defiziten konfrontiert. Die jahrelange Therapie hat offensichtlich nicht zu einer ausreichenden Ich-strukturellen Nachreifung geführt. Statt noch einmal den Kampf aufzunehmen und sich erneut Hilfe zu suchen, wird er rückfällig und kapituliert schließlich vor seiner Ich-Schwäche und vor der Schuld, die er erneut auf sich geladen hat. Eine freie Willensentscheidung?
Literatur Dilling H et al (Hrsg) (1993) WHO, Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V. Huber, Bern Foerster K Dressing H (Hrsg) (2009) Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl Urban & Fischer, München Goldberg A (1998) Perversion aus der Sicht psychoanalytischer Selbstpsychologie Psyche 52: 709–730 Kernberg O (1997) Wut und Hass Über die Bedeutung von Aggression bei Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Perversionen Klett-Cotta, Stuttgart Morgenthaler F (1974) Die Stellung der Perversionen in Metapsychologie und Technik. Psyche 28: 1077–1098 Saß H (2005) Mindestanforderung für Schuldfähigkeitsgutachten Nervenarzt 76: 1154–1164 Sigusch V (Hrsg) (2007) Sexuelle Störungen und ihre Behandlung, 4. Aufl Thieme, Stuttgart
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Die Ambivalenz des Bösen – eine Einführung in die forensische Psychiatrie
Originaltitel
Der freie Wille
Erscheinungsjahr
2006
Land
Deutschland
Buch
Mathias Glasner, Jürgen Vogel, Judith Angerbauer
Regie
Mathias Glasner
Hauptdarsteller
Jürgen Vogel (Theo), Sabine Timoteo (Nettie)
Verfügbarkeit
Als DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Andreas Hill
Ich gehe in ihm umher wie in einem blauen Raum und etwas in mir geht weit auf Sadomasochismus (ICD-10: F65.5) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Zu den Begriffen: Sadismus und Masochismus. . . . . . . . . . . . . . . 377 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
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Filmplakat Verfolgt, Deutschland 2006 Quelle: MMM Film/Cinetext
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Verfolgt Jan Winkler (Kostja Ullmann) und Elsa Seifert (Maren Kroymann)
Die Handlung Auftakt Jugendliche spielen auf einem Gefängnishof Basketball. Der Hauptdarsteller, der 16jährige hübsche, dunkelhaarige, engelhafte Jan Winkler (Kostja Ullmann), lässt sich dabei von den anderen Jungen überwältigen, stürzt, die anderen werfen sich auf ihn und nehmen ihm den Ball ab. In der nächsten Szene streichelt Jan sich beim Duschen sanft über Bluterguss und Schürfwunden am Rücken. Der Zuschauer ahnt, dass er sich bewusst die Wunden hat zufügen lassen und dabei Lust empfindet. In der nächsten Sequenz holt die selbstbewusste 50jährige Bewährungshelferin Elsa Seifert (Maren Kroymann) Jan in der Hamburger Haftanstalt ab. Schon bei der ersten Begegnung beobachtet Jan sie zunächst aus der Ecke des Besuchszimmers, bevor sie ihn bemerkt. Jan wird aus der Jugendhaftanstalt entlassen. Die Bewährungshelferin gibt bestimmend den Ton an. Ihre Grundregel für die Resozialisierung – und Motiv der sich entwickelnden Beziehung:
R »Wenn Sie alles machen, was ich Ihnen sagen, passiert Ihnen nichts.« Als Jan bei der Fahrt in die betreute Jugend-WG auf ihre klaren Terminvorgaben nicht reagiert, bremst sie abrupt, damit er »aufwacht« – erste Anspielungen auf das Grundthema Dominanz, Macht und Unterwerfung (. Abb. 1). Heimlich folgt Jan der Bewährungshelferin im Kaufhaus, berührt zärtlich eine Bluse, die sie sich angeschaut hat. Es bleibt offen, ob er sie auch in der Umkleidekabine beobachtet. Er kreuzt ihren Weg auf einer Brücke; als sie aussteigt, klettert er auf das Brückengeländer und bringt sie dazu, ihm zu befehlen »Runter da, sofort!«. Folgsam steigt er herunter und antwortet sanft triumphierend:
R »Ich habe gemacht, was Sie von mir wollten.« Es wird klar: Jan beginnt Elsa so zu manipulieren, dass sie ihn dominiert, sich seiner bemächtigt. Sie findet die Bluse in ihrem Auto, konfrontiert ihn vor den WG-Mitbewohnern mit ihrem Verdacht, dass er sie verfolgt und die Bluse für sie geklaut hat. Erstmals kniet er vor ihr und berührt kurz die Bluse. Sie zwingt ihn dazu, diese im Kaufhaus zurückzugeben. Entgegen ihrem Verdacht hatte er sie aber bezahlt. Als er ihr auf ihrem privaten Anrufbeantworter beichtet, dass er Geld gestohlen hat, wird ihr klar: Er legt es darauf an, »eine Sonderbehandlung zu ergattern«. Sie erkennt seine sadomasochistischen Inszenierungen, erschrickt über ihre eigene Anziehung und verweist ihn ihres Büros
Hintergründe – zur Vorgeschichte der Protagonisten Von Jans lebensgeschichtlichen Hintergrund erfährt man wenig: Er hat einiges auf dem Kerbholz, Autodiebstahl und andere Eigentumsdelikte. Das Stehlen scheint ihm einen gewissen Kick zu geben, es ist für ihn aufregend. Es besteht kein Kontakt zu Eltern oder Geschwistern. Trotz seines attraktiven Äußeren ist er eher ein Einzelgänger und scheint daran gewöhnt, auf sich allein gestellt zu sein. Man ahnt die Sehnsucht nach Geborgenheit, Halt und Nähe. Elsa Seifert ist eine geschätzte, engagierte, erfahrene Bewährungshelferin, die eigentlich weiß, wie man mit schwierigen Jugendlichen umgeht. Mit ihrem
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Ich gehe in ihm umher wie in einem blauen Raum und etwas in mir geht weit auf
Ehemann Raimar (Markus Völlenklee), einem selbstständigen Automechaniker, wohnt sie in einem kleinen Eigenheim mit Kiefernholzküche und Garten. Man hat Freunde, ist offen, liberal, selbstständig und gleichberechtigt. Die Tochter Daniela ist gerade von zu Hause ausgezogen, ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Raimar hatte vor einigen Jahren eine sexuelle Affäre mit einer Frau, in die er aber nicht verliebt war.
Innerer Kampf Verschiedene Stufen einer Verfolgung werden dargestellt: E Jan fährt Elsa mit dem Moped hinterher – sie hängt ihn ab – er fährt ihr kurz darauf vors Auto. E Er wirft sich auf ihre Windschutzscheibe, als sie aussteigt, kniet er demütig vor ihr. E Er bringt sie dazu, ihre professionelle Distanz zu verlieren, ihn anzuherrschen. Sie versucht sich zu
befreien, auch von ihrer eigenen Faszination:
R »Lass mich in Ruhe, ich will das nicht.« Man sieht und spürt, wie Elsa schwankt zwischen Anziehung und Erschrecken. Sie vermittelt Jan einen Praktikumsplatz in der Autowerkstatt ihres Ehemanns Raimar, obwohl sie weiß und vorgibt, dass sie sich »den Jungen vom Halse halten« muss. Der Ehemann findet Jan sympathisch, nimmt ihn zu einem Abendessen zu dritt mit nach Hause. Beim gemeinsamen Kochen fällt Jan das Messer auf den Boden, vor Elsas Füße, als er es aufheben will, schubst sie es mit ihren Stiefeln weg und demütigt ihn vor ihrem Mann:
R »Der soll kochen? Das ist ja ein Witz, der lässt alles fallen!« Man merkt: Elsa beginnt, ihre Lust am Dominieren und Demütigen zu erkennen. Als sie bemerkt, wie Jan sie von draußen in ihrem Schlafzimmer beobachtet, schläft sie mit Raimar bei offener Balkontür, so dass Jan ihr dabei zusehen kann; hinterher schaut sie nach, ob er noch draußen steht, und ist halb erleichtert, halb traurig, als sie ihn nicht mehr sieht. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Versuch, ihre Vernunft und Professionalität zu bewahren, und der Faszination sich dem sadomasochistischen Spiel mit Jan hinzugeben, sie ist wie der Ehemann bemerkt »völlig durch den Wind«. Elsa bittet ihren Vorgesetzten um externe Supervision ohne den genauen Grund zu benennen, was aus Kostengründen abgelehnt wird.
Kapitulation und erstes (inneres) Eingeständnis Nach dieser Ablehnung der Hilfe kapituliert Elsa vor ihrem Begehren: Sie verabredet sich erstmals mit Jan in einem Schuppen an einer Bahnstrecke. Zuerst zögerlich, dann bestimmter gibt sie ihm Befehle (»Komm her! – Sprich mit mir!«) und schlägt ihn vorsichtig und fragend (»So?«) mit der Hand ins Gesicht. Er lässt sie zappeln: »Sie müssen doch wissen, was Sie wollen.« Sie tastet sich an ihre neue Rolle der Domina – gekleidet in Jeans und schwarzem Ledermantel (eine der wenigen Reminiszenzen an S/M-Klischees) – heran: Er soll sich ausziehen, sie streichelt sanft seinen Oberkörper. Er kniet sich vor ihr auf den Boden, küsst ihre Schuhe. Schnell versteht sie die Inszenierung und herrscht ihn an: »Hab ich dir das erlaubt?« Er bittet sie, ihn für seine Eigenmächtigkeit zu bestrafen, zu schlagen. Sie glaubt zunächst, das nicht zu können, streichelt ihn wieder sanft, zieht dann seine Unterhose herunter, schlägt ihn erst ganz vorsichtig auf den Po, dann langsam etwas fester, er stöhnt; sie reibt sich die Hand – und beendet die Szene.
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. Abb. 2 Elsa riskiert immer mehr … Jan mit Hundehalsband und Kette um den Hals – Szene mit Kostja Ullmann, Quelle: MMM Film/Cinetext
In einer weiteren erotischen Szene, wieder im Schuppen, ist Elsa schon sicherer in ihrer neuen Rolle, befiehlt Jan, sich auszuziehen, nicht seinen Schambereich zu verstecken, vor ihr auf und ab zu gehen, fasst ihm ans Glied – und herrscht ihn ratlos und fragend an: »Wo bist du? – Du versteckst dich da drin!« Als sie seine Hände auf dem Rücken mit einem Strick fesselt, ihn ankettet, das Licht löscht und ihn alleine im Schuppen zurücklässt, erschrickt Jan und weint – er verliert die Kontrolle über die S/MInszenierung. Draußen hört Elsa sein Schluchzen, geht zurück, nimmt Jan in den Arm und tröstet ihn Die Bildsprache erinnert an klassische Pietà-Darstellungen, was die transzendente Gefühlsbedeutung der Szene für die Protagonisten unterstreicht. Die sadomasochistische Inszenierung scheint für Jan, mehr als für Elsa der einzige Weg zu seinen Gefühlen, seiner Verletzlichkeit vorzudringen, der einzige Weg zu Intimität. Das zugrunde liegende Trauma lässt sich nur erahnen. Auch Jan ist ambivalent und verunsichert über diese ungewöhnliche Beziehung und seine sexuellen Wünsche. Er versucht sich von Elsa zu lösen. Mit einer etwa gleich alten WG-Mitbewohnerin landet er in seinem Bett, versucht mit ihr zu schlafen, aber es gelingt ihm nicht. Sein Begehren richtet sich auf anderes – er ist auf der Suche nach seiner sexuellen Identität: An der Wand über seinem Bett sind Klebestreifen mit philosophischen Slogans geklebt: »Nur wer die Form beherrscht darf mit ihr spielen« – »Jeder Mensch ist sein eigenes Land« – »Die Tragik und Schönheit des Lebens umfassen«. Das Verfolgen und Verfolgtwerden dreht sich langsam um: Jan bemerkt, wie Elsa vor der WG im Auto wartet. Die besondere Beziehung zwischen Jan und Elsa fällt auch anderen auf: Jans Mitbewohnern in der WG ebenso wie Elsas Ehemann. Elsa riskiert immer mehr und nimmt Jan mit in ihr Haus: In Hundestellung kniet er nackt auf dem Boden, ein Hundehalsband mit Kette um den Hals (. Abb.2). Sie trägt die von ihm geschenkte Bluse. Sie nimmt ihm das Halsband ab und hängt ihm statt dessen ein Handy um den Hals, mit dem er nur mit ihr telefonieren darf; sie zieht ihn mehrmals an sich heran, bis kurz vor den Mund, stoppt, zieht das Band fest zusammen, bis er nach Luft schnappt. Elsa drückt ihn zu
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Boden, öffnet ihre Bluse, erstmals ist sie (halb-)nackt – und der Kontrast zwischen ihrem alternden und seinem jugendlichen Körper noch offensichtlicher. Er küsst ihren Bauch und ihre bedeckte Scham. Als sie ihn mit dem Lineal immer fester auf den nackten, geröteten Po schlägt und er vor Schmerzen oder Lust bzw. beidem stöhnt, greift sie sich lustvoll in ihre Hose. Als er weint, nimmt sie ihn wieder tröstend in den Arm, auf ihre Frage »Wo bist du?« antwortet er nur kurz »In mir«. Unter einer Brücke schlägt Elsa den nackt auf dem Steinboden liegenden Jan mit einer Peitsche – man spürt ihre Lust, aber auch Wut und Erschrecken darüber, dass sie die Kontrolle verliert, sich dem Sog dieser erotischen Faszination nicht entziehen kann. Jetzt liegt sie in seinen Armen, er tröstet sie wie ein Kind: »Ist doch alles gut« – eine Umkehrung der früheren Pietà-Darstellung aus der ersten erotischen Szene. Sie dankt ihm, sie küssen sich das erste Mal, er umarmt sie. Die sadomasochistische Inszenierung ermöglicht beiden besondere Nähe und Intimität.
Krise und zweites (äußeres) Eingeständnis Die Atmosphäre in Elsas Familie wird immer angespannter. Elsa wird eifersüchtig, als ihr Mann – noch nicht wissend – die Tochter mit Jan verkuppeln will. Elsa wird zunehmend nervös, vergisst wichtige Termine. Als Raimar schließlich von ihrer Affäre mit Jan erfährt, offenbart sie ihm die Besonderheit dieser Beziehung:
R »Ich schlage ihn. Er will das und ich will das auch. Er weint. Ich gehe in ihm umher wie in einem blauen Raum und etwas in mir geht weit auf. – Ich habe so was noch nie erlebt, es ist wunderschön.« Die Ehekrise spitzt sich zu. Raimar vertreibt seinen Rivalen, als dieser auf seinem Geburtstag erscheint, der auch Jans Geburtstag ist. Noch in der gleichen Nacht klauen Jan und sein WG-Kumpel aus Raimars Autowerkstatt einen alten Citroën, den Jan und Raimar zuvor liebevoll zusammen repariert hatten. Sie fahren gemeinsam mit zwei Mädchen aus der WG in dem gestohlenen Citroën in den Hafen, feiern Jans Geburtstag, tanzen und trinken. Plötzlich ruft Elsa ihn auf seinem Handy an, will mit ihm seinen Geburtstag feiern. Sie verabreden sich, schon am Telefon formuliert Jan sein »Skript« für diese erotische Begegnung:
R »Du würdest mich festbinden, bis ich mich nicht bewegen kann, und du würdest mir weh tun.« Als Jan mit dem Auto losfahren will, hält sein Kumpel ihn fest, sie raufen miteinander, die Mädchen rufen ihm zu, er solle sich ausziehen. Aus dem Spiel wird bitterer Ernst: Der Kumpel – und dann auch das von Jan sexuell abgewiesene Mädchen – schlagen Jan, treten auf ihn ein und prügeln ihm schließlich mit einer Holzlatte ins Gesicht. Als Jan blutend auf dem Boden liegt und stöhnt, ist darin keine Lust zu erahnen. Aus seinem Kumpel bricht der Hass und die Verzweiflung über das für ihn Unverständliche heraus:
R »Du bist so krank! Ich muss kotzen!« Nachdem die beiden Peiniger mit dem Auto wegfahren, bleibt Jan verletzt, gedemütigt und einsam zurück. Am nächsten Morgen sucht er mit seinen Blessuren Hilfe bei Elsa, die ihn gemeinsam mit Raimar ins Krankenhaus bringt.
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Scheitern Wegen des Autodiebstahls kommt Jan in Haft. Elsas Vorgesetzter macht deutlich, dass ihre Arbeit zunehmend zu wünschen übrig lässt, droht ihr indirekt mit Kündigung. Trotz aller Warnungen holt Elsa Jan wieder aus dem Knast, sie gehen in ein Hotel, Jan träumt davon mit ihr nach Brasilien auszuwandern. Am nächsten Morgen liegen beide noch angezogen im Bett. Man weiß: es gab keinen Sex, keinen S/M, sondern »reine« Nähe, Geborgenheit, Schutz. Noch bevor sie aufwacht, verschwindet Jan, nachdem er heimlich Geld aus ihrem Portemonnaie genommen hat. Er kauft damit zwei Flugtickets nach Brasilien, sie lehnt diese jugendlich-illusionäre Flucht aus der Realität ab. Stattdessen will Elsa ihn in einer anderen WG unterbringen. Jan kommt wieder ihn Haft. – In der Schlussszene packt Elsa zu Hause einen Koffer, legt die von Jan geschenkte Bluse hinein. Als sie sich von ihrem Mann verabschieden will, holt er gerade eine selbst gebackene Pizza aus dem Ofen, sie bleibt.
Zu den Begriffen: Sadismus und Masochismus Die beiden Begriffe wurden von Krafft-Ebing, Autor der einflussreichen Psychopathia sexualis (1886), geprägt, und zwar jeweils unter Anspielung auf literarische Persönlichkeiten: Bei der einen handelt es sich um Donatien-Alphonse de Sade (1740–1814), französischer Aristokrat, Schriftsteller und Philosoph, der wegen nie ganz geklärter Delikte an Frauen, Beleidigungen der Autorität und seiner sadomasochistischen Romane 32 Jahre seines Lebens im Gefängnis und zuletzt in einer Irrenanstalt verbrachte. Bei der anderen um Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895), österreichischer Schriftsteller, Sozialist und Humanist, der für seine sadomasochistischen Romane (z.B. Venus im Pelz) bekannt und verfemt wurde. Krafft-Ebing beschrieb Sadismus als die Empfindung von sexuellen Lustgefühlen bis zum Orgasmus beim Sehen und Erfahren von Züchtigungen u.a. Grausamkeiten, verübt an einem Mitmenschen oder selbst an einem Tier, sowie der Drang, um der Hervorrufung solcher Gefühle willen anderen lebendigen Wesen Demütigung, Leid, ja selbst Schmerz und Wunden widerfahren zu lassen. (Krafft-Ebing 1912)
Beim Gegenstück, dem Masochismus, werde das Individuum in seinem geschlechtlichen Fühlen und Denken von der Vorstellung beherrscht …, dem Willen einer Person … vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser Person herrisch behandelt, gedemütigt und selbst misshandelt zu werden. (Krafft-Ebing 1912)
Wesentlich war für Krafft-Ebing die aktive oder passive Unterwerfung und Bemächtigung; die grausamen Handlungen und der Schmerz waren in seinen Augen nur das stärkste Mittel zum Ausdruck der Unterwerfung. Und er betonte, dass es fließende Übergänge gebe von »noch als atavistische Erscheinungen im Bereiche physiologischen Geschlechtslebens auffassbaren Kundgebungen [wie Beissen und Kratzen] bis zu den monströsesten Akten der Vernichtung des Lebens«. Vieles davon wird in Verfolgt anhand der Beziehung zwischen Elsa und Jan thematisiert.
Die sadomasochistische Beziehung von Elsa Seifert und Jan Winkler Bewusst werden die biografischen Hintergründe der beiden Protagonisten im Dunklen gelassen. Der komplett in Schwarz-Weiß gedrehte Film konzentriert sich sehr feinfühlig und differenziert auf die allmähliche Entwicklung der sadomasochistischen Beziehung. Die Verführung dazu geht zunächst von dem jüngeren, masochistischen Jan aus. Schon seine kriminelle Vorgeschichte und das Fehlen jeglicher Kontakte zu seiner Familie lassen ahnen, dass es ihm an Geborgenheit, Halt, Nähe, Zärtlichkeit – also elterlicher Liebe – gemangelt hat. Es beschleicht – nicht nur den psychologisch geschulten Zuschauer
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– das Gefühl, dass die bewusst gesuchten und inszenierten Schläge und Verletzungen körperliche wie seelische Versuche sind, früher erlittene Erniedrigung, Ohnmacht, aber auch Einsamkeit zu überwinden. Als suche er den Schmerz, um sich dann selbst zu trösten – oder von Elsa trösten zu lassen. Bei Jan scheint das masochistische Muster tief in die Persönlichkeit eingraviert. Elsa hingegen ist eine vordergründig starke Persönlichkeit, steht mitten und fest im Leben. Ihre Ehe wirkt glücklich und gleichberechtigt – wenngleich offenbleibt, ob die frühere sexuelle Affäre ihres Ehemanns Raimar für sie bedeutsamer und verletzender war, als er das wahrhaben will. Mit Anfang 50 und dem Auszug der Tochter öffnet sie sich für neue, in ihr schlummernde Wünsche. Während Jans Begehren ihm bewusst zu sein scheint und er am Anfang die Regie führt, wird Elsa in dieses ungewohnte sexuelle Begehren und Lieben allmählich hineingezogen, sie entdeckt zuerst erschrocken und widerwillig ihre Faszination für Dominanz und Unterwerfung, ihre sadistische Seite. Diese Rolle ist ihr einerseits fremd, weil sie als liberale, sozial engagierte Bewährungshelferin ihren Schutzbefohlenen eigentlich gegenseitigen Respekt und die Regeln eines demokratischen Rechtsstaates beibringen will. Andererseits ist gerade ihre berufliche Position ein zentraler Baustein der Beziehung: Sie ist 34 Jahre älter als Jan, er befindet sich psychologisch, faktisch und rechtlich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihr. Trotz dieses eindeutigen Machtgefälles ist es zunächst Jan, der die Beziehung hartnäckig vorantreibt und Elsa verfolgt. Es ist sein Weg, mit der Macht fertig zu werden, von der er ständig fürchten musste zerstört zu werden. Sehr genau und subtil zeigt der Film besonders am Anfang, wie groß die Macht des vordergründig sich Unterwerfenden ist. Elsa kämpft – aus Vernunfts- und Herzensgründen – zunächst gegen dieses sadomasochistische Begehren an, ergibt sich aber schließlich dessen Sog. Die Beziehung ist dramaturgisch wie ein sich zuspitzender Tanz inszeniert – eine Rezensentin verglich den Film mit einem Bolero (Interview mit Angelina Maccarone 2006)). Je mehr der Tanz fortschreitet, umso mehr übernimmt Elsa die Führung, Jan wird zu ihrem Liebes- und Sexualobjekt. Jenseits von einfachen Klischees wird die besondere emotionale Nähe dieser Beziehung spürbar. Es geht weniger – zumindest nicht zentral - um sexuelle Lust, sondern um eine besondere, exklusive Nähe, die Vertrauen erfordert, damit beide sich ausliefern und hingeben können, in der dominanten wie der submissiven Rolle. Die Ausübung von Gewalt und Macht ist gefolgt von zärtlichem Trost und Fürsorge. Elsa versteht dies allmählich: Während sie in den ersten erotischen Begegnungen Jan flehend fragt »wo bist du?«, drückt sie es später gegenüber ihrem Ehemann wie eine mystisch-religiöse Erfahrung aus, sie gehe in Jan »umher wie in einem blauen Raum und etwas in mir geht weit auf.« Diese transzendenten Darstellungen und Metaphern wirken u.a. deshalb authentisch und nicht kitschig, weil der Film – schon durch die Schwarz-Weiß-Bilder – die Geschichte in nüchterner und alltäglicher Umgebung entwickeln lässt. Schwarz-Weiß ist aber gleichzeitig auch mit Tod und Trauer assoziiert – Farbe hingegen mit Leben. Der Film zeigt auch, dass der Sadomasochismus im doppelten Sinn ein komplementäres Phänomen ist: Zum einen ist es sehr auf ein Gegenüber, den anderen angewiesen, der Masochist genau so wie der Sadist Zum andern sind zumindest bei den hier gezeigten Phänomenen des Sadomasochismus die Rollen nicht so eindeutig verteilt: Der masochistische Jan verfolgt und dirigiert am Anfang die sadistische Elsa, die sich ihm ausgeliefert und von ihm gedemütigt fühlt. Die Rollen sind ambivalent und wechselnd. Über das Thema des Sadomasochismus hinaus konfrontiert der Film den Zuschauer mit vielen Fragen zu den Motiven dieser Liebesbeziehung und liefert bewusst keine klaren, einfachen Antworten: Was suchen die beiden? Die Mutter? Den Sohn? Den jugendlichen Lover? Die sexuell erfahrene Frau? Selbstverlust? Verschmelzung? Trost? Ausbruch aus dem bürgerlichen Einerlei?
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Zur Genese des Sadomasochismus Sadomasochistische Phänomene sind ua. deshalb so faszinierend – und haben einige Filme inspiriert –, weil zunächst so schwer zu verstehen ist, wie Reize, die eigentlich negative Gefühle wie Schmerz oder Angst auslösen und daher in der Regel vermieden werden, positive Gefühle (sexuelle Lust, Liebe) hervorrufen können. Für Krafft-Ebing waren Sadismus wie Masochismus als übertriebene Ausprägungen einer männlichen und weiblichen Einstellung zum Liebesobjekt (Bemächtigung und Auslieferung) hauptsächlich konstitutionell bedingt. Dieser Auffassung folgte die Psychoanalyse nur teilweise und sprach zunächst von einer Fixierung auf frühkindliche Partialtriebe (sadistische Bemächtigung des Objekts und masochistische Auslieferung) bei Frustration frühkindlicher Bedürfnisse oder extremer Verwöhnung (Freud 1905). Später beschäftigte sich Freud intensiv mit der Destruktivität des Menschen und führte sie auf einen eigenständigen Trieb zurück. Bei der Triebentmischung gelingt es der Libido nicht mehr das aggressive Potenzial zu binden, sodass in der Einstellung zum Objekt das zerstörerische Element mehr und mehr (bis zur Tötung) überwiegt (Freud 1923). Es ist der Verdienst Stollers (1978) plausibel dargelegt zu haben, dass die sadomasochistischen Fantasien und Inszenierungen (wie auch andere »Perversionen« gemäß psychoanalytischer Terminologie) dazu dienen, traumatische Kindheitserfahrungen – Schmerz, Demütigung, Ohnmacht – in einen lustvollen Triumph umzukehren um damit die Kontrolle über den Zustand des Ausgeliefert-Seins zurückzuerlangen. Bei Jan ahnt man, dass dies eine Wurzel seiner masochistischen Wünsche ist. Empirische Befunde stützen diese Hypothese: Sadomasochisten berichteten häufiger über emotionalen, körperlichen und sexuellen Missbrauch als Nichtsadomasochisten (Daschek u. Konrad o.J.). Empirische Befunde deuten darauf hin, dass bei Sadomasochisten – und zwar in der Subkultur, nicht im klinischen Kontext – im Vergleich zu Kontrollprobanden sehr viel seltener ein sicherer Bindungsstil vorliegt (Rathbone 2001). Die ritualisierten S/M-Inszenierungen können bei eingeschränkter Bindungsfähigkeit die Herstellung verlässlicher Beziehungen, das Eingehen von Intimität überhaupt erst ermöglichen. Auch dies wird bei Jan deutlich: Er wirkt eher einzelgängerisch, isoliert, nur in der ritualisierten und von ihm eingeleiteten sadomasochistischen Inszenierung kann er sich auf die Nähe zu einer anderen Person einlassen. Kognitiv-behaviorale Theorien gehen davon aus, dass in der Genese des Sadomasochismus positive Verstärkung z.B. das Lustgefühl, der Kick (den Jan im übrigen auch für das Stehlen beschreibt), möglicherweise durch die damit einher gehende Opioid- und Dopamin-Ausschüttung im Gehirn wie auch negative Verstärkung, z.B. durch das Nachlassen des Schmerzes und die Erfahrung, dass der Schmerz nicht so stark ist wie erwartet, mitwirken (Hoyer 2008). Dass Angst sexuelle Lust und Erregung steigern kann, ist experimentell gut belegt (Barlow et al. 1983). Auch für Nichtsadomasochisten gilt etwas, das wahrscheinlich den besonderen Reiz sadomasochistischer Sexualität ausmacht: Zeigt man »normalen« Versuchspersonen einen pornografischen Film mit erzwungenem Sex, erleben diejenigen die stärkste sexuelle Erregung, die gleichzeitig starke positive und starke negative Gefühle dabei haben (Peterson u. Janssen 2007). D.h. die Ambivalenz der Gefühle gibt einen besonderen Kick – und trägt zu Elsas Faszination für ihre Begegnungen mit Jan bei.
Fließende Übergänge – Variation oder Störung Wie schon Krafft-Ebing und Freud hervorheben, sind sadomasochistische Phänomene nicht per se pathologisch, sondern zumindest in Spuren Teil und Triebfeder jeder sexuellen Beziehung. Für die masochistischen bzw. sadistischen Wünsche und Verhaltensweisen von Jan und Elsa bzw. für ihre Beziehung ist also zu prüfen, ob es sich dabei eigentlich um psychische Störungen handelt – oder um Variationen des sexuellen Begehrens. Dazu ist es hilfreich zu wissen, wie häufig eigentlich solche Wünsche und Verhaltensweisen sind. In den berühmten Kinsey-Reports aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gaben 10% der Männer und 3% der Frauen an, sicher bzw. häufig durch sadomasochistische Erzählungen erregt zu werden und weitere 12% bzw. 9% räumten eine gewisse sexuelle Reaktion auf solche Erzählungen ein
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(Kinsey 1953). Laut einer Befragung aus den 1970er Jahren (Hunt 1974) waren wiederum sadistische Masturbationsfantasien häufiger bei Männern als bei Frauen: 18% der Männer und 3% der Frauen berichteten von Fantasien, jemanden zum Sex zu zwingen, 7% der Männer und 3% der Frauen von Fantasien, jemanden Schmerzen zuzufügen. Hingegen waren masochistische Masturbationsfantasien häufiger bei Frauen als bei Männern: Zum Sex gezwungen zu werden fantasierten 14% der Männer und 24% der Frauen, und Schmerzen zugefügt zu bekommen, war Inhalt von Masturbationsfantasien bei 4% der Männer und 6% der Frauen. Insofern sind die sadistische Elsa und der masochistische Jan ein untypisches Paar. In einem großen deutschsprachigen Internetkontaktportal vorwiegend für schwule Männer (»gayromeo«) gaben 8% der insgesamt knapp 226.000 Nutzer an, sich für S/M ohne Einschränkungen (d.h. Hardcore S/M) zu interessieren und weitere 24% für sog. SoftS/M (Hill 2008). Wenn es um reale S/M-Praktiken geht, ist von niedrigeren Zahlen auszugehen: In einer neueren repräsentativen Bevölkerungsstudie in Australien gaben 2,2% der Männer und 1,3% der Frauen an, im letzten Jahr »BDSM«Praktiken ausgeübt zu haben (Richters et al. 2008). BDSM ist ein komplexes Kürzel, das verschiedene Begriffe beinhaltet: Bondage, d.h. Fesselungen, und Disziplin, Domination und Submission, Sadismus und Masochismus. Diese Zahlen zeigen, dass es sich beim Sadomasochismus keineswegs um ein Phänomen einer extrem kleinen Minderheit handelt, sondern um durchaus verbreitete Vorstellungen (für einen Überblick der empirischen Studien vgl. Passig 2008). Schon diese epidemiologischen Zahlen mahnen zur Vorsicht vor einer voreiligen und unkritischen Pathologisierung. In der ICD-10 ist der Sadomasochismus eine der Störungen der Sexualpräferenz (F65). Als diagnostische Kriterien (Dilling et al. 2004) werden dafür gefordert: E A. Wiederholte – über mindestens sechs Monate - auftretende intensive sexuelle Impulse und Fantasien, durch die sich der betreffende deutlich beeinträchtigt fühlt oder nach denen er handelt (allgemeine Kriterien der Störung der Sexualpräferenz). E B. Präferenz für sexuelle Aktivitäten entweder als passive (Masochismus) oder als aktive Person (Sadismus) oder beides, bei denen mindestens eines der folgenden Charakteristika vorliegt: 1. Schmerzen, 2. Erniedrigung, 3. Unterwerfung. E C. Die sadomasochistische Aktivität ist die wichtigste Quelle sexueller Erregung oder notwendig für sexuelle Befriedigung. Eindeutiger und besser operationalisiert sind die diagnostischen Merkmale im amerikanischen Klassifikationssystem (DSM-IV TR, Saß et al. 2002), das klar zwischen Sadismus und Masochismus unterscheidet und folgende Kriterien umfasst: E A. Über mindestens sechs Monate wiederkehrende, intensive, sexuell erregende Fantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen bezüglich realen, nicht simulierten Handlungen, in denen beim Sadismus das psychische oder physische Leiden, inkl. Demütigung des Opfers sexuell erregend ist, bzw. beim Masochismus das Gedemütigt-, Geschlagen- oder Gefesselt-Werden oder sonstiges Leiden. E B. Aus dieser sexuellen Präferenz resultieren ein klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Für die Diagnose des Sadismus genügt es, wenn der Betreffende das sexuelle Bedürfnis auch nur einmalig mit einer nicht einwilligenden Person ausgelebt hat. Beide Klassifikationssysteme – das DSM-IV eindeutiger als die ICD-10 – fordern somit, dass das subjektive Leiden oder die Selbst- bzw. Fremdschädigung ein zentrales Kriterium ist, um zwischen sexueller Variation bzw. Vorliebe und einer klinischen Störung zu unterscheiden (Berner et al. 2007).
381 Verfolgt – Jan Winkler (Kostja Ullmann) und Elsa Seifert (Maren Kroymann)
Was bedeutet das für Jan und Elsa? Der Film erlaubt nicht, das Zeitkriterium (mindestens sechs Monate) zu beurteilen, weil er nur einen recht kurzen Zeitraum von wenigen Wochen erzählt. Bei Jan ist allerdings zu vermuten, dass er seine masochistischen Wünsche schon etwas länger entdeckt hat, zumindest suggeriert das die Szene im Gefängnishof und unter der Dusche. In der Tat manifestieren sich häufig schon in der Pubertät – und auch davor – solche sexuellen Präferenzen. Elsa scheint hingegen eher in einer Art MidlifeCrisis und entdeckt durch Jans Verführung ihre sexuell sadistischen Wünsche; offen bleibt auch, ob auch ihr heftiges Begehren die kurze Affäre mit Jan überdauern wird. Für beide ist eindeutig: Jans wiederkehrende, intensive sexuelle Bedürfnisse und sein Verhalten sind auf reale Demütigungen, Geschlagen- und Gefesselt-Werden gerichtet; Elsas hingegen darauf, diese Jan zuzufügen. Schwieriger wird es bei der Beurteilung klinisch bedeutsamen Leidens und psychosozialer Beeinträchtigungen. Sicher ist, beide handeln mit dem offensichtlichen Einverständnis des anderen, auch wenn in der Szene, in der Elsa den schluchzenden Jan gefesselt in dem dunklen Raum zurücklässt, zunächst in der Schwebe bleibt, ob dies noch mit seinem Einverständnis geschieht. Durch die Rückkehr und das Trösten wird diese Spannung aber wieder aufgehoben. Jan scheint unter seinem masochistischen Begehren subjektiv nicht zu leiden, es wirkt auch nicht zwanghaft und exzessiv in der Häufigkeit dieses Begehrens, eher fühlt er sich intensiv von einer deutlich älteren Frau angezogen. Aber: Schon in der ersten Szene auf dem Gefängnishof und sehr viel eindeutiger und massiver gegen Ende in der Szene am Hafen zieht sich Jan erhebliche körperliche – und seelische – Schädigungen zu, indem er von anderen z.T. massiv geschlagen, verletzt und gedemütigt wird. Während bei der ersten Szene Jan dies bewusst sucht, wirkt das Geschehen am Hafen hingegen mehr wie eine unbewusste extreme Inszenierung seines Masochismus. Außerdem stehen der Autodiebstahl wie auch der Diebstahl von Elsas Geld für die Flugtickets nach Brasilien in engem Kontext mit seiner Liebe zu Elsa, er riskiert dafür seine Strafaussetzung zur Bewährung. Auch die Akzeptanz in seiner Peergroup setzt er aufs Spiel. Die masochistische Sexualität ist für ihn die wichtigste und wohl auch notwendige Quelle sexueller Erregung, ein Versuch, mit der Mitbewohnerin »normal« zu koitieren, scheitert (ICD-10 Kriterium C), wenngleich man dies auch einfach darauf zurückführen könnte, dass er eben in Elsa und nicht die Mitbewohnerin verliebt ist. Ohne die Gefahr einer vereinfachenden und voreiligen Pathologisierung einer Filmfigur zu unterschätzen, ist man geneigt, bei Jan doch von einem sexuellen Masochismus im Sinne einer klinisch relevanten psychischen Störung zu sprechen, die auch therapeutischer Hilfe bedarf, wenn diese auch nur dazu dienen könnte, dass er seine sexuelle Präferenz nicht mehr selbst- oder fremdschädigend ausübt. Bei Elsa ist die Sache noch komplizierter: Sie schädigt sich nicht körperlich und respektiert auch jeweils die Grenzen der körperlichen und psychischen Integrität Jans. Wenn Jan nicht ein minderjähriger und auf Bewährung entlassener, von ihr betreuter Strafgefangener wäre und damit in einem eindeutigen Abhängigkeitsverhältnis zu ihr stünde, würde es sich um eine schwierige, gesellschaftlich nicht sehr angesehene sexuelle und Liebesbeziehung handeln. Ein spätes »S/M-Coming-out« und eine außereheliche Affäre mit großer Altersdifferenz ist noch keine psychische Störung. Allerdings ist der berufliche Kontext – und das obsessive Handeln entgegen ihrer Vernunft (der Filmuntertitel auf dem DVD-Cover lautet »eine obsessive sexuelle Begegnung«) – nicht zu vernachlässigen: Elsa leidet unter dieser schwierigen Konstellation, verliert ihre professionelle Distanz, wird nervös, z.T. niedergeschlagen und ratlos, kann sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren, begeht Fehler (vergisst einen wichtigen Termin eines anderen Klienten), sucht selbst Hilfe (Supervision) bei ihrem Chef. Sie riskiert ihre ansonsten glückliche Beziehung zu ihrem Ehemann, ihre Arbeit, zumindest ein Disziplinarverfahren und evtl. sogar ein Strafverfahren (ohne dass dies im Film thematisiert würde), da sie sich möglicherweise des sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen bzw. eines Abhängigen schuldig macht (StGB §182: Sexueller Missbrauch von Jugendlichen; §174a: Sexueller Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen; §174b: Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung
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Ich gehe in ihm umher wie in einem blauen Raum und etwas in mir geht weit auf
einer Amtsstellung). Man könnte also streng genommen auch bei Elsa das diagnostische Kriterium des subjektiven Leidens und vor allem der klinisch bedeutsamen psychosozialen Beeinträchtigungen und somit die Diagnose eines sexuellen Sadismus als erfüllt ansehen. Der Film zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass er sich dieser einfachen diagnostischen Einordnung verweigert und den Zuschauer hineinzieht in eine sehr intensive, auch romantische, wenngleich scheiternde sexuelle und Liebesbeziehung, eine Coming-out-Geschichte, eine Erzählung über emotionale Abhängigkeiten und Grenzüberschreitungen – also universeller Charakteristika von Sexualität und Liebe. Verfolgt liegt gerade jenseits klischeehafter filmischer Darstellungen bizarrer S/M- oder Fetisch-Klub-Szenerien oder forensisch relevanter sadistischer Sexualmörder, von denen sich der Zuschauer leicht distanzieren kann. Diese Subtilität und Empathie für seine Figuren mag dazu beigetragen haben, dass dieser Film 2006 mit einem »Goldenen Leoparden« beim Filmfest in Locarno ausgezeichnet wurde. Die besondere Konstellation masochistischer Straftäter/sadistische Bewährungshelferin ist ein Hinweis auf einen weiteren Grund, warum Sadomasochismus – im übrigen vermutlich erst im Zuge der Aufklärung – ein so faszinierendes und brisantes Sujet der Wissenschaft und der Kunst geworden ist: Im S/M werden die Grundmaxime der modernen, demokratischen, auf den Errungenschaften der französischen Revolution fußenden Gesellschaften – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – ausgehoben. S/M stellt somit einen Tabubruch – und daher wohl auch einen besonderen Kick in einer freien demokratischen Kultur dar. Der Film weist zudem darauf hin, dass es soziale Situationen gibt, die sehr leicht ein sadomasochistisches Erleben das Teil einer jeden Sexualität ist entfesseln können. Dazu gehört die totale Abhängigkeit des einen und Macht des anderen in bestimmten Institutionen, wie es etwa das Gefängnis darstellt.
Literatur Barlow DH, Sakheim DK, Beck JG (1983) Anxiey increases sexual arousal. J Abnorm Psychol 92: 49–54 Berner W, Hill A, Briken P, Kraus C, Lietz K (Hrsg) (2007) Behandlungsleitlinie Störungen der Sexualpräferenz. Steinkopff, Darmstadt Daschek E, Konrad A (o.J.) Empirische Untersuchung über den Zusammenhang zwischen ausgewählten Faktoren und inklinierendem sexuellem Sadomasochismus. Diplomarbeit am Fachbereich Psychologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dilling H, Mombour W, Schmidt MH, Schulte-Markwort E (2004) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Huber, Bern Freud S (1905) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Studienausgabe Bd. 5. Fischer, Frankfurt am Main, 1982 Freud S (1923) Das Ich und das Es. Gesammelte Werke Bd. 13. Fischer, Frankfurt am Main, S. 234–289 Hill A (2008) Sind Sadomasochisten anders? Eine quantitative Untersuchung in einem schwulen Internet-Kontaktportal. In: Hill A, Briken P, Berner W (Hrsg) Lust-voller Schmerz. Sadomasochistische Perspektiven. Psychosozial, Gießen, S 103–111 Hill A, Briken P, Berner W (Hrsg) (2008) Lust-voller Schmerz. Sadomasochistische Perspektiven. Psychosozial, Gießen Hoyer J (2008) Sadomasochismus – Kognitiv-verhaltenstherapeutische Perspektiven. In: Hill A, Briken P, Berner W (Hrsg) Lustvoller Schmerz. Sadomasochistische Perspektiven. Psychosozial, Gießen, S 175–192 Hunt M (1974) Sexual Behavior in the 1970s. Playboy Press, Chicago Interview mit mit Angelina Maccarone Locarno (2006). http://www.mmmfilm.de/verfolgt.Gesehen Mär 2010 Kinsey AC (1953) Sexual Behavior in the Human Female. Saunders, Philadelphia Krafft-Ebing R (1886) Psychopathia sexualis. Ferdinand Enke, Stuttgart, 1912 Passig K (2008) Sadomasochismus in Zahlen: Ein Überblick über die empirische Forschungslage. In: Hill A, Briken P, Berner W (Hrsg) Lust-voller Schmerz. Sadomasochistische Perspektiven. Psychosozial, Gießen, S 81–102 Peterson ZD, Janssen E (2007) Ambivalent affect and sexual response: the impact of co-occurring positive and negative emotions on subjective and physiological sexual responses to erotic stimuli. Arch Sex Behav 36: S 793–807 Rathbone J (2001) Anatomy of masochism. Kluver Academic/Plenum, New York Richters J, de Visser R, Rissel C, Grulich A, Smith A (2008) Demographic and Psychosocial Features of Participants in Bondage and Discipline, »Sadomasochism« or Dominance and Submission (BDSM): Data from a National Survey. J Sex Med 5: 1660–1668 Saß H, Wittchen HU, Zaudig M (2002) Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR. Hogrefe, Göttingen Stoller R (1978) Perversion. Die erotische Form von Hass. Psychosozia, Gießen
383 Verfolgt – Jan Winkler (Kostja Ullmann) und Elsa Seifert (Maren Kroymann)
Originaltitel
Verfolgt
Erscheinungsjahr
2006
Land
Deutschland
Buch
Susanne Billig
Regie
Angelina Maccarone
Hauptdarsteller
Maren Kroymann (Elsa Seifert), Kostja Ullmann (Jan Winkler), Markus Völlenklee (Raimar)
Verfügbarkeit
DVD in deutscher Sprache erhältlich
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Mathias Hirsch
Aber ich musste es tun… Sadomasochismus (ICD-10: F 65.5) Die Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Der Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Zur Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Die Filmwirkung – Identifikationen des Zuschauers . . . . . . . . . . 392 Zur Psychodynamik des Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Schlussbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
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Peeping Tom Mark Lewis (Karlheinz Böhm)
Die Handlung Am Anfang des Films erscheint ein starr blickendes Auge, das die ganze Leinwand füllt, gleich darauf sieht der Zuschauer durch den Sucher einer Kamera, mit der eine Prostituierte gefilmt wird. Der Amateurfilmer, Mark Lewis, geht mit dem Mädchen nach oben, sie zieht sich aus, er filmt sie (. Abb.1), ihre Augen weiten sich, Augen der Angst, nicht hörbare Schreie der Angst, sie wird ermordet. Mark Lewis fotografiert Models – es ist ein neues Mädchen da, auch sie wird auf dieselbe Weise sein Opfer. Mark Lewis kommt spät nach Hause, er wohnt in seinem Elternhaus, dessen untere Etage er vermietet hat. Helen, die Tochter der Mieterin, hat Geburtstag, sie feiert eine Party. Mark sieht von außen durchs Fenster wie ein armes, frierendes Kind sehnsuchtsvoll auf eine Familie mit glücklichen, lebendigen Kindern blicken mag. Helen lädt ihn ein, an der Party teilzunehmen, er lehnt ab, er habe noch zu tun. Später besucht sie ihn in seiner Wohnung: »Mein Vater hat hier früher gearbeitet«, ein weltberühmter Verhaltensbiologe, seine Lehrbücher sieht man im Regal im Hintergrund. Helen will seinen Film sehen, er zeigt ihr aber einen Film, den der Vater gedreht hat. Der Film zeigt Mark als Kind, mit angstverzerrtem Gesicht, schreiend (obwohl man keinen Ton hört, wie in der Eingangsszene). Dann gibt es eine voyeuristische Sequenz, in der das Kind ein Liebespaar beobachtet, schließlich noch einmal eine Angstszene, das Kind hat entsetzliche Angst, weil sich eine große Echse auf seiner Bettdecke auf sein Gesicht zubewegt. Mark will Helen filmen, während sie sich diese Angstszene ansieht. Dann eine weitere Filmszene von damals: Der Vater schenkt dem Kind eine Filmkamera, bevor er mit einer jungen Frau wegfährt – Marks Mutter war gestorben. Der Vater studierte »das Verhalten des heranwachsenden Kindes«, sein Hauptwerk: »Fear and the Nervous System.« Mark arbeitet in einem Filmstudio als Assistent. Nach Feierabend will er perfekte Aufnahmen von Vivian machen, einer Schauspielerin. Eine riesige Falltür schließt das Atelier zu, ein großes Schild »Safety first« gerät ins Blickfeld. Die Schauspielerin will unbedingt gefilmt werden – ihr Exhibitionismus triff auf den Voyeurismus Marks. Es entsteht ein kleines Spiel, Vivian filmt Mark, was ihn ärgerlich macht, Vivian scherzhaft:
R »Ich filme dich, während du mich filmst.« Er filmt sie, wieder sieht der Zuschauer durch den Sucher seiner Kamera, er nähert sich ihrem erst verwirrten, dann angstverzerrten Gesicht, er ermordet sie. Wieder die zur schwarzen Welt des Triebverbrechens alternative helle Welt Helens: Sie fragt die Mutter, die blind ist und gerade deshalb hochsensibel ihre Mitmenschen einschätzen kann, ob sie etwas gegen Mark habe? – Er sei ein Leisetreter, die Mutter mag ihn nicht. Helen schreibt ein Buch über »Die Zauberkamera«, ein Kinderbuch, sie will Fotos darin haben, Mark will die Fotos für sie machen. Eine Zeituhr gibt ein Signal, Mark muss zurück in seine Filmwelt, in den »Darkroom«, die Dunkelkammer, wo er seine Filme entwickelt. Helen stellt Mark ihrer Mutter vor – nie geht er ohne Kamera aus, sagt sie. Er gibt ihr die Kamera in die Hand – es bleibt immer unklar, ob er in die helle Welt Helens wechseln kann, ob ihre Liebe zu ihm und seine zaghafte zu ihr ihn aus den Zwängen der Vergangenheit lösen kann. Die blinde Mutter ist in seiner Dunkelkammer, sie will wissen, was für Filme er dreht:
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Aber ich musste es tun…
. Abb. 1 Mark Lewis (Karlheinz Böhm) fotografiert Models – Szene aus Peeping Tom (deutscher Titel: Augen der Angst), Großbritannien 1960, Quelle: Cinetext
R »Nehmen Sie mich doch mit in Ihr Kino.« – Der von Mark entwickelte Film ist zu dunkel, »das Licht ist zu früh ausgegangen.« – »Das tut es meistens«, sagt die blinde Mutter. – »Jetzt muss ich’s noch mal versuchen ...« – »Was haben Sie denn versäumt?« – »Ich muss eine neue Gelegenheit suchen.« Mark macht sich daran, Helens Mutter in Panik zu versetzen, er will sie filmen, »es ist für Helen«, rechtfertigt er sich. Zwar hat sie Angst, aber wegen ihrer Blindheit reagiert sie nicht auf das ausgeklappte Kamerastativ, an dem ein Messer befestigt ist, wie der Zuschauer jetzt sieht, mit dem die Morde begangen worden waren. Das Spiel zwischen Täter und Opfer gerät aus dem Ruder, Mark resigniert, klappt das Stativ wieder zusammen, wie ein Vergewaltiger, dessen Erektion nachlässt. Jetzt dreht Helens Mutter den »Spieß« um:
R »Machen Sie doch Aufnahmen, ich will nicht egoistisch sein,« und als Mark zurückweicht: »Jetzt haben Sie Angst«. Nun redet sie fast mütterlich auf Mark ein: Ihr Instinkt sage ihr, dass seine Filmerei für ihn gefährlich ist und dass er Hilfe braucht. Er solle sofort dafür sorgen, sonst dürfe er Helen nicht mehr sehen. Im Filmstudio trifft Mark einen »Seelendoktor«, der die durch den Mord an der Schauspielerin schokkierten Filmleute behandeln soll. Mark kommt aber nicht dazu, seinen Therapiewunsch zu äußern, der Psychiater kannte seinen Vater, interessiert sich nur für ein unveröffentlichtes Manuskript des Vaters, Mark interessiert ihn nicht, aber:
R »Sie haben die Augen Ihres Vaters.«
389 Peeping Tom – Mark Lewis (Karlheinz Böhm)
Helen dringt in Marks Welt ein, sie stellt den Projektor an, Entsetzen in ihren Augen, während sie den Film sieht, er kommt dazu (. Abb. 2):
R »Ich will dich nicht sehen, wenn du Angst hast. Du warst sicher, solange ich nicht sehe, dass du Angst hast.« Helen will aber gesehen werden:
R »Bitte sieh mich an« – »Nur, wenn du keine Angst hast.« Helen: »Ich habe Angst, und ich bin froh, dass ich Angst habe.« Aber nun stürmt die Polizei das Haus, und Mark verübt Selbstmord mit demselben Mittel, mit dem er seine Opfer tötete, er filmt sich, während von allen Seiten Scheinwerfer strahlen und die Stimme des Vaters vom Tonband erklingt. Mark stürzt sich in das am Stativ befestigte Messer. Zum Schluss hört man den Vater:
R »Sei doch nicht so dumm, Junge, du brauchst keine Angst zu haben!«, und das Kind: »Gute Nacht, Papa, halt meine Hand fest ...«
Der Film Peeping Tom wurde 1959 von dem bedeutenden britischen Regisseur Michael Powell gedreht. Bei der Premiere 1960 fiel er bereits beim Publikum gänzlich durch, der Hauptdarsteller, Karlheinz Böhm, erzählt: Powell und ich haben bis zuletzt gedacht, dass Peeping Tom ein Erfolg werden würde. Dann kam der Tag der Premiere in London. … Als die Vorführung dann zu Ende war, hörte ich keinen Applaus. Das fand ich schon etwas merkwürdig. Dann kamen die Leute ‚raus – und liefen alle einfach an uns vorbei. Keiner ist auch nur in unsere Nähe gekommen. Als ob wir stinken würden. Wir waren entsetzt! (Interview von Benjamin Maack mit Karl-Heinz Böhm einestages 2008) )
Die Kritiken waren verheerend; Powell war besonders von folgender Besprechung beeindruckt: Die einzig wirklich befriedigende Art, Peeping Tom zu beseitigen, ist, ihn zusammenzukehren und in der nächsten Toilette hinunterzuspülen. Und selbst dann würde der Gestank bleiben (einestages 2008)
Michael Powell wurde von dem Misserfolg derart aus Bahn geworfen, dass er seine Produktionsfirma aufgeben musste und nur noch unbedeutende Filme für das Fernsehen drehte (einestages 2008) 20 Jahre später verhalf Martin Scorcese dem Film zu einem Comeback auf dem NewYorkFilmFestival; Scorcese verehrte Michael Powell und liebte Peeping Tom, inzwischen genießt der Film Kultstatus, er gilt als ein erstes Beispiel eines psychologischen Thrillers. Mulvey (2009) führt die vernichtenden Kritiken auf ein Unverständnis der symbolischen, gesellschaftskritischen, auch durchaus medienkritischen Inhalte des Films zurück, denn die britische Filmtradition neigte dazu, die »Wirklichkeit« durch den Film abzubilden, übersah, dass der Film immer nur die Illusion von Wirklichkeit und mit dieser auch symbolische Inhalte vermittelt, sodass Peeping Tom als platte Abbildung sexueller perverser Kriminalität gar konkretistisch als Verherrlichung von Gewalt und Pornografie verstanden wurde. Ganz beson-
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Aber ich musste es tun…
. Abb. 2 Helen dringt in Marks Welt ein, sie stellt den Projektor an, Entsetzen in ihren Augen … – Szene mit Karlheinz Böhm und Anna Massey, Quelle: Cinetext
ders werden auch die Vertreter der Filmwirtschaft düpiert gewesen sein, da doch das Medium Film in seinem sowohl voyeuristischen als auch manipulativen Charakter entlarvt wird, sodass Powell als eine Art Nestbeschmutzer erlebt worden sein dürfte. Heute wird der Film als ein Meisterwerk und einer der besten britischen Horrorfilme gewürdigt. Er wurde von der New York Times zu einem der zehn wichtigsten Filme des 20. Jahrhunderts gekürt (einestages 2008), das Magazin Total Film setzte ihn auf Platz24 der größten britischen Filme aller Zeiten und auf den 18. Platz der größten Horrorfilme aller Zeiten. Es gibt eine Reihe von Bezügen zwischen den Filmschaffenden und ihren Geschöpfen: Der Drehbuchautor Leo Marks nennt seinen Protagonisten Mark Lewis, offensichtlich eine Anspielung auf den eigenen Namen. Der Regisseur Michael Powell spielt Marks Vater selbst und der kleine Sohn des Regisseurs spielt das vor Angst vergehende Versuchskaninchen. Man kann nur hoffen, dass der Vater dem Sohn genügend Erklärung und Unterstützung bieten konnte, sodass der Junge nicht tatsächlich Angst bekam.
Zur Diagnose Ganz offensichtlich handelt es sich bei dem Protagonisten des Films um eine gestörte Persönlichkeit. Es ist aber nicht leicht, eine eindeutige Diagnose einer bestimmten Persönlichkeitsstörung zu stellen. Geht man vom am drastischsten dargestellten Verhalten aus und nimmt eine sexuelle Komponente der Verhaltensstörung an, liegt die Diagnose Sadomasochismus (F65.5) nahe. Der entsprechende Erläuterungstext lautet:
391 Peeping Tom – Mark Lewis (Karlheinz Böhm)
Es werden sexuelle Aktivitäten mit Zufügung von Schmerzen, Erniedrigung oder Fesseln bevorzugt. Wenn die betroffene Person diese Art der Stimulation erleidet, handelt es sich um Masochismus; wenn sie sie jemand anderem zufügt, um Sadismus. Oft empfindet die betroffene Person sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexuelle Erregung. (ICD-10-SGBV 1999, S. 186)
Sexuelle Erregung ist also keine zwingende Bedingung (»oft«), und nur bei genauem Hinsehen kann man vermuten, dass Mark sexuell erregt ist, als er die Filmaufnahmen des Mordes an der Prostituierten ansieht; keinesfalls ist er sexuell erregt während des Filmens. Auch Jürgen Bartsch, der in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vier Jungen ermordete (ich komme darauf zurück), berichtet, dass eine sexuelle Erregung bei einem perversen Gewaltakt nicht immer vorhanden ist: Weil bei der eigentlichen Tat, der richtigen Tat, kein Orgasmus stattfand, war er mir da scheinbar nicht wichtig, weil ich ja die ganze Tat als eine Art ungeheuer in die Länge gezogenen Orgasmus betrachtete. Die Freude am Sadismus ist ja (schweres Atmen, starkes Lustgefühl) dem Orgasmus durchaus ähnlich. (Moor 1991, S.365)
Ähnlich schreibt auch Berner: Die entscheidende Erlebnisqualität, die Pädophile suchen, wenn sie sich Kindern nähern, ist die Berührung der zarten Haut des Genitalbereichs mit den Fingern. Oftmals kommt es bei dieser Betätigung gar nicht zur sexuellen Erregung … des Pädophilen, sondern nur zu einer allgemeinen erregten Gestimmtheit. (Berner 1985, S.18)
In seiner Besprechung des Films stellt Sabbadini (2000) den Voyeurismus (F65.3) ganz in das Zentrum der psychodynamischen Überlegungen. Der Erläuterungstext lautet: Wiederkehrender oder anhaltender Drang, anderen Menschen bei sexuellen Aktivitäten oder intimen Tätigkeiten, z.B. Entkleiden, zuzusehen, ohne Wissen der beobachteten Person. Meist führt dies beim Beobachtenden zu sexueller Erregung und Masturbation. (ICD-10-SGBV 1999, S.186)
Ganz sicher voyeuristisch verhält sich der Knabe Mark, als er ein junges Liebespaar beobachtet und dabei von seinem Vater gefilmt wird (also zwei Voyeure). Bei seinen Mordaktivitäten spielt natürlich das Auge der Filmkamera, der Sucher, und dann das Betrachten der fertigen Filme durch den Täter (und den Zuschauer des Films!) eine große Rolle. Gegen diese Diagnose spricht allerdings, dass die Opfer nicht bei sexuellen oder intimen Aktivitäten beobachtet werden, mit Ausnahme der Prostituierten, die sich entkleidet, und es ist ja auch kein heimliches Beobachten. Mit welcher Diagnose kann man noch das zwanghaft wiederholte Morden-Müssen erfassen? Sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63.8) könnte man als allgemeine Beschreibung gelten lassen: In diese Kategorie fallen andere Arten sich dauernd wiederholenden unangepassten Verhaltens, die nicht Folge eines erkennbaren psychiatrischen Syndroms sind und bei denen der betroffene Patient den Impulsen, das pathologische Verhalten auszuführen, nicht widerstehen kann. Nach einer vorausgehenden Periode mit Anspannung folgt während des Handlungsablaufs ein Gefühl der Erleichterung. (ICD-10-SGBV 1999, S.185)
Untersucht man den Protagonisten des Films in Beziehungsdimensionen, so erscheint ein angepasster, extrem schüchterner, sozial ängstlicher Mensch, der offenbar keinerlei Freunde und auch keine Partnerbeziehung hat. Man denkt an eine schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1):
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Aber ich musste es tun…
Eine Persönlichkeitsstörung, die durch einen Rückzug von affektiven, sozialen und anderen Kontakten mit übermäßiger Vorliebe für Phantasie, einzelgängerisches Verhalten und in sich gekehrte Zurückhaltung gekennzeichnet ist. Es besteht nur ein begrenztes Vermögen, Gefühle auszudrücken und Freude zu erleben. (ICD-10-SGBV 1999, S.182)
Die Filmwirkung – Identifikationen des Zuschauers Der Spielfilm (wenn er nicht ein reiner Unterhaltungsfilm ist) bezieht seine Attraktivität für seinen Konsumenten neben den äußeren, technischen Bedingungen – bewegte Bilder, Illusion von Realität der Handlung, abgedunkelter Kinosaal, notwendige Inaktivität des Zuschauers – aus der Wahl der Hauptthemenbereiche: Liebe (Sexualität) – Gewalt (Kriminalität) – und heutzutage besonders auch die Ablösungskonflikte der Adoleszenz. »Sex and Crime« erscheinen auf der Leinwand, sie sind außerhalb des Zuschauers, der aber unbewusst, vorbewusst und manchmal auch bewusst seine eigenen Wünsche und Ängste erlebt, stellvertretend, sodass er in der Identifikation mit dem Protagonisten teilnimmt und doch nicht selbst betroffen ist oder handelt. Durch die Delegation ansonsten verpönter Triebregungen an die Handelnden des Films erreicht er eine Partizipation durch Identifikation, gleichzeitig aber eine Negierung der eigenen Bestrebungen, als erlebte er ihre Existenz, sei aber gleichzeitig frei von ihnen. Und so ist der Film erfolgreich, der es schafft, den Zuschauer zu verführen, sich mit dem Kriminellen oder den Liebenden zu identifizieren und dabei das Gefühl der Distanz zu behalten: »Gott sei dank, ich bin nicht so«. Als extreme Parallele stelle man sich einen Staatsanwalt vor, der sich auf Sittlichkeitsdelikte spezialisiert hat und nun übereifrig entsprechende Straftäter verfolgt, dabei natürlich die Corpora Delicti seines Fachgebiets eifrig konsumiert, von Berufs wegen selbstverständlich, ein wahrer Voyeur, beteiligt und doch nicht beteiligt, mit dem besten Gewissen. In Dimensionen der sexuellen Perversion gesehen tritt der Voyeur in Beziehung zu seinem Sexualobjekt, behält sich aber die Macht der Beziehungsregulierung vor, begibt sich in die Beziehung und bleibt doch außen vor, nähert sich und bleibt distanziert. So beherrscht er das Objekt in der Fantasie vollständig. Manchmal stellt sich die Identifikation des Zuschauers mit dem bösen oder verpönten oder auch dem leidenden Menschen nicht ein, der Film wird nicht angenommen, wird ein Misserfolg. Ein solcher Film ist Der Nachtportier von Liliana Cavani (1973; vgl. Hirsch 2008), der von der Liebe eines im KZ gefangen gehaltenen Mädchens zu ihrem sadistischen, mordenden Schergen handelt, einer gegenseitigen sadomasochistischen Liebe, die auch nach dem Krieg nicht beendet ist, vielmehr in voller Kraft wieder aufflammt. Das gab den Zuschauern und den Kritikern keine Möglichkeit der Identifikation – das unschuldige Mädchen war hörige Komplizin, der sadistische SS-Mann entwickelte menschliche Züge. Der Film erregte einen Skandal und wurde von der Kritik verrissen – genau wie Peeping Tom. Der Regisseur Michael Haneke (Haneke u. Sannwald 2006, S.161), weiß, wovon er spricht bzw. kennt sein Handwerk genau: In einem Interview fragt ihn Daniela Sannwald: [Sannwald:] Dem Zuschauer als Voyeur geht es hauptsächlich um Gewalt? [Haneke:] Das ist ein Faktum, sonst wären Action-Filme nicht so beliebt. Es geht dem Zuschauer allerdings um einen Gewaltkonsum ohne schlechtes Gewissen. Außer Pier Paolo Pasolinis großem Film Salò o Le 120 giornate di Sodoma (Italien/Frankreich 1975) gibt es keinen Film, der dem Thema Gewalt gerecht wird, weil sie alle absichtlich – nicht aus Dummheit – die Gewalt konsumierbar machen. Nicht nur ästhetisch, indem die Gewalt durch Übertreibung entrealisiert wird, sondern auch, indem sie legitimiert wird. Oder sogar, indem sie mit Humor verbrämt und ununterbrochen als Jux dargestellt wird, wie früher in den Bud-Spencer-Filmen. Pulp Fiction (USA 1994) von Quentin Tarantino ist ein Beispiel, das alle diese Muster virtuos vereint. Deswegen war der Film so ein Riesenknüller. Solche Inszenierungsstrategien sind mir letztendlich zutiefst zuwider, und ich versuche, mit meinen Filmen dagegen anzustinken.
393 Peeping Tom – Mark Lewis (Karlheinz Böhm)
[Sannwald:] Warum ist Gewalt denn so attraktiv? [Haneke:] Weil wir alle eine Riesenwut im Bauch haben. Und im Kino können wir sie loswerden. (Haneke u. Sannwald 2006, S.161)
Loswerden vielleicht nicht, aber die Gewalt für den Moment entäußern, draußen sehen und die eigene, innere vergessen. Was Filme wie Peeping Tom und Der Nachtportier unbeabsichtigt bewirken – Michael Powell und Karlheinz Böhm waren ahnungslos und rechneten mit Erfolg und Anerkennung –, die Identifikationsverweigerung des Zuschauers nämlich, stellt Haneke ganz bewusst her, um dem Zuschauer die Augen zu öffnen und die manipulative Kraft des Films zu entlarven: [Sannwald:] Der Zuschauer als Opfer ist praktisch die Umkehrung des Zuschauers als Voyeur? [Haneke:] Das stimmt. In Funny Games zum Beispiel zwinge ich ihn dazu, sich alles das anzuschauen, was er eigentlich gar nicht sehen will. Der Witz dabei ist, dass ich den Zuschauer zum Komplizen des Täters mache und ihm genau das am Schluss vorwerfe. Das ist eine heimtückische Methode, um ihm vor Augen zu führen, was er eigentlich ist, nämlich ein Voyeur. Aber Funny Games unterscheidet sich von Apocalypse now (USA 1979, Francis Ford Coppola), wo Wagner-Musik einen HubschrauberEinsatz untermalt, bei dem die Soldaten einfach runterballern und das Publikum guten Gewissens mitballert. Hier sind wir in eine fiese Haltung gedrängt und fühlen uns auch noch wohl. Und genau dieses Wohlfühlen will ich den Leuten ein bisschen verleiden. (Haneke u. Sannwald 2006, S. 160)
Der Film macht den Zuschauer zum Voyeur, er darf es nur nicht merken. Auch der Filmschaffende ist ein Voyeur, er darf nur nicht mit der Nase (dem Auge!) darauf gestoßen werden wie durch Peeping Tom – diese Entlarvung führte zur Ablehnung des Films durch die Branche und die Kritik. »Das Kino befriedigt den Schaulustigen, den Voyeur« (Lamott 2008, S.352) Lamott beschreibt sehr schön die Verstrickung des Zuschauers, wenn es um Voyeurismus selbst geht: Wird in Filmen die Schaulust thematisiert, dann ist der Zuschauer in doppelter Weise involviert, zum einen als Zeuge einer filmischen Erzählung und zum anderen als Teilhaber einer Beziehung, in der auch seine Rolle als Betrachter thematisiert wird. … In Filmen wie Das Fenster zum Hof (Rear Window, Alfred Hitchcock 1954), Psycho (Alfred Hitchcock 1960), Peeping Tom (Michael Powell 1960), Blue Velvet (David Lynch 1986) oder auch Sex, Lies and Videotape (Steven Soderberg 1989) ist der Voyeurismus zentrales Thema. Das Auge des Zuschauers ist identisch mit dem Auge der Kamera. (Lamott 2008, S. 352)
Was aber unterscheidet die beiden Filme Peeping Tom und Rear Window so, dass sie in den 1950er Jahren zum Erfolg oder aber zum Misserfolg wurden? In Rear Window beobachtet der Protagonist (James Stewart), der durch einen Beinbruch an den Rollstuhl gefesselt ist, ein Verbrechen, einen Mord, im Haus gegenüber mit Fernglas und Kamera, und er befindet sich in genau derselben Position wie der Filmkonsument: Er ist unbeweglich und verfolgt ein Geschehen außerhalb seiner selbst. Die Identifikation des Zuschauers mit dem Helden fällt leicht, denn der eigene Sadismus und die Frauenfeindlichkeit des ansonst sympathischen, freiheitsliebenden Protagonisten wird von Hitchcock nur kaum merklich angedeutet, während der Mord an einer Frau eben draußen geschieht, das entsprechende Eigene bleibt unbewusst, wenn der Zuschauer (und in diesem Fall auch der Protagonist) auch voyeuristisch partizipiert. Nicht so in Peeping Tom. Hier blickt der Filmbesucher selbst durch den Sucher der Kamera; der Voyeur ist nicht Zeuge wie in Rear Window, der Voyeur ist der Täter, und der Blick durch den Sucher macht den Zuschauer zu seinem Komplizen, wenn nicht zum Mörder selbst (durch Identifikation). Das musste abgewehrt werden, musste einen Skandal erregen.
394
Aber ich musste es tun…
Zur Psychodynamik des Protagonisten Man kann die heftige Verweigerung der Identifikation mit dem Protagonisten, einem »Triebtäter«, der dem Zwang zu töten erliegt, noch von einer anderen Seite aus sehen. Misshandlung und Missbrauch von Kindern in ihren Familien wurden bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus gesellschaftlich völlig verleugnet, besonders in ihrer Relevanz für die Entwicklung von psychischen Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen. Eckert et al. (2000) fanden heraus, dass bei stationär psychotherapeutisch behandelten Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in 100% der Fälle (!) eine Traumatisierung in einer der drei Formen oder ihrer Kombination vorlag: emotionale Vernachlässigung, körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch. Zur Zeit der Entstehung des Films war das gesellschaftliche Bewusstsein noch nicht so weit, dass eine Identifikation mit dem misshandelten oder missbrauchten Kind allgemein möglich war. Auch nicht mit dem Erwachsenen, der einmal als solches Kind gelitten hatte. Der Kinderarzt Kempe (Kempe et al. 1962) hat erst zwei Jahre nach der Uraufführung des Films Peeping Tom eine Pioniertat vollbracht: Er veröffentlichte im renommierten Journal of the American Medical Association ein »neues Krankheitsbild«, »the battered child syndrome”, nämlich die typischen Symptome von Kindesmisshandlung; nach der Veröffentlichung stieg die Zahl der diagnostizierten und gemeldeten entsprechenden Fälle explosionsartig an. Kernberg (besonders 1975), der herausragende Kenner und Erforscher der Borderline-Persönlichkeitsstörung, nahm lange an, dass an der Wurzel dieses Krankheitsbildes eine starke konstitutionell bedingte Aggression stünde, also ein Triebgeschehen. Damit musste der Patient fertig werden, seine übermäßig triebhafte Aggression in Schach halten. Erst 1997 (Kernberg 1999) konzidierte er, dass wenigstens in einem beträchtlichen Teil der Fälle reale familiäre Gewalt, insbesondere sexueller Missbrauch, die Entwicklung einer BorderlinePersönlichkeitsstörung anstoße. Und auch noch heute scheint es oft schwer zu fallen, sich mit einem solchen Täter als primär unschuldigem Opfer zu identifizieren. Zwar gibt es in dem Artikel von Sabbadini (2000, S.810) zwei Andeutungen, die die Verbindung von der Traumatisierung in Marks’ Kindheit und ihrer Wiederholung später aufzeigen: Die Opfer sind verletzlich wie er selbst es als Kind war, und zum Schluss: Mark tötet sich in derselben Weise, in der er seine Opfer ermordete. Aber Sabbadinis Sicht der Psychodynamik weist doch wieder auf ein Triebgeschehen hin: Die Dunkelkammer repräsentiert, symbolisch wie auch real (obwohl im ersten Stock lokalisiert, unserer topographischen Erwartung entsprechend müsste sie eigentlich in einem Untergrund-Keller liegen) das unbewusste Selbst, voll von Irrationalität, verdrängter Sexualität, Betrug und Gewalt, aufgeladen mit intensiver Urszenen- und präödipaler Bedeutung. Ich will hinzufügen, dass es kein Zufall ist, dass dieser Raum ursprünglich Marks missbrauchendem Vater gehörte, während im Gegensatz dazu das Schlafzimmer der Mutter im Erdgeschoss einen weniger primitiven und mehr ödipalen Raum repräsentiert. An diesem Ort lässt Mark zögernd Helen seine Kamera halten, bevor sie zusammen ausgehen. Er weiß, dass sie, indem sie ihm die Waffe nimmt, ihn kastriert in seiner mörderischen prägenitalen Sexualität und sie ersetzt mit einem Potential für romantische Liebe, eine Bedingung, die sie ersehnt, die ihn aber erschreckt, weil sie seine misogyne, rücksichtslose1 Identität herausfordert. (Sabbadini 2000, S. 811)
Obwohl hier einmal Marks missbrauchender Vater erwähnt wird, obwohl sich dann Sabbadini auf Stoller (1979) bezieht, der den perversen sexuellen Akt als Umwandlung von Frustration und Trauma in einen Triumph und als Rache des Opfers der Kindheit in der Fantasie bezeichnet hat, ist für Sabbadini das
1
»Predatory« bedeutet sowohl raubtierhaft, rücksichtslos, als auch entwertend: lüstern, geil!
395 Peeping Tom – Mark Lewis (Karlheinz Böhm)
perverse Triebschicksal im Zentrum, seine Devianz wird nicht begründet, die naheliegende Verbindung zur ursprünglichen Traumatisierung wird nicht gezogen, bestenfalls zwischen den Zeilen angedeutet. Der Zuschauer ist heute eher in der Lage, sich mit dem Täter als Opfer zu identifizieren. So ergeht es dem Zeitgenossen mit dem extremen Fall des Jürgen Bartsch, der mit 15 Jahren sein erstes, mit 19 Jahren sein letztes Opfer ermordete, insgesamt vier Kinder, alle waren sie Jungen, so wie der Mörder kaum dem Kindesalter entwachsen war. In einem ersten Prozess wurde er gnadenlos als psychisch »normal« und voll schuldfähig befunden und nach dem Erwachsenenstrafrecht (!) zu lebenslanger Haft verurteilt. Jahre später wurde ihm im Revisionsprozess nach langem Ringen zwischen konservativen und psychodynamisch orientierten Gutachtern bei voller Berücksichtigung seiner schlimmen Lebensgeschichte verminderte Schuldfähigkeit zugeschrieben, er bekam zehn Jahre Jugendstrafe, die anschließende Unterbringung in einer Heilanstalt wurde angeordnet. Man sieht also ein Anwachsen der Empathiefähigkeit durch Identifikation in den Jahren zwischen den Prozessen. Jürgen Bartsch wurde im Alter von elf Monaten von einem kinderlosen Metzgerehepaar adoptiert, die Adoptivmutter hatte sich gerade einer Uterusentfernung unterziehen müssen. Die Kindheit war von emotionaler Kälte und Bindungslosigkeit bestimmt, »über der Familie liegt ein Hauch von Eis«, berichtet Jürgen Bartsch, »meine Mutter fand absolut nichts dabei, mich in einer Minute in den Arm zu nehmen und zu küssen, und in der nächsten Minute sah sie, dass ich aus Versehen die Schuhe anbehalten hatte, nahm einen Kleiderbügel aus dem Schrank und zerschlug ihn auf mir. In dieser Art etwa geschah oft etwas, und jedesmal zerbrach irgend etwas in mir.« (Moor 1991, S. 86) Die Mutter wollte kein Kind haben, sondern eine Puppe, sagte der Adoptivvater im Prozess aus. Heimeinweisung und Internatsaufenthalt bedeuteten immer wieder abrupte Trennungen von Menschen außerhalb der Familie, zu denen er zaghafte Bindungen eingegangen war. Im Internat verband sich katholische Erziehung mit sadistischen Prügeln sowie sexuellem Missbrauch durch den erziehenden Priester. Die erwachende Sexualität wurde so mit sadistischer Gewalt verknüpft. Nach dem Urteil im Revisionsprozess entwickelte Jürgen Bartsch selbst den Wunsch, kastriert zu werden, um von seinen quälenden Fantasien, Knaben töten zu müssen, befreit zu werden. Bei der entsprechenden Operation kam es zu einem Narkosezwischenfall, und Jürgen Bartsch starb im Alter von 29 Jahren. Es gibt einige gesetzmäßig ablaufende psychische Mechanismen, mit denen das Opfer versucht, die Traumatisierung zu bewältigen, bzw. von ihr nicht psychisch vernichtet zu werden. Neben der Dissoziation (von Affekten, des Körpers) sind es besonders die Abwehrmechanismen der Internalisierung, die Introjektion der Gewalt und die Identifikationsformen (Hirsch 1997 2004). Die Gewalt ist zuerst »außen«, dann ist sie »innen«; das fremdkörperartige psychische Gebilde, das der ursprünglichen Gewalt entspricht, nennt man traumatisches Introjekt. Eine seiner Wirkungen ist der Wiederholungszwang: Immer wiederholt das Opfer entweder die dem Trauma entsprechende Tat selbst, oder begibt sich in Situationen, in denen es wiederum Opfer wird. Einmal liegt dem Wiederholungszwang die Annahme zugrunde, dass das Opfer immer wieder versucht, eine Wendung vom Passiven zum Aktiven zu schaffen, der traumatischen Gewalt anders als damals etwas entgegensetzen zu können. Für mich ist aber die stärkste Kraft des Wiederholungszwangs die Hoffnung, dass der Täter von damals, indem man sich entsprechende aktuelle »Täter« sucht, sich wie durch ein Wunder in ein liebendes Objekt verwandelt, der Inzesttäter in einen gütigen, kindgerecht liebenden Vater. Im Zusammenhang mit Voyeurismus und Exhibitionismus kann man auch annehmen, dass das Opfer endlich liebend gesehen werden will und nicht mit den Augen (bzw. der Kamera) des Täters. Die internalisierte Gewalt hat zwei verschiedene Formen der Identifikation mit ihr zur Folge (Hirsch 1996): Einmal die Identifikation mit dem Aggressor (zuerst Ferenczi 1933) nach dem masochistischen Modus, eine unterwerfende Identifikation, die das Opfer in endloser Wiederholung Opfer bleiben lässt, das Täter aufsucht und auf das »Wunder der Verwandlung« hofft. Das traumatische Introjekt erzeugt dabei wie ein feindliches Über-Ich Schuldgefühle und Selbstwerterniedrigung. Das ist die Form der Identifikation mit dem Aggressor, die Ferenczi (1933) meinte, man kann auch sagen
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Aber ich musste es tun…
Opfer-Identifikation. Zum anderen gibt es eine Täter-Identifikation, in der das ursprüngliche Opfer den Täter imitiert, um nicht Opfer bleiben zu müssen, hier liegt eine Täter-Opfer-Umkehr vor, es wird ein sadistischer Modus gewählt neuen Opfern gegenüber, denen man die damalige eigene Wertlosigkeit, Schwäche und Schuld zuschiebt, um sie in ihnen zu bekämpfen. Letztlich haben beide Formen der Identifikation mit dem Aggressor das Ziel, die traumatische Situation ungeschehen zu machen und die Beziehung zum Täter und das zerstörte Selbst zu reparieren. Traumatisierung bedeutet immer eine Grenzschwächung zwischen Selbst und Objekt, zwischen Innen und Außen; die Gewalt ist außen und dringt nach innen, der Täter ist im Selbst wie ein Fremdkörper, ein Feind. Die unterwerfende Identifikation mit dem Aggressor lässt das Opfer die Schuld des Täters übernehmen, die zu seinem mächtigen Schuldgefühl wird. Bei der imitierenden Identifikation lädt das ursprüngliche Opfer eine Schuld auf sich, die früher einmal die des Täters war. Besonders für die Pädophilie ist ein Phänomen bekannt, das mit »Selbstvertauschungsagieren« bezeichnet worden ist (Meyer 1976), ein Begriff, der von Berner (1985) wieder aufgenommen wurde. Täter und Opfer sind austauschbar, der Täter »liebt« sozusagen sich selbst in einem Kind, das er auch sein könnte. Jürgen Bartsch hat seine Opfer geliebt, wie er berichtete, in der Fantasie war er jemand, der verständnisvoll mit Jungen spricht, sie versteht. Als späteren Berufswunsch gab er an, er wolle mit Kindern arbeiten, ganz offensichtlich wollte er ganz anders mit ihnen umgehen, als er selbst erzogen worden war. Er liebt seine Opfer, wie er sich selbst lieben würde, wenn er geliebt worden wäre. Aber er hasst seine Opfer auch, quält sie, wie er selbst gequält worden ist, dingobjektartig, als wären sie Gegenstände, wie seine Adoptivmutter in ihm ja eine Puppe haben wollte (und wie Marks Vater sich ein Versuchskaninchen schuf). Er hat sich in seinen Opfern selbst kastriert und getötet (wie es ihm ja schließlich real geschah!), hat dadurch seine Eltern sowohl geschont als sie auch in omnipotenter Weise überführt und angeklagt. Jürgen Bartsch wollte ein Kind bleiben, um ein besseres Kinderleben zu erreichen, als er es selbst gehabt hatte. Und wenn er kein Verbrecher wird, dieser Mensch, dann wird doch unvermeidbar sein, dass in ihm ein Wunsch heranreift, ohne dass er es vielleicht selbst bemerkt, und der eines Tages vielleicht sein Leben beherrschen wird, ja, zerstören wird. Der irrsinnige, aber unbändige Wunsch, es zu wiederholen, es neu, es besser zu machen. Keinen Tag älter will er werden, innerlich, will ein Kind bleiben. (Moor 1991, Vorsatzblatt)
Liebe und Hass, Idealisierung und Entwertung werden sich gemischt haben angesichts der Jungen, die so waren, wie er hätte gewesen sein können: Denn für mich wird es, so scheint es, nichts Schöneres im Leben geben, als nochmal Junge zu sein, aber diesmal alles besser zu machen. Dass es immer ein Traum bleiben muss, weiß ich, aber irgendein Teufel in mir flüstert mir zu, das sei nicht allein meine Schuld … (Moor 1991, Hintersatzblatt)
Das Selbstvertauschungsagieren, gemeint ist das Vertauschen von Opfer und Täter und umgekehrt, kann man auch als Ergebnis einer Selbst-Objekt-Verschmelzung verstehen. Dieses Vertauschungsphänomen beschreibt bereits Menninger (1968): Gewalt und Verbrechen stellen oft den Versuch dar, vor dem Wahnsinn zu fliehen; und es kann keinen Zweifel daran geben, dass bestimmte psychische Krankheiten eine Flucht sind vor dem Wunsch, Gewalt anzuwenden. … Klingt es unglaublich, dass Selbstmorde manchmal begangen werden, damit einem Mord vorgebeugt wird? Es gibt keinen Zweifel. Es gibt ihn auch nicht an der Tatsache, dass manchmal ein Mord begangen wird, um einen Selbstmord zu verhindern. Dies ist, nach Auffassung des Täters, die Wahl des kleineren Übels. So seltsam es klingen mag, viele Mörder sind sich nicht im Klaren darüber, wen sie töten – oder, um es anders auszudrücken, dass sie die Falschen
397 Peeping Tom – Mark Lewis (Karlheinz Böhm)
töten. … Wir wissen, dass die meisten Gewalttäter eine Kindheit hatten, die von einem brutalen Vater oder einer brutalen Mutter bestimmt war. (Zit. nach Moor 1991, S.85)
Auch bei dem traurigen Helden in Peeping Tom sahen wir bereits Anzeichen dieses Selbstvertauschungsagierens: Das Opfer ist ihm genauso ausgeliefert, wie er selbst es war, damals dem Vater gegenüber. Er begeht den Selbstmord schließlich auf dieselbe Weise, wie er seine Opfer tötete. Das Mordinstrument ist an der Kamera befestigt, eigentlich die Kamera selbst, und das Kind wird seine extreme Angst untrennbar mit dem Filmen durch den Vater verbunden haben, die Kamera als angsterregendes Medium erlebt haben. Also identifiziert sich Mark einmal mit dem Täter, den er imitiert, er tötet seine Opfer, wie seine Seele getötet wurde (»Seelenmord«, Shengold 1979). Die vom Vater geschenkte Kamera ist ein »linking object« (Volkan 1972), sie verbindet ihn gleichwohl mit dem Vater, und er übergibt sie nur sehr widerstrebend einmal Helen. Die Selbst-Objekt-Verschmelzung lässt sich so beschreiben: Mark ist verbunden mit dem Vater, dem Täter, dessen Opfer er war, er ist aber auch verschmolzen mit dem Opfer, er ist Opfer und Täter gleichzeitig. Aber es bleiben Fragen. Während es bei Jürgen Bartsch ganz deutlich ist, dass er Jungen als Opfer wählt, Jungen wie er selbst es war bzw. er selbst hätte sein können, und mit ihnen in der Fantasie verschmilzt, wählt Mark junge Frauen, die er ganz offensichtlich als minderwertig definiert, wie er sich selbst sah und sieht (der Begriff »misogyn«, den Sabbadini verwendet, erklärt nichts). Ist es die unbewusste Wut auf die Mutter, die ihn vor einem solchen Vater nicht geschützt hat und obendrein durch ihren frühen Tod verlassen hat? Gilt sein Hass der neuen Frau des Vaters, mit der jener wegfährt, den Jungen allein lassend? Wie so oft in Spielfilmen, werden Verhaltensstörungen, Kriminalität oder auch sexuelle Perversion sehr realistisch und überzeugend dargestellt, sehr häufig findet sich aber kaum eine Mitteilung, wie es denn dazu hat kommen können. In Peeping Tom finden wir allerdings doch in überzeugender Weise genügend Material, »Filmmaterial«. Die Filme des Vaters sprechen für sich, sie bedürfen keiner großen Erklärung ihres traumatisierenden Charakters. Es sind »wissenschaftliche« Filmaufnahmen der Angstexperimente eines kalten, beziehungslosen Vaters, der das Kind seinen wissenschaftlichen Interessen absolut opfert (der »Seelenarzt« im Film wiederholt das, ihn interessiert Mark absolut nicht, er ist nur an einem Manuskript seines Vaters interessiert). Diese Beziehungslosigkeit entspricht der Beziehungskälte in der Kindheit Jürgen Bartschs. Bei ihm verstehen wir auch die Verbindung von Liebe, Aggression und Sexualität (Jürgen Bartsch wurde mit acht Jahren von einem älteren Verwandten, dann später im Internat mehrfach sexuell missbraucht), bei Mark können wir über die frühe Mutter-Sohn-Beziehung nur spekulieren. Litt auch die Mutter unter der Kälte ihres Mannes, band sie ihr offenbar einziges Kind in irgendeiner Weise erotisiert oder sexualisiert an sich?
Schlussbemerkung Bei der Premiere des Films Peeping Tom von Michael Powell war die Zeit, d.h. die gesellschaftliche Entwicklung, nicht so weit, den Film in seinem gewissermaßen symbolischen Gehalt zu verstehen: Er beleuchtet kritisch eine faschistisch zu nennende Wissenschaftsgläubigkeit (man denke an die Menschenexperimente in den deutschen KZs), er beleuchtet kritisch die Realität in derart vielen Familien, dass man nicht von Einzel- und Ausnahmefällen sprechen kann, sondern gesellschaftliche Dimensionen der massenweisen Vernachlässigung von Rechten und Bedürfnissen von Kindern sehen muss. Der Film entlarvt besonders das Wesen der Medien: Vorgaukeln von Realität, manipulative Verführung, heimliche Befriedigung voyeuristischer Bedürfnisse zum Zwecke der Entäußerung eigener verpönter Bestrebungen. Inzwischen wagen wir, die Zuschauer, uns zu identifizieren mit einem missbrauchten Kind, dessen Traumatisierung wenigstens zu einem großen Teil zu einer fatalen Persönlichkeitsentwicklung beigetragen hat. Natürlich bleiben es letztlich unerklärbare Extremfälle, wenn es sich um eine Verbindung von mörderischer Aggression und devianter Sexualität handelt, aber heute ist der Zuschau-
398
Aber ich musste es tun…
er eher als damals in der Lage, sich zu fragen, welchen Weg er selbst aus welcher Kindheit zurückgelegt hat, als dass er konkretistisch einen solchen Film als Verherrlichung von Pornografie und Gewalt von sich weisen müsste. Der Film bebildert anschaulich und überzeugend die Traumagenese einer Persönlichkeitsstörung. Das bedeutet keine Exkulpation, vielmehr eine Herausforderung, die Schuldfähigkeit eines Menschen gewissenhaft zu definieren. Aber er ermöglicht uns ein Verständnis der tragischen identifikatorischen Verstrickungen von Täter und Opfer und lässt auch eine eventuelle Entwicklung in einer Psychotherapie möglich erscheinen.
Literatur Berner W (1985) Das Selbstvertauschungsagieren Pädophiler. Psychother Med Psychol 35: 17–23 Eckert J, Dulz B, Makowski C (2000) Die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Psychotherapeut 45: 271–285 einestages (2008) »Als ob wir stinken würden«. Interwiev von Benjamin Maak mit Karlheinz Böhm anlässlich des 80. Geburtstages des Schauspielers. http://einestages.spiegel.de. Gesehen am 16. Mär 2008 Ferenczi S (1933) Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Schriften zur Psychoanal. Bd. II Fischer, Frankfurt am Main, 1972 Haneke M, Sannwald D (2006) »Anderen bei Intimitäten zuschauen«. Michael Haneke über Voyeurismus und Schaulust, Schuld und Verdrängung. In: Jaspers K, Unterberger W (Hrsg) Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud. Bertz & Fischer, Berlin Hirsch M (1996) Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor – nach Ferenczi und nach Anna Freud. Praxis Kinderpsychol Kinderpsychiat 45: 198–205 Hirsch M (1997) Schuld und Schuldgefühl – Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen; 4., unveränd. Aufl. 2008 Hirsch M (2004) Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie – Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen. Schattauer, Stuttgart Hirsch M (2008) Liebe auf Abwegen« – Spielarten der Liebe im Film aus psychoanalytischer Sicht. Psychosozial, Gießen ICD-10-SGBV, Version 1.3. Stand Juli 1999 Kempe CH, Silverman FN, Steele BF, Droegemueller W, Silver HK (1962) The battered child syndrome. JAMA 181: 17–24 Kernberg OF (1975) Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1978 Kernberg OF (1999) Persönlichkeitsentwicklung und Trauma. Persönlichkeitsstörungen 3: 5–15 Lamott F (2008): Voyeurismus im Zeitalter der Schaulust. In: Doering S, Möller H (Hrsg): Frankenstein und Belle de Jour. 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen. Springer, Berlin Heidelberg New York Tokio Menninger K (1968) Strafe – ein Verbrechen? Piper, München, 1970 Meyer AE (1976) Zur Psychoanalyse der Perversionen. Sexualmedizin 5: 169–176 Moor P (1991) Jürgen Bartsch: Opfer und Täter. Das Selbstbildnis eines Kindermörders in Briefen. Rowohlt, Reinbek Mulvey L (2009) Peeping Tom. http://www.powell-pressburger.org./reviews/60_PT/mulvey.html. Gesehen am 01. Nov 2009 Sabbadini A (2000) Watching voyeurs: Michael Powells’ Peeping Tom (1960). Int. J. Psychoanal. 81: 809–813 Shengold L (1979) Child abuse and deprivation: Soul murder. J Am Psychoanal Ass 27: 533–559 Stoller R (1979) Sexual exitement. Dynamics of erotic life. Maresfield Library, London, 1986 Volkan VD (1972) The linking objects of pathological movrners. Arch Gen Psychiat 27: 215–221
399 Peeping Tom – Mark Lewis (Karlheinz Böhm)
Originaltitel
Peeping Tom
Erscheinungsjahr
1960
Land
Großbritannien
Buch
Originalstory und Drehbuch: Leo Marks
Regie
Michael Powell
Hauptdarsteller
Karlheinz Böhm (Mark Lewis), Anna Massey (Helen), Moira Shearer (Vivian), Maxine Audley (Helens Mutter)
Verfügbarkeit
DVD in deutscher Sprache erhältlich
401
Anhang
Literatur und Internetadressen zum Thema psychische Störung und Film Quellenverzeichnis
402
Literatur und Internetadressen
Literatur und Internetadressen zum Thema psychische Störung und Film Informationen über Filme und Filme kaufen Das größte frei zugängliche Filmlexikon findet sich unter: www.imdb.com Mit einer Ausnahme können alle im Buch enthaltenen Spielfilme und viele andere im Einzelhandel oder unter den folgenden Adressen im Internet bestellt werden. Der Film »Das Leben des schizophrenen Dichters Alexander März« kann direkt beim ZDF erworben werden. www.amazon.de www.amazon.co.uk www.amazon.fr www.amazon.com www.jpc.de
Websites zum Thema psychische Störungen im Spielfilm http://www.psychmovies.com/ http://moviesandmentalillness.blogspot.com/ http://www.admsep.org/cinema.html http://www.psychflix.com/resources.html http://www.dartmouth.edu/~admsep/resources/cinema.html http://www.neiu.edu/~mecondon/cinfilm.htm http://www.uni-kiel.de/medien/berpsy1.html http://www.doctorgreenberg.net
Bücher zum Thema psychische Störungen im Spielfilm Brandell JR (ed) (2004) Celluloid Couches, Cinematic Clients. Psychoanalysis and Psychotherapy in the Movies. State University of New York Press, Albany, NY Fellner M (2006) Psycho Movie. Zur Konstruktion psychischer Störung im Spielfilm. transcript, Bielefeld Gabbard GO (Hrsg) (2001) Psychoanalysis and Film. Karnac, London Gabbard GO, Gabbard K (1999) Psychiatry and the Cinema. 2nd ed. American Psychiatric Press, Washington, DC Greenberg HR (1975) The Movies on Your Mind. Film Classics on the Couch, from Fellini to Frankenstein. Saturday Review Press, New York Greenberg HR (1993) Screen Memories. Hollywood Cinema on the Psychoanalytic Couch. Columbia University Press, New York Grunst S (2009) Spielfilme über psychisch Kranke: Drama light oder Medium der Entstigmatisierung? Books on Demand, Norderstedt Heiner S, Gruber E (Hrsg) (2003) Bildstörungen. Kranke und Behinderte im Spielfilm. Mabuse, Frankfurt am Main Hirsch M (2008) »Liebe auf Abwegen«: Spielarten der Liebe im Film psychoanalytisch betrachtet. Psychosozial, Gießen Jaspers C, Unterberger Wolf (Hrsg) (2006) Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud. Bertz & Fischer, Berlin Katholisches Institut für Medieninformation (1994) Caligaris Erben. Der Katalog zum Thema »Psychiatrie im Film«. Psychiatrie, Bonn Laszig P, Schneider G (2008) Film und Psychoanalyse: Kinofilme als kulturelle Symptome. Psychosozial, Gießen Lippert R (2002) Vom Winde verweht. Film und Psychoanalyse. Stroemfeld, Frankfurt am Main Mentzos S, Münche A (Hrsg) (2006) Psychose im Film. Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Bd 14. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
403 Literatur und Internetadressen
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404
Quellenverzeichnis
Quellenverzeichnis Kap. 1
Filmtitel
Abb.
Mein Vater
1
4
Cinetext/VE
2
8
WDR, Uwe Stratmann (S2), WDR-Pressestelle/Bildredaktion
1
14
Cinetext
2
22
Cinetext
1
28
ZDF/CCC Berlin
2
33
ZDF/CCC Berlin
1
40
Cinetext/RR
2
44
Cinetext
1
50
Cinetext
2
53
Cinetext
1
60
X Verleih/Cinetext
2
65
X Verleih/Cinetext
1
72
Warner Bros./Cinetext
2
74
Warner Bros./Cinetext
1
84
Cinetext
2
87
Universal Pic.Int.Ger./Cinetext
1
100
Cinetext/RR
2
102
Cinetext
1
122
Cinetext
2
124
Cinetext
2
Wer hat Angst vor Virginia Woolf
3
Alexander März
4
Taxi Driver
5
Heavently Creatures
6
Winterreise
7
Sex and the City
8
No Country for Old Men
9
10
11
12
Persona
Die Braut, die sich nicht traut
Besser geht’s nicht
Batman
Seite
Quelle
1
132
Cinetext/Richter
2
134
Cinetext
1
142
Warner Bros./Cinetext
2
147
Warner Bros./Cinetext
3
148
Warner Bros./Cinetext
4
150
Warner Bros./Cinetext
158
Cinetext
13
Drei Farben: Blau
1 2
160
Cinetext
14
Million Dollar Baby
1
170
Kinowelt/Cinetext
2
175
Kinowelt/Cinetext
405 Quellenverzeichnis
Kap. 15
16
Filmtitel
Abb.
Fight Club
1
182
Cinetext
2
184
Cinetext
Damage
Seite
Quelle
1
196
Cinetext
2
201
Cinetext
214
Cinetext/RR
17
About Schmidt
1 2
220
Cinetext
18
Léon
1
226
Cinetext
2
230
Cinetext
240
EIKON Media 2009, Grafikdesign: Katja Clos, Foto: Nik Konietzny
19
So glücklich war ich noch nie
1 2
242
EIKON Media 2009, Foto: Nik Konietzny
20
Vier Minuten
1
256
Korde & Kordes Film 2007
2
258
Korde & Kordes Film 2007
1
266
Interfoto/MNG Collection
2
275
Timebandits/Cinetext
1
280
Cinetext
2
286
Cinetext
21
22
23
Gegen die Wand
Endstation Sehnsucht
Match Point
1
296
Prokino/Cinetext
2
300
Prokino/Cinetext
306
Cinetext/RR
24
Wall Street
1 2
309
Cinetext
25
Die blonde Sünderin
1
318
Cinetext/Richter
2
321
Cinetext
26
Blue Velvet
1
336
Cinetext/RR
2
340
Cinetext
350
Cinetext/RR
27
Pretty Baby
1 2
352
Cinetext
28
Der freie Wille
1
360
Cinetext
2
362
Kinowelt/Cinetext
29
30
Verfolgt
Peeping Tom
1
372
MMM Film/Cinetext
2
375
MMM Film/Cinetext
1
388
Cinetext
2
390
Cinetext