Carl Peter Kleidat Bedingungen der Akzeptanz von Reform
Carl Peter Kleidat
Bedingungen der Akzeptanz von Reform
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Carl Peter Kleidat Bedingungen der Akzeptanz von Reform
Carl Peter Kleidat
Bedingungen der Akzeptanz von Reform
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Bielefeld, 2010
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Anita Wilke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18072-4
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Version meiner Dissertation, die im November 2010 von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld angenommen wurde. Auf sehr unterschiedliche Weise haben viele Menschen Bedingungen geschaffen, die es mir ermöglicht haben, diesen Text zu erstellen. Frau Prof. Dr. Veronika Tacke und Herrn Prof. Dr. Klaus Dammann möchte ich ganz besonders herzlich für die Betreuung meines Promotionsprojekts danken: Sie haben die Anfertigung der Dissertation durch stets konstruktive und erhellende Hinweise sehr unterstützt und mir die Freiheit gewährt, das Thema selbstständig zu entwickeln und nach meinen eigenen Vorstellungen auszuarbeiten. Ein weiterer Dank gebührt Herrn Dr. Hendrik Vollmer, der mich ermuntert hat, die Verwaltungsreform „Neues Kommunales Finanzmanagement“ als Beobachtungsgegenstand einer organisationssoziologischen Studie zu wählen. Besonders gerne und herzlich möchte ich mich auch bei den zahlreichen Entscheiderinnen und Entscheidern der in dieser Arbeit untersuchten Organisation bedanken, die sich gegenüber soziologischen Erkenntnisinteressen sehr aufgeschlossen gezeigt und mir auch abseits der Fragen meiner Fallstudie außerordentlich wertvolle Einblicke in die Praxis einer Kommunalverwaltung vermittelt haben. Allergrößten Dank schulde ich Hildegard Kleidat, Artur Kleidat, Uwe Strunk und Pia Kolwe für ihre bedingungslose Unterstützung. Bielefeld, im März 2011
Carl Peter Kleidat
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
5
Inhaltsverzeichnis
7
Verzeichnis der Abkürzungen und Akronyme
11
Abbildungsverzeichnis
13
Tabellenverzeichnis
15
1. 2.
Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
17
Reform und Akzeptanz
27
2.1
27 28
2.2
2.3
Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform 2.1.1 Entscheidungsereignisse und Organisationsstrukturen 2.1.2 POP und Kultur: Entschiedene und unentschiedene Entscheidungsprämissen 2.1.3 Zum Verhältnis von Selbstbeschreibungen und Entscheidungsprämissen Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action 2.2.1 Die Einbettung des Schemas Talk, Decision und Action in die Systemtheorie 2.2.2 Brunssons Konzeption von Talk, Decision und Action 2.2.3 Eine systemtheoretische Reformulierung von Talk, Decision und Action Reform und die Änderung von Strukturen 2.3.1 Zum Verhältnis von Reform und Evolution 2.3.2 Ein Wandel des Wandels? Beschreibungen der Stabilisierung von Organisationswandel
30 33 45 47 50 57 69 70 79
8
Inhaltsverzeichnis
2.4
Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten 2.4.1 Steuerung als Selektion und Änderung von Differenzen 2.4.2 Die Unterscheidung von Produkten, Nachfrage und Effekten
103
2.5
Reformbetroffene als organisationsinternes Publikum
110
2.6
Organisationale Reformrisiken und Funktionen von Reform
116
2.7
Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung
127
Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien
137
2.8 2.9
3.
Besonderheiten des Akzeptierens in (und von) Organisationen 2.9.1 In der Zone der Indifferenz: Organisationale Vorkehrungen zur Verbesserung interner Akzeptanzchancen 2.9.2 Verweise auf externe Akzeptanz als Beschaffung interner Akzeptanz: Kategoriale Erwartungen und der Transfer von Sinnpaketen 2.9.3 Organisationale Entscheidungen über die Nutzung von Erfolgsmedien
Bezugsproblem und Hypothesen 3.1
3.2 3.3
86 90
148 149 153 166 171
Die Umstellung des Bezugsproblems: Vertrauen und Hoffen auf Reformerfolg und das Akzeptieren generalisierender und spezifizierender Verweise auf Reform
173
Bedingungen statt Mechanismen: Zur funktionalistischen Rekonstruktion einer Forschungsfrage
180
Eine Auswahl von Hypothesen 3.3.1 Die Einschränkung eines Reformpakets auf ‚Machbares‘ 3.3.2 „Forgetfulness“ und „cherry picking“ 3.3.3 „Heucheleien“ und deren Invisibilisierung – wie sich Organisationen bei Reform selbst beschwindeln können 3.3.4 Erfolgsmediengebrauch im Fall von Reform 3.3.5 Kategoriengestützte und instrumentell-rationale Selbstund Fremdbeobachtungen
183 185 190 196 207 211
Inhaltsverzeichnis
4.
5.
9
Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
217
4.1
Wissenschaftliches Beobachten
217
4.2
Systemtheoretische Forschungskriterien
224
Bedingungen der Akzeptanz des Neuen Kommunalen Finanzmanagements (NKF) in der Stadt X 5.1
Rekonstruktion der Untersuchungsstrategie und der Methodenselektion
233 233
5.2
Fallkonstruktion: Auswahl einer reformierenden Organisation und Differenzierung von Reform und Reformdiskurs 243
5.3
‚Fallzugang‘: Bedingungen der organisationalen Akzeptanz methodischer Beobachtungen
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X 5.4.1 Textproduktion durch Interviews 5.4.2 Selektion und Differenzierung von Dokumenten 5.4.3 Textproduktion durch teilnehmende Beobachtung 5.5
Ergebnisse der Fallstudie – Verknüpfungen methodischer Zweitbeobachtungen mit Theorie 5.5.1 „Ultra posse nemo obligatur“: Produkte, Nachfrage und Effekte in der reformierenden Stadt X 5.5.2 Die Reformmemoiren der Stadt X: Zwischen ‚aufgehübschter Gedenkkultur‘ und ‚widerständiger Gegenbewegung‘ 5.5.3 „Organisierte Heuchelei“: Reformeifer und Verschiebungen von Reformaction als lose gekoppelter Mix 5.5.4 Erfolgsmediengebrauch in der Stadt X: Reform als nicht besonders schmuckvoller „hierarchically mandated change“ 5.5.5 ‚Wir wissen selbst, was am besten für uns ist‘: Die kategoriengebundene Attraktivität fremder Reformideen und die Einzigartigkeit des Reformierens
252 253 255 262 267 269 276 298 315 327 335
10 6.
Inhaltsverzeichnis
Rekombinationen – Schlussbetrachtungen als Vorschläge für Anschlussbetrachtungen 6.1
343
Reformpaket und Reformrespezifikation: Ablehnung als Bedingung von Akzeptanz
344
6.2
Myopia statt Forgetfulness?
345
6.3
Illusion der Steuerungsillusion? Warum reformierende Organisationen keine naiven Organisationen sind
347
Ein sich von sich selbst entkoppelnder Talk und das Schlupfloch in die Ewigkeit
348
‚Deine Reform, meine Reform‘: Transfers, Erfolgsmedien und totale Betroffenheit
350
Wozu reformieren? Reform als Blendwerk und Erleuchtung von Organisation
352
6.7
Eigenes und fremdes Verstehen von Reform
353
6.8
Warum resignieren? Die „mechanisms of hope“ als Bumerang soziologischer Aufklärung 354
Literatur
357
6.4 6.5 6.6
Verzeichnis der Abkürzungen und Akronyme
EAE
Erinnertes Dokument der Stadt X, eigene Autorenschaft
EAV
Vergessenes Dokument der Stadt X, eigene Autorenschaft
FAE
Erinnertes Dokument der Stadt X, fremde Autorenschaft
IP
Interviewprotokoll
KLR
Kosten- und Leistungsrechnung
NKF
Neues Kommunales Finanzmanagement
NPM
New Public Management
NRW
Nordrhein-Westfalen
NSM
Neues Steuerungsmodell
PHH
Produkthaushalt
TB
Protokoll einer Teilnehmenden Beobachtung
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Zeitperspektive der organisationalen Produktion in Form eines Input/Output-Modells
105
Organisationale Steuerungsannahmen im Hinblick auf Produkte, Nachfrage und Effekte
107
Abbildung 3:
Zeitmarkierungen der NKF-Reform in der Stadt X
273
Abbildung 4:
Produkte, Nachfrage und Effekte der NKF-Reform aus Sicht der Reformprojektorganisation der Stadt X (Schwerpunkt der Darstellung in der Zeitdimension)
283
Binnendifferenzierungen der Stadt X im Kontext der NKF-Reform
317
Abbildung 2:
Abbildung 5:
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1:
Tabelle 2:
Tabelle 3:
Tabelle 4:
Produkte, Nachfrage und Effekte der NKF-Reform aus Sicht der Reformprojektorganisation der Stadt X (Schwerpunkt der Darstellung in der Sachdimension)
284
Deskriptivstatistische Verteilung der quantifizierend beobachteten Abstufungen der Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf Beschreibungen der NKFReform, die auf eine gestiegene Wirtschaftlichkeit und Effizienz der Organisation verweisen
291
Konventionelles methodisches Verständnis der Verteilung von Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern.“
292
Binarisierung und Aggregation des konventionellen methodischen Verständnisses der Verteilung von Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern.“
293
Tabelle 5:
Binarisierung und Aggregation eines auf Verneinungen konzentrierten methodischen Verständnisses der Verteilung von Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern.“ 294
Tabelle 6:
Differenzierung und Aggregation eines methodischen Verständnisses der Verteilung von Zustimmung, Ablehnung und Unsicherheit in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern“ 295
Tabelle 7:
Erinnerte und vergessene Entscheidungen über Strukturänderungen in beendeten Perioden im Vergleich zur NKF-Reformperiode
310
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
Reformen sind allgegenwärtig. Doch ihre große Akzeptanz erscheint rätselhaft, denn in einer zweckrationalen Perspektive kann das Scheitern von Reformen als der Normalfall beobachtet werden. Wie kommt es dazu, dass trotzdem immer wieder neue Versuche unternommen werden, Verbesserungen mit Hilfe von Reformen zu erreichen? Reformen verfehlen zumeist ihre ehrgeizigen Ziele und bleiben in diesem Sinne erfolglos.1 Da aber ständig neue Reformen initiiert werden, kann man davon sprechen, dass Reformen als ein Schema für geplante Veränderungen überaus erfolgreich sind. Um den weltweiten Erfolg des Schemas „Reform“ zu erkennen, genügt ein kursorischer Blick in die Massenmedien: Reformen finden sich in Hülle und Fülle, ihre Verbreitung ist erstaunlich: Reform des Internationalen Währungsfonds, Reform der Bundespolizei, Reform der FußballRegionalliga, Reform der Universitätskliniken, Reform des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Reform der Hochschulreform u. v. a. m. Immer geht es um planvolle, umfangreiche Veränderungen mit der Zielsetzung: Es soll besser werden! Und immer stehen Organisationen im Mittelpunkt des Geschehens. Reformen sind für Organisationen zur Routine geworden, und diese Normalisierung hat offensichtlich dazu beigetragen, dass die Bedingungen der Möglichkeit von Reform nur selten problematisiert werden.2 Statt die Voraussetzun1
2
„Despite the frequency and intensity of serious efforts, major reorganizations seem to have been largely unsuccesful.” (March/Olsen 1983, 287), „Most administrative reforms fail (…)“ (Caiden 1991, 151) oder „By far the largest number of efforts fail.“ (Heckscher/Eisenstat/Rice 1994, 132) – solche Befunde zum Scheitern von Reformen findet man häufig. Speziell von den Schwierigkeiten und mangelnden Effekten des Reformtyps, der in der Fallstudie der vorliegenden Arbeit methodisch untersucht wird (Reform des Finanzmanagements von Verwaltungen), berichten z. B. die Studien von Christiaens/Van Peteghem 2007; Wærnes 1993 oder Olson 1993. Voraussetzung dieser negativen Urteile sind Vorher-nachher-Vergleiche, die die zu Beginn einer Reformperiode definierten Ziele (Soll-Zustände) als konstant bleibende Erfolgsmaßstäbe für später erreichte Ist-Zustände konstruieren. Dieses übliche Vorgehen bei Evaluationen lässt allerdings außer Betracht, dass sich Zielsetzungen und Erfolgsmaßstäbe – wie auch in der vorliegenden Untersuchung deutlich werden wird – im Reformverlauf verändern können. Zur Normalisierung und Schematisierung von Reformen siehe Brunsson/Olsen 1993a; Brunsson 2006; Corsi/Esposito 2005; Luhmann 2000c, 300f.
C. P. Kleidat, Bedingungen der Akzeptanz von Reform, DOI 10.1007/978-3-531-93088-6_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
18
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
gen des Reformierens zu beschreiben, stellt eine in ihrem Umfang kaum überschaubare Organisations- und Managementliteratur seit Jahrzehnten die Faktoren für das Gelingen von Reform in den Mittelpunkt ihres Erkenntnisinteresses.3 Das Nicht-Hinterfragen des Schemas „Reform“ hat natürlich auch damit zu tun, dass diese ‚praxisorientierte‘ Literatur selber an die Notwendigkeit von Reformen glaubt und auf deren Erfolge hofft. Die von Themenkonjunkturen unabhängig hohe Produktion und Nachfrage von Reformdiskursen scheint dabei nicht nur für die organisationalen Selbstbeschreibungen entgegenkommenden, praxisnahen Beiträge der Organisationslehre, sondern auch für wissenschaftliche Fremdbeschreibungen zu gelten. Die konstant starke Relevanz des Reformthemas und die dominante Frage nach dem Bewirken von Reformerfolgen weisen aus soziologischer Sicht auf ein Problem des Schemas „Reform“ hin, das sich grob reflektiert aus der folgenden Konstellation zu ergeben scheint: Einerseits reformieren sich Organisationen mit Selbstverbesserungsabsichten immer wieder neu, und andererseits erzielen diese Reformen oft nicht die ursprünglich gewünschten Ergebnisse. Das hat zur Folge, dass wiederum neue Reforminitiativen gestartet und Reformerfolge organisationsintern und/oder -extern normativ (also kontrafaktisch, trotz vorheriger Enttäuschung)4 erwartet werden, um den gewünschten Organisationszustand in einem neuen Anlauf – zumeist auf andere Weise als vorher, aber eben durch Reform – zu erreichen. Auf diese Weise erzeugen Organisationen ihre wiederkehrenden Reformen als einen Kreislauf aus Forderungen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Auf den Befund des häufigen Scheiterns von Reformen lassen sich nun zwei organisationstheoretische Reaktionen erkennen: Erstens findet sich eine große Anzahl von Veröffentlichungen, die Abweichungen von Reformzielen und Reformergebnissen beschreiben, diese Diskrepanz zu den Reformansprüchen als Problem stilisieren, daraufhin auf ein Technologiedefizit des Reformmanagements schließen, um dann in großer Variation Lösungsvorschläge darzulegen, wie sich Organisationen besser reformieren könnten.5 Diese Beschreibungen gehen meist implizit vom Organisationsmodell des hierarchischen Zweckverbands aus, und sie speisen ihre Ratschläge häufig aus betriebswirtschaftlichen Erkenntnissen. Es geht diesen Texten darum, theoretisch Reformen zu reformieren, und insofern kann man sie als Reformreformliteratur bezeichnen. Auf diese 3
4
5
Dies geschieht natürlich nicht nur anhand der Bezeichnung „Reform“. Reformen im Sinne von umfangreichen und geplanten Organisationsänderungen werden vielfach auch unter Titeln wie „Reorganisation“, „Modernisierung“, „Lernen“, „Innovation“, „Diskontinuitätenmanagement“, „Transformation“, „Organizational Development“ oder „Redesign“ thematisiert. Zur Unterscheidung von normativem (nicht lernbereitem) und kognitivem (lernbereitem) Erwarten als Modi der Strukturbildung in sozialen Systemen siehe Luhmann 1972. Siehe statt vieler Doppler/Lauterburg 2002.
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
19
Weise stabilisieren sie die von Reformen formulierten Anforderungen an Organisationen und verstärken die Normalisierung des Schemas „Reform“ – allerdings ohne diese selbstproduzierten Folgen zu reflektieren. Die zweite Reaktion auf die Beobachtung von Beschreibungen eines Versagens von Reformen geht den umgekehrten Weg, indem sie zum einen die Routinisierung von Reform explizit sichtbar macht und diese theoretisch zu erschließen versucht und zum anderen keine Ansprüche an organisationale Zustände formuliert.6 Dies ist der Weg einer Organisationssoziologie, die sich selbst als wissenschaftliche Fremdbeschreibung von Organisationen positioniert. Die sich als fremdbeschreibend beschreibende Perspektive bringt eine Distanzierung zum Beobachtungsgegenstand „Organisation“ und eine Befreiung von der Beantwortung unmittelbar praxisrelevanter Fragen mit sich: So besteht für die Organisationssoziologie nicht der Leistungszwang, die in Organisationen kommunizierten Reformprobleme als wissenschaftliche Probleme zu behandeln, Lösungen zu entwickeln und diese in Form von wissenschaftlich angeleiteten Beratungstexten reformierenden Organisationen anzubieten.7 Die klassische Fragestellung des Reformmanagements – mit welchen Mitteln die Ziele einer Reform (mehr oder weniger) erreicht werden können – bleibt hier ausgeklammert. Das Erkenntnisinteresse richtet sich also nicht auf die Voraussetzungen eines instrumentellrationalen Erfolgs von Reformen. Vielmehr geht es diesem Ansatz darum, die Persistenz organisationaler Reformen trotz vielfachen Misserfolgs zu verstehen. Damit treten die Bedingungen der Perpetuierung des Schemas „Reform“ und dessen Unwahrscheinlichkeit in den Vordergrund der Fragestellung: Wie gelingt es zum Beispiel Organisationen, den Misserfolg vergangener Reformen so zu invisibilisieren, dass die Erwartung, Reformziele erfolgreich zu verwirklichen, mit hohen Akzeptanzchancen ausgestattet werden kann? Zudem stellt sich die Frage nach den Funktionen von Reform: Wenn davon auszugehen ist, dass die meisten Reformen ihre ambitionierten Ziele verfehlen – welche Probleme werden durch Reform denn dann eigentlich gelöst? Die Beiträge der Organisationssoziologie zu den hier skizzierten Fragestellungen sind überschaubar geblieben.8 Einige der wohl fruchtbarsten Erkenntnisse zum Thema „Reform“ haben bislang die an den Neo-Institutionalismus anknüp6
7
8
Als Wissenschaftler muss man nicht der Meinung sein, „(…) dass Reformen Erfolg haben sollten (…)“ (Luhmann 2000b, 336f.). Man kann (sollte) auch die durch Reformen erzeugten Risiken und Schäden reflektieren. Zum Verhältnis der modernen Organisationssoziologie zu ihrem Beobachtungsgegenstand siehe Luhmann 2000b, 473f. In der Organisationstheorie findet man insgesamt sicherlich keinen Mangel an Beschäftigung mit dem Thema „Reformakzeptanz“. Die Thematisierung erfolgt allerdings zumeist in einer zweckrationalen Perspektive und vor allem unter dem Aspekt, Widerstände gegen die intendierten Veränderungen zu überwinden. Siehe statt vieler zum Beispiel Legge 1984, 42ff.
20
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
fenden Untersuchungen der skandinavischen Organisationsforschung9 geliefert, so insbesondere die Studien von Nils Brunsson und seinen Kolleginnen und Kollegen. Brunsson interessiert sich für diejenigen Mechanismen, die die Hoffnung stabilisieren, dass Organisationen durch Reform einen Idealzustand im Sinne des instrumentell-rationalen Organisationsmodells erreichen können. Zu den von Brunsson identifizierten „mechanisms of hope“, die in der Organisationssoziologie besonders prominent geworden sind, gehören etwa das Vergessen früherer Reformen („organizational forgetfulness“) und das Entkoppeln von Reformtalk, -decision und -action.10 In dieser Arbeit möchte ich an die Reformtheorie von Nils Brunsson anschließen, dabei aber das von ihm gewählte Bezugsproblem umstellen: Während sich Brunssons Studien auf das Problem „maintaining hope“ konzentrieren und danach fragen, wie ein kulturell verankerter Glaube an das (durch Reform zu verwirklichende) Modell instrumentell-rationalen Organisierens bewahrt werden kann (Brunsson 2006), richtet sich der Blick der folgenden Untersuchung auf die Voraussetzungen der kommunikativen Akzeptanz von Reform. Statt der Mechanismen zur Stabilisierung der Hoffnung auf Reformerfolg sollen also die Bedingungen des Akzeptierens von Reform im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen. Diese Umstellung der reformbezogenen Problemstellung impliziert die Vermutung, dass bereits die Annahme von spezifischen Reformvorschlägen ein höchst voraussetzungsvolles Geschehen darstellt. Reformideen erscheinen ja nicht als immer schon akzeptierte Reformideen in der Welt, so dass es für die wissenschaftliche Problematisierung von Reform nicht allein um die Frage gehen kann, wie das Hoffen auf abstrakte, durch Reform zu verwirklichende Idealzustände als Normalität erhalten werden kann. Vielmehr ist auch zu untersuchen, welche Bedingungen in der organisationalen Kommunikation dazu beitragen, dass die (erstmalige und wiederholte) Bejahung eines Pakets konkreter Reformideen wahrscheinlich wird. In diesen Überlegungen wird bereits auf einen Vorschlag für einen reformbezogenen Unterscheidungsgebrauch verwiesen, der später noch ausführlicher entfaltet werden soll: Um das soziologische Verständnis von Reform mit zusätzlichen Beobachtungsmöglichkeiten auszurüsten, kann die Unterscheidung „Reform“ entlang der Differenz von Generalisierung und Spezifizierung mit den Begriffen „Schema“ und „Diskurs“ und den Unterscheidungen „Paket“ und „Inhalt“ („Paketrespezifikation“) kombiniert werden. Auf diese Weise wird die Verschiedenartigkeit der kommunikativen Referenzen auf Reform besser sichtbar: Man kann das hochgeneralisierte Reformschema von spezifischeren Reformdiskursen unterscheiden und von diesen wiederum weiter spezifizierende 9 10
Bzw. „Nordische Organisationsforschung“, vgl. Czarniawska/Sevon 2003, 2ff. Siehe dazu ausführlich Brunsson 1993b; 1993a; 2006.
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
21
Differenzierungen, nämlich organisational individualisierte Reformpakete und deren zahlreiche Respezifikationen. Solche Reformrespezifikationen können in einem Reformpaket zum Beispiel als Ziele, Mittel oder Defizitbeschreibungen auftreten. Wie in dieser Studie noch deutlich werden wird, ist ein großer Vorteil des hier vorgeschlagenen Unterscheidungsgebrauchs darin zu sehen, dass die Zusammenhänge zwischen den Akzeptanzchancen eines Reformpakets und den im Laufe der Zeit erfolgenden Veränderungen der Respezifikationen dieses Pakets leichter erkennbar werden. Im Reformverlauf kann eine Organisation die ursprünglich akzeptierte Version eines Reformpakets zunehmend deformieren, indem bestimmte Inhalte des Pakets – beispielsweise einige der Reformziele – abgelehnt, vergessen oder modifiziert werden. Eine dauerhafte Akzeptanz des Reformpakets bedeutet also nicht eine dauerhafte Akzeptanz aller Reformrespezifikationen. Vielmehr ist anzunehmen, dass die organisationale Anfertigung verschiedener Versionen der gleichen Reform deren anhaltenden kommunikativen Erfolg, also ein fortgesetztes Reformieren, ermöglicht: Als Paket kann eine Reform mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder neu bejaht werden, wenn im Verlauf der Zeit einige der Spezifikationen des Pakets verneint werden. Nils Brunsson bezieht sich im theoretischen Programm seiner Reformforschung (ohne das hier vorgeschlagene Differenzierungsschema zu verwenden) vor allem auf die höchste Generalisierungsstufe von Reform, also das Reformschema. Wenn man dies berücksichtigt, wird verständlich, dass Brunsson nicht die Herstellung von Akzeptanz, sondern die Stabilisierung von Hoffnung als das soziologisch besonders interessierende Problem von Reform wählt. Denn in der von Brunsson – klassisch neo-institutionalistisch – als dominierend beschriebenen Kultur der Hoffnung und der Rationalität11 kann das Schema „Reform“ wie ein Wert behandelt werden. Und da Werte normalerweise nicht angezweifelt werden,12 drängt sich das Thema „Akzeptanz“ als wissenschaftlich zu beobachtendes Reformproblem in diesem Zusammenhang nicht auf: Das abstrakte Schema „Reform“ erscheint als etwas, das kaum abgelehnt werden kann, weil es bei Reform ganz allgemein immer darum geht, die gegenwärtigen Zustände in Zukunft zu verbessern. Über Reform streiten kann man erst dann, wenn das Schema „Reform“ spezifiziert wird, also konkrete Ziele genannt und damit Präferenzen sichtbar werden. Sobald gesagt wird, was eine Verbesserung darstellt 11
12
Zur kulturellen Verankerung der Hoffnung, den Traum des rationalen Organisationsmodells verwirklichen zu können, siehe Brunsson 2006, 11ff.; 224ff. Werte werden zumeist als zweifellos gültige und gemeinsam geteilte Werte in der Kommunikation untermalend mitgeführt, so dass sie vor Widerspruch besonders geschützt sind. Siehe dazu Luhmann 1996a.
22
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
und auf welchem Wege die Verbesserung erreicht werden soll, ist das Reformschema ausreichend konkretisiert, um Angriffsflächen zu bieten und Widerstand zu provozieren. Interessiert man sich nun für genau diese Situation, dann würde das wissenschaftliche Beobachten mit der Wahl des Reformproblems „Hoffnungsstabilisierung“ gewissermaßen „zu spät“ ansetzen. Es würde dann nämlich leicht aus dem Blickfeld geraten, wie unwahrscheinlich und voraussetzungsvoll bereits das Annehmen von Reformvorschlägen ist. In dieser Arbeit soll daher der Versuch unternommen werden, die Frage zu beantworten, wie es wahrscheinlich werden kann, dass Organisationen Spezifizierungen des Reformschemas in Form von Reformpaketen akzeptieren. Dabei werde ich die Voraussetzungen der Bejahung von Reform nicht als kausale Mechanismen verstehen, sondern als Konditionierung bzw. Bedingungen im Sinne systemtheoretischer Analysen. Mit den vorangegangenen Ausführungen sind bereits zentrale Ansätze dieser Arbeit skizziert: Ziel der folgenden Untersuchung ist es, im Anschluss an die Vorarbeiten Nils Brunssons die Möglichkeiten des Beobachtens und Beschreibens von Reform zu erweitern. Im theoretischen Programm der Arbeit soll dies mit Hilfe der soziologischen Systemtheorie der Bielefelder Schule geschehen: Diese von Niklas Luhmann geprägte Theorie sozialer Systeme bietet hochgradig abstrakte Aussagezusammenhänge und präzise begriffliche Unterscheidungen, die es erlauben, wissenschaftlich adäquat komplexe Rekonstruktionen des Beobachteten (hier: Reform) anzufertigen. Das methodische Programm meiner Arbeit orientiert sich am Forschungsdesign einer Fallstudie. Der Vorteil eines solchen Designs liegt in seiner methodologischen Offenheit für den Gebrauch und die Kopplung verschiedenster Beobachtungsformen, so dass methodisch besonders komplexe Wissenskonstruktionen möglich sind. Theoretische und methodische Beobachtungen werde ich insbesondere durch eine Forschungsfrage und mehrere Hypothesen zum Thema der Bedingungen der Akzeptanz von Reform miteinander verbinden. Dies geschieht im Rahmen eines zirkulären Forschungsverständnisses nach Anleitung des folgenden Schemas: Eine Analyse des Forschungsstands wird dazu verwendet, Aussagezusammenhänge mit Blick auf das gewählte wissenschaftliche Bezugsproblem (die Forschungsfrage) zu konzentrieren, neu zu kombinieren und zur Formulierung von Hypothesen nochmals zu komprimieren. Forschungsfrage und Hypothesen unterliegen immer einem Revisionsvorbehalt und dienen der Anleitung methodischer Beobachtungen, die ihrerseits zur Überprüfung der theoretisch erzeugten Annahmen eingesetzt werden. Im Fall der Konvergenz von hypothetischen Aussagen und methodischen Konstruktionen kann man – im Sinne einer wissenschaftlichen Replikationslogik – eine Konsolidierung theoretischer Vermutungen beobachten. Bei einer Divergenz theoretischer und methodischer Beobachtungen bietet es sich hingegen an, Hypothesen zu modifizieren bzw. durch neue (stark abweichende)
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
23
theoretische Bezugsprobleme und darauf bezogene Annahmen zu substituieren. In allen Fällen kann dieser Kreislauf erneut gestartet werden, indem bestätigte, widerlegte, modifizierte oder neu erscheinende Hypothesen in der wissenschaftlichen Anschlusskommunikation einer nächsten Prüfung ausgesetzt werden. Der in dieser Arbeit rekonstruierte Fall einer reformierenden Organisation stammt aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung und bezieht sich auf ein Reformprojekt zur Implementation des Neuen Kommunalen Finanzmanagements (NKF) in einer nordrhein-westfälischen Kommunalverwaltung. Unter dem Titel „NKF“ wurde Ende der 1990er Jahre vom Land Nordrhein-Westfalen (NRW) ein Reformdiskurs initiiert, der sich im Anschluss an den seinerzeit weltweit proliferierenden Reformdiskurs des New Public Managements (NPM) darauf richtete, das kommunale Haushalts- und Rechnungswesen von der Kameralistik auf das System der doppelten Buchführung umzustellen.13 Zu den im NKF-Diskurs besonders hervorgehobenen Reformzielen gehörten die Verbesserung der Verwaltungssteuerung und die Erhöhung der Transparenz des Haushalts. Im Rahmen des Reformdiskurses wurden im Jahr 2005 alle 395 Städte und Gemeinden in NRW per Gesetz dazu verpflichtet, ihren Haushalt nach den Vorgaben des Neuen Kommunalen Finanzmanagements zu reorganisieren. Dabei wurde das Reformieren der vom NKF-Diskurs betroffenen Verwaltungsorganisationen mit einer Frist versehen: Das NKF-Gesetz bestimmte, dass die Reformprojekte zur Einführung des NKF im Jahr 2009 weitgehend abgeschlossen sein mussten. Die Fallstudie der vorliegenden Untersuchung wurde im Zeitraum von Januar bis Mai 2005 durchgeführt und beschreibt das während meiner Datenerhebung laufende NKF-Reformprojekt der politisch-administrativen Organisation „Stadt X“. Die Rekonstruktion des Falls erfolgte anhand von Dokumentenselektionen, offener, teilstandardisierter und standardisierter Interviews sowie mit Hilfe des Verfahrens der teilnehmenden Beobachtung. Bei der Auffächerung des theoretischen und methodischen Programms der folgenden Untersuchung gehe ich in diesen Schritten vor: Im Kapitel 2 wird der soziologische Forschungsstand zu den Themen „Reform“ und „Akzeptanz“ sowie zu weiteren zentralen Unterscheidungen dieser Arbeit aufbereitet. „Reform“ wird als ein organisationaler Entscheidungszusammenhang vorgestellt (2.1), der sich auf Entscheidungen über die Änderung von Strukturen einer Organisation bezieht. Ich schlage dann (2.2) eine Möglichkeit vor, die für das Beobachten von Reform besonders hilfreich erscheinenden, neo-institutionalistisch geprägten Unterscheidungen Talk, Decision und Action mit systemtheoretischen Begriffen zu reformulieren. Anschließend (2.3) beschreibe ich das Verhältnis von Reform 13
Siehe dazu Abschnitt 5.2 sowie die dort angegebene Literatur.
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1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
und Organisationswandel sowie (2.4) organisationale Differenzierungsmöglichkeiten der mit Reformzukünften verbundenen Steuerungsannahmen. Es folgt (2.5) der Vorschlag, dass Betroffene einer Reform auch als organisationsinternes Publikum beobachtet werden können. Die nächsten Überlegungen (2.6) befassen sich mit den Risiken des Reformierens und den Funktionen von Reform. „Akzeptanz“ (2.7) werde ich als Unterscheidung verstehen, die sowohl Konsens und Verständigung wie auch die Unterstellung von Zustimmung begrifflich umfasst. Mit Blick auf das allgemeine soziale Problem der Akzeptanzwahrscheinlichkeit beschäftige ich mich dann (2.8) näher mit Erfolgsmedien. Das Kapitel 2 schließt (2.9) mit einem Blick auf die Besonderheiten des Akzeptierens in Organisationen. Das Kapitel 3 konzentriert sich auf die Auswahl und Erläuterung von Forschungsfrage und Hypothesen meiner Untersuchung. In diesem Zusammenhang geht es zunächst (3.1) darum, das in der Reformforschung Nils Brunssons gewählte Bezugsproblem „Hoffnung“ auf das Bezugsproblem „Akzeptanz“ umzustellen, die Möglichkeiten des Beobachtens von Reform durch die Einführung weiterer Unterscheidungen („Schema“, „Diskurs“, „Paket“, „Respezifikation“ bzw. „Inhalt“) zu erweitern und (3.2) die reformbezogene Problemstellung in eine funktionalistisch formulierte Forschungsfrage zu überführen. Im Folgenden (3.3) greife ich einige der im zweiten Kapitel ausführlich dargestellten Erkenntnisse des soziologischen Forschungsstands auf, ergänze diese durch weitere theoretische Überlegungen und verdichte den gewonnenen Aussagezusammenhang in Form von Hypothesen. Im Kapitel 4 beschreibe ich (4.1) die konstruktivistische Epistemologie der modernen Systemtheorie sowie (4.2) die mit ihr verbundenen Forschungskriterien, die sich gleichermaßen auf Theorie und Methode dieser Arbeit beziehen lassen. Die Ausführungen dieses Kapitels fungieren in der gewählten Gliederung meiner Untersuchung daher als erkenntnistheoretische Nachbemerkungen (in Bezug auf das theoretische Programm) und Vorbemerkungen (in Bezug auf das methodische Programm). Das Kapitel 5 stellt das methodische Programm meiner Untersuchung dar. Zunächst (5.1) wird die Auswahl der Untersuchungsstrategie „Fallstudie“ und die methodische Ausrüstung der Erstbeobachtung (Datenerhebung) und der Zweitbeobachtung (Datenauswertung) methodologisch plausibilisiert. Es folgt (5.2) eine tentative Beschreibung des untersuchten Falls der reformierenden Organisation „Stadt X“ im Kontext des Reformdiskurses „Neues Kommunales Finanzmanagement“. Im nächsten Schritt (5.3) werde ich die organisationalen Bedingungen der Möglichkeit vorstellen, den Fall der „Stadt X“ methodisch zu beobachten. Ich erläutere dann (5.4) mein Vorgehen bei der Erhebung von Daten mit Hilfe von standardisierten, teilstandardisierten und offenen Methoden in
1. Einleitung: Der Erfolg des Schemas „Reform“ und die Erfolglosigkeit von Reformen
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Form von Interviews, Dokumentenselektion und teilnehmenden Beobachtungen. Im Anschluss (5.5) verstärke ich die Verbindung zwischen methodischen und theoretischen Beobachtungen und stelle eine enge Verknüpfung von Datenanalysen und Hypothesen als Ergebnisse meiner Fallstudie vor. Im abschließenden Kapitel 6 werden die theoretisch und methodisch gewonnenen Erkenntnisse dieser Arbeit in acht kurzen Abschnitten zusammengefasst, zum Teil nochmals neu kombiniert und mit Anregungen für anschließende Studien versehen.
2. Reform und Akzeptanz
In diesem Kapitel soll zweierlei geschehen: Zum einen wird es darum gehen, innerhalb des bereits skizzierten theoretischen Rahmens einen Begriffsvorrat zu gewinnen, der die weitere Untersuchung mit zureichenden Beobachtungsmöglichkeiten ausstattet. Dabei soll ein soziologisches Verständnis dafür entwickelt werden, was gemeint sein könnte, wenn von „Reform“ und von „Akzeptanz“ die Rede ist. In diesem Zusammenhang werden viele weitere Differenzierungen vorgestellt und erläutert, so etwa unterschiedliche organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reformabsichten, die verschiedenen Möglichkeiten, Strukturänderungen zu beschreiben, die Abgrenzung von Reformentscheidern und Reformbetroffenen oder die zahlreichen gesellschaftlichen Vorkehrungen zur Verbesserung von Akzeptanzchancen. Zum andern sollen im Anschluss an den soziologischen Forschungsstand solche theoretischen Aussagen rekonstruiert werden, die im Hinblick auf die Entwicklung und Verdichtung spezifischerer Erkenntnisinteressen dieser Arbeit eine Konzentration auf bestimmte Zusammenhänge zwischen Zusammenhängen anleiten. Diese Selektion von soziologischen Annahmen zu den Bedingungen der Akzeptanz von Reform wird der weiteren Untersuchung dann eine erneute Fokussierung in Form von Forschungsfrage und Hypothesen erlauben. 2.1 Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform In der modernen Organisationssoziologie lassen sich hinsichtlich der Beschreibung von Reform zwischen den systemtheoretisch (Luhmann 2000b, 330ff.; 2002a, 165ff.; 2002b, 244ff.) und den institutionentheoretisch angeleiteten Ansätzen (Brunsson/Olsen 1993a; Brunsson 2006) viele Gemeinsamkeiten feststellen. Die Ähnlichkeit der Aussagen erlaubt eine zusammenführende Verdichtung, für die ich folgende Formulierung vorschlage: Reformen beziehen sich auf diejenigen Entscheidungen über die Änderung von Strukturen einer Organisation, die mit der Absicht verbunden werden, durch Steuerung den organisationalen Gesamtzustand zu verbessern. Im den nächsten Abschnitten soll genauer erläutert werden, wie sich das Schema „Reform“ unterscheiden lässt. Ich konzentriere mich zunächst auf den in
C. P. Kleidat, Bedingungen der Akzeptanz von Reform, DOI 10.1007/978-3-531-93088-6_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2. Reform und Akzeptanz
dieser Reformbeschreibung enthaltenen Aspekt der „Strukturänderung“, und zwar in einem ersten Schritt auf den Bezugspunkt der Änderungsabsichten einer Reform, also auf organisationale Strukturen. 2.1.1 Entscheidungsereignisse und Organisationsstrukturen Für eine systemtheoretische Beschreibung strukturellen Wandels bietet es sich an, nicht die Begriffe „Struktur“ und „Prozess“ oder „Statik“ und „Dynamik“ gegenüberzustellen, sondern zeittheoretisch anzusetzen und von der Ereignishaftigkeit eines Organisationssystems (wie aller anderen Systeme) auszugehen.14 Dies hat zur Konsequenz, dass die Theorie sozialer Systeme einen besonderen Bedarf dafür sieht, das Dauerhafte, Kontinuierliche und Prozessartige zu verstehen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich damit auf die Möglichkeit der Entstehung von Strukturen, also die Frage, wie etwas in seiner Bedeutung über das einzelne Ereignis hinausgehen kann. Zur Beschreibung von Strukturänderungen muss man demnach zunächst die Differenz von Struktur und Ereignis ins Spiel zu bringen: Sämtliche Reformentscheidungen haben wie auch alle anderen Entscheidungsoperationen der Organisation die Zeitform eines Ereignisses. In der Vorher/Nachher-Unterscheidung der Zeit sind Ereignisse nicht etwa als kurze Intervalle, sondern als basale Einheiten zu verstehen, in denen Produktion und Zerfall in einem Zeitpunkt ohne Dauer zusammenfallen.15 Ereignisse kommen historisch nur einmal, ein erstes und zugleich letztes Mal, vor, und zwar nur in dem für ihr Erscheinen benötigten ‚Kleinstzeitraum‘. Durch ihre Unwiederholbarkeit gewinnen sie zugleich eine Unverwechselbarkeit: Sie lassen sich als Ereignisse identifizieren. Ereignisse zeichnen sich somit dadurch aus, dass sie im Moment ihres Entstehens sofort wieder verschwinden. Versteht man Organisationen als ereignisbasierte, temporalisierte Systeme, die qua Mitgliedschaft Entscheidungsereignisse miteinander verknüpfen,16 so sind sie „gewissermaßen automatisch dynamische Systeme“ (Luhmann 1984, 471). Die Funktion von Strukturen liegt nun darin, die Reproduktion des Systems von Ereignis zu Ereignis zu ermöglichen. Im Fall der Organisation ergeben sich Strukturen aus einem spezifischen Anschließen von Entscheidungen an Ent14
15 16
Zum Verhältnis der Begriffe „Ereignis“, Struktur“ und „Prozess“ in der systemtheoretischen Zeittheorie siehe beispielsweise Luhmann 1984; 1997a; 2000b; Nassehi 1993; 2000; Göbel 2000b. Vgl. Allport 1954 und daran anschließend Luhmann 1984, 388ff. Siehe Luhmann 1981d, 369; 1988a im Anschluss an den Entscheidungsbegriff von Shackle 1961.
2.1 Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform
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scheidungen. Strukturen haben in keiner Weise einen essentialistischen Bestand, sondern gewinnen ihre Form nur in und durch die Ereignisse, die sie relationieren. Die Struktur bildende Kopplung und rekursive Vernetzung von Entscheidungen ermöglichen es der Organisation, Entscheidungsereignisse zu koordinieren und zu integrieren und somit eine Identität und eine eigene Komplexität in Abgrenzung zur Systemumwelt zu erzeugen. In der neueren soziologischen Kommunikationstheorie lassen sich Strukturen von Organisationen und anderen sozialen Systemen allgemein als wiederholter Gebrauch von Sinnselektionen beschreiben, die den Möglichkeitsspielraum weiterer Kommunikation einschränken. Diese kann in Form von Erwartungen (Projektionen zukünftiger Zustände und Abläufe) und Erinnerungen (schriftlich fixierte oder mündlich tradierte Texte) erfolgen.17 In Organisationen können Erwartungen und Erinnerungen die Form von Entscheidungsprämissen annehmen. Organisationen strukturieren Entscheidungen über Prämissen, die erinnert werden und für eine unbestimmte Vielzahl anderer Entscheidungen Bedeutung erlangen, indem sie Beschränkungen festlegen, die in weiteren Entscheidungen reproduziert werden, also wiederholt Verwendung finden (Luhmann 1988a; 2000b). Der Struktur generierende Effekt der Prämissen wird folglich dadurch erzielt, dass durch mehrfache und gleichsinnige Wiederverwendung einer Einschränkung die zeitliche Reichweite der dieser Einschränkung zugrundeliegenden Entscheidung ausgedehnt wird. Auf diese Weise gelingt es, dass Entscheidungen nicht einfach „als ein einmaliges Ereignis verpuffen“ (Kühl 2000a, 4).18 Selbstverständlich können künftige Entscheidungsoperationen durch Entscheidungsprämissen nicht schon ex ante entschieden werden. Man kann die Entscheidungen der Zukunft nicht schon in der Gegenwart determinieren. Aber die Differenzen, die durch die Prämissen festgelegt werden, konzentrieren, regulieren und provozieren in elastischer Weise die weitere Kommunikation, so dass spätere Entscheidungen nach Maßgabe des Duals von Beachtung und Nichtbeachtung der Entscheidungsprämissen und der Grade der Modifikation bzw. Abweichung beobachtet werden können. Während Strukturen in Form von Erwartungen und Erinnerungen dafür sorgen, Zusammenhänge zwischen früheren und späteren Entscheidungen herzustellen, haben die als Ereignisse stilisierten Entscheidungen keinerlei Kontinuität. Entscheidungsereignisse entfalten sich nicht in der Zeit, und daher ist es per definitionem (und entgegen dem im Organisationsalltag üblichen Sprachgebrauch) unmöglich, dass Entscheidungen sich ändern bzw. geändert werden können. Möchte man zum Beispiel eine ‚Entscheidung korrigieren‘, fehlt – wie 17 18
Siehe Luhmann 1964a; 1997a; 2000b. Als Einzelereignis müsste eine Entscheidung sich selber sagen: „Ob nun entschieden wird oder nicht, ist auch egal“ (Luhmann 2000c, 236).
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2. Reform und Akzeptanz
immer – in der ständig neuen Gegenwart die Zugriffsmöglichkeit auf den bereits vergangenen Moment des Entscheidens. Um sich zu korrigieren, muss man eine neue Entscheidung treffen. Die Unmöglichkeit der Änderung von Entscheidungen gilt auch für das von Reformen anvisierte zukünftige Entscheiden. Es kann bei Reformen nicht um einen Direktzugriff auf Entscheidungsoperationen in der Zukunft gehen. Auf der operativen Ebene der Entscheidungen ist die Organisation von Moment zu Moment neu, und Änderungen der Organisation können sich nicht auf etwas richten, was durch die Gleichzeitigkeit von Auftreten und Vergehen ausgezeichnet ist, sondern nur auf das, was über den Moment hinaus Zusammenhänge zwischen Entscheidungsereignissen erzeugt. Die Bezugspunkte von Reformentscheidungen können also ausschließlich die Strukturen der Organisation sein (Luhmann 2000b, 331; Hasse/Japp 1997, 148). Dagegen können die Strukturänderungen selbst „Ereignis sein, aber sie müssen es nicht“ (Luhmann 1984, 481). Denn oftmals erscheinen Strukturänderungen nicht als Ereignisse im Sinne eines klar abgrenzbaren Vorher und Nachher, sondern werden als Wandel beobachtet, der sich ohne scharfe Grenzen allmählich einstellt. 2.1.2 POP und Kultur: Entschiedene und unentschiedene Entscheidungsprämissen Organisationen strukturieren sich durch verschiedene Arten von Entscheidungsprämissen (Simon/Smitburgh/Thompson 1950, 57ff.; Simon 1965, XXXf.): Wichtige Typen sind (1) Programme, die Bedingungen richtigen Entscheidens vorgeben, (2) Kommunikationswege und organisatorisch fixierte Kompetenzen, die die Verknüpfung von Stellen und den ‚Transport‘ von Entscheidungen regulieren (also die „Organisation der Organisation“), und (3) Prämissen für Personalentscheidungen, die Personen bestimmte Stellen zuweisen. Diese Dreiteilung ist auch als Schema des „POP“ (Programme, Organisation, Personal) bekannt geworden.19 Organisationen erzeugen nicht nur kommunikativ auffällige, entschiedene Entscheidungsprämissen in Form des „POP“. Sie strukturieren sich auch durch (4) unentschiedene Entscheidungsprämissen, die als „Kultur“ der Organisation verstanden werden können.20
19 20
Siehe Luhmann 1975a; 1981d; 1988a; 2000b; Drepper 2003; Kühl 2006. Im Anschluss an die Unterscheidung von internen und externen Bezugspunkten des Entscheidens sind als weiterer Typus der Entscheidungsprämisse „kognitive Routinen“ vorgeschlagen worden: Während programmatische, netzwerkartige, personale und kulturelle Entscheidungsprämissen
2.1 Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform
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(1) Entscheidungsprogramme sind Entscheidungsprämissen, die Kriterien für die Richtigkeit oder Brauchbarkeit von Entscheidungen definieren.21 Bei der Ermittlung und Beurteilung von Richtigkeitskriterien kann eine Organisation eher von gegebenen Bedingungen, also Inputs bzw. Vergangenheiten, oder eher von zu produzierenden (zu vermindernden oder zu vergrößernden) Differenzen, also Outputs bzw. Zukünften, ausgehen. Je nach dem schwerpunktmäßig betrachteten Zeithorizont kann man dann die primär inputorientierten Programme als Konditionalprogramme von den primär outputorientierten Zweckprogrammen unterscheiden. Während Zweckprogramme in der jeweils aktuellen Gegenwart zu entscheidende Zukunftsprogramme sind, die Zwecke und Mittel suchen, auswählen und kausal relationieren, verwenden die vergangenheitsorientierten Konditionalprogramme die Form „wenn-dann“, um Regeln zu formulieren – oft inklusive der Regeln für die Ausnahmen von den Regeln. (2) Organisationen erzeugen neben der Vorgabe der Bedingungen richtigen Entscheidens einen zweiten Typ von Entscheidungsprämisse, der sich auf die netzwerkartige22 Organisation der Organisation bezieht. Organisationen strukturieren sich unter anderem dadurch, dass sie fachliche Kompetenzen (Qualifikationsanforderungen) und hierarchische Kompetenzen (Weisungsbefugnisse) bestimmten Stellen zuschreiben (Luhmann 2000b). Stellen sind dabei nicht als Inseln zu betrachten, die, einmal durch eine Stellenbeschreibung definiert, selbstgenügsam und isoliert arbeiten würden, auch wenn Organigramme und Beschreibungen von Zuständigkeiten mitunter etwas anderes suggerieren mögen. Vielmehr kommt es für das Organisieren darauf an, die Kompetenzen der Stellen zu transferieren und an anderer Stelle nutzen zu können. Die „Organisation von Arbeitsteilung“ erzeugt „quasi automatisch“ einen Bedarf für die Verknüpfung von Entscheidungen verschiedener Stellen (Luhmann 1988a). Organisationen legen daher generell oder fallweise fest, wie die in der Organisation verteilten, über Stellen und/oder Können adressierbaren, fachlichen und hierarchischen Kompetenzen miteinander vernetzt werden. Für diesen ‚Transport‘ von Kompe-
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die Selbstreferenz des Systems betreffen, werden kognitive Routinen primär in fremdreferentieller Perspektive erzeugt. Siehe Luhmann 2000b, 249ff. Zum Programmbegriff siehe Luhmann 1990e, 403. In der modernen soziologischen Systemtheorie finde ich drei Verwendungsweisen des Netzwerkbegriffs: Erstens beschreiben „Vernetzung“ und „Netzwerk“ den Modus der Verknüpfung von Kommunikation (Luhmann 1997a, 65, 76). Zweitens werden Netzwerke als soziale Systeme begriffen (Bommes/Tacke 2007, 14ff.). Ein drittes, spezifisch auf Organisationssysteme begrenztes Verständnis bezieht sich auf Entscheidungen über Entscheidungsprämissen zur Verknüpfung von Kommunikationswegen und Kompetenzen durch eine entsprechende Markierung und Adressierung von Stellen und/oder Können (Luhmann 1988a, 177; 2000b, 305, 316, 320ff.). In dieser Arbeit werde ich die Begriffe „Vernetzung“ und „Netzwerk“ im Sinne der ersten und dritten Verwendungsweise einsetzen und das jeweils in meinem Text genutzte Begriffsverständnis im engeren Kontext verdeutlichen.
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2. Reform und Akzeptanz
tenzen werden bestimmte Kommunikationswege (unter Ausschluss anderer) definiert. Netzwerkartige Entscheidungsprämissen begegnen somit dem Problem der Komplexität des Systems, also der Anzahl und der Verschiedenartigkeit der Stellen. Durch die Festlegung von Kompetenzen und Kommunikationswegen wird die Komplexität der Organisation zwar nicht in einem instrumentellen Sinne regulierbar, aber in Gestalt eines Netzwerks beobachtbar und beschreibbar. (3) Eine dritte wichtige Möglichkeit der Organisation, Prämissen des Entscheidens zu fixieren, sind Personalentscheidungen. Diese betreffen Entscheidungen über die Mitgliedschaft in der Organisation oder die Zuweisung von Stellen im System. Es geht somit um Rekrutierung, Versetzung, Beförderung, Degradierung und Entlassung von Personen. Hierbei stehen zum einen die Beurteilung der Fähigkeiten und Einstellungen der Person und ihres Umgangs mit anderen Personen im Vordergrund. Zum anderen muss die Frage beantwortet werden, wie die Person und die durch die zu besetzende Stelle definierten Erwartungen zueinander passen. Wie alle anderen Entscheidungsprämissen sind auch Personalentscheidungen im Hinblick auf die darauf folgenden Entscheidungen elastisch. Sie schränken teilweise ein und weiten teilweise aus, was entschieden werden kann. Personen stellen der Organisation „(…) Körper und Geist, Reputation und persönliche Kontakte zur Verfügung (…)“ (Luhmann 1988a, 177). Sie sind aber, im Unterschied zu Programmen und Kompetenzen, organisatorisch zum einen nicht weiter auflösbar, sondern als Kompakteinheiten nur als „fest verschnürtes Paket“ positionierbar, und zum anderen – aufgrund der geringen Änderbarkeit von Personen – hoch redundant. (4) Neben diesen Typen entschiedener Entscheidungsprämissen findet sich in Organisationssystemen die Sorte der unentscheidbaren bzw. unentschiedenen („indecibles e indecididas“ heißt es bei Rodríguez Mansilla 1991, 140), aber dennoch endogenen Entscheidungsprämissen, die wie von selbst entstehen und als solche befolgt werden, ohne dass sie direkt in der Kommunikation thematisiert werden müssten.23 Da die unentschiedenen Prämissen auf die von der Organisation gewählten Werte verweisen, kann man ihren Zusammenhang auch als „Organisationskultur“ bezeichnen.24 23
24
Vgl. Rodríguez Mansilla 1991, 140f. und daran anschließend Luhmann 2000b, 241ff.; Dammann 2002, 9; Hiller 2005, 42f. Der Begriff der „Unentschiedenheit“ beschreibt diesen Prämissentyp sprachlogisch zutreffender als die Alternative „Unentscheidbarkeit“ (Klaus Dammann mündlich, 11.01.2008). Außerdem nutzt die organisationssoziologische Systemtheorie den Begriff der „Unentscheidbarkeit“, um im Anschluss an von Foerster 1992 darauf zu verweisen, dass nur über prinzipiell unentscheidbare Fragen entschieden werden kann, vgl. Luhmann 2000b, 132; Kühl 2000b, 167. Der Organisationskulturbegriff hat im Vergleich der Theorieangebote der Organisationsliteratur das Problem der Unschärfe, und insofern erscheint die Rede von Kultur als ein „umbrella concept“ (Czarniawska-Joerges 1992, 159f.), das zur Beschreibung aller möglichen Beobachtun-
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Der Grund ihrer Geltung ist okkult: Die Entscheidungen, die zur Entstehung der unentschiedenen Prämissen geführt haben, liegen im Dunkeln, und dadurch fehlt der Organisation die Möglichkeit einer Zurechnung auf bestimmte Ursprungsentscheidungen. Die organisationskulturellen Prämissen bieten daher Änderungsversuchen kaum Angriffsfläche. Weil man nicht weiß, wie sie entstanden sind, erscheint es besonders schwierig, direkte Ansatzpunkte zu finden, sie zu ändern. Außerdem wird über Werte nicht gestritten. Insofern überrascht es nicht, wenn Probleme der ‚Reformimplementation‘ in Form von Widerstand und Trägheit mit einem Auseinanderdriften oder Aufeinanderprallen von Reformideen und Organisationskultur in Verbindung gebracht werden.25 2.1.3 Zum Verhältnis von Selbstbeschreibungen und Entscheidungsprämissen Ein Organisationssystem produziert Strukturen nicht nur in Form entschiedener oder unentschiedener Entscheidungsprämissen, sondern fertigt darüber hinaus auch Selbstbeschreibungen an, mit denen die Organisation ihre Ideen, Modelle und Bilder von sich selbst fixieren und sich selbst identifizieren, sich also von der übrigen Welt unterscheiden kann. Organisationen sind, wie alle anderen sozialen Systeme auch, also nicht einfach Objekte wie Tische oder Stühle, die man mehr oder weniger zutreffend oder unzutreffend beschreiben kann. Sie enthalten immer auch Darstellungen ihrer selbst, die sich sowohl von dem System selbst als auch von der Fremdbeschreibung dieses Systems durch andere Systeme abgrenzen lassen (Kieserling 2004). Selbstbeschreibungen entstehen, wenn „(…) ein Bedarf aufkommt, Selbstbeobachtung durch strukturelle Vorgaben zu steuern und sie nicht ganz der jeweiligen Situation zu überlassen (…)“ (Luhmann 1987f, 161). Hierfür werden in Organisationen aus dem Medium der ständig fortlaufend erlebten, rudimentären Selbstbeobachtung des Entscheidungsgeschehens semantische Artefakte geformt, die sich auf die Einheit des Systems beziehen.26 Das sich aus der ständigen Selbstbeobachtung ergebende Gedächtnismaterial wird vom System ausgesiebt und in Textform aufbereitet. Dabei werden die meisten Vorfälle vergessen, das Bedeutsame und Bewahrenswerte gebündelt und konzentriert und dann in einen zeitbeständigen und in
25 26
gen eingesetzt wird und durch ebenso vielfältige wie unklare Verwendung zu einem starken Ausfransen der Bedeutungsmöglichkeiten geführt hat. Erfasst man die Organisationskultur mit dem Konzept der unentschiedenen Entscheidungsprämisse, so wird für eine Präzisierung des ansonsten homonymen Worts der Organisationskultur in einem stimmigen theoretischen Rahmen gesorgt. Hannan/Pólos/Carrol 2003; Luhmann 2000b. Siehe dazu ausführlich Luhmann 1988b, 78; 2000b, 417ff.
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2. Reform und Akzeptanz
seinen Sinngehalten zugleich flexiblen Text gekleidet, der schriftlich festgehalten oder mündlich wiederholt verwendet wird.27 Selbstbeschreibungen beziehen sich in extrem simplifizierender Form auf ein Organisationssystem als Einheit all seiner Operationen. Sie sind Modellierungen des Systems, sind also extrem starke Vereinfachungen, Verkürzungen und Verdichtungen der eigenen Beobachtungen des eigenen Operierens im Modus von Entscheidung. Wenn Organisationen sich selbst beschreiben, können sie nur äußerst selektiv das aufgreifen, was tatsächlich gleichzeitig oder sequentiell im System geschieht. Selbstbeschreibung bedeutet daher auch immer Selbstsimplifikation, beispielsweise durch Fokussierung bestimmter Sinngebungen, Verdrängungen in den Bereich des Latenten oder auch durch Unterspezifikation von Zielen.28 Die Intransparenz bzw. Opazität der Gesamtheit der Entscheidungsoperationen einer Organisation für sich selbst wird durch ihre Selbstbeschreibungstexte lediglich verdeckt, aber nicht beseitigt. Die Organisation wird infolge der Selektivität ihrer textförmigen Reflexion für sich selbst zugleich erhellt und verdunkelt. Selbstbeschreibungen gestalten Texte nach Art des „Wir sind…“ oder „Hier wird…“ und/oder unter Verwendung des Eigennamens („ABC-Gymnasium“, „Zahnarztpraxis Dr. X“ usw.). Abstrakter formuliert, referieren Selbstbeschreibungstexte immer auf ein und dieselbe Invariante, nämlich auf dasselbe „Selbst“ und stellen damit sicher, dass, bei aller Flexibilität der Darstellungsmöglichkeiten, die Organisation ihre Identitätsreflexionen ausprägen und bewahren kann. Auch bei stark veränderten und häufig wechselnden Selbstbeschreibungen bleibt die Identität eines Organisationssystems (als Orientierungsmarke für immer neue Bestimmungen und als Bezugspunkt der System/Umwelt-Differenz mit entsprechenden Selbst- und Fremdreferenzen) solange die Organisation existiert, natürlich immer konstant.29 Denn die Organisation ist in ihrer Geschichte in verschie27
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Cornelia Bohn hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Textbegriff durch die Bindung an die Differenz schriftlich/mündlich nicht alle kommunikativen Darstellungsmöglichkeiten erfasst, während sich der Begriff der „Repräsentation“ zusätzlich auch auf bildliche Kommunikation beziehen lässt, siehe Bohn 2006, 50, 196ff. Vgl. Luhmann 1987e, 75; 2000b, 417ff.; Buskote 2004, 97f. Zum Beispiel hat ein (inzwischen zerschlagenes) großes deutsches Unternehmen Ende des letzten Jahrhunderts gezeigt, wie man sich innerhalb weniger Jahre vom „Röhrenproduzent“ zum „Mobilfunkhersteller“ wandeln kann. Aber die Firma Mannesmann konnte sich in dieser Zeit trotzdem immer als die Firma Mannesmann identifizieren. Das Beispiel illustriert, dass Organisationen nicht allein durch ihre Ziele definiert werden können. Ein Wechseln der obersten Organisationszwecke ist möglich, ohne dass dadurch der Fortbestand der Organisation riskiert würde (Blau 1961, 193ff.). Allerdings wird die Alternative „Liquidation und Neugründung“ wahrscheinlicher, wenn der primäre funktionssystemspezifische Bezug gewechselt werden soll, so dass es beispielsweise „(…) selten vorkommen wird, daß ein System von der Fürsorge für verwaiste Kinder zum Betrieb einer Erdbeerplantage übergeht (…)“ (Luhmann 1973, 212).
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denen Zuständen dieselbe Organisation30 – so die Formel des grundlegenden Transformationsparadoxes, es sei denn, die Organisation ‚stirbt‘ und verliert ihre Identität, beispielsweise durch Fusion, feindliche Übernahme oder Zerschlagung oder durch Auflösung aufgrund eigener Entscheidung (typische letzte Worte: „Wir sind pleite und schließen den Betrieb!“). Die Änderbarkeit von Selbstbeschreibungen endet logischerweise immer genau dann, wenn sich eine Organisation durch Aufhebung der Intern-/Extern-Differenz nicht mehr wiedererkennt, die Abgrenzung fremden Organisierens nicht mehr gelingt und ein Identitätswechsel vollzogen wird. Wie gestaltet sich das Verhältnis der organisationalen Strukturen der Selbstbeschreibung zu den Strukturen der Entscheidungsprämissen? In „Organisation und Entscheidung“ beschreibt Niklas Luhmann diese Beziehung in der Weise, dass im Unterschied zu Entscheidungsprämissen, die aufbewahren, „(…) was im Entscheidungsprozess eventuell benötigt wird (…)“(Luhmann 2000b, 421), die Funktion der Selbstbeschreibung in der Identitätsbildung und Wiedererkennung der Organisation liegt: „Umso weniger macht es Sinn, Selbstbeschreibungen als direktive Texte aufzufassen“ (Luhmann ebd.). Allerdings findet sich in der daran anschließenden Organisationssoziologie auch ein modifizierender Vorschlag von David Seidl, der neben einer ersten, „integrativen Funktion“, die er als zentral beschreibt, eine zweite, „operative Funktion“ von Selbstbeschreibungen in dem Sinne erkennt, dass Selbstbeschreibungen, etwa in Form von Organisationszielen, als Direktiven wirken können (Seidl 2005, 81f.). Zu dieser zweiten, operativen Funktion führt Seidl aus: „This second function is probably less central as it can be served to some extent by the ‚normal’ decision premises.” (Seidl 2005, 81). Damit würde jedoch wohl der funktionale Unterschied zwischen Selbstbeschreibungen und Entscheidungsprämissen unklar werden. Luhmann betont mehrfach, dass es bei Selbstbeschreibungen um Strukturen geht, die sich mit nur vagen und generalisierenden Angaben auf die Organisation als Einheit beziehen, und nicht um Prämissen, die weitere Entscheidungen anleiten können (Luhmann 2000b, 421f.). Organisationale Selbstbeschreibungen dienen dazu, eine „offizielle Gedenkkultur“ (Lachmann 1990, 10) zu produzieren: Die sich selbst beschreibende Organisation erzählt eine Geschichte über sich selbst, die erzählbar ist, die also problemlos auch öffentlich kommuniziert werden kann.31 Solche beschreibenden 30
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Ebenso vereinigt die Organisation in einem Zustand bzw. in einem Moment Identität und Verschiedenheit in sich. Siehe dazu grundsätzlich Whitehead 1969; Glanville 1988a. Renate Lachmann beschreibt ein Gegeneinander von „individuellen Schreibhandlungen“ und „(…) verordneten Gedächtnishandlungen, die die offizielle Gedenkkultur erlaubt“ (Lachmann 1990, 10). Luhmann knüpft an diese Unterscheidung an, indem er die Selbstbeschreibung als „öffentlich erzählbare Systemgeschichte“ kennzeichnet (Luhmann 2000b, 421ff.).
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2. Reform und Akzeptanz
Reflexionen erscheinen nur insofern operationsleitend, als dass sie das Systemgedächtnis mit ausreichender Konsistenz versorgen. Für zukünftige Entscheidungen wird sichergestellt, dass jeder Gebrauch von Selbstreferenz sich auf etwas bezieht, was man ausführlich erläutern kann. Die Selbstbeschreibung versetzt die Organisation also in die Lage, das darstellen zu können, was man sich unter dem eigenen System vorzustellen hat. Die Betonung des Retrospektiven der Selbstbeschreibung bei Niklas Luhmann und der in neuerer Zeit vorgebrachte Modifizierungsvorschlag, eine zu Entscheidungsprämissen äquivalente, direktive Funktion der organisationalen Selbstbeschreibungen zu erkennen, erinnert an eine systemtheoretische Diskussion, die das durch Luhmann innerhalb der Wissenssoziologie und der soziologischen Evolutionstheorie eingeführte und geprägte Verständnis der Beziehungen von Sozialstruktur und Semantik – ein begrifflicher und forschungsprogrammatischer Import aus der Begriffsgeschichte – zum Gegenstand hatte.32 Denn die theoretischen Problemstellungen der Semantik/Sozialstruktur-Differenz bezüglich der begrifflichen Unterscheidbarkeit und des evolutionären Verhältnisses sind bei der Unterscheidung von Selbstbeschreibung und Prämisse analog gelagert: In beiden Fällen handelt es sich um Strukturen eines sozialen Systems und in beiden Fällen wird in der Theorie Luhmanns das evolutionäre Verhältnis dieser Strukturen so beschrieben, dass eine evolutionäre Nachträglichkeit auf der Seite der Semantiken bzw. der Selbstbeschreibungen im Sinne einer retrospektiven textlichen Sinngebung hervorgehoben wird. Wie ist die Semantik/Sozialstruktur-Unterscheidung begrifflich konzipiert? Semantiken werden als in der Sprache kondensierte Sinnfestlegungen von Worten, Namen, Begriffen, Aussagen, Erzählungen usw. beschrieben, die in der Kommunikation als bewahrenswert anerkannt, für Wiederholungen bereitgehalten und in jeweils anderen Situationen konfirmiert werden.33 Indem Semantiken einen Vorrat von Unterscheidungen zur Verfügung stellen, ermöglichen und regeln sie die Beobachtung und Beschreibung sozialer Systeme.34 Hingegen findet sich sozialstrukturelle Kommunikation dort, „where communication just happens“ (Luhmann 2000a, 195), bzw. in „(…) den operativ in alltäglichen Prozessen der Kommunikation tatsächlich gehandhabten Unterscheidungen (…)“ 32
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Siehe zur Diskussion der Luhmannschen Beschreibung der Semantik/Sozialstruktur-Differenz Stäheli 1997; 1998; 2000; Stichweh 1998; 2000; Göbel 2000b; Schützeichel 2003 und zur Konzeption der Begriffsgeschichte Koselleck 1979. Vgl. Luhmann 1995f; 1992; 1997a. Luhmann scheint den Begriff der Semantik auf den Bereich der „gepflegten” bzw. „bewahrenswerten” Semantik zu beschränken í im Unterschied zu Konzeptionen, die auch populäre oder revolutionäre Semantiken einbeziehen (Stichweh 2000, 240). Semantik kann auch über Systemgrenzen hinweg transferiert werden, so dass das politische System zwar nicht erziehen kann, aber „Erziehung“ politisch (wie sonst?) zum Thema machen kann. Siehe dazu Tacke 2005, 175.
2.1 Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform
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(Stichweh 1998, 75). Insbesondere anhand nonverbaler Kommunikation lässt sich der so beschriebene Unterschied zu Semantiken verdeutlichen – man denke beispielsweise an einen Schusswechsel zwischen zwei befeindeten Panzern im Rahmen militärischer Kommunikation (Dammann 2003), die Geldübergabe beim Kauf eines Brötchens, den Beifall nach dem Trompetensolo oder den Kuss der Liebenden. In seiner Forschung zur Ko-Evolution von Semantik und Sozialstruktur beschreibt Luhmann zumeist eine indirekte Anpassung der Semantik an sozialstrukturelle Entwicklungen:35 Zunächst muss eine neue Gestalt der Sozialstruktur etabliert sein, bevor die Semantik diese auf angemessene Weise und in konsolidierter Form widerspiegeln kann. Semantiken sind demnach in erster Linie die Ergebnisse sozialstruktureller Evolution: Da die Semantik einleuchten muss, also darauf angewiesen ist, die Sozialstruktur plausibel oder evident zu beschreiben, gerät sie im Falle einer Transformation der Sozialstruktur unter Anpassungsdruck und vollzieht den sozialstrukturellen Wandel nach.36 Allerdings finden sich historisch auch Situationen, in denen semantische Strukturen als „variety pool“, z. B. in Form eines „preadaptive advance“, ein Unterscheidungs-Repertoire als Vorleistung für neue soziale Möglichkeiten bereitstellen und sozialstrukturelle Innovationen vorbereiten und begleiten.37 Niklas Luhmann unterscheidet an dieser Stelle „semantische Experimente“, die zur Etablierung neuer Sozialstrukturen vorbereitendes Material beitragen können, von sozialstrukturell bedingten „semantischen Erfordernissen“ (Luhmann 1990e, 710). Explizit zukunftsbezogen sind Semantiken ja schon allein dadurch, dass die Identifizierung und Selbstbeobachtung von Systemen durch Semantiken gesteuert wird: Semantiken stellen Orientierungsmarken bereit, so zum Beispiel als Leitdifferenzen für die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen der Gesellschaft wie Politik, Recht, Wirtschaft, Massenmedien, Kunst, Familie, Tourismus oder Religion.38 Dieses evolutionäre Verhältnis einer vorlaufenden Rolle der Semantik wird in den wissenssoziologischen Studien Luhmanns zwar auch dargelegt und genauer untersucht (Luhmann 1983). Aber in Luhmanns wissens35 36
37 38
Siehe hierzu ausführlich Luhmann 1980; 1981a; 1981b; 1983; 1995a, 1997a. Vgl. Luhmann 1980, 22; 1997a, 538ff., 546ff., 556, 891. Andreas Göbel bezeichnet die von Niklas Luhmann hiermit formulierte Anforderung einer adäquaten Systemreflexion, die die operative Realität des Systems möglichst umfassend abdecken soll, als „heimlichen Normativismus“ der wissenssoziologischen Systemtheorie, vgl. Göbel 2000b, 160f. Aber Luhmann stellt selbst klar, dass es ihm bei seiner Rede von „semantischer Schlechtanpassung“ bzw. von „Anpassungsverzögerungen“ der Semantik an sozialstrukturelle Veränderungen um Beobachtungen zweiter Ordnung geht: „Daß eine Anpassung wünschenswert sei, ist damit in keiner Weise behauptet“ (Luhmann 1997a, 1044 (Fn. 290)). Siehe dazu auch Luhmann 1988a, 184 (Fn. 21). Siehe dazu Luhmann 1981a; 1997a; 1987b; Stichweh 1999; 2000a. Siehe etwa Luhmann 1987e; 1987b; Bohn 2006; Stichweh 1998; Göbel 2000b.
38
2. Reform und Akzeptanz
soziologischem Werk scheint insgesamt das Verständnis zu dominieren, dass in der evolutionären Beziehung zur Sozialstruktur eine reagierende Nachträglichkeit der Semantik überwiegt. In den vergangenen Jahren ist die Triftigkeit der Annahme einer sich hauptsächlich nachträglich an Sozialstrukturen anpassenden Semantik mehrfach in Frage gestellt worden (Stäheli 1998; Stichweh 2000a; Schützeichel 2003). Inzwischen ist die Unterscheidung von Sozialstruktur und Semantik in einer Weise präzisiert worden, die das Verhältnis dieser beiden Typen sozialer Strukturen flexibler organisiert und diese stimmiger in das Theoriegebäude der modernen Systemtheorie einfügt: Semantische Strukturen beschreiben mögliche Sozialstrukturen und begleiten diese in der Evolution sozialer Systeme sowohl konstitutiv wie auch antizipativ und rekonstruktiv (Stichweh 2000a; Bohn 2006). Das systemtheoretische Verständnis von Semantik gewinnt darüber hinaus deutlich an Profil, wenn man dem Vorschlag folgt, Semantiken als Strukturen zu verstehen, die ihre situationsübergreifenden Sinnfestlegungen (vorübergehend) nicht als kognitives oder normatives Erwarten stilisiert haben (Stichweh 2000a, Dammann 2003). Welche Beschreibungsmöglichkeiten ergeben sich, wenn man diese präzisierenden Überlegungen zum Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur auf den Fall der Organisation und die Beziehungen von Selbstbeschreibungen und Entscheidungsprämissen appliziert? Wie oben skizziert, konzipiert Luhmann mit der gleichen Argumentationsfigur wie bei der Unterscheidung von Sozialstruktur und Semantik die Texte der Selbstbeschreibung systemtypenübergreifend als primär vergangenheitsorientiert:39 „Das System kann seiner eigenen Geschichtlichkeit nicht entrinnen (…)“ (Luhmann 1997a, 883), denn Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen „(…) müssen voraussetzen, daß das System schon vorliegt, sind also nie konstitutive, sondern immer nachträgliche Operationen, die es mit einem bereits hochselektiv formierten Gedächtnis zu tun haben“ (Luhmann ebd.). Dementsprechend heißt es auch in Bezug auf das Gesellschaftssystem, dass dieses auf zwei Ebenen begriffen werden kann, nämlich „(…) sozialstrukturell in der Form ihrer Differenzierung in Subsysteme und semantisch in den Formen, in denen sie darauf durch Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung reagiert“ (Luhmann 1987g, 73). Im Fall der Organisation gewinnt die Selbstbeschreibung ihr Material aus den immer bereits in der Vergangenheit liegenden Beobachtungen von Entscheidungsereignissen. Da diese Selbstbeobachtung kontinuierlich abläuft und in jedem Moment neu ist, kann die Selbstbeschreibung die vergangenen Beobachtungen niemals einholen (Luhmann 2000b, 441.). Die Selbstbeschreibung repro39
Es fällt auf, dass die Begriffe „Semantik“ und „Selbstbeschreibung“ bei Luhmann an vielen Stellen schon fast synonyme Verwendung finden, vgl. Stäheli 1998, 326.
2.1 Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform
39
duziert und renoviert das Systemgedächtnis, sie erzählt in stark simplifizierender Form die eigene Systemgeschichte, die aber durch neue Vergangenheiten immer wieder der „redescription“ bedarf (Luhmann 2000b, 442f.). Es wird nun aber an vielen Stellen in der systemtheoretischen Literatur deutlich, dass Selbstbeschreibungen nicht nur die Organisationsvergangenheiten aufbereiten, sondern dass ein Organisationssystem auch solche Texte erzeugt und in seine Selbstbeschreibung aufnimmt, die das System in der Zukunft beschreiben. So heißt es dann etwa: „Im Falle von Planung wird diese Selbstbeschreibung an der Zukunft orientiert“ (Luhmann 1984, 637). Beschreibungen der Zukunft werden allgemein im Modus von Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten formuliert und Entscheidungen können hinsichtlich vorteilhafter und nachteiliger Folgen, also als Risiken, thematisiert werden.40 Wenn Beschreibungen der Zukunft in Selbstbeschreibungen aufgenommen werden, so lassen sich diese als „Orientierungsfaktor“ nutzen, etwa als „unklare Zielsetzung“ (Luhmann 1987e, 77). Solche unklaren Zielsetzungen werden oft in Form einer öffentlich erzählbaren Darstellung der Zukunft der Organisation verwendet, für deren Anfertigung neben der hierarchischen Spitze heutzutage in vielen Organisationen die auf Öffentlichkeitsarbeit spezialisierten Stellen zuständig sind (Kieserling 2004, 240f.). Basierend auf der eigenen Systemgeschichte werden etwa bei der oft massenmedial beobachteten Darstellung von Bilanzen und Aussichten börsennotierter Unternehmen zukunftsgerichtete Texte für Selbstbeschreibungen formuliert („Unser Unternehmen wird im nächsten Jahr Marktführer sein“). Solche generalisierenden Zukunftsbeschreibungen fungieren mangels Spezifizierung aber eben nicht als eine zukünftiges Entscheiden steuernde Prämisse im Sinne einer Zweckprogrammierung, sondern werden für eine nach außen gerichtete Grenzstellenkommunikation bzw. für System-SystemKommunikation41 verfasst. Intern geben derartige Ankündigungen nur vage Hinweise auf den Möglichkeitsraum eines zukünftigen Gesamtzustands der Organisation. Weitere Zentren für die Anfertigung von ‚zukunftsweisenden‘ Selbstbeschreibungen sind Stellen, die für eine organisationsinterne Beratung zuständig sind. Diese reflektieren Probleme der eigenen Organisation und erstel40 41
Siehe dazu ausführlich Luhmann 1991a; 2006, 140ff. Zum Begriff der Grenzstelle siehe Luhmann 1964a, 220ff.; Tacke 1997b. Organisationen sind ein Sonderfall sozialer Systeme insofern, als sie der einzige Systemtyp sind, der in der Lage ist, mit Systemen in seiner Umwelt zu kommunizieren, vgl. Luhmann 1997a, 834; 2000c, 241f. Und dies am liebsten mit anderen Organisationen: „Bürokratien lieben Bürokratien oder setzen sie in ihrer Umwelt voraus“ (Luhmann 1988b, 289). Die Grenzstellen der Organisation treten dabei oft in interaktioneller Form mit anderen Systemen in Kontakt (Luhmann 2000b, 210); es bildet sich für die System-System-Kommunikation in diesem Fällen also ein drittes System, das man als Dritt-, Kontakt- bzw. Zwischensystem bezeichnen kann. Siehe dazu Luhmann 1964a, 226ff.; 1969, 75ff.; Fuchs 1999, 93ff.; Treutner 1994, 218.
40
2. Reform und Akzeptanz
len Texte, wie in Zukunft besser organisiert werden könnte. Die übrigen Stellen der Organisation können dann bei der Präsentation der modifizierten Selbstbeschreibung wie ein Publikum behandelt werden (Kieserling 2004, 239). Ein weiteres Beispiel für die Zukunftsorientierung von Selbstbeschreibungen sind Organisationen, die sich selbst als innovationsstark beschreiben und die Positivwertung von Innovation als „Vorablegitimation“ für immer neue Versuche des Innovierens einsetzen (Luhmann 2000b, 440). Doch „(…) die vorbehaltlos positive Bewertung von Innovation gilt nur auf der Ebene der Selbstbeschreibung, nicht auf der Ebene der Realität struktureller Änderungen und durchgeführter bzw. blockierter Reformen“ (Luhmann 2000b, 439f.). Nun sind Reformen geradezu Paradebeispiele dafür, dass Selbstbeschreibungen in die Zukunft ausgreifen können. Damit ist natürlich keine vorgreifende Gestaltung der zukünftigen Organisation gemeint, denn „(…) die Zukunft ist und bleibt, wenn auch verplant, unbekannt“ (Luhmann 2000b, 231).42 Aber durch Reform können Organisationen sich selbst als zukünftig bessere Organisation in Aussicht (vor-)stellen. Es geht somit bei Reform um eine Strukturveränderungen antizipierende Selbstbeschreibung. Für ihre Reformen werden Organisationen oftmals kreativ und entwerfen Texte, die die möglichen Strukturen einer schönen Zukunft des eigenen Organisierens beschreiben. (Brunsson 1993b). Eine Organisation, die ein Reformkonzept in ihre Selbstbeschreibung integriert hat, kann sich dann damit begnügen „(…) auf einer verbal abgehobenen Ebene Akzente zu setzen (…)“ (Luhmann 2002b, 245). Man verzichtet einfach auf den Versuch, die Reformideen zu ‚implementieren‘. Dies hat den Vorteil, dass das System im Rahmen der gewohnten Strukturen in Ruhe weiter entscheiden und reformbedingte Turbulenzen vermeiden kann. In diesem Fall verkümmern die Reformabsichten im Laufe der Zeit. Die Reform wird dann irgendwann zu einer „Art Ruine des guten Willens“ (Luhmann 2002a, 181). Alternativ kann sich das System dafür entscheiden, sein Konzept einer zukünftig verbesserten Organisation in Entscheidungen über die Veränderung von Entscheidungsprämissen zu übersetzen. Entscheidungen über Entscheidungsprämissen werden in der Systemtheorie als „Planung“ bezeichnet (Luhmann 2000b). Durch Planung können Organisationen verschiedene Typen von Entscheidungsprämissen aufeinander abstimmen und die Beziehungen von Programmen, Personal und Kommunikationswegen ordnen. Sofern mit Entschei42
Im Rahmen der „prescriptions for a self-designing organization“ verdienen Ziele und Pläne nur „minimal faith“ (Hedberg/Nystrom/Starbuck 1976). Diese auf der Annahme des Unbekanntseins der Zukunft ruhende Einsicht findet man – im Unterschied zu den Planbarkeitsvorstellungen der abendländischen Tradition – seit ungefähr 2500 Jahren in chinesischen Kriegsstrategien. Siehe dazu ausführlich Jullien 1999.
2.1 Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform
41
dungen über Entscheidungsprämissen an Reformideen angeschlossen wird, lassen sich Reformen auch als „Formen der Veränderungsplanung“ beschreiben (Luhmann 2002b, 244). Die Besonderheit einer Reform ist dann darin zu sehen, dass sie im Unterschied zu herkömmlichen Planungen eine Zustandsverbesserung der gesamten Organisation explizit in Aussicht stellt. Als Veränderungsplanung sind Reformen nur in und durch Organisationen möglich (Luhmann 2002b, 244ff.). Man mag sich „Chancengleichheit im Erziehungssystem“ wünschen und dann feststellen, dass das Erziehungssystem sich nicht selbst zu einem besseren System erziehen kann. Reformdiskurse beziehen sich in ihrem Sprachgebrauch zwar oft auf Funktionssysteme (zum Beispiel als „Strafrechtsreform“) oder als politische Utopie auf die gesamte Gesellschaft (als Beschreibung der „Gesellschaft von morgen“).43 Aber da weder die Gesellschaft noch deren Funktionssysteme adressierbar (Wer genau ist ‚die Wirtschaft‘?) sondern nur Personen und Organisationen ‚ansprechbar‘ bzw. im eigenen Namen kommunikationsfähig sind,44 und auch Änderungsintentionen in Bezug auf Personen nach dem üblichen Sprachgebrauch nicht als ‚persönliche Reform‘ beschrieben werden,45 bleiben als Empfänger der Botschaften von Reformdiskursen nur Organisationen übrig. Wer auch immer in einem Reformdiskurs gemeint ist – für Reform benötigt man Organisation. Ein zweiter und im wahrsten Sinne des Wortes entscheidender Gesichtspunkt neben der Adressabilität ist aber, dass über Reformen nur in Organisationen entschieden werden kann, also nur Organisationen reformfähig sind und eine Organisation auch nur sich selbst reformieren kann (Luhmann 2002b, 244ff.). Damit wird nun eine theoretische Entscheidung noch einmal deutlich hervorgehoben, die bisher eher stillschweigend im Text mitgeführt wurde: Mit „Reform“ soll soziologisch ein Strukturwandel bezeichnet werden, der sich exklusiv auf Organisationen bezieht. Ein wichtiger Aspekt einer Selbstbeschreibung, die (sich) die Einheit des Systems in der Zukunft vorstellt, ist bislang noch nicht angesprochen worden. Im Vergleich zur Anfertigung einer offiziellen Systemgeschichte ist eine Organisation bei der Beschreibung des künftigen Selbst relativ frei von der eigenen Vergangenheit. Insbesondere durch Reformvorhaben kann eine Organisation sich signalisieren, dass sie sich von ihren vergangenen Zuständen lösen möchte. Die Beschreibung der Zukunft mit Hilfe von Reform bietet die Möglichkeit, sich als 43
44 45
Siehe statt vieler die Sammlung von Beiträgen zu verschiedenen Reformdiskursen in Zimmermann 2003. Vgl. Luhmann 2000c, 241f. In Organisationen werden ‚Personalreformen‘ oft im Zusammenhang mit den Themen „Vergütungsstrukturen“, „Leistungsanreize“ und „Fortbildung“ diskutiert. Das Auswechseln des Personals, das vor allem in Spitzenpositionen oft zu starken Strukturbrüchen, führt, wird hingegen nicht als „Reform“ bezeichnet. Vgl. Luhmann 1962b.
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2. Reform und Akzeptanz
Organisation neu zu erfinden. Dieses Neuerfinden muss eine reformierende Organisation aber nicht neu erfinden. Das Schema „Reform“ steht jeder Organisation zur Verfügung und Spezifizierungen des Schemas in Form unterscheidbarer ‚Reformmodelle‘ finden sich in Hülle und Fülle. Eine Organisation kann für ihr Reformieren also auf Sinnangebote fremder Systeme zurückgreifen. Während für die Produktion einer offiziellen Gedenkkultur vor allem die laufende Selbstbeobachtung des Systems ausgesiebt wird, kann das Textmaterial für Beschreibungen der zukünftigen Organisation auch aus Fremdbeobachtungen gewonnen werden. Die Projektion der eigenen Zukunft kann eigene und fremde Sinnangebote nutzen. Darin liegt die Freiheit des Neuerfindens gegenüber dem Erzählen der Systemmemoiren. Die Organisation kann in Bezug auf ihre künftigen Strukturen wählen, ob sie in der Selbstbeschreibung an eigene Strukturen unverändert anschließen möchte oder ihr das Organisationskonzept fremder Systeme besser gefällt. Wenn eine Organisation ihren aktuellen Zustand problematisiert und sich mit Hilfe von Reform verbessern möchte, dann kann sie also selbst Lösungen für ihre Probleme erfinden oder die Problemlösungen von anderen Systemen aufgreifen und imitieren. Außerdem kann man sich an innovativen Vorschlägen für einen umfassenden Strukturwandel orientieren, die noch niemand getestet hat, die aber als Erfolgsrezept für die Gestaltung der eigenen Zukunft plausibel klingen. Die Beschreibungen, die reformierende Organisationen für ihre Zukunftsentwürfe nutzen, können somit nach ihrer ‚Herkunft‘ unterschieden werden: Die Genese der Sinnangebote, die als Reformideen verstanden werden, kann eine Organisation sich selbst oder anderen Systemen zuschreiben. Bei einer exogenen Zurechnung erscheinen Konzepte für Reformen aber oft nicht nur als erfolgreiche Modelle bestimmter fremder Organisationen, sondern als ein von individualisierbaren Organisationen abgelöster Kommunikationszusammenhang. Eine solche Verselbständigung der Thematisierung von Reform gegenüber dem Reformieren von Organisationen lässt sich als „Diskurs“ beobachten. Diskurse können soziologisch als Systeme einer semantischen Produktion begriffen werden,46 die sich evolutionär mit anderen Systemen strukturell koppeln und diese mittels ihrer Semantik irritieren können (Stichweh 2000b, 242f.).47 In den 46
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Ich verwende den Diskursbegriff also nicht im Foucaultschen Sinne, sondern schließe an die systemtheoretisch eingebettete Begriffsfassung von Stichweh 2000b an, der Diskurse als semantische Systeme beschreibt. Alternativ schlägt Bora 1999, 164ff. vor, Diskurse und Diskursformationen nicht als Systeme, sondern als interne strukturelle Differenzierung sozialer Systeme zu verstehen. In Bezug auf die Unterscheidung von Struktur und Semantik funktionaler Differenzierung beschreiben Tacke/Wagner 2005, 130, dass sich Semantiken verselbständigen können, „(…) sie andererseits aber kein strukturlos flottierendes, beliebig anschlussfähiges und kontextfrei ver-
2.1 Organisationale Strukturen als Bezugspunkte von Reform
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Beziehungen von Diskursen zu den Sozialstrukturen, die die diskursiven Ordnungen als ihr Thema gewählt haben, können zwei verschiedene Wege beschritten werden: Diskurse können sich einerseits immer weiter verselbständigen und sich selbstgenügsam in erster Linie mit den eigenen Beiträgen beschäftigen. Im Fall von Reform werden dann die Reformideen ohne Rücksicht auf das Entscheidungsgeschehen in Organisationen immer weiter fortgesponnen und von den spezifischen Selbstbeschreibungen und Entscheidungsprämissen individueller Organisationen zunehmend entkoppelt.48 Andererseits können die von Diskursen erzeugten Unterscheidungen zu einem bestimmten Zeitpunkt in sozialstrukturelle Kommunikation übersetzt werden und diese semantisch anleiten. Diskurse, die auf diese Weise soziale Systeme instruieren und neue Strukturen konstituieren, werden als „Dispositive“ bezeichnet.49 Solche Transmissionen im Verhältnis von Diskursen und den von diesen angesprochenen Organisationen finden bei Reformideen häufig statt: Die Thematisierung von Reform erscheint zunächst oft als ‚rein theoretische‘ und in publizierter Form geführte Diskussion zur Frage, wie Organisationen das Organisieren verbessern können. Solche Reformdiskurse entwerfen Konzepte der zukünftigen Zustände von Organisationen und der dafür erforderlichen zukünftigen Strukturänderungen, die – gänzlich unabhängig von den historisch variablen, individuellen Zuständen der unzähligen Einzelorganisationen – für alle Organisationen oder nur bestimmten Organisationstypen (Unternehmen, Verwaltungen etc.) eine schöne neue Welt des Organisierens versprechen. Reformmodelle unterscheiden dabei eine positiv bewertete Zukunft von einer negativ bewerteten Gegenwart der Organisation. Auf der Zukunftsseite werden erstrebenswerte Zustände, verwirklichte Ideale, erfüllte Prinzipien, Anforderungen und Ansprüche sowie Lösungen für Probleme des Organisierens dargestellt, während die Gegenwartsseite der Reformkommunikation das Bild einer aktuell hässlichen und problematischen Lage zeichnet (Brunsson/Olsen 1993a; Brunsson 2006). Das Ziel der durch Reformvorschläge auszulösenden Steuerungsversuche kann dann als Anpassung an Ideen oder als Anpassung an Realitäten ausgewiesen werden (Luhmann 2000b, 336).
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ständliches Sinnmaterial sind (…)“. Hinsichtlich der Struktureffekte durch semantische Irritationen spricht Veronika Tacke im Kontext des Beispiels der „lernenden Organisation“ davon, dass die Bedeutung des Einübens einer neuen Semantik auch darin liegen kann, „(…) einen ‚structural drift’ in der Organisation auszulösen (…)“ (Tacke 2005, 182). In der kommunikativen Praxis von Unternehmen spricht man hier von „Ankündigungseffekten“. Diesen Fall beschreibt Vollmer 2002, 44ff. am Beispiel des Verwaltungsreformdiskurses der 1990er Jahre. Siehe zum Dispositivbegriff ausführlich Foucault 1978, 119ff und zu den daran anschließenden systemtheoretischen Beschreibungen Stichweh 2000b und Bohn 2006.
44
2. Reform und Akzeptanz
In der neo-institutionalistisch angeleiteten Organisationssoziologie wird die Überführung der Ideen eines Reformdiskurses in die Entscheidung, sich selbst nach Anleitung diskursiver Sinnangebote zu reformieren, als eine Auswahl aus den verschiedenen Reformkonzepten verschiedener Diskurse beschrieben: „The norms and arguments in the discourse help to explain which reforms are chosen by individual organizations; they may serve as an important inspiration for reformers who are designing a new reform, and they can determine which of several reform proposals is accepted by an organization” (Brunsson 1998, 270).
Die hier genutzte Unterscheidung von Diskurs und Reform wird in Theorien der Organisation leider oft ausgespart. „Reform“ wird dann im Wechsel zur Bezeichnung einer oder beider Seiten dieser Unterscheidung verwendet, so dass im Unklaren bleibt, welche Texte von Reform begrifflich ein- und ausgeschlossen werden und wer sich die beschriebenen Reformideen eigentlich ausgedacht hat. Es bietet sich also an, Reform und Reformdiskurse zu unterscheiden. Die Entscheidung, sich zu reformieren, ist immer eine Entscheidung der reformierenden Organisation. Aber die Ideen der Reform kann die reformierende Organisation sich selbst oder anderen zurechnen. Im Fall der Fremdzurechnung von Reformvorschlägen können sich Organisationen auf individualisierte andere Organisationen beziehen oder auf „Reformmodelle“, die sich als Diskurs von spezifischen Organisationen entkoppelt haben. Die Unterscheidung von Reform und Reformdiskurs ist nun nicht nur in organisationaler Kommunikation zu beobachten, sondern auch in Reformdiskursen. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der Verwaltungsreformdiskurs „Neues Steuerungsmodell“, der als Ideengeber für das eigene Reformkonzept sowohl die Organisation „Stadt Tilburg“ als auch den Diskurs „Tilburger Modell“ beschreibt – allerdings ohne diese Unterscheidung theoretisch zu reflektieren: „(…) the main features of the new steering model are based to a large extent on experiences of the Dutch city of Tilburg. (…) the implementing communes made the experience that the opportunities to transfer reform elements from the Tilburg model to the Neues Steuerungsmodell are rather limited (…). In fact, the Tilburg model was used more as a supplier of reform ideas than a source for direct transfers. However, we have to state that local government reforms in Germany have been influenced to a great deal from managerial reforms in the Netherlands, particularly at Tilburg” (Reichard 1997, 66, Hervorhebungen auch im Original).
Die Zurechnung einer Reform als fremder Idee ändert aber nichts daran, dass immer nur die Organisation selbst entscheidet, ob sie sich durch eine Reformidee
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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instruieren lässt. Insofern sind in der soziologischen Fremdbeobachtung die Reformideen, für die sich eine Organisation entscheidet, immer eigene Erzeugnisse dieser Organisation, und zwar ganz unabhängig davon, ob es sich aus Sicht der reformierenden Organisation um fremde oder eigene Ideen handelt. Das bedeutet in umgekehrter Richtung: Organisationen, die nicht sich selbst, sondern andere Organisationen reformieren möchten – zum Beispiel Schulministerien, die Schulreformen konzipieren oder politikwissenschaftliche Lehrstühle, die Reformen von Regierungen fordern, produzieren Reformdiskurse – aber keine Reformen. Ob an die Texte, die als Diskurs Vorschläge für eine Reform beschreiben, mit Reform angeschlossen wird oder nicht, bestimmen nur die von dem Diskurs adressierten Organisationen. 2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action Den organisationsinternen Vorgang, dass eine Reform von einer „bloßen“ Beschreibung eines möglichen künftigen Zustands der Organisation in Entscheidungsprämissen übersetzt wird, kann man auch mit Hilfe der Differenzierung von „Talk“, „Decision“ und „Action“ rekonstruieren.50 Diese in der neoinstitutionalistischen Organisationssoziologie ausgearbeitete Dreiteilung knüpft an ältere, zweiteilige Reformulierungen der philosophischen Dyade „Wort“ und „Tat“51 in den Sozialwissenschaften an: so etwa an das politologische Beobachtungsschema von „symbolischer“ und „substantieller“ Politik (Edelman 1971) sowie an die Soziologie der Ambiguität organisationaler Umwelten52 und ihrer 50
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Vgl. Brunsson 1986; 1989. In neuerer Zeit substituiert Brunsson an vielen Stellen die Trias „Talk“, „Decision“ und „Action“ durch die Unterscheidungen von „Say“, „Want“ und „Do“ (Brunsson 2006). Man kann im Hinblick auf Brunssons gesellschaftstheoretisches Forschungsprogramm vermuten, dass die Say-, Want- und Do-Differenz der neo-institutionalistischen Theorie mehr Generalisierungspotential im Vergleich zur organisationssoziologisch geprägten Talk-, Decision- und Action-Unterscheidung bietet. Allerdings sprechen aus systemtheoretischer Perspektive zwei Punkte gegen die Übernahme dieser Reformulierung: Zum einen hat sich die Unterscheidung von Talk, Decision und Action im Laufe von zwei Jahrzehnten nunmehr fest im Begriffsarsenal der Organisationssoziologie etabliert, und es ist nicht erkennbar, für welche zusätzlichen Erkenntnisgewinne die begrifflichen Alternativen Say, Want und Do in dieser Disziplin fruchtbar gemacht werden könnten. Zum anderen erscheint die bei Brunsson oft sozialpsychologisch anmutende „Want“-Komponente für die moderne soziologische Systemtheorie und ihrer scharfen Trennung des sozialen und psychischen Geschehens im Vergleich zu „Decision“ als deutlich schwieriger adaptierbar. Brunssons Terminologie ist generell in den letzten zwei Jahrzehnten recht uneinheitlich, was Brunsson auch selber reflektiert (vgl. Brunsson 2007a, 11). Zur Analyse der Formel „Wort-Tat“ bei Homer siehe ausführlich Barck 1976. Siehe z. B. March 1976; Meyer/Rowan 1977; Weick 1976; Pfeffer/Salancik 1977, 18ff. Zu den frühen organisationssoziologischen Beschreibungen des „dilemma of expression versus action“
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2. Reform und Akzeptanz
Beschreibung der Entkopplung bzw. losen Kopplung der durch rationale Mythen geprägten „Formalstruktur“ von den „Aktivitätsstrukturen“ des Organisierens. Letztere bezieht sich auf Inkonsistenzen zwischen „Werten“ und „Verhalten“ einer Organisation bzw. auf das Abkoppeln der auf Mythen rationalen Entscheidens basierenden und damit insbesondere für die oberflächliche Außendarstellung verwendbaren Fassade der Organisation von dem ‚tatsächlichen‘ organisationalen Handeln und dem ‚tiefer liegenden‘ Geschehen im ‚betrieblichen Inneren‘ der Organisation. Talk, Decision und Action werden in theoretischen und methodischen Programmen zumeist in der Sachdimension hinsichtlich ihrer losen oder festen Kopplung mit einem devianzsoziologischen Interesse analysiert und im Fall der inhaltlichen Entkopplung unter Titeln wie „hypocrisy“, „double standards“ oder „double talk“ zusammenfassend beobachtet. Der Fokus des soziologischen Erkenntnisinteresses richtet sich also auf mögliche sachliche Inkonsistenzen im Binnenverhältnis dieser Differenzen. Dabei wird Inkonsistenz als Lösungsmöglichkeit für den organisationalen Umgang mit dem Problem widersprüchlicher Erwartungen an die Entscheidungsproduktion betrachtet. Diese funktionale Beobachtung organisationaler Heuchelei wird häufig auf die Unterscheidung von Talk und Action zugespitzt. Dabei wird die wechselseitige Blindheit der beiden Unterscheidungsseiten füreinander hervorgehoben, weil diese bei Unstimmigkeit von Talk und Action dafür sorgt, dass Talk und Action jeweils für sich stimmig erscheinen können: „Talk achieves clarity by ignoring the complications of specific contexts. (…) Action achieves clarity by ignoring its implications for contradictory beliefs. (…) As a result, some things that are easily said are not easily done. Other things can be easily done but not easily said“ (March 1994, 198).
Ich werde die für Reformen zentrale Frage nach der Beobachtung von Diskrepanzen oder Konvergenzen in den Interrelationen der Trias Talk, Decision und Action später wieder aufgreifen. Im Folgenden konzentriere ich mich zunächst auf die Frage, welche Entscheidungsoperationen und Organisationsstrukturen durch die Differenz von Talk, Decision und Action in einem systemtheoretischen Rahmen unterschieden werden können.
(Goffman 1959, 20ff.) im Kontext widersprüchlicher Erwartungen organisationaler Umwelten siehe Perrow 1961; Etzioni 1961, 72; Luhmann 1964a, 305, 110, 239ff.; Thompson 1967.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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2.2.1 Die Einbettung des Schemas Talk, Decision und Action in die Systemtheorie Die Talk-, Decision-, Action-Unterscheidung wurde nach den einschlägigen Veröffentlichungen Brunssons rasch von der soziologischen Systemtheorie Bielefelder Prägung übernommen und hat sich dort seit den 1990er Jahren zunehmend als Begriffsimport etabliert. Neben der einfachen, intuitiv verständlichen Begrifflichkeit im Rahmen einer soziologisch ansetzenden Organisationstheorie und den häufigen Bezugnahmen im Schrifttum Niklas Luhmanns mag ein weiterer Grund für die schnelle und erfolgreiche Verbreitung der Unterscheidungen von Talk, Decision und Action in der systemtheoretischen Organisationssoziologie darin zu sehen sein, dass sich dieses dreiteilige Schema über den „Decision“Begriff im Vergleich zu der älteren zweiteiligen Unterscheidung von symbolischen und faktischen organisationalen Aktivitätsstrukturen einfacher in den auf Entscheidungen basierenden Organisationsbegriff der Systemtheorie einarbeiten lässt.53 Zwar findet sich bei Jeffrey Pfeffer Anfang der 1980er eine Formulierung, die der Dreiteilung Brunssons bereits nahe kommt: „The symbols and perceptions of reality once created and socially shared and institutionalized can become a basis on which decisions are made and actions are taken“ (Pfeffer 1981, 34). Doch bei Pfeffer erscheinen „Decisions“ an mehreren Stellen nur implizit als dritte Komponente, er bleibt den vorangegangen Arbeiten von Edelman oder Meyer/Rowan verhaftet und unterscheidet mit „symbolic action“ und „substantive action“ letztendlich lediglich zwei organisationstheoretisch relevante Analyseebenen (Pfeffer 1981). Erst in Brunssons Arbeiten werden im Laufe der 1980er Jahre Entscheiden und Handeln im Rahmen der Beschreibung unterschiedlicher Anforderungen an Entscheidungsrationalität und Handlungsrationalität begrifflich stärker entkoppelt und theoretisch deutlich voneinander unterschieden. Zum einen wird nun organisationstheoretisch klar, dass „Decision“ und „Action“ nicht (wie in Theorien rationaler Entscheidungsprozesse) zusammenfallen: Organisationales „Handeln“ impliziert nicht zwangsläufig eine inhaltlich entsprechende Entscheidung54 und „Entscheiden“ kann in einer funktionalen Betrachtung auch ganz andere Probleme des Organisierens í wie etwa die Beschaffung von Legitimation oder Motivation í bearbeiten als nur die bestmögliche Auswahl einer Handlungsalternative aus der Vielzahl aller möglichen Hand-
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Zum letztgenannten Punkt siehe Tacke 2003, 77. Zumindest in den frühen Arbeiten Brunssons zur Irrationalität von Organisationen erkennt Niklas Luhmann hingegen den Vorschlag, von Entscheidungstheorie zur Handlungstheorie zurückzugehen, vgl. Luhmann 1988b, 288 (Fn. 22). Siehe dazu ausführlich auch Luhmann 1981d, 337, der darauf hinweist, dass organisationalen Entscheidungskomplexen ein „Punkt-für-Punkt-Korrelat im Handeln fehlt“.
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2. Reform und Akzeptanz
lungen nach Maßgabe von Präferenzen (Brunsson 1989, 175ff.).55 Zum anderen bringt Brunsson die bereits in den 1970er Jahren in der Theorie organisationaler Ambiguität verdeutlichte Einsicht, dass ein zweckrationaler Entscheidungsstil den Weg zu einem greifbaren Output erschweren kann (March/Olsen 1976; March 1976), mit der (seinerzeit) provokanten und zuspitzenden Formulierung auf den Punkt, dass Handlungsrationalität Entscheidungsirrationalität verlangt (Brunsson 1982; 1989, 17). Die Einbettung der Unterscheidungen von Talk, Decision und Action in die Systemtheorie wird nun grundsätzlich dadurch erleichtert, dass die neoinstitutionalistische Organisationssoziologie in der Version von Nils Brunsson mit der zentralen Unterscheidung von Organisation (System) und Umwelt arbeitet und Organisieren als einen Entscheidungsprozess versteht, der sich auf den Umgang mit Unsicherheit bezieht; außerdem beschreibt sich diese neoinstitutionalistische Organisationstheorie selbst als eine nicht-normative, distanzierte Theorie, die Organisationen aus einer externen Perspektive reflektiert, die also explizit den Unterschied von Selbst- und Fremdbeschreibung berücksichtigt, und sie betrachtet – wie die systemtheoretisch angeleitete Organisationstheorie – das Modell der zweckrational gesteuerten Hierarchie als unzureichende Beschreibung von Organisation.56 Erschwert wird die Überführung der Unterscheidung von Talk, Decision und Action in die Systemtheorie durch die auf Einfachheit bedachte neoinstitutionalistische Theoriebildung.57 Nach Art einer Reflexionstheorie58 simplifizieren sich die Beiträge des Neuen Institutionalismus oft selbst, indem sie sich stark an die Selbstbeschreibungssprache von Organisationen anlehnen.59 Im Unterschied zur Theorie sozialer Systeme, die Kommunikation als die elementare Einheit der Konstitution sozialer Systeme auffasst,60 wird die neoinstitutionalistische Organisationstheorie dementsprechend auch als Handlungstheorie ausformuliert: Es geht um „decision-making“ inklusive des Nachdenkens über die richtige Entscheidung61 und nicht um Entscheidungskommunikation. Und so wird an vielen Stellen auch die für die moderne soziologische System55
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Zur anschließenden Brunsson-Rezeption in den frühen 1990er Jahren siehe Meyer 1990; Carter 1992; Tacke/Hiller 1993. Vgl. Brunsson 1985; 1989; 1990; 2007a; Brunsson/Olsen 1993a. Insofern kann der Neo-Institutionalismus nach Maßgabe der „Theorie-Uhr“ von Weick 1985, 54ff. als allgemeine und einfache „Zwei-Uhr-Forschung“ betrachtet werden, wie Tacke 1999, 76 aufzeigt. Zum Begriff der Reflexionstheorie siehe Luhmann 1984, 620. Zu diesem grundsätzlichen Unterschied zwischen Systemtheorie und neo-institutionalistischer Theorie siehe ausführlich Tacke 1999. Luhmann 1984, 191ff. „Decision-making“ und „ideologies“ sind für Brunsson etwa „two aspects of organizations´ thinking“, vgl. Brunsson 1982, 42.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
49
theorie so wichtige Abgrenzung von Psychischem und Sozialem nicht verdeutlicht: Die Ideen und Mythen der Organisation können bei Brunsson sowohl als „Talk“ als auch als „Thoughts“ und als gedachte, gesprochene oder geschriebene „Beliefs“ auftreten, also in mentalen und kommunikativen Operationen vorkommen (Brunsson 1989, 168). In der soziologischen Systemtheorie werden hingegen Entscheidungen einer Organisation – dies sollte bereits deutlich geworden sein – nicht als Bewusstseinsleistung der an Organisation teilnehmenden Individuen beobachtet (Luhmann 1993a, 305ff.). Organisationale Entscheidungen sind vielmehr als rein kommunikative Ereignisse zu verstehen, die in Form eines organisierenden Kommunikationssystems miteinander verknüpft werden. Eine Kompatibilität der Unterscheidungen von Talk, Decision und Action mit dem Organisationsbegriff der Theorie sozialer Systeme ist freilich bereits mit dem Argument abgestritten worden, dass die mit diesen Begriffen verbundene Revision des Rationalitätsbegriffs „auf einer scharfen Trennung zwischen Handeln und Entscheiden beruht“, während demgegenüber die Systemtheorie das Entscheiden als die einzige spezifische Operationsweise von Organisationen beschreibt, aber die „meisten relevanten organisatorischen Probleme“ sich „jenseits der Entscheidung“ stellen würden und diese „sich nicht oder nur zu hohen Preisen auf Entscheidung reduzieren“ ließen (Becker/Küpper/Ortmann 1988, 106). Dieser Einwand vermag jedoch nicht zu überzeugen, denn es geht bei der behaupteten Inkompatibilität der beiden Theorien lediglich um Unterschiede, die sich aus der Wahl von kommunikations- und handlungstheoretischen Begrifflichkeiten und auch aus der unterschiedlichen Konzeption und Tragweite des Entscheidungsbegriffs ergeben, nicht aber í wie oben skizziert í um schwierig vereinbare theoretische Ausgangsannahmen und auch nicht um ein grundlegend verschiedenartiges Verständnis der von der Organisationssoziologie zu beschreibenden Probleme des Organisierens.62 In seiner Brunsson-Rezeption hebt Niklas Luhmann ja gerade auch die große Bedeutung des in den Forschungen Brunssons herausgearbeiteten Unterschieds von Entscheidungsrationalität und Handlungsrationalität für die soziologische Entscheidungs- und Motivationstheorie hervor: „Wichtig erscheinen mir vor allem die Hinweise auf ein Spannungsverhältnis zwischen rationaler Entscheidungsanalyse und der Motivation, sich für ein entsprechendes Handeln wirklich einzusetzen“ (Luhmann 1988b, 288 (Fn. 22)). In der modernen Systemtheorie wird bekanntermaßen grundbegrifflich auf andere Weise zwischen Entscheiden und Handeln unterschieden als in der neoinstitutionalistischen Theorie: Entscheiden ist immer als Entscheidungskommunikation zu verstehen, und diese findet in vernetzter Form in dem darauf spezialisierten Kommunikationssystem „Organisation“ statt. Und wie alle anderen 62
So – bezogen auf das „Verständnis von Handlung(s-) und Entscheidung(srationalität)“ bei Brunsson und Luhmann – im Ergebnis auch Dammann 1994, 146f.
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2. Reform und Akzeptanz
Kommunikationssysteme auch, erfasst die Organisation ihre Kommunikationsoperationen in einer Sprache des Handelns: Soziale Systeme beobachten und beschreiben sich selbst als handelnde Systeme.63 Insofern ist für die systemtheoretische Organisationssoziologie „Entscheiden“ das elementare Moment der Selbstkonstitution und „Handeln“ das elementare Moment der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung von Organisation. Der mögliche Einwand, es gebe in Organisationen in einem großen Umfang ein ‚entscheidungsloses‘ organisationales Handeln, so dass „Entscheidungskommunikation“ nicht allein die spezifische, Organisationen konstituierende Operation sein könne, lässt sich leicht entkräften: Die Routinisierung, Technisierung und Automatisierung von Entscheidungen führt nicht zur Aufgabe der Anforderung, dass über das organisationale Geschehen jederzeit situationsadäquat entschieden werden muss (Tacke/Hiller 1993, 11; Luhmann 2000b, 376). Stets ist eine Aufmerksamkeit (Selbstbeobachtung) hinsichtlich der Entscheidung gefragt, ob das Handeln bzw. die Technik noch auf Grundlage der Entscheidungsprämissen operiert oder eine nicht mehr tolerierbare Abweichung oder Störung vorliegt. Was ist, wenn die Roboter in der Produktionsstraße die Marmelade nicht mehr in die Marmeladengläser einfüllen, sondern daneben zielen und daneben treffen? Dann muss in der Fabrik entschieden werden, ob im Hinblick auf ein Einfüllen der Konfitüre, das dem der Produktionsstraße zugrundeliegenden Entscheidungsprogramm gerecht werden soll, bis zur erfolgreichen Reparatur eine Pause gemacht oder wieder manuelle Geschicklichkeit eingesetzt wird oder die Roboter erst einmal weiter kleckern dürfen. 2.2.2 Brunssons Konzeption von Talk, Decision und Action Wie ist die Unterscheidung von Talk, Decision und Action bei Brunsson konzipiert? Ausgangspunkt ist die Problembeschreibung, dass Organisationen mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert werden, die sich aus einer Differenz von Produktion und Akzeptanz ergeben. Von Organisationen wird einerseits erwartet, dass sie Güter und Dienstleistungen auf Grundlage der Koordination der Entscheidungen und Handlungen von Organisationsmitgliedern in besonders effizienter Weise herstellen; andererseits müssen Organisationen mit sehr unterschiedlichen Erwartungen umgehen, etwa in Bezug auf die Fragen, welche (materiellen) Outputs produziert werden und wie Produktionsprozesse gestaltet sein sollen, so dass es entweder schwierig wird, produktiv zu sein, oder schwierig wird, in einer widersprüchlichen Organisationsumwelt akzeptiert zu werden 63
Siehe dazu ausführlich Luhmann 1984, 225ff.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
51
(Pfeffer 1981; Brunsson 1986; 1989, 2ff.; Ortmann 2004, 116). Diese Schwierigkeiten lassen sich an zwei idealtypischen, bipolar konstruierten Organisationsmodellen verdeutlichen, nämlich der „action organization“ und der „political organization“.64 Die „action organization“ tut, was sie sagt: Talk, Decision und Action stimmen inhaltlich überein und sind eng miteinander gekoppelt. Durch Talk und Decisions wird Action initiiert, vorbereitet, motiviert, geplant und koordiniert (Brunsson 1996, 132). Die „action organization“ erzeugt nur ein Produkt oder nur wenige Produkte in einer hochgradig spezialisierten Nische und muss daher nur auf einen sehr begrenzten Ausschnitt von Umwelterwartungen Rücksicht nehmen. Sie konzentriert sich darauf, ein zielorientiertes Instrument zu sein, Inputs (Ressourcen) zu beschaffen und auf effiziente Weise materielle Outputs („physical products“) zu erzeugen, indem sie irrational und lösungsorientiert entscheidet: Nur eine oder nur sehr wenige Handlungsalternativen werden im Entscheidungsprozess berücksichtigt, ausschließlich positive Effekte des Handelns werden beschrieben und Ziele und Präferenzen werden am Ende des Produktionsprozesses an das vorherige Handeln und Geschehen angepasst bzw. erst nach dem Produktionsprozess formuliert. Die gelingende Reflektion des Redens und Entscheidens in der Produktion basiert zudem auf „starken Ideologien“ (gemeinsame, handlungsmotivierende Wertvorstellungen der Organisationsmitglieder), der Abwesenheit bzw. der Unterdrückung von Konflikten und dem Vertrauen, ‚genau das Richtige zu tun‘. Im Gegensatz dazu reflektiert die „political organization“ inkonsistente Umwelterwartungen, interessiert sich insbesondere für „unlösbare“ Probleme und spezialisiert sich auf die Erfassung und Darstellung einer möglichst umfassenden Vielheit und Verschiedenheit von Ideologien, Zielen und Werten. Sie pflegt eine dauerhafte Konfliktkommunikation, engagiert sich in intellektuellen Analysen und Diskussionen und etabliert eine Kultur des Misstrauens und der Skepsis. Das Organisieren einer „political organization“ entspricht zu großen Teilen den Normen einer Theorie rationalen Entscheidens: Sie formuliert explizit und ex ante Zielsetzungen und Probleme, berücksichtigt möglichst viele Ideen und Entscheidungsalternativen im Rahmen einer sorgfältigen Abwägung und versucht in umfassender Weise, die möglichen positiven und negativen Folgen verschiedener Handlungen zu antizipieren. Insofern hat dieser Idealtypus große Schwierigkeiten, materielle Produkte zu generieren; ihr Output in die Umwelt besteht im gesprochenen oder schriftlichen „Talk“ oder in der Anfertigung und 64
Siehe Brunsson 1989, 13ff.; 1985, 164f.; 1986, 169; Hanft 2000, 18. Brunsson holt mit dieser Unterscheidung die ältere neo-institutionalistische Differenz von „technisch“ und „institutionell“ aus der Umwelt (so der ursprüngliche Ansatz von Scott/Meyer 1983, den Brunsson inhaltlich aufgreift) zurück in die Organisation.
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2. Reform und Akzeptanz
Darstellung (verbindlicher) Entscheidungen. Der „political organization“ gelingt es durch bloßes Reden und Entscheiden, sehr verschiedene und inkonsistente Erwartungen und Forderungen zu befriedigen. Sie erreicht diese Erwartungserfüllung auf effiziente Weise, denn die Alternative zu der Erzeugung einer organisationalen Dekoration aus Gerede und Beschlüssen wäre es, eine Vielzahl unterschiedlichster Erwartungen durch die Herstellung einer Vielzahl unterschiedlichster Produkte zu erfüllen. Die Reflektion und Erfüllung inkonsistenter Erwartungen durch die „political organization“ führen dazu, dass Talk, Decision und Action der Organisation ebenfalls inkonsistent werden und nur lose gekoppelt sind.65 Organisationen organisieren sich nun ‚empirisch‘66 als Mischungen und Kombinationen der beiden Idealtypen der „action organization“ und der „political organization“. Denn die meisten Organisationstypen beobachten ihre Organisationsumwelten in der Weise, dass ‚von außen‘ auf der einen Seite sowohl rationale Entscheidungsprozesse als auch deren Präsentation und Nachvollziehbarkeit und auf der anderen Seite sowohl Ergebnisse in Form greifbarer Dienstleistungen und Produkte als auch deren effiziente Herstellung erwartet werden.67 Dadurch ergibt sich ein Bedarf für organisierte Heuchelei:68 Organisationen entwerfen für sich einen Mythos des zweckrationalen Entscheidens, präsentieren diesen als ihre Fassade und entkoppeln diese Oberfläche vom Produktionsprozess, um sich für das Entscheidungsgeschehen im Inneren die notwendigen Freiheiten zu verschaffen, die zu verbindlichen Entscheidungen und materiellen Outputs führen (Meyer/Rowan 1977; Kühl 2007). Die Organisation muss also
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Neuerdings spricht Brunsson davon, dass im Fall organisationaler Scheinheiligkeit Talk, Decision und Action nicht entkoppelt und auch nicht nur lose gekoppelt wären, sondern in einer Weise gekoppelt sind, die von der gewöhnlich erwartenden Kopplung abweicht (Brunsson 2002a, XIV). Diese Neuformulierung bietet m. E. keine Vorteile, da die Aussage, dass eine (nicht durch Brunssons Scheinheiligkeitstheorie aufgeklärte) Erwartungen enttäuschende Interdependenzunterbrechung und Rekombination der Interdependenzen von Talk, Decision und Action möglich ist, auch durch die beiden älteren Formulierungen deutlich wird. In dieser Arbeit wird die übliche Unterscheidung wissenschaftlichen Beobachtens mit Hilfe des Duals von Theorie und Empirie durch die Differenz von Theorie und Methoden ersetzt. Zu den erkenntnistheoretischen Argumenten für diese Entscheidung siehe Kapitel 4. Siehe Brunsson 1989; Brunsson/Olsen 1993a; Japp 1993. Brunsson nennt freilich bestimmte Organisationskategorien, die den Idealtypen nahe kommen: So entsprechen z. B. Volksvertretungen ebenso weitgehend dem Bild der „political organization“ wie Fabriken der „action organization“, vgl. Brunsson 1989, 32. March und Weick verwenden den Hypocrisy-Begriff im Kontext organisationalen Wandels bereits in den 1970er Jahren, vgl. March 1976, 78ff.; Weick 1977, 207ff. Weick spricht in dieser Zeit auch schon von „organizational talk“ – allerdings nicht im Kontext der Scheinheiligkeit von Organisationen, sondern in Bezug auf ihre Schwatzhaftigkeit („garrulity“), vgl. Weick 1977, 194ff.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
53
scheinheilig69 sein, um in Ruhe arbeiten und zu Ergebnissen kommen zu können; sie muss Talk herstellen, um zu Action in der Lage zu sein. Wenn also die Anforderungen der organisationalen Umwelt nicht mit den Anforderungen des Produktionsprozesses übereinstimmen, dann ist zu erwarten, dass die Organisation zwei Versionen von sich anfertigt í eine für die äußere Präsentation und eine für den internen Gebrauch: Die Welt der Ideen und die Welt der Praxis, und beide Seiten kompensieren wechselseitig die Schwächen der jeweils anderen Seite (Brunsson/Olsen 1993a; Brunsson 1989). Diese nach Selbst- und Fremdreferenz unterschiedene Zweiseitigkeit wirkt sich in dieser Theorie nun auf „structures“, „processes“ und „ideologies“ der Organisation aus: Die zwei Seiten der „structures“ zeigen sich etwa im Unterschied der offiziellen, hierarchischen Organisationsgliederung und den tatsächlich benutzten Kommunikationswegen oder im Unterschied der anzuwendenden (rechtlichen) Vorschriften und der brauchbaren Illegalität der faktischen Entscheidungsprämissen. „Processes“ können zum einen zu Produkten und Dienstleistungen führen, zum anderen aber reine „Rituale“ zur Demonstration organisationaler Rationalität sein. Letzteres geschieht etwa dann, wenn vor einer Investitionsentscheidung die im Wege einer umfangreichen Recherche gewonnenen Informationen nicht als Entscheidungskriterien genutzt werden, sondern „nur“ der Akzeptanzbeschaffung der Entscheidung im Verhältnis zur Umwelt der Organisation dienen. „Ideologies“ sind Ideen und Vorstellungen über das organisationale Sein und Sollen (Brunsson 1985; 2007a; Brunsson/Olsen 1993a). Die ‚janusköpfige‘ Zweiseitigkeit der Organisation kommt hier in Form der Doppelzüngigkeit, also als „double talk“, zum Vorschein, wenn für interne und externe Zwecke unterschiedliche Darstellungen gewählt werden. Allerdings verläuft die Grenzlinie zwiespältigen, widersprüchlichen Talks nicht notwendigerweise entlang der Grenze von Organisation und Umwelt: Talk kann auch innerhalb der Organisation inkonsistent sein, im Zeitverlauf oder durch Widersprüche zwischen verschiedenen organisationalen Stellen (Brunsson 1986; 1995). Wichtig für das Verständnis des Talk-Begriffes ist, dass organisationaler Talk zwei Funktionen besitzen kann: Erstens kann Talk im Sinne der Implementation einer Idee spätere Decisions und Actions vorbereiten. Zweitens kann Talk die Funktion haben, unterschiedliche Erwartungen der Umwelt und der Organisation zu erfüllen, und zwar unabhängig davon, ob inhaltlich entsprechende Decisions und/oder Actions erzeugt werden. Für die weitere begrifflichen Klärung der Unterscheidungen von Talk, Decision und Action erscheint eine systemtheoretisch präzisierende Interpretation der Begriffe „structures“ und „processes“ nun kaum hilfreich, denn die ver69
Aber nicht zynisch! Siehe dazu Brunsson 1992.
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2. Reform und Akzeptanz
streuten Umschreibungen und Beispiele Brunssons sind wenig trennscharf und würden im Verständnis der Systemtheorie wahrscheinlich sowohl Entscheidungen im operativen Sinne wie auch Strukturen, also Prämissen und Beschreibungen, umfassen. Dagegen kann das Konzept der „ideologies“ für die Klärung des Talk-Begriffs fruchtbar gemacht werden. Zwar leidet auch der Ideologie-Begriff Brunssons unter einer theoretisch unbefriedigenden Ansammlung von funktionalen, normativen und deskriptiven Elementen, doch bezieht Brunsson die Inhalte von „ideologies“ vor allem auf „goals“ und „routines“, also auf Aspekte der Entscheidungsprogrammierung, auf Kausalschemata (Brunsson 1985, 104ff.) und auf „values“ und „beliefs“ (Brunsson 1985, 178), also auf Organisationskultur.70 Talk beschreibt Brunsson unter anderem als eine Form ideologischen Outputs, sofern Talk die Funktion übernimmt, Erwartungen an die Organisationen nur auf symbolischer Ebene zu befriedigen, also Talk nicht mit entsprechenden Decisions und Actions korrespondiert.71 An dieser Beschreibung ist für eine systemtheoretische Reformulierung zunächst der zeitliche Aspekt wichtig: Talk wird als ein Ergebnis der organisationalen Ideologie (Entscheidungsprogramme und Organisationskultur) verstanden und damit zu etwas Nachträglichem gegenüber den Entscheidungsprämissen: Aber nicht nur die Ideologien werden durch Talk reflektiert, sondern auch Decision und Action der Vergangenheit. Brunsson verdeutlich an vielen Stellen,72 dass Talk, Decision und Action zwar im Sinne der rationalen Theorie in eben dieser zeitlichen Reihenfolge í erst Reden, dann Entscheiden und schließlich Handeln í auftreten können, aber eben nicht müssen, sondern sie in beliebig kombinierbarer Sequenz oder Synchronizität erscheinen können. Z. B. kann Talk das Entscheiden und Handeln der Organisation auch erst später nachvollziehen, interpretieren und rechtfertigen oder können Talk und Action gleichzeitig vollzogen werden, ohne dass eine inhaltlich entsprechende Decision erkennbar wäre. In der Zeitdimension kann Talk sich also ebenso auf Organisationszukünfte wie auf -vergangenheiten richten. Talk umfasst inhaltlich nicht nur Ideologien im Brunssonschen Sinne, sondern kann alle Aspekte der Organisation ansprechen, allerdings in erster Linie solche, mit denen man sich ‚sehen lassen kann‘. Es geht bei Talk vor allem um die Präsentation der Organisation í dies mitunter organisationsintern aber primär organisationsextern (Brunsson 1989, 26; 1995, 132). Intern wird Talk häufig zwischen verschiedenen 70
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„Auf ihre Letztkomponenten reduziert, findet man Organisationskultur in der Form von Werten (…)“ (Luhmann 2000b, 244). Auch Tacke/Hiller 1993 schärfen den Ideologie-Begriff Brunssons durch die Unterscheidung von Programm und Kultur. „One of the ideological outputs of organizations is talk“ (Brunsson 1989, 26). Siehe dazu ausführlicher auch Brunsson 1996, 132. Brunsson 1989, 101, 188f.; 1990, 56; 1995, 132; 2003, 202, 205, 209; 2006, 32; Brunsson/Olsen 1993b, 200.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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Hierarchieebenen eingesetzt, um spätere Entscheidungen vorzubereiten oder vorangegangene Entscheidungen zu erklären oder um Mitglieder zu motivieren, sich auch ohne programmierende Anweisung (Decision) in einer bestimmten Weise zu verhalten (Brunsson 2003, 202). Extern geht es bei Talk darum, der übrigen Welt die Organisation ‚von ihrer schönsten Seite‘ zu zeigen, und das impliziert zumeist, sich als funktionierende, zweckrational agierende Hierarchie darzustellen. Typischerweise bezieht sich Talk dementsprechend dann auch oft auf die öffentlich problemlos darstellbaren Ziele (als vielversprechende, allgemein positiv bewertete Zukünfte), vergangene Erfolge und gemeinhin anerkannte Werte, also eben das, was bei Brunsson zum Großteil die organisationale Ideologie kennzeichnet. Doch kann sich Talk auf alle Operationen und Strukturen einer Organisation richten, nicht nur auf Entscheidungsprogramme und Kultur (Werte), sondern auch, wie Brunsson insbesondere im Kontext von Reformen verdeutlicht, auf die Organisationsgröße, die Organisation der Kommunikationswege und ebenso auf das Personal. Insbesondere in der Außendarstellung kommt es auf die Präsentation eines Gesamtbildes der Organisation an (Brunsson 2006, 196, 212). Entscheidend bleibt dabei, dass Talk die „official opinion“ (Brunsson 2006, 169) der Organisation widerspiegelt und Erwartungen der Umwelt an den Zustand der Organisation berücksichtigt. Außerdem wird immer wieder die einfachere Änderbarkeit von Talk im Vergleich zu Decision und insbesondere im Vergleich zu Action hervorgehoben (Brunsson 2003, 213f.; 2006, 120, 203ff., 208), so dass sich von Talk über Decision zu Action ein ‚Steuerungsgefälle‘ ergibt. Talk fehlt organisationale Verbindlichkeit, und zwar unabhängig davon, ob der Inhalt schriftlich fixiert oder mündlich tradiert wurde.73 Systemtheoretisch bedeutet dies, dass Talk nicht als eine Entscheidungsprämisse behandelt werden kann, sondern sich von diesen gerade dadurch unterscheidet, dass es an der Signalisierung eines Geltungsanspruchs im Hinblick auf andere Entscheidungen mangelt. Decision zeichnet sich also im Vergleich zu Talk durch den Anspruch einer Verbindlichkeit für weiteres Entscheiden aus: „(…) decisions exist, in fact, to dramatize the idea that talk reflects action“ (Brunsson 2007c, 38). Decision kann das bekräftigen, was Talk ankündigt: Sie kann den Willen signalisieren, zukünftig zu handeln, und die Auswahl einer bestimmten Handlung darstellen (Brunsson 2003, 201). Damit kommt Decision eine Brückenfunktion zwischen Talk und Action zu: Decision kann zwischen der Welt der Ideen und der Welt des Handelns vermitteln, allerdings mit Schlagseite zum Talk, denn „(…) decisions belong more to the world of ideas than to the world of action“ (Brunsson 2007a, 10). Brunssons Theorie distanziert sich damit ein weiteres Mal 73
Talk können Texte jeglicher Art sein: Natürlich ‚redet‘ die Organisation nicht nur in mündlicher Form, der Talk-Begriff erfasst Rede bzw. Gerede auch in Form der Schrift (Brunsson 1989, 26).
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2. Reform und Akzeptanz
von dem Organisationsmodell der zweckrationalen Hierarchie, das annimmt, dass Entscheidungen das Organisationshandeln steuern und kontrollieren würden. Denn umgekehrt geht Brunsson davon aus, dass in vielen Fällen Action durch Decision nicht oder nur sehr schwierig zu steuern ist und die Transformation des Entscheidens in Handeln nicht gelingt bzw. nicht gelingen kann, denn „freedom lies in action“ (Brunsson 2006, 24; 1989, 71ff.). Im Vergleich zu Action sind Talk und Decision aus Sicht der Management- bzw. Grenzstellen einer Organisation leichter zu kontrollieren und damit auch leichter zu ändern – solange das Reden und Entscheiden der Organisation intern und/oder extern akzeptiert wird. Daher wird die Unterscheidung von Talk und Decision nicht als starke Unterscheidung konzipiert, sondern das Entscheiden von Organisationen als Spezialfall des Redens betrachtet.74 Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Entscheidungskonzepts ist, dass „Entscheiden“ nicht mit „Auswahl“ gleichzusetzen ist, sondern neben der Festlegung einer Möglichkeit auch auf ganz andere Weise zur Unsicherheitsregulierung der Organisation beiträgt. Nils Brunsson unterscheidet „four roles of decision“:75 Decision-Making kann erstens im Modus rationalen Entscheidens vollzogen werden, indem Entscheidungen zunächst eine Vielzahl möglicher Handlungsalternativen und eine Vielzahl der möglichen Konsequenzen dieser Alternativen präsentieren, die nach Abwägung von Bewertungen und Zukunftsszenarien zur Auswahl einer Möglichkeit führen können. Decision hat zweitens aber auch die Bedeutung, Verantwortung entstehen zu lassen, da Entscheiden immer auf Personen zugeschnitten wird und durch diese Zurechnung Organisationsmitglieder zu Verantwortungsträgern werden. Drittens besteht die Möglichkeit der Motivation zu einem bestimmten Tun durch Entscheidung. Action kann die Folge von Entscheidungen sein í ein wahrscheinliches Ergebnis insbesondere dann, wenn die Entscheidung auf Irrationalität beruht. Viertens kann Decision auch dazu dienen, der Organisation insgesamt oder einzelnen Entscheidungsperioden Legitimität zu verschaffen, insbesondere mit Blick auf Erwartungen der Umwelt. Decisions können im Verbund mit zeitlich vor- oder nachgelagertem Talk zur Akzeptanz schaffenden Innen- und Außendarstellung eingesetzt werden und im Falle organisationaler Heuchelei einen Mangel oder eine inhaltliche Abweichung im Action-Bereich der Organisation kompensieren. Den Begriff „Action“ konzipiert Brunsson durch eine Abgrenzung des Handelns zu psychischen und kommunikativen Vorgängen und der Unterscheidung von Ideen und Praxis einer Organisation: „The idea system defines what is handled in mental and communicative processes, and the action system what is handled in material processes“ (Brunsson 1989, 168). Action zeigt sich demnach 74 75
Brunsson 1989, 26; 2003, 201; 2007a, 10; Brunsson 2007c, 38. Vgl. Brunsson 1989; 1990.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
57
im Handeln der Organisationsmitglieder einschließlich der Handlungskoordination und mündet in materiellen Produkten der Organisation in Form von Gütern und Dienstleistungen. Action wird gleichgesetzt mit „Produktion“76 und in neuerer Zeit auch mit „Operation“.77 Im Verhältnis zu Talk und Decision lässt sich nun neben einem ‚Steuerungsgefälle‘ auch ein ‚Umweltgefälle‘ in den Beziehungen der Unterscheidungen der Talk-Decision-Action-Formel ausmachen: Talk und in geringerem Maße auch Decisions sind oft Darstellungen der Organisation bzw. Darstellungen (der Ergebnisse) spezifischer Entscheidungsperioden, die sich an die Öffentlichkeit richten und potenziell ein großes Publikum erreichen, während Action als interne Operationen der Organisationen typischerweise im Verborgenen bleibt und nur internen und externen ‚Insidern‘ bekannt ist oder als Output (Produkte und/oder Dienstleistungen) nur für einen exklusiven externen Publikumskreis (z. B. Staatsbürgern, Kundinnen oder Patienten) erfahrbar ist.78 2.2.3 Eine systemtheoretische Reformulierung von Talk, Decision und Action Wie können die Unterscheidungen der Talk-Decision-Action-Formel nun im Rahmen einer systemtheoretischen Organisationssoziologie reformuliert werden? Zunächst versteht sich wohl fast von selbst, dass es sich in der Perspektive der Systemtheorie bei Talk und Decision und Action jeweils um Entscheidungskommunikation handelt.79 Damit ist die Möglichkeit versperrt, Decision einfach als „Entscheidung“ zu beschreiben, da Decision dann zu Talk und Action unterschiedslos bliebe. Also muss die systemtheoretische Organisationssoziologie mit ihren Begriffen präzisieren, wodurch sich Talk-Entscheidungen, DecisionEntscheidungen und Action-Entscheidungen voneinander unterscheiden. Dabei darf die mitunter synonyme Verwendung der Begriffe „action“, „production“ und „operations“ bei Brunsson nicht zu der systemtheoretischen Interpretation verleiten, es ginge bei Action lediglich um die Produktion von Entscheidungsereignissen auf operativer Ebene. In der Systemtheorie ist heutzutage klar, dass ein 76 77 78
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Vgl. Brunsson 1989, 30. Siehe Brunsson 2006, 192, 197, 201. Siehe dazu ausführlich Brunsson 2003, 209; 2006, 196; Japp 1993; 1997; Hasse/Japp 1997; Hapke/Japp 2001; Brüsemeister 2002; Meier/Schimank 2002. So ganz deutlich auch Dammann 1994, 146f. Die Entscheidungskommunikation kann natürlich kausal mit Ereignissen außerhalb des sozialen Systems in Beziehung stehen, also mit den mentalen und materiellen Prozessen, die Brunsson in seiner Theorie mit berücksichtigen möchte und die ihm u. a. zur Abgrenzung von Action gegenüber Talk und Decision dient. Dementsprechend kommentiert Brunsson den Entscheidungsbegriff Luhmanns ablehnend mit der Bemerkung, dass dieser ihm zu umfassend erscheint, vgl. Brunsson 2007c, 39.
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2. Reform und Akzeptanz
Organisationssystem immer auf zwei Ebenen operiert, nämlich der Ebene der Produktion von Entscheidungsereignissen und der Verkettung dieser Entscheidungsereignisse auf struktureller Ebene: Ereignisse produzieren Strukturen und Strukturen dirigieren Ereignisse.80 Diese Hervorhebung des strukturellen Aspekts von Talk, Decision und Action entspricht auch dem Ansatz von Brunssons Theorie der „organization of hypocrisy“, insbesondere die Abweichungen der organisationalen Handlungsmuster von Darstellungsstrukturen der Organisation zu beschreiben.81 Zudem verweist Brunsson in seinen Analysen organisationaler Reformen immer wieder auf die Änderbarkeit von Talk, Decision und Action. Da gemäß des systemtheoretischen Verständnisses von Wandel jedoch nur Entscheidungsstrukturen geändert werden können, nicht aber ephemere Entscheidungsereignisse, kann dies nur bedeuten, dass Talk, Decision und Action die operative und strukturelle Ebene des Systems betreffen, also sowohl als basale Entscheidungen im Sinne operativer, für das System nicht weiter auflösbare Entscheidungskommunikation82 als auch als Strukturen der Entscheidungskommunikation aufzufassen sind. Bezüglich des Talk-Begriffs scheint nun deutlich, dass dieser viele Aspekte des systemtheoretischen Konzepts der organisationalen Selbstbeschreibung enthält83 und dadurch von Entscheidungsprämissen unterscheidbar wird: Talk bezieht sich auf die mündliche und schriftliche Beschreibung einer Organisation in der Zukunft oder Vergangenheit, entweder (als Selbstbeschreibung) auf die Organisation in ihrer Gesamtheit oder auf bestimmte organisationale Strukturen wie Ziele, Regeln, Kommunikationswege oder Werte, also auf ausgewählte Entscheidungsprämissen. Talk wird als offizielle Präsentation der eigenen Organisation insbesondere zur Außendarstellung oder auch in der Kommunikation zwischen verschiedenen Hierarchieebenen eingesetzt und entspricht damit dem systemtheoretischen Verständnis einer organisationalen Selbstbeschreibung, die auf die Anfertigung problemloser, konsensorientierter und (öffentlich) vorzeigbarer Texte gerichtet ist.
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Siehe Luhmann 1997a, 195 (Fn. 9) und – in Anlehnung an die Beschreibung der „doppelten Schließung“ von Systemen, die ihre Regulierung selbst regulieren (von Foerster 1984, 304ff.) – auch Luhmann 2000b, 229. Siehe dazu auch Japp 1993, 43; Hasse/Japp 1997, 144ff. Zum Begriff der „basalen Operationen“ siehe z. B. Luhmann 2008c, 169. Im Falle organisierter Sozialsysteme sind damit die „täglich durchlaufenden Entscheidungen“ (Luhmann 2008e, 20) gemeint. Im Kontext der Beschreibung von Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems spricht Luhmann davon, dass „(…) Selbstbeschreibungen nur Selbstbeschreibungen sind, nur ‚talk‘, und daß die Wirklichkeit der Unterrichtsinteraktionen durch andere Kräfte bestimmt wird“, vgl. Luhmann 2002a, 170.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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Talk kann gemäß Brunsson entlang der Unterscheidung entkoppelt/ gekoppelt zwei unterschiedliche Funktionen erfüllen: Erstens kann Talk externe oder interne Erwartungen bezüglich der Organisation reflektieren und befriedigen, ohne dass dies Konsequenzen für weitere, in der Sachdimension mit Talk konsistente Entscheidungen (Decision- und/oder Action-Entscheidungen) der Organisation haben muss.84 Zweitens kann Talk im Sinne der Einleitung, Vorbereitung und Begleitung der Implementation einer Idee anschließende weitere Entscheidungen motivieren oder im Sinne der Retrospektion und Interpretation frühere Entscheidungen neu beschreiben. Im ersten Fall ist Talk eine gegenüber Entscheidungsprämissen verselbständigte (entkoppelte) Struktur demonstrativer Entscheidungen, die Interdependenzen zwischen Texten der Selbstbeschreibung und Entscheidungsprämissen unterbricht und der Akzeptanzbeschaffung dient. Im zweiten Fall geht es um die konstitutive oder rekonstruktive Beschreibung von Entscheidungsprämissen der Organisation: Talk kann spätere Entscheidungsprämissen vorbereiten und diese semantisch instruieren oder nachträglich vorangegangene Entscheidungen reflektieren und in das Gedächtnis der Organisation aufnehmen. Ein weiteres Argument für die Unterscheidung von Talk und Entscheidungsprämissen ist die im Vergleich zu Decision und Action geringere Verbindlichkeit von Talk für weitere Entscheidungen. Bei Talk geht es um „Rhetorik“, „Selbstdarstellungen“, „Ankündigungen“, „Absichten“ oder „Analysephasen“. Hingegen beziehen sich Decision und Action auf „verbindliche Entscheidungen“ (Dammann 1994, 146) und „organisatorische Festlegung“ (Hapke/Japp 2001, 157; Japp 1997, 96), betreffen also den „professionellen Kern“ (Tacke 2005, 188) einer Organisation. Talk ist ebenso durch Vagheit und Generalisierbarkeit gekennzeichnet wie die Selbstbeschreibung einer Organisation. Im Unterschied zur Selbstbeschreibung kann Talk sich aber nicht nur simplifizierend auf die Organisation in ihrer Gesamtheit beziehen, sondern sich auch nur auf Ausschnitte der Organisation richten. Talk bedeutet demnach die Beschreibung einer möglichen Organisation bzw. die Beschreibung möglicher Entscheidungsprämissen. Talk kann Entscheidungsprämissen irritieren, muss dies aber nicht tun. 84
Hasse/Japp 1997, 157f. und daran anschließend Tacke 2005, 187 (Fn. 35) machen darauf aufmerksam, dass auch im Fall der Entkopplung von Talk und Action, Konsequenzen (Strukturwerte) sowohl für Talk-Entscheidungen wie auch Decision- und Action-Entscheidungen entstehen können, die zwar in Bezug zum markierten Talk zum selben Themenbereich gehören, aber dennoch im Sinne inhaltlicher Abweichung (Scheinheiligkeit) als entkoppelt beobachtet werden können. So etwa, wenn der umweltfreundliche Talk einer die Umwelt belastenden Fabrik, dazu führt, dass die Stelle eines Umweltbeauftragten eingerichtet wird, also Action erzeugt wird, und diese Stelle nur weiteren, durch den früheren Umwelt-Talk semantisch instruierten Talk produziert, aber in keiner Weise dazu beiträgt, dass die Fabrik die Umwelt weniger belastet.
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2. Reform und Akzeptanz
Wie können nun Decision-Entscheidungen von Talk-Entscheidungen und von Action-Entscheidungen mit Hilfe systemtheoretischer Termini abgegrenzt werden? Es ist bereits deutlich geworden, dass sich Decision und Action auf struktureller Ebene von Talk dadurch unterscheiden, dass diese als Entscheidungsprämissen fungieren, während die Talk-Strukturen auf einer davon abgehobenen Textebene mögliche Decisions und Action beschreiben. Insofern ist jetzt spezifischer zu klären, wie mit Hilfe einer Differenzierung von Entscheidungsprämissen Decision und Action zu markieren sind. Zunächst bleibt festzuhalten, dass Brunsson in seiner Begriffskonzeption die Nähe von Decision zu Talk und die Entfernung von Decision zu Action betont. Diesen im Vergleich zu Action engen Zusammenhang von Talk und Decision beschreibt í mit direktem Verweis auf Brunsson í auch Luhmann, indem er „die Ebene des Redens und der Entscheidungen“ der symbolischen Politik und der Ideenwelt zuordnet, während das, was im basalen Entscheidungsvollzug „tatsächlich geschieht“, zur Action-Seite gehört (Luhmann 2002a, 130f.). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Decision-Entscheidungen eine Brückenfunktion zwischen Talk und Action haben können, also die Beschreibung von Entscheidungsprämissen in den Vollzug von Entscheidungsprämissen übersetzen können. Der systemtheoretische Begriff, der sich damit zur Reformulierung des Decision-Begriffs aufdrängt, heißt „Planung“. Planung bedeutet im Verständnis der neueren Organisationssoziologie eine Entscheidung über Entscheidungsprämissen, die zur Koordination verschiedenartiger Entscheidungsprämissen zwingt (Luhmann 2000b, 230ff.). Im Sprachgebrauch von Organisationen wird Planung etwa dadurch als Kombination verschiedenartiger Prämissen sichtbar, dass solche Entscheidungen Antworten auf Fragenzusammenhänge wie „Wer macht was, wann, wo und wieso?“ geben sollen. Der Begriff der Planung wurde in der modernen Systemtheorie in den letzten Jahrzehnten mehrfach modifiziert: Zunächst bezog sich Planung nur auf Entscheidungen über Entscheidungsprogramme (Luhmann 1971, 76ff.), später heißt es zum einen, „(…) daß die Planung nur Prämissen für künftiges Verhalten festlegen kann, aber nicht dieses Verhalten selbst (…)“ (Luhmann 1984, 635) und zum anderen: „(…) Planung ist zunächst eine bestimmte Art der Anfertigung einer Selbstbeschreibung des Systems (…)“ (Luhmann 1984, 637). Diese Kennzeichnung von Planung als Selbstbeschreibung und als Prämissenfestlegung ist vor dem Hintergrund zu sehen, „(…) daß man Neuerungen nicht einfach einführen kann (…)“ (Luhmann 1984, 636 (Fn. 67)) und Planungen als zukunftsorientierte Selbstbeschreibungen verstanden werden (Luhmann 1984, 637). Legt man den aktuellen, vom Begriff der Selbstbeschreibung getrennten Planungsbegriff (Planung = Entscheidung über die Kombination verschiedenar-
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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tiger Entscheidungsprämissen) der Systemtheorie zugrunde, bedeuten diese Überlegungen mit anderen Worten: Eine Planung benötigt in vielen Fällen im Vorfeld einen Text (Talk), der genau diese Entscheidung ankündigt und vorbereitet. Mit der Vorbereitung von Planungsentscheidungen durch Talk85 wäre aber nur eine Möglichkeit der von Brunsson beschriebenen zeitlichen Verknüpfung von Talk („Prämissenbeschreibung“) und Decision genannt, denn Talk und Decision und Action sollen nicht auf eine bestimmte Sequenz festgelegt, sondern in der Zeit flexibel kombinierbar sein. Nun wird der Planungsbegriff in der Organisationstheorie seit den 1970er Jahren zeitlich nicht auf die Strukturierung zukünftiger Entscheidungen beschränkt,86 und auch in der Systemtheorie wird heutzutage das Retrospektive der Planung betont: „Planung ist weitgehend Bearbeitung der Memoiren des Systems“ (Luhmann 2006, 206). Damit ist gemeint, dass man organisations- und steuerungstheoretisch nicht die Planbarkeit der Zukunft, sondern die Begrenzung von Planungsmöglichkeiten durch Festlegungen der Vergangenheit und die für Planungen dementsprechend notwendigen Interpretationen der Systemgeschichte organisations- und steuerungstheoretisch hervorheben sollte.87 Brunsson kommt es dagegen auf die Aussage an, dass Decision-Entscheidungen erst nachträglich Action interpretieren und den Charakter des ‚Geplantgewesenseins‘ verleihen können. Sicherlich kann zwar ein ungeplant entstandener aktueller Zustand (im Zuge organisationaler Schönfärberei) dadurch als organisatorisch geplante Ordnung dargestellt werden, dass eine gegenwärtige Erinnerung der Organisation kontrafaktisch eine ‚nachträgliche Prämisse‘ konstruiert, die eine Mehrzahl von in der Vergangenheit liegenden Entscheidungen, die gar nicht an dieser gegenwärtig gewählten Prämisse der Vergangenheit orientiert waren und nicht orientiert gewesen sein konnten, als Prämisse dieser vergangenen Entscheidungen beschreibt. Aber dies ist Talk und
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Im üblichen organisationalen Sprachgebrauch verwendet Talk, der Zukunft beschreibt, oft das Wort „Plan“, ohne dass bereits geplant wurde: Wenn es zum Beispiel heißt „Wir planen im nächsten Jahr, die Energiekosten deutlich zu reduzieren“, wird man nicht unbedingt erwarten, dass bereits eine Entscheidung über einen Energiekostenreduktionsplan getroffen wurde. So etwa bereits in den 1970er Jahren besonders deutlich March 1976, 80: „(…) we need a modified view of planning. Planning in organizations has many virtues, but a plan can often be more effective as an interpretation of past decisions than as a program for future ones. It can be used as a part of the efforts of the organization to develop a new consistent theory of itself that incorporates the mix of recent actions into a moderately comprehensive structure of goals” Ähnlich formuliert auch Weick 1993, 364: „(…) action is decision-interpreted, not decisiondriven“ (Hervorhebung auch im Original). Siehe dazu auch sehr anschaulich am Beispiel der Ermessensausübung Feldman 1994. Siehe dazu etwa Luhmann 2000b, 231 oder Japp 1992, 16.
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2. Reform und Akzeptanz
nicht Planung.88 Wenn erinnerte Entscheidungen nachträglich so miteinander in Beziehung gesetzt werden, dass diese in der aktualisierenden Rückschau als geplant dargestellt werden können, so bedeutet das nicht, dass Entscheidungsprämissen in die Vergangenheit zurück wirken könnten. Entscheidungsprämissen sind Entscheidungen, die sich auf eine noch unbestimmte Mehrzahl weiterer Entscheidungen richten, und sie sind nur dann Prämissen, wenn sie von künftigen anderen Entscheidungen tatsächlich als solche benutzt werden. Eine Prämisse entsteht als Struktur immer nur durch Aktualisierung ihres Sinnes durch mehrere, spätere Entscheidungen. Die Definition der Entscheidungsprämisse verbietet es folglich, die Möglichkeit ‚nachträglicher Prämissen‘ in Betracht zu ziehen. Organisationaler Talk der Gegenwart mag frei erfinden, was eine Planung der Vergangenheit gewesen sein soll. Wenn man Decision systemtheoretisch als Entscheiden über die Kombination verschiedener Entscheidungsprämissen versteht, dann können Organisationen ihre Entscheidungsprämissen nicht für bereits vergangene Action beschließen. Die Überlegungen zu den temporalen Beziehungen von Talk, Decision und Action haben bereits verdeutlicht, dass es zur Unterscheidung von Decision und Action auf den Unterschied zwischen einer Entscheidung über Entscheidungsprämissen und dem basalem Entscheidungsvollzug ankommt. Zwischen Entscheidungsprämissen und den Entscheidungen in der Praxis des Entscheidungsprozesses besteht nur ein Verhältnis loser Kopplung. Der Begriff „lose Kopplung“ wird systemtheoretisch nun deutlich anders gefasst als in der Theorie organisationaler Scheinheiligkeit: Für die Systemtheorie ist lose Kopplung eine Grundbedingung jeden Organisierens,89 die keinesfalls exklusiv im Fall organisationaler Scheinheiligkeit zu beobachten ist. Auf abstrakterer theoretischer Ebene unterscheidet die soziologische Systemtheorie lose und feste bzw. strikte Kopplungen von Elementen mit Hilfe der Begriffe „Medium“ (lose Kopplung) und „Form“ (feste Kopplung): Eine feste Kopplung bezeichnet in der soziologischen Medium/Form-Theorie die ereignishafte Bindung kommunizierten Sinns durch die Wahl einer bestimmten Unterscheidung. Diese Festlegung verweist immer auf eine Vielzahl nicht aktualisierter Möglichkeiten, die im Moment nicht
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Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass dieser rekonstruierende Talk im Zeitverlauf wieder in Planung transformiert und damit zu Prämissen für zukünftige Entscheidungen werden kann. Siehe zu diesem Fall Weick 1993, 366. Siehe zur Unterscheidung „loose coupling vs. tight coupling“ in der sozialwissenschaftlichen System- und Organisationstheorie: Weick 1976; 1985; Orton/Weick 1990 und Luhmann 2000b; 1997d; 2002b; 2006. March und Simon verwenden den Ausdruck „loosely coupled“ bereits in den 1950er Jahren, um die Unabhängigkeit verschiedenartiger Handlungsprogramme in Organisationen hervorzuheben, vgl. March/Simon 1958, 169.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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gebunden werden, aber als weitere Verknüpfungen wählbar sind und damit als lose gekoppelter Zusammenhang beobachtet werden können.90 In der Organisationssoziologie wird die Unterscheidung loser und fester Kopplungen oft zur Beobachtung von Kausalkonstellationen und der Technisierung von Kommunikation eingesetzt: Während „lose Kopplung“ den Fall einer kausalen Indeterminiertheit beschreibt (Orton/Weick 1990, 206), meint „feste Kopplung“ in der systemtheoretischen Organisationssoziologie eine Technisierung der Beziehung von kausalen Elementen.91 Es geht bei Technik um eine beherrschte Kausalität, kausale Schließung, oder – nochmals anders formuliert – um Vereinfachungen im Medium der Kausalität anhand der Differenz von heil und kaputt.92 Gegenüber der festen Kopplung sozialer Operationen, durch die Kommunikation technisiert wird, indem die Kommunikation die möglichen Anschlüsse stark einschränkt, haben lose Kopplungen von Prämissen und Entscheidungspraxis die Vorteile, durchschlagende negative Effekte zu verhindern, Störungen zu lokalisieren oder Probleme zu insulieren (Luhmann 2006, 207). Eine feste Kopplung von Kausalrelationen zeichnet sich somit – sofern sie fehlerfrei ist – durch Zuverlässigkeit und Beherrschbarkeit aus, nicht aber, wie in der Scheinheiligkeitstheorie Brunssons, durch inhaltliche Konsistenz von Talk, Decision und Action. Lose Kopplung zwischen Entscheidungen über Entscheidungsprämissen und operativem Entscheiden bedeutet also, dass Planung nicht determiniert, wie künftig entschieden wird.93 Der Effekt von Planung besteht vielmehr darin, dass das Organisationssystem sich selbst irritiert. Die Irritation durch Entscheidung über Entscheidungsprämissen wird als Abweichung oder Neuerung im Vergleich zu den bestehenden Strukturen verstanden,94 sofort wieder vergessen oder – das ist der zu erwartende Fall, denn Planungsentscheidungen sind auffällige Ereignisse – in späteren Entscheidungen erinnert. Entscheidungsprämissen lassen es wahrscheinlich werden, dass man zukünftige Entscheidungen daraufhin beobachtet, ob und wie die Entscheidungen die gesetzten Prämissen nutzen (Luhmann 2000b, 224). Entscheidungen können beispielsweise Prämissen beachten oder diese unbeachtet lassen, sie können im Verhältnis zu Prämissen konform oder abweichend sein, sie können diese unterstützen oder sabotieren. Auch wenn die 90 91
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Siehe Luhmann 1993d, 64; 1997a, 195ff. Siehe Luhmann 2000b, 370f. Neben Technik nennt Luhmann als weitere Beispiele für feste Kopplungen auch Konflikte und die Bewirkung von (weiteren) Exklusionen durch Exklusion, vgl. Luhmann 2000b, 101. Zum Technikbegriff der soziologischen Systemtheorie siehe Luhmann 1990e, 256ff.; 1991a, 108; Japp 1992, 19. Kopplungen sind als Variablen zu behandeln: Es versteht sich fast von selbst, dass die Grade der Lockerheit und der Festigkeit von Kopplungen stark variieren können. Siehe dazu ausführlich Luhmann 1995a, 55ff.
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2. Reform und Akzeptanz
Prämissen im weiteren Entscheidungsprozess beachtet werden, eröffnen die Deformierbarkeit und Interpretationsbedürftigkeit der Entscheidungsprämissen also die Möglichkeit stark variierender Entscheidungsereignisse: Eine von Prämissen abweichende Entscheidung muss dabei keine organisationshistorisch einmalige Variation bleiben, sie kann ihrerseits einen Strukturbildungswert entwickeln, also Akzeptanz finden und zu einer Selektion motivieren, und dadurch selbst zur Prämisse werden (Luhmann 2000b, 352f.). Dafür bedarf es keiner weiteren Planungsentscheidung. Eine hilfreiche Abweichung von der geplanten Strukturselektion kann sich als unentschiedene Entscheidungsprämisse etablieren und in der Organisationskultur ablagern: Im Prämissengebrauch durch Entscheidung kann sich eine brauchbare Deformation der Prämisse somit zum organisationalen Brauchtum entwickeln.95 Action ist folglich der Bereich – um eine treffende Formulierung zur Markierung der Semantik/Sozialstruktur-Differenz aufzugreifen – „where communication just happens“ (Luhmann 2000a, 195), sei es geplant oder ungeplant. Die lose Kopplung zwischen Entscheidungsprämissen und Entscheidungen verweist weiterhin darauf, dass Planung immer eine Komponente der Evolution der Organisation ist.96 Die Produktion von Entscheidungen und das Entstehen von Organisationsstrukturen verläuft mehr oder weniger planvoll oder gar nicht geplant, aber stets evolutionär – was auch immer als Moment der Planung in der Organisation mitläuft. Dieses evolutionäre Abschleifen, Verfremden, Kontrastieren oder Ignorieren von Plänen ist genau die Aussage, die handlungstheoretisch dadurch getroffen wird, dass man keine Einheit von Entscheiden und Handeln bzw. keine vollständige Steuerbarkeit künftigen Verhaltens durch Planung unterstellt, sondern im Sinne Brunssons von einem Verhältnis lockerer Kopplung zwischen Decision und Action ausgeht: „freedom lies in action“ (Brunsson 2006, 24; 1989, 71ff.). Demnach lassen sich Decision und Action systemtheoretisch wie folgt unterscheiden: Decision-Entscheidungen sind Entscheidungen über Entscheidungsprämissen, die als Rahmen für spätere Entscheidungen gleichsinnig wiederholt verwendet werden. Action ist der Bereich basaler Entscheidungen, die sich an dem Rahmen entschiedener oder unentschiedener Prämissen orientieren oder sich selber etwas einfallen lassen können und die evolutionär zumeist sofort wieder vergessen werden, aber gelegentlich Strukturbildungswert besitzen, sich in die Organisation zunehmend „einschleichen“ und zu neuen Prämissen verfestigen können. Insofern kann man Action-Entscheidungen auch als organisational normalerweise unauffällige Alltagsentscheidungen beschreiben. 95
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Organisationen können ihre Strukturen „durch sich einspielende Entscheidungsgewohnheiten spezifizieren.“ (Luhmann 1988a, 173). Siehe Luhmann 2000b, 356.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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Betrachtet man Talk, Decision und Action im Zusammenhang, fällt auf, dass diese Unterscheidungen als theoretisches Beobachtungsschema entlang der Sachdimension organisiert werden.97 Es geht um die Beobachtung einer thematischen Einheit von Talk, Decision und Action im Unterschied zum übrigen Entscheidungsgeschehen der Organisation durch die Zerlegung von Entscheidungskommunikation in „dieses“ und „anderes“. Verknüpft man nun diese sachliche Dimension mit der Zeitdimension, lassen sich Talk, Decision und Action als Perioden des Entscheidens mit einem Anfang und einem Ende beobachten.98 Der Start einer Periode wird z. B. durch eine Zielsetzung markiert, das Periodenende durch die Definition der Zielerreichung oder Zielverfehlung. Das Schema Talk, Decision und Action dient dann zur Beobachtung der Konsistenz oder der Inkonsistenz der Inhalte von Entscheidungen und der Abfolge des zeitlichen Auftretens oder Ausbleibens von Entscheidungen. Dies geschieht im Sinne eines kommunikativen Anschließens oder Nichtanschließens von Entscheidungen mit sachlich gleichsinnigen Referenzen und deren Reihung in Erst-, Zwischen-, und Letztentscheidungen (Dammann 1994, 146). Die Konstruktion des Zusammenhangs von Talk, Decision und Action erfolgt in den Studien Brunssons nun anhand der Erwartungen des instrumentellrationalen Organisationsmodells, und diese Erwartungen werden dann von den Erwartungen der Hypothese organisationaler Scheinheiligkeit kontrastiert. Bei der Definition der Erwartungen des instrumentell-rationalen Organisationsmodells geht Brunsson von der „Üblichkeit“ der Erwartungen aus. Ganz im Stile der neo-institutionalistischen Theorie wird also auch hier eine „world of standards“ zugrunde gelegt.99 Dieses Vorgehen ist aus systemtheoretischer Perspektive zunächst grundsätzlich richtig: Die wissenschaftliche Beobachtung von zeitlichen und sachlichen Einheiten des Entscheidens sollte beobachten, wie das beobachtete System seine Themen und Perioden selbst beobachtet und beschreibt, zum Beispiel, wie es sachlich auffällige Entscheidungsereignisse – ambitionierte Zielsetzungen, neues Personal oder die Auflösung von Abteilungen – in der Zeit markiert. Das Problem der ‚Üblichkeitsthese‘ bei Brunsson ist nun, dass sie Einheiten von Talk, Decision und Action in der Sachdimension perspektivisch nur einseitig beobachten kann, weil außer Acht gelassen wird, dass sich auch im Rahmen der Erwartungen des instrumentell-rationalen Organisationsmodells verschiedene Möglichkeiten der Einheitsbildung von Talk, Decision und Action 97 98
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Zur sachlichen Dimension von Sinn siehe Luhmann 1984, 114ff. Siehe zur Unterscheidung Anfang/Ende Luhmann 1990a und zur Differenzierung von Episode und Periode Luhmann 2002a, 108: Während der Begriff der Episode sich auf Interaktionen bezieht (siehe dazu auch Luhmann 1984, 369; 1997a, 818; Cevolini 2007), verweist der Periodenbegriff auf organisationale Zeitunterscheidungen. Vgl. Brunsson 2002a; 2002c; 2003.
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2. Reform und Akzeptanz
konstruieren lassen. Die mangelnde Vielseitigkeit der Beobachtung eines Zusammenhangs von Talk, Decision und Action zeigt sich etwa an Brunssons Beispielen für Organisationen, die nach seinem Verständnis nur oder fast ausschließlich Talk und Decision produzieren: So würden etwa Beratungsunternehmen „scheinbar“ nur Talk und Parlamente/Volksvertretungen in erster Linie Talk und Decision produzieren (Brunsson 1989, 32; 2003, 209). Brunsson konstruiert im Falle von Beratungsunternehmen eine organisationsübergreifende Einheit von Talk, Decision und Action nach dem Schema von Rat und Tat:100 Das Beratungsunternehmen berät ein anderes Unternehmen mündlich und/oder schriftlich (Talk), das beratene Unternehmen entscheidet, ob es den Rat annimmt (Decision) und umsetzt (Action). Diese Konstruktion zeigt eine Möglichkeit der Beobachtung im Verhältnis von beratendem und beratenem Unternehmen, aber diese kann mit den Unterscheidungen von Talk, Decision und Action auch ganz anders dargestellt werden. Denn aus der Sicht des Beratungsunternehmens kann die sachliche Einheit von Talk, Decision und Action in einer Beratungsperiode auch wie folgt konstruiert werden: Man kündigt im Vorfeld Beratungsmethoden und Beratungsergebnisse an (Talk), entscheidet wie man die Beratung durchführen wird (Decision) und lässt sich dann von dem tatsächlichen Projektverlauf (Action) überraschen – beispielsweise von den späteren Respezifikationen der ursprünglich ‚klipp und klar‘ vereinbarten Beratungsziele oder den (nicht im Honorar vorgesehenen) Extrawünschen des Kunden gegen Ende des Beratungsprojekts. Auf der anderen Seite lässt sich in der Perspektive des beratenen Unternehmens eine Einheit von Talk, Decision und Action im Beratungskontext etwa wie folgt definieren: Man kündigt an, sich beraten zu lassen (Talk), plant, wie man die Beratung umsetzt (Decision), und versucht, die Ratschläge zu befolgen (Action). Dass eine stärkere Flexibilisierung der Anwendung des Beobachtungsschemas Talk, Decision und Action geboten ist, zeigt sich auch am Beispiel von Gesetzgebungsverfahren: Während Brunsson die Rolle der Politik auf die Produktion von Talk und Decision reduziert, Action allein Verwaltungen zuschreibt und somit die Differenz „Politik/Verwaltung“ ganz klassisch nach dem Schema „Gesetzgebung/Implementation von Gesetzen“ bildet, wäre es für die wissenschaftliche Fremdbeobachtung theoretisch wohl ergiebiger, das Schema von Talk, Decision und Action (neben der von Brunsson gewählten Möglichkeit) zum Beispiel auch allein auf die Beschreibung von Gesetzgebungsverfahren applizieren zu können. Denn „(…) die Verschiebung der faktischen Entscheidungstätigkeit gegenüber dem offiziellen Schaubild (…)“ (Luhmann 1969, 189; Hervorhebungen des Originals weggelassen), also die Doppelstruktur einer zu100
Zur allgemeinen Form von Beratung siehe Fuchs/Mahler 2000.
2.2 Beschreibungen von Reform anhand der Unterscheidungen Talk, Decision und Action
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nächst beratschlagenden und dann mit Mehrheit entscheidenden Versammlung einerseits und einer inoffiziellen, durch Tauschangebote und Druckmittel gekennzeichneten ‚Netzwerkarbeit‘ der politischen Gruppierungen andererseits, ist seit langer Zeit bekannt. Die Beispiele veranschaulichen, dass man mehrere Möglichkeiten hat, ‚üblichen‘ Erwartungen entsprechende Einheiten von Talk, Decision und Action zu definieren, die sowohl mit organisationalen Selbstbeschreibungen als auch mit Theorien instrumentell-rationalen Entscheidens kompatibel sind. Im Fall „externer Beratung“ von Organisation zu Organisation kann man, wie oben skizziert, eine Talk-, Decision- und Action-Einheit konstruieren, die beide Organisationen einbezieht, oder die Einheitsbeobachtung jeweils auf die Perspektive der beteiligten Organisationen eingrenzen. Ähnliches gilt, wenn eine Organisation im Rahmen eines Reformpakets unterschiedliche Reformrespezifikationen anstrebt, die als Subprojekte mit eigenen Zielen und Meilensteinen (als Zwischenzielen) in Suborganisationen organisiert und in der Zukunft zu unterschiedlichen Zeitpunkten beendet werden sollen.101 Das häufig damit einhergehende „Herunterkoordinieren“ (Scharpf 1973, 87; Kleidat 2003, 45) von Oberzwecken der Reform führt zur Bildung kleinteiliger Unterzwecke und Unterunterzwecke sowie in zeitlicher Hinsicht zur Konstruktion von Subperioden. Auch hier hat man in der Fremdbeobachtung die Möglichkeit, verschiedene Talk-, Decisionund Action-Einheiten anhand verschiedener organisationaler Differenzierungen zu bilden. An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass das Schema von Talk, Decision und Action seine wissenschaftlichen Beobachtungsmöglichkeiten erweitert, wenn es im Hinblick auf die organisationale Konstruktion von Einheiten dieser Unterscheidungen flexibler als bisher eingesetzt wird. Soziologisch wird man sich dann nicht auf eine Suche nach ‚der‘ standardisierten Einheit von Talk, Decision und Action im Kontext eines spezifischen Themas begeben, sondern eine Mehrzahl unterschiedlicher Möglichkeiten der Konstruktion einer Talk-, Decision- und Action-Einheit im Rahmen des gleichen Themas vermuten. Zusammenfassend hat sich gezeigt, dass die Unterscheidungen Talk, Decision und Action der neo-institutionalistischen Organisationstheorie relativ problemlos mit Begriffen der systemtheoretischen Organisationssoziologie theoretisch reformuliert werden können: Während Talk die Entscheidungen über die Beschreibungen möglicher Organisationen und möglicher Organisationsstrukturen betrifft, geht es bei Decision um Entscheidungen über die Verknüpfung verschiedenartiger Entscheidungsprämissen (Planung). Und im Unterschied zu Beschreibungen und Planungen bezieht sich Action auf basale Entschei101
Zu Teilprojekten im Rahmen von Reformprojekten siehe ausführlich Strehl 1989.
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2. Reform und Akzeptanz
dungsoperationen (Alltagsentscheidungen), die in nur loser Kopplung zu früher entschiedenen Beschreibungen und Entscheidungsprämissen später selbst als neue Strukturen markiert werden können. Die in der neo-institutionalistischen Theorie formulierte Annahme, die Unterscheidungen Talk, Decision und Action könnten in einem als sachliche Einheit markierten Zusammenhang von Talk, Decision, und Action in beliebiger Abfolge in der Zeit auftreten oder ausbleiben, kann in der Systemtheorie angesichts des Zukunftsbezugs von Entscheidungen über Entscheidungsprämissen nur eingeschränkt aufgegriffen werden. Für die systemtheoretische Beschreibung von Reform bedeuten die vorangegangenen Überlegungen außerdem, dass analytisch verschiedene strukturelle Bezugspunkte von Reformen auf verschiedenen Differenzierungsebenen unterschieden werden können. Zunächst kann man mit der Unterscheidung von Beschreibung und Entscheidungsprämisse starten. Von dieser Differenz aus sind verschiedene Verzweigungen in spezifischere Unterscheidungen von Entscheidungsstrukturen möglich – ich skizziere nachfolgend nur ganz kurz und beispielhaft einige mögliche Differenzierungen: So kann im Anschluss an die Beschreibung/Prämissen-Differenz auf der Seite der Prämissen der Unterschied von entschiedenen und unentschiedenen Entscheidungsprämissen für die Beobachtung von Bezugspunkten einer Reform bedeutsam sein; dann sind etwa als entschiedene Entscheidungsprämissen Personal, Organisation und Programme voneinander abzugrenzen, und weiterhin kann dann innerhalb der programmatischen Entscheidungsprämissen zwischen Konditional- und Zweckprogrammen unterschieden werden. Eine weitere Annahme besagt, dass die Entscheidungen, die sich selbst (explizit oder implizit) als Reformentscheidungen stilisieren, nicht nur Talk und/oder Decision und/oder Action als Bezugspunkte von Änderungsabsichten bezeichnen, sondern auch selbst als Talk und/oder Decision und/oder Action beobachtet werden können. Dabei kann es zu ‚Überschneidungen‘ verschiedener Einheiten von Talk, Decision und Action in Bezug auf das gleiche Reformgeschehen kommen: Wenn es zu den Reformabsichten gehört, den Talk der Organisation zu ändern, kann der Vollzug dieser Änderung als Reformaction verstanden werden. Hier kommt es ganz auf die jeweiligen Perspektiven der Beobachter einer Reform an: Wie werden Einheiten von Talk, Decision und Action in Bezug auf die Reform konstruiert? Schließlich ist im Hinblick auf strukturelle Bezugspunkte von Reform zu berücksichtigen, dass eine strukturelle Dreiteilung der Organisation entsteht, sobald Entscheidungen eine Reform annoncieren: Unterschieden wird zwischen Strukturen, die in einer jeweils aktuellen Perspektive in der Zukunft verändert werden sollen, Strukturen, die bereits verändert worden sind – hierfür genügt schon eine Orientierung von Entscheidungen an der Ankündigung von Reform,
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
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und – zumeist unmarkiert im Schatten der Änderungsabsichten – Strukturen, die in der Zukunft bewahrt werden sollen. Die Unterscheidung zwischen von Reform traktierten und unberührten Strukturen leitet zu der Frage über, wie ein organisationaler Wandel durch Reform soziologisch zutreffend beschrieben werden kann. Die Beantwortung dieser Frage führt in die Gefilde von Theorien organisationaler Evolution und Theorien der Planung oder der Steuerung, die in den nächsten Abschnitten behandelt werden sollen. 2.3 Reform und die Änderung von Strukturen Reformen sind von der Annahme begleitet, dass durch gesteuerte und kontrollierte Veränderungen der Zustand einer Organisation insgesamt verbessert werden könnte. Von „Reform“ wird organisationstheoretisch üblicherweise dann gesprochen, wenn die geplanten organisationalen Strukturänderungen umfassend und tiefgreifend sind und eine Steuerbarkeit des Wandels unterstellt wird (Caiden 1991, 63). Reformen werden dabei zum einen von kleinschrittigen, begrenzten Strukturänderungen und zum anderen von ungeplanten und nicht beherrschbaren Transformationen der Organisation unterschieden.102 Man zählt dann Reformen zu den Typen eines „fundamentalen“ Organisationswandels, die ähnlich wie „Metamorphosen“ oder „Revolutionen“ eine Diskontinuität des Organisierens deutlich sichtbar werden lassen (Meyer/Goes/Brooks 1993). Mit dem Umfang und dem Ausmaß der Strukturänderungen verbindet sich die Vorstellung, dass Reformen bis zu ihrem erfolgreichem Abschluss zwar mehrere Jahre in Anspruch nehmen können, aber ein solcher geplanter Wandel sich schneller vollzieht als ein evolutionärer und ungesteuerter Wandel, in dem sich die Organisation ihrem Schicksal überlässt.103 Der Veränderungsoptimismus der Organisationspraxis wird insbesondere durch Managementliteratur aufrechterhalten, die in einer instrumentell-rationalen Perspektive unterstellt: Sofern die Organisation über die richtigen Reformrezepte verfügt, sind auch radikale Umstrukturierungen ohne große Probleme zu bewältigen.104 Es ist davon auszugehen, dass dieser in Reformvorschlägen stets mitschwingende Glaube an die Machbarkeit und Steuerbarkeit zukünftiger Zu102
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Zur Differenzierung von inkrementellen und radikalen Organisationsänderungen siehe zum Beispiel Newman/Nollen 1998, 47f. „( …) evolutionary processes are painfully slow.“ liest man bei Blake/Mouton 1970, 11. Evolution ist also zu langsam und auch, wie man mit Luhmann 2000b, 359 hinzufügen könnte, „zu unberechenbar“. Zu den soziologischen Argumenten gegen einen solchen Veränderungsoptimismus siehe beispielsweise Wimmer 1999.
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2. Reform und Akzeptanz
standsverbesserung dazu beiträgt, dass Organisationen Reformen akzeptieren. Dieser Glaube an den instrumentell-rationalen Erfolg von Reform ist soziologisch immer wieder überraschend, denn mittlerweile gehört zum Wissensbestand der modernen Organisationssoziologie die Einsicht, dass Reformideen schwer zu implementieren sind, höchstwahrscheinlich ihre ursprünglich formulierten Ziele nicht erreichen und in diesem Sinne häufig scheitern.105 Insofern stellt sich die Frage, wie Reform und Wandel überhaupt zueinander in Beziehung stehen. Im Folgenden werde ich zunächst darstellen, wie organisationaler Wandel in Reformdiskursen und Reformtalk üblicherweise thematisiert wird und welche alternativen wissenschaftlichen Beschreibungen die Organisationstheorie für Strukturänderungen bietet. Anschließend werde ich diskutieren, ob enttäuschte Reformvorhaben einerseits und neuere Managementleitbilder wie die „lernende Organisation“ andererseits die Dominanz der klassischen Rationalitätsvorstellung einer hierarchisch planbaren Gestaltbarkeit von Organisation als Grundlage des Reformglaubens erschüttert haben könnten. 2.3.1 Zum Verhältnis von Reform und Evolution Reformkommunikation stützt sich zumeist auf klassische, teleologische Theorien des Organisationswandels. Diese Theorien stellen sich Wandel als vorübergehende, zielgerichtete Bewegungen in einer in der übrigen Zeit stabilen bzw. inerten organisationalen Struktur vor.106 Die Vorstellung einer normalerweise statischen Organisationarchitektur, die einen festen Rahmen für Arbeitsabläufe schafft, scheint in großer Verbreitung ihrerseits stabil zu sein.107 Beschreibungen der Organisation, die Kompetenzen und Kommunikationswege als Komponenten eines Bauplans der Organisation begreifen und als formale bzw. offizielle Organisationsstruktur von Prozessen einerseits und von informellen oder kulturellen Strukturen andererseits abgrenzen, sind seit Jahrzehnten in der Organisationstheorie weit verbreitet und werden immer wieder neu reproduziert.108 Dieses Bild 105
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Siehe dazu ausführlich, mit umfangreichen Hinweisen auch auf die ältere Literatur March/Olsen 1989, Brunsson 2006 und Luhmann 2000b sowie die Literatur in Fn. 1. Siehe z. B. Doppler/Lauterburg 2002; Cummings/Worley 2005. Eine Gegenüberstellung von „statischen“ und „fluiden“ bzw. „flexiblen“ Modellen der Organisation findet sich beispielsweise bei Haveman 1993b oder Czarniawska-Joerges 1992. Die betriebswirtschaftliche Organisationslehre unterscheidet weiterhin zwischen der statischen Infrastruktur einer Aufbauorganisation und der Nutzung der von dieser geschaffenen Potenziale in Form der Ablauforganisation: Nach der Strukturierung durch die Aufbauorganisation folgt der Ablauf auf die Struktur als Dynamik von Arbeitsschritten. Siehe z. B. Frese 2000, 7. So auch in der Organisationssoziologie, siehe z. B. Preisendörfer 2008, 66; Hannan/Pólos/Carroll 2003, 401.
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
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eines stabilen Organisationsgerüsts wird fortlaufend dadurch untermauert, dass Organigramme und Hierarchiepyramiden als gängige Visualisierungen von Organisationen verwendet werden. Daran anschließend basieren Konzepte zur Reform von Organisation zumeist auf dem alten dreistufigen Phasenmodell „unfreezing“, moving“ und „freezing“ (Lewin 1951, 228f.): Bestehende Strukturen werden aufgetaut, in Richtung des gewünschten, besseren Zustands bewegt und nach Erreichen des Zielzustands wieder eingefroren. Man folgt der Formel „structure follows strategy“ (Chandler 1962, 14) und nimmt an, Änderungen von Organisationszuständen erfordern Eingriffe in die normalerweise stabile Infrastruktur der Aufbauorganisation mittels Techniken des planvollen, strategischen Entscheidens und Handelns.109 Dabei beschränkt sich die Vorstellung einer Organisationsstatik, die durch Reform intentional verändert werden soll, nicht nur auf die geordnete Verteilung hierarchischer und fachlicher Kompetenzen, sondern bezieht sich auch auf solche Programme, die für Reformprotagonisten ‚überkommene Strukturen‘ darstellen und zum Beispiel als ‚liebgewonnene, aber ineffiziente Arbeitsabläufe‘ belächelt werden. Der Eindruck eines Verharrens in der eigenen Vergangenheit, eines ‚Schmorens im eigenen Saft‘ nach dem bekannten Schema ‚Das haben wir immer schon so gemacht!‘, verhilft Reformen dann oft zum Durchbruch. Reformimpulse beruhen oft auf Enttäuschungen über nicht initiierte und/oder nicht erreichte Verbesserungen der als unzulänglich beobachteten Organisationszustände. Wenn in reformlosen Zeiten die sich (konstant und ganz unvermeidlich) evolutionär vollziehenden Strukturänderungen nicht zu den gewünschten Strukturen führen, so kann dies zur Folge haben, dass eine in ihrer Selbstbeschreibung an instrumentell-rationalen Idealzuständen orientierte Organisation für sich selbst starr und unbeweglich erscheint.110 In dieser Situation versprechen Reformen einen Befreiungsschlag. Im Stile des „Wandel-Jargons“ 109
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Siehe beispielsweise Galbraith/Nathanson 1978; Martens/Thiel/Zanner 1998; Klages/Schmidt 1978. In der system- und evolutionstheoretisch angeleiteten Organisationssoziologie findet sich die Annahme, dass im Zuge der organisationalen Evolution eine „‘Verholzung‘ organisatorischen Variationsvermögens“ eintreten und ein „Abbau von varietätsbegünstigenden Organisationseigenschaften“ – als vermeintliche oder tatsächliche Rückständigkeit im Hinblick auf Umweltanforderungen – zum Problem der Organisation werden können, so dass Strukturänderungsabsichten begünstigt werden, vgl. Weber 1992, 9f. Aber dass Organisationen durch „strukturelle Verholzung“ träge, unflexibel und blind gegenüber Veränderungen ihrer Umwelt werden ist nur ein mögliches evolutionäres Gleis, auf das man sich begeben kann. Organisationen können in Bezug auf Strukturänderungen auch zu hektisch werden. Klaus Peter Japp beschreibt in diesem Zusammenhang Misserfolgs- und Erfolgsfallen, die jeweils spezifische organisationale Blindheiten verfestigen: Angesichts wiederholter oder absehbarer Misserfolge wird oft zu viel experimentiert, während bei erfolgsverwöhnten Organisationen die Risikobereitschaft häufig zu gering ist. Siehe dazu Japp 2004, 77f.
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2. Reform und Akzeptanz
(Vacek 2009, 13) heißt es dann zuerst: ‚Es hat sich nichts getan!‘, und diese Beobachtung setzt den Anreiz, zum ‚großen Wurf‘ auszuholen und die Organisation ‚ganzheitlich‘, durch Reform, zum Besseren zu transformieren.111 In der verbreiteten Redeweise der Veränderungspromotoren werden Reformen also als Hilfsmittel angesehen, um ‚verkrustete Strukturen‘ aufzubrechen und dann ‚neue Dynamiken‘ zu entfalten.112 Aus Sicht der systemtheoretisch angeleiteten Organisationssoziologie mutet die Redeweise merkwürdig an, Organisationen Dynamik durch Reform verleihen zu wollen.113 Von der Unterscheidung Ereignis/Struktur ausgehend sind Organisationen systemtheoretisch gewissermaßen ‚automatisch‘ dynamische und diskontinuierliche Systeme. In einer Theorien vergleichenden Perspektive distanziert sich die moderne Organisationssoziologie von der traditionellen Differenz von Prozessen und Strukturen. Zunächst erfasst der Prozessbegriff Zeitverhältnisse insofern unzureichend, als die Zeit eines Prozesses bereits in einer kompakten und Selektionen voraussetzenden Form beobachtet wird, nämlich als Sequenzierung von Ereignissen. Das Prozess/Struktur-Schema unterscheidet dann zwischen relativ konstanten und relativ dynamischen Merkmalen eines Systems. Setzt man dagegen in der Zeitdimension sofort wieder verschwindende Ereignisse, die sich nur auf einen Minimumzeitpunkt beziehen, an die erste Stelle, so muss man davon ausgehen, dass diese aufgrund ihrer Flüchtigkeit das Einzige sind, was nicht verändert werden kann. Dies führt zur Annahme einer basalen Diskontinuität eines Systems, so dass es für das Verstehen von Kontinuität (Strukturbildung) einer besonderen theoretischen Beschreibung bedarf. Mit diesem Ansatz gelangt man zu einer ganz anderen Beschreibung von Zeitverhältnissen im Vergleich zu den klassischen, teleologischen Theorien des Organisationswandels: Organisation bedeutet immer Organisieren, also eine in jedem Moment der Entscheidung sich neu organisierende Organisation (Weick 1969, 1). Temporalisiert man in dieser Weise die Beschreibung der Organisation und geht, wie in der modernen Organisationssoziologie vorgeschlagen, von Ent111
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Mit dem Ansatz mancher Reformvorschläge, von einer „Ganzheitlichkeit“ oder dem „unteilbaren Ganzen“(z. B. Senge 1996) der Veränderungen zu reden und eine Verbesserung des Gesamtzustandes der Organisation zu beabsichtigen, ist (bei wohlwollender, nicht am Wortlaut orientierter Interpretation) wohl nicht gemeint, alle Entscheidungsprämissen zu ändern. Vielmehr geht es wohl eher um die Änderung einer Vielzahl solcher Entscheidungsprämissen, die alle übrigen Organisationsteile positiv beeinflussen sollen. Solche Vorstellungen finden sich auch in der Organizational-Development-Literatur: „ (…) a change in one subsystem ultimately affects all parts of the organization. Thus, while an intervention may be targeted at one aspect of the organization it has a potential impact on the whole (…)“ (Woodman/Muse 1982, 31). Eine ausführliche linguistische Analyse zur Frage, welche Sprechweisen intendierter Wandel in Organisationen produziert, bietet Vacek 2009. Selbstverständlich können Reformen Strukturänderungen beschleunigen – aber eben nicht in dem Sinne der Ablösung einer Organisationsstatik durch Reformdynamik.
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
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scheidungsereignissen aus, die durch selektive Relationierung zu Strukturen verkettet werden, so bedeutet diese theoretische Umstellung für die Beschreibung von Reformen, dass zu klären ist, wie der von Reformen geplante Wandel sich zu den jeweils irreversiblen, ständig fortlaufenden Entscheidungsereignissen des Systems auf operativer Ebene und den sich daraus gleichzeitig ergebenden Strukturen verhält. Zunächst ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass Organisationen immer zugleich auf operativer und auf struktureller Ebene kommunizieren. Die Produktion von Entscheidungsereignissen bedeutet immer auch die strukturelle Verknüpfung dieser Entscheidungsereignisse – in der Systemtheorie beschreibt man dieses Verhältnis als „dynamische Stabilität“ (Luhmann 2008b, 57). Daraus ergibt sich notwendigerweise ein zirkuläres, selbstreferentielles Verhältnis zwischen Operation und Struktur: Entscheidungen erzeugen Entscheidungsstrukturen unter der Voraussetzung, dass Entscheidungsstrukturen anschließende Entscheidungen steuern. Entscheidungsoperationen reproduzieren und strukturieren sich im Netzwerk eben dieser Entscheidungsoperationen selbst, so dass diese sich als ein einzigartiges Organisationssystem gegen ihre Umwelt abgrenzen können. Weiterhin ist daran zu erinnern, dass sich organisatorischer Wandel immer nur auf Organisationsstrukturen beziehen kann, nie aber auf Entscheidungsoperationen, die sich aufgrund ihrer historischen Einzigartigkeit und Einmaligkeit gar nicht ändern können.114 Als Wandel tritt die durch ephemere Entscheidungsoperationen „existentiell garantierte“ Dynamik des Organisationssystems nur in Form von Strukturänderungen in Erscheinung (Luhmann 2000b, 331). Diese Änderungen müssen – um Organisationswandel sein zu können – beobachtet werden, weil andernfalls das System gar nicht auf neue Strukturen reagieren kann. Die Frage ist nun, wie Strukturänderungen in der Zeit zutreffend beschrieben und verstanden werden können. Zur Beantwortung dieser Frage drängt sich in der Wissenschaft bekanntlich eine in Umfang und Vielfalt kaum zu überblickende Fülle von Angeboten, die durch Typologien der Theorien der Strukturänderung etwas überschaubarer werden.115 Ich konzentriere mich im Folgenden auf die für eine systemtheoretische Beschreibung von Reformen bedeutsame Gegenüberstellung von Evolutionstheorie und teleologischer Theorie: Wie bereits oben beschrieben, werden in organisationalen Selbstbeschreibungen und den ihnen 114
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Demgegenüber leitet Czarniawska-Joerges 1992, 31 aus der Ereignishaftigkeit des Organisierens ab, dass organisationaler Wandel als kontinuierlicher Prozess verstanden werden kann. Einen guten Überblick der wichtigsten Theorien sozialen Wandels im Kontext von Organisation bietet die Typologie von Poole/Van de Ven/Dooley/Holmes 2000, die Evolutionstheorie, teleologische Theorie, dialektische Theorie und Lebenszyklustheorie als theoretische Strömungen unterscheiden.
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2. Reform und Akzeptanz
nahestehenden Organisationstheorien zumeist teleologische Vorstellungen zu Grunde gelegt und Strukturwandel auf Planungen zurückgeführt. Damit wird im Hinblick auf das gewünschte Ziel von einer Konstanz und Beherrschbarkeit der mit den geplanten Änderungen einhergehenden (im Moment der Planung bekannten und ausgewählten) Kausalbeziehungen und einer technisierbaren, prinzipiell festen Kopplung zwischen Entscheidungen und Entscheidungsprämissen ausgegangen. Moderne Organisations- und Steuerungstheorien gehen demgegenüber davon aus, dass das Verhältnis von Planung und daran anschließenden Entscheidungen durch lose Kopplung, Unbekanntsein der Zukunft und Nicht-Trivialität des Entscheidungssystems gekennzeichnet ist: Wie eine Organisation organisiert wird, kann zwar geplant, aber durch Planung nicht determiniert werden (Luhmann 2000b). Damit wird weder die Notwendigkeit von Planung unterschätzt, noch die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die von der Planung ursprünglich intendierten Folgen auftreten können. Bestritten wird lediglich die Annahme, dass Planung eine an ihr orientierte, anschließende Entscheidungsperiode ergebnissicher vorwegnehmen könnte. Planung dient also dazu, Entscheidungen vorzubereiten, nicht aber Entscheidungen vorweg zu treffen (Luhmann 1981d, 369). Auf die Frage, wie sich Strukturänderungen in der Zeit erklären lassen, lautet die Antwort der modernen soziologischen Systemtheorie dementsprechend auch nicht: „durch Planung“, sondern: „durch Evolution“. Evolution beschreibt die Transformation einer geringen Entstehungswahrscheinlichkeit bestimmter Strukturen in eine hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit dieser Strukturen (Maruyama 1963, 256). Es geht bei Evolution um die Entstehung und Strukturierung von Unvorhersehbarem oder, nochmals anders formuliert, um einen Zufall, der „in Notwendigkeit transformiert wird“ (Luhmann 1997d, 348). Diese Verwandlung von Zufällen in Strukturen geschieht durch drei Mechanismen der Evolution, die sich durch die Unterscheidungen von Variation, Selektion und Restabilisierung (Retention) markieren lassen.116 Zufall bedeutet nicht Unbestimmtheit, sondern die Fähigkeit des Systems, solche Ereignisse zu nutzen, die das System weder selbst herstellen noch vorhersehen, geschweige denn koordinieren oder planen kann. Da solche systemfremden Ereignisse unberechenbar und überraschend erscheinen, rekonstruiert das System sie mangels beobachtbarer Kausalzusammenhänge als einen Zufall.117 Ein Beobachter 116
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Zur Ausarbeitung einer soziologischen Evolutionstheorie neodarwinistischen Zuschnitts auf Grundlage der Arbeiten von Donald T. Campbell siehe anhand des Beispiels des Organisierens Weick 1969, 54ff.; 1985, 178ff. und Luhmann 2000b, 351ff. sowie soziologisch allgemeiner ansetzend und besonders ausführlich Luhmann 1997a, 413ff. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür findet man bei Stichweh 1999, 466: Der Weg der Roulettekugel unterliegt physikalischen Gesetzmäßigkeiten und verläuft nur für Spieler und Croupier mangels ausreichender Beobachtungs- und Rechenkapazitäten zufällig.
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
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zweiter Ordnung kann dieses als Koproduktion von Systemen beobachten, also „(…) Aussagen über Kausalität und über Strukturdeterminiertheit mit Aussagen über Zufall kombinieren“ (Luhmann 1990e, 564). Entscheidend ist, dass externe Ereignisse als Zufälle für Systeme Gelegenheiten im Hinblick auf den Aufbau von Strukturen darstellen. Evolution wird also nicht durch eine Art ‚Blubbern‘ interner Zufälle in Gang gesetzt, sondern durch Spezifikation eines Ereignisses in der Umwelt, das das System als möglicherweise strukturändernde Irritation in Betracht zieht. Zufälle können von sozialen Systemen zur Variation eigener Strukturen verwendet werden. Der Variationsmechanismus betrifft kommunikative Ereignisse, die etwas Unerwartetes, Überraschendes, Abweichendes bzw. Neuartiges vorschlagen, dabei aber verständlich sein müssen.118 Variationen erfordern also ein „Nein“ zu vorhandenen Verhältnissen. Als Vorschläge, wie man von einer bestehenden Struktur abweichen könnte, treten sie als einzelne, ereignishafte Operationen auf, die man zuweilen erinnert, zumeist aber durch sofortiges Vergessen aussortiert.119 Ob das neue Strukturangebot einer Variation angenommen oder explizit abgelehnt wird, entscheidet die Selektion: Variationen, die Strukturbildungswert versprechen und geeignet erscheinen, sich in den Bestand brauchbarer Erwartungen einzufügen, werden im Hinblick auf wiederholte Verwendung ausgewählt. Angesichts des massenhaften Auftretens kommunikativer Variation ist die Selektion einer bestimmten Variation sehr unwahrscheinlich. Die Selektion geschieht in dem Sinne ‚zufällig‘, als dass die Variation nicht die Selektion bestimmt und vorweg koordiniert. Beispielsweise werden viele Ideen von Organisationen sofort wieder verworfen und als ‚unrealistisch‘ oder ‚verfrüht‘ abgelehnt und dann in der Schublade untergebracht. Dass man nicht vorhersehen und nicht berechnen, also auch nicht planen kann, ob Variation zu einer positiven oder negativen Selektion führt, ist eine zentrale Aussage der Evolutionstheorie. Dieses Nichtwissen gilt auch für die Frage, ob es dem System gelingt, sich nach einer Strukturänderung wieder zu stabilisieren. Dieser dritte evolutionäre Mechanismus, die Restabilisierung, betrifft den Zustand des evoluierenden Systems nach Annahme oder Ablehnung eines Selektionsvorschlags, den Einbau von Strukturänderungen in das System und das Ausbalancieren des Verhältnisses des Systems zur Umwelt.120 Auf diese 118 119
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Vgl. Luhmann 1990e, 560. Weick 1977, 210f. betont die Notwendigkeit einer eigenen Stabilität von Variationen, also den Umstand, dass es eine gewisse Zeit dauern kann, bis Variationen für Selektion erinnert werden. Da sich (Re-)Stabilisierung auf die System/Umwelt-Differenz bezieht, bietet der Begriff offensichtlich die Möglichkeit, soziologische Evolutionstheorie und Differenzierungstheorie zusammenzuführen. Rudolf Stichweh plädiert für eine Integration dieser beiden Theoriestränge in der
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2. Reform und Akzeptanz
Weise werden durch Restabilisierung zugleich künftige Variationsanlässe strukturiert. Wenn man Evolution mit Hilfe der Unterscheidungen von Variation, Selektion und Restabilisierung beschreibt, so ist damit kein Phasenmodell verbunden, das mit Variation beginnt und mit Restabilisierung endet. Vielmehr ist von Verschleifungen, zirkulärer Vernetzung und Simultanität auszugehen: So kann beispielsweise Variation nur in stabilisierten Verhältnissen stattfinden und Selektion im Hinblick auf gelingende Stabilisierung erfolgen.121 Wie lässt sich diese Theorie der Veränderung von Strukturen nun zur Beschreibung von Organisationswandel nutzen? In der Organisationsforschung dominierte in den letzten Jahrzehnten ein Interesse, Evolutionstheorie zur Beobachtung von Organisationspopulationen zu nutzen, und zwar in erster Linie unter den Gesichtspunkten der Überlebenschancen und der Varietät der Organisationen in der betrachteten Population. Reformen können sicherlich im Rahmen populationsbezogener Organisationsforschung auf interessante Weise evolutionstheoretisch untersucht werden, etwa ‚klassisch populationsökologisch‘ unter dem Aspekt der Geburt und des Sterbens von Reformen in einer Organisationspopulation, wie auch im Hinblick auf Diffusionen – also unter dem Gesichtspunkt, dass Reformideen sich wie Epidemien in einer Population ausbreiten und mehrere Organisationen ‚befallen‘ können. In den letzten Jahren hat sich die Organisationsforschung in verstärktem Maße für die Evolution in und von einzelnen Organisationen interessiert. Bereits Ende der 1960er Jahre nutzte Karl E. Weick verschiedene evolutionstheoretische Ansätze zur Beobachtung einzelner Organisation und einzelner Entscheidungsprämissen (Weick 1969).122 Daran anschließend, hat Niklas Luhmann eine Theorie der Evolution sozialer Systeme in die moderne Organisationssoziologie eingearbeitet.123
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soziologischen Systemtheorie auf Grundlage eines Analogons zur biologischen Unterscheidung von Adaption und Speziation, siehe Stichweh 2008. Allerdings kann eine Selektion nicht Anfang oder Ende einer Episode der Evolution bezeichnen, denn kein System kann eine Strukturänderung mit Selektion beginnen oder beenden. Erste Aussagen in Richtung einer Theorie organisationaler Evolution finden sich aber bereits in den 1950er Jahren, vgl. Selznick 1957, 139f. Dies zunächst nur ansatzweise, vgl. Luhmann 1981d, 363, schließlich ausführlich, siehe Luhmann 2000b. Offensichtlich hat Luhmann bereits in den 1980er Jahren Organisationen als Anwendungsfall von Evolutionstheorie in Betracht gezogen und dies kurz im Kontext von „internen Sicherheitsgrundlagen“ (Luhmann 1981d, 362f.) ausgeführt. In einer werkgeschichtlichen Betrachtung vermerkt Kieserling 2001, 143 mit Verweis auf das Kapitel zur organisationalen Evolution in „Organisation und Entscheidung“ (siehe Luhmann 2000b, 330ff.), dass Luhmann „bis zuletzt gezögert“ habe, Evolutionstheorie jenseits des Gesellschaftssystems und seiner Funktionssysteme einzusetzen.
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
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Bezieht man das Begriffsarsenal der Evolutionstheorie auf die einzelne Organisation, so ist es systemtheoretisch naheliegend, die Organisation als eine Population von Entscheidungen zu betrachten.124 Das Entscheiden nach Art der Reform kann dann in evolutionärer Perspektive wie folgt beschrieben werden: Eine Organisation irritiert sich ‚zufällig‘ selbst durch eine Problematisierung ihres eigenen Zustands: Diese Irritation kann etwa durch die Beobachtung einer sozialen Umwelt, die Reformen erwartet, oder durch Kopplung mit psychischen Systemen, die denken: ‚Jetzt reicht es – wir müssen etwas ändern!‘, geschehen. Gefordert wird dann eine Anpassung der Organisation an ‚Ideen‘ und/oder an ‚Wirklichkeiten‘. Jede Anpassungsforderung impliziert ein „Nein“ zum beobachteten Organisationszustand, und dieser Widerspruch zum Vorhandenen wird in Form der Reform in einer Vielzahl neuer, abweichender Strukturangebote (Variationen) entfaltet. Diese Variationen können als größere Sinnpakete oder als kleinere Sinnfragmente verworfen oder aufgegriffen werden, zu einem fortgesetzten Akzeptieren oder zu Konflikten führen und dann in Form veränderten Erwartungsgebrauchs zu neuen Strukturen in der Organisation gerinnen (Selektion). Das Einfügen der Strukturänderungen in die Reihe der von der Reform unberührten Strukturen und das neue Ausbalancieren des System/UmweltVerhältnisses der sich reformierenden Organisation (Restabilisierung) kann dann wieder Anlass sein für Variationen, also neue Strukturänderungsvorschläge, die z. B. als Reparaturen der Reformschäden oder als neue Reformen auftreten können. Im Unterschied zu Reform benötigt Evolution keine Richtungsangaben und keine Steuerung. Evolution ist „kein zielorientierter Prozeß“ (Luhmann 1997a, 447). Eine Reform kann in der Evolution der Organisation mehr oder (wahrscheinlich eher) weniger ihre Ziele erreichen und nach Plan verlaufen. Aber der Plan der Reform ist unhintergehbar immer ein Moment der Evolution. Über den Umgang mit den in der Reformkommunikation auftretenden Planungen entscheidet – wie immer – die Evolution der Organisation. Und Evolution bedeutet Unplanbarkeit der Strukturänderung, fehlende Koordination und ‚zufälliges‘ Ineinandergreifen der Mechanismen Variation, Selektion und Restabilisierung. Auch die Verhältnisse dieser Mechanismen werden durch lose Kopplung regiert,125 so dass eine neue Entscheidung noch nicht eine neue Entscheidungsprä124
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In der nordamerikanischen Forschung zur intraorganisationalen Evolution werden nicht Entscheidungen, sondern sehr verschiedene andere Kandidaten für Einheiten eines organisationalen Ökosystems genannt. Im Anschluss an Nelson/Winter 1982 werden in den einschlägigen Theorien häufig „Routinen“ als Elementareinheiten organisationaler Evolution beobachtet (Dosi/ Marengo 2007). Weitere Kandidaten sind z. B. „Menschen“, „Regeln“, „Strategien“ oder „Jobs“. Siehe dazu die Forschungsstandanalyse von Warglien 2002. In seinen kritischen Anmerkungen zur Evolutionstheorie Luhmanns fragt Max Miller danach, wie sich Verhältnisse loser Kopplung bezüglich der evolutionären Mechanismen sicherstellen
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2. Reform und Akzeptanz
misse und eine neue Entscheidungsprämisse noch nicht eine neue Organisation bedeutet. Der gesellschaftliche Erfolg des Systemtyps „Organisation“ beruht unter anderem auf dem Unbekanntsein der Zukunft und deren Behandlung durch Organisation.126 Organisationen fungieren als Unsicherheitsabsorber:127 Sie bearbeiten die Ungewissheit der Zukunft, indem sie durch das rekursive Vernetzen von Entscheidungen Unsicherheit in Sicherheit transformieren. Der systemtheoretische Ratschlag an die Organisationspraxis hinsichtlich der Bearbeitung strukturellen Wandels lautet daher auch nicht, sich zur Ruhe zu setzen, auf Planung zu verzichten und Evolution abzuwarten. Vielmehr sollte ein planendes System „sich selbst in Evolution beobachten können“ (Luhmann 2000b, 356). Zwar bestimmt letztendlich immer Evolution über Aufbau, Umbau und Abbau von Strukturen der Organisation. Aber: „Die geplante Selektion von Strukturen (Entscheidungsprämissen) und die Beobachtung des Systems mit Blick für auftauchende Restrukturierungsmöglichkeiten bleibt wichtig“ (Luhmann 2000b, 356). Dabei gibt es seitens der organisationssoziologischen Evolutionstheorie (der Bielefelder Prägung) keine Empfehlungen,128 ob eine Organisation im Dual von Stabilität und Flexibilität eher eigene Redundanzen pflegen oder für Variationen im System sorgen sollte. Jedoch bietet sie Anleitung, wie die Organisation sich selbst unter den Gesichtspunkten von Varietät und Redundanz im Verhältnis zu ihrer Umwelt beobachten kann (Luhmann 1988a; Tacke 1997a; Japp 2004). Finden sich solche Beobachtungsverhältnisse im Hinblick auf Planung, Reform und Evolution auch in organisationalen Selbstbeschreibungen oder in
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lassen und wie sich die sozialen Bedingungen unterscheiden, „(…) unter denen rigide bzw. lose Kopplungen jener Mechanismen (z. B. Entscheidungen und Entscheidungsprämissen in Organisationen) möglich sind (…)“ (Miller 2003, 165.). Miller (ebd.) erkennt hier „Chancen für Planungs- und Institutionalisierungsprozesse“, die eine „Normalisierung des Unwahrscheinlichen“ ermöglichen. Man wird darauf antworten können, dass die lose Kopplung von Ereignissen eine konstitutive Bedingung aller sozialen Systeme ist, also nicht extra durch Entscheidung sichergestellt werden muss, sondern bereits garantiert ist, und dass die Möglichkeit von rigiden bzw. festen Kopplungen davon abhängt, inwieweit Ereignisverknüpfungen technisierbar sind bzw. kausal abgeschlossen werden können. Vgl. Luhmann 2000b, 10. Zu den gesellschaftlichen Funktionen von Organisation, „externe Kommunikationsfähigkeit“ und „Interdependenzunterbrechung“ zu ermöglichen, siehe Luhmann 1997a, 826ff. Der Begriff der Unsicherheitsabsorption wurde von March/Simon in den 1950er Jahren organisationstheoretisch etabliert, vgl. March/Simon 1958, 164ff. Luhmann hat dieses Konzept der Verarbeitung von Informationen aufgegriffen und sowohl ins Zentrum der systemtheoretischen Organisationssoziologie befördert (Luhmann 2000b, 183ff.) als auch für die soziologische Kommunikationstheorie generalisiert (Luhmann 2000c, 36, 41f.). Weick tendiert dagegen in seinen Implikationen für die Praxis in Richtung „Flexibilität“, indem er unter vielem anderen „chaotisches Handeln“ und „Verkomplizierung“ vorschlägt, vgl. Weick 1985, 349f.; 370ff.
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
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‚anwendungsorientierten‘ Theorien der Organisation? Im nächsten Abschnitt soll die Frage behandelt werden, ob das Modell des Auf- und Abttauens von Organisationsstrukturen immer noch dominiert oder sich die Vorstellungen über Organisationswandel selbst gewandelt haben. Denn es ist zu vermuten, dass eine solche Veränderung der Beschreibung von Wandel auch Konsequenzen für die Akzeptanz des Schemas „Reform“ haben könnte. 2.3.2 Ein Wandel des Wandels? Beschreibungen der Stabilisierung von Organisationswandel Evolutionstheoretische Beschreibungen der Organisation sind seit den 1980er Jahren verstärkt mit Theorien organisationalen Lernens und Experimentierens verknüpft worden.129 In der Folge sind von der praxisnahen Literatur neue Managementleitbilder wie die „lernende Organisation“ oder die „evolutionäre Firma“ entworfen worden,130 die statt der Stabilität einer auf Planung basierenden Organisationsstruktur die Kontinuität des Organisationswandels betonen.131 Diese Leitbilder propagieren als Aufgabe des Managements, die Bedingungen für kontinuierliche (kleinteilige) Verbesserungen der Organisation zu schaffen und zu erhalten. Solche Organisationsmodelle wenden sich anscheinend von der Vorstellung ab, nach einer vorübergehender Phase tiefgreifender Strukturänderungen mittels Reform könne und solle eine eindeutig beste Organisationsform definiert, erreicht und langfristig stabilisiert werden: Statt dem Auf- und Abtauen von Organisationsstrukturen soll nun der Weg das Ziel sein und eine permanente Flexibilität und Veränderungsbereitschaft organisational etabliert werden. Damit stellt sich die Frage, ob eine Verbreitung von Modellen der „lernenden Organisation“ bzw. der „evolutionären Firma“ die Akzeptanz von Reform möglicherweise beeinträchtigt. In der neo-institutionalistisch angeleiteten Organisationssoziologie geht man davon aus, dass das klassische, instrumentell-rationale Modell der Organisation als eines hierarchischen Zweckverbands immer noch das in Organisationsdiskursen und Selbstbeschreibungen verbreitete Idealbild darstellt und dass un129
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Zu den organisationssoziologischen Anfängen solcher Verbindungen von Lernen, Experimentieren und Evolution siehe den Überblick von Hedberg 1981. Es ist also zwischen Forschung und akademisch angeleiteten Managementleitbildern zu unterscheiden: So dürfen Theorien organisationalen Lernens, die seit Mitte der 1970er Jahre in der Organisationsforschung zunehmend an Bedeutung gewonnen haben (zu den Anfängen siehe March/Olsen 1975; Argyris 1976), nicht mit Managementkonzepten der „lernenden Organisation“ (z. B. Senge 1996) verwechselt werden, vgl. Tacke 2005, 167 (Fn. 8). Siehe zu diesem Paradigmenwechsel ausführlich Kühl 2000b, 58ff.; 2002, 240ff.
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verändert die meisten Reformen darauf zielen, die Organisation in Richtung dieses Ideals zu transformieren. Die Akzeptanz der Institution „Reform“ wäre demnach in doppelter Weise von der Akzeptanz des Organisationsmodells der zweckrationalen Hierarchie abhängig: zum einen in der Weise, dass der von Reform anvisierte Zielzustand „zweckrationale Hierarchie“ Akzeptanz findet; zum anderen, dass das Schema „Reform“ aufgrund seiner Unterstellung, Reformideen könnten mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit verwirklicht werden, seinerseits – als eine Spezifikation des Schemas instrumentell-rationalen Organisierens – die Vorstellung voraussetzt, eine Organisation könnte ihre Zustände nach Maßgabe eines Plans bestimmen. Gegen eine fortdauernde Dominanz dieser Vorstellung sprechen allerdings die andauernden Erfahrungen von Organisationen mit Reformschwierigkeiten und Reformscheitern, die durch eine umfangreiche Forschung zu Reformen, Planungen und Implementationen in den letzten Jahrzehnten immer wieder neu bestätigt worden sind.132 Die vor allem in der Soziologie seit langer Zeit verbreitete Reformskepsis wurde durch theoretisch allgemeiner ansetzende Beschreibungen, die Organisationen als Fall eines nicht-trivialen und evoluierenden Systems betrachten, bestätigt und bekräftigt. Somit liegt eine Diskussion der Frage nahe, ob ein Wandel der organisationstheoretischen Vorstellungen über Organisationswandel stattgefunden hat: Sind Reformenttäuschungen, die Reformskepsis der Organisationssoziologie und die neueren Leitbilder kontinuierlichen Wandels in der Organisationspraxis133 und in den ihr nahestehenden Theorien weitgehend ohne Wirkung geblieben? Oder werden Lerneffekte in Bezug auf organisationale Steuerungsmöglichkeiten und eine Abkehr von den alten instrumentell-rationalen Organisationsbeschreibungen sichtbar? Ein Blick in die neuere organisationstheoretische Literatur lässt ein zwiespältiges Bild erkennen. Wie bereits oben vermerkt, ist einerseits deutlich, dass das alte Modell des Organisationswandels, das Strukturänderung als Bewegung in einer grundsätzlich stabilen Struktur markiert, weiterhin verbreitet Verwendung findet. Auch kommen aktuelle Forschungsstandanalysen organisationaler Steuerungs- und Governancetheorien zu dem Ergebnis, dass evolutionäre Ansätze bislang kaum Einfluss auf den von wirtschaftswissenschaftlichen RationalChoice-Theorien angeleiteten Mainstream der Organisationstheorie genommen haben (Foss/Klein 2007). 132 133
Siehe dazu mit vielen Literaturhinweisen Brunsson 2006; Luhmann 2000b. Die Vorstellung eines kontinuierlichen organisationalen Wandels erscheint nur in Managementdiskursen und organisationalen Selbstbeschreibungen relativ neu zu sein. In der Organisationstheorie findet man dagegen eine lange Tradition von Beschreibungen, die im Wandel das einzig Beständige organisationaler Strukturen entdecken, siehe etwa Blau 1961, 201ff.
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
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Andererseits versucht die Managementforschung verstärkt, evolutionäre Aspekte in ihre Analysen von Reorganisationen und Reformen einfließen zu lassen: Der Tenor dieser Studien ist, dass man bei einem geplanten organisationalen Wandel auch Glück oder Pech einkalkulieren sollte, also durch gelungene Steuerung und/oder durch glückliche Umstände zum Erfolg gelangen kann (Gupta/Sathye 2007; Boyne/Meier 2005). Das erforderliche Quäntchen Glück wird dabei der Organisationsumwelt zugerechnet, während die Möglichkeit einer erfolgreichen Selbststeuerung der Organisation in dieser Theorieperspektive offensichtlich kein Glück, sondern nur ‚gutes Management‘ benötigt. Auch im Bereich von „organization development“ (OD) zeigt sich neuerdings ein Einsickern organisationssoziologischer und konstruktivistischer Erkenntnisse: So wird mittlerweile nicht nur eine Umgestaltung von Organisationbeschreibungen – also von Talk – als wichtiges Ziel von Änderungsabsichten identifiziert, sondern auch eine Abkehr von der Vorstellung eines nur periodischen, planbaren Wandels vermeldet und als Trend und Praxis der „New OD“ ausgerufen, dass Organisationswandel ein kontinuierlicher und selbstorganisierter Prozess sein kann (Marshak/Grant 2008). Dementsprechend wird der ODSzene bescheinigt, theoretisch an einer Weggabelung angekommen zu sein, an der sie sich entscheiden sollte, ob sie sich weiterhin an dem klassischen DreiPhasen-Modell Kurt Lewins orientieren möchte oder einen Paradigmenwechsel vollzieht, indem sie die Kontingenz der „Grundarchitekturen von Organisationen“ anerkennt und Organisationsentwicklung als „Daueraufgabe des Managements“ betrachtet (Wimmer 2004, 36). In der Organisationssoziologie finden sich nun unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob die vielfachen Misserfolge von Reformen und die neueren Leitbilder des Organisierens dazu geführt haben, dass der Glaube an die alten Rationalitätskonstruktionen über einzelne (enttäuschte) Organisationen hinweg erodiert ist. In Bezug auf die Fremdbeschreibung von Organisationswandel lässt sich erst einmal feststellen: Die neo-institutionalistisch angeleitete Organisationssoziologie und die soziologische Theorie organisierter Systeme stimmen darin überein, dass sich eine Stabilisierung des Organisationswandels beobachten lässt – zumindest dann, wenn der Blick auf Reflexionstheorien und organisationalen Talk gerichtet wird.134 Die soziologisch beobachtete Routinisierung des Geredes über geplanten Organisationswandel ist nun aber von der Veränderung organisationaler Selbstbeschreibungen in Richtung des Modells einer sich permanent wandelnden Organisation zu unterscheiden. Bezüglich der soziologischen Beschreibung eines 134
Die Kontinuität des Schemas „Reform“ betrifft nach Brunsson in erster Linie organisationalen Talk: „Auch wenn es einen permanenten Wandel der Konzepte gibt, gehe ich davon aus, dass es mehr Stabilität als Veränderung gibt.“ (Brunsson 2007b, 45).
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2. Reform und Akzeptanz
Wandels der Beschreibungen des Wandels lassen sich nämlich sehr deutliche Unterschiede erkennen: Die neo-institutionalistische Theorie verneint einen solchen Wandel der Selbstbeschreibungen und geht davon aus, dass die Kontinuität des Wandels durch die Kontinuität der Suche nach optimalen Organisationsstrukturen und der unangefochten starken Position des Organisationsmodells der zweckrationalen Hierarchie bedingt ist (Brunsson 2006). Da dieses Idealmodell in der Organisationspraxis nicht zu erreichen sei und die genauere Definition und Ausgestaltung des Modells von sich ändernden Organisationsmoden abhänge, würden sich fortlaufend Anlässe für Reformen bieten. Durch den Misserfolg von Reformen sei gewährleistet, dass Reformen immer wieder neue Reformen produzieren und geplante Strukturänderungen zur Routine und zur Normalität des Organisierens würden. Reformen institutionalisierten sich damit selbst. Würden Reformen in einem instrumentell-rationalen Sinne erfolgreich sein, wären neue Reformen überflüssig. Reformmisserfolge sind in der neo-institutionalistischen Perspektive demnach Antrieb und nicht Hemmnis für die Vorstellung eines steuerbaren umfassenden Organisationswandels. Dementsprechend kommt man hier auch zu dem Ergebnis, dass die theoretische Aufbereitung der Unwahrscheinlichkeit von Reformerfolgen in der Soziologie keine Wirkung auf Rationalitätskonzepte und Steuerungstheorien des Mainstreams entfaltet hat.135 In der systemtheoretischen Organisationssoziologie nimmt man demgegenüber allerdings zum Teil an, dass die zunehmende Verbreitung neuerer Leitbilder wie der „lernenden Organisation“ oder der „evolutionären Firma“, die kontinuierlichen Wandel und Flexibilität als Prinzipien des Organisierens propagieren, den Vollzug einer grundlegenden Neukonstruktion der Rationalitätsvorstellungen in Organisationen anzeigt: Es gehe nicht mehr darum, im Sinne eines Auftauens und erneuten Einfrierens von Strukturen den Organisationswandel möglichst planvoll auf ein festgelegtes Ziel hin durchzuführen (Kühl 2002). Angesichts fortlaufender organisatorischer Lern- und Veränderungsprozesse rücke der Organisationswandel und die Frage der richtigen Regeln für Strukturänderungen in den Mittelpunkt des Organisierens. Mittlerweile habe sich die Einsicht durchgesetzt, „(…) dass es keine objektiven Kriterien dafür gibt, ob eine neue Organisationsstruktur zum Erfolg führen wird oder nicht.“, so dass die Rationalität der Suche nach der eindeutig besten Organisationsform inzwischen „stark angekratzt“ sei (Kühl 2002, 248). 135
Nils Brunsson hat sich anscheinend mit der von ihm beobachteten (seit Jahrzehnten andauernden) Irrelevanz soziologischer Erkenntnisse für die Reformpraxis abgefunden und gibt angesichts der ‚Unvernunft‘ der Hoffnung auf eine rationale Welt in letzter Zeit die wohl eher ironisch gemeinten Praxisempfehlungen, entweder (als Reformgläubiger) die Hoffnung beizubehalten oder (als Reformskeptiker) Optimist zu werden, vgl. Brunsson 2006; 2007b.
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Beide soziologischen Positionen erscheinen theoretisch plausibel und können methodische Belege vorweisen: Mit dem statischen Organisationsmodell der zweckrationalen Hierarchie werden weiterhin Werte wie Ordnung, Effizienz, Klarheit, Zielgerichtetheit oder Kontrolle verbunden. Solche Werte werden von Organisationen immer wieder neu angestrebt, und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen des richtigen Organisierens im Rahmen des instrumentellrationalen Modells sind in akademischen Diskursen und Selbstbeschreibungen stabil geblieben. Das massenhafte Scheitern von Reformen und der regelmäßige, modische Wechsel der zu erzielenden Organisationszustände (z. B. zentralisierte oder dezentralisierte Strukturen) haben aber anscheinend dazu geführt, dass viele Organisationskonzepte vorsichtiger geworden sind, mit Werten auf Dauer angelegte, spezifisch definierte Idealstrukturen zu verknüpfen, die dann einen Endzustand des Organisierens fixieren. Insofern wird man bei Reformvorschlägen die gewünschten organisationalen Zukünfte häufig nicht zu genau beschreiben wollen und eher auf eine Konsenssicherung durch Verweise auf Werte bedacht sein (Luhmann 2000b, 339). Weiterhin lässt sich beobachten, dass Unsicherheiten über die richtigen Strukturen und das Prinzip der Flexibilität insbesondere im Bereich der Unternehmen (mit gängigen Anforderungen wie: „schneller sein als die Konkurrenz“ oder „sich auf immer turbulentere Marktbedingungen einstellen“) den Erfolg von Modellen kontinuierlicher organisationaler Veränderung gefördert haben. Dies hat in Reformdiskursen teilweise zu einer Zweck-Mittel-Verschiebung von Reformzielen geführt. So geben die Modelle der „lernenden Organisation“ ja nicht unbedingt Auskunft über einen richtigen Endzustand der Organisation, sondern Anleitung, welches der richtige Weg ist, um kontinuierlich Verbesserungen durch Organisationswandel erreichen zu können. Der Weg „lernende Organisation“ wird zum Ziel, während der daraus folgende Gesamtzustand der Organisation nicht mehr spezifiziert wird – dies allerdings auf Basis der falschen Annahme, dass Lernen immer etwas Gutes ist und automatisch positive Effekte für die Organisation mit sich bringt. Entscheidend ist hier nun aber, dass das ‚alte‘ Schema des Organisationswandels, also Reform, offensichtlich gar nicht in Frage gestellt wird, wenn es für eine Organisation darum geht, dem Idealbild einer „lernenden Organisation“ zu entsprechen und den eigenen Wandel zu verstetigen. Denn man kann annehmen, dass es aus Sicht von Organisationen einer umfangreichen Änderungsplanung, also einer Reform bedarf, wenn das Ziel der Verbesserung in der Etablierung des Modells der lernenden Organisation liegt und man von ‚Planung‘ auf ‚Lernen‘ umstellen möchte: Das organisatorische Lernen der „lernenden Organisation“ soll nicht (selbstläufig) gelernt, sondern geplant werden. Die Organisationspraxis
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2. Reform und Akzeptanz
versteht das Organisationslernen als Intervention im Sinne eines intentionalen Lernens, und auch das Lernen der „lernenden Organisation“ selbst wird als eine Intervention, nämlich als Reform, durchgeführt.136 Während in wissenschaftlich anspruchsvolleren Theorien des organisationalen Lernens die Organisation sowohl absichtsvoll etwas lernen kann als auch fortlaufend und unvermeidlich irgendetwas lernt, letztendlich also nicht nicht-lernen kann, geht es in den ‚anwendungsorientierten‘ Konzepten der „lernenden Organisation“ nicht um das evolutionär „normale Lernen/Verlernen von Strukturen in Organisationen“ (Luhmann 2000b, 357 Fn. 65), sondern ausschließlich um den Fall des absichtsvollen und angeleiteten Lernens (Tacke 2005). Dieses Lernen des ‚richtigen Lernens‘ setzt im Modell „lernende Organisation“ entsprechende Entscheidungen über Entscheidungsprämissen voraus. Die einschlägige präskriptive und anwendungsorientierte Literatur bietet hierfür Kriterien und Hilfestellungen,137 so dass auch die lernende Organisation ihre reformartigen ‚Lehrpläne‘ erhält. Hinsichtlich des Einsickerns von Theorien organisationaler Evolution in den Mainstream der Organisationslehre findet man viele Beispiele dafür, dass dieses mit einer Aufweichung und Verdrehung der evolutionstheoretischen Aussagen einhergegangen ist: Organisationale Evolution wird z. B. als ein geplanter und zielorientierter Wandel in kleinen Schritten verstanden,138 so dass das klassische Modell des zweckrationalen Organisierens überhaupt nicht in Frage gestellt wird. Entsprechend kann man in der „Change Management“- und „Governance“Literatur nachlesen, wie ein Unternehmer die Evolution der Organisation planen und managen sollte.139 Somit gibt es zwar einige Anzeichen dafür, dass Annahmen evolutionärer Modelle – etwa durch die Ausbreitung des Konzepts der lernenden Organisation oder durch Erwartungen einer stärkeren Flexibilisierung – in den letzten Jahren zunehmend in organisationale Selbstbeschreibungen eingeflossen sind. Organisationen initiieren ihre Reformen aber nach wie vor nicht mittels einer evolutionstheoretischen Modellierung von Strukturänderungen, sondern anhand einer auf klassischen, instrumentell-rationalen Vorstellungen aufruhenden Planung (Boyne /Martin/Walker 2004; Jung 2008b), die heutzutage vielleicht verstärkt einem Korrekturvorbehalt unterliegt und ihren eigenen Nachsteuerungsbedarf einplant. Insofern darf man auch nicht die Erfahrungen von Entscheiderinnen und Entscheidern im Umgang mit den Schwierigkeiten von Reformen, den unerwünschten Nebenfolgen von Planungsprozessen, den alltäglichen Zweifeln und dem 136 137 138 139
Siehe dazu die Fallbeispiele von Bradbeer 1997 und Tacke 2005, 187ff. Siehe z. B. Senge 1996. Vgl. Meister 2007, 24. Für Beispiele einer solchen Demontage evolutionstheoretischer Aussagen siehe statt vieler Cohendet/Llerena/Marengo 2002, 111.
2.3 Reform und die Änderung von Strukturen
85
Nichtwissen über Zukünfte unterschätzen. Insbesondere bei der Suche nach Lösungen in schwierigen Situationen und bei der Einführung organisatorischen Neuerungen kommen Pilotprojekte, Tests und Experimente zum Einsatz. In Organisationen verfährt man oft nach dem Motto „Wir stoßen das jetzt einmal an und schauen, was dann passiert“. Ein solches Entscheiden nach „trial and error“ bedeutet aber, dass nicht nur an die Umsetzbarkeit eines Plans geglaubt, sondern auch mit Glück, Pech und sonstigen Überraschungen (also mit zufallsbedingten, evolutionären Verhältnissen) gerechnet wird. Vor dem Hintergrund, dass die Effektivität von Reformen nur schwierig nachzuweisen ist, wurde schon vor rund 40 Jahren vorgeschlagen, Reformen als Experimente zu handhaben, die durch gründliche Evaluierungen kontrolliert werden (Campbell 1969). Auch in neuern soziologischen Analysen wird dazu geraten, nicht Zielerreichung, sondern Reversibilität als maßgebliches Kriterium rationalen Entscheidens zu nutzen (Holzer 2006). Die Experimente motivierende Rationalität der Reversibilität führt nun freilich zu neuen Problemen, so etwa dem Verzicht auf Chancen, die sich durch riskantere, irreversible Entscheidungen ergeben hätten, oder der Frage, wer eigentlich definiert, was wann irreversibel sein wird (Hiller 1999, 33ff.). Die Rationalität der Reversibilität wird sehr oft in Reformkonzepte eingefügt: Die Tauglichkeit der geplanten Strukturänderungen wird dann anhand von Pilotprojekten getestet.140 Dabei geht man von der Vorstellung aus, dass man auf dem Weg der Reform lernt und sich das Erkennen der besten Lösungen erst im Laufe der Implementation ergibt, nämlich in einem Lernprozess, der durch eine wiederholte Reflexion von Zwischenergebnissen der Reformumsetzung und dadurch angeleitetes Nachsteuern gekennzeichnet ist. Theoretisch kann man dies auch als zyklische Abfolge von „fuzzy visioning“, „experimentation“ und „reflection“ verstehen (Heckscher/Eisenstat/Rice 1994, 135). Es zeigen sich also einige Belege für einen Wandel der Vorstellungen über organisationalen Wandel in dem Sinne, dass Strukturänderungen, entsprechend der verbreiteten positiven Bewertung von Flexibilität, Lernen und Anpassungsfähigkeit, zunehmend als Normalität des Organisierens betrachtet werden. Doch trotz all dieser Tendenzen eines veränderten Verständnisses in Richtung von Modellen kontinuierlicher Strukturänderungen wird man davon ausgehen müssen, dass in der Praxis – unterstützt durch die Management- und Organisationsberatungsliteratur – letztendlich immer noch die Vorstellung weit verbreitet ist, dass erstrebenswerte organisationale Gesamtzustände objektiv bestimmt und durch Planung und Implementation in Form der Reform erreicht werden könn140
Siehe z. B. Boyne/Martin/Walker 2004; Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2003a; Evangelische Kirche im Rheinland 2006.
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2. Reform und Akzeptanz
ten.141 Diese Annahme wird bereits durch die starke Verbreitung und hohe Frequenz immer wieder neuer Reformvorhaben plausibilisiert. Zudem kommt eine Vielzahl von Reformen in ihrem Talk gänzlich ohne Bezug zu Modellen organisationalen Lernens bzw. Evoluierens aus. Die meisten Reformen treten unbescheiden auf, indem sie nicht lediglich die Möglichkeit einer Verbesserung ankündigen, sondern eine bessere Zukunft versichern und ohne Einschränkungen und Zweifel die Richtigkeit ihrer Vorschläge behaupten. Außerdem sind Reformen mit organisationalen Selbstbeschreibungen kontinuierlichen Wandels auch ohne Weiteres vereinbar. Denn Organisationen können verschiedene Arten der Strukturänderungen voneinander abgrenzen und diese als „multilevel change“ parallel und/oder sequentiell im System ablaufen lassen. Es kann dann – organisationstheoretisch subventioniert – zwischen kleinschrittigen, kontinuierlichen Änderungen („incremental change“, „continuous progression“) und umfassenden Wandel in periodischen Ausbrüchen („quantum change“, „episodic bursts“) unterschieden werden (Meyer/Goes/ Brooks 1993, 94), und zwar ohne wechselseitiges Exklusivverhältnis: Wer glaubt, dass Modelle des permanenten Organisationswandels hilfreich sind, kann zugleich überzeugt sein, in manchen Organisationsperioden nur mit Reformen zum Erfolg zu kommen. Der oben skizzierte Wandel der Vorstellungen über Organisationswandel in Selbstbeschreibungen und Reflexionstheorien hat also offensichtlich nicht den Glauben beeinträchtigt, dass Reformen notwendige und erfolgversprechende Mittel zur Verbesserung von organisationale Gesamtzuständen sind. Allerdings werden dabei auch reformierende Organisationen kaum unterstellen, dass sie mit einem Reformvorhaben unvermeidlich auf einen Endzustand (télos) der Systemstrukturen zusteuern, der für die Ewigkeit gilt. 2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten Wenn es darum geht, eine wissenschaftliche Fremdbeschreibung von Reform zu erstellen, dann bietet sich (wie oben skizziert) an, diese an ein evolutionstheoretisches Verständnis des Strukturwandels in Organisationen anzuschließen. Für die soziologische Beschreibung der Bedingungen der Akzeptanz von Reform erscheint es nun aber erforderlich, zusätzlich eine Fremdbeschreibung derjenigen Unterscheidungen anzufertigen, die Organisationen selbst zur Be141
In Teilen der Managementliteratur wird der Glaube an die Möglichkeit einer ‚einzigen‘ und ‚besten‘ Problemlösung zumindest dadurch relativiert, dass man vor einer ‚vorschnellen Einengung‘ möglicher Entscheidungsalternativen als Hindernis ‚kreativen Denkens‘ warnt und auf eine Mehrzahl möglicher Lösungen hinweist, siehe z. B. Fisher/Ury/Patton 1997, 61.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
87
obachtung und Beschreibung des Schemas „Reform“ verwenden. Und hier zeigt sich: In der Selbstbeobachtung und -beschreibung werden die durch eine Reform zu erreichenden Ziele gerade von denjenigen zukünftigen Zuständen unterschieden, die zu erwarten sind, wenn die Organisation nicht reformiert, sondern ‚nur‘ evoluiert. Während die Evolutionstheorie auf jeden Steuerungsanspruch verzichtet und eine „Theorie des Wartens auf nutzbare Zufälle“ (Luhmann 1997a, 417) darstellt, beruht die ‚implizite Theorie‘ einer sich reformierenden Organisation darauf, sich primär als ein an Zielen ausgerichtetes, geplantes, planendes und planbares System zu verstehen – und nicht als ein evoluierendes System. Eine Zustandsverbesserung der Organisation ‚mittels‘ (durch Reformimpuls stimulierter) Evolution ist daher auch kein Selektionsvorschlag von Reformideen.142 Eine Reform müsste ja auf Planung verzichten und als ihr Konzept etwa das folgende Skript anregen: ‚Wir schauen uns in Ruhe an, wie wir uns verändern und ob uns die überraschend erreichten zukünftigen Zustände gefallen‘. In der Reformkommunikation passiert dies gerade nicht; eine reformierende Organisation verordnet sich nicht das Rezept „Kontemplation“. Eine Organisation kann aber in ihrer Zukunftsbeschreibung die (aus soziologischer Sicht eher vermeintlichen)143 Alternativen „Reform“ oder „Warten auf bessere Verhältnisse (Evolution)“ zur Wahl stellen. Die Entscheidung für Reform bedeutet dann: Man wartet nicht auf eine evolutionäre Verbesserung des Gesamtzustandes in der Zukunft, sondern versucht, umfangreiche Strukturänderungen zu planen und zu steuern.144 Unabhängig davon, ob das Ziel geplanter Strukturänderungen sich auf eine Optimierung einer als zeitbeständig unterstellten Organisationsarchitektur oder auf eine Optimierung der Regeln des Organisationswandels richtet: Reformkommunikation impliziert eine Rationalität nach Maßgabe des Zweck/MittelSchemas und stützt sich auf entsprechende Planungs- und Steuerungstheorien. Reformvorschläge werden aber selbst der Zweckrationalität unterworfen, indem Organisationen Ziele von Strukturänderungen unter dem Gesichtspunkt der Steuerbarkeit bewerten. Es wird entschieden, wie tragfähig die mit Reformzwe142
143 144
Andernfalls hätte man auch kein Akzeptanzproblem: Da Evolution für jedes Organisieren unhintergehbar konstitutiv ist, kann man die Evolution der Organisation, mit oder ohne Reform, ja gar nicht ablehnen – jedenfalls dann nicht, wenn man seine Beobachtungen des Organisierens auf moderner soziologischer Systemtheorie basiert. Nochmals: Irgendwann wird jede Planung zum Implikat von Evolution. Siehe dazu Japp 2004. Im Zeithorizont der Vergangenheit problematisiert Reform auch nicht den evolutionären ‚Lauf der Dinge‘ als solchen, sondern beschreibt Probleme des evolutionär in der Vergangenheit erreichten Zustands der Organisation handlungstheoretisch und rechnet Defizite bestimmten Akteuren (Organisationen und/oder Entscheidern) zu: Problematisiert werden weder zufällig entstandene Strukturen, sondern ‚Ineffizienz‘, ‚fehlende Effekte‘, ‚mangelnde Führung‘ oder ‚organisierte Unverantwortlichkeit‘, noch evolutionäres Abwarten, sondern ‚Planlosigkeit‘, ‚Untätigkeit‘, ‚Entscheidungsstaus‘ bzw. ‚Vollzugsdefizite‘.
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2. Reform und Akzeptanz
cken verbundenen Kausalannahmen sind, also welche Mittel (Ursachen) mit welcher Wahrscheinlichkeit geeignet sind, die Verwirklichung der Reformziele zu bewirken.145 Dies geschieht durch eine Zerlegung des angebotenen Sinns: Reform tritt als Sinnofferte zunächst in Form eines Gesamtpakets auf (Brunsson/SahlinAnderson 2000, 729), das als generalisierende Bezeichnung eines geplanten Organisationswandels lediglich stellvertretend und unspezifisch auf eine Ansammlung mehrerer, spezifischer Vorschläge für Strukturänderungen verweist. Nun kann man sich kaum vorstellen, dass Organisationen die Frage der ‚Machbarkeit‘ einer Reform behandeln können, indem Sie die Reform in der Form einer Kompakteinheit belassen und diese als ‚implementierbar‘ oder ‚nicht implementierbar‘ beurteilen. Daher spezifizieren Organisationen eine als Gesamtpaket auftretende Reform in der Weise, dass Zwecke der Reform unterschieden werden, die dann nach dem Kriterium der organisationalen Steuerbarkeit akzeptiert oder abgelehnt werden können.146 In umgekehrter Perspektive bedeutet dies zugleich, dass Reformkommunikation mit Blick auf das stets mitlaufende ‚Oberziel‘ der Verbesserung des organisationalen Zustands immer hinreichend Komplexität aufbauen muss. Es würde im Hinblick auf die Akzeptanz von Reform nicht ausreichen, wenn eine Reform als Zweck nur ganz unspezifisch eine Optimierung des Organisierens oder eine Annäherung an das Ideal der zweckrationalen Hierarchie ankündigen würde. Ein Reformkonzept muss identifizierbar sein und sich sowohl von anderen Reformideen unterscheiden können, als auch (als Schema für Veränderung) von anderen Formen (geplanten) Strukturwandels. Hierfür muss die Reform solche Ziele anbieten, die in Ihrer Spezifizität organisatorisch brauchbar sind, also mindestens für die Änderung von Talk genutzt werden können. Zugleich darf der Spezifizierungsgrad der Reformzwecke aber auch nicht zu hoch sein. Im Hinblick auf die Darstellung (also nicht: Herstellung!) späterer Erfolge durch Reform müssen die Zwecke so mehrdeutig formuliert sein, dass eine Anpassung der Zwecke der Vergangenheit an künftige Zustände möglich ist. Ein solches ‚Zurechtbiegen‘ der Reformergebnisse in Richtung eines Gesamterfolgs muss auf akzeptable Weise geschehen können. Es geht somit am Ende einer Reformperiode nicht nur darum, ein (instrumentell-rationales) Scheitern des ursprünglichen Vorhabens zu verheimlichen, die wenigen verwirklichten Ziele als große Errungenschaften aufzublasen oder all das Positive, was unabhängig von den Reformabsichten eingetreten ist, als Reformerfolg zu feiern. Das organisationale Verstecken des Verfehlens der ursprünglichen Ziele muss für 145
146
Ziel- bzw. Zweckformulierung erfordert ein Aussondern geeigneter Mittel (Ursachen) und eine Eignungsanalyse alternativer Ursachen, vgl. Luhmann 1973, 198f. Siehe allgemein zu den Bestimmtheitsgraden der Zweckformulierung Luhmann 1973, 211ff.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
89
andere Beobachter, die genau dies sehen, auch tolerierbar sein. Hierfür sind unspezifische Reformziele eine wichtige Vorkehrung. Die Annahmen der Organisation über die Zuverlässigkeit der kausalen Beziehungen zwischen bestimmten Mitteln (Ursachen) und bestimmten Zwecken (Wirkungen),147 also der differenzierte Gebrauch von Kriterien der Steuerbarkeit, ist in Reformkommunikation oft nur schwer zu erkennen. Daher wird mittlerweile verstärkt versucht, die „impliziten Theorien“ von Reformen zu rekonstruieren (Boyne/Martin/Walker 2004; Dose 2008) und die Schemata der Kausalannahmen zu identifizieren, die die Steuerung eines umfassenden Wandels aus dem Hintergrund anleiten. Im Folgenden werde ich eine Möglichkeit darstellen, wie die von reformierenden Organisationen verwendeten Kausalschemata zur Beobachtung von Steuerungsmöglichkeiten mit Hilfe einer systemtheoretischen Fremdbeschreibung rekonstruiert werden können.148 Dies geschieht vor dem Hintergrund der Annahmen, dass die von Reformrespezifikationen behaupteten Kausalitäten im Rahmen dieser Schemata bewertet werden und diese Einschätzungen mit der Möglichkeit zusammenhängen, dass Organisationen eine bestimmte Reform als Paket akzeptieren. Vor einer solchen soziologischen Rekonstruktion der von Organisationen genutzten ‚heimlichen‘ Modelle der Steuerbarkeit soll zunächst geklärt werden, wie sich ein modernes wissenschaftliches Verständnis des Begriffs „Steuerung“ von den mit diesem Wort verbundenen ‚Machbarkeitsphantasien‘ abgrenzt, die in Organisationen und zweckrational orientierten Theorien (immer noch) weit verbreitet sind. Hierfür möchte ich im nächsten Abschnitt erst einmal abstrakter ansetzen und einige Aussagen der neueren Steuerungstheorie und der Theorie operativ geschlossener Systeme vorstellen. An diesen Aussagezusammenhang werde ich dann die hier favorisierte Fremdbeschreibung der organisationalen Kausalschemata bei Steuerungsentscheidungen anschließen. Dabei stellt sich die Aufgabe, Organisationen als Systeme zu beschreiben, die sich selbst als sich selbst steuernde Systeme beschreiben, aber in ihrer Beobachtung von Steuerung einen ganz anderen Unterscheidungsgebrauch pflegen als eine wissenschaftliche Steuerungstheorie, die nicht selbst Kausalbeziehungen konstruiert und bewertet.
147
148
„Die Begriffe Zweck und Mittel setzen ein Kausalverhältnis voraus, beschreiben es aber nicht als solches“ (Luhmann 1973, 43). Zwecksetzung bedeutet vielmehr Einschränkung des Werthorizonts und Auszeichnung einer bestimmten Wertrelation (Ziel X ist besser als ‚nicht-X‘). Zur Verschiebung des sozialwissenschaftlichen Forschungsinteresses von der Feststellung bestimmter Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen zur attributionstheoretischen Frage der beobachterabhängigen Konstruktion bestimmter Kausalbeziehungen siehe Luhmann 1995c.
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2. Reform und Akzeptanz
2.4.1 Steuerung als Selektion und Änderung von Differenzen Das Schema „Reform“ impliziert die Annahme, dass Organisationen sich selbst vorhersagbar, geordnet und kontrolliert in Richtung der von ihnen gewählten Reformziele steuern können. Man kann diese Unterstellung der Beherrschbarkeit von reformbezogenen Kausalverhältnissen zugespitzt auch als Zweck/MittelRelation beschreiben: Eine Organisation, die sich reformiert, ist für sich selbst das Mittel zur Verwirklichung des Zwecks „reformierte Organisation“. Formuliert man dieses Modell in der akteursorientierten Sprache von Reformdiskursen, erscheint die reformierende Organisation als ‚Herrscherin über sich selbst‘, ist also ‚Steuerungssubjekt‘ und zugleich ‚Steuerungsobjekt‘. Dass Organisationen ihre Zukunft in der Gegenwart festlegen können und eigene Kausalkonstellationen zum Zwecke der Reform im Griff haben, wird im Reformschema stets stillschweigend vorausgesetzt und nicht bezweifelt. Jenseits dieser im Hintergrund unterstellten Prämisse fragen spezifische Reformkonzepte aber häufig danach: Wie gut – also beispielsweise wie effektiv oder wie demokratisch – kann die Organisation sich selbst steuern? Die im Reformschema versteckt mitgeführte ‚Steuerungsillusion‘ ist somit von der in Reformkommunikation häufig explizit beschriebenen Zielsetzung zu unterscheiden, die organisationale Steuerungsfähigkeit – beispielsweise bezogen auf „Führung“, „Effizienz“ oder „Management“ – zu verbessern. Falls Organisationen für die Annahme, ein zukünftiger Gesamtzustand der Organisation könne durch Reform zielgenau erreicht werden, eine wissenschaftliche Bestätigung suchen, so können sie diese (in abstrakter Form) in vielen handlungstheoretisch angeleiteten Steuerungskonzepten finden.149 Solche Konzepte gehen zumeist davon aus, dass ein Steuerungssubjekt von außen den Zustand eines Steuerungsobjekts bestimmen könnte. Wenn nun allerdings bei der Steuerung Probleme auftreten, zum Beispiel ‚unbeabsichtigte Nebenfolgen des Handelns‘ oder ‚Vollzugsdefizite‘, dann wird es notwendig, das Steuerungskonzept durch Theorien zu flankieren, die die Grenzen der Steuerungsmöglichkeiten erfassen. Dieser Ergänzungsbedarf handlungstheoretischer Steuerungskonzepte weist aus systemtheoretischer Sicht darauf hin, dass es wissenschaftlich nicht genügt, wenn man den Bereich, auf den sich die Steuerung bezieht, als eine gesteuerte Einheit beschreibt (Luhmann 1989b). Denn die Nebenfolgen des Steuerns treten ja ungesteuert auf. Eine Subjekt-Objekt-Perspektive erschwert es daher ungemein, die Möglichkeiten des organisationalen Steuerns zutreffend einzuschätzen. Außerdem fällt in begrifflicher Hinsicht immer wieder auf, dass 149
Zur systemtheoretischen Kritik handlungstheoretischer Steuerungskonzepte siehe Luhmann 1989b; 1991b; 1993b; Göbel 2000a; Fuhse 2005 oder Kurz 2008. Eine Integration system- und handlungstheoretischer Perspektiven organisationaler Steuerung bietet Fischer 2009.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
91
viele Steuerungskonzepte nicht definieren, was mit „Steuerung“ eigentlich gemeint sein soll. Der Unterschied zu benachbarten Ausdrücken, etwa „Planung“, „Koordination“ oder „Management“, wird bei der Rede von „Steuerung“ (oder „Governance“) zumeist nicht deutlich. Auch lässt sich oft nur erahnen, wie kontextuell genutzte Begriffe, beispielsweise „Ziel“, „Input“/„Output“ oder „Organisation“ zu verstehen sind. Aber anscheinend wird das Reformschrifttum trotz der nebulösen theoretischen Folie vieler Steuerungskonzepte nicht daran gehindert, zu wissen, wie man besser steuern kann. In dieser Situation bietet es sich an, zur Beobachtung von Steuerungsversuchen in Form des Schemas „Reform“ auf forschungsorientierte Theorien zurückzugreifen, die über die Entwicklungen der allgemeinen Theorie steuernder Systeme (Kybernetik) in den letzten Jahrzehnten informiert sind. Dies soll hier nun geschehen, indem beschrieben wird, wie sich organisationale Steuerung darstellt, wenn man Aussagen der neueren Kybernetik („second order cybernetics“) folgt. Ein Verständnis, was Steuerung allgemein bedeuten könnte, lässt sich schon ganz einfach gewinnen, indem man sich diese bildhaft vorstellt: Es geht um eine Verringerung der Abweichung von einer vorgegebenen Richtung, etwa wenn man ein Auto durch eine Kurve lenkt, weil man andernfalls geradeaus vor eine Mauer fahren würde. Die Metaphorik verdeutlicht, warum moderne Steuerungstheorien bei ihrer Begriffsbildung auf eine ganz besondere Verwendung von Differenzen abstellen: Für das Steuern genügt es ja nicht, lediglich den richtigen Weg entlang der Kurve von anderen Wegen zu unterscheiden, denn dann fährt man vor die Mauer. Vielmehr ist eine Steuerungsbewegung notwendig, die die Distanz von angestrebter Richtung und Abweichung reduziert. Abstrakt formuliert geht es bei Steuerung somit nicht einfach um ein bezeichnendes Unterscheiden, sondern um einen Unterscheidungsgebrauch, der sich – je nachdem, wie mit positiven oder negativen Wertungen umgegangen wird – auf eine Vergrößerung oder Verkleinerung der bezeichneten Differenz richtet.150 Steuerung verweist somit auf die Absicht, bestimmte Differenzen zu ändern. Operationen der beabsichtigten Differenzänderung werden in älteren wissenschaftlichen Analysen oft mit Hilfe von Input/Output-Modellen veranschaulicht. Die Theorie selbststeuernder Systeme bezieht sich dabei auf eine black box (Ashby 1963, 86ff.). Damit wird ein System beschrieben, welches für einen externen Beobachter distinkt, aber opak ist, und für das der Beobachter annimmt, dass es durch einen analytisch determinierbaren Steuerungsmechanismus einen präferierten Zustand stabilisiert (Glanville 1982; 1988b). In diesem Stabilisierungsmodell dupliziert das System seine Grenze zur Umwelt, indem das System unterscheidet, ob es etwas von außen erhält (Inputgrenze) oder etwas an die 150
Siehe Glanville 1988b; Luhmann 1988b; 1989b;1991b; 1993b; 1998.
92
2. Reform und Akzeptanz
Umwelt abgibt (Output-Grenze). Die Selbststeuerung des Systems ist dabei dadurch erkennbar, dass spezifische Inputs in bestimmte Outputs transformiert werden. Eine Rückkopplungsschleife (feedback), die Outputs mit Inputs zurückverbindet, ermöglicht es dem System, seine Performance durch einen Vergleich von Eingangs- und Ausgangsdaten zu kontrollieren. Stellt das System eine Differenz zur Zielgröße fest, passt es seinen Transformationsmechanismus so an, dass sein Output den erwünschten Zustand bewirkt. Für einen externen Beobachter wird der in der black box versteckte Steuerungsvorgang also dadurch (simplifizierend) rekonstruierbar, dass er die Grenzen des Systems beobachtet und interpretiert, was in das System hineingeht, was herauskommt und wie Output und Input über die Systemumwelt miteinander verknüpft sind. In der neueren Kybernetik hat man erkannt, dass eine wissenschaftliche Analyse, die Input/Output-Modelle applizieren möchte, darauf achten muss, ob es sich bei dem beobachteten System um eine triviale oder um eine nichttriviale Maschine handelt.151 Während eine triviale Maschine auf bestimmte Inputs hin immer dieselben Outputs produziert und auf ihren eigenen Zustand keine Rücksicht nimmt, hängt es bei einer nichttrivialen Maschine von ständig wechselnden internen Zuständen ab, mit welchen Outputs die Maschine auf bestimmte Inputs reagiert. Ein nichttriviales System berücksichtigt im Steuerungsprozess immer die Geschichte seiner eigenen Befindlichkeit. Es wird dadurch reich an „Eigenbehavior“ – mit enormen Konsequenzen für die Analyse der Maschine als einer black box: Denn schon bei einer sehr geringen Anzahl möglicher Inputs und Outputs wird das System mathematisch so komplex, dass der Steuerungsmechanismus unberechenbar und analytisch indeterminierbar wird. Die beiden Maschinentypen kann man demnach wie folgt unterscheiden: Triviale Maschinen sind – sofern sie nicht fehlerhaft oder kaputt sind – zuverlässig arbeitende, regelmäßige und ahistorische Systeme mit einer fixierten (fest gekoppelten) Input/Output-Relation. Dagegen sind nichttriviale Maschinen unzuverlässige, unvorhersagbare und historische Systeme, die bei jeder Operation ihren eigenen Zustand immer wieder neu ins Spiel bringen. Altkybernetische Input/Output-Modelle sind daher nur dann angebracht, wenn die Umweltbeziehungen des Systems derart spezifisch und beschränkt gegeben sind, dass der systemische Steuerungsmechanismus zuverlässig und berechenbar beschrieben werden kann (Luhmann 1988b, 333; 2000b, 77). Dies ist bei sozialen Systemen aber gerade nicht der Fall, denn es fehlen regelmäßige, relativ direkt wirkende Mechanismen für Transformation und Feedback. So reagieren beispielsweise Organisationen weder auf spezifische Inputs mit zu jeder Zeit gleichbleibenden Outputs, noch beeinflussen organisationale Outputs 151
Siehe dazu und im Folgenden von Foerster 1993; Luhmann 1987a; 2000b.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
93
in verlässlich vorhersagbarer Weise die Vielzahl organisational relevanter InputVariablen. Außerdem entscheidet nicht nur das einzelne, sich selbst steuernde Organisationssystem nach Maßgabe seiner momentanen Befindlichkeit. Auch in der Umwelt der Organisation finden sich massenhaft nichttriviale Systeme. Die Unberechenbarkeit nichttrivialer Systeme kann steuerungstheoretisch nicht umgangen werden, so dass es auch nicht weiterhilft, wenn Input/OutputModelle dieser Systeme mit einer großen Anzahl direkt und indirekt wirkender Faktoren bestückt werden.152 Solche Modelle können nämlich vor allem zeigen, dass die Antwort auf die Frage, ob der Output eines Systems primär von ihm oder eher doch von seiner Umwelt erzeugt wird, jeweils von der Auswahl der Faktoren abhängt (Boyne 1985; Green-Pedersen 2005). Soll eine Trivialisierung nichttrivialer Systeme vermieden werden, so kann man von Input/Output-Modellen auf Modelle operativer Geschlossenheit umsatteln. Der Ausgangspunkt der Theorie operativ geschlossener Systeme ist die Annahme, dass der Unterschied von System und Umwelt nirgendwo anders als im System erzeugt und reproduziert wird.153 Für den Beobachter eines solchen Systems kommt es zunächst darauf an, zu verstehen, wie dies überhaupt gelingen kann: Wie kann ein System selbst die Grenze zur Umwelt etablieren und stabilisieren? Während im Input/OutputModell der älteren Kybernetik die entscheidende Frage war, wie das System einen gewünschten Zustand stabilisiert,154 wird nun also die Entstehung und Aufrechterhaltung der Systemgrenze problematisiert. Denn das sich selbst operativ schließende System wird als ein nichttriviales und zeitabhängiges System beobachtet, das ständig neue, ereignishafte Operationen produziert, die mit ihrem Entstehen sofort wieder verschwinden, so dass beständig von Diskontinuität auszugehen ist. Um die Differenz zur Umwelt zu erschaffen und zu persistieren, muss das System also in der Lage sein, trotz ständigen Zerfalls seiner basalen Einheiten eine Identität zu stabilisieren. Dies geschieht durch eine rekursive, selbstreferentielle Vernetzung der eigenen Operationen (Varela 1984; 1991). Systembildung kann ja nicht durch zusammenhanglose Ereignisse erfolgen, vielmehr ist erforderlich, dass Operationen des Systems auf andere Operationen des Systems vor- und zurückgreifen (sich koppeln) und dass Operationen des Systems von anderen Operationen als eigene Operationen beobachtet werden. Nur weil das System ein rekursiv vernetztes, selbstbeobachtendes System ist, 152 153
154
Siehe als Beispiel für solche ‚Verfeinerungen‘ Rakoff/Schaefer 1975. Dieser Ansatz wurde in der Theorie sozialer Systeme zunächst mit der Formel der umweltorientierten Komplexitätsreduktion verknüpft (Luhmann 1973, 120ff.). Inzwischen wird der nur in Systemen mögliche Aufbau von Komplexität betont, siehe Stichweh 1999b, 206. Allerdings finden sich auch altkybernetische Modelle – so die „esoteric box“ von Stafford Beer, die in Kombination mit operativer Geschlossenheit nicht Identitätsstabilisierung, sondern Bestandserhaltung und Überleben an die erste Stelle setzen, vgl. Beer 1970.
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2. Reform und Akzeptanz
kann es Zusammenhänge identifizieren und eine Grenze zur Umwelt ziehen (Luhmann 2000b, 46ff). Eine operative Schließung gegenüber der Umwelt entsteht somit durch Produktion und Reproduktion systemeigener Operationen. Mit Reproduktion ist nun „nicht die wiederholte Herstellung ein und desselben Elements“ (Stichweh 1999b, 215) gemeint: Weder geht es um eine identische Replikation von Operationen, noch um eine gesetzmäßige oder garantierte Produktion, da Ereignisse nur im Unterschied zu anderen Ereignissen erkannt werden können (Luhmann 2008b, 57; 2000b, 49). Das System reproduziert sich durch den Bezug neuer Operationen auf frühere Operationen, also immer nur von dem aktuellen Zustand aus, in den es sich historisch durch eigene Operationen versetzt hat. Es bildet dabei Strukturen aus, die Wiedererkennen und Wiederholungen ermöglichen,155 die aber variiert werden können, so dass auch die Identität des Systems lediglich eine dynamische Stabilität gewinnt (Glanville 1982; 1988c). Welche Implikationen hat die Theorie selbstreferentiell geschlossener Systeme für ein Modell der Steuerung von Systemen? Zunächst ist Steuerung ein Ereignis, welches sofort inaktuell wird und im nächsten Moment schon nicht mehr ‚auf dem neusten Stand‘ ist. Die Möglichkeiten einer Steuerungsoperation sind immer dadurch begrenzt, dass alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht. Während ein Steuerungsereignis in einer bestimmten Gegenwart aktualisiert wird, passieren sowohl im System als auch in der Umwelt massenhaft andere Ereignisse, die im System – weil gleichzeitig – weder bekannt noch kausal beeinflussbar sein können. Zudem kann ein Steuerungsversuch nicht über Vorfälle informiert sein, die in einer unbeobachtbaren und ungewissen Zukunft noch bevorstehen. Damit zeigt sich bereits, dass Steuerung stets eine Operation ist, die nur innerhalb des Systems stattfindet. Die Unterscheidung, an der sich ein Steuerungsvorhaben orientiert, kann Internes oder Externes betreffen, aber sie wird immer vom System selbst entworfen und exklusiv dort als ein Differenzänderungsprogramm vollzogen. Außerdem bezieht sich ‚Selbststeuerung‘ wie auch ‚Fremdsteuerung‘ in jedem Fall nur auf spezifische Differenzen, nicht aber auf Systeme als Kompaktgebilde im Unterschied zu Umwelten (Luhmann 1989b, 8; 2000b, 403). Somit kann Steuerung weder auf die Gesamtheit der Operationen des Systems bezogen noch als Ausrichtung des Systems an einem Modell des Systems im System verstanden werden. Der Steuerungsbegriff würde andernfalls mit dem Begriff der Selbstreproduktion zusammenfallen.156
155
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Daher kann man „Erwartungen“ auch als sozialkulturelle Replikatoren betrachten. Vgl. Stichweh 2005c. Ausführlicher Luhmann 1998; 1991b.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
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Insofern wird man heutzutage auf das bekannte kybernetische Motto „Every good regulator of a system must be a model of that system“ (Conant/Ashby 1970) verzichten müssen. Denn da ein nichttriviales System in jedem Moment immer neue selektive Operationen produziert, ist es für sich selbst unbestimmbar, so dass sich das System als black box – sowohl von außen wie von innen – darstellt.157 Die Beschreibung von Steuerung als einer rein systeminternen Operation bedeutet nun selbstverständlich nicht, dass das System eine Gesamtkontrolle über alle Kausalitäten ausüben könnte, die für den Erfolg eines Steuerungsversuchs erforderlich sind. Ebenso wenig wird in der Theorie operativ geschlossener Systeme ein Steuern, mit dem Wirkungen in der Systemumwelt erzielt werden sollen, als ein vergebliches Unterfangen betrachtet. Beide Aussagen wären schon deshalb unhaltbar, weil sich methodisch leicht feststellen lässt, dass selbstreferentielle wie fremdreferentielle Steuerungsprogramme ständig und massenhaft entweder die beabsichtigten Wirkungen verfehlen oder ihre Ziele erreichen (wobei die Bewertung des Gelingens oder Misslingens natürlich wiederum von einem Beobachter abhängt). In der Theorie selbstreferentieller Systeme wird daher auch betont, dass operative Schließung keineswegs eine kausale Isolierung bedeutet. Ein selbstreferentielles System ist durch seine Geschlossenheit vielmehr zur Offenheit gezwungen, denn es muss sich um Störungen, Irritationen und Ressourcen aus der Umwelt kümmern. Es ist auf Umwelt angewiesen, kann aber über seine externen kausalen Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten selbst disponieren (Luhmann 1985). Operative Geschlossenheit und kausale Offenheit werden also kombiniert. Das System entwickelt dabei einen Vorrat an Eigenkausalität, ohne jedoch dadurch die Möglichkeit einer Selbststeuerung zu erhalten, die in beherrschbarer Weise intendierte Gesamtzustände erzeugen könnte. Die Veränderung spezifischer Differenzen beeinflusst gleichzeitig spezifische Differenzen in anderen Unterscheidungen, und da das Bewirken von Wirkungen Zeit benötigt, entstehen Effekte unvorhersehbar und ungesteuert. Insofern zwingt Steuerung typischerweise zu späteren Korrekturen, also zu einem Um- und Nachsteuern (Stichweh 1990; Japp 1992), so dass dann nicht mehr unbedingt die ursprünglichen Zielvorstellungen, sondern eher deren unvorhergesehenen Wirkungen (die Nebenfolgen) Anleitung für Steuerung bieten. Den für eine solche Selbstkorrektur erforderlichen Vergleich von Beobachtungen des gegenwärtig erreichten Zustands und dem Blick zurück auf Steuerungsintentionen der Vergangenheit kann man als „Kontrolle“ bezeichnen (Luhmann 1989b; 1998). 157
Vgl. Luhmann 1988b, 342. Zu den Möglichkeiten des „whitening“ einer black box siehe Glanville 1982; 1988b.
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2. Reform und Akzeptanz
Durch Ereignisse, die das System als externe Einflüsse bestimmten Quellen in der Umwelt zurechnet, kann sich das System in den Zustand der Irritation versetzen. Ein fremdreferentielles Steuern kann daher allenfalls eine irritierende Auslösekausalität erreichen, die das System dann zu nicht vorhersagbaren und nicht determinierbaren Operationen anregt (Luhmann 2000b, 401). Somit ist ein grenzüberschreitender, intervenierender Zugriff durch Steuerung unmöglich. Was als Input und Output betrachtet wird, ist immer eine im System selbst erzeugte Information. Die Umwelt bleibt operativ unerreichbar. Weder gibt es Inputs, die das System dirigieren könnten, noch Steuerungsoperationen, die als Outputs das System in Richtung anderer Systeme verlassen könnten. Es geht bei Steuerung immer exklusiv um ein systeminternes Geschehen (Luhmann 1989b). Trotzdem können auch in der Theorie operativ geschlossener Systeme Input/Output-Modelle verwendet werden, nämlich als Fremdbeschreibung der Fremd- und Selbstbeobachtung eines Systems. Während sich die ältere Kybernetik an beobachtete Systeme einer ‚objektiven Realität‘ richtete, bezieht sich die neuere Kybernetik auf beobachtende Systeme; sie berücksichtigt, dass Wirklichkeiten die jeweils aktuellen Konstruktionen von Beobachtern sind und dass die Beobachter eines Steuerungsgeschehens immer in das Steuerungsgeschehen involviert sind (Glanville 1988b). Wenn man also herausfinden möchte, wer wen wie steuert, muss man Beobachter beobachten. Eine Steuerungstheorie, die als Fremdbeobachter selbstbeobachtende Systeme beschreibt, muss ihre eigenen Beobachtungen dann auf einer Ebene zweiter und dritter Ordnung ansiedeln, weil es um die externe Beobachtung eines Systems geht, welches beobachtet und sich bei diesem Beobachten beobachtet (Luhmann 1985; 1991a). Dieser beobachtungstheoretische Ansatz lässt sich mit Hilfe eines temporalisierten und Selbstbeobachtungen beschreibenden Input/Output-Modells auch auf die Steuerung von Organisationssystemen anwenden: Organisationen schließen sich operativ gegenüber ihrer Umwelt, indem sie Entscheidungskommunikation dadurch rekursiv vernetzen, dass Entscheidungen qua Erinnerung oder qua Antizipation anderen Entscheidungen als Prämisse dienen. Daher muss jede aktuelle Entscheidungsoperation die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft berücksichtigen. Ein Organisationssystem unterscheidet dabei in seiner jeweils gegenwärtigen Produktion zwischen Inputs, welche die von der Vergangenheit gegebenen Bedingungen markieren, und Outputs, die die zu erzeugenden oder zu ändernden Unterscheidungen bezeichnen und die das System als die zukünftig bewirkten Ergebnisse der aktuellen Entscheidungsproduktion betrachtet. Während im altkybernetischen Modell Input und Output ein ‚Rein und Raus‘ von Überschreitungen der System/Umwelt-Grenze meinte, geht es im temporalisierten Input/Output-Schema also nur noch um die Vergangenheit/Zukunft-
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
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Grenze und die vom System in diesen Zeithorizonten als Input oder Output bezeichneten Ereignisse oder Strukturen. Dass Outputs die Zukünfte des Systems markieren, war schon im altkybernetischen Input/Output-Modell angelegt. Auch dort symbolisierte der Output das Ziel, welches das System zu erreichen versucht. Nur wurde die Zeitdimension in diesem Konzept dadurch versteckt gehalten, dass Kausalkonstellationen als ein Kreislauf beschrieben wurden: Das altkybernetische System transformierte bestimmte Ursachen seiner Umwelt (Inputs) in bestimmte Wirkungen und gab diese nach außen ab (Outputs), wo diese Outputs dann über eine Rückkopplungsschleife wieder Inputs beeinflussen konnten. Kausalität ist jedoch nichts anderes als schematisierte Zeit, denn es müssen Ursachen vorliegen, bevor ihre Wirkungen eintreten (Luhmann 2000b, 178f.). Nichts entzieht sich der Zeit, auch nicht Kausalität: Ursachenketten verweisen in die Vergangenheit und Wirkungsketten in die Zukunft, wobei die Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen nur in der Gegenwart vollzogen werden kann. Damit ist bereits angedeutet, dass Kausalität nicht so verstanden werden darf, als ginge es um das Erkennen von Zusammenhängen, die die Welt schon in sich birgt. Kausalität ist nicht ‚natürlich‘ oder ‚göttlich‘ gegeben, sondern erfordert immer die Konstruktion eines Beobachters. Der Beobachter muss für sein Kausalitätsdesign aus einem Endloshorizont von in Betracht kommenden Ursachen und einem zweiten Endloshorizont von in Betracht kommenden Wirkungen auswählen und dann bestimmte Wirkungen bestimmten Ursachen zurechnen, weil andernfalls in dem Horizont unendlich vieler Ursachen und Wirkungen jede Ursache eine Wirkung und jede Wirkung eine Ursache bleiben würde (Luhmann 2000b, 178, 452; 2000c, 22f.). Mit dieser temporalisierten, konstruktivistischen Fassung von Kausalität wendet man sich zwangsläufig vom altkybernetischen Input/Output-Modell ab: Kausalität kann dann nicht mehr schlicht vorausgesetzt werden, sondern ist als immer wieder neu aktualisiertes Schema eines zu beobachtenden Beobachters aufzufassen. Zudem kann die Differenz von Ursachen und Wirkungen nicht mehr mit der Differenz von System und Umwelt in Übereinstimmung gebracht werden. Ein System kann bei seinen Kausalitätskonstruktionen sowohl Ursachen als auch Wirkungen sowohl im System als auch in der Umwelt verorten. Systeme „(…) lassen sich deshalb nicht kausal erklären (es sei denn: zur bloßen Selbstbefriedigung eines Beobachters), weil sie selbst über Kausalität disponieren (…)“ (Luhmann 2000c, 110). Für ein revidiertes Input/Output-Modell bietet es sich somit an, die Konstruktion kausaler Zusammenhänge dem System zu überlassen und die Zeitdimension in den Vordergrund zu rücken. Auf den hier interessierenden Systemtyp „Organisation“ bezogen, ist dann nochmals zu betonen, dass jede organisationale
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2. Reform und Akzeptanz
Entscheidung ein Ereignis ohne Dauer ist und dass das, was als Zukunft und Vergangenheit in einer Entscheidung vergegenwärtigt wird, in jeder Entscheidung immer wieder neu durch Selektion bestimmt werden muss. Das System hat dann jedes Mal die Wahl, ob es primär von Input-Zuständen (Vorher) oder primär von Output-Zuständen (Nachher) ausgehen möchte. Das Unbekanntsein der Zukunft ist dabei nun eine fortlaufende Ressource für organisationale Wünsche, was in Zukunft kommen möge. Der Impuls zur Steuerung entsteht durch Erinnerungen, die das System eine Zukunft projizieren lassen, die man nicht akzeptieren möchte (Luhmann 1998, 68). Man wünscht sich etwas anders als der Lauf der Dinge (Evolution) erwarten lässt und beginnt zu steuern. Steuerung betrifft daher immer die Handhabung selbstentworfener Unterscheidungen im Outputbereich des Systems. Die intendierten zukünftigen Zustände fungieren dabei als Richtungsangabe für die Veränderung der gewählten Differenzen. In Organisationen wird die angestrebte Richtung durch Zwecke vorgegeben. Zwecke sind bewertete Differenzformeln: Sie unterscheiden zwischen einem angestrebten Zustand, der erreicht werden soll, und einem Zustand, der eintreten würde, wenn man nichts täte.158 Steuerung bezieht sich nun immer auf den Versuch, Soll-Zustände und Ist-Zustände anzugleichen. Das kann dauern. Daher dienen in einer Organisation Zwecke als temporär stabile, weil wiederholt verwendbare Entscheidungsprämissen für Steuerungsoperationen, sofern die Steuerungsoperationen die definierten Zwecke auch tatsächlich als Anleitung benutzen. Die Zwecke fungieren auch im Fall von Steuerung als Entscheidungsprogramme, die ihre eigene Reichweite ausdehnen, indem sie den Spielraum der Richtigkeit weiterer Entscheidungen gleichsinnig beschränken. Insofern darf Steuerung nicht mit Planung verwechselt werden: Während Planungen darüber entscheiden, wie Programme, Personal und Kommunikationswege in der Organisation koordiniert werden, geht es bei Zweck-, bzw. Steuerungs- und Zielprogrammen um den engeren Bereich der primär zukunftsorientierten Entscheidungen. Der Begriff der organisationalen Steuerung beschreibt also die Entscheidungen, die darauf gerichtet sind, den Unterschied zwischen dem Zweck und dem, was jeweils aktuell vorliegt, zu verändern. Kommt es bei der Zwecksetzung auf die Differenz Treffen/Verfehlen bzw. Erreichen/Nichterreichen an, spricht man von Zielen.159 Ziele als Richtigkeitskriterien ermöglichen es der Organisation dann im Laufe der Steuerung auch, SollZustände und Ist-Zustände gegenüberzustellen, also Kontrolle auszuüben durch 158 159
Vgl. Luhmann 1997d; 2000b; 2000c. Siehe Luhmann 2000b, 162 (Fn. 17). Dabei dürfte die Frage des Gelingens oder Misslingens von Steuerungsinitiativen oft kontrovers beantwortet werden – in politisch-administrativen Organisationen vor allem über das Dual „Regierung“/„Opposition“ (Luhmann 2000c, 395).
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
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einen Vergleich von vergangenen Zielprojektionen mit gegenwärtigen Informationen. Da Steuerung sich auf durch Zwecke markierte spezifische Differenzen bezieht, wird das System die unmarkierte Seite seiner Zwecksetzungen: Mit der Spezifikation von Zielen, muss das System, welches Ziele verfolgt, von diesen Zielen unterschieden werden (Luhmann 1998, 68). Insofern kann weder Selbsterhaltung noch Selbstverbesserung des Systems ein mögliches Ziel im Sinne eines Programms sein. Wie bereits oben vermerkt, muss daher eine geplante Verbesserung des Gesamtzustandes einer Organisation, also Reform, immer gewissen Mindestanforderungen der Spezifizierung genügen – und das bedeutet: Es müssen bestimmte Reformziele formuliert werden. Zwecke sind immer mit organisationsinternen Wertungen im Schema „besser/schlechter“ behaftet: So soll beispielsweise Erdbeermarmelade produziert werden, weil diese Konfitüre nach Einschätzung der Marktforschungsabteilung eine höhere Rentabilität verspricht als Johannisbeer-, Sauerkirsch- oder Marillenmarmelade oder ein Brotaufstrich anderen Typs. Im Stadtpark möchte man Grünspechte, Dompfaffe und Zilpzalpe zur Förderung der Biodiversität ansiedeln, da die feldornithologischen Daten bezüglich dieser Arten nach Wertung der Umweltverwaltung einen Mangel in der Avifauna aufzeigen. Die Kunstausstellung soll mindestens 5000 Besucher attrahieren, weil niedrigere Besuchszahlen das Jahresdefizit des Museums vergrößern würden. In der Universität wird ein kaufmännisches Rechnungswesen eingeführt – man hat gehört, dass dieses besser als die Kameralistik ist. Solche Steuerungsversuche kommunizieren zukünftige Zustände als Absichten, und Absichten verweisen auf Kausalität (Luhmann 2000b, 403; 2000c, 25). Zielprogramme beinhalten daher Annahmen darüber, wie man das Ziel erreichen kann, also z. B. durch welchen finanziellen und personellen Aufwand man bestimmte Produkte herstellen kann oder welche Effekte aufgrund von Produkten bewirkt werden können. Dabei muss die Welt der Kausalbeziehungen nicht immer wieder neu erfunden werden. Die Organisation fertigt Schemata an, die dafür sorgen, dass nicht alle Systemoperationen vergessen werden, sondern einige Sinnkombinationen in standardisierter Form behalten, auf neue Situationen übertragen und wiederverwendet werden können.160 Sofern Schemata eine Abfolge von Ereignissen festlegen, kann man auch von Kausalzurechnung oder Skripts sprechen. Ihre Aufgabe ist ein „framing“ von Variationen: Schemata ermöglichen das Vergessen spezifi160
Zum systemtheoretischen Verständnis von „Schema“ und ähnlichen Begriffen wie „scripts“, „frames“, „cognitive maps“, „implicit theories“ siehe im Anschluss an Axelrod 1973; Lord/Foti 1986, 22ff.; Schank/Abelson 1977, 36ff. ausführlich Luhmann 1995a; 1997a; 2000b; 2000c; 2002a.
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scher Inhalte, „(…) ohne dass deshalb die frames für neue Inhalte gleich mit aufgegeben werden müssten“ (Japp 2001, 198). Schemata schaffen Vertrautheit in neuen, unvertrauten Situationen ohne monotone Wiederholungen. Daher werden Schemata nicht schematisch eingesetzt. Sie aktualisieren „geräuschlos“ Wissen, ohne dass die Kommunikation die mitgeführten Verweisungshorizonte und Einschränkungen eigens thematisieren müsste (Tacke 2001, 151). Kausalattributionsschemata unterscheiden Ereignisse als Ursachen und Wirkungen: „Gerade wenn niemand wissen kann, wie sich die endlose Menge von Kausalfaktoren zu Ursachen und Wirkungen verkettet (…)“ (Luhmann 1995d, 85), können Skripts benutzt werden, um Handlungsmöglichkeiten einzuschränken, ohne die Handlungen selbst festzulegen. Zwar werden die Kausalbeziehungen im Organisationssystem konstruiert, allerdings ohne die Möglichkeit, alle für ein Steuerungsresultat notwendigen Ursachen und Wirkungen selbst erzeugen und beherrschen zu können. Zweck/Mittel-Designs leiden häufig an einer Überschätzung von Steuerungsmöglichkeiten und erfinden dabei trivialisierende Kausalschemata, die vortäuschen, dass die Organisation über eine Unmenge kausaler Faktoren disponieren könne (Luhmann 2000b, 456f.; 2000c, 23f.). Reformideen erscheinen hier als besonders starke Simplifizierer: Aufgrund ihres technischen Modells des Wandels und eines umfassenden Verbesserungsanspruchs fertigen Reformkonzepte zum Teil extrem trivialisierende Skripte für Organisationen an. Hinsichtlich des Ausmaßes der Trivialisierung des Organisierens erfahren Reformen aber regelmäßig Konkurrenz von anderen Fällen der „construction of organizations“ (Brunsson/Sahlin-Andersson 2000), so zum Beispiel in Form besonders naiver Geschäftsmodelle von Existenzgründern. Das organisatorische Hauptproblem von Steuerungsversuchen liegt darin, dass man nicht weiß, ob die Bedingungen, die im Moment der Zieldefinition vorlagen, in der Zukunft noch zutreffen werden. Ziele der gegenwärtigen Zukunft lassen sich für die zukünftigen Gegenwarten nicht ‚einfrieren‘. Die Ziele werden in der Gegenwart für die Zukunft formuliert, und da die Zukunft keine Informationen in die Gegenwart sendet, kennt man die Bedingungen und Ereignisse der zukünftigen Gegenwarten nicht ausreichend. Im Moment der Zieldefinition ereignen sich gleichzeitig unzählige andere Dinge auf der Welt, „(…) und mit jeder weiteren Sekunde bis zum Zeitpunkt der Zielerreichungsmessung immer mehr (…)“ (Dammann 2001, 10). So entstehen durch Steuerung immer wieder neue ungesteuerte Folgen, die den organisationalen Wirkungsabsichten genau zuwiderlaufen können.161 161
Solche perversen Effekte von Steuerungsversuchen findet man sehr häufig – siehe nur das Beispiel der Bielefelder Baumschutzsatzung bei Luhmann 1997b, 211. Und tatsächlich wären seinerzeit einige Bäume in privaten Bielefelder Gärten nicht ‚vorsorglich‘ gefällt worden, wenn
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
101
Zweckprogramme und Planungen können daher niemals optimal sein, vielmehr „(…) ist eine auf Kontrolle künftiger Kausalverflechtungen abzielende Entscheidungspraxis in ihrer eigenen Gegenwart mit hoher Wahrscheinlichkeit falsch (…)“ (Luhmann 1981a, 406f; Hervorhebungen weggelassen). „Die Zukunft ist und bleibt, auch wenn verplant, unbekannt. In der Komplexität der Planungen sucht man eine Art Sicherheit, die die Zukunft nicht bieten kann“ (Luhmann 2000b, 231). Für Reformen bedeutet diese Intransparenz der Zukunft: Der „wind of change“ wird unvermeidlich zum „fog of change“.162 Hinzu kommt, dass sich die mit der ursprünglichen Zieldefinition verbundenen Informationen und Präferenzen ständig ändern können: Am Anfang einer Steuerungsperiode soll die als Ist-Zustand markierte Systemvergangenheit in die Richtung eines durch Ziele symbolisierten Soll-Zustands verändert werden. Im Verlauf des Entscheidungsprozesses kann aber ein genau umgekehrtes Vorgehen notwendig werden: Die Ziele, also die in der Vergangenheit formulierten SollZustände, werden dann an einen zeitlich späteren Ist-Zustand angeglichen, also an einer (nach der ursprünglichen Zielsetzung entstandenen) neueren Vergangenheit orientiert, die vom System als seine ‚Gegenwart‘ behandelt wird. Dass Ziele und Pläne der Vergangenheit an gegenwärtige Situationen angepasst werden, ist also keineswegs – wie im instrumentell-rationalen Talk immer wieder gerne behauptet – nur durch äußere Störungen und Unglücksfälle bedingt. Denn man kann die mit den Zielen verbundenen Wertvorstellungen und Präferenzen ändern (March/Olsen 1989, 66), bisher übersehene oder neue Aspekte einbeziehen oder die dem Steuerungsprogramm zugrunde gelegten Kausalannahmen ändern, zum Beispiel indem man feststellt, dass das Geld nicht ausreicht, um das Produkt in der gewünschten Form herzustellen. Die in diesem Abschnitt beschriebene Steuerungstheorie führt daher hinsichtlich der Frage nach den Möglichkeiten organisationaler Steuerung zu der Antwort, dass es für den Erfolg von Steuerungsversuchen nur auf die gewählten Differenzen ankommt, die durch die Steuerung verringert oder vergrößert werden sollen. Daher gibt die moderne Kybernetik den steuernden Systemen auch nicht den Ratschlag, nach dem Schema „groß/klein“ nun unbedingt bescheidene Ziele zu formulieren, die man ‚garantiert‘ erreichen kann. Es bietet sich für erfolgreiches Steuern allerdings an, die Spezifikation der zu verändernden Differenzen primär nach Maßgabe des eigenen Könnens vorzunehmen (Luhmann 1993b, 56ff.). Die Ziel-Mittel-Relation sollte also einer sorg-
162
nicht zwecks Baumschutz verboten worden wäre, Bäume zu fällen, sobald sie einen Stammumfang von 79 cm erreicht haben. Das ‚Einnebeln‘ sich wandelnder Organisation beschreiben Hannan/Pólos/Carrol 2003.
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2. Reform und Akzeptanz
fältigen kausalen Vorprüfung unterzogen werden,163 vorausgesetzt, es kommt auf das Erreichen und nicht lediglich auf das Darstellen der Ziele (also nur auf Talk) an. Wie bereits notiert, gehören nun aber Steuerungsversuche à la Reform zu den Musterbeispielen für die Überschätzung des organisationalen Könnens. Im Hinblick auf eine solche Fehlbewertung des eigenen Steuerungsvermögens wird auch von ‚Kontrollillusionen‘ (Kontrolle im zukunftsgerichteten Sinne des englischen „control“) gesprochen. Solche Illusionen persistieren zum einen aufgrund einer mangelnden Prüfung der Kausalannahmen von Steuerungsinitiativen (Luhmann 1982a; Dammann 1994), zum anderen, weil überzogene Wirkungserwartungen an Organisationen gerichtet werden, die vor allem in verselbständigten, organisationsfernen Diskursen immer wieder neu reproduziert werden. Hinzu kommt, dass Reformforderungen sehr oft von einer öffentlichen Meinung unterstützt und verstärkt werden, die (immer noch, auch im postheroischen Zeitalter) nach Helden sucht und Skripts anfertigt „für einen Messias, der nicht kommt“ (Luhmann 2000c, 300). Daher können Reformen auch häufig ganz unbescheiden auftreten und die Richtigkeit ihrer Vorschläge ‚ultraisieren‘. Für alle Steuerungsversuche gilt: Die Unerreichbarkeit der Zukunft, die Differenz von gegenwärtiger Zukunft und zukünftigen Gegenwarten, wird in Organisationen dadurch ‚überbrückt‘, dass Sicherheiten und Wahrscheinlichkeiten der Zielverwirklichung konstruiert werden (Luhmann 2000d, 95f.; 1997b, 213f.). Zwar geht es in jedem Fall einer Steuerung um einen Einzelfall, aber die Erfolge und Misserfolge der Vergangenheit können als Erfahrungen schematisch verarbeitet und in Projektionen genutzt werden. Es bleibt nun zu klären, wie Organisationen ihre Beobachtungen der ‚Machbarkeit‘ eines Vorhabens schematisieren: Welche Unterscheidungen verwenden Organisationen bei der Beschreibung ihrer Zukunftsgrenze, wenn es darum geht, die Stabilität von Kausalkonstellationen zu beurteilen? Und mit welchen Begriffen lassen sich diese in der soziologischen Fremdbeobachtung rekonstruieren? Im nächsten Abschnitt werde ich mich mit diesen Fragen näher befassen und vorschlagen, eine von Steuerungsannahmen geleitete organisationale Differenzierung von Zielen mit Hilfe der Unterscheidung von Produkten, Nachfrage und Effekten organisationssoziologisch zu beobachten.
163
Zum systemtheoretisch eingebetteten Vorschlag einer solchen „harten Pädagogik der Kausalität“ siehe Luhmann 1981e, 156; 1982a; Dammann 1994, 161ff. In der Politikwissenschaft spricht man heutzutage von „evidence-based policy making“, siehe z. B. Sanderson 2002, 9ff. Sowohl der politikwissenschaftliche als auch der systemtheoretisch angeleitete Ansatz fordern, dass bei Zieldefinitionen eigene und fremde Erfahrungen hinsichtlich des „what works“ als ‚Beweise‘ für die Herstellbarkeit von Kausalzusammenhängen genutzt werden.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
103
2.4.2 Die Unterscheidung von Produkten, Nachfrage und Effekten Fünf Jahrzehnte nach David Eastons Vorschlag, im Bereich der Wirkungen eines Systems „Outputs“ von darauf folgenden, unberechenbaren „Outcomes“ zu unterscheiden,164 zeigt sich in organisationalen Selbstbeschreibungen und in Reflexionstheorien der Organisation immer noch eine begriffliche Vernachlässigung der verschiedenen Zukunftsorientierungen im Zielbereich von Organisation. Sehr häufig werden für die Beschreibung der organisationalen Zukünfte im Kontext von Steuerung und Kontrolle solche Ausdrücke wie „Leistung“, „Ergebnis“, „Wirkung“, „Erfolg“, „Ziele“ oder ähnliche Bezeichnungen verwendet, die hinsichtlich verschiedener organisationaler Steuerungsannahmen indifferent sind.165 In anderen theoretischen Darstellungen wird zwar viel von Output und/oder Outcome (bzw. Impact) gesprochen. Diese Begriffe werden oft aber nicht als Unterscheidungen verschiedener organisationaler Kausalitätsunterstellungen thematisiert, sondern entweder separat166 oder synonym167 behandelt. Sofern in der Organisationtheorie (oder, im Anschluss an Easton, vor allem in der Politik- und Verwaltungswissenschaft) nach Steuerbarkeit unterschiedene Kausalkonstellationen im Zukunftsbereich in den Blick geraten,168 erscheinen die hierfür verwendeten Beobachtungsschemata aber angesichts des kybernetischen Forschungstands theoretisch oft unzureichend, sei es durch mangelnde begriffliche Präzision oder durch die Unterstellung beobachterunabhängiger, objektiv feststehender Kausalrelationen.169 Hinsichtlich der Selbstbeobachtung von Organisationen wurde bereits oben vermerkt, dass der Unterscheidungsgebrauch an der Zukunftsgrenze in Bezug auf Steuerungsannahmen nicht reflektiert wird. In organisationalen Zielsetzungen ist die Nutzung der Output/Outcome-Differenz zwar in einer methodischen Fremd164
165 166
167 168
169
Siehe Easton 1957; 1965a; 1965b. Outcomes bezeichnen die nicht kalkulierbaren Konsequenzen von Outputs ohne Rücksicht auf die Länge der Kausalkette, sofern die Outcomes dem Output ‚nachgespürt‘ (Easton spricht von „traceable“), also zugerechnet werden können, vgl. Easton 1965b, 351f. Das bedeutet, dass es zu unangenehmen Überraschungen im Verhältnis von Outputs und Outcomes kommen kann: „The surgeon may perform flawlessly, but the patient may die (…)“, liest man in diesem Zusammenhang bei Scott 1987, 136. Siehe zu diesem Befund ausführlich Dammann 2001. Es geht dann nur um Outputs oder nur um Impacts, siehe z. B. Wolf 2006; Argyris 1965; Rothman/Erlich/Teresa 1976 oder Dale 1960. Die Unterscheidung der Begriffe Output und Outcome bleibt etwa bei Katz/Kahn 1966 unklar. Hierfür finden sich in der Literatur, mal mehr und mal weniger in direkter Anlehnung an die Output/Outcome-Differenz, sehr unterschiedliche Konzepte, siehe z. B. Dose 2008; Wolf/ Deitelhoff/Engert 2007; Bauer 2008; Louis/Sieber 1979; Nullmeier 1998; Legge 1984; GreenPedersen 2005. Zur Kritik der Vorstellung, man könnte für soziale Systeme objektiv gegebene Kausalgesetze finden, siehe ausführlich Luhmann 1982b und Luhmann/Schorr 1982.
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2. Reform und Akzeptanz
beobachtung als Schema erkennbar; die Unterscheidung wird aber in organisationalen Beschreibungen der Zukunft nicht explizit kommunikativ sichtbar gemacht, also nicht durch entsprechend differenzierende Ausdrücke gekennzeichnet.170 Der Bereich organisationaler Zukünfte kann aber soziologisch zufriedenstellend semantisch betreut werden, indem man einem Vorschlag von Klaus Dammann folgt und die Begriffe „Produkte“, „Nachfrage“ und „Effekte“ voneinander abgrenzt (Dammann 2001).171 Für diese Begriffe finden sich im organisationalen Unterscheidungsgebrauch eine Vielzahl bekannter Synonyme und Fremdwörter, die man alternativ einsetzen könnte, z. B. „Maßnahmen“ oder „Güter“ für „Produkte“, „Interesse“ oder „Markt“ für „Nachfrage“ und „Wirkungen“ oder „Impact“ für „Effekte“. Diese Beispiele verdeutlichen nochmals: Es geht bei den Unterscheidungen „Produkte“, „Nachfrage“ und „Effekte“ um eine soziologisierte Fassung der von Organisationen selbst benutzten Unterscheidungen an der Zukunftsgrenze. Dabei ist diese Verwendung des Produktbegriffs zur Bezeichnung von Zukünften nun allerdings von einem in der Systemtheorie viel allgemeiner verwendeten Produktionsbegriff zu unterscheiden: Systeme (re-)produzieren sich selbst aus eigenen Produkten. In diesem Sinne kann im Fall von Organisation ‚Produkt‘ jede organisationale Kommunikation bezeichnen, weil Organisationen stets Entscheidungen produzieren. Dementsprechend könnte man unter Verwendung beider Produktbegriffe in der Systemtheorie formulieren: Eine Organisation produziert (hier: Produkt = Entscheidung) u. a. produktorientierte (hier: Produkt = beherrschbares Bewirken), nachfrageorientierte und effektorientierte Entscheidungen. Im Folgenden werde ich das Wort „Produkt“ vor allem in dem hier skizzierten spezifisch steuerungstheoretischen Sinne gebrauchen und dann im jeweiligen Kontext kenntlich machen, dass es um eine Abgrenzung zu Effekten und Nachfrage geht. Organisationen können ihre Zukünfte immer nur im selektiven Anschluss an Inputs entwerfen, also auf Basis des Vorhandenen und bisher Erreichten. Inputs symbolisieren somit das, was im Entscheiden als Vergangenheit erinnert wird. Definiert man Ziele, richtet sich der Blick auch in die Vergangenheit, denn es stellen sich unweigerlich Fragen nach den bereits vorhandenen Ressourcen für das Erreichen der Ziele (‚Wie viel Geld?‘; ‚Welches Personal?‘). Aus dem Blickwinkel der Organisation endet der eigene Produktionsprozess in der Zukunft mit dem Produkt oder fällt – bei bestimmten Dienstleistungen – mit diesem 170 171
Siehe dazu die Untersuchung von Kleidat 2003. In der Verwaltungswissenschaft findet sich mit den Unterscheidungen von Output, Impact und Outcome ein sehr ähnlicher Ansatz, der sich allerdings an kausalen „Mechanismen“ und an Akteuren orientiert. Siehe ausführlich Jann 1983, 46ff.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
105
„uno actu“ zusammen, indem das Produkt als Produzieren beobachtet wird (Dammann 1994; 2001). Die Produkte können dann zur weiteren Verfügung angeboten werden. Auf das Angebot der Produkte kann die Nachfrage eines Publikums folgen, etwa durch Kundinnen, Patienten, Zuschauer, Schülerinnen oder Interessenten, die anschließend diese Produkte konsumieren oder es bei der interessierten Nachfrage (ohne Konsum) belassen. Im weiteren Zeitverlauf können Effekte beobachtet werden, also bestimmte Wirkungen, die erwünscht sind oder nicht. Die Effekte können dann – ebenso wie schon vorher die Produkte – in der Publikumskommunikation nachgefragt werden (Dammann 2001). Die soeben beschriebene Sequenz von Organisationsvergangenheit, Produktion, Produkten, Angebot, Nachfrage, Konsum, Effekten und Effektnachfrage markiert acht verschiedene Zeithorizonte der Organisation. Die soziologische Fremdbeobachtung der von Organisationen an ihrer Zukunftsgrenze verwendeten Differenzierungen möchte ich nun aber im Anschluss an eine frühere Arbeit (Kleidat 2003) auf die Unterscheidung von Produkt-, Nachfrage- und Effektkommunikation begrenzt halten. Diese Trias verspricht im Kontext von Begriffen wie „Zukunft“, „Kausalität“, „Steuerung“ und „Publikum“ eine angemessene Reduktion organisationaler Zukunftsbeschreibungen, da sie sich methodisch als handhabbar erwiesen hat und theoretisch ausreichend präzise Abgrenzungsmöglichkeiten bietet. Bei dieser begrifflichen Reduktion organisationaler Markierungen wird dann beispielsweise die mögliche zusätzliche Differenzierung von Nachfrage und Konsum aufgehoben und diejenigen Erwartungen, die sich auf den Konsum organisationaler Produkte durch ein Publikum richten, in den Begriff der Nachfrage einbezogen. Abbildung 1:
Zeitperspektive der organisationalen Produktion in Form eines Input/Output-Modells
Inputs (Ressourcen)
Organisation (Produktion)
Produkte (Output)
Nachfrage (inkl. Konsum)
Effekte (Outcome) (Impact)
Vergangenheit
Gegenwärtiges Entscheiden
Zukunft 1
Zukunft 2
Zukunft 3
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2. Reform und Akzeptanz
In der Zeitdimension markieren Produkte, Nachfrage und Effekte aus Sicht der Organisation verschiedene Ereignisbereiche eines zukünftigen Prozesses, in dem Folgen jeweils aktueller Entscheidungen als Ziele oder Nebenfolgen des Entscheidens erscheinen können oder eben auch nicht. Es geht sachlich und zeitlich erst einmal nur um eine Auswahl und Sequenzierung der in der gegenwärtigen Gegenwart erwarteten zukünftigen Ereignisse. Dann aber stellt sich die Frage der vermuteten Zurechenbarkeit: Inwieweit kann das angestrebte Geschehen vollständig oder teilweise auf eigenes Entscheiden zugerechnet werden? Das, was erzielt werden soll, muss kausal irgendwie „traceable“ erscheinen. Ein Mundpflegeprodukte herstellendes Unternehmen kann beispielsweise seine Zukunftsgrenze etwa so skizzieren: Zahnpasta (Produkt); Kauf der Zahncreme durch Kunden (Nachfrage); finanzieller Gewinn des Unternehmens (selbstreferentieller Effekt); weißere Zähne des Kunden (fremdreferentieller Effekt). Nun kann natürlich ein angekündigter und gewünschter Effekt des Produkts „Zahncreme“ – zum Beispiel weißere Zähne – sich bei Ausbleiben des Effekts als ‚bloßes Gerede‘ erweisen (und zwar inklusive der Behauptung eines wissenschaftlichen Nachweises der gesicherten Kausalbeziehung zwischen Produkt und Effekt). In der Werbung für das Zahnpflegeprodukt war die Rede davon, dass der gewünschte Effekteintritt ‚klinisch bewiesen‘ sei. Doch man stellt fest, dass trotz strikter Befolgung der vom Hersteller empfohlenen Produktanwendung die eigenen Zähne der Farbe Gelb nachhaltig treu bleiben. Für die soziologische Unterscheidung der organisationalen Verweise auf die verschiedenen Zukünfte „Produkte“, „Nachfrage“ und „Effekte“ kommt es für die Beobachtbarkeit des Unterscheidungsgebrauchs allerdings überhaupt nicht darauf an, ob die beschriebenen Produkte ‚tatsächlich‘ hergestellt werden oder die genannten Effekte ‚wirklich‘ eintreten. Es geht bei diesen Begriffen immer nur um die Beobachtung, welche Vermutungen die beobachtete Organisation über Kausalbeziehungen entwirft. Was letztendlich in zukünftigen Gegenwarten passiert, ist (ohne zusätzliche soziologische Beobachtungsinteressen) für die Möglichkeit des Unterscheidens ohne Belang. In der Trias von Produkten, Nachfrage und Effekten ist unter dem Aspekt der Steuerung die Unterscheidung von Produkten und Effekten die Leitunterscheidung, denn sie markiert die Differenz von „kausal beherrschbar“ und „kausal unbeherrschbar“: Zwar symbolisieren sowohl Produkte als auch Nachfrage ebenso wie Effekte jeweils unterschiedliche Zukünfte und jeweils unterschiedliche organisationale Vermutungen über die Wahrscheinlichkeit einer kausalen Beherrschbarkeit. Doch die Grenze zwischen durch Organisation steuerbaren Zukünften und nicht steuerbaren Zukünften wird durch die Unterscheidung von Produkten und Effekten gesetzt. Bei Produkten vermutet die Organisation eine zuverlässige Herstellung zukünftiger Zustände im Sinne einer Beherrschbarkeit
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2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
der für die Differenzänderung gewählten Kausalrelationen. Genau umgekehrt fehlen dagegen bei Effekten solche Unterstellungen, weil vermutet wird, dass das Bewirken der Effekte auch von Faktoren abhängt, die als nicht von der Organisation beherrschbar akzeptiert werden. Je stärker die Annahme, dass äußere, nicht kontrollierbare Einflüsse mitwirken können, desto weniger wird eine mögliche Zielverwirklichung dem organisationalen Steuerungsversuch zugerechnet. Auf diese Weise werden Zielskripts mit eher ‚harten‘, technischen Kausalannahmen von solchen mit eher ‚weichen‘, lose gekoppelten Zusammenhängen von Ursachen und Wirkungen unterscheidbar. Der von der Organisation unterstellte organisationseigene Einfluss nimmt im Verlauf von Produkten über die Nachfrage zu Effekten ab, was sich grob vereinfacht folgendermaßen illustrieren lässt: Abbildung 2:
Organisationale Steuerungsannahmen im Hinblick auf Produkte, Nachfrage und Effekte
Organisation (Produktion)
Produkte (Output)
Nachfrage (inkl. Konsum)
Effekte (Outcome) (Impact)
Gegenwärtiges Entscheiden
Zukunft 1
Zukunft 2
Zukunft 3
Legende: vermuteter Einfluss der Organisation vermuteter Einfluss unberechenbarer externer Ereignisse
Bei der Herstellung von Produkten erwartet die Organisation eine gelingende kausale Isolierung: Man meint, die Kausalfaktoren ‚im Griff zu haben‘ und die Produktion ‚nach Plan‘ regeln und gestalten zu können. Produktionsstörungen (z. B. Technikversagen, erkranktes oder streikendes Personal) führen eher selten zu einem Steuerungsverlust in Gestalt eines dauerhaften Produktionsausfalls. In den meisten Fällen bewirken Störungen der organisationalen Produktion lediglich eine zeitliche Verzögerung des Produktoutputs (Dammann 2001, 5).
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2. Reform und Akzeptanz
In der Perspektive der Organisation kann die Nachfrage nach Produkten (oder Effekten) nur ‚indirekt‘ durch das Produkt selbst und durch die Art des Produktangebots motiviert werden. So beispielsweise mit Hilfe von Produktqualität, Preisen, Werbung oder – etwa im Fall von Schulen, Verwaltungen oder Gerichten – durch eine Verpflichtung des Publikums zur Abnahme der Produkte. ‚Direkt‘ wird die Erzeugung von Nachfrage zumeist den jeweiligen Publika zugerechnet, also als von Bürgern, Kundinnen, Klienten, Interessenten etc. zu realisierende Zustände erwartet. Denn aus organisationaler Sicht hängt es oft von den Entscheidungen des Publikums ab, inwiefern Produkte der Organisation interessieren und genutzt werden oder auch nicht. Bei der Steuerung der Nachfrage eines Produkts (oder eines Effekts) steuern Außenstehende immer mit. Die Verbindung zwischen Nachfrage und deren Ursachen wird als ‚brüchig‘ unterstellt, denn es ist bekannt: Eine erhöhte Nachfrage muss nicht auf ein verbessertes Produkt zurückzuführen sein, sondern kann beispielsweise auch auf der abnehmenden Zahl und Qualität von Konkurrenzangeboten beruhen oder mit dem Umstand, dass die Kundschaft eine erhöhte Konsumbereitschaft zeigt (insbesondere: am Monatsanfang, in der Vorweihnachtszeit) korrelieren. Auch kann beispielsweise ein Teil des Theaterpublikums ganz unabhängig von dem Produkt „Theateraufführung“ veranlasst sein, eine Vorstellung zu besuchen, z. B. wenn man von der Gattin dazu ‚eingeladen‘ wird, man selbst aber gar nicht auf die Idee käme, ein Theater zu besuchen. Effekte kennzeichnet, dass organisationale Unterstellungen einer Steuerbarkeit fehlen. Sofern sich eine Organisation auf diesen Zukunftsbereich bezieht, nimmt sie an, mit ihren Entscheidungen ‚Auslöseursachen‘ erzeugen zu können, die die Wahrscheinlichkeit des Auftretens der gewünschten Effekte erhöhen.172 Das Bewirken des Effekts wird dann aber als von solchen zukünftigen Ereignissen abhängig vermutet, die als unberechenbare und unzuverlässige Faktoren betrachtet werden und der Organisation als nicht oder nicht unmittelbar beeinflussbar erscheinen. Im Bereich der Effekte ist im Hinblick auf die Stabilität von Kausalannahmen allerdings zwischen Nah- und Ferneffekten zu unterscheiden: Naheffekte sind dadurch definiert, dass organisational erwartet wird, die Realisierung eines Effekts durch eigene Produkte garantieren zu können (Dammann 2001, 7f.). So, wenn etwa im Rahmen einer Subventionsbewilligung dem Produkt „ausgefülltes Überweisungsformular“ zugetraut wird, mit größter Sicherheit das Ankommen des Geldes beim Subventionsempfänger zu bewirken. Solche technischen Naheffekte treten nicht unbedingt früher ein als Ferneffekte, sie liegen nur näher im Hinblick auf die Erwartung einer organisationalen Steuer172
Dies entspricht der Definition Eastons: „Outcomes“ sind zwar unberechenbar, aber die Organisation leistet selbst einen kausalen Beitrag für den Effekteintritt, der „traceable“ ist, vgl. erneut Easton 1965b, 351f.
2.4 Reformziele und die Differenzierung von Steuerungsmöglichkeiten
109
barkeit. Weil man daher Naheffekte auch als Produkte auffassen kann, soll im Folgenden der Begriff der Effekte ausschließlich auf Ferneffekte bezogen werden. Der Vorteil des Gebrauchs der Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten liegt also darin, dass erkennbar wird: Verschiedene organisationale Zwecke, in deren Richtung gesteuert werden soll, sind nicht nur mit unterschiedlichen Sachverhalten, Spezifizierungsgraden und Konsenschancen verbunden, sondern werden auch mit verschiedenen zukünftigen Zeiten und Steuerbarkeitsvermutungen verknüpft. Entsprechend der mitgeführten Kausalannahmen werden Ziele von der Organisation danach eingeteilt, mit welcher Erfolgswahrscheinlichkeit zukünftige Ereignisse in Richtung der Zielverwirklichung von der Organisation beeinflusst werden können. Die soziologische Fremdbeobachtung des organisationalen Beobachtungsschemas von Produkt-, Nachfrage- und Effekt-Zwecken kann somit einerseits verdeutlichen, welche Zwecke für die beobachtete Organisation solche Zwecke sind, deren Bewirken ihr problemlos möglich erscheint. Anderseits wird sichtbar, an welche ihrer Ziele eine Organisation selbst nicht unbedingt glaubt. Abschließend möchte ich noch zwei theoretische Problemstellungen im Zusammenhang mit den Begriffen Produkte, Nachfrage und Effekte ansprechen: Eingangs wurde behauptet, dass Organisationen ihre Reformen unter dem Gesichtspunkt der Steuerbarkeit bewerten. Damit wird auf den ersten Blick ein Widerspruch zu der Aussage erzeugt, dass reformierende Organisationen in einer instrumentell-rationalen Perspektive von der Annahme ausgehen, ihre Reformziele erreichen zu können, also unabhängig von einer Differenzierung der Ziele entlang von Produkten, Nachfrage oder Effekten eine Beherrschbarkeit der Kausalverhältnisse in Bezug auf Reformentscheidungen vermuten. Ich werde auf diese Problemstellung im Kapitel 3 zurückkommen und mich an dieser Stelle mit dem Hinweis begnügen, dass für eine Auflösung des Problems die Unterscheidung von Generalisierung und Respezifikation einer Reform hinzugezogen werden muss. Eine weitere Frage bezieht sich auf die Anwendbarkeit des von „Produkten“ und „Effekten“ unterschiedenen Begriffs der „Nachfrage“ in einem speziellen Kontext von Reform: Wenn man annimmt, dass Reformentscheidungen mit einer Differenzierung der Rollen von Reformentscheider und Reformbetroffenen einhergehen, dann stellt sich bei internen Nachfrage-Zielen die Frage, inwieweit die Betroffenen theoretisch als „organisationsinternes Publikum“ begriffen werden können. Mit dieser Problemstellung wird sich der nächste Abschnitt befassen.
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2. Reform und Akzeptanz
2.5 Reformbetroffene als organisationsinternes Publikum Zwar generiert Reform einen Entscheidungszusammenhang zur Zustandsverbesserung der Organisation, der exklusiv im System veranstaltet wird. Das beabsichtigte Reformgeschehen kann aber Ziele mit Verweisen auf Internes (z. B.: ‚Wir werden kundenfreundlicher‘) und Externes (z. B.: ‚Wir werden kundenfreundlicher, um eine höhere Kundenzufriedenheit zu erzielen‘) ausstatten. Eine reformierende Organisation hat dann bei einer Verknüpfung mit Steuerungsvermutungen etwa die Möglichkeit, zwischen endogenen Reformprodukten (‚Kundenfreundlichkeit‘) und exogenen Reformeffekten (‚Kundenzufriedenheit‘) zu unterscheiden. Insofern stellt sich die Frage, welche der von Reform gewählten Differenzen entlang der System/Umwelt-Grenze von Organisation mit dem Fremdbeobachtungsschema Produkte, Nachfrage und Effekte überhaupt erfasst werden können. Theoretisch problematisch erscheint hier die Markierung von „Nachfrage“. Der Begriff der Nachfrage scheint nämlich auf den ersten Blick stets einen Bezug zur Organisationsumwelt zu implizieren. Dies trügt aber insofern, als dass ein Unterscheidungsgebrauch an der Zukunftsgrenze durch die Begriffe „Produkte“, „Nachfrage“ und „Effekte“ zwar mit Markierungen der Grenze von System und Umwelt zusammenfallen kann, aber nicht zusammenfallen muss. Sicherlich kommen Koinzidenzen des Verweisens auf Zukunft und auf Organisationsumwelt sehr häufig vor, etwa in publikumsorientierten Slogans wie ‚Wir bieten unseren Kunden maßgeschneiderte Lösungen‘, ‚Hier bauen wir für Sie ein Kaufhaus‘ oder ‚Die Bürgerinnen und Bürger werden durch die Gesundheitsreform mehr Geld in der Tasche haben‘. Ein Bezug der Begriffe auf ein organisationsexternes Publikum ist jedoch keinesfalls zwangsläufig. Denn Produkte, Nachfrage und Effekte können von der Organisation auch als exklusiv organisationsinternes Geschehen betrachtet werden. Während Produkt- und Effektbegriff als Leitunterscheidungen in Bezug auf organisationale Kausalannahmen ohne Bezug auf ein Publikum auskommen können, setzt der Nachfragebegriff nun allerdings eine Publikumsorientierung voraus. Organisationale Nachfrageerwartungen richten sich aber nicht zwangsläufig an Publika außerhalb der Organisation. Denn bestimmte Stellen der Organisation können andere Stellen der gleichen Organisation als ihr organisationsinternes Publikum betrachten.173 Dies wird insbesondere dann der Fall sein, wenn sich ein re-entry der System/Umwelt-Differenzierung in der Organisation vollzogen hat: Eine Suborganisation der Organisation kann die als eine interne Umwelt unterschiedene ‚Restorganisation‘ in Bezug auf ihre an diese adressierten 173
Von dieser Möglichkeit geht offenbar auch Kieserling 2004, 239 aus.
2.5 Reformbetroffene als organisationsinternes Publikum
111
Leistungen als Publikum beobachten. In Reflexionstheorien des Organisationstyps „Unternehmen“ werden solche Differenzierungen z. B. im Rahmen einer Beschreibung von Wissenstransferprozessen zwischen Teileinheiten der Organisation und der Einführung „interner Märkte“ angesprochen (Eccles/White 1988; Frost 2005). Und auch in der Theorie der Verwaltungsorganisation wird im Rahmen einer „internal economy“ von „demands by subunits“ gesprochen (Wamsley/Zald 1973, 67f.). Für eine systemtheoretische Beschreibung organisationsinterner Publika sprechen nun aber nicht nur Beobachtungen der Selbstbeobachtung von Organisationen, sondern ganz abstrakt auch die wissenschaftlichen Beobachtungsdirektiven der Systemtheorie, die bei ihrer Bildung von Begriffen solche Unterscheidungen präferiert, die eine Wiedereintrittsfähigkeit der Unterscheidung in das Unterscheiden erlauben (Luhmann 1990e, 380). Ob das systemtheoretische Verständnis des Publikumsbegriffs einen solchen re-entry spezifisch für den Fall von Organisationen erlaubt, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Denn die hier vorgetragene Annahme, dass sich Nachfrageerwartungen einer Organisation auf ein in dieser Organisation verortetes Publikum richten können, versteht sich im Anschluss an das systemtheoretische Begriffsverständnis nicht von selbst. In der soziologischen Systemtheorie ist der Publikumsbegriff bislang ohnehin nur selten im Kontext organisierter Sozialsysteme eingesetzt worden.174 Zumeist wird er in Bezug auf Interaktionssysteme und Funktionssysteme thematisiert: Systemtheoretisch geläufig ist etwa, dass im politischen Funktionssystem der Gesellschaft durch die Macht und Ohnmacht der Bevölkerung/Wählerschaft das Teilsystem des Publikums formiert wird oder Erziehung im Schulunterricht die Anwesenheit eines Publikums von Schülerinnen und Schülern voraussetzt (Luhmann 2000c; 2002a; 2010). Der systemtheoretische Publikumsbegriff bezieht sich zunächst einmal nur auf ein besonderes Komplementärverhältnis verschiedener Rollen,175 nämlich auf die Differenz und Korrespondenz von Expertinnen und Laien bzw. von aktiven und passiven Beobachtern in Form von Leistungsrollen und Publikumsrollen.176 Richterin/Angeklagter, Priester/Gemeindemitglied, Ärztin/Patient, Schauspielerin/Zuschauer, Lehrer/Schülerin – immer geht es um die Markierung von asym174
175
176
Eine Analyse von Publikumsrollen als komplementäre Strukturen der Leistungen von Organisationen bieten Tacke/Wagner 2005 oder Vollmer 1997. Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in abstrakter Form an dem Umfang der Verhaltensmöglichkeiten von Personen orientieren, sich aber nicht an bestimmte Personen richten. Durch die Möglichkeiten des Wechselns sowohl von unterschiedlichen Rollen, die eine Person bekleiden kann, als auch von verschiedenen Personen, die eine bestimmte Rolle übernehmen können, wird sozial eine Distanz zwischen Person und Rolle etabliert, vgl. Luhmann 1979, 595f.; 1984, 430ff. Siehe Luhmann 1977, 236ff.; 1987d, 148; 2000c, 116; Luhmann/Schorr 1979, 29ff.
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2. Reform und Akzeptanz
metrischen, sich zugleich aber ergänzenden Rollenbeziehungen. Dabei können Leistungs- oder Publikumsrolle gewechselt werden: Der straffällig gewordene Anwalt wird verklagt, die Geliebte liebt (bei gelingender Intimbeziehung) auch die Liebende,177 die Stammspielerin der Fußballmannschaft wird auf die Reservebank gesetzt usw. In der Publikumsbetrachtung der Leistungsrollen kann die Individualität der Publikumsmitglieder mehr oder weniger stark hervortreten.178 Zum einen kann ein Publikum als anonyme, wenig differenzierte Masse aufgefasst werden. Zum anderen werden Publika auch als eine Population von Rollenträgern verstanden, die sich im Hinblick auf Leistungen individuell äußern können: Die Schülerin meldet sich, der Patient jammert, der Kunde möchte gerne einen SwimmingPool. Doch auch wenn man das Publikum als eine Population von Individuen betrachtet: Eine Anwesenheit des Publikums ist für publikumsorientierte Kommunikation nicht erforderlich. Im Hinblick auf die „indirekte“ Selbstbeobachtung eines Systems ist das Publikum in vielen Fällen gerade in Form der quantitativen Aggregation interaktionsloser Äußerungen einer Population wichtig. Beispielsweise wird für den nachfrageorientierten Erfolg des Fernsehauftritts einer Musikgruppe nicht so sehr eine positive Reaktion des Studiopublikums (Applaus oder nicht), sondern vielmehr die Höhe der Einschaltquote entscheidend sein. Diese Überlegungen dürfen auf keinen Fall dazu verleiten, den Begriff des Publikums auf den Bereich der „Öffentlichkeit“ zu reduzieren.179 Im Unterschied zur Bedeutung seiner Wortwurzel ist der systemtheoretische Begriff des Publikums nicht begrenzt auf öffentliche Kommunikation. Vielmehr ruht ein systemtheoretisches Verständnis des Öffentlichen auf dem Publikumsbegriff auf.180 177
178 179
180
Während Stichweh 2005b, 26ff. im Bereich der Intimbeziehungen einen unauffälligen und raschen Wechsel von Leistungs- und Publikumsrolle beobachtet, nehmen Burzan et al. 2008, 31 an, dass im Intimsystem diese Rollendifferenzierung nicht genutzt wird. Vgl. Stichweh 2005a, 86f. Die Systemtheorie würde das Fassungsvermögen ihres rollentheoretisch fundierten Publikumsbegriffs meines Erachtens unnötig stark einschränken, falls sie den Begriff des Publikums strikt an die Unterscheidungen „öffentlich/privat“ oder „öffentlich/geheim“ koppeln (zu diesen Unterscheidungen im Kontext von Publika siehe Werron 2007, 386) und dann die Begriffe „Öffentlichkeit“ und „Publikum“ synonym gebrauchen würde. Dass eine solche strenge Verknüpfung von Öffentlichkeit und Publikum die Beobachtungsmöglichkeiten des Publikumsbegriffs zu sehr einengt, kann bereits anhand alltagssprachlicher Unterscheidungen plausibilisiert werden: Wenn das Kartenkontingent des Theaters erschöpft und die Vorstellung als ausverkauft annonciert werden kann, hat das Theater seine Öffentlichkeitsarbeit erledigt, denn in diesem Fall haben grundsätzlich nur noch Karteninhaber Zutritt zu der Vorstellung. Die Theateraufführung ist dann nicht mehr öffentlich zugänglich, aber sie hat dennoch ein Publikum. Gleiches gilt für das Publikum im nichtöffentlichen Unterricht privater und öffentlicher Schulen. Zu einem durch den Publikumsbegriff gestützten Verständnis von Öffentlichkeit siehe Stichweh 2000a, 85ff.
2.5 Reformbetroffene als organisationsinternes Publikum
113
Publikumsorientierte Kommunikation kann selbstverständlich auf Öffentlichkeit referieren, doch dadurch wird Öffentlichkeit nicht zum Merkmal des Publikumsbegriffs. Die Genese von Leistungs- und Publikumsrollen erfordert im systemtheoretischen Verständnis lediglich eine komplementäre, aber asymmetrische Beziehung zwischen denjenigen, die eine Sache als Professioneller oder QuasiProfessioneller selbst betreiben oder organisieren und denjenigen, die dieses Geschehen als Laien oder professionelle Unbeteiligte beobachten.181 Publika können daher auch in organisierten Sozialsystemen entstehen, die durch Mitgliedschaftsbedingungen einen allgemeinen, öffentlichen Zugang zum eigenen Kommunikationsnetzwerk verhindern. Organisationen verweisen zwar, wenn etwa von ‚Nachfrage‘, ‚Weltbevölkerung‘, ‚Klienten‘ oder ‚Markt‘ die Rede ist, zumeist auf ein organisationsexternes, prinzipiell unbegrenztes Publikum. Jedoch versammeln sie in ihren Grenzen oftmals höchst unterschiedliche fachliche Kompetenzen mit der Folge, dass organisationsinterne Publika generiert werden können. Unterschiede im Hinblick auf professionelles Know-how, Erfahrung und Geschick lassen Leistungs- und Publikumsrollen in Organisationen entstehen, deren Zuweisung in Bezug auf Kompetenzen fallweise – in Abhängigkeit von den in der jeweiligen Entscheidungsperiode benötigten Expertisen und Fähigkeiten – strukturiert wird und wechseln kann.182 Auch in Organisationen gilt: Bei einigen Fragen ist man Experte, bei anderen Laie, manchmal tut man etwas, manchmal schaut man zu. Organisationstheoretisch formuliert: Im Kontaktnetz eines Organisationssystems fungieren Kompetenzen als Adressen, um Kompetenzen und Inkompetenzen im Sinne der Unterscheidung von Können/Nichtkönnen für programmiertes und/oder situatives Entscheiden miteinander zu verknüpfen. Aufgrund reziproker Beobachtungen von Kompetenzen und Inkompetenzen entstehen Leistungsbereitschaften und Leistungserwartungen, die im organisationalen Gedächtnis erinnert werden können.183 Derartige asymmetrische Transaktionsbeziehungen von Kompetenzen strukturieren viele größere Organisationen auch in der Form, dass sich Teile der Organisation regelmäßig auf die übrigen Kompetenzen wie auf ein Publikum beziehen. Gemeint sind Organisationsteile, die als Suborganisationen mitunter solche Leistungen erstellen, die für alle organisationalen Kompetenzen frei erhältlich sind. Während das Leistungsangebot der Suborganisation als für alle Kompetenzen zugänglich dargestellt wird, ist die Leistungsherstellung – bedingt durch den Wiedereintritt der 181 182
183
Vgl. Stichweh 2005b, 15, 22; 2005a, 85; 2005d, 118. Diese Aussage wird u. a. auch durch folgende Beschreibung gestützt: „In einem soziologischen Verständnis der Stellung des Publikums spricht man von Publikumsrollen, die sich in einem Sozialsystem ausbilden und die für alle offenstehen, die zurzeit in dem betreffenden System keine systemdefinierenden Leistungsrollen innehaben.“ (Stichweh 2005a, 86). Ich schließe hier an Überlegungen an, die Christof Wehrsig am 26. Januar 2005 an der Universität Bielefeld mündlich vorgestellt hat.
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2. Reform und Akzeptanz
Unterscheidung von Organisation und Publikum in die Organisation – für die übrigen Kompetenzen unzugänglich. Beispiele hierfür sind betriebsärztliche Dienste, Einheiten für interne Organisationsberatung, Hochschulrechenzentren, Sicherheitsdienste, Verwaltungsbüchereien, Einrichtungen der Personalentwicklung, die anderen Mitarbeitern Fortbildungen anbieten usw. So kann der betriebsärztliche Dienst einer Universität etwa das folgende Zukunftsprogramm für sein organisationsinternes Publikum entwerfen: Eine im Herbst kostenlos angebotene Grippeschutzimpfung (Produkt-Ziel) soll möglichst von allen Beschäftigten der Universität in Anspruch genommen werden (Nachfrage-Ziel), um die durch Grippeerkrankungen bedingten Fehlzeiten des Personals zu reduzieren (Effekt-Ziel). Dieses Beispiel veranschaulicht nochmals die Ausgangsbehauptung der vorangegangenen Überlegungen: Nachfrage-Ziele können sich auch auf zukünftige Zustände beziehen, die auf die Kommunikation eines organisationsinternen Publikums verweisen. Im Fall von Reform findet man ebenfalls regelmäßig die Entstehung eines organisationsinternen Publikums durch die Ausbildung von Leistungsrollen und komplementären Publikumsrollen: Über die Initiierung einer Reform entscheidet „top down“ die hierarchische Spitze einer Organisation (Luhmann 2000b, 346; Brunsson 2006, 42). Die Organisationsleitung richtet bei einer gewissen stellenmäßigen Organisationsgröße zumeist eine Projektgruppe zur weiteren Bearbeitung der Reform ein, häufig in Form einer „task force“ bzw. einer „Parallelorganisation“,184 die die normale Hierarchie durchschneidet und die Expertise verschiedener ‚communities‘ einer Organisation zu verknüpfen versucht. Die Organisation gründet also in diesen Fällen in sich einen Zusammenhang von Kompetenzen, die als Team mit der Konzeptionierung, Konkretisierung und Umsetzung von Reform beauftragt werden. Diese organisationsinterne Grenzsetzung durch Reformprojektgruppen generiert in Bezug auf Reform eine Vernetzung von Leistungsrollen, die alle anderen vom Reformkonzept betroffenen, aber nicht an der Projektgruppe beteiligten Kompetenzen, als Publikum ihrer Tätigkeit betrachten. Nur in Organisationen mit sehr kleiner Stellenzahl und mit wenig ausgeprägten hierarchischen oder fachlichen Kompetenzunterschieden wird man die Formierung eines organisationsinternen Publikums durch Kompetenzdifferenzierung nach dem Schema von Leistungs- und Publikumsrollen kaum einmal entdecken können. Aber in den meisten Fällen von Reform werden sich Leistungs- und Publikumsrollen ausdifferenzieren und im Reformverlauf in einem sich verändernden Umfang und in wechselnden Rollenkonstellationen eine Vielzahl unterschiedlicher Stellen und Kompetenzen einbinden. Dabei werden sich an Publikumsrollen gerichtete Nachfrageerwartungen vor allem auch auf (unterstellte) 184
Siehe dazu Stein/Kanter 1980; Heckscher/Eisenstat/Rice 1994, 151ff.; Kanter/Stein/Jick 1992, 13.
2.5 Reformbetroffene als organisationsinternes Publikum
115
Irritationen und Motivationen beziehen: Die betroffenen Kolleginnen und Kollegen sollen sich in das Reformkonzept zwar nicht einmischen, aber sich für dieses interessieren, es verstehen und ‚gut finden‘. Zur Beschreibung von Rollenverhältnissen im Rahmen von Reformen unterscheidet die neo-institutionalistische Theorie der Reform zwischen „Reformers“ und „Reformees“ (Brunsson 2006; Brunsson 1993a; Brunsson/Olsen 1993a): Reformers beschreibt diejenigen, die mit der hierarchischen Kompetenz der organisationalen Machtspitze ausgestattet sind und über die Initiierung von Reformversuchen und die Art des Redens einer reformierenden Organisation entscheiden. Reformees bezeichnet dagegen solche Rollen, die die Entscheidungen der Reformers hinsichtlich einer Reform annehmen und befolgen und die gewünschten organisatorischen Änderungen bewirken sollen. Das Schema von Leistungs- und Publikumsrollen und die Talk-, Decision-, Action-Differenz kann man nun auf das Rollen-Dual „Reformers/Reformees“ in der Weise anwenden, dass Reformers in der Organisation für Talk und Decision verantwortlich sind und in diesen Entscheidungszusammenhängen die Leistungsrollen bekleiden, während Reformees im Bereich von Talk und Decision die Rolle des Publikums übernehmen. Eine solche Rollenasymmetrie wird man bei den meisten Reformen deutlich erkennen können. Dies zumindest zu Beginn einer Reform: In einer Reformperiode kann sich nämlich die Asymmetrie der Rollen etwa dadurch einschränken, dass sich im Laufe der Reform der Talk von Reformers und Reformees einander anpasst (Brunsson 1993a, 86f.). Im Bereich von Action kehren sich die Verhältnisse um: Reformees werden Leistungsrollen zugeschrieben, indem erwartet wird, dass die Reformees die Reform umsetzen, also Action erzeugen. Diese Reformtaten werden unterdessen von den Reformers in der Rolle des Publikums beobachtet. Der auf hierarchischen Kompetenzen basierenden Macht der Reformers begegnet somit auf Seiten der Reformees eine normale organisationale Gegenmacht,185 die durch die fachlich überlegene Kompetenz der Reformees und die Kapazitätsschranken der Reformers bedingt ist. In dieser Konstellation werden dann auch zumeist Informationsunterschiede und Interessenkollisionen hinsichtlich der Reform schnell sichtbar. Es versteht sich ja keineswegs von selbst, dass Reformen Zustimmung erfahren. Vielmehr ist die Diversität der Beobachtungsperspektiven normal (Glanville 1988a; Luhmann 1991a; 2000c) und die Zukunft „(…) zu unbekannt, als daß sie eine konfliktfreie Einschätzung ermöglichte“ (Luhmann 1997a, 1040). Zudem geraten Reformentscheidungen in Konflikt mit anderen Entscheidungen, so dass es sehr 185
Zum Verhältnis von Macht und Gegenmacht in organisierten Sozialsystemen siehe allgemein Luhmann 1975c, 107ff.
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2. Reform und Akzeptanz
oft zu Widerstand gegen Reformvorhaben kommt (Brunsson/Olsen 1993a, 6f.; Legge 1984, 41ff.; Luhmann 2000b, 333ff.). Solche Beobachtungen organisationaler ‚Kleinkriege‘ um Reform führen nun zu dem hier zentralen Thema der Akzeptanz von Reform. Wie kommt es dazu, dass Reformideen eine für organisierte Sozialsysteme derart große Attraktivität besitzen und immer wieder neu eine hohe Annahmewahrscheinlichkeit generieren können, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass Reformen ihre Ziele erreichen? Ich werde mögliche Antworten auf diese Frage im folgenden Abschnitt mit risikosoziologischen Überlegungen einleiten: Während Reformkommunikation Reformrisiken weitgehend ausspart und versichert, Organisationen könnten durch Reformen ihren Gesamtzustand verbessern, bestreitet die Soziologie eine solche Sicherheit und versichert ihrerseits, dass Reformen stets riskant und gefährlich sind.186 Aber wenn bei Reform nicht zu erwarten ist, dass eine reformierende Organisation ihre Reformziele erreicht, dann kommt es soziologisch umso mehr darauf an, zu verstehen, welche Problemlösungen stattdessen einer Organisation durch Reform geboten werden. Ein solches Verständnis der Funktionen von Reform wird im nächsten Abschnitt vorbereitet. 2.6 Organisationale Reformrisiken und Funktionen von Reform Reform ist immer Kommunikation. Kommunikation ist immer riskant:187 Kommunikation führt grundsätzlich zu einer Situation, in der entschieden werden muss, ob die mitgeteilte und verstandene Information angenommen oder abgelehnt wird. Man kann in der Kommunikation versuchen, dieses Problem zu kaschieren, Indifferenz oder Unentschiedenheit markieren, aber sich letztlich nie der Frage entziehen, ob man sich im Anschluss an eine Selektion zu einem Ja oder einem Nein entschließt. Da Kommunikation keineswegs Konsens erfordert oder auf Verständigung zusteuert, sondern immer auch der Anfang eines Streits sein und fortgesetzte Dissensmarkierung bedeuten kann, sind die Sinnvorschläge 186
187
Dabei kann in der soziologischen Fremdbeobachtung sowohl der Versuch von Strukturänderungen durch Reform als auch das Unterlassen solcher Entscheidungen riskant sein. Diese Facette von Kommunikation ist vor allem auch im Kreise von Juristinnen und Juristen bekannt. Ein erstes Beispiel ist der berühmte Lehrbuchfall der „Trierer Weinversteigerung“: Der ortsunkundige A besucht eine Weinversteigerung in Trier. Als er den befreundeten B entdeckt, winkt er ihm zu. Der Auktionator erteilt dem A aufgrund seiner Handbewegung den Zuschlag für den aktuellen Posten. Der A hat nun, trotz fehlender Kaufabsicht, den Posten Wein wirksam ersteigert; er kann sich zwar später von diesem Vertrag lösen, muss aber den so genannten Vertrauensschaden ersetzen. Ein zweites Beispiel ist das Risiko der Trauung: Das übereinstimmende ‚Ja-Wort‘ genügt – und schon gelten für die frisch Verheirateten Hunderte von Paragraphen des Familienrechts, die sich im Fall des späteren ‚Nein-Worts‘ (Scheidung) als Nachteil gegenüber einer ‚wilden Ehe‘ erweisen können.
2.6 Organisationale Reformrisiken und Funktionen von Reform
117
in der Kommunikation also stets dem Risiko unterworfen, abgelehnt zu werden.188 Von „Risiko“ kann in der Perspektive der modernen Soziologie immer dann gesprochen werden, wenn unwillkommene Folgen auf Entscheidungen zugerechnet werden: Es geht bei Risiken um mögliche, aber noch nicht eingetretene Schäden, die als Ergebnis einer Entscheidung beobachtet werden und die bei einer alternativen Entscheidung vermieden würden (Luhmann 1991a; 2006; Japp 2000). Art und Umfang des Schadens sind für den soziologischen Risikobegriff egal: Bei Risiken geht es nicht nur um Fallschirmspringen oder den Betrieb eines Atomkraftwerks – auch der Verzehr von Softeis kann bekanntermaßen schädlich sein. Es kommt nur darauf an, dass mit der Möglichkeit eines künftigen Nachteils gerechnet wird. Risiken betreffen somit immer den Zukunftshorizont einer gegenwärtigen Entscheidung. Bezüglich eines künftigen Schadeneintritts besteht im gegenwärtigen Zeitpunkt des Risikos stets Unsicherheit. Das Unsicherheit beobachtende System erzeugt diese Unsicherheit selbst – auch dann, wenn, wie es sehr häufig geschieht, auf die Umwelt als Hauptquelle von Unsicherheit verwiesen wird. Denn das System erzeugt sowohl das Wissen als auch das Nichtwissen, durch dessen Koinzidenz Unsicherheit entsteht,189 selbst: ‚Ich weiß z. B., dass es heute regnen wird, aber ich weiß nicht, wann genau – nehme ich einen Regenschirm mit oder riskiere ich es, bei dem Spaziergang nass zu werden?‘. Der mögliche Schadenseintritt ist immer unsicher, da dieser von Ereignissen abhängt, die in der Zukunft liegen. Die Zukunft ist zwar in jeder Aktualität vollkommen unbekannt, doch kann man in diesem Zeithorizont zwischen der gegenwärtigen Zukunft und den zukünftigen Gegenwarten unterscheiden: Während die zukünftigen Gegenwarten, einfach so sein werden, wie sie dann sein werden, kann man in der Gegenwart Beschreibungen der Zukunft anfertigen (Luhmann 2006, 140). Der Intransparenz der Zukunft wird begegnet, indem man Erfahrungen ausschöpft, also Daten (Ereignisse) der Vergangenheit interpretiert, diese in einen Zukunftshorizont projiziert und Zukunft im Modus des Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen beschreibt. Die künftigen Gegenwarten können dann natürlich ganz anders ausfallen, als die Zukunftsprognosen der Vergangenheit versichert haben. Hinzu kommt, dass eine aktuelle Beschreibung der Zukunft im nächsten Moment durch unzählige unbekannte Ereignisse schon wieder veraltet sein wird und somit die Zukunft in jeder neuen Gegenwart auf Grundlage immer neuer Umstände anders skizziert werden kann. Daher ist es unmöglich, objektive 188
189
Siehe dazu Luhmann 2008f, 115f. Kommt es dagegen auf Dissensmarkierung oder auf Konflikterzeugung an, wäre das Risiko allerdings darin zu sehen, dass ein Sinnvorschlag angenommen wird. Siehe beispielsweise Luhmann 2000b, 184.
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2. Reform und Akzeptanz
Kriterien für Risikoeinschätzungen zu finden. Ebenso wenig kann es gelingen, ein objektives Maß für die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, zu definieren. Risiken sind unkalkulierbar und Entscheidungen über Risiken sind selbst riskant, auch wenn versucht wird, Risiken zu mathematisieren und zu objektivieren. Auch Ingenieure (und andere, von denen erwartet wird, dass sie professionell nach Sicherheit streben) wissen bereits im Voraus, dass es vielleicht ganz anders kommen wird, aber sie behelfen sich mit probabilistischen Analysen. Im Hinblick auf zukünftige Folgen des Entscheidens, die als unsicher beobachtet werden, wird dann üblicherweise auf eine Abwägung bezüglich der Verteilung möglicher Vor- und Nachteile, der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und der mutmaßlichen Schadensgröße gesetzt. Weil die hierfür notwendigen Daten nur selten bekannt sind, lohnt es sich nicht, einen soziologischen Risikobegriff mit dem Merkmal der Kalkulierbarkeit zu belasten (Dammann 1993, 493). Mögliche Schäden einer Entscheidung sind von ihren Kosten zu unterscheiden. Kosten bezeichnen eine spezifische Art des Widerspruchs: Man will Kosten nicht, bewirkt sie aber absichtlich trotzdem, wenn es auf Grundlage der Kostenkalkulation so scheint, als würden die Vorteile die Nachteile überwiegen (Luhmann 1984, 519f.). Die Kosten für das Bewirken von Vorteilen kann man also berechnen und gegen den Nutzen der Entscheidung verrechnen. Risiken sind dagegen unberechenbar – man kann nur damit rechnen, dass man seine Entscheidung bereuen könnte. Riskant ist ein Entscheiden also immer dann, wenn die Möglichkeit einer späteren Umwertung einkalkuliert wird: Man beobachtet die eigene Entscheidung in der Weise, dass man diese vorhersehbar nachträglich bereuen wird, falls der mögliche Schaden, den man zu vermeiden gehofft hatte, in der zukünftigen Gegenwart tatsächlich eintreten sollte. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen enttäuschenden Überraschung nach der Entscheidung („negative post-decisional surprise“) wird durch eine übertrieben positive Bewertung des durch diese Entscheidung angestrebten Gesamtzustands gesteigert sowie durch das Vertrauen, diesen Zustand wie geplant zu erreichen (Harrison/March 1984). Man kann durch Entscheidung nur Schäden vermeiden, nicht aber Risiken. Jede Entscheidung birgt das Risiko, nachteilige Folgen bewirken zu können. Dies beruht darauf, dass immer die Möglichkeit besteht, dass irgendein Beobachter eines Geschehens einen Schaden auf irgendeine Entscheidung zurückführt: ‚Die Lava hat unser Eigenheim total zerstört – warum sind wir nur nach Neapel gezogen?‘. Die Differenzierungsmöglichkeiten des Zurechnens im Kontext von Schäden kann soziologisch mit der Unterscheidung von Risiko und Gefahr begriffen werden:190 Der Schaden in Form eines zerstörten Domizils ist ex ante 190
Siehe dazu ausführlich Luhmann 1990c; 1991a. In der heutigen Gesellschaft findet man zunehmend weniger Gefahren, da man sich gegen zahlreiche mögliche Unglücksfälle versichern
2.6 Organisationale Reformrisiken und Funktionen von Reform
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eine Gefahr, wenn ein Beobachter die mögliche Schadensursache auf etwas Externes, seine Umgebung (seine Umwelt), bezieht, also etwa davon ausgeht, dass der Vesuv aktiv ist und im Falle seiner Eruption Häuser in der ‚roten Zone‘ von Neapel zerstören kann. Rechnet der Beobachter dagegen auf sich selbst zu, sieht er also, dass er sich ‚in Gefahr begibt‘, wird der mögliche Schaden zum Risiko, beruht also auf Entscheidung, und sei es nur, dass man sich eine Gebäudeversicherung erspart hat. Mit Hilfe der Risiko/Gefahr-Differenz kann man demnach also die Zuweisung von Schadensursachen nach dem Schema endogen/exogen beobachten. In Bezug auf den gleichen Zukunftshorizont geht es entweder um Selbstzurechnung (Risiko) oder um Fremdzurechnung (Gefahr) eines möglichen Nachteils. Wenn man nun die klassische Unterscheidung von Risiko und Sicherheit beobachtet, fällt auf, dass der Risikogegenbegriff der Sicherheit als reiner Reflexionsbegriff fungiert (Luhmann 1991a, 28ff.; Japp 2000, 22f.). Denn man kann sich nicht – ganz entgegen dem üblichen Sprachgebrauch – zwischen Sicherheit und Risiko entscheiden. Es gibt keine risikofreie Sicherheit: Die Entscheidung für eine sicher anmutende Alternative birgt immer Unsicherheit über das Risiko des Opportunitätsverzichts. Man kann nicht sicher wissen, ob der durch Sicherheitspräferenz begründete Verzicht auf das Eingehen eines Risikos ein Vorteil oder ein Nachteil gewesen ist. Man kann Chancen nicht mit Sicherheit verlieren, denn es bleibt ja unsicher, ob die Chance positive Folgen gehabt hätte und man tatsächlich auf einen Vorteil verzichtet hat. Zugespitzt formuliert: Sicherheit kommt nicht vor – man wünscht sie sich nur, aber erreicht sie nie (Japp 2000, 22). Für Versicherungsexperten, Gentechnikgegner und Ingenieure bleibt die Unterscheidung von Sicherheit und Risiko natürlich relevant.191 Aber die systemtheoretische Risikosoziologie hat ihre Beobachtungen auf die Unterscheidung von Risiko und Gefahr umgestellt. Denn es macht sozial einen Unterschied, dass das Risiko derjenigen, die über mögliche Schäden entscheiden, zugleich eine Gefahr für diejenigen ist, die durch Entscheidungen anderer möglicherweise Nachteile erleiden (Luhmann 1990/2005, 143). Wenn diese beiden Zurechnungsperspektiven gesellschaftlich reflektiert werden, dann wird sich die Bereitschaft, eine Entscheidung zu akzeptieren, die für die Zukunft Nachteile, Katastrophen oder sonstiges Ungemach verheißt, ganz erheblich unterscheiden, nämlich je nachdem, ob man mit Verweis auf diese bedrohliche Zukunft nur ent-
191
oder – dank zunehmender Mobilität – diese vermeiden kann, also sich für das Risiko entscheiden kann, sich nicht zu versichern oder einem möglichen Schaden nicht auszuweichen, siehe Luhmann 2006. Klaus Peter Japp weist hinsichtlich der fortdauernden Bedeutung der Unterscheidung von „Sicherheit“ und „Risiko“ darauf hin, dass es gesellschaftlich eben einen Unterschied macht, wie einerseits Sicherheitsexpertinnen (z. B. Ingenieure) und wie andererseits Risikosoziologinnen mit dem Thema „Sicherheit“ umgehen, vgl. Japp 2000, 22f.
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2. Reform und Akzeptanz
scheidet oder ob man befürchten muss, von Schäden künftig als mögliches Opfer betroffen zu sein. Risiko und Gefahr erzeugen somit also die komplementären Rollen von Entscheidern und Betroffenen (Luhmann 1991a, 111ff.). Allerdings darf man diese Rollendifferenzierung nicht auf Fremdbetroffenheit reduzieren, also den Fall, dass die einen über etwas entscheiden, das dann andere nachteilig betreffen kann. Die Entscheider können auch selbst von den möglichen negativen Folgen ihrer eigenen Entscheidung getroffen werden. Insofern liegt es nahe, gemäß der Möglichkeit eigener oder fremder Betroffenheit zwei Risikotypen, nämlich Eigenrisiken und Fremdrisiken zu unterscheiden (Dammann 1993, 494ff.) Wie können nun die spezifischen Risiken derjenigen organisierten Sozialsysteme beschrieben werden, die sich für Reform entscheiden? Wenn auf diese Weise gefragt wird, dann wird vorausgesetzt, dass es bei den Risiken einer reformierenden Organisation um die Selektion möglicher Schäden, möglicher Entscheidungen und der möglichen Verknüpfung von Schäden und Entscheidungen durch verschiedene Beobachter geht, die Reformen auf verschiedene Art beobachten. Die übliche Risikoperspektive beruht auf der Erwartung eines Erfolgs instrumentell-rationaler Programme:192 Für einen Beobachter, der annimmt, dass eine Reform Erfolg im Sinne eines Erreichens ihrer Ziele haben sollte, weil er glaubt, die Reform könne eine Verbesserung des Organisierens bewirken, liegt das Risiko in der Möglichkeit des Verfehlens der Reformziele und damit in einem Ausbleiben eines besseren Zustands der Organisation. In Reflexionstheorien des Organisierens beschäftigt man sich in diesem Zusammenhang vor allem mit den zahlreichen Schwierigkeiten und Hindernissen auf dem Weg der Umsetzung von Reformideen: Hier werden ähnliche Probleme auf sehr viele verschiedene Arten benannt, beispielsweise geht es um fehlende Reformakzeptanz, fachliche Inkompetenz, knappe Reformprojektressourcen, mangelndes Vertrauen zwischen Stellen, Divergenz von Reform und Organisationskultur, hohe Personalfluktuation, Missverständnisse bei der Übersetzung von Reformideen in den Organisationsalltag, Motivationsmängel der Mitarbeiter, Führungsschwäche des ‚top managements‘, Ungehorsam, Trägheit, Konflikte, Widerstand oder Verlust von Kontrolle durch radikale Transformationen, durch zu viele und zu schnell erfolgende gleichzeitige Strukturbrüche.193 Es ist also auch in der instrumentell-rationalen Perspektive der üblichen Reformliteratur zumeist bekannt, dass Reformen in Organisation nicht unbedingt einstimmig bejubelt werden und es sich nicht anbietet, eine Organisation zwecks 192
193
Das instrumentell-rationale Organisationsmodell betrachtet Organisationen als hierarchisch gesteuerte und kontrollierte Mittel zur Verwirklichung klar definierter Ziele. Zur Kritik dieses Modells siehe beispielsweise Brunsson/Olsen 1993a. Hierzu ausführlich Caiden 1991 und Heckscher/Eisenstat/Rice 1994.
2.6 Organisationale Reformrisiken und Funktionen von Reform
121
Reform wie eine Trivialmaschine für eine gewisse Zeit außer Betrieb zu setzen, gemäß der Reformdiagnose zu reparieren, und dann wieder in Gang zu bringen. Probleme der Steuerung und der Akzeptanz werden dabei aber ganz überwiegend nur aus Sicht der organisationale Leitungsebene beschrieben. Eine soziologische Beobachtung von Reform kann demgegenüber mehrere Perspektiven anbieten, indem sie z. B. die oben vorgestellten Rollen von Reformers und Reformees risikosoziologisch modifizierend aufgreift und zwischen Reformentscheidern und Reformbetroffenen unterscheidet. Während die neoinstitutionalistische Unterscheidung von Reformers und Reformees verschiedene Reformrollen entlang der Talk-, Decision-, Action-Differenz beschreibt und dabei diesen Rollen hierarchische Positionen fest zuordnet, hat die Unterscheidung von Reformentscheidern und Reformbetroffenen ein größeres Fassungsvermögen und sie ist flexibler handhabbar: Sie erlaubt die Beobachtung von wechselnden Rollenkonstellationen der von Reformen betroffenen und der über Reform entscheidenden Stellen und Kompetenzen. Denn das Entscheiden über Reform in Form von Talk, Decision oder Action ist ebenso wenig an bestimmte organisationale Stellen gebunden, wie die komplementären Perspektiven, eine Reformzukunft als Gefahr oder Risiko zu betrachten oder die Möglichkeit, als Expertin eine Reformtätigkeit auszuüben oder als Laie bzw. fachlich kompetenter Zuschauer dieses Geschehen zu verfolgen. So werden in der Periode der Vorbereitung einer Reform typischerweise Kompetenzen an der Organisationsspitze über verschiedene Reformvorschläge verhandeln und möglicherweise das Risiko „Reform“ durch Entscheidung in Gang setzen, während subordinierte Kompetenzen als Publikum dieses Entscheiden unter dem Gesichtspunkt der Reformgefahr etwa als drohende Störung ihres gewohnten Organisationsalltags beobachten können. Dies entspricht dem Blick durch die neo-institutionalistische Linse, aber für eine situative Zuschreibung von Reformrollen reicht eine solche Betrachtung oft nicht aus. Sollte es tatsächlich zu dem Versuch kommen, Reformaction zu erzeugen, kann sich diese Rollenasymmetrie in der Hierarchie rasch umkehren: In fortgeschrittenen Reformphasen kann die Leitungsebene eine Gefahr etwa darin erkennen, dass ihre Reformideen in den Entscheidungen der Mitarbeiter im Organisationsalltag nicht beachtet oder verfremdet werden, so dass die Reform ihre Ziele verfehlen und nur ‚viel Lärm um nichts‘ produzieren könnte. Bei der möglichen Verteilung der Rollen von Reformentscheidern und Reformbetroffenen darf man auch nicht nur an selbstreferentielle Reformerwartungen denken. Grenzstellen einer reformierenden Organisation werden in Bezug auf die Organisationsumwelt häufig vor allem die ‚Fassadenfunktion‘ von Reformen im Blick haben und eine Reform auf externe Akzeptanzrisiken hin beobachten. Risiko und Gefahr einer Reform werden eben von einer Managerin der Leitungsebene oder der Pressechefin oder einem IT-Fachmann der Organisa-
122
2. Reform und Akzeptanz
tion – je nach Reformperiode, Reformrespezifikation und nach intern oder extern gerichteter Perspektive – auf eine ganz unterschiedliche Weise beobachtet. Auf Grundlage der Annahme, dass es normal ist, wenn verschiedene Stellen einer Organisation verschiedene Beobachtungen und Beschreibungen einer Reform erzeugen, kann man davon ausgehen, dass durch Reform auch verschiedene Interessen verstärkt sichtbar werden. Ein Interessenpluralismus in Organisationen ist ebenfalls normal, nur werden diese zeitweise latenten Unterschiede oft erst durch die im Zuge einer Reform erzeugten Differenz von Reformprotagonisten und Reformbetroffenen ‚aufgescheucht‘. Schließlich geht es bei Reform nicht um irgendeine organisatorische Kleinigkeit, sondern um die Bewertung der Organisation insgesamt, sei es durch Kritik des historisch erreichten Zustands oder durch das In-Aussicht-Stellen einer glorreichen Organisationszukunft. Damit tragen Reformen zu „kontroversen Selbstbeschreibungen des Systems“ bei (Luhmann 2000b, 337). In der Perspektive der üblichen Reformliteratur ist die Möglichkeit organisationaler Auseinandersetzungen um Reformen als „resistance to change“ bekannt.194 Die an dieses Akzeptanzrisiko anknüpfende, gängige Betrachtung, die Reform hätte gute Aussichten auf Erfolg, wenn sie sich in die Organisation einpasst, Widerstand überwindet und Akzeptanz findet, mutet allerdings tautologisch an: ‚Es gelingt, wenn es gelingt‘.195 Und auch wenn man ‚Organisationkultur‘ zum ‚Einpassen‘ hinzufügt, wird es nicht viel besser. Beiträge der RatgeberLiteratur (aber auch manche Texte der Organisationsforschung)196 schlagen zwar im Kontext von Organisationswandel oft vor, dass die Organisationsspitze sich als Kulturmanager versuchen solle, um top down die Organisationskultur in Richtung der Reform zu steuern. Aber sobald die ungeschriebenen Gesetze der Organisation kodifiziert und über ihre unentschiedenen Werte entschieden wird, geht es bereits nicht mehr um Organisationskultur – jedenfalls nicht mehr um unentschiedene (kulturelle) Entscheidungsprämissen im Sinne der systemtheoretischen Organisationssoziologie, sondern um neue Selbstbeschreibungen und vielleicht auch, falls es nicht nur beim Gerede über eine neue Organisationskultur bleibt, um neue Präferenzen und Regeln des Organisierens. Hinsichtlich der Behandlung des instrumentell-rationalen Risikos, dass sich ein Reformkonzept in das vorliegende Organisationssystem nicht ‚schmerzlos‘ einfügt, wäre bereits viel gewonnen, wenn man, statt immer nur neue Rezepte für gelingende ‚Überzeugungsarbeit‘ anzufertigen, verschiedene organisationale Bedingungen beschreibt, die eine Akzeptanz von Reform wahrscheinlich werden lassen. Die neo-institutionalistisch angeleitete Organisationsforschung hat hier 194 195 196
Siehe statt vieler zum Beispiel Legge 1984, 42ff. Vgl. Luhmann 2000b, 330. Siehe zum Beispiel Christensen/Lægreid 2007, 5.
2.6 Organisationale Reformrisiken und Funktionen von Reform
123
umfangreiche Vorarbeiten geleistet, indem sie, (teilweise mit ironischem Unterton) an den Erfolgskriterien einer instrumentell-rationalen Reformperspektive orientiert, die Vorteile der ‚dunklen Seite‘ von Reform, nämlich „Heuchelei“, „Vergesslichkeit“ und „Versagen“, für Organisationen aufgedeckt hat (Brunsson 1993b; 2006). Als organisationale Risiken einer Reform werden dann sowohl eine mangelnde Akzeptanz aufgrund inkonsistenter, überambitionierter Erwartungen genannt,197 als auch die Möglichkeiten einer durch Reform ausgelösten Unkontrollierbarkeit der Organisation und einer Verschlechterung ihres Gesamtzustands, die als weiterer Reformeffekt schließlich zum ‚Tode‘ der Organisation führen können.198 Das Risiko der Verschlechterung des Organisationszustands durch Reform wird in der neo-institutionalistischen Perspektive auch als ein Ausbleiben von Heuchelei spezifiziert: Erwartet wird, dass es (zumindest aus Sicht der Reformees) organisational schädlich ist, wenn Talk, Decision und Action im Sinne der Reformziele übereinstimmen und die Reform nicht nur Beschreibungen der Organisation und Planungen (primär zum Zwecke externer Akzeptanz) verändern, sondern auch die basalen Entscheidungsoperationen der Organisation ‚gestört‘ werden (Brunsson 1993b, 39). Die neo-institutionalistische und die systemtheoretische Organisationssoziologie stimmen nun darin überein, dass es für Organisationen riskant sein kann, nicht auf externe Reformerwartungen zu reagieren und organisationalen Talk nicht entsprechend dieser Erwartungen zu verändern. Darüber hinaus sieht man in der Systemtheorie auch ein Risiko darin, dass sich eine Organisation dagegen entscheidet, Änderungen einzuleiten, die über den Bereich von Talk hinausgehen und Entscheidungsprämissen betreffen.199 Denn so unwahrscheinlich es ist, dass Reformabsichten solche anschließenden Entscheidungen produzieren, die in künftigen Gegenwarten die ursprünglichen Ideen aktualisiert und etwas Positives bewirkt haben werden: Man kann nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sich Änderungen von Entscheidungsprämissen einstellen können, die organisational (als vorteilhaft akzeptierte) Effekte auslösen und die auch in einer evaluierenden Fremdbeobachtung als konsistente Konsequenz von Reformvorschlägen erscheinen. Die Evolution der Organisation erlaubt auch dieses Resultat. Die geplanten Reformziele werden dann gewissermaßen „auf dem Rücken der Evolution“ (Japp 2004, 73) erreicht. Unmöglich ist nur, ein durch Reform gewünschtes Ergebnis mit Sicherheit und im Sinne einer Eins-zu-eins-Umsetzung von Reformideen zu bewirken, denn es gilt: „(…) literal implementation is literally impossible (…)“ (Majone/Wildavsky 1978, 116). 197 198 199
Brunsson 1993b, 39f.; 1993a, 64; Brunsson/Olsen 1993b, 200. Brunsson 1993b, 44. „Das Risiko der Beibehaltung der ‚bewährten Strukturen‘ wird oft nicht gesehen oder unterschätzt (…)“, liest man bei Luhmann 2000b, 333.
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2. Reform und Akzeptanz
Ohne dies explizit so zu benennen, bezieht die neo-institutionalistische Theorie die Funktion von Reform primär auf Probleme der Akzeptanzbeschaffung in der organisationalen Umwelt. In diesem Zusammenhang hatte ich bereits oben von einer Fassadenfunktion von Reform gesprochen: Die Etablierung des instrumentell-rationalen Idealmodells der Organisation wird extern normativ erwartet, und Organisationen werden nur dann als Organisationen akzeptiert, wenn sie diesem Modell in irgendeiner Form gerecht werden oder zumindest versuchen, ihm zu entsprechen (Brunsson/Olsen 1993a; Brunsson 2006). In der Gesellschaft (abzüglich der modernen Organisationssoziologie) werden nun Reformen als ein besonders taugliches Mittel zur Verwirklichung des idealen Organisierens und/oder als Lösungen für problematische Organisationen anerkannt. Mit Reform kann eine Organisation also ihre gesellschaftliche Akzeptanz fördern, indem sie das Bestreben signalisiert, im Sinne des instrumentellrationalen Modells besser werden zu wollen. Dies setzt bereits voraus, dass nicht im Geheimen reformiert wird, sondern die Reform öffentlich bekannt gemacht wird.200 Dabei müssen Organisationen allerdings darauf achten, dass Reformergebnisse nicht evaluiert werden bzw. Reformevaluationsergebnisse nicht bekannt werden, da man riskiert, durch enttäuschende Ergebnisse der Reform an Akzeptanz in der Organisationsumwelt zu verlieren. Die bloße Verbalakustik (Talk) der Organisationsoptimierung, die zu Beginn der Reform Erwartungen aufgebaut hatte, die man später nicht erfüllen konnte, hallt dann dissonant nach und muss durch neue wohlklingende Darstellungen abgelöst werden. Wie bereits notiert, erzeugen Reformideen aber auch einen Bedarf für organisationsintern attribuierte Akzeptanz: Durch ihr Nein zu den Organisationsstrukturen der Vergangenheit und durch ihre Angebotspalette neuer, zukünftiger Strukturen provozieren Reformen interne Konflikte über das richtige Organisieren einschließlich des richtigen Wegs zum richtigen Organisieren. Reformen tragen somit zur kontroversen Selbstbeschreibung des Organisationssystems bei, und gerade diesen Beitrag kann man nun soziologisch als eine wichtige Funktion von Reformen verstehen (Luhmann 2000b, 337; Jung 2008a, 205ff.). Das Sichtbarwerden verschiedener Vorstellungen richtigen Organisierens ermöglicht einen Gewinn an Varietät, der zu Kontroversen führt, durch die sich eine Organisation besser kennen lernen kann. Denn im Allgemeinen erfordert eine zureichende Beschreibung eines komplexen Systems eine Mehrzahl verschiedenartiger Beschreibungen dieses Systems (Rosen 1977). In der systemtheoretischen Soziologie gehen die Vorschläge für die Bestimmung einer Funktion von Reform entsprechend dahin, dass diese sich auf die Frage bezieht, wie eine Organisation es vermeiden kann, aufgrund eines mangelnden Perspektivenpluralismus dauerhaft 200
Niklas Luhmann beschreibt die öffentliche Sichtbarkeit von Reform als „unvermeidlichen Nebeneffekt“, vgl. Luhmann 2000b, 346.
2.6 Organisationale Reformrisiken und Funktionen von Reform
125
blind gegenüber den Risiken der Veränderung oder Bewahrung eigener Strukturen zu werden.201 Für organisierte Sozialsysteme ist geplante Veränderung stets eine Option. Auf Basis einer Selbstbewertung nach Maßgabe der Unterscheidung von Mängeln und Verbesserungschancen können Organisationen immer wieder neu die Entscheidung treffen, ob sie sich selbst verändern oder ihre Strukturen lieber bewahren möchten. Die Kontingenz der organisationalen Strukturen bildet gewissermaßen einen Anreiz für die „Dauerzumutung“ von Reformvorschlägen (Luhmann 1975a, 43). Die Reformen inspirierende Beobachtung und Bewertung des Zustands der Organisation erfolgt zum einen anhand der Fragen, ob der Status quo der Organisation von ihr selbst als erfolgreich oder als verbesserungsbedürftig anerkannt wird und zum anderen, ob die aktuelle Zustandsbewertung durch auf die Umwelt bezogene Erwartungen bestätigt oder bezweifelt wird. Letzeres kann etwa dadurch erfolgen, dass neue Marktbedingungen umfangreiche Anpassungen nahelegen oder die Organisation von Gesetzen erfährt, die Reformen einfordern, oder man einfach nur einen Zeitungsartikel liest, der bescheinigt, dass man kein ‚gesundes Unternehmen‘ mehr darstellt. Die Problematisierung einer Organisation in der Folge bewertender Beobachtungen, sei es durch endogen oder exogen zugerechnetes Problematisieren, wird also immer von der Organisation selbst generiert. Reformen tauchen dann als kombinierte Problematisierungs-Problemlösungs-Pakete auf. Sie beschreiben Probleme, für die sie Lösungen anbieten können. Dabei werden Lösungen durch Reformziele symbolisiert, die im weiteren Entscheiden (je nach individueller organisatorischer Reformgeschichte mehr oder weniger) spezifiziert, zerkleinert, operationalisiert und demoliert werden. Die verschiedenen, alternativen Interpretationen der Reformziele, die Diskussionen um Vorteile und Nachteile sowie auch die Entwicklung von Gegenvorschlägen werden von der herkömmlichen Reformliteratur, die ja von einer grundsätzlich positiven Haltung gegenüber Reformen getragen wird, negativ bewertet, da Kontroversen die Akzeptanz eines Reformpakets einschränken, Reformideen aufweichen und deren Implementation behindern können. In einer 201
Vgl. Luhmann 2000b, 333ff.; Japp 2004, 77f. Bei dieser Problembeschreibung ist zu berücksichtigen, dass Organisationen sowohl in Anbetracht von eigenen Erfolgen als auch von Misserfolgen jeweils spezifische Blindheiten hinsichtlich ihrer Entscheidungen für Änderungen oder für Nichtänderungen verfestigen können, vgl. Japp 2004, 78. Siehe zu der durch Reform gesetzten Differenz von Verändern und Bewahren auch die formtheoretischen Überlegungen von Jung 2008a, 94ff. Jung schlägt in diesem Zusammenhang eine sehr allgemein ansetzende Neufassung des Reformbegriffs vor, der zufolge „Reform“ jegliche Veränderung im Kontext der Bewahrung von irgendetwas bedeuten soll. Damit wäre der Reformbegriff aber nicht mehr vom systemtheoretisch bereits etablierten Begriff der Strukturänderung unterscheidbar, so dass einer dieser beiden Begriffe theoretisch überflüssig würde.
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2. Reform und Akzeptanz
soziologischen Betrachtung von Reform wird an dieser Stelle hingegen eine Visibilisierungsfunktion erkennbar: Reformen gehen einher mit einer Offenlegung von ansonsten obskur gebliebenen Beschwerden und von bislang verborgenen Wünschen. Dieses Sichtbarwerden unterschiedlicher Vorstellungen – was man organisatorisch als falsch betrachtet und wie man die Organisation gerne hätte – führt zu Diskussionen und Kontroversen, durch die die Organisation eine Vielfalt möglicher Perspektiven für sich selbst hinzu gewinnt. Reformen produzieren somit einen Widerstand des Systems gegen sich selbst, der im Vergleich zum Schema von Problemen und Lösungen „ein besseres Verständnis von Realität“ erlaubt (Luhmann 2000c, 337). Probleme und Lösungen erfordern einen Konsens darüber, welche Selbstbeobachtungen ‚tatsächlich‘ Probleme sind und welche Lösungen die ‚richtigen‘ Lösungen sind. Was als Realität der Organisation begriffen werden kann, entsteht allerdings nicht primär dadurch, dass sich bestimmte Lösungen und Probleme aufdrängen bzw. Lösungen Probleme suchen, die sie bereits gelöst haben, auch wenn bei Problemen oft davon die Rede ist, man sei ‚auf dem Boden der Realität angekommen‘. Realität ist vielmehr durch Widerstand der Kommunikation gegen sich selbst erfahrbar (Luhmann 1997a, 95, 864f., 1126). Dies kann in Form der Zerstückelung einer Einheitsperspektive in eine Mehrzahl von gleichzeitig getesteten, sich widersprechenden Beschreibungen des Systems geschehen (Luhmann 2008d, 36). Durch Initiierung von Änderungen irritiert sich die Organisation selbst, und dabei wird durch das Schema Problem/Problemlösung eher verdunkelt, „(…) daß faktisch eine konfliktreiche, interessenbezogene Selbstbeschreibung ausgearbeitet wird“ (Luhmann 1997a, 794). Für den soziologischen Beobachter müsste ein großes Risiko für eine reformierende Organisation daher darin zu sehen sein, dass das Reformieren nicht die Funktion erfüllt, verschiedene, über die Reformvorschläge hinausgehende Beobachtungsweisen der Organisation sichtbar zu machen, die die für diese Organisation möglichen und akzeptablen Strukturen besser als vorher verdeutlichen. Der mögliche Schaden läge in einem Ausbleiben einer mehr Komplexität erfassenden Selbstmodellierung des Systems, in einer Konsolidierung spezifischer Blindheiten bzw. in einem Nichterkennen und einer Nichtausschöpfung von Alternativen möglichen Organisierens. Dieser Nachteil wäre allerdings nur unter der Voraussetzung zu beobachten, dass entweder ein Reformvorschlag gar keine Meinungsverschiedenheiten und keinen Widerstand hervorruft, sondern uneingeschränkt akzeptiert wird, oder aber, dass eine Reformidee überhaupt keine Unterstützung findet, es also gar nicht zu einem ‚Aufschrecken‘ des Systems kommt und die Idee sofort wieder vergessen wird. Mit dieser Risikobeschreibung gerät der soziologische Beobachter in einen Gegensatz zu instrumentell-rationalen Beobachtern, die das Risiko des Schei-
2.7 Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung
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terns einer Reform vor allem dadurch bedingt sehen, dass Reformvorschläge in einer Organisation Widerstand erzeugen und dann gar nicht oder nur bruchstückhaft umgesetzt werden. Die soziologische und die instrumentell-rationale Sichtweise des Reformrisikos verbindet hingegen, dass beide Perspektiven annehmen, dass reformbezogene Konflikte wahrscheinlich sind. In der soziologischen Perspektive erscheint nun die Beobachtung klärungsbedürftig, dass trotz der hohen Unwahrscheinlichkeit eines Reformerfolgs gemäß instrumentell-rationaler Kriterien dennoch von einer hohen Wahrscheinlichkeit der Annahme eines Reformpakets und des wiederholten Reformierens auszugehen ist. Mit der letztgenannten Aussage verbindet sich nochmals anders formuliert die Vermutung, dass Reformen über den einzelnen Reformversuch hinaus als ein Schema möglichen Organisierens akzeptiert werden, und zwar unabhängig vom Erreichen der ursprünglich gewünschten Reformergebnisse. Vor diesem Hintergrund hat die vor allem von Nils Brunsson geprägte neoinstitutionalistische Reformsoziologie die folgende Forschungsfrage ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses gerückt: Wie können Organisationen die Hoffnung aufrecht erhalten, dass sie durch Reform das Modell der instrumentell-rationalen Organisation verwirklichen können? In der weiteren Untersuchung werde ich dieses Erkenntnisinteresse modifizierend aufgreifen: Im Anschluss an die moderne systemtheoretische Soziologie werde ich zunächst das von der neoinstitutionalistischen Reformforschung gewählte Bezugsproblem der „Stabilisierung von Hoffnung“ auf „Herstellung von Akzeptanz“ umstellen. Unter Rückgriff auf systemtheoretische und neo-institutionalistische Theorie werde ich dann einige Annahmen hinsichtlich derjenigen sozialen Bedingungen plausibilisieren, die eine Akzeptanz von Reform wahrscheinlich werden lassen. Ich starte dieses Programm im folgenden Abschnitt mit einer Beschreibung des systemtheoretischen Verständnisses von „Akzeptanz“. 2.7 Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung Mit Ausnahme des allumfassenden Sinnhorizonts „Welt“ dupliziert Kommunikation die von ihr identifizierte Realität, indem sie diese stets in einer positiven und einer negativen Version anbietet.202 Kommunikation forciert in weiterer Kommunikation – wenn auch mitunter durch Unentschlossenheit oder Taktik verzögert – immer die Entscheidung für ein Ja oder ein Nein in Bezug auf das, was als identisch Bleibendes vorausgesetzt wird.203 Aber Kommunikation lässt zugleich 202 203
Siehe dazu und zum Folgenden Luhmann 1997a, 83, 221 ff.; 2008f, 115f.; 2004b, 177ff. Konsens und Dissens erfordern den Bezug auf sozial erzeugte Objekte, die als stabil bleibende Identitäten vorausgesetzt werden: Ein Streit über die richtige Zubereitung von Tête de Veau wäre
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2. Reform und Akzeptanz
die Freiheit, ob für Bejahung oder Verneinung der bezeichneten Objekte204 optiert wird. In der Kommunikation können somit alle Identitäten, die verneint werden, auch bejaht werden und umgekehrt. Folglich impliziert Kommunikation nicht schon von selbst ihre eigene Akzeptanz.205 Die Akzeptanz von Reformideen scheint auf den ersten (soziologischen) Blick nun besonders unwahrscheinlich: Warum ertragen Organisationen immer wieder die mit Reformen verbundenen Mühen und Ärgernisse, wenn es höchstwahrscheinlich nicht gelingt, die angekündigten Reformziele zu erreichen? Es stellt sich somit die Frage, wie die Akzeptanz eines Reformvorschlags in der Kommunikation wahrscheinlich wird. Eine Antwort setzt zunächst voraus, dass geklärt wird, was es – nach Maßgabe der hier favorisierten Kommunikationstheorie206 – bedeuten soll, wenn etwas akzeptiert wird. Im Werk Niklas Luhmanns wird der Akzeptanzbegriff Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre vor allem im Kontext des Legitimationsthemas diskutiert (Luhmann 1969; 1972). In späteren Schriften benutzt Luhmann den Akzeptanzbegriff oft als Synonym zu Begriffen wie Bejahung, Zustimmung oder Annahme, während „Legitimation“ als Selbstbeschreibungsformel behandelt wird.207 Andere systemtheoretisch orientierte Autoren gehen daher davon aus, dass heutzutage der einst mit „Legitimation durch Verfahren“ bezeichnete Problembereich im Rahmen einer Soziologie der Akzeptanz zu thematisieren ist, „Akzeptanz“ also begrifflich an die Stelle von „Legitimation“ getreten ist (Dammann 2000, 474; Vollmer 1996, 149 Fn. 7). Aus systemtheoretischer Sicht scheint es mir nun nicht so sehr auf die Beziehungen des Akzeptanzbegriffs im Verhältnis zu Begriffen wie „Toleranz“
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unmöglich, wenn man nicht darin übereinstimmen würde, was ein Kalbskopf ist, oder wenn ein Kalbskopf sich plötzlich verwandeln und auch eine Apfeltasche oder eine Boden-Boden-Rakete sein könnte. „Objekte“ sind nicht als gegebene Dinge einer Außenwelt zu verstehen, sondern als Referenzen eines Systems, vgl. Luhmann 1997a, 99. Dies gilt auch in der Zeitdimension: Über Annahme oder Ablehnung einer Sinnofferte wird erst anschließend, in weiterer Kommunikation entschieden. Für gesellschaftliche Strukturbildung ist es ein wichtiges Moment, dass der Anschluss von Kommunikation an Kommunikation Zeit erfordert und diese Eigenzeit eines Kommunikationssystems durch eigene Strukturen in Form von Erinnerungen und Erwartungen geordnet wird (Luhmann 1997a, 83). Dies geschieht in Bezug auf beliebige, stabil bleibende Objekte, die als Themen behandelt werden können. Insofern verzichte ich an dieser Stelle auf eine Auseinandersetzung mit Begriffskonzepten, die Akzeptanz als eine substantiell oder prozedural garantierte Eigenschaft von Entscheidungen oder Innovationen betrachten. Siehe zur Kritik eines solchen Begriffsverständnisses Vollmer 1996, 148f.; Lucke 1995, 46ff., 91f.; 1998, 17ff. Zur Legitimationssemantik des politischen Systems siehe Luhmann 2000c. Der „Abschied vom Legitimitätsbegriff“ (Lübbe 1991, 128) mit dem Ziel, Distanz zur klassischen Legitimitätstheorie zu gewinnen, kündigt sich bei Luhmann aber bereits in den frühen 1970er Jahren an, siehe dazu Luhmann 1972, 266.
2.7 Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung
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oder „Konformität“ anzukommen,208 da diese sich offensichtlich auf spezielle Fälle des Akzeptierens nach Maßgabe des Duals „Anpassung/Abweichung“ beziehen. Vertiefen möchte ich hingegen die für einen kommunikationstheoretischen Akzeptanzbegriff wichtige Unterscheidung von Sozialem und Psychischem und das Verhältnis zu den Begriffen „Konsens“ und „Verständigung“. Der Begriff der Akzeptanz erfasst zunächst einmal alle Fälle der Annahme von Kommunikation: Eine mitgeteilte und verstandene Information wird bejaht und nicht verneint. Dabei ist zu betonen, dass der soziologische Akzeptanzbegriff sich strikt auf einen sozialen Vorgang bezieht. Akzeptanz wird exklusiv durch explizite Anerkennung eines Sinnvorschlags oder durch Unterstellung einer Anerkennung in der Kommunikation erzeugt, unabhängig davon, was dabei gedacht wird.209 Denn für eine Zustimmung ist in der Kommunikation irrelevant, ob diese durch eine innere Überzeugung von der Richtigkeit des Sinnvorschlags motiviert wurde. Der Kommunikation genügt eine Unterstellung entsprechender psychischer Zustände. Daher ist es z. B. für den kommunikativen Erfolg der Inbesitznahme einer Wohnung gegen Entrichtung eines Mietzinses auch völlig unerheblich, ob der Vermieter es innerlich als richtig empfindet, dass ein unverheiratetes Paar eine gemeinsame Wohnung bezieht. Zudem wird Schweigen sehr oft als Zustimmung interpretiert (Janis 1983, 175). Im Rechtssystem wird in besonderen Fällen – so etwa, wenn die Voraussetzungen des § 362 des deutschen Handelsgesetzbuchs vorliegen – eine Annahme durch Schweigen sogar normativ erwartet. Die Beispiele zeigen: Es kommt für die soziale Annahme eines Sinnvorschlags nicht darauf an, was dabei im Bewusstsein eines Individuums passiert. Daher ist die Feststellung, dass man ‚eine Meinung teilt‘, im Allgemeinen auch nicht davon abhängig, dass man jeweils über den Grad der Gemeinsamkeit der Ansichten diskutiert und bei jeder Bejahung kritisch überprüft, wie weit die wechselseitige Zustimmung tatsächlich reicht. Man lässt sich lieber auf „Konsensfiktionen“ ein (Luhmann 1964a, 68f.). Heutzutage ist der Verweis auf die Illusion der Gleichsinnigkeit individueller Bewusstseinszustände durch den Begriff der Konsensfiktion kommunikationstheoretisch eigentlich entbehrlich. Es ist in der modernen Kommunikationstheorie seit langer Zeit deutlich, dass Konsens eine Übereinstimmung psychischer Zustände in der Kommunikation simuliert: Der Konsensbegriff bezieht sich auf die kommunikative Beobachtung von Übereinstimmung in der Kommunikation einschließlich der Unterstellung, dass die kommunikative Übereinstimmung psychische Korrelate hat.210 „Konsens“ kann also auf gar keinen Fall ein 208 209 210
Siehe dazu ausführlich Lucke 1995, 58ff. Vgl. Luhmann 1969, 28, 32f.; 1997a, 321. Siehe dazu ausführlich Luhmann 1972, 67f.; 1995f, 261f.; 1997a, 82.
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2. Reform und Akzeptanz
„Konvergieren von Mentalzuständen“ bedeuten (Luhmann 1987c, 139). Gemeinsame Meinungen, Anschauungen und Wertungen sind Konstruktionen der Kommunikation und nicht Ausdruck eines – wie auch immer man sich diese abwegige Vorstellung veranschaulichen mag – „Korpsgeists“ bzw. „kollektiven Bewusstseins“.211 Das, was im Inneren anderer Menschen passiert, was sie denken, fühlen, erwarten und mit welcher Beständigkeit sie dieses tun, kann ja von einem Beobachter – und sei es auf Basis psychologischer Methoden – nur vermutet, jedoch nie durch irgendeinen Direktzugriff geprüft werden. Bei aller möglichen Vertrautheit bleibt es unmöglich, den aktuellen Innenzustand anderer Individuen zu kennen. Auch wenn der Sprachgebrauch hiervon abweicht: Es ist weder möglich, seine Gedanken mitzuteilen, noch können die Gefühle anderer verstanden werden. Daher ist es eine Fiktion in der Kommunikation, wenn angenommen wird, dass Konsens als allseitige Zustimmung und vollständige Übereinstimmung in Form einer Fixierung entsprechender Bewusstseinszustände erzielt würde. Die Unterstellung von Konsens ermöglicht es stattdessen, dass Kommunikation auch bei sehr divergenten Mentalzuständen eine Gleichsinnigkeit der Meinungen zugrunde legen kann und eine Fortsetzung der Kommunikation wahrscheinlich wird. Konsensfiktionen mögen in Einzelfällen zu Missverständnissen und Fehlern führen, die Korrekturen erfordern, doch sind sie, insbesondere im Hinblick auf die Entlastung der Informationsverarbeitungskapazität und die Abkürzung des Kommunikationsbedarfs des jeweiligen Systems, normalerweise sozial sehr nützlich.212 Psychische und soziale Systeme haben zwar die Gemeinsamkeit, dass sie im Medium von Sinn operieren. Auch sind Kommunikations- und Bewusstseinssysteme durch die Verwendung von Sinn und Sprache strukturell miteinander gekoppelt. So ist Kommunikation immer auf Wahrnehmungsleistungen mehrerer mitwirkender Bewusstseinssysteme angewiesen. Aber psychische und soziale Systeme sind trotz struktureller Kopplung zugleich vollständig voneinander getrennt operierende Systeme, die keine ihrer Operationen dem jeweils anderen System übermitteln können. Nur ein Bewusstsein kann denken, und daher kann es seine Gedanken nur durch weiteres Denken fortsetzen, nicht aber durch Reden oder Schreiben. „Man kann das, was ein anderer wahrgenommen hat, nicht bestätigen und nicht widerlegen, nicht befragen und nicht beantworten“ (Luhmann 2008f, 112). Das, was im Bewusstsein vor sich geht, kann lediglich ein externer 211
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Wenn Weick und Roberts organisationstheoretisch einen „collective mind“ konstruieren, so bezieht sich dieser Ausdruck auf ein soziales Geschehen im Sinne eines „heedful interrelating“ (Weick/Roberts 1993). Gemeint ist, dass eine soziale Beziehung nicht durch individuellheroisches, sozial ‚gedankenloses‘ Handeln geprägt wird, sondern Achtsamkeit und Rücksicht auf die Gesamtsituation des jeweiligen Kommunikationssystems erkennbar sind. Siehe dazu Luhmann 2000b, 189.
2.7 Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung
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Auslöser von Kommunikation sein. Auch Kommunikation ist als eine eigenständige Operationsweise zu betrachten: Kommunikation kann nur an Kommunikation anschließen, da nur Kommunikation kommunizieren kann, während das, was nicht kommuniziert wird, auch nichts zur Kommunikation beisteuern kann. In der modernen Systemtheorie wird Kommunikation als Operation behandelt, die drei verschiedene, aber aufeinander bezogene Selektionen, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen, zu einer Einheit verknüpft (Luhmann 1984). „Information“ meint dabei eine Selektion aus einem Möglichkeitsrepertoire und bezieht sich auf eine Differenz, die eine Differenz bedeutet, das heißt: einen Systemzustand ändert. Zudem muss für die Genese von Kommunikation ein Verhalten gewählt werden, dass die Information beabsichtigt oder unabsichtlich mitteilt, so dass Handlungen konstruiert werden können, die selbst eine Auswahl sind und Markierungen ermöglichen, wer was auf welche Weise mitgeteilt hat. Damit ist aber noch keine Kommunikation entstanden, denn Kommunikation wird erst dann generiert, wenn ein Unterschied zwischen Information und Mitteilung verstanden wird. Durch das Verstehen wird angezeigt, dass sowohl Mitteilung als auch Information als Selektionen erlebt wurden, dass also die Information keine Selbstverständlichkeit darstellt und sich jemand zu ihrer Mitteilung entschlossen hat. Dieses Verstehen muss seinerseits mitgeteilt werden, so dass die Verstehenskomponente der Kommunikation zugleich die Anschlussbedingung für weitere Kommunikation bildet. „Die Elementareinheit von Kommunikation ist demnach als Synthese von drei Selektionen (Mitteilung, Information und Verstehen) zu bestimmen, die durch eine Minimalsequenz von zwei miteinander verbundenen Ereignissen realisiert wird, in der das zweite Ereignis das erste mit Hilfe der Unterscheidung von Mitteilung und Information beobachtet und ihm einen (mehr oder weniger genau) bestimmten Sinn verstehend zuweist“ (Schneider 2008, 132; Hervorhebungen des Originals weggelassen).
Das Verstehen ist in der Kommunikation also, um es nochmals zu betonen, als ein ausschließlich kommunikatives Element und nicht als Vorgang des Bewusstseins zu verstehen. Der Begriff des Verstehens ist damit streng formal definiert: Verstehen schließt auch das ‚Missverstehen‘ und das ‚Nichtverstehen‘ ein, so dass es für die Entstehung von Kommunikation weder auf eine gleichsinnige Abbildung in einem anderen Bewusstsein noch auf die Beobachtung eines gemeinsamen Verständnisses in weiterer Kommunikation ankommt. Die operative Eigenständigkeit von Kommunikationssystemen und Bewusstseinssystemen verdeutlicht: Es kann noch so viel miteinander und übereinander geredet werden – die Gedanken von anderen Bewusstseinssystemen bleiben stets völlig verborgen, sie sind nie erreichbar. Dies ist für Konsens auch gar
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2. Reform und Akzeptanz
nicht nötig, denn die Vermutung der Gleichsinnigkeit der Ansichten wird nur durch Kommunikation erzeugt. Wenn man die Einsicht teilt (bzw. die Möglichkeit konvergierender Sichtweisen unterstellt), dass einzig und allein durch Kommunikation geklärt und immer wieder neu getestet werden kann, ob Konsens oder Dissens besteht, dann muss man dennoch nicht die Möglichkeit bestreiten, dass bei Konsensbeobachtungen in der Kommunikation die Beobachtung (der Gedanke) von gemeinsam geteilten Ansichten, Erinnerungen oder Empfindungen in psychischen Systemen ebenfalls vollzogen wird. Allerdings sind solche psychischen Übereinstimmungen nichtsteuerbare und nichtprüfbare Nebenwirkungen der Kommunikation (Luhmann 2000b, 92). Entsprechendes gilt für Überzeugungsarbeit und Konsensbeschaffung: Ein Transport der Gedanken von Kopf zu Kopf ist ja undenkbar. Nur Kommunikation entscheidet, was konsensfähig ist. Konsens erfordert also kein ‚gemeinsames Bewusstsein‘ sondern nur eine entsprechende soziale Konstruktion, nämlich die kommunikative Simulation eines gemeinsamen Verständnisses. Nur im Sinne des möglichen Korrelierens der konsentierenden Zustimmung mit psychischen Zuständen kann von „mehr oder weniger fiktivem Konsens“ (Luhmann 1981a, 133) die Rede sein, denn der Konsensbegriff impliziert ja bereits die entsprechenden Fiktionen.213 Während der Konsensbegriff die Unterstellung gleicher Mentalzustände beinhaltet, fehlt es bei anderen Formen der Zustimmung an einer solchen Unterstellung. Denn es ist bekannt – man kann es an sich selbst (und letztendlich: nur an sich selbst) prüfen, dass Bejahung nicht mit einem gleichsinnigen psychischen Zustand einhergehen muss. Man kann einem Vorschlag in der Kommunikation zustimmen, ohne innerlich überzeugt zu sein. Auch kann man einem Vorschlag mit Überzeugung zustimmen, allerdings ohne die Überzeugung, dass man dauerhaft überzeugt bleiben wird (Luhmann 2000b, 94). Und man kann und wird un-
213
Dies gilt analog für den Dissensbegriff, denn die Beobachtung von Dissens enthält die kommunikative Unterstellung einer entsprechenden Divergenz von Zuständen in den verschiedenen, mitwirkenden Bewusstseinssystemen. Von diesem Verständnis des Dissensbegriffs, der Fiktionen in Bezug aus Psychisches impliziert, ist der Vorschlag zu unterscheiden, den Begriff der Dissensfiktion für Missverständnisse bezüglich eines Dissenses bzw. für latenten Konsens zu reservieren, siehe Hildebrandt 2006: Gemeint sind solche Fälle, in denen ein unbeteiligter Beobachter eines kommunikativen Geschehens in seiner Fremdbeobachtung dieses Geschehen als konsensuell versteht, dieser Beobachter zugleich aber die Selbstbeobachtung des Kommunikationssystems dergestalt interpretiert, dass in der Selbstbeobachtung des Systems dasselbe Geschehen als konfliktuell betrachtet wird. Der beobachtende Dritte meint also, eine Fiktion darin zu erkennen, dass die nach seiner Auffassung vermeintlich Dissentierenden im Grunde einer Meinung sind. Für solche Fälle wäre aber zu berücksichtigen, dass auch ein unbeteiligter Beobachter eines Geschehens die Kommunikation in Bezug auf Konsens oder Dissens missverstehen kann. Er würde dann einer ‚Dissensfiktionfiktion‘ unterliegen.
2.7 Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung
133
terstellen, dass es anderen ähnlich ergeht. Die Bejahung muss ja nur kommunikativ erfolgen und verlangt keine Verankerung in psychischen Operationen. Insofern muss kommunikationstheoretisch zwischen „Konsens“ und „Verständigung“ unterschieden werden (Hahn 1989, 354ff.). Verständigung ist auch ohne Konsens möglich, und diese Möglichkeit ist insbesondere für organisationale Kommunikation wichtig.214 Verständigungen über einen Vorschlag setzen weder eine Einsicht im Sinne des Lernens der Richtigkeit der Sinnofferte noch ein Anpassen der eigenen Meinung voraus. Es ist für eine Verständigung nicht notwendig, dass die Sinnzumutung über ihre Anerkennung hinaus gegen Widerstand verteidigt wird und auch nicht, dass eigene, dem Vorschlag widersprechende Überzeugungen aufgegeben werden (Luhmann 2000b, 206f., 468f.). Der Begriff der Verständigung bezieht sich also auch auf solche Fälle der Zustimmung, bei denen eine Übereinstimmung der Ansichten und Interessen von Individuen im Sinne konvergierender Bewusstseinszustände nicht unterstellt wird. Auch der Begriff der Akzeptanz verlangt nicht die Unterstellung einer Gleichsinnigkeit individueller Meinungen zu einem Sinnvorschlag (Luhmann 1969, 32f.). Er erfasst sowohl Konsens als auch Verständigungen. In seinem begrifflichen Fassungsvermögen geht der Akzeptanzbegriff aber noch deutlich über explizit kommunizierte Zustimmung in Form von Konsens und Verständigungen hinaus. Denn Akzeptanz erfordert nicht unbedingt, dass Zustimmung durch Konsens und Verständigungen kommunikativ sichtbar wird, vielmehr ist die Unterstellbarkeit des Akzeptierens entscheidend.215 Es genügt für die soziale Konstruktion von Akzeptanz bereits, wenn die Annahme von Sinnofferten behauptet wird (Luhmann 1972, 260ff.; Lucke 1995, 228f.; Dammann 2000, 474). Für eine sozial akzeptierte Vermutung von Akzeptanz kommt es weder auf die Ausbreitung bestimmter Überzeugungen noch auf die Zustimmung jedes Einzelnen an, sondern vielmehr auf das Ausbleiben von Widerspruch. Fehlt es an Widerstand und Protest, kann der Vorschlag als akzeptiert gelten (Luhmann 1969, 33f; 2000b, 93). Darüber hinaus genügt es bei den auf Publikumskommunikation bezogenen Akzeptanzerwartungen sogar, wenn sich Akzeptanz auf eine 214
215
Denn oft gibt es Auseinandersetzungen um Verständigung, etwa bei Tarifverhandlungen: „In keinem Falle aber darf Konsens angestrebt werden, dann käme man eben zu keiner Verständigung. Alle Einigung basiert auf der Grundlage grundsätzlicher Nicht-Einigkeit.“, liest man dazu bei Hahn 1989, 357. Heutzutage wird in der Akzeptanzforschung immer noch übersehen, dass die soziale Herstellung von Akzeptanz nicht nur auf expliziter Zustimmung von Betroffenen beruht, sondern auch die Unterstellung des Akzeptierens zur Akzeptanz von Entscheidungen führt. Es wundert dann nicht, wenn sich auf Grundlage einer solch unbefriedigenden Akzeptanztheorie insbesondere bei der Erforschung von Akzeptanz jenseits von Interaktionen, etwa bei der Untersuchung der Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates, „mehrere Definitions- und Messprobleme“ (Ullrich 2008, 70) ergeben.
134
2. Reform und Akzeptanz
Weise generalisieren lässt, dass der Protest von Einzelnen im Vergleich zur Position der akzeptierenden Mehrheit als isoliert und irrelevant erscheint, so dass die Beschreibung einer Akzeptanz der Allgemeinheit selbst als allgemein akzeptiert unterstellt werden kann.216 Die große Bedeutung der Unterstellbarkeit des Akzeptierens für die soziale Konstruktion von Akzeptanz kann leicht veranschaulicht werden, wenn man über sehr einfache Interaktionssituationen mit nur wenigen Beteiligten hinaus geht: Schon im Fall der Kommunikation unter Anwesenheit einer größeren Menge von Teilnehmerinnen ist es für die Feststellung von Akzeptanz weder notwendig noch typisch, dass die Zustimmung aller Anwesenden einzeln abgefragt wird. So wird beispielsweise in vielen Sitzungen eine ‚Einstimmigkeit‘ der Meinungen zu einem Vorschlag allein dadurch gewährleistet, dass oft darauf verzichtet wird, die Zustimmung aller Anwesenden einzeln abzufragen. Auch stellt sich bei vielen Entscheidungen der Eindruck von Einigkeit dadurch ein, dass Beteiligte den richtigen Moment des Protestierens verpassen: Bevor die Argumente für ein überzeugendes Contra formulierungsreif sind, ist die Zeit weit fortgeschritten und das Sitzungsgeschehen bereits beim nächsten Tagesordnungspunkt angekommen. Man hebt sich dann seinen Widerspruch für andere Gelegenheiten auf, die vielleicht niemals kommen werden. Der soziale Erfolg der Unterstellung von Zustimmung im Sinne einer Ablösung der Akzeptanz von der Bedingung des Konsenses oder der Verständigung in Interaktionen wird noch deutlicher, wenn man sich etwa vor Augen führt, dass Akzeptanz auch als „massenkommunikative Einverständnisfiktion“ (Lucke 1995, 408) generiert werden kann. So wird etwa in Bezug auf Entscheidungen der Politik die Akzeptanz mehrerer Millionen Betroffener häufig einfach ungeprüft vorausgesetzt, ohne dass es für die Unterstellung bzw. Darstellung einer stabilen Akzeptanz darauf ankäme, die behauptete mehrheitliche Zustimmung der Betroffenen und/oder die quantitative Unerheblichkeit der dissentierenden Minderheit wiederholt per Meinungsforschung, Bürgerentscheid oder Volksabstimmung zu belegen. Für die Herstellung der Akzeptanz kollektiv bindender Entscheidungen ist vielmehr die laufende Beobachtung einer durch strukturelle Kopplung von Massenmedien und Politik erzeugten öffentlichen Meinung ausschlaggebend. Insofern unterschätzen die Beschreibungen einer angeblich von Plebisziten geplagten „Abstimmungsgesellschaft“ (Lucke 1998, 29ff.) die zentrale Bedeutung der politisch und massenmedial erzeugten öffentlichen Meinung für den Erfolg von Akzeptanzunterstellungen. Unter dem Begriff „öffentliche Meinung“ darf – auch wenn dieser Mythos gepflegt wird – auf gar keinen Fall eine Aggregation der Einzelmeinungen in den Köpfen der Individuen verstanden werden (Beetz 2003, 118f.). Mit der öffentli216
Siehe dazu Luhmann 1969, 122f.; 1972, 263f.; 1981a, 132; Vollmer 1996, 150.
2.7 Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung
135
chen Meinung können offensichtlich weder ein Kondensat individueller Gedanken einer Bevölkerungsmasse noch die Äußerungen eines unvorstellbar riesigen Stammtisches gemeint sein. Bei der politisch und massenmedial konstruierten öffentlichen Meinung handelt es sich vielmehr um eine Darstellung der Ablehnung oder Zustimmung von abwesenden Beobachtern für abwesende Beobachter, die Entscheider und Betroffene von direkten Kontakten entlastet (Luhmann 2000c; Fuhse 2003). Dass es bei der öffentlichen Meinung um die inszenierte Behauptung von Zustimmung und das Fingieren von Ansichten und Interessen des Publikums geht, wird auch kaum verhohlen, wenn etwa von der Meinung der ‚schweigenden Mehrheit‘ die Rede ist. Dabei versteht sich wohl fast von selbst, dass die Behauptung von Akzeptanz ein Eigenrisiko erzeugt: Wenn sich nämlich herausstellt, dass die Stimmung in der Bevölkerung offensichtlich falsch eingeschätzt wurde, oder wenn die Akzeptanzunterstellung als Manipulationsversuch gewertet wird, kann dies in den eigenen Reihen (organisationsintern) zu einem Ansehensverlust in dem Sinne führen, als dass den Entscheidern hinsichtlich der korrekten Vermutung von Zuspruch eine Unfähigkeit bescheinigt wird (Lucke 1995, 228), während in Richtung des Publikums beispielsweise Vertrauensschäden eintreten können. Die Bedeutung der Unterstellbarkeit des Akzeptierens zeigt sich ebenso in Bezug auf die Produkte von Gerichtsverfahren: In der Bundesrepublik Deutschland werden jedes Jahr mehrere zehntausend Urteile ‚im Namen des Volkes‘ in der Erwartung verkündet, dass diese sowohl von den Prozessbeteiligten als auch von der Bevölkerung als unbeteiligten Dritten akzeptiert werden, und zwar ohne dass dabei behauptet würde, die Gerichtsentscheidungen entsprächen dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der Bevölkerung. Auch im Hinblick auf die Akzeptanz eines organisationsinternen Publikums ist ein Abfragen von Zuspruch entbehrlich: Es ist etwa bei weitreichenden, strategischer Entscheidungen des Managements großer Konzerne, die tausende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreffen können, nicht erforderlich, alle Beschäftigten einzeln um ihr Einverständnis zu bitten, um erfolgreich die Akzeptanz dieser Entscheidungen zu behaupten. Akzeptanz verlangt also weder eine explizite Bejahung der Entscheidenden jedes einzelnen Betroffenen noch die Unterstellung von ‚Popularität‘ im Sinne eines allgemeinen, positiven und von Richtigkeitsüberzeugungen getragenen Zuspruchs. Für die soziale Konstruktion und die Stabilisierbarkeit einer von Interaktion gelösten Akzeptanz ist vielmehr entscheidend, ein soziales Klima normativer Akzeptanzerwartung zu schaffen: Es geht darum, mit Erfolg (mit Akzeptanz der Akzeptanzunterstellung) zu unterstellen, dass beliebige Dritte, die weder Entscheider noch Betroffene sind, normativ erwarten, dass die Betroffenen einer Entscheidung lernen, den Sinnvorschlag der Entscheidenden anzuneh-
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2. Reform und Akzeptanz
men (Luhmann 1972, 260ff.; Vollmer 1996, 150ff.). Der Begriff der Akzeptanz erfasst demnach sowohl Formen explizit kommunizierter Zustimmung wie Konsens und Verständigung als auch das Unterstellen von Zustimmung. Sehr oft wird von Akzeptanz in einer Weise gesprochen, als ginge es um etwas inhärent Dauerhaftes. Natürlich ist es sozial unerlässlich, dass eine Vielzahl einmal bejahter Sinnvorschläge zu einer auf Dauer angelegten Struktur evoluieren, so dass in der Kommunikation ein Vorrat akzeptierten Sinns als Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt werden kann. Es würde beispielsweise zu einer großen Verunsicherung führen, wenn das Dezimalsystem nicht mehr als das weltweit verbreitetste, standardmäßig zu verwendende Zahlensystem anerkannt wäre und seine soziale Normalität ständig in Frage gestellt würde. Doch trotz der Stabilisierbarkeit der Akzeptanz durch Erinnerungen und Erwartungen ist diese grundsätzlich „(…) kein Inventar, das in einer Gesellschaft einfach und für immer ‚da‘ wäre (…) (Lucke 1995, 92; Hervorhebung auch im Original). Im Allgemeinen ist ja immer wieder neu und ereignishaft sowohl mit der Annahme als auch mit der Ablehnung eines Vorschlags zu rechnen. Das Akzeptieren von Kommunikation bedeutet zunächst einmal nur, dass die (erteilte, abgerufene oder unterstellte) Annahme einer Sinnofferte von Kommunikation als Prämisse der weiteren Kommunikation zugrunde gelegt wird (Luhmann 1997a, 321). Wenn Akzeptanz nicht vergessen wird, ist sie strukturbildend, denn es kann in weiterer Kommunikation getestet werden, ob die Zustimmung wiederholt wird oder ob eine wiederholte Zustimmung erwartet wurde. Aber Kommunikation provoziert ständig fortlaufend die Entscheidung zwischen Annahme oder Ablehnung, so dass eine Annahme bereits im nächsten Moment schon wieder widerrufen werden kann: ‚Möchten Sie Sahne zum Kuchen?‘; ‚Ja, gerne!‘; ‚Bitte sehr!‘; ‚Ach nein, lieber doch nicht‘. Akzeptanz setzt also nicht das Merkmal der Dauerhaftigkeit voraus, sondern lediglich ein einfaches „Ja“; sie ist bereits durch den zunächst einmaligen Vorgang der Zustimmung gegeben. Die Beobachtung von Akzeptanz hängt also nicht davon ab, dass eine effektive, zeitbeständige Bindung an den Sinnvorschlag eintritt.217 Die Annahme von Kommunikation führt vorerst nur zu der Möglichkeit, dass die Akzeptanz des Vorschlags erinnert und erwartet werden kann.
217
In den 1980er und 1990er Jahren verwendet Luhmann die Begriffe „Akzeptanz“, „Annahme“, „Bejahung“, „Zustimmung“ und ähnliche Begriffe oft synonym. In dieser Begriffsversion erfordert Akzeptanz offensichtlich nicht die Wiederholung der Bejahung eines Vorschlags, und auch nicht, dass der Vorschlag im Sinne einer Bindung, nicht mehr in Frage gestellt wird (Siehe zum Begriff der Bindung Luhmann 2000c, 84f.). Dagegen kann man die früheren Beschreibungen des Akzeptierens in Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ so verstehen, dass die Akzeptanz einer Entscheidung deren fortgesetzte Bejahung erfordert, nämlich in Form der „(…) Änderung von Erwartungen, die als Verhaltensprämissen dienen (…)“ (Luhmann 1969, 34).
2.8 Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien
137
2.8 Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien Auf jede Sinnofferte kann Kommunikation mit Ja oder mit Nein reagieren. Kommunikation hat weder eine immanente Tendenz zum Konsens noch zum Dissens. Je nachdem, ob Akzeptanz oder Ablehnung gewählt wird, kann der vorgeschlagene Sinn zur Prämisse der weiteren Kommunikation werden oder auch nicht. Die darauf folgende Kommunikation kann dann auf dem Ja-Gleis oder dem Nein-Gleis fortgesetzt werden oder in beiden Fällen, mit gleich hohen Wahrscheinlichkeiten für Bejahung und Verneinung, abgebrochen werden (Luhmann 2002b, 201f.). Nun birgt zwar grundsätzlich jeder Vorschlag – wie bereits oben hervorgehoben – jederzeit das Risiko der Ablehnung, und genauso hat stets jede Sinnselektion immer wieder neu die Chance auf eine Annahme. Doch die Chancen einer Wiederholung sind zwischen Annahme und Ablehnung ungleich verteilt: Die Konfirmierung einer Bejahung ist im Allgemeinen wahrscheinlicher als eine wiederholte Verneinung. In der Kommunikation wird ein angenommener Sinnvorschlag als Erfolg verzeichnet und mit positiven Prädikaten versehen, und dies erhöht die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung und der Generalisierung annehmender Kommunikation für die Wiederverwendung in anderen Kontexten.218 Die im Vergleich grundsätzlich besseren Chancen einer fortgesetzten Zustimmung gegenüber der Nichtakzeptanz erklären sich somit dadurch, dass Bejahung im Unterschied zur Verneinung zumeist positiv bewertet wird und sich gesellschaftlich eine Präferenz für Zustimmung etabliert hat.219 „Ja“ zu sagen, fällt zumeist leichter als eine Ablehnung zu signalisieren: „Wer anderer Meinung ist, muß dies ausdrücklich melden; er hat die Last der Initiative, das Schwergewicht einer vermuteten Selbstverständlichkeit und die Gefahr von Enttäuschungsreaktionen gegen sich“ (Luhmann 1964a, 68). Verneinungen führen leicht zu Konflikten, die ihrerseits, als solche, normalerweise abgelehnt werden: Eine auf ein Nein zurückkommunizierte Verneinung im Sinne doppelter Negation – also die Ablehnung der Ablehnung – genügt, und schon hat sich ein Konfliktsystem etabliert.220 Zudem riskiert die Ablehnung 218
219
220
Mit anderen Worten: Gesellschaftlich ist eine „positive Semantik des akzeptierten Sinnes“ entstanden (Luhmann 1997a, 317). Siehe dazu (im Anschluss an konversationsanalytische Forschungsergebnisse) Messmer 2003, 114ff. Für die Definition des systemtheoretischen Konfliktbegriffs greife ich einen Vorschlag auf, der sich beispielsweise in Beiträgen von Schneider 1999, 199ff.; Kieserling 1999, 266f., Lieckweg/Wehrsig 2001, 51 oder Messmer 2003, 86 findet: Dieser folgt zwar grundsätzlich dem Ansatz der Luhmannschen Konflikttheorie, modifiziert aber die Beschreibung der Genese von Konflikten durch das Erfordernis der „doppelten Verneinung“. Hartmann Tyrell weist schon Mitte der 1970er Jahre in handlungstheoretischer Formulierung auf den entscheidenden Punkt
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2. Reform und Akzeptanz
einen dauerhaften Abbruch von Kontakten, der im Normalfall ebenfalls negativ bewertet wird. Daher haben sich auf der Seite der Verneinung gesellschaftliche Schemata zur Filterung von Kontroversen und Gegnerschaft etabliert (Luhmann 1981a, 103f.). Loyalität, Taktgefühl, Schweigen, Diplomatie oder Tabuthemen gehören zu den Beispielen für solche Einrichtungen, die es ermöglichen, Ablehnung und Konflikte zu vermeiden. Statt seine abweichende Meinung kund zu tun, zensiert man sich oft lieber selbst (Janis 1983, 175). Die soziale Präferenz für Zustimmung und Konsens und die zumeist negative Wertung von Ablehnung und Auseinandersetzungen ist auch daran zu erkennen, dass alle Konfliktbeteiligten in der Darstellung von Konflikten gegenüber Dritten üblicherweise darauf achten, zu betonen, dass die andere Seite den Streit verschuldet hat, man selbst den Konflikt weder verursacht noch gewollt hat und lediglich auf die Angriffe der anderen Seite reagiert.221 Gesellschaftlich schlecht angesehen und daher vergleichsweise unwahrscheinlich ist auch ein wiederholter Wechsel von Ja und Nein zum selben Sinnangebot. Man darf lernen, seine Meinung ändern, es sich anders überlegen und Irrtümer eingestehen, aber dies darf nur begrenzt geschehen: Wer zur gleichen Frage immer wieder mehrfach Zustimmung und Ablehnung wechselt, sich also nicht zu seinen Zusagen oder Meinungen dauerhaft bekennt, der wird als opportunistisch, launisch, unberechenbar, charakterlos oder geistig verwirrt betrachtet. Ein Zick und Zack von Dissens- und Konsenssignalen kommt zwar vor, ist aber ungern gesehen. Mit der gesellschaftlichen Präferenz für akzeptierten Sinn gegenüber Verneinungen ist bereits eine soziale Bedingung genannt, die ganz allgemein die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz eines Sinnangebots in der Kommunikation steigert.222 Die grundsätzliche soziale Bevorzugung der Bejahung kommt insbesondere in Interaktionssystemen zum Tragen. Denn im Unterschied zur schriftlichen Kommunikation, die mangels sozialer Kontrolle durch anwesende Andere eine Verneinung von Sinnangeboten wahrscheinlicher werden lässt, wird unter Bedingungen der Anwesenheit und der mündlichen Kommunikation normalerweise in hohem Maße erwartet, auf Ablehnungen zu verzichten und allen Beteiligten eine unangenehme Situation zu ersparen.
221 222
hin, dass es bei Konflikten um eine „Abfolge von wechselweisen ‘Zuwiderhandlungen‘“ (Tyrell 1976, 259) geht. Ein einfaches Nein kann auch ohne weiteren Widerspruch akzeptiert werden, so dass bei sofortigem Nachgeben kein Konflikt entsteht. Erst im Fall der doppelten Verneinung, also frühestens durch die dritte Äußerung, wird Dissens bestätigt und ein Konflikt etabliert. Konflikt setzt also voraus, dass Ablehnung abgelehnt wird. Luhmann behandelt hingegen auch den Fall einfacher Ablehnung als Konflikt, vgl. Luhmann 1981a, 100; 1984, 530. Zur Darstellungsdimension von Konflikten siehe Schneider 1994, 203. Siehe dazu und zum Folgenden Luhmann 1997a, 204ff.
2.8 Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien
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Als das Medium der mündlichen Kommunikation garantiert die Sprache durch ihre Ja/Nein-Codierung, dass Kommunikation nicht immanent auf Verständigungen oder auf Konflikte hinsteuert, sondern die Freiheit bietet, zu allen identifizierten Realitäten ja oder nein zu sagen. Und je stärker der vorgeschlagene Sinn als Zumutung erscheint, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ein anderer ihn genauso erlebt und als Prämisse seines Handelns oder Erlebens übernimmt. In Bezug auf das sehr allgemeine Problem, ausreichende Akzeptanz zu erreichen, auch wenn die Ablehnung eines Sinngehalts wahrscheinlich ist, hat die Sprache nun einerseits selbst Techniken des Überredens und Überzeugens geschaffen – seit der Antike auch in der kunstvollen Form der Rhetorik. Andererseits wird dieses Problem durch die klare Entgegensetzung von Bejahung und Verneinung in der Sprache eher verschärft als gelöst. Insbesondere dann, wenn der Zumutungsgehalt des angebotenen Sinns steigt und sich Kommunikation auf größere räumliche und zeitliche Distanzen und auf unbekannte Zustände einstellen muss, entsteht ein Bedarf, die Kontingenz der anschließenden Kommunikation über die Möglichkeiten sprachlicher und schriftlicher Persuasionstechniken hinaus einzuschränken und Akzeptanz erwartbar zu machen. In der Evolution der Gesellschaft sind daher im Hinblick auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit erfolgreicher Kommunikation verschiedene Motivationsmittel entstanden, die in der modernen systemtheoretischen Soziologie „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“ oder auch „Erfolgsmedien“ genannt werden.223 Zum Katalog solcher Medien, die die Akzeptanzaussichten einer Selektion in der Kommunikation verbessern, gehören „Eigentum“/„Geld“, „Kunst“, „Macht“/„Recht“, „Liebe“, „Wahrheit“ und – mit Einschränkungen (Luhmann 1997a, 388, 408f.) – auch „Werte“.224 Die gesellschaftliche Funktion225 der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien 223
224
225
Die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien schließt bekanntlich an Talcott Parsons Theorie der Tauschmedien (Parsons 1969) an: Luhmann übernimmt den Ausdruck „symbolisch generalisiert“ von Parsons mitsamt seiner Bedeutung, führt die Medientheorie aber aus den Bereich der Intersystembeziehungen hinaus und setzt diese zur Analyse systeminterner Lösungen für das Problem der Unwahrscheinlichkeit einer Selektionsannahme ein. Siehe dazu Luhmann 1997a, 318ff. und Stichweh 1999b, 221. In der systemtheoretischen Forschung werden darüber hinaus beispielsweise auch „Kleidung“ (Bohn 2001), „Intelligenz“ (Baecker 2006) oder „Glaube“ (Dinkel 2001) als Kandidaten für weitere Erfolgsmedien diskutiert. Andreas Göbel weist darauf hin, dass hinsichtlich der Funktionen der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien in der Evolution der Systemtheorie eine Akzentverschiebung beobachtet werden kann: Das Bezugsproblem der Steigerung der Erfolgswahrscheinlichkeit von Kommunikation wird systemtheoretisch zunehmend von der Frage überlagert, wie sich Kommunikationsereignisse systemspezifisch identifizieren und strukturieren können vgl. Göbel 2000b, 240ff. Um die in dieser Arbeit interessierende Funktion der symbolisch generalisierten Kommu-
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2. Reform und Akzeptanz
bezieht sich nicht (wie speziell das Recht) primär auf die Sicherung von Erwartungen gegen Enttäuschungen. Erfolgsmedien richten sich auf das Problem der Unwahrscheinlichkeit, trotz hohem Zumutungsgehalt eines Sinnangebots zur Annahme dieser Selektion motivieren zu können: Wieso verzichten zum Beispiel Verkehrsteilnehmer vorübergehend auf Mobilität, wenn die Lichtzeichenanlage mittels des roten Signals das Anhalten gebietet? Die Antwort lautet: Weil durch Akzeptanz der Sinnzumutung „Halten bei roter Ampel“ diejenigen negativen Sanktionen vermieden werden, die durch eine Missachtung der in Form von Verkehrsvorschriften rechtlich codierten Amtsmacht drohen würden. Erfolgsmedien vollbringen also das Wunder, wahrscheinlich erfolglose Kommunikation in wahrscheinlich erfolgreiche Kommunikation zu verwandeln. Dies geschieht dadurch, dass die Verwendung von Erfolgsmedien an bestimmte Bedingungen geknüpft wird und diese Konditionierung der Selektion zum Motivationsfaktor wird (Luhmann 1997a, 320f., 203; 2000c, 60). Damit ist gemeint, dass ein anderer zur Annahme meiner Sinnzumutung leichter motiviert werden kann, wenn er weiß, dass meine Selektion durch bestimmte Bedingungen reguliert wird – so beispielsweise, wenn in der Kommunikation deutlich wird, dass die von mir beabsichtigte Inbesitznahme einer fremden Wohnung nur unter der Voraussetzung erfolgen wird, dass ich jeden Monat eine bestimmte Geldsumme an den Wohnungseigentümer entrichte. Außerdem werde ich selbst zur Nutzung und Beachtung der Konditionierungen motiviert, weil ich weiß, dass diese Selbstfestlegungen bei Gebrauch eines Kommunikationsmediums die Erfolgsaussichten meines Sinnvorschlags verbessern. Auf diese Weise können symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien gewährleisten, dass Kommunikation auch bei hoher Ablehnungswahrscheinlichkeit der Selektion ermutigt und mit Annahmechancen ausgestattet wird. Dabei ist das eingesetzte Kommunikationsmedium weder Ursache noch Folge der entsprechenden Kommunikation (Luhmann 1990e, 244): Das Medium entsteht einfach im kommunikativen Gebrauch, wenn es um die besondere Situation geht, Annahmebereitschaft über die Hürde einer außergewöhnlichen Zumutung hinweg zu erzeugen und Selektion und Motivation enger als üblich zu koppeln. Die Verknüpfung von Selektion und Motivation wird nun von den Erfolgsmedien Eigentum/Geld, Kunst, Macht/Recht, Liebe, Wahrheit und Werte auf verschiedene Art geleistet. Die Verschiedenartigkeit der Erfolgsmedien beruht auf der Ausdifferenzierung verschiedener sozialer Bezugsprobleme und Zurechnungskonstellationen. Bei den verschiedenen Zurechnungskonstellationen geht es um unterschiedliche Kombinationen der beiden sozialen Positionen „Alter“ und „Ego“ mit den beiden Zurechnungsmöglichkeiten „intern“ oder „extern“ nikationsmedien hervorzuheben, werde ich daher im Folgenden zumeist von Erfolgsmedien sprechen.
2.8 Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien
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bzw. „Handeln“ oder „Erleben“ in der Selbstbeobachtung der Kommunikation. Wenn eine Sinnofferte auf Akzeptanz oder Ablehnung hin getestet werden soll, so setzt dies ja voraus, dass auf zwei soziale Positionen, nämlich die Sonderhorizonte „Alter“ und „Ego“, verwiesen wird (Luhmann 1984, 119f.). Außerdem muss geklärt werden, ob die Verantwortung für die Selektion internal, als Handeln, dem System selbst oder external, als Erleben, der Umwelt zugerechnet wird. Dementsprechend kann man Erfolgsmedien u. a. danach unterscheiden, ob bei ihrem Gebrauch Ego und/oder Alter als handelnd und/oder erlebend betrachtet werden. Somit sind prinzipiell vier verschiedene Konstellationen bei gelingender Erfolgsmediennutzung möglich, und all diese Möglichkeiten, an die die Differenzierung der Medien anschließt, sind in der Evolution der Gesellschaft auch realisiert worden: Sinnreferenzen auf die Medien für „Wahrheit“ und „Werte“ führen im Erleben Alters zu einem entsprechenden Erleben Egos, während der Verweis auf „Macht“ bzw. „Recht“/„rechtlich codierte Macht“ im Handeln von Alter ein entsprechendes Handeln von Ego auslöst. Im Fall des Mediums „Liebe“ ermöglicht das Erleben Alters ein entsprechendes Handeln Egos. Dagegen wird bei der Verwendung der Symbole „Geld“/„Eigentum“ oder des Mediums „Kunst“ das Handeln Alters von Ego erlebt. Wenn hier bei gelingender Erfolgsmediennutzung von einer ‚Entsprechung‘ des Erlebens und/oder Handelns von Alter und Ego die Rede ist, dann ist diese Formulierung nicht so zu verstehen, dass sich durch Akzeptanz ähnliches oder gar identisches Handeln/Erleben einstellt. Vielmehr geht es bei einem ‚entsprechenden‘ Erleben oder Handeln um eine Komplementarität: Die symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien führen im Erfolgsfall zu einer strengeren Kopplung von Sinnmomenten in der Weise, dass der vorgeschlagene Sinn als Prämisse weiterer Kommunikation übernommen wird. Wie schaffen es nun die verschiedenen Kommunikationsmedien je für sich, bei hoher Ablehnungswahrscheinlichkeit des Sinnangebots trotzdem Akzeptanz zu erreichen?226 Wenn es um das Problem geht, neuartigem Wissen Geltung und Anerkennung zu verschaffen oder bereits akzeptiertes Wissen zu kritisieren, zu modifizieren oder auf sonstige Weise abzulehnen, dann kann man das Medium für Wahrheit ins Spiel bringen und das Wissen nach der Unterscheidung „wahr/unwahr“ einteilen. Man darf dabei – insbesondere wenn Zweifel bestehen – nicht einfach etwas feststellen und sagen, dass etwas der Fall sei, sondern muss auf Beweisbares, Wahres oder wissenschaftlich Begründetes referieren können. Man wird dann etwa die Behauptung, dass das Sauerstoffbrennen im Inneren extrem schwerer Sterne (mindestens achtfache Sonnenmasse) erst nach dem Neonbrennen in der Spätphase solcher Sterne einsetzt, nicht einfach für sich 226
Siehe dazu und zum Folgenden Luhmann 1997a, 316ff.
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2. Reform und Akzeptanz
stehen lassen, sondern diese Aussage durch das Wahrheitssymbol stützen, indem man die Behauptung dadurch ergänzt, dass man sagt, dass dies (durch Theorien und Methoden) bewiesen ist. Bei der Nutzung des Wahrheitsmediums darf die Selektion der Information weder Alter noch Ego zugerechnet werden. Die Wahrheit darf nicht als eigene Absicht oder als persönliches oder organisatorisches Interesse auftreten, sie muss als eine Umweltinformation stilisiert sein, also extern zugerechnet werden, so dass die erworbenen Erkenntnisse den am Kommunikationsgeschehen Beteiligten als ein einander entsprechendes Erleben von Alter und Ego erscheinen. Die gleiche Zurechnungskonstellation kann durch einen Gebrauch von Werten erzeugt werden: Wie im Fall des Mediums „Wahrheit“ kommt es auch bei einem erfolgreichen Verweis auf Werte zu einer Übereinstimmung im Erleben der Kommunikationsteilnehmer. Im Unterschied zur Respezifizierung des Wahrheitsmediums werden die auf Werte referierenden Sinnzumutungen aber nicht – wie etwa die in einer Hypothese formulierten Wahrheiten – explizit behauptet, eingehend geprüft und mit anderen diskutiert. Es wird nicht direkt über Werte geredet, ihre Validität wird von Anfang an nicht in Frage gestellt, vielmehr wird unterstellt, dass traditionelle Werte wie etwa Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit oder Freiheit von allen befürwortet werden (Luhmann 2008a, 28). Da die Zustimmung zu Werten vorausgesetzt werden kann, genügt es, diese in der Kommunikation nur implizit, als Untermalung, ins Spiel zu bringen: „Values are treated as tacit knowledge“ (Luhmann 1996a, 65, Hervorhebungen auch im Original). Wertbezeichnungen gewinnen ihre soziale Stärke im Sinne ihrer Unbezweifelbarkeit also gerade dadurch, dass sie nur eine kommunikative Anspielung benötigen, um eine Gemeinsamkeitsunterstellung mit Wahrscheinlichkeit durchsetzen zu können. Zur Respezifizierung und Begründung kann man bei Werten auf Weltanschauungen (Ideologien) und Argumente verweisen, aber dies verletzt bereits eine stillschweigende Verständigung über Werte und schwächt die Annahmewahrscheinlichkeit des Vorschlags. Nur im Ausnahmefall werden Werte direkt kommuniziert, beispielsweise dann, wenn ein Dissens erwartet wird (Luhmann 2000b, 244). Wertkommunikation wird insbesondere dann eingesetzt, wenn das Problem akut wird, trotz doppelter Kontingenz gemeinsame Grundsätze zu finden und soziale Begegnungen mit einer Fortsetzungswahrscheinlichkeit auszustatten. Um dieses Problem lösen zu können, müssen Werte so abstrakt gehalten werden, dass sie nicht vorschreiben, wie man handeln sollte.227 Insofern bleiben Werte unverbindlich. 227
Werte gelten, ohne Orientierung zu geben. Da es Werten somit an einem Direktionswert mangelt, lassen sich diese mit Luftballons vergleichen, die nur ab und zu aufgeblasen werden. Siehe dazu Luhmann 1997a, 342; 2000b, 413.
2.8 Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien
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Demgegenüber verlangt das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium „Liebe“ starke Bindungen: Das Bezugsproblem der Liebe wird dann erzeugt, wenn kommunizierte Meinungen, Sichtweisen und Motive stärker individualisiert werden und die persönliche Lebensführung zu einer „mehr oder weniger privaten Sonderwelt“ (Luhmann 1975b, 178) führt. Liebe wird nämlich immer wichtig, wenn man Akzeptanz und Förderung für seine eigene Sicht der Welt sucht. Die besondere Weltbetrachtung des jeweiligen Ichs gewinnt durch deren Bejahung von mindestens einem/einer anderen an Bedeutung; man findet Bestätigung in einer mit dem/der/den Liebenden geteilten Privatwelt über „die anonyme Welt der Wahrheiten oder der Werte hinaus“ (Luhmann 1997a, 345). In der Liebe wird die Weltsicht von Alter als Erleben zugerechnet, so dass Ego Alter sagen kann: ‚Ich liebe Dich, so wie Du bist!‘. Man lässt sich also auf das Anderssein des anderen akzeptierend oder sogar genießend ein und verhält sich entsprechend. Damit ist auch die bereits oben genannte, liebesspezifische Zurechnungskonstellation beschrieben: Der Einsatz des Liebesmediums erfordert, dass Ego ihre/seine Handlungen auf Alters Erleben einstellt – natürlich vor allem auch auf Alters Erleben von Ego. Mit einer genau umgekehrten Konstellation hat sich das Erfolgsmedium „Geld“/„Eigentum“ ausdifferenziert: Das Handeln Alters wird von Ego als Zuschauer erlebt. Diese Kombination erscheint zumindest im Fall des Geldes vordergründig wenig plausibel: Denn man wird zunächst an das „do ut des“ im Rahmen wirtschaftlicher Tauschbeziehungen denken, so dass es auf den ersten Blick einleuchtend wäre, die soziale Bedeutung des Geldes in der Vermittlung von Transaktionen zu sehen, in denen das Handeln Alters ein entsprechendes Handeln von Ego motiviert. Die gesellschaftliche Funktion von Geld und Eigentum ist jedoch darin zu sehen, dass diese dafür sorgen, dass jedermann es erlebend akzeptieren kann, wenn irgendein anderer extrem selektiv auf knappe Güter zugreift. Das Knappheitsmedium „Geld“/„Eigentum“ hat daher nur dann Erfolg, wenn bei meinem hochspezifischen Zugriff auf Güter, die auch für andere Beobachter interessant und begehrenswert sind, alle anderen stillhalten und es beispielsweise erlebend einsehen und erdulden, dass nur ich (und sonst niemand) die Strandvilla „Beaulieu“ in Saint Tropez in Besitz nehme. Dieses Stillhalten aller anderen erscheint besonders voraussetzungsvoll, denn man muss (wenn man von Alters Horizont auf Egos Blickwinkel wechselt) sich ja fragen: ‚Warum sollte ich akzeptierend hinnehmen, dass jemand anderes über die schöne Strandvilla verfügen kann und nicht ich?‘ Die Antwort lautet: Weil mich beruhigt, dass dafür Geld gezahlt wurde, also ein Medium weitergegeben wurde, dass es mir und allen, die selbst Geld besitzen, erlaubt, auf andere Güter und Leistungen zuzugreifen. Die dem Güterzugriff zu Grunde gelegte Differenz von Haben und Nichthaben kann im Gebrauch des Mediums zum
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2. Reform und Akzeptanz
einen als ‚statischer Zugriff‘, abstrahiert in der rechtlichen Form des Eigentums, erscheinen, zum anderen als ‚fluider Zugriff‘ in Form von monetär kalkulierbaren Knappheitsbeobachtungen und Geldzahlungen. Die Konstellation, dass jemand handelt, während alle anderen nur zuschauen und damit zu einem bestimmten Erleben dirigiert werden, findet sich nicht nur bei der Nutzung des Mediums „Geld“/„Eigentum“. Die gleiche Zurechnungsform lässt sich unschwer auch bei Gebrauch des Erfolgsmediums „Kunst“ erkennen: Die Tänzerin ‚verzaubert‘ das Publikum und hält es ‚in atemloser Spannung‘. Daher kann man vermuten, dass Kunstkommunikation gerade deshalb Wert darauf legt, kunstfremden Nutzen zu verweigern, weil auf diese Weise die Differenz zum Geldmedium geschärft werden kann (Luhmann 1997a, 351). Die Funktion der Kunst ist es, eine Welt in die Welt wieder eintreten zu lassen, indem sie darauf hinweist, dass die Spielräume des Möglichen nicht ausgeschöpft sind, und sie die andernorts ausgesparten, dort nicht notwendig erscheinenden Sinnoptionen aktiviert (Luhmann 1995e). Das Aufdecken einer Überfülle nicht realisierter Möglichkeiten kommuniziert Kunst auf Basis der Differenz von realer Realität und fiktiver Realität: Die künstlerische Sinngebung löst sich, beispielsweise in Form von Malerei, Musik oder Poesie, von einer normalen Welt und produziert eine andere, abseitige und imaginäre Welt. Aufgrund dieser Distanzierung zur realen Realität ist die Kunst zur Originalität gezwungen. Der Kommunikationserfolg des jeweiligen Kunstwerks ist dann davon abhängig, dass es für seine Selbstbezüglichkeit Anerkennung finden kann, also dass es dem Werk gelingt, die Willkür der künstlerischen Entscheidungen als Notwendigkeit einsichtig zu machen. Nur unter dieser Bedingung können andere akzeptieren, dass das Kunstwerk so geschaffen sein muss, wie es ist. Wenn es darum geht, dass Alters Handeln gegen die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung zu einem entsprechenden Handeln von Ego führen soll, dann kann auf Macht verwiesen werden. Gegenüber dem normalen Anschließen von Handlungen an Handlungen in der Selbstbeobachtung der Kommunikation richtet sich das Medium „Macht“ auf den besonderen Fall, dass Alters Handeln über Egos Handeln entscheidet: Die Entscheidung wird von Alter als Anordnung, Weisung, Befehl oder als ein nur suggestiv auf negative Sanktionsmittel verweisender ‚Vorschlag‘ vorgetragen und von Ego als Verhaltensprämisse übernommen und ausgeführt. Eine solche Verbindung von Selektion und Motivation gelingt durch das Machtmedium auch dann, wenn die sozialen Positionen ihre Interessengegensätze deutlich kommunizieren und die Kontingenz der Entscheidung für alle Beteiligten offensichtlich ist. Machtgebrauch erfordert immer eine Duplikation der Handlungsmöglichkeiten in dem Sinne, dass dem gewünschten Handlungsvorschlag eine ungünstigere Alternative in Gestalt einer negativen Sanktion komplementär gegenüber-
2.8 Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien
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gestellt wird. Die negative Alternative ist dabei sowohl für Ego als auch für Alter ein unerwünschter künftiger Verlauf, aber sie muss so konstruiert sein, dass Ego sie dringender als Alter vermeiden möchte. Macht formiert sich daher immer anhand der Differenz zwischen der Ausführung des per Weisung vorgeschlagenen Sinns und der negativ bewerteten Alternative. Die Anwendung der Sanktionen wird bei Machtgebrauch zwar entweder von Alter explizit angedroht oder von Ego antizipiert, aber das Machtmedium hat nur dann Erfolg, wenn es bei der Drohung bleiben kann (Luhmann 2000c, 46). Der Machteinsatz hat sein Ziel verfehlt, falls sich Ego dem gewünschten Verhalten verweigert und daraufhin bestraft wird. Denn wenn entsprechend der in Aussicht gestellten Vermeidungsalternative, Sanktionsmittel angewendet werden, Ego zum Beispiel eingesperrt, gefoltert oder (aus einem Arbeitsverhältnis) entlassen wird, dann hat Alter ja gerade nicht erreicht, das Ego den eigentlich gewünschten Handlungsvorschlag ausführt. Durch Macht kann festgelegt werden, dass andere etwas tun, das sie von sich aus nicht tun würden. Dies kann auch durch Recht geschehen, und zwar in Form der rechtlichen Codierung von Macht: So kann z. B. Alter seinen schuldrechtlichen Anspruch gegen Ego auf Basis eines rechtsgültigen Vertrags mit Hilfe der Androhung oder Anwendung politisch organisierter Amtsgewalt (Gerichtsvollzieher) durchsetzen, sofern Ego seine vertragliche Leistungspflicht nicht erfüllt. Zu dieser ‚Verrechtlichung‘ der Macht trägt ebenfalls bei, dass im Rechtsstaat die Zwangsmittel der politischen Macht nur angewendet werden dürfen, wenn diese den vom Rechtssystem entworfenen Bedingungen gerecht werden. Symbolische generalisierte Kommunikationsmedien lassen sich an einigen weiteren Eigenschaften unterscheiden, so etwa an unterschiedlichen Bezugnahmen auf Körperlichkeit durch symbiotische Symbole (Bedürfnisse, Sexualität, Gewalt), Wahrscheinlichkeiten eines inflationären oder deflationären Gebrauchs des Mediums oder einer binären Codierung (Haben/Nichthaben, wahr/unwahr). An dieser Stelle soll jedoch nur noch kurz der Aspekt verschiedener Grade der Technisierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien gestreift werden, da es bei der Medientechnisierung um eine Entlastung bei der Verarbeitung von Informationen geht (Luhmann 1997a, 367), die für den Unsicherheit absorbierenden und Entscheidungen verknüpfenden Systemtyp „Organisation“ besonders attraktiv ist. Zu den Beispielen für solche technisierenden Strukturen zählen logische Verfahren für die Zuordnung des Wahrheitsmediums oder auch Sekundärcodes wie die Zweitcodierung der Macht durch Recht oder die Zweitcodierung des Geldmediums durch Eigentum. Die Technisierung der Medien hat enorme soziale Konsequenzen: Sie trägt etwa dazu bei, dass politisches Entscheiden auf Basis von Macht zu seiner Vermittlung nicht unbedingt das system-
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eigene Machtmedium, sondern dafür und zur technischen Diffusion der Macht „hauptsächlich Recht und Geld benutzt“ (Luhmann 1981, 95; Hervorhebungen weggelassen).228 Völlig gegenläufig hierzu haben sich die Medien „Kunst“ und „Liebe“ entwickelt. Ihnen kommt es gerade darauf an, nicht technisierbar zu sein, denn sie betrachten ihre fehlende Technisierung als vorteilhafte Eigenart. Vielleicht betont die Kunst gerade aufgrund dieser Gemeinsamkeit so gerne und so häufig einen besonderen Wert der Liebe und eine Präferenzwürdigkeit der Liebe gegenüber den technisierten Medien: Die gesungene Aussage „I don't care too much for money, money can't buy me love“ der Musikgruppe „The Beatles“ wäre hierfür ein besonders prominentes Beispiel. Die verschiedenen Kommunikationsmedien bieten, wie soeben dargestellt, auf ihre jeweils eigene Weise Lösungen für das allgemeine Problem, trotz Unwahrscheinlichkeit der Akzeptanz zur Annahme einer Selektionsofferte zu motivieren. Insofern ist die hier in Auszügen skizzierte Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien einerseits Teil einer allgemeineren Theorie unwahrscheinlicher Kommunikation, die die Frage einschließt, wie Kommunikation überhaupt motiviert werden kann. Andererseits enthält sie einen Theoriestrang, der das Problem der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation als Theorie der funktionalen Differenzierung der Kommunikationsmedien spezifiziert:229 Die Funktionssysteme der Gesellschaft können immer nur ein einziges, und zwar ihr eigenes Erfolgsmedium benutzen (Luhmann 1988b, 315). Ganz im Gegensatz dazu können Funktionssysteme aber nicht auf eine Organisation reduziert werden: Über Politik, Wissenschaft, Wirtschaft usw. wird nicht jeweils universell nur durch eine einzige Organisation entschieden. Und in umgekehrter Perspektive können Organisationen auch nicht exklusiv und eindeutig den verschiedenen Funktionssystemen zugeordnet werden (Tacke 2001). 228
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In seiner „wissenschaftlich subventionierten“ (Luhmann 1981e, 134, 141) Theorie der Politik bezeichnet Niklas Luhmann die Medien Geld und Recht dementsprechend auch als „Wirkungsmittel des Wohlfahrtsstaates“ (Luhmann 1981e, 94). Siehe Luhmann 1988b, 256. Hierzu gehören Beschreibungen, wie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien im Laufe der sozialen Evolution die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen in der Gesellschaft antreiben, so etwa Geld im Hinblick auf das System der Wirtschaft oder Wahrheit in Bezug auf das wissenschaftliche Funktionssystem. Der Ausnahmefall ist das Wertmedium, das nicht das Potenzial aufweist, Funktionssysteme zu bilden (Luhmann 1997a, 408). Auch verfügen nicht alle etablierten Funktionssysteme über ein eigenes Erfolgsmedium, so etwa die Systeme für Gesundheit und Erziehung, die diesen Ausfall in erster Linie durch organisierte Interaktion (Therapien in Krankenhäusern und Arztpraxen, Unterricht in Schulen) kompensieren (Luhmann 1981f, 31; 2000c, 396), oder das Rechtssystem, das auf das Medium eines anderen Funktionssystems, nämlich auf politische Macht, angewiesen ist (Luhmann 1988b, 304). „Man muß deshalb davon ausgehen, daß die funktionale Differenzierung des Gesellschafssystems bei aller Bedeutung der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien nicht einfach dem Medienschema folgen kann“ (Luhmann 1997a, 408).
2.8 Die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien
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Wie sehen nun die Zusammenhänge von Organisationen und Erfolgsmedien aus? Zumindest im Fall des Mediums „Geld“ ist offensichtlich, dass es von Organisationen verwendet wird, denn wohl alle Organisationen befassen sich mit Einnahmen und Ausgaben, und zwar in Form der Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben. Dieses organisationale Entscheiden über Zahlungen ermöglicht es, dass der Gebrauch des Geldmediums in der Gesellschaft integriert und geformt werden kann: Während es aus Sicht des Geldmediums egal sein kann, welche Summen für welche Zwecke an wen gezahlt werden, konditionieren und spezifizieren Organisationen die Verwendung des Mediums (Luhmann 1988b, 305ff.; Drepper 2003, 208ff.). Sie legen durch ihre Entscheidungen fest, wann, unter welchen Voraussetzungen, für welche Ziele und in welcher Höhe Geld verdient und ausgegeben werden soll. Von immenser Bedeutung für das Gesellschaftssystem ist auch, dass es durch Organisation vermieden werden kann, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien direkt miteinander zu verquicken. In der Gesellschaft sind mehr oder minder erfolgreich normative Erwartungen etabliert worden, die eine unmittelbare Konversion230 von Medien verhindern – dies oft in Form rechtlicher Sperren (Luhmann 1975c, 101ff.; 1997a, 367). Durch solche ‚Tauschverbote‘ wird es beispielsweise unwahrscheinlich, Amtsmacht durch Liebe zu bekommen. Die Hürden der Konversionsverbote können aber durch Organisation unterlaufen werden. Man bezahlt dann zum Beispiel nicht direkt für Wahrheiten, sondern finanziert Organisationen, die zu bestimmten Themen forschen. Die soeben angesprochenen Beziehungen von Organisationen und symbolisch generalisierten Medien betreffen Probleme des funktional differenzierten Gesellschaftssystems, deren Lösung auf Organisationen „abgeschoben“ wird (Luhmann 1975c, 102). Wechselt man die Systemperspektive von Gesellschaft auf Organisation, dann liegt die Frage nahe, inwieweit Erfolgsmedien im Entscheidungsnetz organisierender Systeme gebraucht werden. Schon aufgrund der verschiedenen Bezugsprobleme der Kommunikationsmedien kann man ja nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass alle Medien organisational genutzt werden, zumindest nicht, dass alle Medien in allen Organisationen gleichermaßen Verwendung finden. In der weiteren Untersuchung möchte ich den Gebrauch von Erfolgsmedien im Kontext des Sinnangebots „Reform“ näher beleuchten. Zur theoretischen Vorbereitung soll im nächsten Abschnitt erst einmal ganz allgemein geklärt werden, welche sozialen Besonderheiten des Akzeptierens mit organisierter 230
Im Unterschied zu Künzler 1987, 326 sehe ich keine monetäre Metaphorik bei Luhmanns Begriffsbildung: Es geht bei „Konversionen“ allgemein um ein schnelles Umschalten zwischen Mediencodes in Operationsketten. Geldeinsatz zum Wechsel des Mediums ist nur ein möglicher Fall von Konversion.
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2. Reform und Akzeptanz
Entscheidungskommunikation einhergehen. Dabei werde ich sowohl auf Bedingungen des Akzeptierens organisationsintern zugerechneter Sinnangebote als auch auf mögliche Zusammenhänge zwischen internen und externen Akzeptanzchancen eingehen. Außerdem soll zunächst noch unabhängig vom Schema „Reform“ überlegt werden, welche symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zur Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit von Sinnangeboten in Organisationen überhaupt zum Einsatz kommen und auf welche Weise dies geschehen kann. 2.9 Besonderheiten des Akzeptierens in (und von) Organisationen Das Thema der Sonderbedingungen des Akzeptierens in Organisationen betrifft die Frage, wie es wahrscheinlich wird, dass Sinnangebote in Organisationen als Prämisse für weitere Entscheidungen vorausgesetzt werden können. Im Anschluss an die Theorie operativ geschlossener Systeme ist zunächst davon auszugehen, dass zwar die Entscheidung für oder gegen eine Sinnofferte immer nur eine interne Operation sein kann, aber ein Organisationssystem seine Beobachtungen stets durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz strukturiert. Organisationen bejahen oder verneinen nicht nur Selektionen, deren Quelle sie in ihrem Entscheidungsnetzwerk verorten, sondern auch einzelne Sinnvorschläge oder Erwartungspakete, die sie ihrer Umwelt zurechnen. Daher ist in der organisationalen Selbstbeobachtung in jedem Fall zu klären, ob eine abzulehnende oder anzunehmende Sinnofferte dem eigenen Kommunikationsverbund oder der Umwelt zugeordnet werden soll. Hinsichtlich der auf Umwelt verweisenden Akzeptanzentscheidungen kann die Organisation dann zusätzlich noch über Beziehungsrichtungen disponieren und auf diese Weise weitere Differenzierungen und Kombinationsmöglichkeiten einführen: Es geht dann entweder um die interne Akzeptanz eines fremden Vorschlags oder die externe Akzeptanz eines eigenen Vorschlags. Daher können auch – wenn man zum Beispiel an die Fassadenfunktion organisationaler Öffentlichkeitsarbeit denkt – die internen Akzeptanzchancen einer Sinnofferte von den organisational vermuteten externen Akzeptanzchancen abhängen. Organisationen beobachten ihre Umwelt ja auch immer dahingehend, inwieweit ihr Zustand von anderen Systemen beobachtet und bewertet wird, und diese fremde Zustimmung oder Ablehnung des eigenen Systems kann zum Kriterium für das Akzeptieren eigener Entscheidungen werden. Insofern soll in den weiteren Ausführungen ein Akzeptieren in Organisationen und ein Akzeptieren von Organisationen unterschieden werden.
2.9 Besonderheiten des Akzeptierens in (und von) Organisationen
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2.9.1 In der Zone der Indifferenz: Organisationale Vorkehrungen zur Verbesserung interner Akzeptanzchancen Zustimmung und Ablehnung sind in Organisationen einigen Besonderheiten unterworfen: Organisationen gelingt es, durch Entscheidungen über Entscheidungsprämissen, riesige Mengen von Entscheidungen konfliktfrei aufeinander abzustimmen. Eine Voraussetzung hierfür ist, dass in Organisationen niemand alle Entscheidungen kennen und billigen muss – auch wenn (insbesondere an die hierarchische Spitze) sehr häufig überzogene Erwartungen an Übersicht, Kontrolle und „commitment“ adressiert werden. Konflikte werden somit etwa dadurch vermieden, dass die von einer Organisation in ihrer Selbstbeschreibung angegebenen Zwecke nicht von allen Suborganisationen akzeptiert werden müssen: „(…) in general complex organizations are characterized by obvious lack of complete understanding or acceptance of general purposes or aims“ (Barnard 1948, 137f.; Hervorhebung auch im Original). Zumeist ist ein partiell vorhandener Konsens ausreichend, der sich auf die Akzeptanz spezifischer Entscheidungsprämissen richtet.231 Zur Konfliktvermeidung trägt auch eine, in vielen Fällen durch Arbeitsverträge, Geldzahlungen und/oder Karriereinteressen (Luhmann 2000b) motivierte, generelle Akzeptanzbereitschaft der Organisationsmitglieder in einer „zone of indifference“ bei (Barnard 1948, 168f.). Diese Indifferenzzone umfasst alle Entscheidungen, deren fragloses Akzeptieren im Rahmen der Mitgliedschaft erwartet wird: „For example, if a soldier enlists, whether voluntary or not, in an army in which the men are ordinarily moved about within a broad region, it is a matter of indifference whether the order be to go to A or B, C or D, and so on; and goings to A, B, C, D, etc., are all in the zone of indifference“ (Barnard 1948, 169).
Die als Mitgliedschaftsbedingungen formulierten Sonderanforderungen bezüglich des Akzeptierens bewirken, dass Mitglieder einer Organisation grundsätzlich dazu bereit sind, fremdbestimmt und – insbesondere durch Konditionalprogrammierung – auch routinisiert und technisiert Entscheidungen verschiedenster Art auszuführen. Die Mitgliedschaftsrolle motiviert zum Gehorsam, ohne dass
231
Siehe dazu Luhmann 1964b. Ebenso wie Akzeptanzbedarfe, treten auch Konflikte in Organisationen üblicherweise partial auf: Konflikte können im Unterschied zu Interaktionssystemen zumeist insuliert werden, so dass sich Suborganisationen streiten können, ohne die Entscheidungsvernetzung des Gesamtsystems zu beeinträchtigen (Lieckweg/Wehrsig 2001).
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2. Reform und Akzeptanz
man normalerweise in Konflikt mit seinen anderen Rollen gerät, an Selbstachtung verliert oder Identitätskrisen erleidet.232 Die Grenzen der Indifferenzzone dürften allerdings heutzutage, im Vergleich zu den 1930er Jahren, in denen der Begriff entstanden ist, schwieriger zu bestimmen sein.233 Infolge organisationaler Beobachtungen eines zunehmenden Drucks, sich schnell und flexibel an Umweltveränderungen anzupassen, ist seit Jahrzehnten ein stärkerer Bedarf an freiwilligem, also nicht durch die Mitgliedschaftsregeln erzwingbarem Engagement erkennbar. Bei besonderen Schwierigkeiten oder untypischen Anforderungen wird daher eine auf Indifferenz basierende Motivation kaum genügen. Hier ist eine über Gehorsam und „Dienst nach Vorschrift“ hinausgehende, von einer starken organisationalen Ideologie getragene Identifikation mit Zwecken oder Unterzwecken der Organisation gefragt. Das Entscheiden von ‚Überzeugungstätern‘ kann wiederum die Ausprägung einer „action organization“ begünstigen, die ihre Ziele durch Ungehorsam in Form des Auseinanderklaffens von Talk, Decision und Action erreicht. Zudem ist zu vermuten, dass, mit dem gestiegenen organisationalen Bedarf freiwilliger und flexibler Leistungen einhergehend, mittlerweile eine größere Toleranz gegenüber abweichenden eigenen Meinungen und internen Dissensmarkierungen beobachtet werden kann. All dies fördert Entscheidungen mit Verweis auf die eigene Person als Entscheidungsprämisse und führt zu einer geringeren Sicherheit hinsichtlich der Spannweite des fraglosen Akzeptierens von Entscheidungen. Nun darf eine schwierige Definition der „zone of indifference“ natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Organisationen auf ganz besondere Weise mit dem Problem der doppelten Kontingenz umgegangen wird: „Jeder kann immer auch anders handeln und mag den Wünschen und Erwartungen entsprechen oder auch nicht – aber nicht als Mitglied einer Organisation. (Luhmann 1997a, 829, Hervorhebungen auch im Original). Verneinungen sind in Organisationen nicht nur mit dem Risiko behaftet, eine Kontaktfortführung zu erschweren. Durch Widerspruch, Verweigerung oder Ungehorsam riskiert man darüber hinaus auch, die Mitgliedschaft in der Organisation zu verlieren. Die Mitgliedschaftsrolle bündelt Erwartungen sowohl in Bezug auf Eintrittsentscheidungen als auch auf Austrittsentscheidungen, so dass die fehlende Anerkennung und/oder Erfüllung von organisationalen Erwartungen zur Exklusion führen 232
233
Vgl. Luhmann 2000b, 84. Die Mitgliedschaftsrolle konstituiert und sichert Gehorsamsbereitschaft, doch in Konfliktfällen, in denen Stärke und Stabilität des Gehorsams ohne direkte Entlassungsandrohung auf die Probe gestellt werden, kommt es auch auf organisationale Bedingungen außerhalb dieser Rolle an: Siehe z. B. zur Hypothese, dass „Motivationskrisen“ besonders häufig in Organisationen mit hohem „Bürokratisierungsgrad“ und niedriger „Diskussionsintensität“ anzutreffen sind, die Untersuchung von Blinkert 1976. Zu dieser Einschätzung kommt Luhmann 2000b, 282f.
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kann.234 Wer sich hartnäckig querlegt, wird mitunter vielleicht nur ‚kaltgestellt‘, indem er oder sie einen ‚bedeutungslosen‘ Aufgabenbereich in der Organisation zugewiesen bekommt, wo durch eigensinniges Entscheiden kein Schaden angerichtet werden kann. Zumeist ist aber bei wiederholter Nichtakzeptanz von Entscheidungen die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man von der Organisation nur noch mit einer Entscheidung konfrontiert wird, nämlich der Entscheidung, dass man entlassen wird. Dabei ist für das Akzeptieren von Sinngehalten in Organisationen nicht die Exklusion als solche bedeutsam, sondern die Möglichkeit, offen oder versteckt mit Entlassung zu drohen. Ein solcher Gebrauch von Drohmacht kann indes allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen, denn Untergebene können gegenüber ihren Vorgesetzten ebenfalls Macht ausüben, indem sie die Zusammenarbeit etwa gerade dann verweigern, wenn die Vorgesetzten darauf angewiesen sind (Luhmann 2000b, 201). Wichtiger als die Disposition von Mitgliedschaften dürfte in vielen Fällen der Akzeptanzbeschaffung daher die Disposition attraktiver Stellen sein.235 Mit Rücksicht auf die eigene Karriere in der Organisation wird ein Großteil des Personals auch unbequeme und unliebsame Anforderungen erfüllen und auf ‚offene Meuterei‘ verzichten. All dies trägt dazu bei, dass im Normalfall Meinungsverschiedenheiten unterdrückt und Gemeinsamkeiten präferiert werden, und dies bevorteilt „Konsensfiktionen“ und Verständigungen. Die Mitgliedschaftsentscheidung fungiert somit als Prämisse für eine Vielzahl anderer Entscheidungen über Entscheidungsprämissen, die als gesetzter Rahmen weiteren Entscheidens die Annahmewahrscheinlichkeiten von spezifischeren Entscheidungen ihrerseits erhöhen können: Es werden hierarchische Kompetenzen organisiert, die, sobald etabliert, erwarten lassen, dass die Weisungen der vorgesetzten Stellen von den betroffenen untergebenen Stellen befolgt werden. Zugleich wird die Akzeptanzbereitschaft aber auch dadurch gesteigert, dass Entscheidungsbefugnisse nicht etwa an der Spitze der Organisation als Allmacht gebündelt werden (obwohl organisatorische Mythen des einsamen, heroischen Entscheidens à la ‚Hier entscheidet nur der Chef‘ verbreitet sind), sondern auf verschiedene Stellen als fachliche und hierarchische Kompetenzen verteilt werden. Diese ‚Arbeitsteilung‘ hat den Effekt, dass die Entscheidungen der situativ jeweils zuständigen Kompetenz normalerweise sofort bejaht und nicht in Frage gestellt werden. Denn wenn man nicht auf die Richtigkeit und Brauchbarkeit von Entscheidungen anderer vertrauen würde, gäbe es keine Organisation, da in diesem Fall die Unsicherheitsabsorption erfordern würde, alles selber zu entscheiden. Durch die vertrauensvolle Übernahme der Entscheidungen anderer Suborganisationen können hingegen Informationslasten auf einen hand234 235
Siehe dazu ausführlich Luhmann 1964a, 36ff. Siehe im Kontext organisierter Macht dazu Luhmann 1975c, 104ff.
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2. Reform und Akzeptanz
habbaren Umfang reduziert werden. Selbst dann, wenn man Zweifel hegt und die Mühen des Nachforschens auf sich nimmt, hat man kaum die Möglichkeit, die Entscheidungen anderer ausreichend zu überprüfen, und daher entscheidet man sich lieber für Vertrauen: „Although there may be various tests of apparent validity, internal consistency, and consistency with other communications, the recipient must, by and large, repose his confidence in the editing process that has taken place, and, if he accepts the communication at all, accept it pretty much as it stands“ (March/Simon 1958, 165).
Dieses über Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortungen symbolisierte Vertrauen formt zugleich ein grundsätzliches organisatorisches Verbot, sich in die Angelegenheiten anderer Stellen einzumischen und deren Kompetenzen zu bezweifeln – es sei denn auf Basis einer hierarchischen Kompetenz, die Aufsicht, Prüfung oder Überwachung erlaubt (Luhmann 2000b, 320; 2000c, 42f.). Unsicherheitsabsorption wird in diesem Zusammenhang besonders deutlich als Sonderform von Einfluss erkennbar.236 Da das Zustandekommen einer Entscheidung durch Unsicherheitsabsorption nicht mehr thematisiert wird, kann eine Entscheidung für andere Entscheidungen als feststehendes Ergebnis behandelt und in eine Tatsache umgewandelt werden. Anders formuliert: Auf dem Wege der Unsicherheitsabsorption werden durch Entscheidung Fakten geschaffen. Als organisational einflussnehmende Kommunikation kann sich eine Entscheidung bereits durch die spezifische Kompetenz der entscheidenden Stelle von Rechtfertigungszwängen befreien. Das gängige Schema der Akzeptierenden lautet dabei: Die für eine Angelegenheit zuständige Stelle bestimmt, wohin die Reise gehen soll. Dass eine eigene Entscheidung problemlos zur Prämisse der Entscheidungen anderer wird, kann auch – wenn bloße Zuständigkeit nicht genügt – auf Grundlage von Autorität geschehen, also einer den Kommunikationsbedarf verkürzenden Unterstellung, dass die akzeptierte Entscheidung bei Rückfragen entsprechend einleuchtend begründet werden könnte.237 Autorität kann beispielsweise in den Fällen eingreifen, in denen eine Entscheidung irritierend oder merkwürdig erscheint. Die Betroffenen werden, über die Anerkennung der Kompetenz der entscheidenden Stelle hinaus, einen wenig plausiblen Sinnvorschlag auch dann ohne kritisches ‚Nachhaken‘ akzeptieren, wenn sie vermuten, 236
237
Zum systemtheoretischen Verständnis von „Einfluss“ als Fähigkeit, dass andere entsprechend eigener Absichten etwas tun, was sie andernfalls nicht tun würden und als Oberbegriff für Macht, positive Sanktionierung und Unsicherheitsabsorption siehe Luhmann 2000c, 41ff. Vgl. Luhmann 2000c, 41ff.; 2000b, 184ff., 203ff. Die organisationstheoretisch entscheidende Beobachtung, dass normalerweise nur die Entscheidung selbst mitgeteilt wird, während Begründungen und Beweise für die Richtigkeit einer Entscheidung im Entscheidungsprozess zumeist entbehrlich sind, stammt von March/Simon 1958, 165.
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dass die Kompetenz grundsätzlich ‚weiß, was sie tut‘ und bei Rückfragen ihre Entscheidung nachvollziehbar begründen könnte. Daher ist es nur selten notwendig, dass sich eine Entscheiderin selbst auf ihre Autorität zur Steigerung der Annahmewahrscheinlichkeit eines Vorschlags beruft und sich Begründungen erspart, indem sie auf ihre Reputation (‚Als Professorin für Rheologie sage ich Ihnen…‘) oder auf ihre berufliche Erfahrung (‚Das hat in den letzten 30 Jahren immer funktioniert!‘) verweist. 2.9.2 Verweise auf externe Akzeptanz als Beschaffung interner Akzeptanz: Kategoriale Erwartungen und der Transfer von Sinnpaketen Organisationen sind nicht als isolierte Systeme zu betrachten, die sich selbst genug sind und ohne Notiz von der übrigen Welt ihr Entscheidungsnetz spinnen. Eine Resonanz des Systems auf Umweltereignisse – also die Transformation von Irritation in Information – ist zwar grundsätzlich der Ausnahmefall (Luhmann 2004a), aber um ein Verhältnis zu sich selbst entwickeln zu können, müssen Organisationen sich um ihre Umwelt kümmern.238 Alle sozialen Systeme erzeugen und reproduzieren die Differenz von System und Umwelt selbst und sind deshalb immer gezwungen, ihre Umwelt zu beachten. Die Berücksichtigung externer Gesichtspunkte führt im Fall von Organisation dazu, dass diese sich als Empfänger und Absender von Kommunikation betrachten und Entscheidungsprämissen in die Umwelt verlagern können (Luhmann 2000b, 52, 250). Organisationen suchen daher in sich selbst nicht nur Akzeptanz für Selektionen, die sie (nach ihren Beobachtungen) selbst entworfen haben, sondern auch für Sinnofferten, die sie ihrer Umwelt zurechnen. Außerdem können sie, unabhängig davon, ob sie ihre Sinnangebote historisch als eigene oder als fremde Erzeugnisse betrachten, daran interessiert sein, die Zustimmung ihrer gesellschaftlichen Umgebung für ihre Entscheidungen oder für sich selbst als Gesamtkomplex zu erlangen. Es ist somit zu vermuten, dass die Akzeptanz eines Sinnvorschlags in Organisationen auch dann wahrscheinlicher wird, wenn durch den Vorschlag die Organisationsumwelt im System repräsentiert wird, und zwar speziell durch den Verweis, dass die Annahme des Vorschlags organisationsextern erwartet wird. Referenzen auf Bedingungen, die die Organisation in ihre Umwelt hineinprojiziert, dienen dann der organisationsinternen Akzeptanzbeschaffung. So kann man die Zumutung einer fortgesetzten Zusammenarbeit mit einem Schauspieler, der aufgrund seiner Extravaganzen im gesamten Filmteam sehr unbeliebt ist, 238
Zur Notwendigkeit der Umweltoffenheit organisierender Systeme auf Basis operativer Schließung siehe ausführlich Luhmann 2000b, 70ff., 209f.
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2. Reform und Akzeptanz
organisationsintern mit Annahmewahrscheinlichkeit ausstatten, wenn man darauf verweist, dass das Publikum es wohl nicht verzeihen könnte, wenn dieser Mime nicht auch in der nächsten Staffel der Fernsehserie in der Hauptrolle auftreten würde. Oder man kann die Kosten für die Erstellung einer Internetpräsenz gegenüber seiner Chefin damit chancenreich rechtfertigen, dass ein professionell gestalteter Webauftritt heutzutage als ‚feature‘ moderner Organisationen gesellschaftlich erwartet wird. Die Beispiele deuten bereits an, dass diese Möglichkeit der Akzeptanzbeschaffung allein auf der Unterstellung von Publikumswünschen und der Imagination von Umweltbedingungen beruhen kann und keinesfalls auf den besonderen Fall der ‚Außen-Kommunikation‘ durch Grenzstellen beschränkt ist. Zwar haben Vernetzungen von Organisationen mit ihrer Umwelt in Zwischensystemen in den letzten Jahrzehnten generell an Bedeutung gewonnen (Luhmann 2000b, 70; Brunsson 1989,1). Auch kommt es infolge solcher externen Beziehungen beispielsweise häufig vor, dass eine Mitarbeiterin im Außendienst organisationsintern besonders gute Konditionen für Stammkunden durchsetzen kann. Aber der interne kommunikative Erfolg eines auf Umweltinformationen verweisenden Vorschlags setzt nicht voraus, dass die auf die Umwelt bezogenen Informationen des Vorschlags historisch über ‚Außenkontakte‘, also als Informationen eines eigenständigen (Zwischen)-Systems, entstanden sind. Denn ausnahmslos alle Informationen, die in Entscheidungen der Organisation berücksichtigt werden, also eben auch Informationen über organisationsexterne Bedingungen, sind exklusiv und extrem selektiv von der Organisation selbst erzeugt. Insofern kann man auch nicht davon sprechen, dass Organisationen auf Umweltbedingungen ‚reagieren‘. Organisationen erschaffen sich selbst ihre Umwelten und passen sich dann an diese eigenproduzierten Umwelten an.239 Es geht, anders formuliert, um eine organisationale Anpassung als Reaktion auf eigene Umweltbeobachtungen und somit letztendlich nicht um eine Anpassung an die Umwelt, sondern um eine Anpassung der Organisation an sich selbst (Luhmann 2000b, 74f.). Mit diesen Aussagen wird die Realität der Umwelt selbstverständlich nicht in Frage gestellt. Es geht nur um die Beobachtung, dass die Umwelt einer Organisation ein Erzeugnis, eine „superimposed invention“ (Weick 1977, 218), dieser Organisation ist. Informationen können daher auch nicht als ein grenzüberschreitender Input aus der Umwelt in das Organisationsystem kommen oder geholt werden. Vielmehr informiert eine Organisation sich selbst über ihre Umwelt. Daher erlaubt das systemtheoretische Verständnis des Informationsbegriffs es auch nicht, von ‚Informationstransfers‘ zu sprechen (Stichweh 2005c). Die Öffnung zur Umwelt geschieht auf der Basis operativer Geschlossenheit, also trotz 239
Zur „Enacted Environment“-Theorie siehe Weick 1969.
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operativer Unerreichbarkeit der Umwelt, indem die Organisation in ihrer Selbstbeobachtung die Differenz von System und Umwelt als Unterschied von Selbstreferenz und Fremdreferenz in die Organisation im Sinne eines re-entry hineinkopiert (Luhmann 2000b, 72f.). Die Möglichkeit, dass eine Organisation ‚von außen‘ beeinflusst wird, also dass organisationseigene Entscheidungen in fremdreferenzieller Perspektive konstruiert werden, eröffnet sich nur deshalb, weil ein organisierendes System, wie jedes andere soziale System, stets über die Optionen „Ja“ oder „Nein“ verfügt. Daher findet das, was eine Organisation über Fremdreferenz als Sinnofferte in ihre Umwelt ‚auslagert‘, nicht automatisch die Akzeptanz der Organisation: ‚Eine Tasse Hagebuttentee, bitte!‘; ‚Tut mir leid, auf der Terrasse schenken wir nur Kännchen aus‘. In anderen Fällen kommt man allerdings den Wünschen der Kundschaft entgegen, ändert für diese das Leistungsportfolio oder entwickelt gleich ganz neue Produkte. Außerdem werden auf Grundlage von Umweltbeobachtungen die Erfolgskonzepte anderer Systeme imitiert (DiMaggio/Powell 1983, 152); oder man erfindet sich gleich selber neu, so etwa, wenn eine Stadtverwaltung sich in einen „Konzern Stadt“ transformieren möchte (Martens/ Thiel/Zanner 1998). In einer fremdreferentiellen Akzeptanzperspektive geht es nicht nur um Publikumswünsche, Konkurrenzverhältnisse oder Organisationsmoden, sondern auch um die Möglichkeit, Sinnvorschläge mit besonderem Zumutungsgehalt in Bezug auf die organisationale Umwelt durchsetzen zu können – man denke beispielsweise an die Versuche, bunte Gummistiefel als Modetrend des nächsten Winters zu etablieren oder Milchpreise gegen den Willen der zuliefernden Molkereien und Bauern zu senken. Dabei zeigt sich, „(…) dass ‚die Umwelt‘ nicht einfach nur ‚der Markt‘ oder ‚die öffentliche Meinung‘ ist, sondern aus unterscheidbaren Systemen besteht, die als solche agieren und als solche eingeschätzt werden wollen“ (Luhmann 2000b, 410). So kommt es, dass Organisationen sich im Umgang mit mehrdeutigen und widersprüchlichen Umwelterwartungen erproben und darüber entscheiden, ob sie nur den Forderungen bestimmter Teile ihres Publikums gerecht werden oder im Interesse aller handeln wollen und auf diese Weise selbst widersprüchlich werden. Insofern sind unspezifisch formulierte Erwartungen mit allgemein hohen Akzeptanzchancen willkommen, die sich ohne Probleme in das Erwartungsset des „domain consensus“ (Thompson 1967) integrieren lassen. So demonstrieren heutzutage viele Unternehmen mit Blick auf ihre Umweltakzeptanz, dass sie ihre ‚gesellschaftliche Verantwortung‘ – anknüpfend an das traditionelle Leitbild des „ehrbaren Kaufmanns“ oder an die Diskussion über „corporate social responsibility“ – als Prämisse eigenen Handelns anerkennen und sich auch freiwillig, über gesetzliche Anforderungen hinaus, um
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„Partizipation“, „Ökologie“, „Familienfreundlichkeit“ oder „Barrierefreiheit“ Gedanken machen. Das auf die Umwelt gerichtete Bemühen der Organisation um soziale Anerkennung ist nun seit mehr als drei Jahrzehnten unter dem Titel „legitimacy“ insbesondere ein Thema der neo-institutionalistischen Theorie.240 Der Neue Institutionalismus macht in einer seiner zentralen Aussagen darauf aufmerksam, dass Organisationen von ihrer gesellschaftlichen Umgebung nicht nur anhand der Effizienz und Effektivität ihrer Technologien, Programme und Produkte bewertet werden, sondern auch im Anschluss an eine Vielzahl anderer gesellschaftlicher Erwartungen,241 so etwa auf Basis von Werten,242 Rollen, (rechtlichen) Normen oder Selbstverständlichkeiten. Es geht hier jeweils um Erwartungen, die als weit verbreitet, zeitlich relativ stabil, kulturell anerkannt und in diesem Sinne als institutionalisiert beobachtet werden. Die gesellschaftliche Institutionalisierung von bestimmten Sinnvorschlägen führt nun nach Auffassung der neo-institutionalistischen Theorie dazu, dass Organisationen unter Druck gesetzt werden, die entsprechenden Erwartungen zumindest teilweise zu reflektieren und zu adaptieren (DiMaggio/Powell 1983). Das Aufgreifen und Übernehmen der exogenen Erwartungen243 wird dadurch motiviert, dass die sich daraus ergebenden Übereinstimmungen von Organisation und Umwelt mit einem Zugewinn an Legitimität, Wohlwohlen und Unterstützung in der Umwelt einhergehen und damit zum Erfolg und zum Überleben der Organisation beitragen (Meyer/Rowan 1977). Durch die Konformität mit institutionalisierten Mustern kann die gesellschaftliche Akzeptanz der Organisation etabliert und dauerhaft gesichert werden, so dass selbst (im Sinne ihrer Effizienz und Effektivität) „permanent versagende“ Organisationen eine starke Persistenz erreichen (Meyer/Zucker 1989) und mehr oder weniger „unsterblich“ (Kaufman 1976) werden können, solange sie von ihrer Umwelt geschätzt und mit Ressourcen versorgt werden. Diese Sicht auf das Verhältnis von Organisation und Umwelt ist in ihrem Grundsatz wohl keine exklusive Erfindung des Neo-Institutionalismus, denn
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Speziell zur neo-institutionalistischen Diskussion organisationaler Legitimität siehe Suchman 1995; Hasse 2005; Hellmann 2006. Siehe dazu statt vieler den wegweisenden Aufsatz von Meyer/Rowan 1977. „(…) ‘to institutionalize‘ is to infuse with value (…)“ liest man bereits in den 1950er Jahren bei Selznick 1957, 17 (Hervorhebungen auch im Original). Im Neuen Institutionalismus ist man sich scheinbar uneins hinsichtlich der Frage, ob Organisationen institutionalisierte Erwartungen aus ihrer Umwelt in die eigenen Strukturen lediglich einfügen (so etwa Meyer/Rowan 1977, DiMaggio/Powell 1983 oder Brunsson 1989) oder ob sie selbst – als Produzenten institutionalisierter Erwartungen und/oder als institutionalisierte gesellschaftliche Formen – Institutionen sind (so z. B. Zucker 1987; Olsen 1993).
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bereits Mitte der 1960er Jahre kann man in Bezug auf „Selbsterhaltungsstrategien“ sozialer Systeme lesen: „(…) Kirchen, Schulen und in starkem Maße auch Staatsverwaltungen (…) werden nicht wegen spezifischer Leistungserfolge, sondern deshalb von ihrer Umwelt unterhalten, weil ihr Dasein in den Grenzen typischer Verhaltenserwartungen von maßgebenden Teilen der Umwelt geschätzt oder für unvermeidlich gehalten wird“ (Luhmann 1964b, 150f.).
In den Ansätzen des Neo-Institutionalismus werden nun einige Möglichkeiten beschrieben, wie Organisationen ihre Akzeptanzchancen in Bezug auf ihre Umwelten erhöhen können: So mag eine Organisation versuchen, die Zustimmung ihrer Umwelt zu ‚manipulieren‘, indem sie beispielsweise Werbung für sich bzw. ihre Produkte betreibt, als Spender bzw. Sponsor wohltätig in Erscheinung tritt (Suchman 1995, 591ff.) oder, verbunden mit der Hoffnung auf Reziprozität, die Programme anderer Organisationen unterstützt (Zucker 1987, 451). Umgekehrt kann man gerade auch dann von seiner Umwelt akzeptiert werden, wenn man möglichst unauffällig und intransparent bleibt, sich der intensiveren Beobachtung eines größeren Umweltausschnitts entzieht und Evaluationen vermeidet (Meyer/Rowan 1983, 86). Eine weitere Möglichkeit der organisationalen Akzeptanzbeschaffung wird darin gesehen, dass sich die Organisation auf die Vernetzung mit denjenigen Segmenten ihrer Umwelt konzentriert, mit denen sie in Bezug auf gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen ohnehin übereinstimmt (Suchman 1995, 589f.). Gegen die letztgenannte Strategie wäre allerdings einzuwenden, dass sie das Risiko der Ignoranz von Umweltsegmenten, mit denen die Organisation keine Normkonformität verbindet, unterschätzt und die Gefahren durch Widerspruchskommunikation anderer Systeme ausblendet: Der Domänenkonsens in einer selbst geschaffenen Nische wechselseitigen Wohlgefallens kann in einer erweiterten Umweltperspektive schnell zum Domänendissens244 werden – was einer ignoranten Organisation spätestens dann auffallen dürfte, wenn die Staatsanwaltschaft Akten beschlagnahmt oder „Greenpeace“ an Bord kommt. Die in der Perspektive des Neo-Institutionalismus sicherlich bedeutendste Möglichkeit von Organisation, Zustimmung und Unterstützung in ihrer Umwelt zu gewinnen, liegt im Aufgreifen, Übernehmen und Reproduzieren der in ihrer gesellschaftlichen Umgebung institutionalisierten Erwartungen. Wie oben dargelegt, kann die strukturelle Anpassung einer Organisation an fremde Erwartungen zum einen ausschließlich ‚zeremoniell‘ geschehen, indem die Institutionen der 244
Zum Domänendissens im Kontext unterschiedlicher funktionssystemspezifischer Erwartungen siehe Tacke 1997a, 58 (Fn. 30).
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Umwelt ‚nur‘ im Talk und/oder in Planungsentscheidungen (Decisions) der Organisation reflektiert werden, während Action-Entscheidungen von diesen Änderungen entkoppelt und unberührt bleiben und auf diese Weise vor den externen Vorgaben institutionalisierter Erwartungen geschützt werden. Zum anderen kann die fremdreferentielle Anpassungsleistung der Organisation auch über das ‚Überpinseln‘ der Organisationsfassade hinausgehen: Die Umwelterwartungen können dann im Sinne einer inhaltlichen Konvergenz von Talk, Decision und Action die Oberfläche der organisationalen Selbstbeschreibung durchbrechen und über Planungsentscheidungen in Alltagsentscheidungen der Organisation überführt werden. Das stringente oder lockere Anpassen an fremdreferentielle Erwartungen kann nun systemtheoretisch mit dem Begriff des „Transfers“ erfasst werden.245 Dieser erlaubt im Vergleich zu den Beschreibungen des Neo-Institutionalismus sowohl eine Einbettung in einen abstrakter ansetzenden Theorierahmen als auch präzisere differenzierungstheoretische Beschreibungen der entsprechenden Vorgänge. Der Transferbegriff bezieht sich in einem systemtheoretischen Verständnis auf kompakte Sinneinheiten. Die Kompaktheit der Sinneinheiten bedeutet, dass nicht einzelne Sinnfragmente, sondern Sinnbündel transferiert werden. Diese können – wie bei Paketen üblich – erst ausgepackt werden, wenn man sie angenommen hat, so dass sowohl Inhalte erscheinen, die man begrüßt, als auch solche, die man eigentlich ablehnt, „(…) die man aber wegen des Paketcharakters akzeptieren muß“ (Stichweh 2005, 2). Hinzu kommt, dass Transfers nur dann stattfinden, wenn dem Sinnpaket ein signifikanter Informationsgehalt zugeschrieben wird, also eine gewisse Wichtigkeit unterstellt wird. Weiterhin erfordert der Transferbegriff, dass eine Grenze überschritten wird, die als mögliches Hemmnis empfunden wird. Außerdem setzen Transfers voraus, dass in sozialer, räumlicher oder zeitlicher Weise erfahrene Distanzen überbrückt werden. Dabei ist es für Transfers vorteilhaft, wenn die kompakten Sinneinheiten sich als Replikatoren eignen, die sowohl über eine gewisse Stabilität verfügen als auch leicht zu kopieren sind. Als solche transferfähigen Replikatoren kommen im Neo-Institutionalismus (wohl selbstredend) „Institutionen“ und in der Systemtheorie „Erwartungen“ in Betracht. Versteht man somit transferierte Erwartungen als Replikatoren, so wird durch die evolutionsbiologische Herkunft dieser Bezeichnung bereits auf begrifflicher Ebene darauf verwiesen, dass transferierter Sinn zwar strukturelle Änderungen antreiben kann, dabei aber den Mechanismen sozialer Evolution unterworfen ist. Die in andere Systeme transferierten Sinnpakete können neben der Entkopplung von ‚transferempfänglichen Oberflächen‘ und ‚transfergeschützten 245
Siehe dazu und zum Folgenden Stichweh 2005c.
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Tiefenstrukturen‘ auch Immunabwehren des Systems auslösen oder durch Insulierung an einer einflussreichen Verbreitung gehindert, durch Missverstehen deformiert oder auch schlicht und einfach vergessen werden.246 Legt man als Erfolgsmaßstab für Transfers die Stabilisierung eines in ein anderes System transferierten Replikators zugrunde, finden sich demnach viele mögliche Ursachen, warum Transfers wahrscheinlich misslingen.247 Wie sehen aber die sozialstrukturellen Voraussetzungen aus, die einen Transfer kompakter Sinneinheiten ermöglichen? Rudolf Stichweh spricht in diesem Zusammenhang von „Makrostrukturen“, „Medien“ oder auch „Mechanismen“ des Sinntransfers und benennt als hierfür besonders geeignete sozialstrukturelle Muster sowohl Netzwerke und epistemische Communities als auch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien und kategoriengestützte Selbst- und Fremdbeobachtung (Stichweh 2005, 5ff.). Insbesondere der letztgenannte Mechanismus erfasst auch diejenigen, auf Identitätsäußerungen beruhenden Übernahmeverpflichtungen für bestimmte Erwartungen, die der NeoInstitutionalismus als „institutional isomorphic change“ (DiMaggio/Powell 1983) beschreibt. Sobald auf Grundlage von Selbst- und Fremdbeobachtungen die Zurechnung einer Identität zu einer bestimmten Kategorie erfolgt ist, kann als Konsequenz dieses Selbstverständnisses eine Pflicht zum Aufgreifen und Übernehmen für kategoriengebundene Sinnpakete erzeugt werden. Unabhängig davon, ob man sich selbst der Kategorie „Staat“, „mündiger Bürger“, „Taubenzüchterverein“ oder „Flaneur“ zuordnet – „(…) jede dieser Kategorien ist mit einem ganzen Paket sozialer Erwartungen und kultureller Prämissen ausgestattet, die man mehr oder minder unbesehen übernehmen sollte, sofern man die eigene Kategorienzugehörigkeit nicht gefährden will“ (Stichweh 2005c, 6). Genau diese auf Akzeptanzbedingungen gerichteten Aspekte eines kategoriengestützten Transfers sind gemeint, wenn in neo-institutionalistischen Ansätzen die Rede davon ist, dass eine Organisation bestimmte gesellschaftliche Erwartungen erfüllen muss, um als ‚richtige‘ Organisation zu gelten (Brunsson 2006, 16ff., 26f.): Organisationen müssen den Standards ihrer Kategorie also nicht nur entsprechen, um als Organisation erkannt zu werden, sondern um als Organisation anerkannt zu werden. Durch Nonkonformität riskieren Organisationen den Verlust von Ansehen und Vertrauen. Erlaubt sich eine Organisation Abweichungen von standardisierten Anforderungen, werden diese oft als individuelle „Sünden“ angeprangert (Brunsson 1993a, 61). Die Behauptung, ein Sinnvorschlag hänge mit der Kategorie „Organisation“ zusammen, fördert vielfach die Streuung des Vorschlags in den Reihen des angesprochenen Systemtyps. So kann eine große Zahl von Organisationen mit 246 247
Siehe zum Verhältnis von Diffusion und Evolution auch Luhmann 1997a, 514. „Transfer geht meistens schief (…)“ liest man dazu bei Stichweh 2005c, 7.
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verselbständigten kategoriengebundenen Erwartungen konfrontiert werden, die in keiner Weise an die jeweils historisch auf einzigartige Weise erreichten Zustände spezifischer Organisationssysteme anknüpfen, sondern allein dem jeweils aktuellen Prämissenpaket der sozialen Kategorie „Organisation“ entstammen. Organisationen werden dann nicht als Individuen behandelt, sondern in stark generalisierender, diskursiver Form beschrieben, modelliert und kategorisiert. Sowohl Fremdbeobachtungen als auch Selbstbeobachtungen können eine Organisation zwischen Spezifikation und Generalisierung auffächern: Schule X lässt sich dann nicht nur als individualisierte Schule X ansprechen, sondern kann als soziale Einheit auch der allgemeinen Kategorie „Schule“ oder der noch abstrakter definierten Kategorie „Organisation“ zugeordnetet werden. Im Neuen Institutionalismus wird dabei betont, dass solche abstrahierenden Kategorisierungen nicht nur in wissenschaftlichen Fremdbeschreibungen, also in Theorien der Organisation und der Organisationstypen, zu finden sind, sondern auch in organisationalen Selbstbeschreibungen, so dass beispielsweise Krankenhäuser sich sowohl als Krankenhaus typisieren als auch allgemeiner als Organisation präsentieren (Brunsson/Sahlin-Andersson 2000, 725). Auf welche Weise und mit welchen Unterscheidungen werden kategoriale Vorgaben in Bezug auf Organisationen konstruiert? Der Neo-Institutionalismus beobachtet gesellschaftsweit eine große Gleichförmigkeit organisationaler Strukturen (DiMaggio/Powell 1983). Außerdem behauptet diese Theorie einen weitgehenden Konsens in der Reflexion von Organisationen bezüglich der ‚Eigenschaften‘ modernen Organisierens, der es seinerseits verstärkt, dass Organisationen gesellschaftlich als standardisierte Einheiten konstruiert und institutionalisiert werden.248 Die Modelle des Organisierens tragen dabei auf zweierlei Weise zur Homogenisierung des Organisierens bei (Strang/Meyer 1993): Sie behaupten zum einen zumeist die Modernität und/oder Innovativität ihres Modells, berufen sich für ihre Aussagen auf (oft „relativ empiriefrei“ (Vollmer 2002) produzierte) wissenschaftliche Annahmen und/oder auf Erfahrungen der Praxis und können durch diese Verweise auf Werte und Wahrheiten ihre Verbreitung fördern. Zum anderen definieren Organisationskonzepte abstrakt – losgelöst von spezifischen Eigenarten individueller Organisationen – in einem Modell, einige wenige Merkmale des Organisierens, die für alle Organisationen zutreffen sollen. Nach dem Ansatz von Nils Brunsson ist das sozial standardisierte Modell ‚der‘ Organisation durch „Identität“, „Hierarchie“ und „Rationalität“ gekennzeichnet (Brunsson 2006). Organisationen müssen, um in der Gesellschaft als solche akzeptiert zu werden, diesem kategorialen Erwartungspaket entsprechen oder zumindest signalisieren (etwa durch Reforminitiativen), dass sie sich bemü248
Siehe zur Bedeutung der Organisationstheorie für die Institutionalisierung von Organisationsmodellen ausführlich Strang/Meyer 1993, 492ff.; Brunsson/Sahlin-Andersson 2000, 722f.
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hen, diesen Kriterien in Zukunft zu genügen (Brunsson/Sahlin-Andersson 2000). Erwartungen bezüglich einer organisierten „Identität“ richten sich demnach sowohl auf die Entwicklung individueller und kategorienspezifischer Charakteristika als auch auf eine hochgradig autonome Kontrolle über die eigenen Grenzen und die eigenen Ressourcen. Das mit „Hierarchie“ bezeichnete Anforderungsbündel verlangt von Organisationen, dass alle Aktivitäten durch die frei gewählten Entscheidungen eines autoritären und verantwortlichen Zentrums (‚das Management‘) gesteuert, koordiniert und kontrolliert werden. Erwartungen an „Rationalität“ beruhen nach dem Verständnis von Brunsson darauf, dass Organisationen als Instrumente angesehen werden, die Absichten in Handlungen transformieren: Dabei wird zunächst entschieden, welcher gewünschte zukünftige Zustand angesteuert werden soll. Sofern mehrere Wünsche berücksichtigt werden, wird eine Präferenzliste nach Wichtigkeit erstellt, die die angestrebten Ziele hierarchisiert. Anschließend werden möglichst alle Handlungsoptionen ermittelt, deren Folgen dem gewünschten zukünftigen Zustand nahekommen, und entschieden, welche der Handlungsalternativen auf bestmögliche Weise die angestrebte Zukunft realisieren kann. Das rationale Handeln wird dann durch ein Abgleichen des Zielzustands mit den eingesetzten Mitteln und den Handlungskonsequenzen geleitet. Innerhalb der neo-institutionalistischen Ansätze konzentriert sich Nils Brunsson im Rahmen seiner Reformtheorie weitgehend auf die Untersuchung der genannten allgemeinen Akzeptanzkriterien für Organisationen, insbesondere auf die Anforderungen organisationaler Rationalität. Dabei findet sich eine theoretische Behandlung von möglichen Differenzierungen dieser Anforderungen nur im Hinblick auf Erwartungen, die mit den idealtypisch und konträr gebildeten Kategorien „action organization“ und „political organization“ verbunden sind. Im neo-institutionalistischen Theoriestrang des „institutionellen Isomorphismus“ wird hingegen betont, dass sich eine Reihe unterschiedlicher und – im Vergleich zu den allgemein gehaltenen Erwartungen des instrumentell-rationalen Organisationsmodells – vor allem spezifischerer Anforderungen an verschiedene Organisationstypen richten: Vorstellungen des ‚richtigen‘ Organisierens spezifizieren und differenzieren sich je nach „organisationalem Feld“,249 und sie institutionalisieren sich innerhalb dieser Felder (DiMaggio/Powell 1983). Demnach können Tendenzen zur Isomorphie aller Organisationen insbesondere durch „Gruppenbildungen“ von Organisationen gebrochen werden. Unterschiede des Organisierens gehen einher mit unterschiedlicher Branchenzugehörigkeit, so dass sich 249
Eine Gruppierung von Organisationen zu einem organisationalen Feld ist nach dem Vorschlag von DiMaggio/Powell 1983 vor allem durch interorganisationale Vernetzungen, wechselseitige organisationale Ähnlichkeitsbeobachtungen sowie Konkurrenz- und Kooperationsverhältnisse begründet.
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etwa verschiedene Umsetzungen standardisierter, weltweit diffundierender Managementkonzepte auch auf die sektoralen Besonderheiten verschiedener Organisationspopulationen zurückführen lassen (Krücken/Hasse 2005, 200). Mittlerweile gehört es zum guten Ton neo-institutionalistischer Untersuchungen, Aussagen zur Homo- und Heterogenität von Organisationen stärker zu differenzieren, so dass im Rahmen von Mehrebenenanalysen institutionellen Wandels etwa zwischen der Organisationsumwelt, dem Organisationsfeld, der Organisationspopulation, deren Subpopulationen und den individuellen Organisationen unterschieden wird (Caronna/Pollack/Scott 2009). Die neo-institutionalistischen Überlegungen zur Ähnlichkeit organisationaler Strukturen innerhalb unterschiedlicher Organisationsfelder bzw. Organisationspopulationen verfügen auf den ersten Blick sicherlich über eine hohe Plausibilität. Zudem erfahren Annahmen des Neuen Institutionalismus zur Bedeutung der Organisationsumwelt und zur Diffusion organisationaler Formen grundsätzlich Unterstützung von anderen Strängen der Organisationssoziologie, insbesondere von der organisations- bzw. populationsökologischen und der netzwerktheoretischen Organisationsforschung.250 In der systemtheoretischen Organisationssoziologie wird anerkannt, dass das neue Interesse für den alten Begriff der Institution „wenigstens auf erweiterte Bedingungen der Akzeptanz von Organisationen in der sie umgebenden Gesellschaft“ (Luhmann 1995b, 402) aufmerksam macht. Die für den NeoInstitutionalismus zentralen Begriffe „Institution“ und „Kultur“ verweisen im systemtheoretischen Verständnis ausdrücklich oder stillschweigend vor allem auf Werte (Luhmann 2000b, 433). Dieser Wertbezug kann auch die prominente Stellung der Homogenisierungsthese im Neo-Institutionalismus verdeutlichen. Aber dass soziale Interrelationen und Interdependenzen zur Angleichung von Wertvorstellungen (aber auch zu Konflikten über Präferenzen) führen können, versteht sich in der Soziologie wohl von selbst.251 Und so kann es auch schnell einleuchten, dass Organisationen einen Wertewandel in ihrer Umwelt als Anregung verstehen, ihre eigenen Werte zu hinterfragen und gegebenenfalls den der Umwelt zugeschriebenen Werten anzupassen.252 In Organisationen erfolgt eine solche Selbst- und Fremdbeobachtung vor allem durch Grenzstellen, die dann zu „Promotoren externer Erwartungen innerhalb der Organisation“ (Tacke 1997, 33) werden können. Allerdings gilt auch für die Irritation von Grenzstellen durch 250
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Ähnlichkeit und Konkurrenz dieser Forschungsstränge führen in der Organisationssoziologie seit geraumer Zeit zu Kombinationen der Ansätze, siehe z. B. Hannan/Freeman 1986; Zucker 1987; Fombrun 1988; Haveman 1993a; Strand/Meyer 1993; Lizardo 2009 oder Scott 2009. Siehe beispielsweise Friedkin 1998; Meyer/Strang 1993; Burckhardt 1994; Fiss 2006. Daher lautet die entscheidende Frage, die im Folgenden noch zu vertiefen ist, wie Organisationen zu der Beobachtung kommen, dass sich extern ein Wertewandel vollzogen hat.
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den Wandel von Wertvorstellungen und Präferenzen: „Man kann die Situationen nicht voraussehen, in denen von sozialen Interdependenzen ein Druck ausgeht, die eigenen Präferenzen zu ändern“ (Luhmann 2000c, 149). Die Genese und der Wandel von organisationalen Werten und Präferenzen als Folge externer Erwartungen sind nicht voraussagbar. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass ihre Diffusion evolutionären Änderungen unterliegt. In einer systemtheoretischen Perspektive erscheint vor allem auch die neoinstitutionalistische Beschreibung von Organisationsfeldern problematisch: Hier genügt es nun nicht, dem Neo-Institutionalismus lediglich mangelnde Sensibilität für den evolutionären Wandel von Organisationspopulationen zu bescheinigen (Hannan/Freeman 1986). Der theoretische Status der organisationalen Klassifizierungen im Neuen Institutionalismus ist grundsätzlicher zu kritisieren. Das systemtheoretische Argument lautet hier: Trotz der hohen gesellschaftlichen Relevanz organisationaler Segmentierungen versteht es sich theoretisch keineswegs von selbst, Organisationen – wie in den neo-institutionalistischen Ansätzen üblich – nach gesellschaftlich gängigen und weit verbreiteten Einteilungen zu gruppieren, also etwa nach Produktionsweise (Industrie/Dienstleitungsgewerbe), Eigentümerschaft (öffentlich/privat), Profitorientierung (non-profit/for-profit) oder nach Funktion (Krankenhäuser, Parteien, Forschungsinstitute, Kirchen usf.). Im Neuen Institutionalismus werden diese Differenzierungsschemata als „takenfor-granted“-Unterscheidungen des Alltags unhinterfragt den eigenen Beobachtungen zu Grunde gelegt.253 Im Unterschied zu diesem Vorgehen verbietet es sich für die soziologische Systemtheorie hingegen, Organisationen unreflektiert nach gesellschaftlich gängigen Kategorien zu differenzieren. Bei der wissenschaftlichen Verwendung von Organisationstypologien sollte man vielmehr Vorsicht walten lassen und sich zunächst das Konstruktionsprinzip der genutzten Typologie vergegenwärtigen. Die Bildung von Organisationstypologien ist in der Organisationsforschung insgesamt theoretisch weitgehend unbefriedigend geblieben (Scott 2009; Lizardo 2009). Dies betrifft auch die systemtheoretische Organisationssoziologie, die für die Probleme im Umgang mit Organisationstypen allerdings bereits Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt hat (Tacke 2001): Es ist in organisationaler, wissenschaftlicher und sonstiger Kommunikation erkennbar, dass sich Typisierungen von Organisationen in der Sachdimension im Normalfall implizit auf gesellschaftliche Funktionskontexte beziehen, so dass dann mangels einer ausreichen253
Auch bei einem „multilevel case study design“ ändert sich anscheinend nichts an der neoinstitutionalistischen Unbekümmertheit, eine in nichtwissenschaftlichen Selbst- und Fremdbeschreibungen als „Krankenhaus“ bezeichnete Organisation ganz selbstverständlich zu einer Population mit Namen „Krankenhäuser“ zu zählen. So jedenfalls die Vorgehensweise etwa bei Caronna/Pollack/Scott 2009.
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den Differenzierung von Organisationen und Funktionssystemen ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass beispielsweise Gerichte auf Recht, Banken auf Wirtschaft oder Schulen auf Erziehung verweisen. Für die soziologische Systemtheorie ist aber die durch solche Typisierungen vollzogene Möglichkeit einer eindeutigen Zuordnung von Organisationen zu Funktionssystemen der Gesellschaft versperrt: Zunächst ist leicht sichtbar, dass sich organisierende Systeme in ihren Entscheidungen sowohl sequentiell als auch synchron an verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen orientieren und sie in diesem Sinne „multireferentiell“ operieren (Wehrsig/Tacke 1992): So entscheiden Gerichtsorganisationen nicht nur in Bezug auf das Rechtssystem, sondern treffen mit Verweis auf das Geldmedium – beispielsweise durch Geldstrafen – auch Entscheidungen, die sich auf Wirtschaftskommunikation beziehen.254 In vielen komplexeren Organisationen werden unterschiedliche funktionale Orientierungen auch suborganisational ausdifferenziert (Lieckweg/Wehrsig 2001, 49), z. B. in Form von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, Rechtsämtern oder Büros für Öffentlichkeitsarbeit. Zugleich sind in Organisationen unzählige „multiple Programmierungen“ (Bora 2001) zu beobachten, so etwa im Fall behördlicher „Sozialtransfers“ in Form der Verknüpfung von Entscheidungen über Rechtsansprüche mit Entscheidungen über Zahlungen. Weiterhin findet man aber auch sehr viele Beispiele für Organisationen, die sich einer an den Strukturen funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung anschließenden Typologisierung entziehen, weil sie entweder in Selbst- und Fremdbeobachtungen nur als marginal an den Codes und/oder den Programmen dieser Strukturen ausgerichtet erscheinen oder weil Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung der betrachteten Organisation bezüglich einer funktionssystemspezifischen Zuordnung miteinander streiten (Tacke 2001). Die Unabhängigkeit organisierender Systeme von den Codierungen der Funktionssysteme zeigt sich zudem in der Option der organisierten Verzeitlichung von Codes: Diese erlaubt es z. B., dass entschieden werden kann, noch nicht zu zahlen (Lieckweg/Wehrsig 2001). Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass eine kategoriale Zuordnung von Organisationen zu Funktionssystemen der Gesellschaft nicht mit der systemtheoretisch zentralen Annahme der operativen Trennung von Organisationssystemen und Funktionssystemen zu vereinen ist. Die Systemtheorie kann folglich im Zusammenhang ihrer eigenen organisations- und gesellschaftstheoretischen Aussagen eine an den Funktionssystemen orientierte Organisationstypologie nicht selbst entwerfen, ohne theoriesystematisch inkonsequent zu werden. Aber 254
Die Beschreibung von Organisationen als Multireferenten hindert unterdessen nicht die Annahme, dass zahllose Organisationen eine funktionssystemspezifische Primärorientierung erkennen lassen (und manchmal auch mehrere Hauptreferenzen, so etwa Universitäten in Bezug auf Erziehung und Forschung).
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sie kann die soziale Konstruktion und Bedeutung einer solchen funktionsbezogenen Typologisierung beschreiben. Im Rahmen einer systemtheoretisch geleiteten Beobachtung zweiter und dritter Ordnung wird dann erkennbar, dass es sich bei der Bildung von Organisationskategorien wie „Theater“, „Unternehmen“ oder „Internat“ um gesellschaftliche Simplifikationen nach Maßgabe funktionaler Differenzierung handelt: Die primären Verweise von Organisationen auf Funktionssysteme werden übertrieben fokussiert und kontrastiert, so dass ein Schema entsteht, in der Organisationen nach Typen geordnet werden können. Diese funktionsbezogene Schematisierung hat gesellschaftlich den Vorteil, dass es für die Sicherheit sorgt, dass bestimmte Skripte (‚Leistungen‘, ‚Verhaltensweisen‘) von dem jeweiligen Organisationstyp situations- und ortsunabhängig normativ erwartet werden können (Tacke 2001, 152): „Feuerwehr bleibt Feuerwehr“ (Luhmann 2000c, 155) – an dieses Sachschema knüpfen Skripte an, so dass egal, wo und wann eine solche Organisation bei einem Feuer alarmiert wird, normalerweise erwartet werden kann, dass sie ausrückt und den Brand löscht. Da das Erwartungspaket eines Typs aber nicht über eine Rahmensetzung hinaus spezifiziert wird, werden organisationale Entscheidungen bei Nutzung des kategorialen Schemas nicht festgelegt, sondern nur in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. (Luhmann 2000b, 196). Die soeben skizzierte Behandlung des soziologischen Problems funktionsspezifischer Organisationstypologien führt dazu, dass die Systemtheorie an ihrem Konzept der Multireferenz organisierender Sozialsysteme festhalten und auf der Ebene der Beobachtung zweiter und dritter Ordnung die Typisierungen von Organisationen im Schema funktionaler Differenzierung (und die organisationalen Abweichungen von dieser Kategorisierungsweise) beschreiben kann. Vor diesem Hintergrund ist nun anzunehmen, dass die gesellschaftliche Vereinfachung der funktionalen Referenzen von Organisationen durch kontrastreiche Typisierungen zur Konsequenz hat, dass unterschiedliche Organisationskategorien in Selbst- und Fremdbeobachtungen mit unterschiedlichen Akzeptanzbedingungen in Bezug auf Sinnzumutungen einhergehen. Die gesellschaftliche Beschreibung von Organisationen in einem funktionssystemspezifischen Schema sorgt dann etwa dafür, dass von Museen nicht erwartet wird, Krieg zu führen, oder dass auch sehr forsche Organisationsberatungen kaum auf die Idee kommen werden, einem Reitverein die Implementierung einer „Balanced Scorecard“ vorzuschlagen. Dort, wo Organisationen mit eher diffusen Leistungserwartungen konfrontiert werden, so etwa, wenn von Unternehmen ‚gesellschaftliche Verantwortung‘ verlangt wird, entstehen Sondersemantiken, die das Schema funktionaler Differenzierung wieder ins Spiel bringen und eine organisationstypische Zuordnung und Spezifizierung erlauben. Ein Unternehmen kann, um das Beispiel erneut aufzugreifen, mit dem Verweis auf „corporate social responsibility“
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in seiner Selbstdarstellung nicht nur der Erwartung entsprechen, ‚sozial verantwortlich‘ zu handeln, sondern damit zugleich auch einen Typenunterschied markieren: Wenn von „corporate social responsibility“ und nicht von „Gemeinnützigkeit“ oder „Fürsorge“ die Rede ist, signalisiert die Organisation funktionsspezifisch nuanciert, dass man es weder mit einer Sozialbehörde, noch mit einem karitativen Verein, sondern mit einer primär anderweitig („Profit“) orientierten Organisation zu tun hat. Und durch solch eine textliche Regulierung kann schon auf semantischer Ebene der Umfang der Erwartungen ‚organisationstypengerecht‘ begrenzt werden. 2.9.3 Organisationale Entscheidungen über die Nutzung von Erfolgsmedien In diesem Abschnitt komme ich auf die oben gestellte Frage nach den Beziehungen von Organisationen und Erfolgsmedien zurück. In den vorangegangenen Ausführungen zur Akzeptanz organisierter Entscheidungskommunikation wurde eine erste Antwort im Rahmen der Beschreibung mitgliedschaftsbedingter Akzeptanzbereitschaft bereits mitgeführt: Als generell verwendete Motivationsmittel für die Annahme von Sinnzumutungen dienen den meisten Organisationen „Geld“ in Form von Lohn, Gehalt oder Sold und – nur sehr selten offen kommuniziert, eher im Hintergrund auf Ausnahmefälle lauernd – „Macht“/„rechtlich codierte Macht“ in Form der Weisungsgewalt, der Entscheidung über Karrieren oder der rechtlichen Erzwingbarkeit von Leistungen auf Basis von Arbeitsverträgen. Solange die Mitgliedschaftsentscheidung reproduziert wird und es auf Entlassungsvermeidung bzw. Vertragsverlängerung und auf Motivunterstellungen wie „Einkommen“, „Existenzsicherheit“ oder „Beförderung“ ankommt, sorgen diese Erfolgsmedien für eine grundsätzlich umfassende, oft aber sehr abstrakte Akzeptanzbereitschaft. Die geringe Spezifikation der Mitgliedschaftsanforderungen führt gleichwohl nicht nur dazu, dass dieses Erwartungspaket durch weitere Entscheidungen über Entscheidungsprämissen konkretisiert und ergänzt wird. Es ist auch anzunehmen, dass bei Entscheidungen mit besonderem Zumutungsgehalt es von Fall zu Fall zu einem zusätzlichen Einsatz von Erfolgsmedien kommt, die über die durch Mitgliedschaft etablierte Motivationslage hinaus eine Sondermotivation schaffen und die Annahmechancen unattraktiver Entscheidungen weiter verbessern. Auf den ersten Blick sind hierfür Steigerungen entlang der durch Geld und Drohmacht möglichen Sanktionen in Bezug auf die Mitgliedschaftsrolle naheliegend, also z. B. die Auszahlung von Zuschlägen und Boni oder die Androhung einer verschärften Ahndung von Ungehorsam. Die oben skizzierten Aussagen zur organisationalen Formung und Konversion von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien haben bereits
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vermuten lassen, dass es im Verhältnis von Organisation und Erfolgsmedien nicht lediglich um die Möglichkeit gehen kann, Entscheidungen durch ein Ausdehnen des „frames“ der mitgliedschaftsbedingten „zone of indifference“ mit erhöhten Annahmechancen zu versehen. Denn grundsätzlich alle Organisationen unterscheiden beispielsweise, ob ihre Entscheidungen dazu führen, dass Geld innerhalb der Organisation weitergegeben wird, oder ob es als Einnahme oder Ausgabe die Grenze der Organisation überschreitet. An dieser Stelle der theoretischen Überlegungen ist daher abstrakter danach zu fragen, in welchen Konstellationen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien überhaupt Bedeutung in Organisationen erlangen. Kommunikationsmedien irren in Organisationen nicht einfach lose umher, sondern werden in Entscheidungen mit Kausalrichtungen und sozialen Positionen versehen. Für eine Fremdbeschreibung der organisationalen Selbstbeobachtung des Verhältnisses von Organisation und Erfolgsmedien bietet es sich daher an, die möglichen Konstellationen des Mediengebrauchs nach organisationalen Zurechnungsschemata zu differenzieren. In der Organisation wird also jeweils die Frage geklärt, wer wen mit welchen Erfolgsmedien zur Annahme welcher Entscheidung zu bewegen versucht. Um die möglichen Antworten der Organisation theoretisch zu sortieren, kann man diese an Kombinationen der Unterscheidungen „intern/extern“, „Erleben/Handeln“ und „Alter/Ego“ anschließen. Sofern sich die Organisation selbst als Beteiligte des Mediengebrauchs sieht,255 kommen auf Basis dieser Unterscheidungen drei verschiedene Konstellationen zur kausalen Verknüpfung von Entscheidungen und Medien in Betracht: (1) Die Organisation trifft Entscheidungen über die Verwendung von Erfolgsmedien mit Bezug auf die Organisationsumwelt. In diesem Fall versteht sich die Organisation als Initiatorin eines Kommunikationsmediengebrauchs, der sich an andere Organisationen oder an Personen oder Publika außerhalb der Organisation richtet. (2) Ein fremdes System versucht, ein bestimmtes organisationales Entscheiden zu motivieren. Die Organisation erlebt sich (in umgekehrter Richtung zum ersten Konstellationsschema) als Adressatin eines organisationsexternen Einsatzes von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. (3) Die Organisation nutzt in ihren Entscheidungen Verweise auf Erfolgsmedien für 255
Auf Basis der Unterscheidungen „intern/extern“ und „Alter/Ego“ wäre aus systematischen Gründen auch an den Fall zu denken, dass sich eine Organisation als Unbeteiligte eines Gebrauchs von Kommunikationsmedien betrachtet und die Mediennutzung der Umwelt zurechnet, dieses externe Geschehen aber folgenreich, als Information in den eigenen Entscheidungsprämissen, berücksichtigt. Ein typisches Beispiel hierfür sind Marktbeobachtungen: Der Hauptkonkurrent kauft eine Reihe von Produktionsstätten anderer fremder Unternehmen, und dieser Vorgang wird als Information im Hinblick auf mögliche Investitionsentscheidungen im eigenen System erinnert. Die Organisation betrachtet sich in dieser Konstellation aber weder als Urheber noch als Adressat des Erfolgsmediengebrauchs, also im Kausalschema nur als indirekt betroffen.
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2. Reform und Akzeptanz
interne Motivationszwecke. In dieser Konstellation werden sowohl Alter als auch Ego als soziale Positionen im organisationalen Entscheidungsnetzwerk betrachtet. Im Folgenden möchte ich die genannten Konstellationen der organisational beobachteten Kausalverhältnisse von Organisation und Erfolgsmedien anhand einiger Beispiele veranschaulichen. Dabei sollen zugleich die Möglichkeiten beleuchtet und plausibilisiert werden, dass verschiedene Kommunikationsmedien in organisierten Sozialsystemen Berücksichtigung finden. Ein Entscheiden über den Gebrauch von Macht/rechtlich codierter Macht ist in vielen Organisationen in allen Zurechnungskonstellation ein häufiger, wenn nicht alltäglicher Vorgang. Die Polizei entscheidet ständig über den Einsatz von Amtsmacht mit Bezug auf Ereignisse der sozialen Umwelt, sei es in Form von Verwarnungen, Kontrollen oder der Androhung (‚Hände hoch!‘) und Anwendung (Schüsse) physisch wirkender Gewalt. Auch in Organisationen kommt es zu dem Gebrauch von Macht, dies allerdings ganz andersartig,256 nämlich in Form von Dienstplänen, Aufträgen oder Befehlen. Und als Hüter von Recht und Ordnung ist die Polizei stark von externem Machtgebrauch betroffen, insbesondere durch Änderungen der Gesetzeslage. Politische Parteiorganisationen müssen sich im Wahlkampf entscheiden, welche Werte – etwa Freiheit, Ordnung oder Gesundheit, sie gegenüber ihrem Publikum besonders betonen, um Unterstützung zu erhalten. Sie sind in umgekehrter Disposition sehr sensibel für Akzentverschiebungen im Reigen der für ihre Umwelt wichtigen Werte, so dass je nach aktueller Bedeutung von Naturschutz, Gerechtigkeit oder Bildung daran anschließende Forderungen zumindest Entscheidungen im Bereich von Talk leicht beeinflussen können. Innerhalb der Organisation können dann ebenfalls Werte wie etwa „Gleichheit“ eine Rolle spielen, so etwa, wenn die Rekrutierung und Komposition des Bundesvorstands einer Partei durch die Entscheidungsprämisse bedingt wird, dass alle Regionen Deutschlands paritätisch vertreten sein sollen. Ihre Verweise auf das Wertmedium können Organisationen in Form von entschiedenen oder unentschiedenen Entscheidungsprämissen strukturieren. Die letztgenannte Möglichkeit wird, wie bereits notiert, häufig in einen Zusammenhang mit internen Akzeptanzproblemen von Reformen gerückt: Es wird dann beobachtet, dass die Organisationkultur Veränderungen der Organisation verhindere. Es wurde bereits oben in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen, dass Organisationen in allen Kombinationen der Unterscheidungen „intern/extern“, „Erleben/Handeln“ und „Alter/Ego“ auf Geld verweisen: Eine Organisation kann sich z. B. als Geldempfänger erleben oder als Kreditgeber 256
Polizisten drohen nämlich – außerhalb der Fiktionen der Kriminalliteratur – üblicherweise ihren Kollegen nicht mit der Waffe, um Annahmewahrscheinlichkeiten zu verbessern.
2.9 Besonderheiten des Akzeptierens in (und von) Organisationen
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handeln und ihre Mitglieder durch Leistungszulagen motivieren. Unmittelbar einsichtig dürfte es auch sein, dass Referenzen von Entscheidungen auf Wahrheit einen Vorteil im Hinblick auf Akzeptanzchancen bieten können, unabhängig davon, ob es bei dem mit wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen vorgetragenen neuen Wissen um an die Organisationsumwelt gerichtete Mitteilungen oder um die Annahme in oder von Organisationen geht. Weiterhin erscheint trotz des geringen Technisierungsgrades des Mediums Kunst die Annahme unproblematisch, dass Verweise auf dieses Medium in allen Konstellationen von Organisationen verwendet werden können. Dies lässt sich am Beispiel einer Theaterorganisation schnell verdeutlichen: Der organisationsexterne Drehbuchautor wirbt dafür, dass sein Werk im Theater uraufgeführt wird. Organisationsintern wirbt der Regisseur für eine künstlerisch notwendige Neuinterpretation von Shakespeares „Othello“. Sein Publikum möchte das Theater nicht durch niedrige Eintrittspreise zum Applaus motivieren, sondern durch die künstlerische Qualität der Aufführung. Und auch solche Organisationen, die sich nicht im Schema funktionaler Differenzierung in ihrer Selbstbeschreibung typologisierend zur Kunst bekennen, kann es im Hinblick auf die Akzeptanzchancen ihrer Selbstdarstellungen oder ihrer Produktpräsentationen darauf ankommen, an künstlerische Formen anzuschließen und dadurch „ästhetisch“, „emotional“ oder „stylisch“ zu erscheinen (Turner 1992). Dem Medium der Liebe und intimsystemischer Kommunikation wird hingegen in der Systemtheorie ein „Organisationsdefizit“ nachgesagt: „Intimität und Organisierbarkeit stehen derart zueinander im Widerspruch, dass sich intime Kommunikationen der Organisierbarkeit prinzipiell entziehen“ (Lewandowski 2004, 240). Die Systembildung von Organisation und liebesbasierten Intimsystemen erscheint nun tatsächlich gegenläufig. Während es bei Liebe um eine Komplettberücksichtigung der Person in einer privaten Sonderwelt geht, kommt es für Organisationssysteme gerade darauf an, nicht die gesamte Person, sondern nur ihre entscheidungsrelevanten Ausschnitte als Mitglied in das System einzubeziehen. Allerdings darf diese Beschreibung nicht dazu verleiten, die Orientierung organisationaler Entscheidungen an Personen zu unterschätzen und die „Legenden über unpersönliche Bürokratien“ (Luhmann 2000b, 286) zu pflegen. Persönliche Entscheidungsprämissen scheinen dann auch das ‚Einfallstor‘ zu sein, das Organisationen Gelegenheiten zu Referenzen auf Liebe eröffnet. Personalentscheidungen können durch das Liebesmedium geformt werden: Die Chefin eines Familienunternehmens schafft für ihren organisatorisch unbegabten Gemahl eine überflüssige Stelle in der Marketingabteilung, weil er statt Golf zu spielen mehr Zeit mit ihr verbringen möchte; der Schwiegersohn bleibt aufgrund seiner Stellung als Familienmitglied und trotz seiner Faulheit in seiner Stellung als Kellner Mitglied des familiengeführten Gastronomiebetriebs usw. Durch
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2. Reform und Akzeptanz
Liebe motivierte Patronage ist in Organisationen selten, aber man hat schon einmal von solchen Fällen gehört: Die nicht geheim gebliebenen Verweise auf Liebesbeziehungen bei Personalentscheidungen führen im System dann nicht nur zu neuen Nachrichten im Netzwerk des organisationalen Klatsches, sondern auch im Hinblick auf Entscheidungen zur Ausformung der Prämissen im Umgang mit den beteiligten Personen.257 Man wird etwa den Kollegen, der zugleich Mann der Chefin ist, nicht leichtfertig durch seine Entscheidungen verärgern wollen. Damit ist nur gesagt, dass Verweise auf Liebesbeziehungen in Organisationen implizit ein Kriterium von Entscheidungen sein können. Dies ändert jedoch nichts an der Vermutung, dass Liebe in Organisationen nur sehr marginal für Motivationszwecke eingesetzt wird. Auch kann man sich nur extrem wenige Fälle vorstellen, in denen Organisationen ganz explizit über den Gebrauch von Liebesmedien in Bezug auf ihre Umwelt entscheiden, so etwa, wenn Geheimdienste ihre Agenten grundsätzlich davor warnen oder es ihnen verbieten, sich zu verlieben,258 da bekannt ist: Durch Liebesbeziehungen wird die Tarnung von Spionen in besonderer Weise gefährdet. Denn das Konzept der Liebe verlangt eine vollständige Berücksichtigung der anderen Person und erlaubt somit keine Geheimnisse. Die organisationale Bedeutung eines Kommunikationsmediums lässt sich auch in der Typisierung von Organisationen durch das Schema funktionsspezifischer Differenzierung ablesen. Nun finden sich einige wenige Organisationen, die sich in ihren Entscheidungen zu einem geringen Teil auch speziell auf das Thema „Liebesbeziehung“ richten. Doch weder Standesämter noch Familiengerichte, weder Partnervermittlungen noch Familienberatungen entscheiden darüber, wer wen lieben soll, und sie versuchen auch nicht, die Annahmewahrscheinlichkeit ihrer Entscheidungen, mit Hilfe von Liebe zu verbessern. Im Fall des Liebesmediums führt eine funktionsspezifische Typisierung also in Selbst- und Fremdbeobachtungen nicht zu der Vermutung, diese Organisationen würden selbst über den Gebrauch des Liebesmediums entscheiden. Die vorangegangen Überlegungen haben zu plausibilisieren versucht, dass die Erfolgsmedien der Gesellschaft für das Akzeptieren in Organisationen vermutlich eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Die Frage, welche Kandidaten im spezifischen Fall einer reformierenden Organisation wahrscheinlich zum Einsatz kommen, wird bei der nun folgenden theoretischen Zuspitzung der bisherigen Überlegungen wieder aufgegriffen werden.
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Organisationen entstehen und reproduzieren sich zwar als rekursives Entscheidungsnetzwerk, in jeder Organisation finden sich aber auch andere Kommunikationsweisen, die auf die Entscheidungen bezogen werden, so etwa Klatsch, siehe Luhmann 2000b, 68f. So jedenfalls die Darstellung des Mossad-Agenten Wolfgang Lotz, vgl. Lotz 1972, 28f.
3. Bezugsproblem und Hypothesen
Reformen gewinnen ihre gesellschaftliche Attraktivität üblicherweise dadurch, dass sie Organisationen einen besseren Gesamtzustand für die Zukunft in Aussicht stellen. Folgt man der neo-institutionalistischen Theorie, bezieht sich das generalisierte Glücksversprechen von Reform auf die Verwirklichung einer bestimmten Idealvorstellung des Organisierens, nämlich auf die praktische Umsetzung des klassischen Modells der instrumentell-rationalen Hierarchie: „(…) the dream of rationality is evident in virtually every formal organization“ (Brunsson 2006, 13). Reformen treten als geeignetes Mittel auf, diese Zielsetzung zu erreichen, und durch ihre Zweck-Mittel-Schematisierung fügen sie sich selbst in das Ideal des rationalen Organisierens ein. Ganz im Gegensatz zu den üblichen Vorstellungen über die Steuerungsmöglichkeiten reformierender Organisationen behandelt die Soziologie die zweckrationalen Glücksversprechen von Reformen als trügerische Phantasien mit hoher Enttäuschungswahrscheinlichkeit. Denn in der soziologischen Organisationsforschung wird seit langer Zeit davon ausgegangen, dass das Scheitern von Reformen zu erwarten ist, sofern Reformen von instrumentell-rationalen Beobachtern mit einem zielorientierten Schema von Erfolg und Misserfolg betrachtet werden, also Reformerfolge an den reformeigenen Ansprüchen der Vergangenheit gemessen und die ursprünglich verkündeten Reformziele mit den späteren Reformfolgen verglichen werden. Mangels Erkenntnisbedarfs hat die soziologische Reformforschung die Frage nach der Verwirklichung von Reformzielen in den letzten Jahrzehnten abgestreift und das klassische Interesse der Evaluations- und Implementationsforschung an einer Erfolgskontrolle von Reformen in den Hintergrund treten lassen. Die moderne Organisationssoziologie setzt das Scheitern von Reformen im instrumentell-rationalen Sinne als nicht mehr genauer zu untersuchenden Normalfall voraus und sie hat daher ihr Erkenntnisinteresse dahingehend verlagert, dass sie angesichts der zu vermutenden Erfolglosigkeit von Reformen fragt: Wie kommt es, dass das Schema „Reform“ persistiert? Hinsichtlich dieser allgemeinen Frage nach den Voraussetzungen der Reformpersistenz hat die Forschungsstandanalyse der vorliegenden Arbeit bereits mögliche theoretische Antworten aufgezeigt: Mit Hilfe der oben ausführlich plausibilisierten Reformfunktionen (siehe Abschnitt 2.6) kann beschrieben
C. P. Kleidat, Bedingungen der Akzeptanz von Reform, DOI 10.1007/978-3-531-93088-6_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
werden, welche Vorteile das Schema „Reform“ für die Bearbeitung organisationaler Probleme bietet. So lässt sich einerseits auf die „Fassadenfunktion“ von Reform verweisen, die es einer reformierenden Organisation durch eine Entkopplung von Reformtalk, Reformdecision und Reformaction ermöglicht, ihr Alltagsentscheiden vor organisational unangemessenen Umwelterwartungen zu schützen und gleichzeitig diesen Erwartungen oberflächlich gerecht zu werden. Andererseits können Reformen einer Organisation dabei helfen, Blindheiten für Probleme zu vermeiden und bislang verborgene Beobachtungen des eigenen Organisierens sichtbar werden zu lassen: Irritiert und informiert durch die Sinnofferten einer Reform, können neue Beiträge zu einer kontroversen Selbstbeschreibung der Organisation entstehen. Die hinzu gewonnenen Ansichten ermöglichen es dann, sich selbst insgesamt besser zu verstehen. Bei dieser reformbedingten Vermehrung möglicher Perspektiven sollte man allerdings nicht nur die ablehnende Seite betrachten und den Widerstand gegen Reform als ‚Realitätsgewinn‘ gegenüber den steuerungstheoretisch überambitionierten und in diesem Sinne ‚unrealistischen‘ Reformideen hervorheben. Auch die Reform bejahende Seite bietet Lösungen für das Problem einer unzureichenden Selbstbeschreibung, da auch die Träume einer Organisation über ihr zukünftiges Organisieren, die durch Reformideen symbolisiert werden, zur Realität der Organisation gehören. Die „Visibilisierungsfunktion“ von Reform kann also immer zwei Fragen beantworten, wenn man Reform als Eingrenzung des Horizonts einer künftig möglichen Organisation versteht: Wie sieht sich die Organisation selbst in ihren Träumen? Und: Was glaubt sie, ist machbar? In der folgenden Untersuchung konzentriere ich mich auf das Verstehen der positiven organisationale Sicht von Reform. Dabei werde ich soziologisch die „Wahrscheinlichkeit von Reformakzeptanz“ problematisieren (3.1 und 3.2) und Hypothesen zu den „Bedingungen der Möglichkeit von Reformakzeptanz“ formulieren (3.3). Die Darstellung erfolgt im nächsten Abschnitt vor dem Hintergrund, dass sich die Reformsoziologie Nils Brunssons hinsichtlich der reformbezogenen Problemstellung anders entschieden und zuletzt die „Stabilisierung der Hoffnung auf Reformerfolg“ in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gerückt hat. In diesem Zusammenhang werde ich vorschlagen, die soziologischen Beobachtungsmöglichkeiten von „Reform“ durch die Kombination dieser Unterscheidung mit zusätzlichen Unterscheidungen entlang der Differenz von Generalisierung und Spezifizierung zu erweitern.
3.1 Die Umstellung des Bezugsproblems
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3.1 Die Umstellung des Bezugsproblems: Vertrauen und Hoffen auf Reformerfolg und das Akzeptieren generalisierender und spezifizierender Verweise auf Reform In seiner reformsoziologischen Studie „Mechanisms of Hope“ behandelt Nils Brunsson das Problem bzw. die Frage, wie die mit Reformen verbundene Hoffnung auf eine bessere Organisationszukunft im Sinne des zweckrationalen Organisationsmodells stabilisiert werden kann. Der Begriff „Hoffnung“ bezeichnet im Rahmen dieses neo-institutionalistischen Ansatzes solche Erwartungen, die sich auf den künftigen Eintritt eines positiv bewerteten Zustands richten und dadurch zwischen „Wunsch“ und „Wirklichkeit“ vermitteln (Brunsson 2006, 11, 223). Im Kontext von Reformen betrachtet Brunsson „Hoffnung“ insbesondere als einen kulturell verankerten „Glauben“ an die Chance, dass Leitbilder, Soll-Zustände, Utopien und Träume realisiert werden können, und versteht dieses Konzept als Gegenteil von „Verzweiflung“ und „Apathie“ (Brunsson 2006, 11ff.). Im Vergleich zu diesem neo-institutionalistischen Verständnis hoffnungsvoller Erwartungen erscheint der systemtheoretische Terminus der „Hoffnung“ (bzw. der „Zuversicht“)259 durch die Unterscheidung zum Konzept des „Vertrauens“ schärfer konturiert und besser in den begrifflichen Zusammenhang der eigenen Theoriearchitektur eingebunden zu sein: In der Systemtheorie gehören „Hoffnung“ ebenso wie „Vertrauen“ zu einem Erwartungstyp, der die Möglichkeit künftiger Enttäuschungen berücksichtigt (Luhmann 2000e, 28f; 1988c, 97ff.). Der Eintritt des gewünschten Zustands wird bei diesem Stil des Erwartens nicht einfach blind unterstellt. Vielmehr wird angesichts der Unsicherheit der Zukunft alternativ auch ein kritischer Verlauf mit unwillkommenen Folgen als Möglichkeit in Betracht gezogen, und im Rahmen dieser Erwägung positiver und
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Niklas Luhmann hat die in den 1960er Jahren vorgestellte Unterscheidung Vertrauen/Hoffnung später in die risikosoziologisch erweiterte Unterscheidung von trust und confidence überführt. Dass „confidence“ bzw. „Zuversicht“ in den 1980er Jahren in einer gleichbleibenden Bedeutung an die Stelle von „Hoffnung“ tritt, kündigt sich rund zwei Jahrzehnte vorher bereits in folgender Formulierung an: „Der Hoffende faßt trotz Unsicherheit einfach Zuversicht“ (Luhmann 2000e, 29; zuerst im Jahr 1968 veröffentlicht). Von einer systemtheoretischen Bedeutungsgleichheit der Begriffe „confidence“/„Zuversicht“ und „Hoffnung“ geht anscheinend auch Bohn 2007, 22 aus. Im Unterschied zu Kai-Uwe Hellmann 2002, 89 (Fn. 42) habe ich dabei wenig Bedenken, dass es zu Missverständnissen führt, wenn man den Begriff „confidence“ mit „Zuversicht“ übersetzt. Denn „Zuversicht“ ist ebenso wie „confidence“ einfach nur als systemtheoretischer Fachausdruck zu markieren. Für die Soziologie ist es typisch, dass sie für ihre Begriffsbildung gleichlautende Wörter der Alltagssprache verwendet, den Begriffen also eine ganz andere Bedeutung zukommen kann als den Wörtern. Bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte muss man immer damit rechnen, dass vertraute Wörter des Alltags zu den erläuterungsbedürftigen Begriffen einer Fachsprache werden. Siehe dazu auch Kieserling 2004, 291ff.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
negativer Alternativen können die Nachteile die angestrebten Vorteile überwiegen. Innerhalb dieses Erwartungstyps kann nun zwischen „Vertrauen“ und „Zuversicht“/„Hoffnung“ differenziert werden, indem man diese Begriffe an die Unterscheidung Risiko/Gefahr koppelt. Es geht dabei um den Unterschied, ob man mögliche Enttäuschungen dem eigenen, riskanten Handeln zurechnet oder externen Ursachen, mit denen man sich abfinden muss: „Vertrauen reflektiert Kontingenz, Hoffnung eliminiert Kontingenz“ (Luhmann 2000e, 29). Trifft man eine riskante Entscheidung, kann man trotz Unsicherheit darauf vertrauen, dass negative Folgen ausbleiben und die gewünschten Ereignisse eintreten. Hat man selbst keine Wahl und betrachtet sich als gefährdet, kann man dennoch Zuversicht fassen und darauf hoffen, dass man nicht zu Schaden kommt und sich eine Situation vorteilhaft entwickelt. In kürzerer rollentheoretischer Formulierung: Ein Entscheider vertraut, ein Betroffener hofft. Solche Rollenzuschreibungen können sich aber rasch ändern, etwa dann, wenn man bezüglich der eigenen Kausalannahmen lernt und die betrachteten Folgen gar nicht mehr einer eigenen Entscheidung zurechnet. Je nachdem, wie in der jeweiligen Episode oder Periode zugerechnet wird, kann Vertrauen in Hoffnung umschlagen und umgekehrt (Luhmann 1988c, 98). Es wurde bereits oben erläutert, dass entsprechende Rollenkonstellationen auch bei Reformen zu beobachten sind, und zwar durch die Unterscheidung der in einer Organisation von Reformen betroffenen und der über Reform entscheidenden Kompetenzen. Was bedeutet dies für die Verwendung der Differenz von „Hoffnung“ und „Vertrauen“ im Kontext von Reform? Diese Unterscheidung beruht auf Zurechnungen eines Systems nach dem Schema „intern/extern“ bzw. „Handeln/Erleben“. In einer Fremdbeschreibung der Selbstbeobachtungen des Systems wird man zusätzlich unterscheiden, ob das Schema intern/extern vom System fremdreferentiell in Bezug auf seine Umwelt oder selbstreferentiell zur Binnendifferenzierung genutzt wird. Im Fall von Reform bedeutet dies: Betrachtet sich die Organisation als Gesamtheit, kann sie in ihrer Selbstbeobachtung Reformentscheidungen auf sich selbst zurechnen oder sich als ein System erleben, dass von den Reformentscheidungen seiner Umwelt betroffen wird. Sieht sich die Organisation hingegen als ein durch verschiedene Kompetenzen differenziertes System, so können Reformentscheidungen und Reformbetroffenheiten bestimmten Kompetenzen zugeschrieben werden. Im Anschluss an die systemtheoretische Unterscheidung von „Hoffnung“ und „Vertrauen“ folgt daraus: Sofern eine Organisation reflektiert, dass sie sich selbst für eine Reform entschieden hat, kann sie hinsichtlich eines Reformerfolgs
3.1 Die Umstellung des Bezugsproblems
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nur vertrauen, nicht aber hoffen.260 Attribuieren dagegen erlebende Kompetenzen in einer Binnenperspektive bestimmte Reformideen anderen organisationalen Kompetenzen und etablieren sich (periodenhaft) die Rollen von Reformentscheidern und Reformbetroffenen, kann man bei einer positiven Reformbewertung auf beiden Seiten entsprechend der Rollendifferenzierung solche Kompetenzen finden, die auf den Erfolg ihrer Reformentscheidungen vertrauen, und solche, die auf den Erfolg der Entscheidungen anderer Kompetenzen hoffen. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass es systemtheoretisch einen Unterschied bedeutet, ob man auf Reformerfolge hofft oder vertraut: Die Reformprotagonisten entscheiden im Vertrauen darauf, dass die Reformbetroffenen von negativen Folgen verschont bleiben, zumindest aber, dass die reformbedingten Verbesserungen die Verschlechterungen übertreffen. Die von Reform Betroffenen haben keine Wahl und müssen sich mit den Reformentscheidungen anderer abfinden in der Hoffnung, dass sie keine Nachteile erleiden. Eine solche Beschreibung geht jedoch von der Situation aus, dass sowohl Entscheider als auch Betroffene einer Reform bereits zugestimmt haben und ihre Akzeptanz der Reformvorschläge durch vertrauensvolle und hoffungsvolle Erwartungen konsolidieren. Anders formuliert: Vertrauen und Hoffnung verleihen der Zustimmung durch ihren Stil des Erwartens jeweils eine besondere Prägung, aber beide Erwartungsstile setzen ja schon voraus, dass der zukünftige Zustand, auf deren Verwirklichung vertraut oder gehofft wird, als erstrebenswert befürwortet wird. Beide Fälle implizieren also, dass das in dieser Arbeit interessierende Problem, nämlich die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Reformideen, organisational bereits bearbeitet wurde bzw. (vorübergehend) gelöst ist.261 Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, nicht einfach an der Frage des „maintaining hope“ der Reformtheorie Brunssons zu haften und dann lediglich „Hoffnung“ im Unterschied zu „Vertrauen“ in dem dargelegten systemtheoretischen Verständnis als organisationssoziologisch zu beobachtendes Bezugsproblem zu definieren, sondern beide Unterscheidungsseiten zu erfassen und den Blick auf die Hoffnung und Vertrauen einschließende Bejahung von Reform zu 260
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Eine Zurechnung des eigenen Entscheidens auf sich selbst, die dann als Basis organisationalen Vertrauens fungieren kann, ist in Selbstbeobachtungen keineswegs selbstverständlich. Wie eine Studie chilenischer Unternehmen zeigt, betrachten viele dieser Organisationen ihre Entscheidungen als Handeln unter Bedingungen der Zuversicht. Siehe Rodríguez Mansilla 2007. Mit dieser Formulierung soll darauf hingewiesen werden, dass das Problem der Akzeptanzwahrscheinlichkeit von Reform als organisationale ‚Daueraufgabe‘ in der gesamten Reformperiode behandelt werden muss. Viele Probleme eines Systems können nicht oder zumindest nicht dauerhaft gelöst, sondern nur bearbeitet oder verschoben werden: Das Problem „Hunger“ und dessen Lösungsskript (Nahrungsaufnahme) treffen im Laufe des Lebens immer wieder neu aufeinander, aber das Problem verschwindet erst mit der Zerstörung des Organismus. Nur der Tod bringt eine dauerhafte Lösung.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
verlagern. Diesen Überlegungen vorgreifend, hatte ich bereits „Akzeptanz“ (bzw. genauer: „Akzeptanzwahrscheinlichkeit“) als das Bezugsproblem meiner Untersuchung vorgestellt. Für die Umstellung des reformbezogenen Bezugsproblems in dieser Arbeit sind insbesondere die folgenden Argumente entscheidend: Das in der Reformtheorie von Nils Brunsson gewählte Problem der Stabilisierung des Hoffens auf Reformerfolg setzt voraus, dass das tiefer liegende Problem der (unwahrscheinlichen) Akzeptanz von Reform bereits bearbeitet worden ist. Bei einer theoretischen Konzentration auf das „maintaining hope“ kann jedoch leicht übersehen werden, dass Reformen nicht als immer schon akzeptierte Reformen in Erscheinung treten. Vielmehr ist bereits die Annahme von Reformvorschlägen als ein höchst voraussetzungsvoller Vorgang zu verstehen. Hinsichtlich der Frage nach den Akzeptanzbedingungen von Reformideen würde das wissenschaftliche Beobachten mit dem Problem „Hoffnungsstabilisierung“ also zu spät ansetzen. Die Erzeugung von Akzeptanz erscheint im Kontext von Reform nur dann unproblematisch zu sein, wenn in der Kommunikation allgemein auf das Schema „Reform“ Bezug genommen wird. Denn das Reformschema stellt ja erst einmal ganz unspezifisch eine irgendwie in Zukunft zu erreichende Verbesserung in Aussicht, ohne dass dabei schon konkrete Reformziele benannt würden. Während spezifische Ziele (wie auch die besonderen Verfahren und Mängeldarstellungen) einer Reform schnell Widerspruch hervorrufen können, lässt sich eine durch das Reformschema angedeutete Verbesserung kaum ablehnen, weil (noch) nicht bekannt ist, wie der bessere Zustand aussehen und verwirklicht werden soll. Das Schema „Reform“ kann daher kommunikativ als ein Wert behandelt werden, dessen gesellschaftliche Akzeptanz im Normalfall nicht in Zweifel gezogen wird. Nach meinem Verständnis thematisiert Nils Brunsson im theoretischen Programm seiner Reformforschung vor allem das Schema „Reform“,262 und dieser theoretische Fokus lässt es verständlich werden, dass Brunsson nicht die kommunikative Herstellung von Akzeptanz als das soziologisch interessierende Problem von Reform wählt, sondern die Stabilisierung und Normalisierung eines kulturell verankerten Glaubens an Reformerfolge. Die Frage nach der Persistenz des Reformschemas wird in Brunssons Theorie dann auch mit einer klassisch neo-institutionalistischen Argumentationsfigur beantwortet, nämlich mit der gesellschaftlichen Dominanz einer Kultur der Hoffnung und der Rationalität (Brunsson 2006, 11ff.; 224ff.). Nun trägt dieses ‚kulturelle Fundament‘ vielleicht eine reibungslose Akzeptanz des allgemeinen Schemas „Reform“, es verhindert 262
Demgegenüber werden in den von Brunsson durchgeführten Fallstudien verschiedene Reformpakete und Reformdiskurse untersucht. Bezüge auf Respezifikationen einer Reform werden dabei oft durch die Ausdrücke „goals“ oder „content“ markiert. Siehe Brunsson 1993a; 1993b.
3.1 Die Umstellung des Bezugsproblems
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aber nicht, dass über spezifische Zumutungen von Reformdiskursen und Reformpaketen gestritten wird und es besonderer Vorkehrungen bedarf, damit die Annahme dieser Zumutungen wahrscheinlich wird. Die hier angedeuteten Zusammenhänge zwischen verschiedenen Stufen generalisierender bzw. spezifizierender Verweise auf Reform und den Akzeptanzchancen von Reform lassen es im Hinblick auf die in dieser Arbeit durchzuführenden Analysen notwendig erscheinen, das soziologische Beobachten von Reform mit weiteren Unterscheidungsmöglichkeiten auszustatten. Im Folgenden möchte ich daher einige zusätzliche Differenzierungen vorschlagen, die als Kombinationen der Unterscheidung „Reform“ mit Unterscheidungen entlang der Differenz von „Generalisierung“ und „Spezifizierung“ konstruiert werden. Bislang wurde in diesem Text bereits zwischen dem allgemeinen Schema „Reform“ und spezifischen Reformmodellen (Reformdiskursen), den Reformen individueller Organisationen und Spezifizierungen einer Reform (z. B. in Form von Talk, Reformzwecken, Mängelbeschreibungen usf.) unterschieden. Diese Differenzierungen möchte ich im Folgenden kurz systematisieren: Auf der höchsten Stufe der Generalisierung ist das Schema „Reform“ angesiedelt. Das Reformschema wird auf der nächsten Stufe von Reformdiskursen spezifiziert, und zwar, wie oben näher ausgeführt, relativ unabhängig von individualisierten oder kategorisierten Organisationen. Sowohl das Reformschema als auch bestimmte Reformdiskurse können durch Reformpakete – also durch identifizierbare reformierende Organisationen – weiter spezifiziert werden. Des Weiteren lässt sich wiederum Reform als ein gegenüber weiteren Spezifikationen generalisiertes Paket verstehen. Es geht bei Reformpaketen also einerseits um die Beobachtung von Reform als einer gegenüber Diskursen organisational spezifizierten Einheit. Andererseits erscheinen Reformpakete im Verhältnis zu ihren eigenen Respezifikationen als generalisierte Einheit. „Reform“ soll in diesem Zusammenhang also als ein kompaktes, in sich komplexes Sinnpaket verstanden und von den spezifischeren Vorschlägen abgegrenzt werden, die das Reformpaket ‚enthält‘. Paket und Inhalt (Respezifikationen) kommen dabei ohne einander nicht aus, sie können nicht getrennt werden, lassen sich, wie hier gerade vollzogen wird, jedoch unterscheiden: Die Spezifikationen einer Reform verweisen auf ein bestimmtes Reformpaket. Und in umgekehrter Perspektive bezieht sich die Reform als kompakte Sinneinheit unspezifisch und stellvertretend auf eine Vielfalt von Sinnangeboten, die organisational zu spezifizieren sind. Für die Frage nach den Akzeptanzbedingungen erscheint die skizzierte Unterscheidung von Generalisierungen und Spezifizierungen einer Reform von besonderer Bedeutung: Eine Reform kann in ihrer unspezifischen Paketform als eine spezifischere Strukturänderungen bezeichnende Einheit akzeptiert werden,
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
ohne dass eine Organisation sich damit bereits festlegen würde, welche Sinnangebote, die in dem Paket enthalten sind, in Zukunft akzeptiert oder abgelehnt werden. Denn in der Organisationskommunikation genügt es für ein Akzeptieren des Reformpakets, wenn einfach die Reform mit einem Namen benannt wird, damit einige Ideen für Strukturänderungen symbolisiert werden und auf eine annehmende Entscheidung verwiesen wird, etwa indem es heißt: ‚Wir führen jetzt „lean management“ ein!‘. Damit kann (vorerst) offenbleiben, welche spezifischeren Vorschläge des Sinnpakets „lean management“ im Hinblick auf Entscheidungsprämissen organisational akzeptiert oder verneint werden. Die Beobachtung der Akzeptanz des Reformpakets „lean management“ verrät also noch nicht, an welche Reformvorschläge des Pakets organisational angeschlossen, also mit welchen Differenzierungen diese Kompaktheit aufgelöst wird: So kann beispielsweise trotz Bejahung der Einheit „lean management“ organisational zunächst in der Schwebe bleiben, ob im Rahmen einer Respezifizierung dieses Organisationsmodells eine Dezentralisierung, eine Förderung der Teamarbeit oder eine Produktqualitätsverbesserung als Ziele des „lean management“ bejaht oder verneint werden. Bei einer abstrakten Betrachtung dieses Geschehens mag man vielleicht von einer Außenseite und einer Innenseite des Reformpakets sprechen und dann vermuten, dass die Außenseite und die Innenseite eines Reformpakets im Verlauf der Zeit von einer Organisation ganz unterschiedlich behandelt werden können. So etwa, wenn die wenigen ‚Labels‘ auf der Außenseite des Reformpakets dauerhaft akzeptiert und konstant gehalten werden, zugleich aber die Reformrespezifikationen auf der Innenseite des Pakets starken Veränderungen unterliegen, also abgelehnt, vergessen, erneuert, modifiziert oder weiter spezifiziert werden. Mit der Differenzierung von Reformpaket und Reformrespezifikation werden lediglich Bestimmtheitsgrade von miteinander verknüpften Sinneinheiten unterschieden. Hier wird nicht im Sinne der Unterscheidung von Semantik und Sozialstruktur differenziert, da auch die im Vergleich zum Reformpaket spezifischeren Inhalte – beispielsweise „Kundenorientierung“ als ‚Teilprinzip‘ des „lean management“ – von einer reformierenden Organisation als Semantik behandelt werden können. Dabei ist auch zu beachten, dass der Spezifikationsgrad auf der Linie von unbestimmt zu bestimmt nicht durch die jeweils genutzten Semantiken für Paket und für Reforminhalte bedingt ist, sondern allein durch die Selektion der Konstellation von Paket und Spezifikation, also durch Festlegungen, was Reform und was Reforminhalt sein soll und welche Semantiken hierfür benutzt werden sollen. Es kommt für die Disposition von Spezifikationen nur darauf an, wie Semantiken untereinander in Beziehung gesetzt werden. Auf das Beispiel „lean management“ bezogen, ist damit gesagt: Ausdrücke wie „Dezent-
3.1 Die Umstellung des Bezugsproblems
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ralisierung“, „Teamarbeit“ oder „Kundenorientierung“, die zunächst einmal für sich selbst unspezifisch sind, können im Kontext des Konzepts „lean management“ als Spezifikationen dieses Konzepts fungieren. Es bleibt festzuhalten, dass das soziologische Verständnis verschiedener kommunikativer Verweise auf Reform mit zusätzlichen Beobachtungsmöglichkeiten ausgestattet werden kann, indem die Unterscheidung „Reform“ mit weiteren (begrifflichen) Unterscheidungen entlang der Differenz von Generalisierung und Spezifizierung kombiniert wird. Neben den Unterscheidungen „Paket“ und „Inhalt“ („Respezifikationen“) kann man für solche Rekombinationen die Begriffe „Schema“ und „Diskurs“ einsetzen, so dass zwischen Reformschema, Reformdiskurs und Reform sowie zwischen Reformpaket (im Sinne einer kompakten oder auch verpackten Einheit) und den Respezifikationen des Pakets unterschieden werden kann.263 Auf der höchsten Stufe der Generalisierung lässt sich das Schema „Reform“ beobachten. Die gegenüber dem Reformschema spezifischeren Reformdiskurse können als organisational unspezifische Thematisierungen des Reformierens von bestimmten Reformen einzelner Organisationen unterschieden werden, die sich ihrerseits als Paket und Paketrespezifikationen differenzieren lassen. Würde man soziologisch auf ein solches Unterscheiden verzichten, hätte man etwa im Fall der Proliferation eines Reformdispositivs das Problem, dass nur gesehen werden kann, dass alle durch einen Diskurs instruierten Organisationen die gleiche Reform durchführen, dies jedoch auf irgendwie unterschiedliche Weise und mit irgendwie unterschiedlichen Resultaten geschieht. Nutzt man im wissenschaftlichen Beobachten von Referenzen auf Reform hingegen die Unterscheidungen von Reformdiskurs, Reformpaket und Reformrespezifikation wird hier erkennbar: Reformierende Organisationen können sich auf die gleichen Reformdiskurse beziehen, erstellen aber durch jeweils eigenes Entscheiden unterschiedliche eigene Versionen des Reformierens, das heißt, sie schließen an die transferierten Sinnangebote eines Diskurses durch Paketkonstruktionen und Respezifikationen evolutionär in singulärer Weise an. In dieser Perspektive gibt es keine ‚gleichen Reformen‘, sondern nur ähnliche, für sich jedoch vollkommen einzigartige Reformen.
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Interessiert man sich speziell für das organisationale ‚Auspacken‘ des Reformpakets und das Anschließen an die im Paket ‚entdeckten‘ Reformideen, so kommen für eine systemtheoretische Beschreibung etablierte Begriffe wie „Auflösen“, „Rekombinieren“ oder „Dekomposition“ in Betracht.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
3.2 Bedingungen statt Mechanismen: Zur funktionalistischen Rekonstruktion einer Forschungsfrage Verfolgt man (wie es hier geschieht) in einem systemtheoretischen Rahmen ähnliche Erkenntnisinteressen wie die neo-institutionalistische Reformsoziologie, so betreffen die für einen systemtheoretischen Ansatz notwendigen Umstellungen und Reformulierungen auch die Rede von „mechanisms“, die die Normalisierung des Hoffens auf Reform ‚erklären‘ sollen. Der von Brunsson genutzte Mechanismus-Begriff verweist auf ein Gesetzmäßigkeiten beschreibendes, an Kausaltheorie orientiertes Erkennen, auch wenn dieser Begriff gemäß Brunsson als abgeschwächte Version eines Interesses an den Ursachen für das Auftreten von Reformhoffnungen verstanden werden soll: Anstelle einer Beobachtung der Entstehung von Reformhoffnung soll es um die Mittel der Hoffnungsstabilisierung gehen, nämlich um „tools for maintaining hope“ (Brunsson 2006, 53, 55, 222). Zwar bezweifelt Brunsson bei der Diskussion seiner Untersuchungsergebnisse die von ihm als Ausgangsposition entworfene Kausalkonstellation und beschreibt eine mögliche Umkehrung von Ursachen („tools“) und Wirkungen („hope“), in der dann „hope“ die ‚Hoffnungswerkzeuge‘ bewirkt (Brunsson 2006, 221f.). Doch trotz dieser Kontingenzbeobachtung von Ursachen und Wirkungen stellt Brunsson das kausale Beobachtungsschema nicht in Frage und bleibt dem Mechanismus-Begriff verhaftet. Die neuere systemtheoretische Forschung betrachtet ein wissenschaftliches Beobachten, das als Ausgangsunterscheidung das Kausalschema nutzt, als unterkomplex (Luhmann 1973, 194ff.; Schützeichel 2003, 253f.; Besio/Pronzini 1999, 394): Zum einen konstruiert die Kausaltheorie die Beziehungen von spezifischen Ursachen und spezifischen Wirkungen als invariant und begrenzt den eigenen Erkenntnishorizont auf einen kleinen Ausschnitt von möglichen Relationierungen. Daher kann die Kausaltheorie das Problem nicht lösen, für die sachliche und zeitliche Unendlichkeit der beobachtbaren Ursachen- und Wirkungsketten und der Konstellationen des kreuz und quer Zusammenwirkens eine bestimmte Begrenzung zu finden. Zum anderen sind, wie oben mit Verweis auf „Nichttrivialität“ ausführlich dargestellt (siehe Abschnitt 2.4.1), Kausalmodelle ungeeignet, um soziale Systeme zutreffend zu beschreiben. Ein weiteres Problem eines am Kausalitätsschema orientierten wissenschaftlichen Beobachtens ist schließlich darin zu sehen, dass Kausaltheorien keine Gleichzeitigkeit beschreiben können, da Kausalität immer Zeit benötigt, also Ursachen immer vor ihren späteren Wirkungen auftreten müssen. Die moderne soziologische Systemtheorie hat sich daher epistemologisch dagegen entschieden, ihre Beobachtungen mit Hilfe der Leitunterscheidung von Ursache und Wirkung zu organisieren. Sie interessiert sich für den Vergleich des
3.2 Bedingungen statt Mechanismen
181
Ungleichen und nimmt hierfür die Methode der äquivalenzfunktionalen Analyse in ihren Dienst.264 Diese funktional vergleichende Methode operiert anhand der Leitunterscheidung von Problem und Problemlösung: Der Sachverhalt, den ein wissenschaftlicher Beobachter beobachtet, wird als eine Lösung verstanden. Dies erfordert die (theoretisch geleitete) Markierung eines Problems, das den beobachteten Sachverhalt als Lösung erscheinen lässt (Luhmann 1990e, 421, 424). Die so konstruierte Beziehung von Problem und Problemlösung wird als Funktion verstanden, die dann der Methode als konstanter Vergleichsgesichtspunkt dient.265 Der funktionale Vergleich setzt voraus, dass einerseits der als Lösung beobachtete Sachverhalt als kontingent betrachtet wird, nämlich als Selektion aus einer Mehrheit anderer Lösungsmöglichkeiten, während andererseits die Gemeinsamkeit der Lösungen in ihrem Problembezug, also in ihrer Funktion, gesehen wird. Die Beobachtung von Kontingenz unter der Bedingung funktionaler Äquivalenz fordert dann den wissenschaftlichen Beobachter dazu auf, (möglichst) ungleiche Lösungsmöglichkeiten des Problems zu identifizieren und miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise wird nicht nur sichtbar, wie eine ausgewählte Möglichkeit zur Lösung eines Problems beiträgt, sondern auch, dass die ausgewählte Lösungsmöglichkeit dies auf andere Weise als andere Lösungen betreibt, so dass insgesamt eine komplexe wissenschaftliche Beschreibung entsteht, die hinsichtlich des fokussierten Problems eine Vielfalt der Lösungen aufzeigen kann. Die funktionale Methode erlaubt es, sämtliche Differenzierungsschemata von Problem und Problemlösung zu untersuchen, und sie kann daher auch das Schema „Kausalität“ als einen besonders wichtigen Fall erfassen. Ein wissenschaftlicher Beobachter kann beobachten, wie andere Beobachter Kausalannah264
265
Siehe dazu ausführlich Luhmann 1962a; 1977, 9f., 1984, 83ff.; 1990e, 419ff.; 1995e, 222). In der Systemtheorie wird der Äquivalenzfunktionalismus Luhmannscher Prägung neuerdings problematisiert: So wird vorgeschlagen, die klassischen Funktionsvorstellungen aufzugeben und – als Teil einer Neuausrichtung des Verhältnisses von Evolutions- und Systemtheorie – an die neuere evolutionär-ätiologische Schule des Funktionalismus anzuknüpfen, vgl. Wortmann 2007. In einer evolutionstheoretischen Rekonstruktion funktionaler Analysen fällt auf, dass diese sich nicht für genetisch orientierte Fragestellungen interessieren, sondern für die Persistenz einer Problemlösung: „Ursachen sind flüchtig und austauschbar, während Persistenz der auffällige und erklärungsbedürftige Sachverhalt ist“ (Stichweh 2002, 14). Für eine Funktionszuschreibung kommen daher nur Strukturen in Betracht. Demgegenüber können Ereignisse mangels Dauerhaftigkeit keine Funktionen aufweisen. Die Dauerhaftigkeit der zu analysierenden Struktur erklärt sich nun aus denjenigen Folgen dieser Struktur, die ihrerseits eine Dauerhaftigkeit (Struktur) besitzen, also Folgen sind, die nicht nur einmal, sondern fortdauernd auftreten: „Dieser Zusammenhang zwischen der Persistenz einer Entität und der Persistenz ihrer Folgen ist das, was wir als ihre Funktion beschreiben“ (Stichweh 2002, 15). Die Funktionalität einer Struktur wäre demnach in der wiederholten Produktion bestimmter, ihr zugeschriebener Folgen zu sehen und diese Funktionalität wiederum als Bedingung für die Persistenz dieser Struktur zu betrachten.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
men anfertigen, und diese dann im Hinblick auf ihre funktionale Äquivalenz untersuchen. Funktionale Analysen schließen also die Beschreibung von (rein hypothetisch unterstellten) Kausalbeziehungen nicht aus. Ein Vergleich hypothetischer Kausalitäten ist aber nur ein denkbarer Fall einer Spezifizierung der Relation von Problem und Problemlösungen. Beispielsweise verlangt das bekannte „Vier-Farben-Problem“ eine Lösung der Mathematik – und nicht die Beobachtung von Kausalität. Die Systemtheorie fordert im Hinblick auf ergiebige Forschungsergebnisse nur, dass spezifiziert wird, also in irgendeiner wissenschaftlichen Weise eine Präzisierung der Zusammenhänge zwischen Zusammenhängen erfolgt (Luhmann 1990e, 396, 426; 1984, 84f.). Mit funktionalen Analysen kann man immer der Frage nachgehen: Wie kam es ausgerechnet zu dieser Lösung und nicht zu einer anderen? Die Systemtheorie versucht hier Antworten zu erzeugen, indem sie Konditionierungen beschreibt. Mit den Begriffen „Konditionierung“ und „Bedingung“ sind in der Systemtheorie Zusammenhänge zwischen Zusammenhängen gemeint, die im Sinne einer Vorkehrung oder einer Voraussetzung regulieren, dass eine Operation (eine Zustandsänderung) dadurch möglich wird, dass andere Möglichkeiten in einem Zusammenhang aktualisiert werden (Ashby 1962, 255ff.). Konditionierungen sind daher als „Bedingungen der Möglichkeit“ zu beobachten.266 Wird ein System beobachtet, so können auch immer Konditionierungen beobachtet werden. Denn es ist – ohne Entrinnen – zu beobachten: Jenseits von Anfang und Ende des Operierens ist jede Operation eines Systems immer schon eine konditionierte Operation, weil die Operation sonst nicht möglich wäre. Die Konditionierungen eines Systems kann man daher auch als seine „Ausrüstung“ verstehen (Luhmann 1990a, 12f.). Wenn die Konditionierung erfolgreich ist und die konditionierte Möglichkeit entsteht, dann beschränkt diese Auswahl bestimmter Zusammenhänge zwischen Zusammenhängen unter Ausschluss anderer Möglichkeiten den Spielraum für weitere Selektionen: Die Bedingungen erzeugen, obwohl sie kontingent gewählt werden, eine Nichtbeliebigkeit in Bezug auf das, was möglich wird. Denn retrospektiv hätte das, was ermöglicht wurde, nicht stattgefunden, wenn die Bedingungen entfallen wären. Konditionierungen können ihrerseits variabel konditioniert und mit fixierten Präferenzen versehen werden. Damit werden Kriterien festgelegt, die es einem Beobachter ermöglichen zu unterscheiden, ob die Bedingungen für eine Operation, die stattfinden soll, vorliegen oder nicht. Konditionierungen können also als Programme eine Steuerungsfunktion erfüllen, da sie Beschränkungen und Gele-
266
So Luhmann 1984, 44f.; 1990e, 404f.; 1997a, 230f.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
183
genheiten für weitere Operationen kombinieren (Luhmann 1990e, 404; 1997a, 363, 377, 811). Wenn also im Folgenden unter anderem einige der in der neoinstitutionalistischen Reformforschung beschriebenen ‚Mechanismen‘ näher beleuchtet werden, so geht es immer um das Erkennen von „Konditionierungen“ in dem soeben genannten Sinne, also um Antworten auf die in dieser Untersuchung gewählte Forschungsfrage: Wie lassen sich die Organisationsstrukturen beschreiben, die das Problem der Unwahrscheinlichkeit der organisationalen Akzeptanz von Reform bearbeiten? Zur Erzeugung von Antworten werde ich im Anschluss an den oben skizzierten Forschungsstand zunächst einige Hypothesen zu den Bedingungen der Möglichkeit von Reformakzeptanz formulieren. Als zuspitzende Verdichtungen theoretischer Aussagen sollen diese Hypothesen dann im weiteren Programm dieser Arbeit dabei helfen, methodische Beobachtungen anzuleiten und die Verknüpfung von theoretischen und methodischen Beschreibungen zu regulieren. Die Orientierung methodischen Beobachtens an vorher formulierten Hypothesen soll allerdings im Anschluss an ein zirkuläres Forschungsverständnis dabei jederzeit der Revision ausgesetzt sein, so dass Hypothesen im methodischen Beobachten bestätigt, verworfen oder verändert bzw. neue Hypothesen generiert werden können. Zur Formulierung von Hypothesen werden zum Teil einige Aussagen der neo-institutionalistischen Reformforschung, die der soziologischen Systemtheorie der Bielefelder Schule begrifflich fremd sind, mit systemtheoretischen Begriffen neu gefasst. Im Anschluss an das in dieser Arbeit bereits entfaltete abstraktere Theoriegerüst zu den Themen „Organisationswandel“ und „Akzeptanz“ sollen außerdem solche Annahmen generiert werden, die – über die Aussagen der insbesondere von Nils Brunsson geprägten neo-institutionalistischen Reformsoziologie hinausgehend – weitere Möglichkeiten beschreiben, wie die Wahrscheinlichkeit von Reformakzeptanz organisatorisch verbessert wird. 3.3 Eine Auswahl von Hypothesen Sobald eine Organisation sich selbst durch Reform in Frage stellt und Ideen für eine zukünftig neue Organisation präsentiert, können zwei Versionen der Organisation angefertigt werden, die sich anhand von Zeiten und Präferenzen unterscheiden lassen: Zum einen wird die Organisation in ihrem aktuellen Ist-Zustand als defizitär beschrieben, zum anderen in ihrem erwünschten zukünftigen Soll-
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
Zustand. Die beiden Zustandsbeschreibungen werden in der Reformkommunikation miteinander konfrontiert mit der Folge, dass die beobachtete Abweichung des Ist-Zustands vom Soll-Zustand bezüglich aktueller Organisationsstrukturen die Frage aufwirft: Ändern oder nicht ändern? Sofern das vom Reformvorschlag Gesollte akzeptiert wird, kann dies einen strukturellen Wandel in Gang setzen. Das Nein zum Ist-Zustand ist hierfür in Kombination mit dem Ja zu dem durch Reform umrissenen Soll-Zustand der evolutionäre Ausgangspunkt. Die von einer Reform dargebotene Gegenüberstellung von Ist- und Soll-Zuständen einer Organisation, das Aufzeigen von Mängeln und Verbesserungen, kann man wiederum in die Schemata von Problem/Problemlösung oder Frage/Antwort umformen. Für eine Organisation, die sich durch Reformkommunikation problematisiert und deren Verbesserungsvorschläge bejaht, heißt das: Reformen sind die Antwort; Reformen sind die Lösung. Die klassische Reform- und Implementationsforschung der letzten Jahrzehnte hat nun, wie bereits mehrfach erwähnt, in sättigendem Umfang gezeigt, dass nur wenige Reformen ihren eigenen Ansprüchen im Laufe einer Reformperiode gerecht werden können. Wenn die zu Beginn einer Reform formulierten Ziele mit den Ergebnissen am Ende der Reform verglichen werden, dann wird zumeist schnell sichtbar, dass Reformen nicht die von ihnen angekündigten Verbesserungen bewirken bzw. nur zu minimalen Veränderungen führen, so dass sie nach den Maßstäben ihrer ursprünglichen Absichten scheitern.267 In einer evaluierenden instrumentellen Perspektive sind Reformen also untaugliche Mittel, denn sie können die von ihnen spezifizierten Probleme einer Organisation oft nicht lösen – es sei denn, man beobachtet statt Reformversagen ein Scheitern von Organisationen oder Personen. Vor diesem Hintergrund muss es extrem unwahrscheinlich erscheinen, dass der Vorschlag eines Sinnpakets „Reform“ überhaupt Akzeptanz in einer instrumentell-rational orientierten Organisation findet. Offensichtlich ist das wissenschaftlich beobachtete Problem der ungenügenden Problemlösungsfähigkeit von Reform aber von den beobachteten Systemen hervorragend gelöst worden, denn sonst gäbe es nicht immer wieder Reformen, und zwar unabhängig davon, ob sie nun als ‚neue‘ oder ‚wiederholte‘ (also im etymologischen Wortsinn ‚reformierte‘) Reformen beobachtet werden. Einige dieser Lösungen, die sich als Voraussetzungen der Reformakzeptanz vermuten lassen, haben sich bereits so stark etabliert, dass sie fast gar nicht mehr auffallen: Es scheint selbstverständlich zu sein, das Reformen nicht ‚auf Knopfdruck‘ von 267
Die negativen Urteile solcher Vorher-nachher-Vergleiche entstehen also auch dadurch, dass die zu Beginn einer Reformperiode beschriebenen Reformziele in der evaluierenden Fremdbeobachtung als konstante Bewertungsmaßstäbe konstruiert werden. Damit wird allerdings außer Betracht gelassen, dass sich die Reformziele und die Erfolgsmaßstäbe der reformierenden Organisation normalerweise im Verlauf der Zeit verändern.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
185
heute auf morgen umgesetzt werden, denn dafür ist der von ihnen entworfene Organisationswandel zu ambitioniert und zu umfangreich. Würde tatsächlich einmal versucht werden, eine Reform innerhalb sehr kurzer Zeit umzusetzen und zu evaluieren, wäre es in einer Betrachtung nach instrumentell-rationalen Kriterien, trotz aller Mehrdeutigkeiten der Reformvorschläge, sehr leicht, die Unangepasstheit von Reformideen zu erkennen. Ebenso hat man sich daran gewöhnt, dass diejenigen, die sich eine Reform ausdenken, nicht diejenigen sind, die die Reform umsetzen. Auch dies erscheint als Sperre für die Verbreitung der Erkenntnis, dass Reformen sich in einer Kosten-Nutzen-Abwägung für die Organisation zumeist nachteilig auswirken. Außerdem wundert man sich kaum noch über die weltweite Diffusion von Reformmodellen, die in den Hochzeiten einer Reformwelle dazu führt, dass tausende Organisationen nach dem gleichen Muster sehr ähnliche Veränderungen ihrer Strukturen veranlassen. Haben all diese Organisationen die gleichen Probleme, und bietet das Reformmodell eine Lösung für alle Organisationen? Hier scheint es vor allem um Moden des Organisierens zu gehen, die primär die repräsentative Außendarstellung einer Organisation verändert und, wie im Fall erfolgreicher vestimentärer Kommunikation, die eigenen Akzeptanzchancen verbessert: ‚Kleider machen Leute‘ bedeutet in diesem Fall, dass die Organisation sich schick macht, indem sie sich ein Reformmäntelchen anzieht, das der neuesten Organisationsmode entspricht. Mit diesen Überlegungen sind bereits einige Bedingungen der Möglichkeit angedeutet, die Wahrscheinlichkeit von Reformakzeptanz zu verbessern. Im Folgenden werde ich nun im Anschluss an den oben ausführlich beschriebenen Forschungsstand und weiteren, noch darzustellenden theoretischen Überlegungen mehrere Hypothesen zu den Bedingungen der Akzeptanz von Reform formulieren, die mit methodischen Beobachtungen verbunden werden sollen. 3.3.1 Die Einschränkung eines Reformpakets auf ‚Machbares‘ Reformen können dann in Gang gesetzt werden, wenn die von ihnen beschriebenen Probleme der Organisation und die vorgeschlagenen Problemlösungen akzeptiert werden. Die hierfür erforderliche Beobachtung eines Auseinanderklaffens von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ der Organisation wird etabliert, indem Reformvorschläge auf eine Beseitigung eigener Mängel (z. B. Schlecht- oder Noch-nichtAngepasstheit an Umweltveränderungen, Ineffizienzen, unzumutbare Arbeitsverhältnisse) oder auf das Erreichen gewünschter Idealzustände abzielen (Luhmann 2000b, 336). Im Fall der beabsichtigten Anpassung an instrumentellrationale Idealvorstellungen kann es dann auch solchen Organisationen, die nach eigener und/oder fremder Einschätzung erfolgreich sind, leicht fallen, sich selbst
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
als defizitär zu beobachten und einen Reformbedarf zu plausibilisieren, getreu der Devise ‚Nichts ist so gut, als dass es nicht noch verbessert werden könnte!‘. Da Organisationen durch ihre Verknüpfung von Entscheidungen ständig ihre eigenen Probleme lösen, bearbeiten oder verschieben, müssen die Probleme und Lösungen, die von Reform vorgeschlagen werden, die vorhandenen Probleme und/oder Lösungen übertreffen können. Idealmodelle des Organisierens als Ziel einer Reform erscheinen hierbei besonders hilfreich zu sein. Die durch Reform angestrebte Realisierung von instrumentell-rationalen Idealvorstellungen gehört zu den zahlreichen praktisch unlösbaren Problemen (Brunsson 1993b, 35), mit denen sich Organisationen auf Basis der (instrumentell-rationalen) Überschätzung ihrer Selbststeuerungsmöglichkeiten immer wieder auseinandersetzen und selbst überfordern. Die Ambitioniertheit der Reformzielsetzung, nämlich Organisationsträume zu verwirklichen, in jedem Fall zumindest aber die Gesamtorganisation verbessern zu wollen, lässt es dann umso verständlicher werden, dass die von Reformen beabsichtigten Strukturänderungen radikal und umfassend sein müssen und nur als umfangreiche Paketlösung Erfolg versprechen. Dabei ist es vorteilhaft, wenn die von einer Reform vermittelten Lösungen neuartig erscheinen, sei es durch neue Etikettierung oder Vergessen alter Reformvorschläge. „Neuheit“ erfährt nicht nur als solche besondere Wertschätzung (Luhmann 1997a, 1000ff.); die Verheißungen von Reformideen, die als neu anerkannt werden, sind auch besonders schwer zu widerlegen, da ihr Test noch aussteht: Die von ihnen angekündigten Folgen liegen in der Zukunft und können nicht durch Erfahrungen bestritten werden. Allerdings muss der Zielzustand der Reform nicht unbedingt neu sein, es genügt, wenn der von ihr aufgezeigte Lösungsweg als neue Antwort auf alte Fragen akzeptiert werden kann. Alternativ zur Behauptung der Neuheit des Reformanliegens ist aber auch ein Wiederaufgreifen alter Reformideen in neuen Zeiten denkbar: Nach Art einer „garbage can“ (Cohen/March/Olsen 1972) können sich Organisationen bei günstigen Gelegenheiten an alte Reformen erinnern und diese angesichts neuer Probleme oder ‚veränderter Rahmenbedingungen‘ als Problemlösung einsetzen (‚Die Zeit ist nun reif…‘).268 Die Darstellung von Organisationsdefiziten und Reformvorschlägen im Schema von Problem/Problemlösung stützt sich zur Akzeptanzbeschaffung sowohl auf Prinzipien, Normen, Werte und Bewertungen wie auch auf Tatsachenbehauptungen und Zustandsbeschreibungen, die als konsenssicher vermutet werden (Luhmann 2000b, 339). Werturteile und Faktenfeststellungen der Reform werden in der Zeit so arrangiert, dass einer mangelhaften Vergangenheit eine erstrebenswerte Zukunft entgegengesetzt wird. Die Reform platziert sich 268
Siehe dazu im Kontext verzögerter Effekte von Reformanliegen die Überlegungen von Japp 2004, 70.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
187
dann in der organisationalen Gegenwart als Motor des Besserwerdens und legt dar, was wofür zu tun ist, bringt also ihr Anliegen in das Schema von Zwecken und Mitteln. Die anzustrebenden Reformzwecke werden zwar durch Beschreibungen von Idealvorstellungen und Bezugnahmen auf Werte ausgeschmückt, bleiben aber der Ebene des Allgemeinen und Prinzipiellen verhaftet, so dass die Organisationszukunft in den Beschreibungen von Reform eher diffus und unbestimmt bleibt. Die Reform präsentiert sich „in erster Linie als Mittel und als Verfahren“ (Luhmann 2000b, 339). Im Hinblick auf die Akzeptanz von Reform stellt sich somit die Frage, wie Organisationen sich davon überzeugen, dass Reformen taugliche Mittel zur Verwirklichung der von ihnen propagierten Ziele sind. Diese Fragestellung setzt die Annahme voraus, dass – trotz des Ausbeutens der Mehrdeutigkeiten von Reformideen und ihren Implementationen (Yanow 1993; Japp 2004) – in jedem Fall einer reformierenden Organisation solche Beobachter auftreten, die die Reform anhand eines zielorientierten, instrumentell-rationalen Schemas beobachten. Wie bereits oben ausführlicher dargestellt, beinhalten Reformen als im Paket dargebotene Lösungsvorschläge mehrere Spezifizierungen des Zweck/MittelSchemas, die in der anschließenden Kommunikation der Zustimmung oder Ablehnung ausgesetzt werden. Es werden also nicht nur die in der Reformkommunikation dargestellten Probleme und Problemlösungen, die behaupteten Fakten, die Zielsetzungen und die damit verbundenen Verweise auf Werte einfach jeweils für sich isoliert von der Organisation bejaht oder verneint. Eine kausale Relationierung von Reformzwecken und Reformmitteln, wie grob, versteckt und skizzenhaft auch immer dargestellt, ist stets eine Mindestanforderung an das Sinnpaket „Reform“. Die Plausibilität der durch Reform offerierten Kausalannahmen wird organisational zumindest ex ante „weichen“ Kausaltests269 unterzogen: In der vorlaufenden Betrachtung einer Reformperiode erfolgt dieser Test in Form von Machbarkeitsüberlegungen. Dabei wird das offerierte Reformpaket ‚aufgeschnürt‘ und die darin enthaltenen Vorschläge ‚ausgepackt‘, und bei dieser Dekomposition des Pakets werden die Reformvorschläge auch nach Kriterien der Steuerbarkeit bewertet. Tests der Kausalannahmen einer Reform werden von Organisationen also nicht unspezifisch vorgenommen, vielmehr werden die im Reformpaket im Hinblick auf Steuerung enthaltenen Annahmen differenziert betrachtet. Die Reform darf mit Blick auf ihre Akzeptanzchancen daher keine oder nur wenige Ideen in Aussicht stellen, die der Organisation utopisch und unerreichbar erscheinen. Die Reform muss im Hinblick auf den nötigen Ressourceneinsatz und die möglichen künftigen Verbesserungen auf ‚vernünftige‘ und angemessene 269
Zur Unterscheidung harter und weicher Kausalitätskommunikation siehe Dammann 1994, 163 und Sanderson 2002, 19.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
Weise Erfolge versprechen. Die (soziologisch vermuteten) Steuerungsillusionen vieler Reformvorschläge dürfen also nicht offen zu Tage treten. Ich hatte oben, im Abschnitt 2.4.2, bereits ausführlich dargestellt, dass Organisationen im Hinblick auf die Beschreibung und Programmierung ihrer Zukunft jeweils danach fragen können, mit welcher kausalen Beherrschbarkeit in Richtung vorgeschlagener Zustände organisational gesteuert werden kann. Die betrachteten zukünftigen Zustände können dann entsprechend der vermuteten Kausalbeziehungen und Erfolgschancen im Schema von Produkten, Nachfrage und Effekten sortiert werden. Es ist nun zu vermuten, dass auch Zukunftsbeschreibungen einer Reform auf diese Weise schematisiert werden und dass solche Ideen einer Reform, die in der Organisation als für Steuerungsversuche geeignet beobachtet werden, mit größerer Wahrscheinlichkeit in Entscheidungen über Entscheidungsprämissen verwandelt werden, als solche Erwartungen bezüglich der Organisationszukunft, deren Beherrschung sich die Organisation nicht zutraut. Verbindet man die Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten also mit der Frage nach den Akzeptanzchancen von Zukunftsbeschreibungen und -programmen einer Reform, so kann man annehmen, dass Zukunftsvorschläge, die sich auf Reformprodukte beziehen, in der Organisation wahrscheinlicher Zustimmung finden als solche, die Reformnachfrage oder Reformeffekte betreffen. Die hier implizierte Funktionszuschreibung der Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten verweist auf die Vermutung, dass ein Selektionsprozess im Anschluss an die Initiierung einer Reform einsetzt, der sich wie folgt skizzieren lässt: Man kann aufgrund der Eigenkomplexität von Reformvorschlägen vermuten, dass Reformen in der bejahenden Erstentscheidung einer Reformperiode zunächst als ein kaum differenziertes, generalisiertes Sinnpaket akzeptiert werden. Jedoch: „Die weitere Kommunikation muss nicht auf Annahme oder Ablehnung des Gesamtpakets konzentriert werden“ (Luhmann 2000b, 346). Denn wenn die einzelnen Ideen und Zumutungen des Reformpakets aufgeschlüsselt werden und in anschließenden Entscheidungen (vor allem im Bereich von Decision und Action) eine Neuinterpretation und Neubewertung in Bezug auf die ursprünglichen Ziele der Reform stattfindet, kommt es nach und nach zu einer Deformation des Reformpakets. Dabei können die respezifizierten Sinnzumutungen eines Reformpakets von Anfang an (und ab der ersten Zustimmung zu einzelnen Ideen immer wieder neu) Entscheidungen über Annahme oder Ablehnung provozieren, ohne dass das Paket insgesamt abgelehnt werden müsste. Für eine solchen Umgestaltung des ursprünglichen Reformpakets durch die Verteilung von Ja und Nein zu respezifizierten Reforminhalten kann die Organisation die Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten nutzen: Es
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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setzt dann eine Reduktion und Konzentration auf steuerbare Reformziele ein. Nach einer anfänglichen und umfassenden, aber in Bezug auf Entscheidungsprogramme diffusen und unterspezifizierten Akzeptanz des Reformpakets kommt es zu einer von Steuerungsvermutungen angeleiteten organisationalen Filtration des Pakets, in deren Verlauf die einzelnen im Paket enthaltenen Reformziele bejaht oder verneint werden. Im Fortgang dieses ‚Aussiebens‘ können dann die zunächst bejahten Ziele nach den Kriterien organisationaler ‚Machbarkeit‘ in folgenden Entscheidungen weiter zurechtgestutzt, gänzlich verneint oder auch im Sinne einer ‚Anreicherung‘ oder Umgestaltung des Reformpakets durch neue Ziele ergänzt oder ersetzt werden. Diese Variationen und Selektionen von Reformrespezifikationen führen zu einer fortgesetzten Akzeptanz des Reformpakets, die sich auch daran erkennen lässt, dass die als steuerbar unterstellten Reformziele im weiteren Reformverlauf als Entscheidungsprämissen fungieren. Die Stabilität der verschiedenen als Programme bejahten und als Prämissen genutzten Reformziele kann natürlich innerhalb der gesamten Reformperiode wiederum selbst periodenhaft sein, nämlich dann, wenn organisational eine Reformzielverwirklichung kontrolliert wird und sich dabei die anfängliche Unterstellung der Steuerbarkeit als falsch erweist. Anders formuliert: In der Evolution der reformierenden Organisation ‚überleben‘ vor allem diejenigen Ziele eines Reformpakets, die die Organisation im Rahmen ihrer Steuerungsvermutungen als beherrschbar unterstellt. Demgegenüber ist zu erwarten, dass die organisational als nichtsteuerbar beobachteten Reformziele von Variationen und Vergessen betroffen sein werden. Diese Disposition über Nein und Ja in Bezug auf die Sinnvorschläge einer Reform wird mit Hilfe des Schemas von Produkten, Nachfrage und Effekten konditioniert. Und dieses Selektionsschema hat zur Folge, dass primär solche Zukunftsvorschläge einer Reform als Entscheidungsprämissen genutzt werden, die als organisational beherrschbar unterstellt werden. Dadurch wird gesichert, dass eine Reform unspezifisch ‚insgesamt‘ akzeptiert werden kann, nämlich in einer gefilterten und ‚abgespeckten‘ Version, als ein nach Kriterien der Steuerbarkeit deformiertes Paket. Die dargestellten Beziehungen sollen nun als eine erste Hypothese zu den Bedingungen der Wahrscheinlichkeit von Reformakzeptanz wie folgt verdichtet werden: Hypothese 1:
Das Problem der organisationalen Akzeptanz von Reform wird dadurch bearbeitet, dass eine reformierende Organisation die Reformzwecke auf die von der Organisation als steuerbar vermuteten zukünftigen Zustände konzentriert.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
Wie notiert, setzt die Verknüpfung von Reformsteuerbarkeit und Reformakzeptanz eine zielorientierte, instrumentell-rationale Beobachtung der Reform in der Organisation voraus. Eine solche Beobachtungsweise und ein unter Akzeptanzaspekten damit einhergehender Bedarf für eine Konzentration auf steuerbare Ziele dürften selbst dann vorkommen, wenn es der reformierenden Organisation nur um Talk geht und sie gar nicht erst versucht, die Reformideen als Strukturerneuerungen über die Veränderung der Organisationsfassade hinaus in Planungsentscheidungen oder den Bereich der Alltagsentscheidungen vordringen zu lassen. Denn wenn die Reformfassade der Organisation öffentlich begründbar und extern akzeptabel sein soll, dann kommt es auch im Reformtalk darauf an, dass die Kausalannahmen der Reform plausibel erscheinen. Auf diese Weise können Vermutungen über Voraussetzungen für Reformakzeptanz, die der Umwelt zugeschrieben werden, zu systeminternen Voraussetzungen der Reformakzeptanz werden. 3.3.2 „Forgetfulness“ und „cherry picking“ Ein in der Soziologie organisierender Systeme besonders beachteter neoinstitutionalistischer Aussagezusammenhang zum Erfolg von Reform ist unter der Überschrift „organizational forgetfulness“ bekannt worden.270 Auf das Akzeptanzproblem hin formuliert, kann man die Kernaussage wie folgt wiedergeben: In Organisationen werden immer wieder neue Reformen auch deshalb akzeptiert, weil das (in einer instrumentell-rationalen Perspektive zu beobachtende) Scheitern von Reformen der Vergangenheit vergessen oder mangels Evaluation ein solches Reformscheitern nicht festgestellt wird. Das Vergessen früherer Misserfolge von Reformen wird der neo-institutionalistischen Reformtheorie zufolge durch folgende Umstände gefördert: Eine neue Reform verschiebt die Aufmerksamkeit der Organisation auf ihre Zukunft, während alte Reformen nicht weiter interessieren. Außerdem können häufige Personalwechsel es begünstigen, dass in einer Organisation vergangenes Reformscheitern nicht erinnert wird. Weiterhin wird „forgetfulness“ durch Sequenzen von Reformen und Gegenreformen erleichtert, die als wechselnde Organisationsmoden und/oder als Lösungen für die Probleme alter Reformen auftreten können, so z. B. in Form einer Abfolge von Reformen, deren Oberzwecke einseitig von Dezentralisierung auf Zentralisierung und dann wieder auf Dezentralisierung umschalten.271 Denn 270
271
Siehe dazu und im Folgenden Brunsson 1993b, 41f.; Brunsson/Olsen 1993b, 201; March/Olsen 1989, 88; Luhmann 2000b, 340f.; Japp 2004, 76. Selbst wenn man annimmt, dass gilt: „The efficient organization is both centralized and decentralized“ (Perrow 1977, 14), verhindert dies nicht unbedingt die beschriebene Abfolge ein-
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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in einer oszillierenden Abfolge mehrerer inhaltlich einseitiger und in ihren Themen und Präferenzen gegensätzlich angelegter Reformen kann schnell übersehen werden, dass ähnliche Reformversuche bereits in der Vergangenheit initiiert wurden. Dabei sind insbesondere auch das Reformulieren alter Reforminhalte und die Verwendung neuer Wortkreationen hilfreich (Eccles/Nohria 1992, 183f.; Kieser 1996, 27; Brunsson 2006, 189). Trotz der reformtheoretischen Bedeutung der These der organisationalen Vergesslichkeit, wird das neo-institutionalistische Verständnis von „Vergessen“ nicht weiter erläutert.272 Daher bietet es sich hier an – wie auch schon bei den Unterscheidungen von Talk, Decision und Action (siehe Abschnitt 2.2), den neoinstitutionalistischen Aussagezusammenhang mit Hilfe systemtheoretischer Begriffe anzureichern und zu reformulieren. In der soziologischen Systemtheorie ist der Begriff des Vergessens in eine Theorie des sozialen Gedächtnisses eingebunden.273 In dieser Gedächtnistheorie setzen sich Zeit und Gedächtnis wechselseitig voraus. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, dass jede Operation eines sozialen Systems in der Zeit die Form eines unreduzierbar individuellen Ereignisses annimmt, das mit seinem Entstehen sofort wieder verschwindet. Um Zeit aber überhaupt beobachten zu können, muss ein System diese Einmalereignisse in die Differenz von Vorher und Nachher überführen, also zwischen vergangenen und zukünftigen Ereignissen unterscheiden können. Hierfür benötigt das System ein Gedächtnis, das im laufenden Mitwirken an allen Operationen zwischen Erinnern und Vergessen diskriminiert. Das Systemgedächtnis übernimmt mit Erinnern und Vergessen zwei Funktionen, die sich widersprechen, die sich aber beide auf das Verschwinden ereignishafter Operationen beziehen: Ohne ein Erinnern vergangener Operationen wäre in Systemen kein Aufbau von Strukturen möglich. Ohne Vergessen aber könnte das System keine Zukunft haben, weil es sich durch seine eigene Geschichte in jeder Gegenwart festgelegt hätte, also keinerlei Freiheit für Änderungen und keinerlei Offenheit für Neuheiten hätte. Daher ist ein soziales System darauf angewiesen, mit Hilfe eines Gedächtnisses sowohl Spuren eigener Operationen zu löschen und Kapazitäten für neue Operationen frei zu machen, als auch ausnahmsweise einige dieser Spuren zu bewahren und als Schemata wieder zu verwenden. So wie jede Systemoperation immer nur als Einzelereignis in der aktuellen Gegenwart stattfindet, entsteht das mitlaufende Systemgedächtnis als ein Neben-
272
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seitig zentralisierender und dezentralisierender Reformen, da man in einer Organisation immer das Problem aufwerfen kann, im Moment noch nicht die richtige Mischung aus Dezentralisierung und Zentralisierung gefunden zu haben. Gleiches gilt für die in der neo-institutionalistischen Reformtheorie benachbarten Begriffe „Erfahrung“ und „Lernen“. Siehe zur Verwendung dieser Begriffe Brunsson 2006, 156ff.; 1993b, 41f. Siehe dazu ausführlicher Luhmann 1996b; Esposito 2002; Blaschke/Schoeneborn 2006.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
produkt jeder Operation in jeder Gegenwart immer wieder neu. Insofern setzt sich das systemtheoretische Verständnis von „Gedächtnis“ von den üblichen Gedächtnis- und Lerntheorien nicht nur durch ihre Betonung der Vergessensleistung des Gedächtnisses ab, sondern auch durch ihre Beschreibung der laufenden Reproduktion des Gedächtnisses. Das Gedächtnis ist kein Archiv zur Aufbewahrung einer möglichst großen Datensammlung, es ist keine dauerhaft vorhandene Fundgrube, Lagerstätte oder Rumpelkammer für vergangene Ereignisse, die ein System mit Hilfe seiner Erinnerungen nur bei Gelegenheit und mit Absicht besucht. Vielmehr wird das Gedächtnis in jeder Gegenwart mit jedem neuen Ereignis unweigerlich und unbemerkt neu eingerichtet. Daher ist das Gedächtnis als inventiver Mechanismus zu verstehen (Luhmann 2000b, 194). Das, was erinnert wird, muss auch nicht unbedingt der Vergangenheit zugeschrieben werden; der Erinnerung reicht oft das Bekanntsein (Luhmann 2000b, 276). Durch das Diskriminieren von Erinnern und Vergessen kommt es im System ständig zu einer ungesteuerten Zweitauswertung von Operationen, so dass Ereignisse etwa als erinnerungswürdige Auffälligkeiten erinnert oder als nicht weiter bemerkenswertes Schonbekanntsein vergessen werden. Ohne das durch Gedächtnis ermöglichte Reaktivieren und Desaktivieren von Spuren eigener Operationen könnten Varietät und Redundanz nicht unterschieden, also Sinnangebote nicht als Neuheit bzw. Abweichung oder als Wiederholung bzw. Norm registriert werden. Dieses unbemerkte und nichtintendierbare Sortieren durch Erinnern und Vergessen setzt für beide Seiten dieser Unterscheidungen eine stetige Konsistenzprüfung von Kommunikation voraus (Luhmann 2004b, 77). Die Kriterien für diese Konsistenzkontrolle (im deutschen und englischen Sinne von Kontrolle/control) „(…) beziehen sich maßgeblich auf die selektive Integration von vergangenen und zukünftigen Zeithorizonten, so dass laufend die selbst erzeugte Differenz von Vergangenheit und Zukunft überbrückt werden kann“ (Japp 2001, 196f.). Wie kann man sich nun die Gedächtnisoperationen sozialer Systeme vorstellen? An dieser Stelle ist zunächst an die operative Trennung von Kommunikations- und Bewusstseinssystemen zu erinnern. Aus ihren eigenen Operationen schließen soziale Systeme die Operationen von Bewusstseinssystemen aus, um sie als ihre Umwelt voraussetzen zu können. Die fehlende Punkt-für-PunktEntsprechung von psychischen und sozialen Operationen entlastet den Aufwand beider Systeme und erfordert jeweils eigene Systemgedächtnisse, also ein Gedächtnis des Bewusstseins und ein Gedächtnis der Kommunikation. Für soziale Systeme wäre es extrem umständlich, bei jeder Kommunikation durch Kommunikation zu eruieren, was die beteiligten psychischen Systeme erinnern können oder bereits vergessen haben. Die Tempoanforderungen der Kommunikation verlangen eine eigene Operationsweise sozialer Gedächtnisse, und diese Eigen-
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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ständigkeit bedeutet zugleich eine Entlastung von den Memoiren anderer Systeme: „Das soziale Gedächtnis muß vergessen können auch dort, wo Bewußtseinssysteme sich noch erinnern“ (Luhmann 1996b, 316). Insofern darf man sich ein soziales Gedächtnis nicht als „Kollektivgedächtnis“, nicht als Komposition von individuell verstreuten Gedächtnisleistungen vorstellen. Die Gedächtnisse sozialer Systeme haben eine eigene Basis, und zwar in Form von Sprache, Schrift, Schemata und Skripts (Luhmann 1996b). Diese allgemeinen Aussagen zum Gedächtnis sozialer Systeme gelten selbstverständlich auch für das Sozialsystem „Organisation“. Für diesen Systemtyp kann man spezifischer formulieren, dass das Organisationgedächtnis lediglich diejenigen Entscheidungsprämissen erinnert, die bei weiteren Entscheidungen berücksichtigt werden. Auch in Organisationen liegt die Hauptleistung des Gedächtnisses in der fortlaufenden Bereinigung des Systems von Inkonsistenzen und der Befreiung der eigenen Informationsverarbeitungskapazitäten durch Vergessen. Daher werden die grundlegende Ungewissheit und die unzähligen vorbereitenden Entscheidungen im Entscheiden größtenteils vergessen (Luhmann 2000b, 192). Das Gedächtnis der Organisation hat eine Sortierfunktion und muss nur das, was als Erinnerung einen „Zukunftswert“ hat, in der Kommunikation für die Organisation verfügbar halten (Luhmann 2000b, 114). Dieses Sortieren des Gedächtnisses kann die Organisation programmieren und damit die Möglichkeiten des Erinnerns und Vergessens von Entscheidungen eingrenzen. Dies setzt allerdings voraus, dass die Programmierung des Organisationsgedächtnisses nicht vergessen wird. Die Organisation kann versuchen, Entscheidungen vor Vergessen zu schützen, indem sie diese beispielsweise als „wichtig“ markiert oder durch besondere Vorrichtungen aufbewahrt. Das Archivieren von Texten ist allerdings nur unter Vorbehalt für das Systemgedächtnis relevant. Jede Form des Aufzeichnens und des Abheftens, jede Buchführung und jede Datenspeicherung in Computern wird in der Organisation nur dann entscheidend, wenn sie in Folgeentscheidungen benutzt, also im Gedächtnis reproduziert wird. Für Erinnerungen an Entscheidungen orientiert sich das Gedächtnis der Organisation vor allem an Personen und Kompetenzen, denen das Entscheiden zugerechnet werden kann. Aber auch das Gedächtnis in Bezug auf Personen wird immer nur in Entscheidungen produziert. Solche Erinnerungen an Personen sind von den Ausnahmefällen zu unterscheiden, in denen die Organisation sich zur Rekonstruktion vergangener Entscheidungen auf das Bewusstsein von Mitgliedern stützt (Luhmann 2000b, 86, 194). Hier geht es um die oben angesprochene Differenz von Organisationsgedächtnis und persönlichem Gedächtnis von Individuen: Nicht alle Vorgänge der Organisationsvergangenheit mit Zukunftswert sind in einer Organisation aus-
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
reichend schriftlich dokumentiert. Daher werden persönliche Memoiren der Mitglieder zuweilen in das Organisationsgedächtnis transformiert, beispielsweise indem individuelle Erinnerungen in Akten oder anderen Schriftstücken registriert werden. Mittels ihres Gedächtnisses ermöglicht sich eine Organisation, ihre eigene Zeit zu erzeugen und Vergangenheit und Zukunft miteinander zu verknüpfen: Sie kann durch ihr Gedächtnis „(…) in ihre Vergangenheit Alternativen hineinlegen und ihre Zukunft durch Differenzbestimmungen strukturieren, ohne dabei durch ‚Wahrheitswerte‘ allzu sehr behindert zu werden“ (Luhmann 2000b, 195). Auch bei Entscheidungen über Zukunftsprogramme oder Innovationen greift die Organisation auf erinnerte eigene Problemlösungen oder Erfahrungen fremder Organisationen zurück (Luhmann 2000b, 277). Welche Selektivität des Organisationsgedächtnisses kann nun in Bezug auf Erfahrungen mit Reformen vermutet werden? Vor der Anfertigung von antwortenden Annahmen muss gesagt werden, dass ich an dieser Stelle die organisationale Beobachtung fremder Organisationen im Kontext von Reform ausklammere, da diese in der weiteren Untersuchung noch gesondert behandelt werden soll. Hier konzentriere ich mich zunächst auf die theoretisch zu vermutende Gestaltung des Systemgedächtnisses in der Verknüpfung von eigenen Reformvergangenheiten mit eigenen Reformzukünften einer Organisation. Im Anschluss an die vorangegangen Überlegungen kann man annehmen, dass die Akzeptanz von Reform durch die Selektivität des Organisationsgedächtnisses in Bezug auf die Bewertung vergangener Reformen wahrscheinlicher wird. Diese Annahme kann nun erstens im Sinne der These der „organizational forgetfulness“ spezifiziert werden: Organisationen vergessen die Misserfolge, die sie mit Reformen in der Vergangenheit erlebt haben. Hier wird vorausgesetzt, dass eine reformierende Organisation ihre vergangenen Reformen in der Vergangenheit negativ bewertet hat und diese negative Bewertung in der Gegenwart (immer wieder neu) vergisst. Zweitens kann man aber auch vermuten, dass sich das Organisationsgedächtnis an dem Zukunftswert vergangener Reformen orientiert und im Stile des „cherry picking“ lediglich die Erfolge früherer Strukturänderungsabsichten aktualisiert. Dies erfordert Erinnerungen an vergangene Reformperioden sowie eine gegenwärtig positive Bewertung dieser Reformen. Dabei sei hervorgehoben, dass sich alle Bewertungen ändern können: Aufgrund der fortlaufenden Re-Imprägnierung des Gedächtnisses kann eine Positivwertung in jedem Moment immer unabhängig davon stattfinden, ob die Reformen der Vergangenheit in der Vergangenheit der Organisation positiv oder negativ bewertet wurden.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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Neben diesen beiden Fällen von Gedächtnisleistungen, die eine Evaluation beendeter Reformen nach dem Schema von Erfolg und Misserfolg voraussetzen, ist drittens außerdem die Vermutung zu berücksichtigen, dass Organisationen häufig auf eine instrumentell-rationale Erfolgsmessung ihrer Reformen verzichten.274 Die Evaluierung einer beendeten Reform wird abgelehnt oder gar nicht erst vorgeschlagen, so dass mangels bewerteter Reformerfahrungen auch keine Reformenttäuschungen erinnert werden können, die einer Akzeptanz neuer Reformen im Wege stehen könnten.275 Das Gedächtnis ist hier darauf programmiert, alle kontrollierenden Vergleiche von ursprünglichen Erwartungen und späteren Ergebnissen einer vergangenen Reformperiode zu unterdrücken. Dies schließt den Fall ein, dass kontrollierende Bewertungen vergangener Reformen, die die Organisation in der Vergangenheit produziert hatte, aktuell vergessen werden. Die Qualen und Früchte vergangener Reformanstrengungen mögen dann in den Gedächtnissen der beteiligten Psychen erinnert werden. Diese Sinngebungen persönlicher Gedächtnisse haben aber bei einer Programmierung des Organisationsgedächtnisses, die einen Verzicht auf Evaluation beendeter Reformen vorsieht, vermutlich nur sehr selten die Chance, einen Weg in die Organisationskommunikation zu finden. Entsprechend der drei beschriebenen Formen der Selektivität des Organisationsgedächtnisses in der aktualisierenden Rückschau auf frühere Reformen möchte ich eine zweite Hypothese zu den Voraussetzungen der Reformakzeptanz wie folgt formulieren: Hypothese 2:
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Die Akzeptanz von Reform wird begünstigt durch die Selektivität des Organisationsgedächtnisses in Form (2.1) des Vergessens des nach instrumentell-rationalen Kriterien beobachteten Misserfolgs („Forgetfulness“) und/oder (2.2) des Erinnerns des nach instrumentell-rationalen Kriterien beobachteten Erfolgs oder (2.3) der Nichtevaluation von Reformen, die in der eigenen organisationalen Vergangenheit beendet wurden.
Man kann zusätzlich vermuten, dass dies insbesondere bei einem allmählichen, wenig auffälligen ‚Einschlafen‘ der Reformbemühungen vorkommt. Umgekehrt kann eine wachsende Kontrolltechnologie zu wachsenden Enttäuschungen führen, vgl. Luhmann 1989a, 13f.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
3.3.3 „Heucheleien“ und deren Invisibilisierung – wie sich Organisationen bei Reform selbst beschwindeln können Die systemtheoretische Organisationssoziologie sieht eine wichtige Funktion von Reform darin, dass Entscheidungen über Reform zu einer Mehrzahl von gleichzeitig getesteten, sich widersprechenden Beschreibungen einer Organisation führen. Durch diese Perspektivenpluralität können alternative Lösungen sichtbar, Blindheiten vermieden und ein besseres Verständnis einer Organisation für sich selbst ermöglicht werden. Die neo-institutionalistische Theorie setzt bei ihrer Beschreibung der Funktionen von Reform andere Akzente: Neben der gesellschaftlichen Verstetigung der Hoffnung (bzw. des Vertrauens) auf die Möglichkeit der Verwirklichung von Idealvorstellungen des Organisierens stellt sie vor allem auf Bezüge einer Organisation zur ihrer Umwelt ab: Reformen können als organisationale Puffer gegenüber Erwartungen der Umwelt fungieren, indem sie es ermöglichen, den externen Anforderungen an Organisationszustände darstellerisch zu entsprechen, ohne dass intern die geforderten Zustände hergestellt werden müssten. Auf diese Weise können Organisationen durch Reform sich selbst zu größeren Entscheidungsfreiheiten verhelfen (Brunsson 2003, 221). Eine Gemeinsamkeit der systemtheoretischen und neo-institutionalistischen Funktionsbeschreibungen ist darin zu sehen, dass sie beide auf Mehrdeutigkeiten und Inkonsistenzen im organisationalen Umgang mit Reformvorschlägen verweisen. In der soziologischen Perspektive erscheint es dabei als vorteilhafte Möglichkeit, dass Organisationen durch Reform mit bislang nicht kommunizierten, vieldeutigen und inkonsistenten Selbstbeobachtungs- und beschreibungsvarianten ausgestattet werden können. Ambiguität und Widersprüchlichkeit gehören aber gerade zu solchen Verhältnissen, die eine reformierende Organisation in instrumentell-rationaler Sicht negativ bewertet und mit Hilfe von Reform zu beseitigen versucht. Eine Organisation, die sich reformiert, wünscht sich eindeutige Ziele, klare Regeln und überschneidungsfreie Zuständigkeiten. Insofern kann es für die Akzeptanz einer Reform zum Problem werden, wenn die Organisation das Voranschreiten der Reform anhand eines zweckrationalen Schemas beobachtet und dabei Mehrdeutigkeiten und Inkonsistenzen ihrer reformierenden Entscheidungen entdeckt. Solche Beobachtungen werden in der Organisation typischerweise als ‚Anpassungsschwierigkeiten‘ – als Abweichungen, Fehler und Defizite des Reformvollzugs – registriert. Sie beruhen auf Vergleichen zwischen Ist- und Sollzuständen eines Reformprojekts, also auf Divergenzen zwischen den groben Reformideen und deren respezifizierenden Interpretationen in der Reformumsetzung. Die Organisation reflektiert und konfrontiert dann (mindestens zwei) sich inhaltlich widersprechende Versionen der gleichen Reform.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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Das Auseinanderfallen der Reform in der Sachdimension durch verschiedene Reformversionen wird von der Organisation zumeist in eine zeitliche und/oder soziale Fassung überführt: In der Zeitdimension geht es um kontrollierende Beobachtungen des Typs ‚Das war ursprünglich ganz anders gedacht!‘: Auffällige Reformentscheidungen werden in der Organisation unter der normativen Annahme beobachtet, dass diese ‚Meilensteine‘ eines linearen, konsistenten Reformverlaufs darstellen, in dem die Reformkonzepte durch Planung konkretisiert und dann in das Entscheiden des Organisationsalltags überführt werden. Wenn nun in einem Vergleich von Vorher und Nachher Abweichungen von Reformidee und Reformumsetzung festgestellt werden, so kann dies als ‚Versündigung‘ gegenüber dem Reformideal problematisiert werden. In der Sozialdimension geht es hingegen um Beobachtungen des Typs ‚Es gibt Streit über den richtigen Weg!‘: Die Organisation beobachtet Widersprüche zwischen bestimmten Reformentscheidungen als Widersprüche zwischen Suborganisationen, Kompetenzen oder Rollen, denen die sich widersprechenden Entscheidungen zugerechnet werden. Lässt man diese Widersprüche der Reformkommunikation nicht auf sich beruhen, entstehen Konflikte, die sich als solche problematisieren lassen. Die Akzeptanzchancen einer Reform werden durch die Problematisierung von widersprüchlicher und mehrdeutiger Reformkommunikation aber nur dann verschlechtert, wenn die reformierende Organisation diese Probleme auf die Entscheidung attribuiert, sich selbst reformieren zu wollen. Betrachtet die Organisation hingegen nicht die Reformvorschläge, sondern sich selbst als Ursache von Anpassungsschwierigkeiten, Abweichungen und Fehlern in der Reformumsetzung, so mindert dies die Reformakzeptanz nicht. An dieser Stelle kann man somit festhalten: Reformakzeptanz ist dann wahrscheinlich, wenn Abweichungen zwischen Soll- und Ist-Zustand der reformierenden Organisation in der reformzielorientierten Selbstbeobachtung der Organisation unbeobachtet bleiben. Sofern solche reformbezogenen Steuerungsprobleme aber von der Organisation beobachtet werden, hat eine Fortsetzung des Reformakzeptierens dann gute Chancen, wenn diese Probleme nicht der Reform attribuiert werden, sondern der Organisation. Neo-institutionalistische Reformuntersuchungen lassen nun vermuten, dass sich in reformierenden Organisationen strukturelle Vorkehrungen einnisten, die die soeben beschriebenen Blindheiten und Zurechnungsschemata absichern. Zum einen werden Vorkehrungen eingerichtet, die verhindern, dass die mit einer Reform verbundenen Steuerungsprobleme dieser Reform zugeschrieben werden. Eine solche Zurechnung wird beispielsweise dadurch verhindert, dass der Reformtalk stark auf Werte verweist, die weder kritisierbar noch operationalisierbar sind. Kommt es im Bereich von Action zu Problemen, neigt die Organisation
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
dazu, nicht den Reformtalk als unausgegoren anzusehen, sondern die organisationale Anpassungsleistung (Brunsson 2006). Zum anderen werden organisationale ‚Scheuklappen‘ bzw. ‚Sichtsperren‘ etabliert, so dass Abweichungen von den ursprünglichen Zielen einer Reform überhaupt nicht beobachtet, geschweige denn problematisiert werden. Im Folgenden werde ich die soeben als ‚Sichtsperren‘ bezeichneten Vorkehrungen näher beschreiben. Diese Vorkehrungen lassen sich ganz allgemein als Sonderfall der losen Kopplung organisationaler Strukturen fassen. Sie ermöglichen es, dass eine Organisation in Bezug auf die gleiche Reform widersprüchliche Entscheidungsstrukturen ausdifferenziert, die sich im Entscheidungsnetzwerk voneinander lösen. Diese Strukturen kommen dann als ‚Entscheidungsinseln‘ nicht mehr oder nur selten miteinander in Berührung, so dass ihre Widersprüchlichkeit gar nicht weiter auffällt. Dadurch lässt sich insbesondere – neoinstitutionalistisch formuliert – die Konfrontation von ‚Reformprinzip‘ und ‚Reformpraxis‘ vermeiden. Dieses Entkoppeln einander widersprechender Entscheidungsstrukturen kann man nun mit Hilfe der Unterscheidungen von Talk, Decision und Action spezifizieren. Wie bereits dargelegt, nutzt die neo-institutionalistische Reformforschung diese Trias als Fremdbeobachtungsschema zur Beschreibung von inhaltlichen Diskrepanzen und Übereinstimmungen im Binnenverhältnis dieser Differenzen. In der Perspektive eines erfolgreichen instrumentell-rationalen Reformverlaufs bleiben Talk, Decision und Action in der Sachdimension konsistent, sind also eng gekoppelt: Sie konvergieren ‚Punkt für Punkt‘ in dem Sinne, als dass am Ende der Reformperiode die basalen Entscheidungsoperationen inhaltlich den Vorgaben der Reformplanung entsprechen und diese Vorgaben ihrerseits den Intentionen der Reformbeschreibung entsprechen. Neo-institutionalistische Studien haben aber gezeigt, dass das Erreichen einer sachlichen Kohärenz von Talk, Decision und Action in Bezug auf das gesamte ursprünglich vorgeschlagene Reformpaket als Steuerungsillusion von Reformvorhaben zu verstehen ist und in Organisationen normalerweise nicht vorkommt (Brunsson 1993b; Brunsson 2006). Vielmehr sind die Strukturen von Talk, Decision und Action in sehr unterschiedlicher Weise von den Steuerungsversuchen einer Reform betroffen. Strukturänderungen, die auch in einer evaluierenden Fremdbeobachtung auf Reformideen zugerechnet werden können, beziehen sich in erster Linie auf Talk und in geringerem Umfang auf Decision, während Action-Strukturen von Reformen weitgehend unberührt bleiben. Reformen führen mit anderen Worten zu in Bezug auf Talk-, Decision- und Actionstrukturen selektiven Veränderungen und Konfirmierungen des bisherigen Organisierens, die von den durch Reformideen vorgesehenen Verläufen stark abweichen: Strukturen der Selbstbeschreibung und auch Prämissen der Planung werden wahr-
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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scheinlich verändert, doch die Strukturen basalen Entscheidens haben gute Chancen, von Reformabsichten unberührt zu bleiben. Hinsichtlich ihrer gegenseitigen Anbindung gleichen die Strukturen von Talk, Decision und Action in der reformierenden Organisation weit voneinander entfernten Inseln, deren Entscheidungspopulationen nur wenig Kontakt miteinander pflegen. Durch dieses Entkoppeln der Action-Struktur vom Reformtalk und von Reformplanung kann eine Organisation ihren Entscheidungsalltag vor überzogenen und unpassenden Reformerwartungen schützen (und damit bei Reformbetroffenen Akzeptanzwahrscheinlichkeiten sichern). Die Risiken eines geplanten, radikalen Wandels werden also durch „structural inertia“ im Action-Bereich umgangen. Ebenso werden dadurch die Kosten von Reformaction vermieden. Organisationstexte und Organisationspläne zu reformieren, ist mit viel weniger Aufwand und Zeit verbunden, als Änderungen der Routinen des Organisationsalltags zu etablieren (Brunsson/Olsen 1993a, 9; Brunsson 1993b, 38; Brunsson 2003, 212). Insofern kann man mit Hilfe der Unterscheidungen von Talk, Decision und Action eine zentrale Problembeschreibung der klassischen Reformtheorie, nämlich ‚Defizite der Implementation‘, in Bezug auf die Akzeptanzchancen von Reform in eine Problemlösung umwandeln und dann vereinfachend folgende Vermutung formulieren: Die Bejahung von Reform erfolgt auf der Ebene von Talk und Decision wahrscheinlich nur dann, wenn die Reform auf der Ebene von Action verneint wird. Allerdings darf im Hinblick auf Reformakzeptanz die lose Kopplung von Talk, Decision und Action nur wenigen organisationalen Beobachtern des jeweiligen Reformierens auffallen: Da das Reformgeschehen in Organisationen immer auch nach instrumentell-rationalen Kriterien beobachtet wird und inhaltliche Übereinstimmungen von reformierenden Talk-, Decision- und ActionEntscheidungen erwartet werden, kommt es im Hinblick auf die Akzeptanzchancen einer Reform darauf an, das Auseinanderfallen der Reformfolgen in den Strukturen von Talk, Decision und Action zu invisibilisieren. Der ‚Sündenfall‘ der Inkonsistenz zwischen Reformideen und Reformumsetzung muss von der Organisation vor ihr selbst versteckt werden, erfordert also bezüglich Action eine ‚Latenzsicherung‘. Die Reformstudien des Neuen Institutionalismus haben nun aufgezeigt, wie die Etablierung organisationaler Blindheit in Bezug auf Inkonsistenzen von Reformtalk, -decision und –action durch Entkopplung und Separierung dieser Strukturen gelingt. Während die neo-institutionalistische Reformtheorie hier zwei Fälle unterscheidet und eine „organizational and temporal distinction“ (Brunsson 2006, 187) vornimmt, möchte ich zur Spezifizierung der Entkopplung eine dreistellige Differenzierung vorschlagen: Die Akzeptanz von Reform wird wahrscheinlich, indem Inkonsistenzen in den reformbezogenen Strukturen von
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
Talk, Decision und Action (1) in der Zeit, (2) in Rollenkonstellationen und (3) im Netzwerk der Kommunikationswege invisibilisiert werden. (1) Organisationen sind hinsichtlich der Verwirklichung von Reformideen extrem geduldig (March/Olsen 1989, 86) und vermeiden es, dass die von der Reform angekündigte Organisationszukunft zur Organisationsgegenwart wird (Brunsson 2006, 114, 198ff.). In vielen Fällen wird über mehrere Jahre hinweg reformiert, ohne dass die reformierende Organisation unzufrieden wäre, dass die Reformziele noch nicht erreicht sind, und ohne dass erwartet würde, die Reform in überschaubarer Zeit vollenden zu können. Diese organisationale Geduld wird durch Empfehlungen der Reformliteratur bestärkt: „Wer also Institutionen reformieren will, darf vor allem nicht in Eile sein und muß einen langen Atem haben.“; auch sollte man sich „für die endgültige Beurteilung der Wirkung“ gemäß der Empfehlungen der Implementationsforschung eine „Frist von zehn bis zwanzig Jahren“ setzen (Scharpf 1987, 144). Die Umsetzung von Reformideen wird zwar normalerweise als „Projekt“ beschrieben, aber offensichtlich fehlt es vielen Reformen an der für Projekte typischen Zeitlimitierung276 durch Markierung eines Projektendes. Außerdem finden sich oft sehr unterschiedliche Auffassungen zu der Frage, wann eine Reform begonnen hat und wann sie endet (Czarniawska/Joerges 1998, 201f.). Der Vorteil von Geduld und Periodenmehrdeutigkeit im Hinblick auf Reformakzeptanz ist leicht zu erkennen: Wenn der Eintritt der letztendlich gewünschten Reformprodukte und -effekte immer wieder neu, immer wieder weiter in die Zukunft verschoben werden kann, kommt es nie zu einer ‚endgültigen‘ Evaluation der Reform, die ein Reformscheitern im instrumentell-rationalen Verständnis aufdecken könnte. Und dass Reformen so viel Zeit für ihre Umsetzung benötigen, kann das Schema „Reform“ einfach plausibilisieren: Es geht um einen umfassenden Wandel, um Veränderungen der gesamten Organisation, und da diese Aufgabe aufwändig ist, verlangt sie – wie Reformbeschreibungen dann gerne heroisierend hervorheben – Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit, die sich eines schönen Tages für die Organisation lohnen werden. Neben diesem stetigen Verschieben von Reformergebnissen in die Zukunft begünstigen die zeitlichen Ansprüche von Reform und die Geduld der Organisation aber auch evolutionäre Anpassungen der Reform: Je mehr Zeit vergeht, desto eher wird verändert und vergessen, was ursprünglich gesagt und geplant wurde. Die vielfach organisationssoziologisch beschriebene nachträgliche Anpassung der Reformziele an Organisationsveränderungen bedeutet ja nichts anderes, als dass Reformtalk, Reformdecision und Reformaction, wie alle anderen Organisationsstrukturen auch, der Evolution unterworfen sind. Sobald ein 276
Zur Beobachtung von Projekten siehe Luhmann 1990e, 338f.; 1993a, 298.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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Reformvorhaben startet, bietet sich mit jedem weiteren Entscheidungsereignis immer wieder neu die Möglichkeit, die anfänglichen Ideen und Pläne zu variieren oder zu vergessen. Ansprüche können gesenkt, Präferenzen verändert, Planungen neuen Informationen angepasst werden, neue Routinen sich unbemerkt einschleifen – all dies trägt zu einer ‚evolutionären Reformierung‘ der Reform bei. Das Vergessen der ursprünglichen Version der Reform erlaubt es auch, Kausalität umzudisponieren: Reformierende Organisationen „lesen in die laufenden Reformaktivitäten Erfolge hinein“ (Japp 2004, 73). Die Reformideen ändern zwar die organisationalen Strukturen des Talk mit Reformbeginn in ihre Richtung, aber der entstandene Reformtalk ändert sich im weiteren Reformverlauf seinerseits und bleibt nicht auf dem inhaltlichen Kurs des Textes zu Beginn der Reform. Die Organisation kann dabei sicherlich nicht Reformerfolge als evident phantastische Erfindungen einfach ‚aus der Luft holen‘. Denn die zum Reformstart bekundeten Absichten werden nicht vollständig vergessen, so dass diese Erinnerungen das System „mit gewissen Konsistenzverpflichtungen“ (Luhmann 2000b, 339 Fn. 24) belasten. Doch grundsätzlich wird all das, was sich im Laufe der Zeit an positiv bewerteten Änderungen einstellt, relativ unabhängig von den Kausalplänen des Reformbeginns als Erfolg der Reformbemühungen darstellbar. Ganz im Sinne der Fassadenfunktion von Reform sorgt die Organisation für eine nach innen und außen gerichtete Reformkosmetik nach der Devise: ‚Hauptsache ist, dass man gut aussieht‘. Das Entkoppeln von Talk, Decision und Action in der Zeitdimension bedeutet demnach, dass die Reformspezifikationen in den Strukturen von Talk, Decision und Action in einem sehr unterschiedlichen Maße von Vergessen und Variationen betroffen sind. Es ist also wahrscheinlich, dass eine reformierende Organisation, die sich eine Konsistenz von Talk, Decision und Action wünscht, dann eine Reform akzeptiert, wenn durch Distanzierung und Veränderung dieser Strukturen in der Zeit organisational unbeobachtet bleibt, dass Talk, Decision und Action inkonsistent sind. (2) Eine zweite Möglichkeit für Organisationen, die Widersprüchlichkeit von Reformtalk, Reformdecision und Reformaction vor sich selber zu verbergen, ist darin zu sehen, dass sie die Rollen von Reformentscheidern und Reformbetroffenen auf eine bestimmte Weise mit Talk, Decision und Action verknüpfen. Wie bereits oben ausgeführt, nutzt die neo-institutionalistische Theorie zur Beschreibung von Rollenverhältnissen bei Reformen – in Anlehnung an die Texte organisationaler Selbstbeobachtung – die Unterscheidung von „Reformers“ und „Reformees“. In dieser Rollenverteilung sollen Reformers für Talk- und Decision-Entscheidungen verantwortlich sein, während Reformees ActionEntscheidungen treffen. Im Hinblick auf Reformakzeptanz ist in den Reformstudien Brunssons nun insbesondere die Beobachtung wichtig, dass weder Refor-
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
mers noch Reformees ihr alltägliches Entscheiden entsprechend der Reformideen ändern, sondern beide Rollen vielmehr ihre Talk-Strukturen an den Reformvorschlägen ausrichten (Brunsson 2006, 201ff.). Dadurch entsteht in reformierenden Organisationen sowohl der Eindruck, es herrsche Konsens über die Richtigkeit der Reformideen als zum Teil auch die Vorstellung, die Reform sei bereits umgesetzt (Brunsson 1993a, 86f.), weil diejenigen, die die Reform umsetzen sollten, entsprechend über die Reform reden. In Kombination mit Reformzielveränderungen, die die ursprünglichen Ansprüche senken, kommt man entsprechend in Selbst- und Fremdbeobachtungen der Folgen einer Reform zu dem Ergebnis, dass diese vor allem Talk mit neuen Beobachtungsmöglichkeiten versieht und Aufmerksamkeiten verschiebt (Brunsson 2006, 193ff.). Reform ändert demnach in erster Linie semantische Strukturen, bereichert also den Organisationstalk mit Unterscheidungen für eine mögliche Organisation. Diese Beobachtungen bedeuten aber in Bezug auf Reformakzeptanz nichts anderes, als dass sowohl „Reformers“ und „Reformees“ die Reform im Hinblick auf Action ablehnen. Wie aber kann diese Verweigerung in der Organisation im Verborgenen bleiben und der Eindruck von Reformakzeptanz (auch in Bezug auf Action) dominieren? Auch hier liegt die Lösung in einem Entkoppeln von Talk, Decision und Action. Ich hatte bereits im Abschnitt 2.6 vorgeschlagen, das Rollen-Dual „Reformers“/„Reformees“ in Bezug auf das organisationale Kompetenznetzwerk flexibler zu handhaben und in die risikosoziologisch orientierte Unterscheidung der Rollen von Reformentscheidern und Reformbetroffenen zu überführen. Diese Neufassung von Reformrollen erfordert auch in Bezug auf die Verbesserung der Akzeptanzchancen von Reform eine gegenüber dem neoinstitutionalistischen Ansatz modifizierte soziologische Beschreibung. Reformentscheider akzeptieren Reformvorschläge und ändern entsprechend Beschreibungen und Planungen, nicht aber ihr basales Entscheiden im Organisationsalltag. Diese Rollen gehen davon aus, dass ihre Talk- und DecisionEntscheidungen die Action-Entscheidungen der Reformbetroffenen steuern, doch sie kontrollieren die Veränderung der Action-Struktur oft nicht. Die kontrollierenden Beobachtungen der Reformentscheider konzentrieren sich vielfach darauf, festzustellen, ob die Reformbetroffenen ihre Talk- und DecisionEntscheidungen den Reformanforderungen angepasst haben oder nicht. Der Clou dieser Vorkehrung ist: Sobald die Reformbetroffenen ihre Rolle wechseln, sich also in ihrem Entscheiden an Reformentscheidungen orientieren, werden sie zu Reformentscheidern, für die dann die Erwartungen der Entscheiderrolle in Bezug auf Talk- und Decision-Entscheidungen gelten. Dies bedeutet, dass von den beschriebenen und geplanten Änderungen der Action-Strukturen immer jeweils andere betroffen sind. Einer reformierenden Organisation kann es also genügen, wenn Talk- und Decision-Strukturen entsprechend der Reformvorschläge geän-
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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dert werden. Anders formuliert: Im Ergebnis trägt sich die Reformakzeptanz über wechselnde Rollenunterschiede hinweg in den Strukturen von Talk und Decision. Das Entscheiden über Reform in der Rolle der Reformentscheiderin führt zu der Entlastung, nicht selbst über Änderungen der Action-Strukturen entscheiden zu müssen, und damit von Entscheidung zu Entscheidung zu einem immer wieder neuen Verschieben der Reformaction zu den jeweils Reformbetroffenen. (3) Eine dritte Möglichkeit, Diskrepanzen von Reformentscheidungen in den Strukturen von Talk, Decision und Action organisational zu verheimlichen, ist die Aufteilung von Talk, Decision und Action im Kompetenznetzwerk der reformierenden Organisation. Trotz der scheinbar ‚endlosen Geduld‘ reformierender Organisation im Hinblick auf das Erreichen von Reformzielen und trotz dem üblicherweise unauffälligen Reformende in Form eines sang- und klanglosen Reformversickerns: Reformen werden im Normalfall von Organisationen als Durchführung eines größeren Projekts beschrieben. Die Reformprojekte werden häufig durch spezifische Programm-, Kommunikationswege- und Personalentscheidungen so stark ausdifferenziert, dass sie als eigenständige Einheiten, nämlich als vom übrigen Organisationsalltag abgelöste „Parallelorganisationen“ bzw. „Suborganisationen“ erscheinen (siehe Abschnitt 2.5). Die Zweckprogramme („Aufgabenbeschreibungen“) dieser Reformprojektorganisationen umfassen zumeist, die Reformideen soweit konzeptionell auszuarbeiten, dass sie im Hinblick auf das Publikum der betroffenen ‚Restorganisation‘ ‚implementationsfähig‘ werden. Dazu gehören regelmäßig die Interpretation der Reformideen, die Planung der Reformumsetzung, Testläufe der Reformkonzepte sowie das Informieren der projektexternen Stellen der Organisation (sowohl „bottom up“ als auch „top down“) zum Stand der Ausarbeitung der Reformideen. Während die Parallelorganisation sich auf ihre Aufgabe der Konkretisierung und Planung der Reformideen konzentrieren darf, kann die Umsetzung dieser Reformplanung der ‚Restorganisation‘ überlassen bleiben. Reformprojektorganisationen ähneln somit der in der neo-institutionalistischen Reformtheorie beschriebenen Gruppe der „Implementers“, die hinsichtlich der Entkopplung von Prinzipien und Praxis einer Reform von „Reformers“ und „Reformees“ unterschieden wird (Brunsson 2006, 187). Die Einrichtung einer Projektorganisation geht demnach nicht nur mit einer Ausdifferenzierung spezifisch reformbezogener Kompetenzen und Kommunikationswege einher, sondern begünstigt auch die oben beschriebenen Rollendifferenzierungen. Wichtig ist hier aber vor allem die auf die Unterscheidungen von Talk, Decision und Action übertragbare Überlegung, dass das Entscheiden über Reform durch Beschränkung der möglichen Kommunikationswege der Organisation teilweise so separiert wird, dass diejenigen Segmente des Entscheidungsnetzwerks, die hauptsächlich mit Reformtalk
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
und -decision beschäftigt sind, nur wenige Verbindungen zu denjenigen Segmenten des Netzwerks unterhalten, die in erster Linie Reformaction generieren und die Reformplanung als Prämisse für die Veränderung basaler Entscheidungen einsetzen (sollen). Auftretende Diskrepanzen zwischen Beschreibung und/oder Planung der Reform und dem reformierten Organisationsalltag werden dann durch Unterbrechung von Kontakten und suborganisationale ‚Abnabelung‘ verschleiert. Man kann die möglichen Effekte der organisationale Binnendifferenzierung einer Reform durch Projektgruppen mit Hilfe einer Theorie des „organisationalen Herunterkoordinierens“ noch weiter spezifizieren: Bei Themen, die die Kompetenzen mehrerer Suborganisationen übergreifen, kann als vorherrschendes Muster der organisationalen Verknüpfung von Entscheidungen eine negative Koordination vermutet werden (Scharpf 1973, 87). Bei negativer Koordination prüfen die beteiligten Suborganisationen, inwieweit mit einem Planungsvorschlag negative Folgen für den eigenen Entscheidungsbereich verbunden sind. Gegebenenfalls werden die betroffenen Subsysteme versuchen, ihren Bereich zu verteidigen und die inhaltliche Reichweite des Vorschlags zu beschränken. Eine erfolgreiche negative Koordination bedeutet dann „(…) in aller Regel eine inhaltliche Reduktion der ursprünglichen Entscheidungsinitiativen. Bei zunehmender Interdependenz der Entscheidungsbereiche und der entsprechenden Ausweitung des Kreises der Beteiligten muß auf diese Weise das Innovationsniveau immer weiter ‚herunterkoordiniert‘ werden. Für das Gesamtsystem folgt hieraus eine Tendenz zum Inkrementalismus, zu einer Politik der kleinen Schritte und der halben Maßnahmen (…)“ (Scharpf 1973, 89).
Sollen über „Langfristplanungen“ bestimmte Effekte angesteuert werden, so wird eine Organisation auch auf das Schema der positiven Koordination zurückgreifen (Scharpf 1973, 95f.). Dabei ist davon auszugehen, dass die enorm hohen Anforderungen einer solchen Entscheidungsverknüpfung dazu führen, dass sich die Zweckspezifikationen „auf wenige, besonders plausible Alternativen konzentrieren“ (Scharpf 1973, 96). Dieses Herunterkoordinieren kann insbesondere im Umgang mit den Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten und dem Verhältnis von Oberzwecken und Unterzwecken erkennbar werden (Kleidat 2003). Bei ihrer Beschreibung einer intraorganisationalen ‚Abtrennung‘ von Prinzip und Praxis einer Reform entgeht der neo-institutionalistischen Beschreibung von Reform, dass sich Akzeptanz fördernde Entkopplungsgelegenheiten in Form eines re-entry der Unterscheidung von reformierender Organisation und Umwelt ergeben können: Die innerhalb der Organisation ausdifferenzierte Parallelorganisation kann die übrige, projektexterne Organisation in Bezug auf ihre Reform-
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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entscheidungen wie eine organisationsinterne Umwelt behandeln. Wie bereits angemerkt, kommt es mit der Unterscheidung von Reformprojektorganisation und Restorganisation zugleich auf Rollenebene zu einer Differenzierung von Leistungsrollen und Publikumsrollen. Die vom Reformkonzept der Parallelorganisation betroffenen, unbeteiligten Kompetenzen erscheinen der Projektgruppe dann wie ein Publikum. Im Hinblick auf die Chancen einer Reformakzeptanz ist dabei entscheidend, dass der Entscheidungszusammenhang der Parallelorganisation als Subeinheit der gesamten Reformperiode markiert werden kann, die – auf die Ziele der Parallelorganisation bezogen – eigene Differenzierungen von Talk, Decision und Action generiert. Dadurch kann es zu einem re-entry der umweltorientierten Inkonsistenz dieser Unterscheidungen kommen: Talk, Decision und Action der Reformprojektorganisation können nämlich im Hinblick auf ihre Akzeptanz als Outputs beobachtet werden, die an die Restorganisation abgegeben werden. Dabei kann die Reformprojektorganisation gegenüber der übrigen Organisation scheinheilig werden, indem sie die Darstellung ihrer Entscheidungen inhaltlich von ihren Planungen und ihren basalen Entscheidungen zur Konkretisierung der Reformideen entkoppelt. Diese mangelnde Übereinstimmung von Talk, Decision und Action der Reformprojektorganisation ist insbesondere dann hilfreich, wenn die Parallelorganisation in Zukunft Entscheidungen treffen wird, die die Restorganisation nachteilig betreffen kann und die Konflikte zwischen Parallelorganisation und Restorganisation wahrscheinlich werden lassen. Denn es ist zu berücksichtigen: „Jede Planung erzeugt Betroffene – sei es, daß sie benachteiligt werden, sei es, daß nicht all ihre Wünsche erfüllt werden. Die Betroffenen werden wissen wollen und sie werden freie Kapazitäten der Kommunikation im System nutzen wollen, um zu erfahren und möglichst zu ändern, was geplant wird“ (Luhmann 1984, 635). Zur Erzeugung von Reformakzeptanz setzen Organisationen daher nicht nur auf eine vorübergehende Abtrennung von Reformentscheidungen in Reformprojektorganisationen, sondern auch auf die Partizipation von Reformbetroffenen. Bei der organisationalen Nutzung von Partizipationsstrategien im Rahmen von Reformvorhaben „(…) wird angenommen, daß durch möglichst frühzeitige Beteiligung mehrerer Ebenen und Zuständigkeitsbereiche der andernfalls zu erwartende Widerstand minimiert werden kann. Der Gegeneinwand, daß man den Widerstand dadurch erst weckt, liegt jedoch auf der Hand. (…) Typischer scheint daher zu sein, (…) daß man nur solche Personen zur Vorbereitung der Reform einlädt, von denen angenommen werden kann, daß sie mit der geplanten Änderung schon vorweg sympathisieren. Wenn die Reformfreunde sich versammeln, dürfen die Betonköpfe nicht mitmachen“ (Kieserling 1999, 379f.).
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
Der theoretisch wahrscheinliche Fall ist somit also nicht Partizipation, sondern Spaltung: Durch die Gründung einer internen Parallelorganisation zu Reformzwecken werden vermutete Anhänger und vermutete Gegner einer Reform suborganisational distanziert, so dass sich möglicher Reformdissens eine Zeit lang ausblenden lässt, und zwar gerade durch Vermeidung von Partizipation. Die spezifischen Reformabsichten unterliegen dann vorübergehend der Geheimhaltung: „Änderungen in der Organisation, in den Arbeitsmaximen, den Ansichten, den wichtigen Verbindungen oder im Personal werden heimlich vorbereitet, um die Darstellung der laufenden Geschäfte bis zum Tage X nicht zu untergraben“ (Luhmann 1964a, 115). Sofern nun die Reform nicht vorzeitig gestoppt oder vergessen wird, werden die antizipiert betroffenen Kompetenzen dann aber irgendwann durch Entscheidungen der Reformprojektorganisation aktuell Betroffene sein. Doch auch diesen Verlauf wird jede mit Reformen erfahrene Organisation antizipieren. Die Parallelorganisation kann Störungen ihrer Planungen und eine (frühzeitige) Verhärtung der Fronten von Protagonisten und Gegnern der Reform verhindern, indem sie ihre auf die Restorganisation gerichteten Decision-Entscheidungen durch konsensfähigen Talk tarnt bzw. beschönigt. Diese Verbesserung der Akzeptanzchancen suborganisationaler Reformentscheidungen ist aber wieder verbunden mit dem Risiko (noch) stärkerer Ablehnung. Wenn nämlich der Fall eintritt, dass die verbale Tarnung der Reformpläne in anschließenden ActionEntscheidungen ‚auffliegt‘ und die betroffenen Stellen sich hintergangen fühlen, dürfte sich die Begeisterung des internen Publikums in Grenzen halten. Das theoretisch zu vermutende Szenario lautet jedenfalls: Zugunsten von Reformakzeptanz wird die Organisation in einer zweckrationalen Perspektive für sich selbst scheinheilig. Die vorangegangenen Überlegungen liefern theoretische Argumente für drei weitere Konditionierungen, die es wahrscheinlich werden lassen, dass Reformen in Organisationen akzeptiert werden. Eine entsprechend dreiteilig differenzierte Hypothese soll wie folgt formuliert werden: Hypothese 3:
Die Akzeptanzwahrscheinlichkeit von Reform verbessert sich infolge des Invisibilisierens inhaltlicher Inkonsistenzen von Reformtalk, Reformdecision und Reformaction in Form der (3.1) zeitlichen Distanzierung von Talk-, Decision- und Action-Perioden, (3.2) Ausdifferenzierung von Suborganisationen für Reformtalk, Reformdecision und Reformaction, (3.3) Zuweisung von Reformentscheider- und Reformbetroffenenrollen.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
207
3.3.4 Erfolgsmediengebrauch im Fall von Reform Die bislang vorgestellten Hypothesen beziehen sich auf Bedingungen von Reformakzeptanz, die primär das organisationale Abdunkeln negativ bewerteter Seiten einer Reform beleuchten: Vergessen, Scheinheiligkeit und ein Zurechtschrumpfen auf Machbares, so wurde vermutet, verhindern Enttäuschungen und ermöglichen es, die Ablehnung eines Reformpakets unwahrscheinlich werden zu lassen. Wenn nun aber mögliche (aus organisationaler Sicht) positive Seiten von Reform ins Blickfeld genommen werden sollen, kommt man zu der Frage: Was macht Reformen eigentlich so attraktiv, dass ihre Annahme motiviert wird? Einige der Antworten, die die (von Nils Brunsson geprägte) neo-institutionalistische Reformsoziologie auf diese Frage liefert, habe ich bereits näher vorgestellt: Reformen werden als Möglichkeit betrachtet, die Wertschätzung der Organisation in der Umwelt oder für sich selbst zu steigern (Brunsson/Olsen 1993a; Brunsson 2006). Indem die Organisation sich reformiert, kann sie exogen oder endogen zugerechneten Erwartungspaketen in Bezug auf die Richtigkeit des Organisierens gerecht werden. Reformierende Organisationen wünschen sich, dem Idealbild einer modernen Organisation entsprechen. Die sozial standardisierten Idealvorstellungen des Organisierens richten sich seit dem späten 19. Jahrhundert vor allem an dem Modell eines individualisierbaren, hierarchischen Zweckverbands aus. Dieses Modell wird durch die Veränderung gesellschaftlicher Normen und den Wandel der Organisationsmoden immer wieder ergänzt und modifiziert. Je nachdem, welche Eigenschaften das jeweils zeitgemäße Idealmodell des Organisierens akzentuiert, geht es Organisationen bei Reform um die Einführung oder die verbesserte Anwendung bestimmter Prinzipien, wie beispielsweise Ordnung, Einfachheit, Kontrolle, Klarheit, Identität, Steuerung, Effizienz, Effektivität, Autorität, Partizipation oder Umweltfreundlichkeit. Reformen bieten in der Konkretisierung dieser Prinzipien nicht nur Lösungen für bekannte Probleme sondern geben auch Ansporn zu organisationalen Leistungssteigerungen, indem sie bislang Unproblematisches problematisieren, Ansprüche formulieren und Lösungen für weitere organisationale Verbesserungen aufzeigen (Brunsson 1993b; Brunsson 2006). Hinsichtlich ihrer Bejahungschancen ist es für Reformen außerdem vorteilhaft, dass diese sich nicht nur auf relativ beliebige, austauschbare Werte stützen, sondern als Schema in sich selbst positive Werte verkörpern, die reformierende Organisationen für sich vereinnahmen können, nämlich die Werte „Zweckrationalität“, „Neuheit“ und „Modernität“.277 Wer modern sein möchte, muss mit der 277
Siehe dazu ausführlicher Olsen 1993 und Brunsson/Olsen 1993a.
208
3. Bezugsproblem und Hypothesen
Zeit gehen, sich dem Neuen zuwenden und verändern. Und für Organisationen bedeutet dies sehr oft: sich reformieren. Durch Reform eröffnet sich der Organisation also insgesamt ein „Wunderland“ des Organisierens (Czarniawska-Joerges 1989). Die Schönheit einer Reform liegt in der Schönheit ihrer Prinzipien und eine Reform riskiert nur dann Ablehnung, wenn sich die organisationsspezifische Interpretation der Prinzipien im Entscheidungsalltag als nachteilig erweist. Nils Brunsson unterscheidet hier zwischen zwei Reformversionen, nämlich der Reform als „general principle“ und als „unique experience“ (Brunsson 2006, 206): Die Schwierigkeiten der Reformimplementation werden als kleine Fehler, als unbedeutende Einzelfälle und als organisationales oder personales Versagen behandelt, führen zumeist aber nicht zu einer Kritik der Reformideen. Die ‚Hässlichkeiten‘ des reformierenden Organisationsalltags ändern nichts an der ‚Schönheit‘ des Reformschemas und der Geltung diskursiv erfundener Prinzipien. Sollte dennoch nicht jeder in der Organisation die Vorteilhaftigkeit des Reformierens erkennen und sich intern Widerstand andeuten, kann die Reform von hierarchisch übergeordneten „Reformers“ angeordnet werden (Brunsson/Olsen 1993a, 4) Die hier zusammengefassten Aussagen zur Attraktivität von Reformen sind in der Organisationstheorie des Neo-Institutionalismus sehr verstreut dargestellt, größtenteils eher knapp formuliert und ohne eine theoretische Einbettung, die das spezifisch Gemeinsame dieser Beobachtungen verdeutlichen würde. Die an dieser Stelle fehlende Klammer der neo-institutionalistischen Aussagen kann aber systemtheoretisch leicht konstruiert werden. Den soeben gesammelten Beschreibungen zur Motivation der organisationalen Annahme von Reform kann auf einer abstrakter ansetzenden Ebene mit der oben (Abschnitt 2.8) ausführlich vorgestellten Theorie der Erfolgsmedien eine einheitliche theoretische Fassung verschafft werden. Dieser theoretische Rahmen mag dann auch wieder die Seite derjenigen Bedingungen etwas stärker zur Geltung bringen, die ihren Schwerpunkt auf die Vermeidung von Reformablehnung legen – so etwa, wenn man an einen Machtgebrauch zur „Erzwingung“ der Akzeptanz von Reform denkt. Eine entsprechende Hypothese sei wie folgt formuliert: Hypothese 4:
Die Akzeptanzchancen von Reform steigern sich durch eine konditionierende Verknüpfung der Reformrespezifikationen mit Erfolgsmedien.
Diese Annahme soll im Folgenden durch Überlegungen zu der Frage spezifiziert werden, auf welche Erfolgsmedien wahrscheinlich regelmäßig durch Reformkommunikation verwiesen wird. Im Anschluss an die oben skizzierten reformsoziologischen Beschreibungen, die die Bedeutung von Reformprinzipien betonen,
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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erscheint zuerst das Wertmedium als ein offensichtlicher Kandidat. Reformen referieren stets auf Werte, seien es nun „Effektivität“ oder „Demokratie“ oder „Ordnung“. In Bezug auf die Wahrscheinlichkeit von Reformakzeptanz leisten die Verweise von Reformkommunikation auf Werte nun einen funktionalen Beitrag in zweierlei Hinsicht: Erstens wird über Werte im Normalfall nicht diskutiert, vielmehr kann ihre Akzeptanz vorausgesetzt werden. Werte können daher Entscheidungen mit Unbestreitbarkeit versorgen (Luhmann 2008a). Reformen müssen ihre Vorschläge nur eng genug mit Wertkommunikation verknüpfen, um von diesem Erfolgsmedium profitieren zu können. Probleme beim Einsatz des Wertmediums wären für die Akzeptanz von Reformentscheidungen lediglich dann zu erwarten, wenn verschiedene Entscheidungen sich auf verschiedene Werte berufen und diese miteinander in einen Widerspruch geraten würden, also dann etwa, wenn die von Reformen immer wieder gerne angesprochenen Werte „Partizipation“ und „Effizienz“ miteinander kollidieren würden. Denn Werte können nicht im Stile des ‚kleinsten gemeinsamen Nenners‘ in Kompromisse überführt oder – verfassungsjuristisch formuliert – im Wege „praktischer Konkordanz“ miteinander in Einklang gebracht werden. Weder hebt ein Wert andere Werte auf, noch lassen sich Werte in eine Rangordnung bringen oder nach dem Schema von Regel und Ausnahme handhaben. Dies bedeutet für Entscheidungen, die auf Werte verweisen: „The more values, the more chaos at the level of the decision“ (Luhmann 2008a, 29). Daher werden Wertkollisionen sozial gemieden und Werte in jeweils eigenen Kontexten voneinander separiert (Luhmann 1997a, 343). Auch Reformen umgehen dieses Problem, indem sie in ihren Wertbezügen zur Einseitigkeit tendieren und nur einen Wert hervorheben (Brunsson 1993b, 33f.). Zweitens verstärkt der Einsatz des Wertmediums in der „Poesie der Reformen“ (Luhmann 2000b, 330) das Auseinanderfallen und Parzellieren von Talk, Decision und Action. Werte bieten keine oder kaum Anleitung für Decision und Action, und so bleiben sie, sich selbst genug und unangreifbar, in den Strukturen des Talk ‚kleben‘. Auch in umgekehrter Perspektive begünstigen Werte die Möglichkeit, Reformen weitgehend auf Talk zu beschränken, da Reformen als solche als wertvoll erachtet werden: „(…) presidents are more likely to be punished for not making promises of administrative reform than for not implementing them, because providing rhetorical support for the administrative and realpolitik orthodoxies is of greater significance for their roles than is rearranging organizational structure (…)“ (March/Olsen 1989, 92).
Sobald Organisationen die Reformideen in eine Reformplanung überführen, werden Allgemeingültigkeit und Unbezweifelbarkeit der in der Reform implizierten Werturteile durch die Respezifikationen und Kontingenzen eigener Ent-
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
scheidungen ersetzt, die dann explizit die begründungsbedürftigen Präferenzen der reformierenden Organisation markieren.278 Dies erleichtert es der Organisation, Reformscheitern als „unique experience“ sich selbst, auf eigene Präferenzen und Entscheidungen zuzurechnen, und die „general principles“ der Reformideen, die in der Reformsemantik mitgeführten Werte, dauerhaft und lernresistent zu bejahen. Dieses Verstehen des Reformversagens als Einzelschicksal der Organisation ist auch dann möglich, wenn Reformvorschläge der Organisationskultur widersprechen, also alte und mögliche neue Werte aufeinanderprallen. Denn allgemein gilt für solche Widersprüche: „Collisions of value are reduced to individual cases“ (Luhmann 2008a, 29). Weitere Kandidaten für eine mediale Steigerung der Akzeptanzchancen von Reform sind die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien Macht bzw. rechtlich codierte Macht und Geld. Wie oben ausgeführt, werden die Akzeptanzchancen jeder organisationalen Entscheidung im Normalfall stillschweigend durch diese Medien im Kontext der Mitgliedschaftsrolle konditioniert. Es ist nun zu vermuten, dass Macht/Recht und Geld auch bei Reformen ihre organisational normalen Motivationsdienste innerhalb der Indifferenzzone verrichten, da diese Zone auch die Änderung von Entscheidungsprämissen umfasst (Luhmann 1991a, 202). Die Betroffenen einer Reform dürften lediglich bei außergewöhnlichen Widerständen oder Obstruktionen explizit an die durch Geld entlohnten, vertraglich geregelten Bedingungen der Mitgliedschaft und die damit verbundenen Möglichkeiten negativer Sanktionen erinnert werden. Abgesehen von solchen Konfliktfällen kann man außerdem davon ausgehen, dass die in der Hierarchie organisierte Macht zu Beginn einer Reform in auffälliger Weise eingesetzt wird, da über die Initiierung von Reform an hoher oder höchster Stelle entschieden wird. Ein interner Streit über das Reformieren kann sich schnell in Richtung der Frage verlagern, ob die durch Reform zusätzlich zu leistende Arbeit noch von der vereinbarten Mitgliedschaftsrolle gedeckt ist oder bereits außerhalb der Indifferenzzone liegt. Die organisationssoziologisch spannende Frage ist daher, bei welchen Gelegenheiten die Annahmechancen von Reformpaketen gesteigert werden, indem die Erfolgsmedien „Macht“/„Recht“ oder „Geld“ über die Mitgliedschaftsrolle hinaus für einen Sondereinsatz aufgerufen werden. Wenn die Grenzen der Zumutbarkeit für die Reformbetroffenen überschritten werden, kann man sich zum Beispiel vorstellen, dass Bonuszahlungen oder Karriereversprechen bei Reformbemühungen organisationsintern zum Einsatz kommen und den Rahmen der „zone of indifference“ ausdehnen.
278
Zur Differenz von Werten und Präferenzen siehe Luhmann 1996a.
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
211
Nicht zu übersehen ist jedoch die Bedeutung von Macht und Recht, wenn es um die organisationale Akzeptanz von Reformentscheidungen in Situationen geht, in denen die Organisation sich selbst als Betroffene von Reformentscheidungen ihrer Umwelt betrachtet. Hier geht es aus Sicht der betroffenen Organisation um die Konstellation, dass ein Handeln in fremden Organisationen (der Vorschlag, eine Reform durchzuführen) ein Handeln des eigenen Systems (die Umsetzung dieses Reformvorschlags) motivieren soll. Solche extraorganisational zugerechneten Reformerwartungen beruhen sehr häufig auf dem Gebrauch rechtlich codierter Macht in Form von Gesetzen oder Anordnungen.279 Im Vergleich zu einer lediglich via Imitation erfolgenden Diffusion von (modischen) Reformideen wird ein solcher auf Macht/Recht beruhender „hierarchically mandated change“ sehr viel schneller in der betroffenen Organisationspopulation akzeptiert (Tolbert/Zucker 1983). Dies lässt vermuten, dass Reformideen organisationsintern mit höherer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, wenn die Organisation auf eine exogene Verpflichtung verweisen kann, sich in einer spezifischen Weise zu reformieren. Denn man kann sich dann intern Debatten über das Für und Wider des Reformvorschlags ersparen, indem man auf die verminderte Kontingenz aufmerksam macht: Man hat sich die Reform nicht selbst ausgedacht und hat aufgrund der Gesetzeslage oder der Weisungen mächtiger anderer Organisationen keine andere Wahl, als das Reformpaket zu akzeptieren. 3.3.5 Kategoriengestützte und instrumentell-rationale Selbst- und Fremdbeobachtungen Organisationen können in ihrer Selbstbeobachtung ihre eigenen Reformvorschläge sich selbst oder ihrer Umwelt zurechnen. Im Fall einer Fremdzurechnung von Reformideen kann im Sinne einer kausalen Offenheit des Systems davon gesprochen werden, dass die Organisationsumwelt Reformen auslösen kann. Dies ändert natürlich nichts an der operativen Geschlossenheit des Systems. Die Entscheidung, sich selbst zu innovieren, ist immer eine Entscheidung der Organisation. Und für die kausalen Beziehungen bedeutet dies: Entscheidungen einer Organisation zugunsten intentionalen Strukturwandels können nicht durch veränderte Umweltbedingungen, auch nicht als ‚Druck von außen‘, determiniert werden (Wilson 1966, 210). Im reformierenden System können extern zugerechnete Reformideen niemals (ebenso wenig wie intern zugerechnete Reformideen) eine Durchgriffskausalität entfalten. Organisationen können sich durch Umwelt279
Auch im Neo-Institutionalismus wird immer wieder darauf hingewiesen, dass rechtlicher Normsetzung eine Schlüsselrolle zukommt, wenn Organisationen durch den Druck ihrer institutionellen Umwelt motiviert werden, sich zu reformieren, siehe z. B. Rowan 1982; Brunsson 2002c.
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
ereignisse – zum Beispiel durch turbulente Märkte, protestierende Studierende oder mangelnden Schneefall für die Skipisten – nur mehr oder weniger stark irritieren bzw. anregen lassen. Wenn Organisationen diese Irritationen in eigene Informationen umwandeln, können sie diese selbst erzeugten Sinnofferten ihrer Umwelt zurechnen und darüber entscheiden, ob sie diese als fremdreferentielle Prämissen für weiteres Entscheiden einsetzen. Wie immer, können auch diese auf Umwelt verweisenden Entscheidungen im Folgenden stets bejaht oder verneint werden. Insofern, weil Ja/Nein-Optionen zu jedem Zeitpunkt verfügbar sind, öffnen sich Organisationen für externe Ursachen, sind also von ihrer Umwelt beeinflussbar, so dass im Unterschied zur Durchgriffskausalität von Auslösekausalität gesprochen werden kann (Luhmann 2000b, 401). Wenn Reformvorschläge von der reformierenden Organisation extern zugerechnet werden, kann man dies als Transfer eines Sinnpakets in dem oben erläuterten Sinne (Abschnitt 2.9.2) beschreiben. Transfers lassen sich allgemein als besondere Form von Fremdreferenz fassen, da sie nicht alle möglichen Sinnpartikel, sondern nur relativ komplexe und als bedeutsam erachtete Sinneinheiten betreffen. Extern zugerechnete Reformen erscheinen nun als typischer Fall solcher Sinnpakete, da sie als wichtiges Paket angenommen werden, also zunächst als eine Ganzheit bejaht werden. Dann aber, beim ‚Auspacken‘ (Dekomponieren) des Pakets, ist zu vermuten, dass nicht alle darin enthaltenen Reformideen auf Zustimmung stoßen, sondern auch solche Reformrespezifikationen gefunden werden, die als unwillkommene Überraschungen abgelehnt werden, die aber ein fortgesetztes organisationales Akzeptieren der Einheit des unspezifischen Reformpakets nicht verhindern. Transfers von Reformideen sind nicht mit Fällen von Transfers zu verwechseln, bei denen Organisationen primär auf einen Wertewandel in ihrer Umwelt, neue wissenschaftliche Wahrheiten oder auf eine exogen veränderte Rechtslage referieren und dies zum Auslöser für Reformvorschläge wird, die Organisationen sich dann selbst zurechnen. Vielmehr beziehen sich ‚Reformtransfers‘ auf die organisationale Beobachtung von Reformdiskursen: Ein bestimmter Reformtyp wird von anderen Organisationen bereits als Problemlösung betrachtet und/oder in der Umwelt als organisationaler Standard erwartet. Das extern zugerechnete Sinnpaket „Reform“ erscheint dann im letztgenannten Fall – auch mit Verweis auf das Medium Macht/Recht als Reformgesetz und/oder mit Verweis auf das Wertmedium – als in dem Sinne institutionalisiert, als dass eine Vielzahl vergleichbarer anderer Organisationen eine in der Sachdimension ähnliche Reform bereits durchführen (bzw. durchführen wollen oder sollen) und sich ein entsprechender Reformdiskurs ausdifferenziert hat. Die gesellschaftliche Institutionalisierung eines Reformtyps kann dann – gestützt durch Reformansprüche generalisierende Diskurse (Vollmer 2002) – wiederum mit gesteigerten Diffusionserwar-
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
213
tungen einhergehen: Alle von den Reformvorschlägen angesprochenen Organisationen sollen eine Reform des entsprechenden Typs initiieren. Die Diffusion eines Reformtyps kann selbstverständlich auch schnell wieder enden, wenn negative Evaluationen spezifischer Reformen des Typs bekannt werden (Rowan 1982) oder neue Reformmodelle diskursiv in Mode kommen (Brunsson 1993b). Wie sehen nun die Bedingungen der Möglichkeit aus, dass extern zugerechnete Reformideen von Organisationen aufgegriffen und transferiert werden? Im Neo-Institutionalismus und der daran anschließenden systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie werden Transfers von Sinnpaketen allgemein aus der Perspektive der Gesellschaft beschrieben. Beide Theorien interessieren sich hier vor allem für relationale und institutionelle Diffusionsmechanismen auf Basis interaktiver Kontakte, die dann nach Intensität und räumlicher Reichweite unterschieden werden können (Meyer/Strang 1993; Stichweh 2000b). Auch die neoinstitutionalistische Reformtheorie betont die Bedeutung „institutionalisierter Umwelten“ für die organisationale Reformmotivation und verweist in diesem Zusammenhang auf Transferzwänge durch sich extern wandelnde Idealvorstellungen des Organisierens, auf die Imitation der in der Umwelt standardisierten, besten Lösungen und auf diffundierende Organisationsmoden (Brunsson/Olsen 1993a; Czarniawska/Sevon 2005; Christensen/Lægreid 2007). Diese Aussagezusammenhänge enthalten zwar bereits entscheidende Hinweise auf strukturelle Voraussetzungen für Reformakzeptanz. Aber die hier erkennbare Tradition des Neo-Institutionalismus, zwischen mimetischen, normativen und erzwungenem Organisationswandel zu unterscheiden (DiMaggio/Powell 1983; Haveman 1993a), birgt für die in dieser Arbeit zu leistenden Analysen das Problem, Voraussetzungen der Verbreitung von Reformdiskursen mit Voraussetzungen der Reformakzeptanz zu mischen. Für die folgenden Überlegungen ist es daher notwendig, den Unterschied zwischen den Bedingungen der Diffusion von Sinnpaketen auf Ebene des Gesellschaftssystems und den Bedingungen der Akzeptanz von extern zugerechneten Sinnpaketen auf Ebene von Organisationen im Blick zu behalten. Denn unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanz kommt es für die einzelne Organisation nicht darauf an, wie sie das gesellschaftlich diffundierende Sinnpaket erreicht, also ob sie durch einen relationalen oder institutionellen Verbreitungsmechanismus von Reformmoden und prototypischen Organisationsmodellen irritiert wird. Im Hinblick auf die Möglichkeit der Bejahung extern zugerechneter Vorschläge erscheinen in der Organisationsperspektive vielmehr zwei Vorkehrungen entscheidend: Eine erste Bedingung von Reformtransfers kann man im Anschluss an die Unterscheidung von organisationaler Individualität und organisationaler Kategorienzugehörigkeit formulieren: Eine organisationale Akzeptanz extern zugerechneter Reformvorschläge wird dann wahrscheinlicher, wenn die
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3. Bezugsproblem und Hypothesen
Organisation ihre Selbst- und Fremdbeobachtungen an einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisationskategorie oder (allgemeiner) zum Systemtyp „Organisation“ orientiert und die Vorschläge mit der Kategorie verknüpft. Ein Vergleich von fremden und eigenen Werten, Vorschriften oder Wahrheiten erfolgt hier nach Maßgabe von Kriterien der eigenen Kategorie und nicht der eigenen Individualität, zum Beispiel nach dem Muster ‚Alle Behörden haben jetzt eine Umweltschutzbeauftragte, also richten wir auch eine solche Stelle ein‘. Die neo-institutionalistische Reformsoziologie beschreibt zwar ein (durch gesellschaftliche Standards erzeugtes) paradoxes Verhältnis von organisationaler Individualität und organisationaler Kategorienzugehörigkeit (Brunsson 2006, 19f.). Allerdings wird dabei nicht sichtbar, dass das Verhältnis von Identität und Kategorie selbst voraussetzungsvoll ist: Bei vielen Organisationen fällt es schwer, sie überhaupt zu kategorisieren (Tacke 2001). Zudem können in Fremd- und Selbstbeschreibungen kategorisierte Organisationen immer, in jedem Moment, selbst darüber entscheiden, ob sie in diesem Rahmen eher ihre Individualität oder ihre Kategorienzugehörigkeit betonen. Eine Organisation kann in der Gegenüberstellung von Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung jederzeit ihre Individualität hervorheben und sagen: „Das betrifft uns nicht, dies sind nicht unsere Vorstellungen, wir haben hier eine eigene Kultur usw.“ Gleiches gilt dann auch im Reformkontext für bereits institutionalisierte Best Practices, Organisationsvorbilder und fremde Problemlösungen: Auch hier kann eine Organisation sich entscheiden, ihre Eigenständigkeit hervorzuheben und Entscheidungen betont als selbst angefertigte Erzeugnisse zu kommunizieren. Reformideen der Umwelt als fremde Problemlösungen verweisen nun auf eine zweite mögliche Voraussetzung von Reformtransfers: Weitgehend unabhängig von der Institutionalisierung einer Reform und den kategoriengebundenen, ‚legitimatorischen‘ Transfererwartungen ihrer Umwelten können Organisationen exogene Reformideen auch primär deshalb akzeptieren und transferieren, weil sie versuchen, Probleme durch instrumentell-rationale Lösungen zu bearbeiten, die andere Organisationen bereits erfolgreich getestet haben (Carroll/Luo 1988, 180; Luhmann 2000b, 339). Hier geht es abstrakt betrachtet einmal mehr um einen spezifischen organisationalen Umgang mit der Unbestimmbarkeit der Zukunft. Man möchte die Unsicherheit der eigenen Reformzukunft durch die vermeintlich ausreichend geprüfte Sicherheit fremder Reformvergangenheiten substituieren. Die Reformofferten transferierende Organisation experimentiert dann nicht mit eigenen Reformideen, deren zukünftiger Erfolg ungewiss ist, sondern verwendet zur Bearbeitung ihrer Probleme die Erfahrungen anderer Systeme aus der gleichen oder aus einer anderen Kategorie, die in ihren Vergangenheiten vergleichbare Probleme bereits gelöst haben. Ein auf diese Weise motivierter Transfer kann relativ unabhängig von einer kategorialen Orientierung
3.3 Eine Auswahl von Hypothesen
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stattfinden. Dennoch ist zu vermuten, dass die Sondierung der Umwelt nach den „best possible solutions“ (Brunsson 2002b, 170) aber oft in enger Verbindung mit der Attribuierung des eigenen Systems zu einem bestimmten Organisationstyp stehen wird – etwa in der Kombination, dass die kategoriale Selbst- und Fremdbeobachtung eine anschließende instrumentell-rationale Bewertung der gesuchten Problemlösungen vorbereitet. Dabei ist außerdem anzunehmen, dass die fremde Reformideen entdeckende Organisation vor allem auf einen positiv gefärbten Reformtalk anderer Organisationen trifft (Brunsson 2006, 189f.). Die vorangegangenen theoretischen Überlegungen lassen sich in einer Hypothese wie folgt zusammenfassen: Hypothese 5:
Die organisationalen Akzeptanzchancen von Reformen, deren Genese organisationsextern attribuiert wird, verbessern sich durch eine Selbst- und Fremdbeobachtung, (5.1) die sich an der Zugehörigkeit zu einer Organisationskategorie und/oder (5.2) an instrumentell-rationalen Kriterien orientiert.
Diese Hypothesenformulierung impliziert die bereits angesprochene Annahme, dass eine kategoriengestützte und eine instrumentell-rationale Selbst- und Fremdbeobachtung sowohl disjunktiv als auch konjunktiv als Bedingung des Akzeptierens fremder Reformideen auftreten können. Neuerdings wird in der organisationssoziologischen Diffusionsforschung der letztgenannte Fall betont: Der Neo-Institutionalismus habe das Ausmaß einer rein legitimatorisch begründeten, „mindless imitation“ von Organisation überschätzt (Kennedy/Fiss 2009, 914). Vielmehr würden organisationale Transfers sowohl durch eine „EffizienzLogik“ als auch durch eine „Legitimitäts-Logik“ motiviert: „(…) wanting to ‚look good‘ does not preclude wanting to also do well“ (Kennedy/Fiss 2009, 899).
4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
Die in dieser Arbeit verwendete systemtheoretische Soziologie verlangt bei dem Versuch, auf methodische Weise wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren, im Vergleich zum konventionellen sozialwissenschaftlichen Methodengebrauch eine besonders ausgeprägte Reflexivität des eigenen Vorgehens. Dazu gehört auch eine Reflexion der gewählten Epistemologie und Methodologie, die Theorien und Methoden des eigenen Forschungsprogramms theoretisch rekonstruieren. Im Folgenden möchte ich einige zentrale Annahmen der systemtheoretischen Epistemologie kurz rekapitulieren. Diese sind an dieser Stelle der vorliegenden Untersuchung als retrospektive und prospektive Beschreibung der Direktiven des theoretischen und methodischen Vorgehens dieser Arbeit zu verstehen. 4.1 Wissenschaftliches Beobachten Die moderne soziologische Systemtheorie startet ihren epistemologischen Aussagezusammenhang nicht mit einer Erkenntnistheorie, sondern verknüpft zur Konstruktion einer soziologischen Erkenntnistheorie Aussagen der Differenzierungs-, System- und Gesellschaftstheorie.280 In Bezug auf die Frage „Wie ist Erkenntnis möglich?“ schlägt die (mathematische) Differenzierungstheorie als Antwort eine Anweisung für Konstruktionen vor: „Draw a distinction“ (Spencer Brown 1969, 3). Denn wenn überhaupt keine Unterscheidungen getroffen würden, bliebe der Gegenstand möglichen Erkennens, sei es „Welt“ oder „Realität“, als „unmarked state“ (Spencer Brown 1969, 5) im Dunkeln: „Ohne Unterscheidungen und Bezeichnungen läuft nichts, ja nicht einmal nichts“ (Luhmann 1990d, 92). Sobald die Erstanweisung des Unterscheidens befolgt worden ist, wird deutlich, dass eine anfängliche Unterscheidung auch anders gewählt werden kann (Luhmann 1990e, 374) und es für die Selektion einer Ausgangsunterscheidung kein Prinzip und keine Begründung geben kann. Die Kontingenz des Anfangs der Differenzierung führt zu der Frage, wer die Welt erhellt, also wer diese erste Unterscheidung trifft. Lässt man Gott in 280
Siehe dazu und im Folgenden ausführlich Luhmann 1990e; 1990b; 1993c.
C. P. Kleidat, Bedingungen der Akzeptanz von Reform, DOI 10.1007/978-3-531-93088-6_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
Ruhe seine Arbeit verrichten, kann man mit Hilfe der modernen, differenzierungstheoretischen Systemtheorie antworten: Systeme, die sich selbst von einer Umwelt unterscheiden. Diese selbstunterschiedene Unterscheidung von System und Umwelt erfordert in einem zirkulären Verhältnis wechselseitiger Voraussetzung, dass ein Netzwerk von vor- und zurückgreifenden Operationen aufgebaut und reproduziert wird und dadurch eine Grenze gezogen wird. Das, was man als System bezeichnen kann, ist das Ergebnis dieses fortlaufenden, rekursiven Operierens. Anders formuliert: Um sich selbst zu erzeugen, müssen Systeme operieren. Jede der selbst produzierten Operationen grenzt ein System von seiner Umwelt ab, so dass sich das System als ein operativ geschlossenes System generiert. Eine solche „Schließung ist erforderlich, damit die Welt beobachtet werden kann“ (Luhmann 2008e, 21). Damit ist bereits eine weitere Bedingung des Erkennens angesprochen. Das System muss über Beobachtungskapazitäten verfügen, also ein sinnhaft operierendes System sein,281 denn jede Unterscheidung ist nur als Beobachtung möglich. Um sich selbst in Differenz zu seiner Umwelt zu erkennen, muss ein System (der Beobachter) die durch seine eigene Operationsweise etablierte System/Umwelt-Unterscheidung in die Innenseite dieser Form, nämlich in sich selbst, in das System, wieder eintreten lassen können. Durch diese Möglichkeit des re-entry verfügt ein beobachtendes System über die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz. Es kann sich selbst und seine Umwelt beobachten. Alles Beobachten kann sich nur als Operation ereignen. Allerdings ist die Unterscheidung von Operation und Beobachtung auch immer nur als Beobachtung möglich. Das Beobachten wiederum unterscheidet Unterscheiden und Bezeichnen, es ist als bezeichnendes Unterscheiden unterscheidbar. Jede Beobachtung nutzt eine Unterscheidung zur Bezeichnung der einen Seite dieser Unterscheidung, während Nichtbezeichnetes im Beobachten als andere Seite der Unterscheidung mitgeführt wird. Das Beobachten erfordert somit den operativen Einsatz einer Unterscheidung, die aber selbst im Moment ihrer Verwendung nicht beobachtet werden kann. Denn die benutzte Unterscheidung müsste, damit sie bezeichnet werden kann, wiederum die eine Seite einer weiteren Unterscheidung sein, die dann ebenfalls für sich selbst unbeobachtbar ist. Mit anderen Worten: Da das Beobachten die Unterscheidung, die sie verwendet, nicht selbst unterscheiden kann, muss sie diese „blind“ verwenden und nicht unterscheiden. Es kommt im Beobachten also fortlaufend zur Produktion von Latenz. Die Verwendung der Unterscheidung von Unterscheiden und Bezeichnen kann daher in der Beobachtung operativ nur als Einheit fungieren, nicht aber als Einheit 281
Diese Sinnsysteme können dann Sinn so gebrauchen, dass sie beobachten, dass es für andere Arten von Systemen, z. B. Maschinen oder Organismen, keinen Sinn gibt (so die Beobachtung von Luhmann 1984, 18), diese Systeme also auch nicht beobachten können.
4.1 Wissenschaftliches Beobachten
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beobachtet werden. Die Zusammenfassung der benutzten Unterscheidung zu einer Einheit verlangt eine weitere Beobachtung, die ihrerseits eine andere Unterscheidung benutzt als die beobachtete Unterscheidung. Dieses Beobachten des Beobachtens kann man nun von einem Beobachten einfacher Art mit Hilfe der Unterscheidung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung unterscheiden. Beobachtungen erster Ordnung sind insofern einfach, als sie eine Unterscheidung einfach als Schema benutzen, also nur eine Operation beobachten und sehen, dass etwas geschieht. Beobachtungen zweiter Ordnung beobachten eine Operation dagegen als Beobachtung. Sie sind Beobachtungen von Beobachtungen, müssen also beobachten, „(…) wie der beobachtete Beobachter beobachtet“ (Luhmann 1990e, 95; Hervorhebung auch im Original). Durch diese Umstellung des Beobachtens von Was-Fragen auf Wie-Fragen bringen Beobachtungen zweiter Ordnung Selbstreferenz und Kontingenz ins Spiel (Luhmann 2006, 98ff.). An dieser Stelle der differenzierungstheoretischen bzw. beobachtungstheoretischen Überlegungen kann man bereits einige wichtige Konsequenzen für eine systemtheoretische Epistemologie festhalten: Systeme/Beobachter erkennen die Welt, indem sie die unbeobachtete Ruhe stören und Unterscheidungen verwenden. Durch die Verwendung selbsterzeugter Unterscheidungen wird jede Beobachtung von Realität, sei es Fremd- oder Selbstbeobachtung, zur Beobachtung einer selbsterzeugten Welt, nämlich zur Beobachtung der Realität des beobachtenden Systems. Jedes operativ geschlossene Sinnsystem produziert also seine eigene Realität. Da das System im Moment des Unterscheidungsgebrauchs aber blind für sein eigenes Beobachten ist, liegt die Realität der Beobachtung in der Einheit der vom System benutzten Unterscheidungen. Um diese Blindheit sehen zu können, die Einheit der Unterscheidungen erkennen zu können, benötigt eine Beobachtung dieser Unterscheidung eine andere Unterscheidung, die ihrerseits blind für sich selbst ist. Jeder Beobachter kann daher nur dann einen Bezug zur Realität herstellen, wenn es Beobachter (sich selbst oder andere) beobachtet. Durch das Beobachten des Beobachtens wird außerdem sichtbar, dass immer auch anders unterschieden werden kann. So wird jede Erfahrung von Welt kontingent. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass diese Theorie des Erkennens mit der Ausgangsposition der Unterscheidung von „Beobachter“/„System“ und „Umwelt“ autologisch dazu zwingt, ihre Differenz zu anderen erkenntnistheoretischen Ansätzen zu beobachten. Die Kontingenz der ersten Unterscheidung (hier: System/Umwelt) darf nicht zu einer Unterschätzung der Tragweite der Entscheidung für eine bestimmte Erstunterscheidung führen, da sich alle folgenden Unterscheidungen an dieser ersten Festlegung orientieren. Diese Entscheidung bedeutet nämlich auch, dass klassische erkenntnistheoretische Unterscheidungen wie Subjekt/Objekt und Sein/Nichtsein ihren Stellenwert verlieren
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
und problematisiert werden können: Die objektivistische Erkenntnistheorie kann das Problem ihres Ansatzes nicht lösen, Objekte vollständig ohne Berücksichtigung der Umweltbeziehungen dieser Objekte beschreiben zu wollen. Die subjektivistische Erkenntnistheorie, die eine Mehrheit von subjektiven Perspektiven voraussetzt, kann hingegen auch durch das Wort „Intersubjektivität“ nicht plausibilisieren, wie ein Subjekt beobachten kann, wie andere Subjekte die Welt verstehen.282 Mangels Intersubjektivität kann der Subjektivismus auch nicht befriedigend beantworten, wie Objekte entstehen, die allen Subjekten identisch erscheinen. Mit dem Problem der Identifizierung kann auch die ontologische Unterscheidung von „Sein“ und „Nichtsein“ nicht umgehen, die eine seinsmäßige, beobachterunabhängige und in diesem Sinne ‚objektive Welt‘ voraussetzt, in der die Dinge sind, wie sie sind. Denn man kann sich streiten, was ist, was etwas ist und wie etwas ist. Meinungsverschiedenheiten existieren, und damit muss auch die Ontologie die Frage nach den Beobachtern ins Spiel bringen. Da für die Ontologie aber das Sein als einwertige Realität gegeben ist, so dass das Nichtsein nicht Sein sein kann und das Nichts nicht interessiert, überlässt sie es einem Beobachter, sich um das aus dem Sein ausgeschlossene Nichtsein zu kümmern und darauf bezogene ‚Irrtürmer‘ (blinde Flecken) zu erkennen. All diese Schwierigkeiten von Beobachtungen mit den Unterscheidungen von Subjekt/Objekt und Sein/Nichtsein können vermieden werden, sofern man diese möglichen Erstunterscheidungen durch die Ausgangsunterscheidung System/Umwelt ersetzt283 und Systeme dann als Beobachter beobachtende Systeme beobachtet, die zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden können. Statt sich beispielsweise um ‚intersubjektives Verstehen‘ zu kümmern, kann ein System dann eine Mehrheit von Beobachtern unterscheiden (inklusive oder exklusive sich selbst) und trotz dieser Differenz der Beobachter Übereinstimmungen in den Beobachtungen der unterschiedenen Systeme beobachten und dieses dann als soziale Realität bezeichnen. Diese beobachtete soziale Realität ist, wie jede andere Realität auch, aber immer die interne Realität des Systems, die nur durch eigene Operationen aufgebaut und abgebaut werden kann (Shotter 1990): Die Realitätsgarantie der Referenzen des Beobachtens liegt für jedes beobachtende System „(…) allein darin, daß verschiedene interne Operationen auf Grund interner Identitätskriterien zum selben Resultat führen (…)“ (Luhmann 1990e, 517; Hervorhebungen auch im Original). Diese fortlaufenden Konsistenzprüfungen des Systemgedächtnisses gewährleisten auch, dass ‚Einbil282
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Siehe aber für einen systemtheoretischen Reformulierungsversuch von „Intersubjektivität“ das Begriffsverständnis von Schneider 2008, 135ff. Wenn man mit der Beobachtung von Systemen in einer Umwelt begonnen hat, kann man natürlich beobachten, was ein System als Objekt oder Subjekt und als Sein und Nichtsein beobachtet.
4.1 Wissenschaftliches Beobachten
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dungen‘ und ‚Irrtürmer‘ des Systems erkannt werden können, nämlich dann, wenn Operationen des Systems auf den Widerstand anderer Operationen dieses Systems stoßen (Luhmann 1995a, 168f.). Die Annahmen, dass es keine von einem Beobachter unabhängige Realität zu entdecken gibt (wer sollte sie auch entdecken, wenn nicht ein Beobachter?) und die jeweilige Realität nur durch Unterscheidungsgebrauch innerhalb der Grenzen des operativ geschlossenen Systems produziert werden kann, bedeutet auch, dass die Außenwelt keine Anleitung gibt, mit welchen Unterscheidungen sie von welchen Systemen beobachtet wird. Die Außenwelt ist, wie sie ist, und informiert nicht über sich. Ein beobachtendes System ist kein durch Außenwelt kognitiv instruiertes System, sondern ein Außenwelt konstruierendes System. Die Konstruktion der Realität durch beobachtende Systeme bedeutet allerdings nicht, in einem solipsistischen Sinne die Realität einer Außenwelt zu bestreiten. Das Beobachten ‚begründet‘ seine Realität selbst, indem das Beobachten durch den Zirkel des Beobachtens des Beobachtens auf sich selbst verweist. Man kann beobachten, dass jedes Beobachten beobachtet werden kann, und dies belegt, dass Beobachten immer eine empirische Operation in einer realen Welt ist. Und wenn man sich als beobachtendes und beobachtetes System-in-einerUmwelt beobachtet, erkennt man schnell, dass in der eigenen Umwelt solche Systeme beobachtet werden können, für die dasselbe gilt. Jedes beobachtende System kann sich und andere in der Welt dabei beobachten, wie es sich und andere in der Welt beobachtet. Wenn jedes System durch einen eigenen Unterscheidungsgebrauch im Beobachten von Beobachtungen eine eigene Sicht der Welt erschafft, dann sind definitive und vollständige Weltdarstellungen ebenso ausgeschlossen wie ein privilegierter Beobachtungsposten eines Beobachters, und dies schließt – um es vorwegzunehmen – die Wissenschaft ein, so dass ein Besserwissen wissenschaftlicher Beobachter erkenntnistheoretisch entfällt. Beobachten ist keine exklusiv wissenschaftliche Operation, und auch Erkennen ist nicht der Forschung vorbehalten. Erkenntnisse sind Beobachtungen, die Redundanzen des Beobachtens erzeugen, also systeminterne Beschränkungen des Beobachtens produzieren mit der Folge, dass die erneute Benutzung der Erkenntnisse wahrscheinlicher ist, als die Verwendung anderer Beobachtungen. Erkennen ist demnach allen Sinnsystemen möglich. Ein Erkennen, das an eine Theorie des Erkennens anschließt, ist dagegen nur im Wissenschaftssystem möglich. Die spezifische Funktion, die nur die Wissenschaft für die Gesellschaft erfüllen kann, lässt sich als das Gewinnen neuer Erkenntnisse in der Form der Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens beschreiben (Luhmann 1990e, 328ff., 355). Dies geschieht durch die Orientierung aller wissenschaftlichen Operationen an der Unterscheidung wahr/
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
unwahr. Diese operationsleitende Differenz der Wissenschaft ist ihr binärer Code, mit dem sich die Wissenschaft zur Selbstreferenz zwingt und sich von allen anderen Systemen unterscheidet. Die binäre Codierung ermöglicht es der Wissenschaft, alles in der Welt nach Maßgabe von Wahrheit oder Unwahrheit zu beobachten – selbstverständlich auch sich selbst. Daher kann Erkenntnistheorie wissenschaftssoziologisch als Reflexionstheorie eines Funktionssystems für Wissenschaft betrachtet werden (Luhmann 1990e, 699f; 1990b, 54; 1984, 380f., 647). Die Beobachtung der Einheit der Unterscheidung wahr/unwahr und die Anwendung dieser Codewerte auf sich selbst führen zu Paradoxien, die wissenschaftliches Operieren blockieren, so zum Beispiel der Satz „Diese Aussage ist unwahr“. Daher muss das System sich selbst Regeln geben, mit denen es sich instruieren kann, wie es über Wahrheiten und Unwahrheiten richtig oder falsch urteilt. Die Regulierung der richtigen oder falschen Zuteilung von Erkenntnissen zum Wahrheitswert und zum Unwahrheitswert erfolgt durch Programme, die das Wissenschaftssystem als Theorien und Methoden unterscheidet. Als Programme des Forschens bestimmen Theorien und Methoden die Bedingungen der Richtigkeit der Entscheidung über wahr und unwahr. Durch diese Konditionierung der Wissenschaft wird ausgeschlossen, dass die Verteilung von Wahrheiten und Unwahrheiten beliebig bzw. willkürlich durchgeführt werden kann. Die Kontingenz der im wissenschaftlichen Beobachten benutzten Unterscheidungen wird dadurch nicht beseitigt. Theorien und Methoden gewährleisten nur, dass mit Kontingenz nicht beliebig umgegangen werden kann. Denn indem Theorien und Methoden das Beobachten programmieren, strukturieren sie das Wissenschaftssystem: Die bereits etablierten Theorien und Methoden verlangen an sie anschließende Operationen, und sie schränken ein, was im System zukünftig noch möglich ist. Die Wissenschaft disponiert also über Wahrheiten und Unwahrheiten nicht willkürlich, sondern knüpft für richtiges Entscheiden immer an die eigene Selektionsgeschichte an: „Das System kann nur operieren, wenn es als strukturdeterminiertes System operiert“ (Luhmann 1990e, 326). Und daher orientiert sich Wissenschaft für den Gewinn von neuen Erkenntnissen an den jeweils verfügbaren, in der eigenen Vergangenheit genutzten theoretischen oder methodischen Programmen – dem aktuellen Stand der Forschung. Dass die Beschränkungen durch die bislang in der Wissenschaft verwendeten theoretischen und methodischen Programme nicht zu unwiderruflich und ewig akzeptierten Bedingungen des Forschens führen, wird insbesondere durch die Doppelung der Programmierung gewährleistet. Denn Theorien und Methoden können sich wechselseitig in Frage stellen und von der jeweils anderen Seite aus gewählt werden: Wenn sich alte Theorien bei ihrer methodischen Überprüfung nicht bewähren, können diese verworfen und neue Theorien konstruiert
4.1 Wissenschaftliches Beobachten
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werden. Und wenn zur Überprüfung von Theorien bestimmte Methoden benutzt werden, dann kann man zwischen verschiedenen Methoden wählen, diese verbessern und die Ergiebigkeit ihres Einsatzes mit Hilfe von Theorien plausibilisieren oder bezweifeln. „Theorien und Methoden können ganz und gar kontingent angesetzt werden, und strikt erforderlich ist nur, daß in jeder Situation eine Verknüpfung von Theorien und Methoden hergestellt wird“ (Luhmann 1990e, 404). Indem sich theoretische und methodische Programme gegenseitig stabilisieren und destabilisieren können, sorgt das Wissenschaftssystem für eine Kombination von Anschlussfähigkeit an alte Erkenntnisse und Ergiebigkeit im Hinblick auf Neues. Das System setzt beides in Konkurrenz, ohne dass es dabei eine Präferenz für Bewährtes oder Innovatives entwickeln würde. Damit sind Vorteile der Doppelprogrammierung des Wissenschaftssystems durch Theorien und Methoden beschrieben, jedoch nicht, wie sich die beiden Forschungsprogramme unterscheiden. Die systemtheoretische Wissenschaftssoziologie schlägt vor, theoretische und methodische Programme anhand der Form ihrer Konditionierung wissenschaftlicher Operationen zu differenzieren. Theorien konditionieren insofern asymmetrisch, als sie stets auf etwas Externes referieren, also immer auf etwas Anderes als sich selbst Bezug nehmen: Theorien produzieren hierfür komplexe Beschreibungen, sie formulieren mit Hilfe von Begriffen (im Unterschied zu Worten) Aussagen in Gestalt von Sätzen. Ihre Asymmetrisierungsfunktion erfüllen Theorien auch für den Fall, dass die Wissenschaft sich per Wissenschaftstheorie und Methodologie (also Methodentheorie) selbst thematisiert. Denn bei der Formulierung von wissenschaftlichen Aussagen über Wissenschaft kommt es zum re-entry, so dass etwa theoretische Sätze über Theorien nicht sich selbst meinen, sondern Theorien als von sich aus gesehen Äußeres behandeln. Die Wissenschaft muss sich nur selbstreferentielle Aussagen verbieten: „Dieser Satz ist ein guter Satz!“ – diese Behauptung darf man wissenschaftlich ignorieren. Im Unterschied zur Asymmetrisierungsfunktion von Theorien leisten Methoden eine symmetrische Konditionierung, indem sie Bedingungen für wissenschaftliche Beobachtungen festlegen, die Entscheidungen zwischen Wahrheit und Unwahrheit ermöglichen. Hierfür verlangen methodische Programme einerseits ein schrittweises Vorgehen, das, je nach benutzter Methodologie, starre Sequenzen oder Modifizierungen vorsieht. Anderseits ist für die Verteilung der wissenschaftlichen Code-Werte eine Mischung aus Beobachtungen erster und zweiter Ordnung notwendig: Die unmittelbaren kognitiven Operationen des Systems, die einfachen Direktbeobachtungen, werden durch andere Beobachtungen zweiter Ordnung methodisch kontrolliert. Welche Methoden angewandt werden, erfordert aber Entscheidungen, die nicht durch die Methode selbst vorgegeben werden. So müssen die genutzten Methoden sowohl zum theoretischen
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
Vorhaben als auch zu den konkreten Bedingungen des Forschungsprojekts (Machbarkeit im Rahmen der verfügbaren Ressourcen) passen. Wie bereits notiert, garantiert die Unterscheidbarkeit von Theorien und Methoden der Wissenschaft fortlaufend, dass jedes vorhandene Forschungsprogramm ausgewechselt oder stabilisiert werden kann. Da wissenschaftliche Erkenntnisse sich sowohl theoretisch als auch methodisch ausweisen müssen, verlangt das System nicht nur eine Trennung, sondern auch eine Kopplung seiner beiden Programmtypen. Dem widerspricht nicht, dass Forschungsprojekte sich schwerpunktmäßig auf Theorien oder Methoden fokussieren können. Für das Wissenschaftssystem kommt es nur darauf an, dass beide Arten von Programmen genutzt werden. Die Verbindung von Theorien und Methoden wird durch das methodologische Postulat der Überprüfbarkeit (inklusive der Anforderung der Replizierbarkeit von Forschungsergebnissen) sichergestellt. Dieses Postulat bezieht sich aber lediglich darauf, dass überhaupt eine Prüfung wissenschaftlicher Aussagen stattfindet, benennt aber nicht die dafür zu nutzenden Methoden. Dass überprüft werden soll, gibt keine Auskunft darüber, wie überprüft werden soll. Es bleibt also bei der doppelten Kontingenz der beiden Programme: „Man muss nur bei der Wahl der Methoden wissen, was das theoretische Forschungsprogramm ist, und umgekehrt auf die Methode, die man benutzt, Bezug nehmen, wenn es um die Feststellung geht, ob sich die Theorie bewährt hat oder nicht“ (Luhmann 1990e, 404). Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass die durch das Postulat der Überprüfbarkeit garantierte Verknüpfung von Theorien und Methoden und das Realitätsverständnis der konstruktivistischen Erkenntnistheorie es nicht zulassen, wissenschaftliche Beobachtungen anhand der Unterscheidung von Theorie und Empirie zu beobachten. Sowohl theoretische als auch methodische Operationen der Wissenschaft haben durch das Beobachten von Beobachtungen immer einen Zugang zur Realität, und sie sind ihrerseits immer als empirische Operation in einer Realität beobachtbar. Daher kann es bei Forschung nicht darum gehen, dass theoretische Hypothesen empirisch überprüft werden. Vielmehr konditionieren sich Theorien und Methoden wechselseitig, und durch dieses kontrollierende und steuernde Aufeinanderangewiesensein der Programme kann sich Forschung selbst überprüfen. 4.2 Systemtheoretische Forschungskriterien Wie lassen sich nun im Anschluss an die skizzierte Epistemologie der modernen systemtheoretischen Soziologie solche Kriterien gewinnen, die der Spezifizierung der eigenen Forschungspraxis Anleitung bieten? Um hier zu Entscheidun-
4.2 Systemtheoretische Forschungskriterien
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gen zu kommen, hilft es, sich daran zu erinnern, dass man sich in einem strukturdeterminierten System bewegt und ein Blick in die Systemgeschichte geboten ist, genauer: der Blick in die Resultate desjenigen Forschungsstrangs, an den das eigene Projekt anknüpfen soll. Die eigene Ausgangsselektion, die Entscheidung für die Nutzung der soziologischen Systemtheorie der Bielefelder Schule, hat in dem hier vorgetragenen Aussagezusammenhang weitreichende Konsequenzen für das theoretische und methodische Vorgehen. Das Forschungsprogramm der modernen Systemtheorie hat in den letzten Jahrzehnten eigene Orientierungspunkte, Präferenzen und Qualitätsanforderungen entwickelt. Einige Kriterien möchte ich im Folgenden kurz benennen. (1) Die konstruktivistische Erkenntnistheorie der Systemtheorie bietet basalen wissenschaftlichen Erkenntnissen kein Fundament, keine Begründungen und keine zusätzlich absichernde Gewissheit. Als „Fixpunkt“ des Erkennens kann sich vielmehr nur Kontingenz ergeben (Luhmann 1993c, 258). Indem die systemtheoretische Erkenntnistheorie die Kontingenz theoretischer und methodischer Entscheidungen beobachtet und beschreibt, reflektiert sie die Unsicherheit der Forschungsoperationen. Im Gegensatz dazu präsentiert die basal operierende Wissenschaft ihre Ergebnisse normalerweise als begründbare, nachgewiesene und gesicherte Erkenntnisse. Ihr kommt es darauf an, in der Darstellung von Forschungsresultaten die Gewissheit des gewonnenen Wissens zu versichern. Insofern liegt es nahe, wenn sich systemtheoretische Forschung im Sinne ihrer Anschlussfähigkeit sowohl an Konventionen wissenschaftlicher Präsentationen als auch an konstruktivistischer Erkenntnistheorie orientiert. Die Unsicherheit bei der Herstellung des Wissens, die Kontingenz der gewählten Unterscheidungen und die Hypothetik aller wissenschaftlichen Aussagen wird dann nicht weitgehend ausgeblendet, sondern möglichst transparent in die Darstellung der Forschung einbezogen (Luhmann 1990e, 433; 1997a, 43). (2) Die Wissenschaft hat sich in der Gesellschaft als ein System ausdifferenziert, dass anhand etablierter Einrichtungen (beispielsweise: freie wissenschaftliche Themenwahl, wenig Zeitdruck für Forschung) den Aufbau eigener Komplexität wahrscheinlicher und schneller werden lässt. Mit zunehmender Eigenkomplexität wird auch das komplexer, was die Wissenschaft als ihre Umwelt beobachten und mit ihren Theorien und Methoden beleuchten und erheben kann (Luhmann 1990e, 365). Aufgrund dieses fortschreitenden Auflösevermögens kann es für die Wissenschaft nichts Einfaches mehr geben (…auch Atome lassen sich zerkleinern). Stattdessen wird Komplexität von solchen Größenordnungen unterschieden, in denen eine vollständige Verknüpfung aller Elemente möglich ist. Da Komplexität darüber hinausgeht, zwingt sie zur Selektion der Verknüpfung von Elementen, so dass Strukturen entstehen, die voneinander
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
verschieden sind. Daher bietet es sich für Forschung an, solche Programme zu konstruieren, die es ermöglichen, eine Vergleichbarkeit ungleicher Strukturen zu erzeugen. Die besondere Qualität einer Theorie ist dann darin zu sehen, dass es ihr gelingt, auch auf den ersten Blick völlig Verschiedenes (Unvergleichliches?!) vergleichbar zu machen (Luhmann 1990e, 408). Dies wiederum spricht dafür, einen hohen Abstraktionsgrad von Theorien zu verlangen. Ein weiterer Aspekt wissenschaftlicher Komplexitätsbeobachtung ist ein selbsterzeugtes Komplexitätsgefälle im Verhältnis zur Umwelt: Im systemintern durchgeführten Vergleich der Systemkomplexität und der Umweltkomplexität betrachtet sich die Wissenschaft gegenüber ihrer Umwelt als komplexitätsunterlegen. In Bezug auf die Verbesserung von Wahrheitschancen hat die systemtheoretische Wissenschaftssoziologie daher ein Komplexitätskriterium konstruiert: Da die Eigenkomplexität des Wissenschaftssystems die fehlende Möglichkeit eines operativen Zugriffs auf die Umwelt kompensieren muss, sollten hochkomplexe Wissenskonstruktionen präferiert werden, da sie über eine höhere Resonanz verfügen und es somit erleichtern, umweltangepasst zu forschen (Luhmann 1990e, 371, 373). (3) Die Systemtheorie bindet sich nicht an Beobachtungsweisen, die in Funktionssystemen oder in einem Alltagsverständnis üblich sind. Sie ist keine „nette, kooperationsbereite Theorie“ (Luhmann 1984, 537), die auf wissenschaftsexterne Tauglichkeit Rücksicht nimmt, sondern orientiert sich an der Funktion der Forschung in der Gesellschaft, eine auflösestärkere wissenschaftliche Eigenwelt zu schaffen. Dabei stellt die Systemtheorie besondere Anforderungen an die Genauigkeit und den Abstraktionsgrad der von ihr konstruierten Begriffe. Die für eine Theorie produzierten Begriffe müssen Vieldeutigkeit reduzieren und die zur Bezeichnung eines Sachverhalts benutzten Unterscheidungen präzisieren. Dies geschieht, indem Begriffe bei ihrer Bildung diejenige Unterscheidungsseite im Griff halten, die sie nicht bezeichnen (Luhmann 1990e, 385). Dabei sollen die Begriffe solche Unterscheidungen verwenden, die einen reentry erlauben, also den Wiedereintritt einer Unterscheidung in sich selbst durch rekursive Anwendung des Unterschiedenen auf sich selbst (Luhmann 1990e, 379f.). Außerdem sollen Begriffe in der Lage sein, möglichst viele heterogene Sachverhalte zu erfassen, um Vergleiche des Verschiedenen zu gewährleisten. Im Hinblick auf das hierfür erforderliche Abstraktionspotenzial müssen Begriffe daher in Bezug zu anderen Begriffen gesetzt werden, so dass im wechselseitigen begrifflichen Interpretieren und Konkretisieren ein Eigenkontext der Begriffe entsteht, der es erlaubt, dass die Bedeutung der Begriffe relativ situations- und kontextunabhängig verstanden werden kann. Dieser Anspruch an die Begrifflichkeit der Systemtheorie verspricht hohe theoretische Komplexität, und er lässt es notwendig werden, Reformulierungen im Hinblick auf tradierte Begriffe oder
4.2 Systemtheoretische Forschungskriterien
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Begriffsverständnisse anderer Theorien durchzuführen, sofern diese Begriffe in der Systemtheorie genutzt werden sollen (Luhmann 1981c, 198; 1990e, 410f.; 1993c, 258). (4) Die Erkenntnistheorie der Systemtheorie beschreibt Methoden des Forschens als schrittweises Vorgehen mit dem Ziel, bestimmte Aussagen als wahr oder unwahr bezeichnen zu können. Sie präferiert dabei ein zirkuläres Verständnis methodischer Sequenzen (Luhmann 1990e, 418). Im Unterschied zur deduktiven Methodik gibt es in einem solchen kybernetischen Methodenverständnis mangels externer Validierbarkeit keine unbezweifelbar gesicherten Positionen. Vielmehr ist die Ausgangsposition jedes methodischen Schritts zu jeder Zeit kritisierbar und revidierbar. Die methodische Disposition über Wahrheiten und Unwahrheiten wird somit zu einer fortlaufenden Praxis der kontrollierenden Revision und des gesteuerten, sich selbst überraschenden Voranschreitens. (5) Es wäre für Forschung wenig spannend, sich damit zu begnügen, Kontingenz sichtbar zu machen und zu zeigen, was alles möglich ist. Denn „(…) alles ist möglich, aber Zusammenhänge stellen sich nur unter bestimmten Bedingungen her“ (Luhmann 1990e, 396). Systemtheoretische Forschung fragt (mit Kant) daher nach den Bedingungen der Möglichkeit (Luhmann 1997a, 127), also wie es zur Auswahl und Stabilisierung einer bestimmten Möglichkeit aus unzähligen anderen Möglichkeiten und damit zur Beschränkung von Kontingenz kommt. Anders formuliert: Das systemtheoretische Erkenntnisinteresse liegt in der „Normalisierung des Unwahrscheinlichen“ (Luhmann 1984, 537). Dieses Aussortieren von Möglichkeiten in Form der Transformation des Unwahrscheinlichen in Wahrscheinliches erfolgt durch Konditionierungen, das heißt durch Selektionen, die Bedingungen festlegen, unter denen andere Selektionen erfolgen können. Wie diese Einschränkung von Kontingenz vollzogen wird, kann man beobachten: In der Verkettung der Ereignisse zeigt sich, was (noch) möglich ist (Nassehi 2008, 92). Konditionierungen regeln durch Ausschluss anderer Möglichkeiten Zusammenhänge in ihrem Verhältnis zueinander, schaffen also Zusammenhänge zwischen Zusammenhängen. Durch die hierfür notwendige Selektion entsteht eine Ungleichheit der ausgewählten Möglichkeit im Vergleich zu zahllosen anderen Möglichkeiten. Die systemtheoretische Forschung betrachtet es nun als ein Erkenntnisgewinn versprechendes Unterfangen, zu versuchen, eine Vergleichbarkeit verschiedenartiger Möglichkeiten trotz ihrer Ungleichheit zu garantieren. Sie konstruiert daher als Kriterium ihrer Leistungsfähigkeit (ihres Komplexitätspotenzials), diese Vergleichbarkeitsgarantie auch bei extremer Heterogenität der beobachteten Strukturen einzuhalten (Luhmann 1997a, 42). Hierfür nutzt sie die bereits im Abschnitt 3.2 vorgestellte Methode des funktionalen Vergleichs, die
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
theoretische Aussagen in die Leitunterscheidung von Problem und Problemlösung transformiert. Das Postulat des Vergleichs des möglichst Heterogenen hat nun methodologisch nicht die Konsequenz, dass die Problemstellung möglichst abstrakt konstruiert werden muss. Die Abstraktion des Bezugsproblems des funktionalen Vergleichs muss nur so weit gehen, wie es erforderlich ist, funktional äquivalente Lösungsvarianten für das markierte Problem zu finden (Luhmann 1990e, 424f.). In diesem Zusammenhang sei abschließend angemerkt, dass das markierte Problem immer ein vom wissenschaftlichen Beobachter konstruiertes Problem ist, selbst wenn er mit seiner Problemkonstruktion eine Problemkonstruktion des von ihm beobachteten Systems rekonstruiert (reproblematisiert). Dies bedeutet weiterhin, dass das markierte Bezugsproblem nur im Rahmen eines methodischen Schritts der funktionalen Methode fixiert wird. Probleme und Lösungen sind theoretisch immer kontingent, aber sobald die Methode ihr Problem gefunden hat und nach funktional äquivalenten Problemlösungen sucht, macht sie sich in Bezug auf die Kontingenz der Problemauswahl blind. (6) Systemtheoretische Forschung, die sich für beobachtende Systeme interessiert, diszipliniert ihren Erkenntnisgewinn im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung. Sie beobachtet, dass nur das Beobachten anderer Beobachter einen Zugang zur Realität garantiert, und zwar, indem der „blinde Fleck“ der vom beobachteten Beobachter benutzten Unterscheidung beobachtet wird. Daher interessiert sich (beobachtungstheoretisch angeleitete) Forschung weitgehend für die nichtbezeichnete andere Seite des Unterschiedenen (Nassehi/Saake 2002, 70). Es geht also darum, zu beschreiben, wovon das Bezeichnete unterschieden wird, also das Unsichtbare des Beobachtens sichtbar zu machen (Luhmann 1990e, 384). Entsprechende Konsequenzen für eine wissenschaftliche Begriffsbildung habe ich bereits oben genannt. Methodisch erfordert das Beobachten des Unbeobachteten dann beispielsweise für die Beobachtung mündlicher Kommunikation, auch das mitzuerheben, was nicht gesagt wird (Luhmann 1997a, 38). Dabei können die für das wissenschaftliche Beobachten des Unbeobachteten verwendeten Unterscheidungen kongruent oder inkongruent zu den beobachteten Unterscheidungen gewählt werden (Schneider 2008, 146). Eine weitere epistemologische Konsequenz operativer Geschlossenheit und des Beobachtens des eigenen Beobachtens als Beobachten zweiter Ordnung ist darin zu sehen, dass Ansprüche an eine Vollständigkeit wissenschaftlicher Beschreibungen aufgegeben werden müssen. Die eigenen Blindheiten wissenschaftlicher Unterscheidungen und die operative Geschlossenheit sowohl des beobachteten wie des beobachtenden Systems lassen eine vollständige Erfassung unmöglich werden.
4.2 Systemtheoretische Forschungskriterien
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(7) Die soziologische Systemtheorie interessiert sich für das Beobachten sozialer Systeme, die sie als sich selbst beobachtende Systeme beobachtet. Die Grundoperation dieser Systeme ist Kommunikation. Ein systemtheoretisch angeleiteter soziologischer Beobachter beschränkt demnach sein Erkenntnisinteresse auf die Beobachtung von Kommunikation. Die Systemtheorie versteht Kommunikation als Synthese der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen. Da das Verstehen der Kommunikation sich als das Verstehen des Unterschieds von Information und Mitteilung in einer anschließenden Mitteilung artikuliert, wird Kommunikation erst durch eine Folgeäußerung beobachtbar. Kommunikation verwirklicht sich also nur durch eine im Verstehen anschließende Einheit von Mitteilung, Information und (weiterem) Verstehen. Die Entstehung von Kommunikation verlangt damit – nochmals anders formuliert – also mindestens eine Sequenz von zwei Ereignissen: Das zweite Ereignis des Verstehens beobachtet das erste Ereignis als den Unterschied von Information und Mitteilung und nutzt für diese Beobachtung, als Anschlusskommunikation, operativ selbst diese Unterscheidung (Schneider 2008, 132). Nur durch Verstehen wird also sichtbar, dass Kommunikation überhaupt zustande gekommen ist, und nur Verstehen zeigt, welche Sinngehalte in der Kommunikation aktuell gewählt und welche Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Daraus folgt nicht, dass die letzte Äußerung in einer Episode (‚Bis bald!‘) oder ein hypothetisch vorgestelltes Ende von Kommunikation ohne Sinn bliebe: Die Kommunikation stoppt eine unendliche Verschiebung von Sinngebungen indem sie sich selbst durch Vorgriffe und Rückgriffe auf andere Sinngebungen strukturiert (Schneider 2008, 132ff.). Strukturen in Form von Erinnerungen und Erwartungen ermöglichen es der Kommunikation, eine Verbindung zwischen Ereignissen herzustellen, und zwar dadurch, dass in jedem Moment Sinnselektionen prospektiv (als Entwurf und Einschränkung von Anschlussmöglichkeiten) und retrospektiv (als sinngebende Auswahl aus dem Möglichkeitsraum bereits entworfener Selektionsalternativen) verschränkt werden (Luhmann 1984, 392f, 604f.; Schneider 2008, 134). Somit kommt es für die systemtheoretisch angeleitete Beobachtung von Kommunikation darauf an, die spezifische Selektivität des ereignishaften Anschließens zu erfassen, und das heißt: den kontingenten, aber nichtbeliebig strukturierten Zusammenhang kommunikativer Ereignisse zu beobachten. Es müssen dann diejenigen Unterscheidungen, die als gewählte Bedeutungsmöglichkeiten genutzt werden und die die Verknüpfung von Ereignissen in der beobachteten Kommunikation als Eindeutigkeiten oder Mehrdeutigkeiten strukturieren, vor dem Hintergrund ebenfalls zu erwartender, aber nicht gewählter Anschlussalternativen beobachtet werden. Ob nun mündliche Texte, Schriftstücke oder nichtsprachlich geformte Kommunikationsepisoden – immer geht es darum, diese als
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
an Stelle von anderen möglichen Sinngebungen aktualisierte Selektionen in einer Sequenz zusammenhängender kommunikativer Ereignisse zu beobachten. Im Hinblick auf die methodische Kontrolle eines auf diese Weise beschriebenen wissenschaftlichen Verstehens von Kommunikation kann man methodologisch zunächst abstrakt auf den richtigen Mix aus methodischen Beobachtungen erster und zweiter Ordnung hinweisen (Luhmann 1990e, 414; Bora 1997, 241): Die Direktbeobachtungen von Kommunikation werden durch Beobachtungen zweiter Ordnung beobachtet, die sich der zeitlichen Unmittelbarkeit der Beobachtungen erster Ordnung entledigen und das in ihnen protokollierte eigene Verstehen der beobachteten Kommunikation in einen Vergleich mit alternativen wissenschaftlichen Anschlussselektionen überführt. Man kann es dann bei der „(…) Einsicht in die epistemologische Verschlingung von Forschung und Gegenstand sowie Folgenabschätzung von Begriffs- und Unterscheidungsumstellungen (…)“ (Nassehi/Saake 2002, 81) bewenden lassen. Oder man fordert, dass die Zweitbeobachtung sowohl ausreichende Komplexität erreichen als auch in sich konsistent erscheinen und in diesem Sinne „sachhaltig“ sein sollte (Bora 1997). Ob dieses Ausbalancieren von Komplexität und Konsistenz gelingt, verrät freilich nur wissenschaftliche Anschlusskommunikation. Bezüglich der methodischen Präferenzen soziologischer Systemtheorie ist in den letzten Jahren wiederholt plausibel auf die Nähe von moderner soziologischer Kommunikationstheorie und hermeneutischen und/oder konversationsanalytischen Verfahren hingewiesen worden (Schneider 2004, 2008; Nassehi 1997; 2008; Bora 1997). Diese Affinität ändert aber nichts an der Kontingenz der Methodenwahl, also an der Möglichkeit konstruktivistisch und wissenschaftssoziologisch informierter Forschung, an alle wissenschaftlich etablierten Methoden anzuschließen (Loosen/ Scholl/Woelke 2002; Moser 2004, 16; Bora 1997, 228). Solche Anschlüsse erfordern allerdings für die konventionellen Methoden der Sozialwissenschaften, die oft handlungstheoretisch, sozialpsychologisch oder kausalanalytisch formuliert sind, methodologische Reformulierungen, während methodisch das Umschreiben herkömmlicher Methoden in einem kleinen Rahmen gehalten werden kann (Loosen 2004, 95). (8) Ein soziologischer Beobachter beobachtet andere Beobachter, die im Modus von Kommunikation beobachten, und er kann in seinem Erkennen sich dabei beobachten, wie er zur Herstellung und Darstellung seiner Beobachtungen selbst im Modus von Kommunikation operiert. Und das bedeutet methodologisch: Es geht um „Observing Systems“ (von Foerster 1984) – und zwar in der bekannten Doppelsinnigkeit. Wenn der systemtheoretische Beobachter sein Beobachten von Beobachtungen auf einer Ebene dritter Ordnung als Beobachtungen im Wissenschaftssystem beobachtet, kann er sehen, dass seine Erkenntnisgewinne zwar kausal auch Wahrnehmen und Nachdenken erfordern, die Er-
4.2 Systemtheoretische Forschungskriterien
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kenntnisse aber nur dann als wissenschaftliche Operationen anerkannt werden können, wenn sie im Wissenschaftssystem kommuniziert werden. Auf zwei Konsequenzen dieser Selbstbeobachtung für die Kriterien systemtheoretischen Beobachtens möchte ich kurz hinweisen: Dass wissenschaftliches Beobachten als Kommunikation und Kommunikation als Verknüpfung von Information, Mitteilung und Verstehen zu verstehen ist, legt es erstens nahe, wissenschaftliches Beobachten nicht als „Erklären“ oder „Interpretieren“ von Kommunikation zu beschreiben, sondern als an die beobachtete Kommunikation anschließendes „Verstehen“.284 Mit dieser Präferenz für Verstehen wird zum einen bereits begrifflich eine methodologische Abgrenzung zur soziologischen Tradition des erklärenden, deduktiv-nomologischen Paradigmas verdeutlicht (Nassehi 1997, 135), zum anderen wird dadurch die mit dem Begriff der Interpretation möglicherweise konnotierte Vorstellung vermieden, man könne den Sinn eines Textes vollständig erfassen (Gumbrecht 1995, 175). Zweitens sind die Bedingungen für die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Forschungserkenntnissen zu berücksichtigen. Forschungsresultate werden im Wissenschaftssystem durch anschließende Kommunikation abgelehnt oder akzeptiert. Wie bereits dargestellt, beruht die Verbesserung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit von Kommunikation mit Referenz auf das Wahrheitsmedium auf einer Zurechnungskonstellation, in der Alter und Ego in ihrem Erleben übereinstimmen. Daraus kann man im Hinblick auf soziale (wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche) Qualitätskriterien für Forschung schließen, dass die Herstellung des Wissens in der Darstellung des Wissens auf eine Weise die Entscheidungen Alters transparent und nachvollziehbar macht, dass Ego motiviert wird, sein Erleben an dem von Alter konstruierten Erleben zu orientieren.285 Damit ist das soziale Dilemma für die Darstellung konstruktivistisch informierter Forschung bereits formuliert. Der Gebrauch des Wahrheitsmediums verlangt eine Stilisierung der Kommunikation als Erleben: Das, was als Wahrheit angeboten wird, darf also nicht auf das Handeln eines Beobachters zurückführbar sein. Die Ergebnisse des Forschens müssen dann so dargestellt werden, als ob sie als etwas vom wissenschaftlichen Beobachter Externes, von seinen Entscheidungen Unabhängiges gegeben wären, also nicht sein eigenes Konstrukt wären. Ebenso wie beim Umgang des Forschens mit der allgegenwärtigen Kontingenz kommt es wohl auch unter dem Aspekt der Zurechnungskonstellation des Wahrheitsmediums auf ein Ausbalancieren des Verhältnisses von konstruktivistischer Er284
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Eine Alternative zu dieser Präferenz wären hier wieder begriffliche Reformulierungen, so dass man etwa „Erklärungen“ als Kombination von Aussagen zu Theorieprogrammen (Luhmann 1990e, 410f.) versteht. Es sei daran erinnert, dass die übliche Konstruktion der ‚Richtung‘ von Kommunikation, nämlich von Ego zu Alter, in der systemtheoretischen Kommunikationstheorie umgekehrt wird.
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4. Erkenntnistheoretische Nach- und Vorbemerkungen
kenntnisdarstellung und konventionellen wissenschaftlichen Präsentationen an, und das bedeutet: die neueren epistemologischen Einsichten der modernen Systemtheorie mit traditionellen wissenschaftlichen Darstellungsformen anschlussfähig in Einklang zu bringen. Es kann dann methodologisch beispielsweise durchaus geboten sein, sich für Methoden in gewissen Maßen soziologische und erkenntnistheoretische Blindheiten zu verordnen, so dass man im methodischen Beobachten etwa ‚naiv‘ annimmt, die beobachtete soziale Praxis „ganz aus sich selbst heraus“ zu verstehen (Nassehi 2008, 101). Dass nun allerdings mit der zuletzt genannten Option für systemtheoretische Beobachtungen kein wissenschaftliches Verdoppeln der Selbstbeobachtung von Systemen gemeint ist (Luhmann 1984, 88), ergibt sich schon aus dem Postulat an wissenschaftliches Beobachten, die nichtbezeichnete Seite der in der beobachteten Kommunikation genutzten Unterscheidungen sichtbar werden zu lassen.
5. Bedingungen der Akzeptanz des Neuen Kommunalen Finanzmanagements (NKF) in der Stadt X
Die im Kapitel 3 als Hypothesen hervorgehobenen theoretischen Aussagen sollen im Folgenden methodisch geprüft werden. Die diese Forschung anleitende Frage lautet: Welche Lösungen erzeugen Organisationen im Hinblick auf das Problem der Reformakzeptanz? Alternativ kann man, wenn eine evolutionäre Perspektive hervorgehoben werden soll, auch formulieren: Als Folge welcher Selektionen wird die Akzeptanz von Reform wahrscheinlich? In einem ersten Schritt des methodischen Programms (5.1) möchte ich die Auswahl von Untersuchungsstrategie und Methoden erläutern. Anschließend (5.2) werde ich meine Konstruktion des Falls der reformierenden Organisation „Stadt X“ im Kontext des Reformdiskurses „Neues Kommunales Finanzmanagement“ vorstellen. Es folgt (5.3) eine kurze Darstellung, wie die methodische Beobachtung des Falls von der beobachteten Organisation konditioniert wurde. Ich beschreibe dann (5.4) mein Vorgehen bei der Direktbeobachtung (Datenerhebung) schriftlicher und mündlicher Texte mit Hilfe standardisierter, teilstandardisierter und offener Methoden. Schließlich (5.5) stelle ich die an den oben formulierten Hypothesen orientierten Zweitbeobachtungen (Datenanalysen) vor, die ich als „Ergebnisse der Fallstudie“ bezeichne. 5.1 Rekonstruktion der Untersuchungsstrategie und der Methodenselektion Ausgangsposition für die Auswahl von Methoden soll das Ziel sein, die eigenen methodischen Beobachtungen in einen kontrollierenden Zusammenhang mit den oben formulierten Hypothesen zu bringen. Wie bereits notiert, schließen diese Hypothesen insbesondere auch an die von Nils Brunsson geprägte Soziologie reformierender Organisationen an. In der Zusammenfassung seiner neuesten reformsoziologischen Studien beschreibt Brunsson, dass er die Forschungsfrage nach den Reformhoffnung stabilisierenden Mechanismen anhand der methodischen Beobachtung von mehreren Reformen und mehreren Organisation unter-
C. P. Kleidat, Bedingungen der Akzeptanz von Reform, DOI 10.1007/978-3-531-93088-6_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
sucht hat (Brunsson 2006, 52ff.). Die Beobachtung einer Mehrheit von Organisationen und Reformen wird dabei so organisiert, dass jeweils ein Reformtyp in einer oder mehreren Organisationen betrachtet und diese verschiedenen Organisationen und Reformen miteinander im Hinblick auf gleiche Mechanismen der Stabilisierung von Reformhoffnung verglichen werden. Auch wenn explizite Angaben zur Methodologie in Brunssons Studien spärlich ausfallen, so weisen die durchgeführten methodischen Beobachtungen doch ganz deutlich auf ein Fallstudiendesign hin. In früheren Veröffentlichungen von Brunsson und seinen Kolleginnen zu Organisationen und Reformen, in denen ausdrücklich von der Beobachtung von „Fällen“ die Rede ist, wird als Fall der Studie entweder eine spezifische Reform bezeichnet (Fernler 1993, 88) oder aber eine spezifische Organisation genannt (Brunsson 1993a, 87). Beide Typen von Fallbeschreibungen sind dabei in ihrem Zusammenhang einer neo-institutionalistisch und organisationstheoretisch orientierten Reformsoziologie zu sehen, und können daher so verstanden werden, dass sich die methodischen Beobachtungen jeweils auf Fälle reformierender Organisationen richten. Im Hinblick auf die Begrenzung der Anzahl der untersuchten Fälle reformierender Organisationen wird von Brunsson das Kriterium der „theoretical saturation“ (Glaser/Strauss 1967; Corbin/Strauss 2008) genutzt, das sich seinerseits als ein iterativ-replizierendes Verfahren beschreiben lässt (Eisenhardt 1988, 546). Die reformsoziologische Forschung, an die ich anschließen möchte, verwendet somit für die Erzeugung ihrer Resultate das methodische Design einer Mehrfallstudie, und sie argumentiert methodologisch in Bezug auf die theoretische Generalisierbarkeit der methodisch gewonnenen Erkenntnisse mit einer Replikationslogik (Brunsson 2006, 54). Die Replikationslogik ist im Rahmen einer Methodologie der Fallstudienforschung konzipiert worden, und zwar in Abgrenzung zur Repräsentationslogik (Yin 1994, 45ff.). Während die Forschungslogik der Repräsentation darauf beruht, die methodischen Beobachtungen als eine Teilmenge zu betrachten, die generalisierende Schlüsse auf eine Gesamtheit erlaubt, argumentiert die Wahrheitsunterstellung der Replikationslogik mit der Annahme, dass sich die methodisch beobachteten Gemeinsamkeiten einer Mehrzahl voneinander verschiedener Fälle in abstrahierender Weise wiederholt auf die gleichen theoretischen Aussagen beziehen lassen. Das Kriterium der Replikationslogik der Fallstudienforschung für die Anerkennung von wissenschaftlichen Beobachtungen als Wahrheiten wird somit – in Analogie zu mehrfach wiederholten Forschungsexperimenten – in der Stabilisierung einer theoretischen Annahme durch eine Mehrheit unterschiedlicher methodischer Beobachtungen gesehen. Dabei stützen die methodischen Beobachtungen – jede für sich – die fragliche Theorie, so dass
5.1 Rekonstruktion der Untersuchungsstrategie und der Methodenselektion
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diese insgesamt mehrere Standbeine erhält und somit als ‚robuste Theorie‘ gelten kann. Diese Robustheitsbeobachtung wird wie folgt erzeugt: Eine bestimmte Theorie fungiert hinsichtlich ihrer methodischen Überprüfung als „template“ (Yin 1994, 31,), nämlich als Vergleichsgesichtspunkt in Bezug auf eine Mehrheit verschiedenartiger, methodisch zu beobachtender Fälle. Sofern die Beobachtung mehrerer unterschiedlicher, aber ähnlich konstruierter Fälle zu Erkenntnissen führt, die zu den Annahmen der gleichen theoretischen Schablone passen, unterstellt man methodologisch die Generalisierbarkeit der Theorie und deren Potenzial, die Ergebnisse weiterer Fallbeobachtungen richtig vorherzusagen. Dementsprechend verstehe ich den Begriff der „Replikation“ in diesem Zusammenhang als die Replizierbarkeit der Konsistenz von theoretischen und methodischen Beobachtungen eines Falls anhand der Beobachtung einer derartigen Beziehung in anderen Fällen. Durch ein solches Begriffsverständnis, das auf die vielfache Wiederholbarkeit der Beobachtung einer konsistenten Verbindung von theoretischen und methodischen Erkenntnissen abstellt, kann man es sich dann methodentheoretisch auch ersparen, mangels einer exakten Replizierbarkeit methodischer Beobachtungen von „relative replications“ (Rosenthal 1991, 2) zu sprechen. Die bei Replikationen methodologisch naheliegende Frage, wie viele Fälle beobachtet werden müssen, damit die jeweilige Forschungsaussage als konsolidiert gelten kann, lässt sich schnell abblocken: Jedes noch so häufig überprüfte, als ‚unumstößlich‘ akzeptierte Forschungsresultat unterliegt einem Damoklesschwert in Form des Risikos, dass irgendwann eine erneute Überprüfung zu dem Ergebnis kommt, dass die Forschung bisher falsch lag (Luhmann 1990e, 431). Ein weiteres methodologisches Problem betrifft die Heterogenität der miteinander verglichenen Fälle bzw. die Präzision der Replikation: Das Verhältnis von Redundanz und Varietät der für den Vergleich gewählten Fälle hat enorme Folgen für die theoretische Generalisierbarkeit der Beobachtungen. Dabei wird in der Literatur zur Replikationsforschung eine große Übereinstimmung der Fälle (also eine besonders gelungene Replikation) als theoretisch wenig ergiebig betrachtet, während eine starke Heterogenität der beobachtenden Fälle bei Widerlegung der Theorie dazu führen kann, dass unklar bleibt, ob die Falsifikationsmöglichkeit auf Defiziten der Theorie oder auf Defiziten der Fallauswahl beruht (Rosenthal 1991). Das letztgenannte Problem lässt sich einfach dadurch vermeiden, dass man sein Beobachten von einer deduktiven Methodik auf eine kybernetische Methodik umstellt. Und in Bezug auf die Frage der theoretischen Ergiebigkeit bei methodischer Redundanz kann man antworten, dass die gleichen methodischen Beobachtungsergebnisse mit verschiedenen Theorien höchst unterschiedlich beobachtet werden und zu interessanten Forschungsresultaten
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
führen können (Luhmann 1992, 72f.). Ob die Balance zwischen Redundanz und Varietät bei der Selektion von Fällen gelungen ist, kann nicht rezepthaft beurteilt werden – der Erfolg der Forschung zeigt sich auch hier in der wissenschaftlichen Anschlusskommunikation. Die soeben skizzierte fallbezogene Replikationslogik möchte ich nun zu der angekündigten Überprüfung der oben formulierten Hypothesen nutzen. Dabei werde ich methodologische Aussagen, die Robert K. Yin zur methodischen Konsolidierung von Theorien und zur Anwendung der Replikationslogik bei der Beobachtung einzelner und multipler Fälle konzipiert hat (Yin 1994, 38ff.), für das eigene Untersuchungsdesign wie folgt variieren, kombinieren und spezifizieren: Die oben im Anschluss an systemtheoretische und neo-institutionalistische Forschung formulierten theoretischen Aussagen sollen anhand der methodischen Beobachtung eines Falls einer reformierenden Organisation kontrolliert werden. Dabei sollen in meiner Fallstudie zum einen solche Unterscheidungen verwendet werden, die bislang noch nicht in ähnlicher Form zur methodischen Beobachtung einer reformierenden Organisation genutzt wurden, so zum Beispiel die Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten oder die Differenzierung verschiedener Erfolgsmedien. Zum anderen werden die methodischen Beobachtungen zum Teil durch theoretische Annahmen geleitet, die trotz ihrer systemtheoretischen Reformulierung als Aussagen betrachtet werden können, die von Brunsson und Kollegen bereits an mehreren Beispielen reformierender Organisationen methodisch geprüft wurden. Ohne in der vorliegenden Arbeit selbst eine Mehrfallstudie durchzuführen, soll auf diese Weise durch Konstruktion eines (im Vergleich zu den von Brunsson untersuchten Fällen reformierender Organisationen) verschiedenartigen, aber ähnlichen Falls die Replikationslogik appliziert werden, und zwar im Sinne einer Fortsetzung der Beobachtung von Fällen reformierender Organisationen: Indem untersucht wird, ob bzw. inwieweit die theoretischen Aussagen, die mit den von Brunsson beobachteten Fällen verbunden werden, auch in Bezug auf die von mir durchgeführten methodischen Beobachtungen eines weiteren Falls einer reformierenden Organisation konsistent erscheinen, soll die Generalisierbarkeit der reformsoziologischen Aussagen zur Reformakzeptanz konsolidiert oder in Zweifel gezogen werden. Neben der Überprüfung bereits formulierter Hypothesen soll das Fallstudiendesign auch als Verfahren zur Erzeugung von (neuen) Hypothesen zur Frage der Konditionierung von Reformakzeptanz verwendet werden. Der damit verbundene Anspruch des hier durchgeführten methodischen Programms, für überraschende Beobachtungen offen zu sein, kann als Anschluss an eine kybernetische Erkenntnistheorie und an das Postulat ausreichend komplexer methodischer Beobachtungen verstanden werden – oder als Deduktion dieser methodologischen Einsicht: „(…) all research involves retroduction – the interplay of
5.1 Rekonstruktion der Untersuchungsstrategie und der Methodenselektion
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induction and deduction“ (Ragin 1994, 47; Hervorhebung des Originals (Fettschrift) verändert). Welche spezifischen methodischen Beobachtungsmöglichkeiten erzeugt bzw. erlaubt ein Fallstudiendesign? In der einschlägigen Literatur werden solche Möglichkeiten häufig als eine Reihe von „Vorteilen“ und „Stärken“ einer methodischen Untersuchung nach den Leitlinien der Fallstudienmethodologie beschrieben (Yin 1994; Eisenhardt 1989). Der gemeinsame Nenner der genannten Vorteile scheint mir insbesondere in der – im Vergleich zu anderen Forschungsstrategien – geringen Einschränkung des Spielraums möglicher Beobachtungen zu liegen: Fallstudien können ihren Schwerpunkt sowohl auf das Testen von Theorien setzen, als auch als ein hauptsächlich exploratives, Hypothesen generierendes Verfahren genutzt werden (Ragin 1992; Scholz/Tietje 2002). Theoretische Annahmen und methodische Blickwinkel können in jedem Schritt der Untersuchung eines Falls revidiert und umgestellt werden (Ragin 2009; Eisenhardt 1989), außerdem kann (und soll) der beobachtete Fall aus mehreren unterschiedlichen Blickwinkeln beschrieben werden (Yin 1994). Weiterhin erlauben Fallstudien eine Kombination verschiedenster Methoden (Eisenhardt 1989; Yin 1994), die in der wissenschaftlichen Tradition häufig grob als „qualitativ“ oder „quantitativ“ kategorisiert und voneinander getrennt werden. Durch ihre methodische Offenheit können Fallstudien dem methodologischen Postulat der Integration multipler Methoden entsprechen (Fielding/Fielding 1986) und zur Überwindung einer oft als unfruchtbar beurteilten Methodentrennung beitragen – ein Desiderat, das inzwischen auch in der Organisationsforschung mit Nachdruck formuliert wird (Kühl/Strodtholz/Taffertshofer 2009). Darüber hinaus betrachtet die Fallstudienmethodologie als weiteren Vorteil einer Kombination verschiedener Erhebungs- und Analyseverfahren die Möglichkeit, dass ein Fall anhand unterschiedlicher Perspektiven beobachtet werden kann und sich die übereinstimmenden oder ergänzenden Ergebnisse verschiedener methodischer Beobachtungen des Falls im Sinne der Triangulation wechselseitig stützen und/oder ergänzen können (Yin 1994). Außerdem nehmen Fallstudien für sich in Anspruch, auf methodische Weise besonders detailreich (hochkomplex) beobachten zu können (Fiss 2009). Sie nutzen dabei in Bezug auf die speziell sozialwissenschaftliche Untersuchung von Fällen eine Unterscheidung, die an die Differenz trivialer und nichttrivialer Systeme erinnert: Die Fälle konstruierende Sozialforschung beschäftige sich nicht mit einfachen Systemen, deren Verhalten anhand von Kausalbeziehungen vorhergesagt werden könne, sondern mit Phänomenen, die als komplexe Systeme nur anhand interner Relationen zu verstehen sind (Ragin 2009, 524). Als Vorteil eines Fallstudiendesigns wird methodentheoretisch nicht zuletzt auch darauf verwiesen, dass dieses immer Vergleiche ermöglicht, die theoretische Aussagen erzeugen können – bei Mehr-
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
fallstudien in Form der Suche nach „cross-case-patterns“ und in Einzelfallstudien als Vergleich von „within-case data“ (Yin 1994; Eisenhardt 1989). All diese in der methodologischen Literatur beschriebenen Möglichkeiten des methodischen Beobachtens in einem Fallstudiendesign sind mit Forschungskriterien der Systemtheorie ohne Probleme zu vereinbaren. Insbesondere das Verständnis von Fallstudiendesigns als „retroduktive“ Verfahren, die für Verfeinerungen und Revisionen jederzeit offene Verknüpfung von theoretischen Aussagen und methodischen Beobachtungen sowie die gebotene Beleuchtung eines Falls aus verschiedenen Perspektiven verweisen darauf, dass die Fallstudienforschung die Zirkularität und die Kontingenz des Erkenntnisgewinns in ihrer Methodologie berücksichtigt. Da Fallstudiendesigns zudem methodologisch offen lassen, welche Methoden für Erst- und Zweitbeobachtungen eines Falls bzw. der Fälle benutzt werden, und somit einen ‚zwanglosen‘ und flexibel kombinierbaren Einsatz verschiedener Methoden erlauben, begünstigen sie methodische Beobachtungen, die eine ausreichende Komplexität versprechen. Schließlich findet sich in methodentheoretischen Beschreibungen von Fallstudien als einem vergleichenden Forschungsansatz oft eine Nähe zur funktionalen Methode der Systemtheorie, so etwa, wenn es heißt, dass „(…) comparative researchers study how diversity is patterned“ (Ragin 1994, 112), oder angenommen wird, dass „(…) different combinations of conditions may produce the same outcome (…)“ (Rihoux 2006, 682). Angemerkt sei allerdings noch, dass aus erkenntnistheoretischer Sicht des Konstruktivismus einige Annahmen und Postulate in der Fallstudienmethodologie zu reformulieren oder zu ignorieren wären, so etwa konventionelle Ansprüche an Reliabilität und Validität (Yin 1994) oder die Vorstellung, ein als methodischen Fall beobachtetes soziales System holistisch erfassen zu können (Fiss 2009).286 Wie lässt sich das methodische Vorgehen bei einer Fallstudie methodentheoretisch beschreiben? Der erste Schritt verlangt, theoretische Leitunterscheidungen auszuwählen, die festlegen, was methodisch als Fall bezeichnet werden soll. Die einschlägige Case-Study-Literatur spricht hier davon, die Analyseeinheit zu definieren (Yin 1994ff., 21ff.) oder – um die wissenschaftliche Konstruktion des Falls zu verdeutlichen – von „casing“ (Ragin 1992). Die Fallauswahl soll im Anschluss an theoretische Annahmen erfolgen, nicht (wie bei einer Repräsentationslogik) durch eine Zufallsauswahl oder ähnliche Verfahren der Stichprobenziehung (Eisenhardt 1989). Im zweiten Schritt muss dann ein Fall oder müssen mehrere Fälle so spezifiziert werden, dass dieser bzw. diese identifiziert werden können. Während die Fallstudienliteratur hier beispielsweise die Konkretisierung von Zeit und Raum empfiehlt (Fiss 2009), wird man in der soziologischen Sys286
Ähnliche Überlegungen in Bezug auf die „Validierung“ von Forschungsergebnissen skizziert Jung 2008, 248.
5.1 Rekonstruktion der Untersuchungsstrategie und der Methodenselektion
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temtheorie bei der Identifizierung von Fällen vor allem die Selbstbeschreibung des beobachteten Systems als Orientierung nutzen. Den nächsten methodischen Schritt formuliert die Fallstudienmethodologie ganz herkömmlich als die Anweisung, einen Feldzugang zu schaffen und das Feld zu betreten (Eisenhardt 1989). Dass hier auf einmal der „Fall“ zum „Feld“ wird, also traditionell von „field“ statt von „case“ die Rede ist, wird vermutlich nicht nur dem Anschluss an die üblichen methodischen Sprachregelungen geschuldet sein, sondern auch der Vorstellung, dass methodisch nicht ex ante, sondern erst in einem zunächst unscharf definierten Feld erkannt wird, was als Fall definiert werden kann. Eine systemtheoretisch angeleitete Methodologie kann aber den Feldzugang wohl einfach als das Erfordernis reformulieren, dass man sich Möglichkeiten verschaffen muss, ein in der Reflexion des eigenen Vorgehens als Fall konstruiertes und identifiziertes System methodisch zu beobachten. Als weitere Schritte werden die Datenerhebung (methodische Erstbeobachtungen bzw. Direktbeobachtungen),287 die Datenanalyse (methodische Zweitbeobachtungen)288 sowie die Generierung von Hypothesen und/oder der Vergleich der methodischen Beobachtungen mit theoretischen Aussagen genannt (Eisenhardt 1989; Fiss 2009; Yin 1994). Ich kürze die Darstellung hier ab, da in den nächsten Abschnitten eine ausführliche Beschreibung der soeben genannten Schritte folgen soll, die sich direkt auf den gewählten Fall einer reformierenden Organisation bezieht, und zwar in Form einer methodologische und methodische Aspekte kombinierenden Rekonstruktion meines Vorgehens. An dieser Stelle möchte ich die methodentheoretische Beschreibung auf die Selektion der Methode der Zweitbeobachtungen beschränken. Unter „Zweitbeobachtungen“ soll das methodische Beobachten methodischer Direktbeobach287
288
Im Folgenden werde ich im Text an die oben skizzierte konstruktivistische Theorie wissenschaftlichen Beobachtens anschließen und bekannte methodologische Begriffe entsprechend der Annahmen dieser Theorie verstehen. Dabei verwende ich zum Beispiel als Synonyme einerseits „methodische Erstbeobachtungen“ bzw. „methodische Direktbeobachtungen“ und „Datenerhebung“ bzw. „Datengenerierung“ (oder ähnliche Ausdrücke des traditionellen methodologischen Sprachgebrauchs) und andererseits „methodische Zweitbeobachtungen“ und „Datenanalyse“ bzw. „Datenauswertung“. Der Unterschied von Datenanalyse und Datenerhebung lässt sich im Anschluss an die Differenz von Daten („Gegebenes“) und Fakten („Gemachtes“) sehr anschaulich auch so beschreiben: „Im Forschungskontakt selbst, bei der Erhebung durch Befragung, Inhaltsanalyse, Beobachtung oder im Experiment, handelt es sich um hergestellte Fakten; bei der Auswertung um (dann) gegebene Daten, die hinsichtlich ihres Konstruktionscharakters nur noch in Ausnahmefällen problematisiert werden.“ (Loosen/Scholl/Woelke 2002, 38). Angemerkt sei allerdings, dass ich im Unterschied zu diesem Autorenteam die Methode der Inhaltsanalyse als Verfahren der Datenauswertung beobachte und methodologisch von methodisch vorausgehenden Schritten zur Produktion bzw. Selektion von Texten (die dann einer inhaltsanalytischen Zweitbeobachtung zugeführt werden können) unterscheide.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
tungen bzw. Erstbeobachtungen verstanden werden, es wird also – wie bereits oben ausgeführt (Abschnitt 4.2) – methodisches Beobachten erster und zweiter Ordnung unterschieden. Die methodologisch tradierten Begriffe der Datenerhebung (bzw. Datengenerierung) und Datenanalyse (bzw. Datenauswertung) sind daher im Folgenden im Sinne der Unterscheidung von methodischen Erstbeobachtungen und methodischen Zweitbeobachtungen zu verstehen. Im Vorgriff auf die in den nächsten Abschnitten beschriebenen methodischen Entscheidungen soll zunächst berichtet werden, dass ich zur Datenerhebung sowohl standardisierte als auch teilstandardisierte und offene Methoden der Beobachtung schriftlicher und mündlicher Texte eingesetzt habe. Im Laufe dieser Erstbeobachtungen wurde eine Vielzahl von Texten mit einem kaum überschaubaren Gesamtvolumen generiert. Insofern drängte sich für die methodische Zweitbeobachtung ein Verfahren auf, das eine starke Reduktion der Direktbeobachtungen ermöglichte. Daher habe ich mich gegen ein (in dem hier gewählten erkenntnistheoretischen Kontext zunächst naheliegendes) Anschließen an die systemtheoretisch angeleiteten Varianten der objektiven Hermeneutik oder der Konversationsanalyse entschieden und meine Zweitbeobachtung der methodisch beobachteten Kommunikation primär an den Methoden der Inhaltsanalyse orientiert. Denn während die Methoden der objektiven Hermeneutik und der Konversationsanalyse sich auf die möglichst vollständige Explikation aller möglichen Bedeutungen eines überschaubaren Textes richten, geht es der Inhaltsanalyse um eine reduzierende Auswahl und Klassifikation von Kommunikation aus einer umfangreichen und zunächst unübersichtlichen Textmenge.289 Insofern wird die Inhaltsanalyse als ein Verfahren betrachtet, dass bei der Beobachtung sehr wortreicher Kommunikation in besonders geeigneter Weise das Risiko vermindert, sich auf eine methodische „fishing expedition“ (George 2008, 228) einzulassen. Ein zweites Argument für meinen Einsatz der Inhaltsanalyse in dem oben skizzierten Forschungsdesign lieferte deren Gewichtung von Hypothesen prüfenden und Hypothesen generierenden methodischen Beobachtungen: Inhaltsanalysen erlauben ebenso wie die Fallstudienmethodologie eine „retroduktive“ Vorgehensweise, denn sie werden methodologisch entweder als Verfahren beschrieben, die Deduktion und Induktion mit wechselnden Schwerpunkten frei kombinieren können (Früh 2007), oder als Analysemethoden, die in erster Linie 289
Dieser Unterschied soll natürlich keineswegs auf ein einander ausschließendes Verhältnis von objektiv-hermeneutischen und inhaltsanalytischen Verfahren hindeuten. Vielmehr kann man, wie Mathes 1992, die methodische Komplementarität der beiden Verfahren sichtbar machen und zur kombinierenden Anwendung aufrufen. Auf diese Weise wird auch die von Wiebke Loosen gewünschte Überbrückung der methodologischen Distanz von Hermeneutik und Inhaltsanalyse erleichtert – ebenso wie die von ihr angefragte stärkere Anbindung beider Verfahren an konstruktivistische Erkenntnistheorie für solche Annäherungsversuche hilfreich sein dürfte. Vgl. Loosen 2004.
5.1 Rekonstruktion der Untersuchungsstrategie und der Methodenselektion
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für ein von theoretischen Annahmen angeleitetes Textverstehen konzipiert sind, ohne dabei die Möglichkeit auszuschließen, induktiv Kategorien zu bilden (Mayring 2003). Letzteres heißt reformuliert: durch methodische Beobachtungen solche Unterscheidungen gewinnen, die bei weiterer Abstraktion und einer Verknüpfung mit etablierten theoretischen Begriffen für die Formulierung neuer theoretischer Sätze genutzt werden können. Außerdem können inhaltsanalytische Verfahren dem oben beschrieben Forschungskriterium der „ausreichenden Komplexität“ methodischer Zweitbeobachtungen dadurch entsprechen, dass sie Kombinationen mit anderen Analyseverfahren gestatten: „(…) they can use any design in tandem with other techniques. There is no methodological limit to the use of content analysis in large social research projects“ (Krippendorff 2004, 96). In der Methodologie wird zwar von quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse gesprochen, dies aber lediglich in dem Sinne, dass die Theorie der Inhaltsanalyse die Anwendung zählender und rechnender Verfahren weder verlangt noch ausschließt, methodentheoretisch also kontingent setzt (Früh 2007, 73; Mayring 2003, 19; Laatz 1993, 213). Zur Differenzierung verschiedenartiger inhaltsanalytischer Verfahren sind stattdessen die Unterscheidungen von „Zusammenfassung“, „Explikation“ und „Strukturierung“ etabliert worden.290 Diese Verfahren können separat oder kombiniert angewendet werden: Die inhaltsanalytische Zusammenfassung zielt auf die Erzeugung eines Textes, der ein abstraktes Abbild der Gesamtheit eines in der methodischen Direktbeobachtung gewählten Textes (oder anderer „Artefakte“291) darstellen soll. Diese Reduktion des in der Erstbeobachtung gewählten Textmaterials in der analysierenden Zweitbeobachtung wird durch Auslassen, Paraphrasierung, Generalisierung und Kategorisierung von Textstellen in mehreren, das Abstraktionsniveau nach und nach steigernden Schritten erreicht. Dagegen betrachtet die Explikation einen Text nicht als eine Gesamtheit, sondern reduziert diesen zunächst auf einen Textausschnitt, dessen Verstehen dann mit Hilfe eines Kontexts innerhalb des Textes („enger Textkontext“) und/oder durch eine Verknüpfung mit anderen Texten („weiter Textkontext“) reguliert wird. Dabei soll die Auswahl der Kontexte der zu explizierenden Textstelle ihrerseits reguliert werden. Von einer solchen Kontextanalyse und der Zusammenfassung eines Textes unterscheidet sich die strukturierende Inhaltsanalyse dadurch, dass sie das Beobachten eines Textes auf bestimmte Textstellen reduziert, indem sie den Text mit Hilfe eines „theoriegeleiteten Kategoriensystems“ – also durch „Begriffe“ im Sinne der systemtheoretischen Wissenschaftssoziologie – filtert (durchsucht und 290 291
Siehe dazu und im Folgenden ausführlich Mayring 1985; 2003; Laatz 1993. Siehe zur inhaltsanalytischen Beobachtung von Bildern, Bauten, Essensresten und anderen Artefakten Laatz 1993, 207ff.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
extrahiert) und dann entsprechend der aus der Forschungsfrage und/oder den Hypothesen abgeleiteten Kriterien ordnet. In der Methodologie der Inhaltsanalyse wird die regelgeleitete Bildung von Kategorien als eines ihrer zentralen Verfahren beschrieben. Dies wohl nicht zuletzt, weil nach den Direktiven der Inhaltsanalyse insbesondere bei der Bildung von Kategorien eine Verbindung von methodischen und theoretischen Beobachtungen sichtbar werden soll. Bei dieser Verknüpfung kann methodologisch Deduktion oder Induktion akzentuiert werden:292 So kann man die theoretisch entwickelten Kategorien an das Material herantragen (Mayring 2003, 82f.) oder in umgekehrter Richtung, im inhaltsanalytischen Anschluss an die Methodologie der Grounded Theory, die Annäherung von Methode und Theorie mit der Kodierung von „In-Vivo-Codes“ (Corbin/Strauss 2008) beginnen, das heißt: in der Datenanalyse zunächst nah bei der Sprache des beobachteten Systems bleiben. Im Anschluss an das methodologische Postulat der Nachvollziehbarkeit kann man nun fragen, wie sich die Verknüpfung von Theorie und Methode bei einer inhaltsanalytischen Vorgehensweise in mehreren Schritten rekonstruieren lässt. Dass die Verbindung von Begriffen und Aussagen einer Theorie und den methodischen Direktbeobachtungen von Wörtern und Texten in der Datenanalyse nicht sprunghaft, sondern als sequentielle, nachvollziehbare Annäherung methodischer und theoretischer Beobachtungen hergestellt wird, kann in der Inhaltsanalyse durch Selektionen der Reduktion, Explikation und Abstraktion sichergestellt werden.293 Diese Selektionen werden dabei im Hinblick auf wissenschaftliche Anschlusskommunikation methodisch vor allem in Form von „Ankerbeispielen“ und „Kodierregeln“ (Mayring 2003) bzw. „Extraktionsregeln“ (Gläser/Laudel 2006) kontrollierbar dargestellt. Die Funktion von Ankerbeispielen und Kodier-/Extraktionsregeln liegt somit in einer Veranschaulichung, wie der methodische Beobachter den Text inhaltsanalytisch verstanden hat. Sie sind vereinfachende Beschreibungen der methodischen Entscheidungen, die Theorien und Methoden verbinden – während dies auf der Seite der Theorie die Begriffe leisten müssen. Die Theorie der Inhaltsanalyse erlaubt verschiedene Kombinationen verschiedener inhaltsanalytischer Verfahren mit verschiedenen Forschungsfragen und/oder Hypothesen (Krippendorf 2004, 93ff.). Differenziert die Theorie eines 292
293
Ich vereinfache mit dieser Formulierung die inhaltsanalytische Methodologie, die an dieser Stelle wenig einleuchtende Kriterien zur Abgrenzung von zusammenfassender Inhaltsanalyse und induktiver Kategorienbildung benennt. Siehe Mayring 2003; 2008. Es geht dabei wohlgemerkt um die Sicherstellung einer schrittweise hergestellten Verknüpfung methodischer und theoretischer Beobachtungen, und nicht – wie die herkömmliche empirische Sozialforschung meint – um eine methodische Annäherung eines wissenschaftlichen Beobachters an seinen Beobachtungsgegenstand. Siehe hierzu auch Nassehi/Saake 2002, 70.
5.2 Fallkonstruktion
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Forschungsprojekts mehrere Fragen und/oder Hypothesen und unterscheidet die methodische Erstbeobachtung mehrere Texte, so können beispielsweise verschiedene Texte mit dem gleichen inhaltsanalytischen Verfahren mit einer Forschungsfrage verknüpft werden oder ein Text mit verschiedenen inhaltsanalytischen Verfahren auf verschiedene Hypothesen bezogen werden. 5.2 Fallkonstruktion: Auswahl einer reformierenden Organisation und Differenzierung von Reform und Reformdiskurs Im nächsten Schritt der Darstellung meines methodischen Programms möchte ich reflektieren, wie ich einen Fall konstruiert habe: Als Ausgangspunkte für dieses „Casing“ dienten zum einen die theoretisch zentralen Unterscheidungen der vorliegenden Arbeit, wie zum Beispiel Organisationssystem/Umwelt, Reform/Reformdiskurs oder Reformentscheidungen/nicht auf Reform verweisende organisationale Entscheidungen. Zum anderen verfolgte meine Fallkonstruktion den Ansatz, methodische und theoretische Beobachtungen so zu erzeugen, dass diese für einen Vergleich mit den Beobachtungen der von Nils Brunsson und seinen Kolleginnen etablierten Reformsoziologie geeignet sein würden. Wie oben (Abschnitt 5.1) ausgeführt, kann man die reformsoziologischen Beobachtungen von Brunsson und seinem Forschungsteam als Studien von mehreren Fällen reformierender Organisationen verstehen, und zwar im Unterschied zu Fallstudien von Reformdiskursen, die diese Forschergruppe im Rahmen ihrer Fallkonstruktionen ebenfalls durchgeführt hat. Für das „Casing“ meiner Beobachtungen erschien mir nun die Bezeichnung „reformierende Organisation“ nicht nur hinsichtlich des hier beabsichtigten, an einer Replikationslogik orientierten Vergleichs mit anderen in der Reformsoziologie untersuchten Fällen vorteilhaft zu sein, sondern auch in Bezug auf ein methodisches Beobachten, das durch Begriffe der systemtheoretischen Soziologie geleitet ist. Zunächst möchte ich noch einmal auf den unterschiedlichen begrifflichen Stellenwert von „Organisation“ und „Reform“ in der Systemtheorie hinweisen: Diese Theorie nutzt lediglich „Organisation“ als einen wissenschaftlichen Begriff, während „Reform“ mangels eigener systemtheoretischer Kriterien nur auf einer Ebene dritter Ordnung beobachtet werden kann, nämlich als Beobachtung von Organisationen, die ihre geplanten organisationalen Strukturänderungen als Reform beobachten. Eine systemtheoretische Beschreibung von Reform wird somit nur dadurch möglich, dass die Systemtheorie hierfür ihre eigenen Begriffe nutzt – so wie hier geschehen: „Organisation“, „Strukturänderung“, „Planung“ – und diese mit denjenigen fremden Unterscheidungen verknüpft, die in der Selbstbeobachtung von Organisationen zur Bezeichnung von Reform
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
genutzt werden. Auf diese Weise kann man dann systemtheoretisch angeleitet beobachten, dass Organisationen oft von Reform (oder ‚Reorganisation‘ oder ‚Modernisierung‘ – auf das Wort kommt es nicht an) sprechen, wenn der geplante Strukturwandel mit eigenen Unterscheidungen wie „besser“/„schlechter“ oder „umfassend“/„geringfügig“ beobachtet wird. Insofern habe ich bei der Fallselektion als mögliche Fälle reformierender Organisationen nur solche Organisationen beobachtet, die sich selbst als Organisationen verstanden haben, die sich selbst reformieren. Die Reform musste für die Organisation selbst sichtbar sein. Dies war ein wichtige Beschränkung für die Selektion identifizierbarer Organisationen als mögliche Fälle dieser Untersuchung: Wäre es alternativ darum gegangen, Organisationswandel mit dem systemtheoretischen Begriff der Strukturänderung zu beobachten, so hätten auch solche Organisationen als Fälle sich verändernder Organisationen gewählt werden können, die sich selbst (periodenhaft) als ‚statisch‘ betrachteten, für die also ihr eigener Wandel für eine bestimmte Zeit unsichtbar war. Mit der Entscheidung für die Konstruktion des Falls einer reformierenden Organisation konnten die methodischen Beobachtungen leicht mit dem betont auf Organisationssysteme bezogenen Theorieprogramm dieser Arbeit verbunden werden. Auch hier möchte ich eine mögliche alternative Darstellung meines methodischen Vorgehens in der Rekonstruktion der Fallkonstruktion sichtbar machen: Da ich eine Vielzahl von Interviews (insgesamt 51) mit einzelnen Stellen bzw. Kompetenzen durchgeführt habe, wäre es auch möglich gewesen, diese Reihe von Interviews als Fälle einer Interviewinteraktion eines wissenschaftlich angeleiteten Beobachters mit jeweils einem als Kompetenz adressierbaren organisationalen Beobachter zu konstruieren. Ich hätte bei dieser Entscheidung eine Mehrfallstudie mit 51 Fällen produziert, allerdings mit dem Nachteil, dass meine Fallstudie dann ihre Verbindung zum Theorieprogramm dieser Arbeit doch arg gelockert hätte, weil sie sich auf Interaktionssysteme und nicht auf Organisationssysteme beziehen würde. Die Bezeichnung „reformierende Organisation“ verstehe ich in einem doppelten Sinne. Sie unterscheidet einerseits reformierende Organisationen von Organisationen, die sich aktuell nicht als Organisation in einer Reformperiode betrachten. Andererseits bezeichnet die reformierende Organisation die Vernetzung derjenigen Entscheidungen, die sich auf eine spezifische Reform beziehen, und zwar im Unterschied zu Entscheidungen der Organisation, die sich an anderen Themen orientieren. Denn das reformspezifische Entscheidungsnetzwerk betrifft nicht das gesamte Operieren der Organisation, sondern vielmehr – von Entscheidungsverknüpfung zu Entscheidungsverknüpfung immer wieder in anderen, neuen Konstellationen – nur einen Ausschnitt aus der gesamten Struktur ereignishaft aktualisierter Entscheidungsprämissen. Eine Organisation schaltet
5.2 Fallkonstruktion
245
ihren ‚Normalbetrieb‘ in Reformperioden nicht in dem Sinne ab, dass neben reformbezogenen Entscheidungen keine thematisch anderen Entscheidungen getroffen werden würden. Die organisationale Begrenztheit einer Reform wird häufig auch dadurch gut sichtbar, dass nur ein Teil des Kompetenznetzwerks von der Reform betroffen wird: Insbesondere größere Organisationen gründen zur Durchführung von Reformen, wie bereits oben ausgeführt (siehe Abschnitt 2.5), in vielen Fällen Projektteams oder beschränken die Reform (in einer Testphase) auf bestimmte Abteilungen. Die Selektion der möglichen Fälle reformierender Organisationen habe ich im Anschluss an diese theoretischen Überlegungen nach Maßgabe mehrerer Kriterien weiter eingeschränkt. Diese bezogen sich auf (1) den Organisationstyp, (2) die Reformziele, (3) die „Reformaktualität“ und (4) die vermutete Reformpersistenz. (1) In einer reformsoziologischen Mehrfallstudie von insgesamt sieben reformierenden Organisationen wurden von Nils Brunsson nur solche Organisationen beobachtet, die als „Kommunen“, „Städte“ oder „Kreisverwaltungen“ bezeichnet werden (Brunsson 2006). Im Sinne der Replikationslogik hat es sich für die vorliegende Fallstudie somit angeboten, im Anschluss an die Fallselektion Brunssons ebenfalls reformierende Organisationen dieses Typs zu untersuchen. Dementsprechend habe ich die in politischer, rechtlicher und anderer nichtwissenschaftlicher Kommunikation zum Beispiel als „Stadtverwaltungen“, „Gemeinden“ oder auch „Rathaus“ bezeichneten Organisationen soziologisch als diejenigen politisch-administrativen Organisationen (Verwaltungen)294 erfasst, die sich in ihrer Selbstbeschreibung und ihren Entscheidungsprämissen in auffälliger Weise auf eine spezifisch räumlich definierte Domäne unterhalb der Ebene von Nation und Region konzentrieren. Es sollte also um Organisationen gehen, die sich auf ein gut abzugrenzendes, kommunales Territorium beziehen, das sie politisch-administrativ für sich beanspruchen. In theoretischer Hinsicht ist damit bereits gesagt, dass sich Stadtverwaltungen im Schema funktionaler Differenzierung in starkem Maße an politischer Kommunikation orientieren: Diese funktionssystemspezifische Orientierung solcher Organisationen erstreckt sich – gesellschaftlich gut sichtbar – auch auf die Binnendifferenzierung des politischen Funktionssystems in Verwaltung, Politik (genauer: politische Politik) und Publikum (Luhmann 2000c), da die Referenzen dieses Organisationstyps auf Politisches und Administratives oft auch auf einer suborganisationalen Ebene ausdifferenziert werden: Die subfunktionssystemspezifisch orientierten Suborganisationen von Verwaltungen werden 294
Zur Unterscheidung von Verwaltungen (Plural) als Organisationen und Verwaltung (Singular) als Binnenkommunikationsbereich des politisch-administrativen Systems siehe Dammann 2000, 471ff.
246
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
in der Selbstbeobachtungssprache als „Verwaltung“ und „Politik“ (bzw. als „Gemeinderat“. „Rat der Stadt“ oder auch „Stadtverordnetenversammlung“) unterschieden. In der soziologischen Fremdbeschreibung kann man diese organisationale Differenzierung begrifflich mit dem Dual von „Behörde“ und „Volksvertretung“ fassen (Dammann 1994; Kleidat 2003). (2) Meine Fallselektion wurde weiterhin durch das Kriterium geleitet, dass die zu beobachtenden Reformziele des Falls sich nach Möglichkeit auch auf Änderungen solcher Entscheidungsprämissen richten sollten, die den Spielraum des Entscheidens sehr eng regulieren und/oder sich auf die von der Organisation genutzte Technik beziehen. Hintergrund für dieses Kriterium war die (im Rahmen meines Forschungsdesigns nicht zu überprüfende) theoretische Vermutung, dass die Invisibilisierung inhaltlicher Inkonsistenzen von Talk, Decision und Action erschwert wird, wenn Reformentscheidungen sich auf stark geregelte Strukturen oder an technische Systeme gekoppelte Abläufe auswirken sollen.295 Implizieren die Reformziele z. B. eine Beschleunigung oder Erleichterung von Entscheidungsprozessen durch eine Umstellung des Betriebs auf eine neue Software, ist im Falle technischer Schwierigkeiten anzunehmen, dass organisationale und auf Reformideen attribuierbare Probleme schnell sichtbar werden – im Unterschied zu Reformen, die sich auf Veränderungen ‚im Denken der Mitarbeiter‘ oder auf eine ‚Neudefinition der Unternehmenskultur‘ richten und deren Folgenlosigkeit im Sinne der Verfehlung ursprünglich formulierter Reformziele recht einfach durch entsprechenden Talk übertüncht werden kann. Denn je nach Abhängigkeit der Organisationen von Computern gilt mehr oder weniger (in überspitzender Formulierung): Funktionieren die Rechner nicht, kann man auch nicht entscheiden. Bei Dauerhaftigkeit der Probleme und entsprechender Zurechnung bewirkt die Reform aus Sicht der Betroffenen dann vermutlich keine Beschleunigungen und keine Erleichterungen, sondern Verzögerungen und Erschwernisse, mit der Folge eines Reformscheiterns in instrumentell-rationaler Perspektive. (3) Es sollte kein historischer Fall untersucht werden. Die methodische zu beobachtende Organisation sollte sich selbst im Zeitraum der Fallstudie als eine Organisation beobachten, die sich gegenwärtig in einer Reformperiode befindet. Dieses Kriterium der Fallkonstruktion habe ich auf Grundlage der Annahme gewählt, dass das methodische Beobachten eines Organisationsgedächtnisses in Bezug auf eine aktuelle Reformperiode in Vergleich zu früheren, beendeten Reformen reichhaltigere ‚Daten‘ verspricht. (4) Der zu beobachtende Fall einer reformierenden Organisation sollte der Organisation als „hierarchically mandated change“ (siehe Abschnitt 3.3.4) erscheinen. Der Vorteil der Auswahl einer in Form von Macht/Recht angeordneten 295
Eine ähnliche Vermutung in Bezug auf „relativ hart geregelte Gegenstände“ deutet (im Kontext des Verfehlens intendierter Reformwirkungen) Luhmann 2002b, 246 an.
5.2 Fallkonstruktion
247
Reform lag für mich in der Vermutung, dass für die Dauer der Untersuchung die methodische Direktbeobachtung einer für die Organisation jeweils aktuellen Reform mit größerer Wahrscheinlichkeit sichergestellt sein würde. Denn die wissenschaftliche Gefahr eines plötzlichen Abbruchs der Reformbemühungen dürfte durch eine rechtliche Verpflichtung zur Durchführung der Reform minimiert werden. Anders formuliert: Eine gesetzlich motivierte Reform erhöhte die Chancen, dass ein aktueller Fall von Reform nach der Fallauswahl und der Sicherstellung des ‚Feldzugangs‘ persistieren und nicht zu Beginn der Datenerhebung schon wieder beendet werden würde. Im Anschluss an diese Kriterien habe ich mich dafür entschieden, meine methodischen Beobachtungen auf den folgenden Fall zu fokussieren: Als eine reformierende Organisation beobachtete ich die „Stadt X“ (bzw. die „XStadt“)296 des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW). Die Stadt X habe ich als eine politisch-administrative Organisation verstanden, die sich im Zeitraum meiner Studie von Januar bis Mai 2005 in ihrer territorialen Domäne primär an kommunalen Grenzen orientierte und sich als eine Verwaltungsorganisation beobachtet hat, die gegenwärtig eine Reform mit dem Titel „Neues Kommunales Finanzmanagement“ („NKF“) implementiert. Das als „NKF“ bezeichnete Sinnpaket enthielt umfangreiche Vorschläge für organisationale Strukturänderungen, die sich insbesondere auf Programme und Kommunikationswege des stark regulierten und technisierten gemeindlichen Haushalts- und Rechnungswesens sowie auf die Selbststeuerung kommunaler, politisch-administrativer Organisation richteten. In der Stadt X wurden die Vorschläge des NKF – wie später noch genauer zu beschreiben sein wird – als eine exogene Reformidee verstanden, nämlich als ein Gesetz, das von der Organisation „Innenministerium NRW“ (als Suborganisation der Behörde „Landesregierung NRW“) vorbereitet und von der Volksvertretung „Landtag NRW“ beschlossen wurde. Die einzelnen Bestimmungen dieses NKF-Gesetzes297 wurden in X-Stadt als „Vorgaben“ betrachtet, die außer der Stadt X auch alle anderen 395 Kommunen in NRW rechtlich und politisch adressierten und diese verpflichteten, an den Reformdiskurs „NKF“ durch Reform anzuschließen und die eigene Reform bis zum Haushaltsjahr 2009 weitgehend298 zu vollenden. Das eigene Anschließen wurde von der Stadt X vor allem als „Einführung des NKF“ oder „Umstellung auf das NKF“ beschrieben.
296 297
298
Zur Entscheidung, die beobachtete Organisation zu anonymisieren siehe Abschnitt 5.3. Die genaue Bezeichnung im Gesetz- und Verordnungsblatt NRW lautet: „Gesetz über ein Neues Kommunales Finanzmanagement für Gemeinden im Land Nordrhein-Westfalen (Kommunales Finanzmanagement NRW – NKFG NRW)“. Zu den unterschiedlichen Fristen der NKF-Reform siehe Abschnitt 5.5.
248
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Aus Sicht der Organisation „Stadt X“ ging es somit um einen Transfer fremder Reformideen: Die NKF-Reform in X-Stadt wurde durch andere Organisationen, und zwar dem Innenministerium, dem Landtag oder – bei einer vereinfachten Zurechnung – dem Land NRW, ausgelöst. Zugleich hat die Stadt X dabei aber von Anfang an deutlich kommuniziert, dass die Besonderheiten der eigenen Organisation berücksichtigt werden sollten, also dass nicht – wie in der Poesie von Reformdiskursen oft behauptet – eine ‚Eins-zu-eins-Umsetzung‘ erfolgen, sondern eine Variation (bzw. Deformation) der im NKF-Paket enthaltenen Sinnvorgaben vorgenommen werden sollte. Insofern hat die Stadt X zwei Versionen ihrer Referenzen auf das Thema „NKF“ voneinander unterschieden, zum einen ging es selbstreferentiell um die NKF-Reform der Stadt X, zum anderen fremdreferentiell um einen Diskurs in Form des Reformdispositivs „NKF in NRW“. Diese Aussagen greifen bereits auf Beobachtungen vor, die ich später noch ausführlicher beschreiben werde. An dieser Stelle möchte ich zunächst nur kurz den Reformdiskurs zum Neuen Kommunalen Finanzmanagement skizzieren, um ein genaueres Verständnis des Falls der NKF-Reform in der Stadt X vorzubereiten. In der Periode meiner Fallstudie im Jahr 2005 hatten sich im Zentrum des NKF-Diskurses drei markante Textveröffentlichungen etabliert, auf die eine Vielzahl anderer, der von mir ausgewählten Publikationen des Diskurses häufig Bezug nahmen: erstens ein im Jahre 1999 vom Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen veröffentlichtes, sogenanntes „Positionspapier“ mit dem Titel „Neues Kommunales Finanzmanagement – Eckpunkte der Reform“299, zweitens die im Jahre 2003 ebenfalls vom Innenministerium NRW im Zusammenhang herausgegebenen Publikationen „Neues Kommunales Finanzmanagement. Abschlussbericht des Modellprojekts ‚Doppischer Kommunalhaushalt in Nordrhein-Westfalen‘ 1999-2003“300 und „Neues Kommunales Finanzmanagement. Betriebswirtschaftliche Grundlagen für das doppische Haushaltsrecht“301 sowie drittens die Veröffentlichung des NKF-Gesetzes „NKFG NRW“302 im November des Jahres 2004. Diese zeitliche Abfolge der Veröffentlichungen ging im NKF-Diskurs mit einer periodenhaften, zielgerichteten Einteilung des „Reformprozesses“ hin zu einer Verabschiedung des NKF-Gesetzes einher: Der Diskurs beschrieb als Phasen ein „Modellprojekt“ zum NKF, in dem von Mitte 1999 bis Mitte 2003 insgesamt sieben nordrhein-westfälische Kommunen ein Konzept für das NKF entwickelten und erprobten, ein „Gesetzgebungsverfahren“ zum NKF-Gesetz (von Mitte des Jahres 2003 bis Ende des Jahres 2004) und 299 300 301 302
Im Folgenden als „Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 1999“ angegeben. Im Folgenden als „Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2003a“ angegeben. Im Folgenden als „Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2003b“ angegeben. Im Folgenden als „Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2004“ angegeben.
5.2 Fallkonstruktion
249
schließlich das „Inkrafttreten“ und die „Umsetzung“ dieses Gesetzes mit Beginn des Jahres 2005.303 Die genannten Veröffentlichungen im Zentrum des NKF-Diskurses in den Jahren von 1999 bis 2005 umfassten insgesamt etwa 800 Seiten Text, die auf detailreiche und komplexe Weise sehr umfangreiche Änderungen von Programmen und Kommunikationswegen der betroffenen Kommunen in NRW vorschlugen. Angesichts von Aufwand und Reichweite des angestrebten Wandels wurde das NKF in diesen Texten dementsprechend auch als „Jahrhundertreform für den öffentlichen Sektor“ annonciert (Innenministerium des Landes NordrheinWestfalen 2003a, 5). In der Peripherie des Diskurses ergab sich sehr rasch ein Bedarf für ergänzende, interpretierende, reflektierende und zusammenfassende Beiträge, die das Textvolumen des Diskurses stark ansteigen ließ. Dazu gehörten sowohl in Fachzeitschriften publizierte Textbeiträge mit zumeist verwaltungswissenschaftlichen, rechtswissenschaftlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Schwerpunkten als auch die vom Innenministerium NRW beauftragte und von einem Beratungsunternehmen durchgeführte Errichtung und Betreuung einer Internetseite mit dem Namen „NKF-Netzwerk NRW. Informationsportal rund um das Thema Neues Kommunales Finanzmanagement“ (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2004-2008). Diese Webpräsenz sollte laut ihrer Selbstbeschreibung dazu dienen, ein Netzwerk der vom NKF betroffenen Organisationen aufzubauen, in dem diese sich über ihre Reformerfahrungen austauschen und ihre Fortschritte in der Umsetzung einander darstellen sollten. Der sachliche Fokus des NKF-Reformdiskurses lag in seiner Kurzform auf „der Umstellung des kommunalen Haushalts- und Rechnungswesen von der Kameralistik auf die doppelte Buchführung (‚Doppik‘)“.304 In weniger extrem komprimierten Darstellungen wurden die Reformideen des NKF in auffälliger Weise mit dem Reformdiskurs des „New Public Management“ (NPM) verknüpft, dem in den 1990er Jahren weltweit wohl dominierenden Verwaltungsreformdiskurs, der sich in Deutschland auch unter dem Titel „Neues Steuerungsmodell (‚NSM‘) etablierte: „Die Inhalte des NKF leiten sich aus der Philosophie des Neuen Steuerungsmodells ab“ (Innenministerium des Landes NordrheinWestfalen 2003a, 9). Dementsprechend wurde dem NKF eine „zentrale Rolle“ im „Reformprozess“ des NPM zugeschrieben305 und in diesem Kontext als Ziele des NPM-Diskurses mehr „Wirtschaftlichkeit und Effektivität, mehr Transparenz 303
304 305
Siehe dazu die zeitlichen Einteilungen in Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2005. Siehe statt vieler Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2003a. Auch in der soziologischen Fremdbeobachtung des NPM-Diskurses wird die Beschreibung von „Rechnungs- und Quantifizierungsprojekten“ als „Schwerpunkt der Verwaltungsreformen der neunziger Jahre“ betrachtet. Vgl. Vollmer 2002, 58.
250
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
und Bürgernähe“ (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 1999, 5) sowie „Outputorientierung“, „Budgetierung“, „Kosten- und Leistungsrechnung“, „Kontraktmanagement“, „vollständiges Ressourcenverbrauchskonzept“ und „dezentrale Ressourcenverantwortung“ identifiziert (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2003a, 9). Im Hinblick auf die Darstellung der spezifischeren Ziele des NKF differenzierten die zentralen Publikationen des Diskurses ausführlich zwischen defizitären Ist-Zuständen und erstrebenswerten Soll-Zuständen und benannten sowohl eine Reihe von Problemen des derzeitigen Organisierens in Kommunalverwaltungen wie auch Lösungen für eine zukünftige Verbesserung des Zustands der nordrhein-westfälischen Kommunen.306 Als Schwächen des aktuellen Organisationszustands wurden in den Texten des NKF-Diskurses die folgenden Probleme eines auf ‚der‘ Kameralistik basierenden kommunalen Haushalts- und Rechnungswesens beschrieben: - mangelnde Transparenz in Bezug auf den Gesamtressourcenverbrauch der Organisation und die Zuordnung von Einnahmen und Ausgaben, - fehlende Flexibilität im Hinblick auf effizienzorientiertes Entscheiden im Allgemeinen und Budgetierungen im Speziellen sowie - geringe Eignung für eine am organisationalen ‚Output‘307 orientierte Planung und Steuerung unter Aspekten der Effektivität und der Wirtschaftlichkeit. Den so umrissenen Nachteilen des kameralistischen Haushalts- und Rechnungswesen der adressierten politisch-administrativen Organisationen wurden Vorschläge zur Verbesserung der Zukunft dieser Organisationen gegenüber gestellt. Die Vorstellungen des NKF-Diskurses in Bezug auf das zukünftige Organisieren in den nordrhein-westfälischen Kommunen wurden im Diskurs in unterschiedlicher Formulierung immer wieder neu reproduziert und mit sehr unterschiedlichem Spezifizierungsgrad als Vorteile, Ziele, Vorgaben oder Forderungen bezeichnet. Sie können zusammenfassend wie folgt paraphrasiert werden:
306
307
Siehe dazu und im Folgenden Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 1999; 2003a; 2003b. Im NKF-Diskurs wurde nicht zwischen organisationalem Output und Outcome (oder auf ähnliche Weise) unterschieden, sondern alternativ zu dem im Zukunftshorizont von Organisationen nicht weiter differenzierten ‚Output‘ von ‚Ergebnissen‘, ‚Produkten‘, ‚Leistungen‘ oder ‚Zielen‘ gesprochen.
5.2 Fallkonstruktion
251
- Verbesserung der Verwaltungssteuerung, - Einführung der doppelten Buchführung nach dem Vorbild des kaufmännischen Rechnungswesens, - Gliederung des Haushalts nach Produkten, - Output-Orientierung, - Verbesserung von interner und externer Transparenz des Haushalts, - Steigerung von Effektivität und Effizienz der kommunalen Aufgabenerledigung, - Etablierung einer modernen, leistungsfähigen Kommunalverwaltung, - Darstellung des gesamten Ressourcenaufkommens und -verbrauchs, - Bewertung des kommunalen Vermögens, - Einführung der jährlichen Erstellung einer Bilanz, - Aufhebung der Fragmentierung des Rechnungswesens von Kernverwaltung und Eigen- und Beteiligungsgesellschaften, - Reduzierung von Input-orientierten Detailinformationen im Haushaltsplan, - Einführung des Maßstabs „Generationengerechtigkeit“ als Anforderung an den Haushaltsausgleich, - Kostensenkung durch den Einsatz betriebswirtschaftlicher Standardsoftware, Flexibilisierung der Mittelbewirtschaftung, - Einführung der Kosten- und Leistungsrechnung (KLR) sowie - Verknüpfung von Doppik und KLR. Auf diese Vorschläge des NKF-Reformdiskurses zur Zukunft des Organisierens werde ich an späterer Stelle zurückkommen, und zwar dann, wenn die Beobachtungen zur Frage des Transfers dieses Sinnpakets dargestellt werden und beschrieben wird, inwieweit die Stadt X an die Reformvorschläge des NKFDiskurses durch eigene Reformvorschläge angeschlossen hat. Vor der Beschreibung meiner methodischen Erstbeobachtungen (Datengenerierung) und Zweitbeobachtungen (Datenauswertung) möchte ich zunächst (entsprechend der Darstellungskonventionen methodischer Forschung) den ‚Feldzugang‘ bzw. den ‚Fallzugang‘ beschreiben, den man im Falle der Vorbereitung meiner Untersuchung primär als eine Reihe von Schriftwechseln und Interaktionen zur Klärung der Bedingungen der organisationalen Akzeptanz meiner methodischen Beobachtungen verstehen kann.
252
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
5.3 ‚Fallzugang‘: Bedingungen der organisationalen Akzeptanz methodischer Beobachtungen Organisationen „(…) verfügen über eine breite Palette von Praktiken, um sich neugierige Dritte vom Leib zu halten, um Informationen über sich selbst zu generieren, sie zu beeinflussen und ihre Verwendung zu kontrollieren. Selbst für Forschungsbegehren aufgeschlossenere Organisationen verzichten selten darauf, Zugangshürden zu installieren oder zumindest Zugangsroutinen zu entwickeln. Man muss dann nicht nur informelle ‚gatekeepers‘ überzeugen, sondern auch den Dienstweg beschreiten (…)“ (Wolff 2005b, 338f.). „In den seltensten Fällen wird eine Organisation einem unbekannten Wissenschaftler, der mit einem Empfehlungsschreiben von der Universität kommt, eine Feldforschung ‚einfach so‘ durchführen lassen. Misstrauen sowie die Unklarheit, ‚was das bringen soll‘ sprechen dagegen“ (Bachmann 2002, 328).
Diese beiden längeren Zitate aus methodologischen Texten zu den ‚Wegen ins Feld‘ verweisen mit treffenden Formulierungen darauf, dass Organisationen ihre Akzeptanz methodischer Beobachtungen programmieren. Auch bei der Vorbereitung meiner Untersuchung der reformierenden Stadt X in der zweiten Hälfte des Jahres 2004 wurden solche organisationale Bedingungen für die Herstellung und die Darstellung der forschenden Beobachtungen als Zugangsvoraussetzungen etabliert. Die entsprechenden Verhandlungen mit der Stadt X erforderten etwa ein Dutzend mündlicher und schriftlicher Kontakte mit verschiedenen Stellen. Die Stadt X zeigte sich dabei von Beginn an gegenüber der von mir angebotenen „wissenschaftlichen Begleitung der NKF-Reform“ sehr aufgeschlossen und versuchte in keiner Weise, die Erkenntnisinteressen der geplanten Fallstudie zu beeinflussen. Als Voraussetzung erwartete die Stadt X allerdings die Anfertigung eines standardisierten Fragebogens, verbunden mit der weiteren Bedingung, dass dessen Inhalte im Vorfeld meiner Untersuchung von der Verwaltungsspitze und der Personalvertretung genehmigt werden würden. Während die erste Bedingung die organisationale Erwartung stabilisierte, dass meine Untersuchung Ergebnisse mit Relevanz für Entscheidungen der Stadt X produzieren würde, erwies sich die zweite Bedingung insofern als methodisch folgenlos, als dass mein Fragebogen sowohl vom Verwaltungsvorstand als auch vom Personalrat der Stadt X ohne Änderungswünsche akzeptiert wurde. Darüber hinaus wurde von der Stadt X erwartet, dass im Nachgang meiner Studie die Ergebnisse der Befragung organisationsintern präsentiert würden. Eine weitere Bedingung des Zugangs war eine Zusicherung, die Organisation in der wissenschaftlichen Darstellung des Falls zu anonymisieren und auch innerhalb der Organisation – mit Ausnahme der methodischen Selektion von Interviewpartnerinnen und Inter-
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X
253
viewpartnern (siehe Abschnitt 5.4) – eine namentliche Zuschreibung von methodisch gewonnenen Aussagen zu organisationsinternen Stellen bzw. Kompetenzen zu vermeiden bzw. (durch entsprechend anonymisierte Speicherung der gewonnen Daten auf dem von der Stadt X während meiner Untersuchung zur Verfügung gestellten Computer) zu verhindern. Die Entscheidung, ob mein Angebot einer unentgeltlichen Expertise zur Einführung des NKF von der Stadt X als Nebenprodukt meiner wissenschaftlichen Beobachtungen akzeptiert oder abgelehnt werden würde, hing in erster Linie von einer Einschätzung der Stadt X ab, ob der zu erwartende Nutzen meiner Untersuchung für die Stadt X die organisational entstehenden Kosten (Zeitaufwand des Personals für Interviews sowie Bereitstellung eines Büros, von Büromaterialien, eines Computers und eines Zugangs zum Intranet) rechtfertigen könnte. Im Hinblick auf die Nützlichkeit meiner Untersuchung argumentierte ich im Sprachstil organisationaler Selbstbeobachtung bzw. akademischer und/oder beratender Organisationsreflexion, dass die Untersuchungsergebnisse dazu beitragen könnten, ‚Erfolgsfaktoren‘ der NKF-Einführung in der Stadt X zu beschreiben. Diesem Talk versuchte ich in konsistenter Weise zu entsprechen, indem ich im September 2005 eine soziologisch angeleitete Expertise in Bezug auf die organisationalen Akzeptanzbedingungen der NKF-Reform mündlich und schriftlich vorstellte. In ihrer Reaktion auf diese Ergebnispräsentation bewertete die Stadt X vor allem die Inkongruenz meiner in Interviews erzeugten Beobachtungen im Verhältnis zur Selbstbeobachtung als hilfreich, und zwar im Sinne ‚zusätzlicher Erkenntnisse‘ für das eigene Entscheiden – in den Worten einer Entscheiderin der Stadt X formuliert: „An diese Informationen wären wir niemals selbst herangekommen.“ Weitere organisational bedingte Beschränkungen der methodischen Vorgehensweise ergaben sich erst im nach Sicherstellung des ‚Fallzugangs‘. Ich werde auf diese zusätzlichen Bedingungen im Rahmen der Darstellung der Erzeugung von Interviewtexten eingehen (Abschnitt 5.4.1). 5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Texte beobachtet wurden, wie ich diese Texte im Hinblick auf methodische Zweitbeobachtungen ausgewählt bzw. generiert habe und welche Kriterien diese methodischen Erstbeobachtungen steuerten. Eine erste Entscheidung hinsichtlich der Datenerhebung ist darin zu sehen, dass sowohl mündliche als auch schriftliche Texte zum Thema „NKFReform“ in der Stadt X beobachtet werden sollten. Die Texte wurden außerdem
254
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
danach differenziert, welchen Adressen ihre Genese zugeschrieben wurde, und zwar mit Hilfe der Unterscheidung von „organisationalen Autoren“ und „wissenschaftlichem Autor“ (in der Sprache der methodischen Erstbeobachtung: „Sie“/„Ich“ bzw. „Frau Y“ oder „Herr X“/„Herr Kleidat“). Dementsprechend wurde diese Textproduktion einerseits durch Beiträge konditioniert, die meiner Person in der Rolle als wissenschaftlicher Beobachter zugerechnet werden konnten, andererseits beobachtete ich Texte zum Thema „NKF“, die ohne auf mich attribuierte Beiträge erzeugt wurden.308 Spezifischer formuliert: Ich habe zum einen schriftliche Texte („Dokumente“) zur NKF-Reform erfasst, die ohne meine anwesende oder abwesende Beteiligung von der Stadt X produziert wurden. Abweichend von der üblichen methodologischen Bezeichnung habe ich die methodische Erstbeobachtung von solchen schriftlichen Texten ohne Autorenschaft des methodischen Beobachters nicht „Dokumentenanalyse“, sondern „Dokumentenselektion“ genannt. Zum anderen wurden mündliche und schriftliche Texte generiert, die als Erzeugnisse von solchen Interaktionssystemen verstanden werden können, die jeweils ein sachlich auf das Thema „NKF“ konzentriertes Beisammensein von Kompetenzen309 (‚Organisationsmitgliedern‘) oder die Anwesenheit einer organisationalen Kompetenz und meine anwesende Teilnahme in der Rolle eines wissenschaftlichen Beobachters voraussetzten. Wie diese Formulierung andeutet, konnten dabei zwei unterschiedliche Formen dieser interaktiven Produktion von Texten rekonstruiert werden, je nachdem, welches Schema von Handeln und Erleben in der Selbstbeobachtung des Interaktionssystems etabliert wurde: Einerseits entstanden Interaktionen, in denen Erleben und Handeln zwischen den anwesenden sozialen Positionen im Muster von Frage und Antwort fortlaufend wechselten. In diesen Interaktionen ging es also um die Erzeugung von Texten durch Methoden, die im Anschluss an die übliche Methodensprache als „Interviews“ oder als „Befragung“ bezeichnet werden können. Andererseits beteiligte ich mich an solchen Interaktionen, in denen der Schwerpunkt meiner Beiträge im Erleben lag und mir in der Selbstbeobachtung dieser Interaktionssysteme eine passive Rolle als ‚Beobachtender‘ oder ‚Verstehender‘ zugewiesen
308
309
In der Methodenliteratur zur Konversations-, Diskurs- und Dokumentenanalyse wird bei der wissenschaftlichen Produktion von Texten auf ähnliche Weise differenziert: So unterscheiden zum Beispiel Rapley 2007, 8 „(…) data that you have to generate and data that already exists.“ (Hervorhebungen des Originals weggelassen) und Laatz 1993, 209 „passive Methoden“ von „aktiven Methoden“. In Organisationen können Stellen, Kompetenzen und Personen als organisationsinterne Adressen und Autoren fungieren, siehe Luhmann 2000b, 89ff., 305, 316, 320ff. Ich habe die Selektion und Verknüpfung von Kommunikationswegen in der Stadt X in Bezug auf die NKF-Reform so verstanden, dass in diesem Entscheidungsnetzwerk vor allem ein nicht über Stellen adressierbares Können gesucht wurde und sich die Adressierung somit auf Kompetenzen richtete.
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X
255
wurde.310 Diese Interaktionen kann man entsprechend der konventionellen sozialwissenschaftlichen Methodologie als „teilnehmende Beobachtung“ bezeichnen. Die soeben skizzierten Textproduktionen möchte ich als „Interviews“, „Dokumentenselektion“ und „teilnehmende Beobachtungen“ unterscheiden und entlang dieser Einteilung im Weiteren genauer beschreiben. In diese Darstellung der Datengenerierung werde ich, wie oben angekündigt, methodologische Aspekte einfließen lassen. Ich beginne mit der Beschreibung meiner Vorgehensweise bei der Erzeugung von Interviewtexten. 5.4.1
Textproduktion durch Interviews
Im Anschluss an die oben skizzierten Forschungskriterien wurde die interaktive Befragung von Kompetenzen der Stadt X als ein geregelter Mix verschiedener sozialwissenschaftlicher Interviewformen durchgeführt. Entsprechend der üblichen methodologischen Klassifizierung nach dem Spezifizierungsgrad der Programmierung eines Interviews kann man die von mir in den Interviewinteraktionen genutzten Methoden als standardisierte, teilstandardisierte und nichtstandardisierte Formen einer Befragung unterscheiden.311 Die Interviews wurden stets als ‚persönliche‘ Einzelinterviews, face-to-face mit der jeweiligen Kompetenz, durchgeführt, und die drei Befragungsformen wurden in diesen Interviews immer in ähnlicher Weise sequenziert bzw. kombiniert: Der Grad der Standardisierung von Fragen und Antworten nahm in jedem Interview im Wechsel von der standardisierten zur teilstandardisierten Befragungsepisode in einer Stufe ab, wobei ich diesen Übergang für meinen Interviewpartner immer deutlich markiert habe. Im anschließenden teilstandardisierten und nichtstandardisierten Teil des Interviews habe ich dann standardisierte und ad hoc formulierte Fragen kombiniert, um ‚Störungen‘ und ‚Probleme‘ der Interaktion im Sinne der Methodologie qualitativer Interviews zu vermeiden.312 Außerdem habe ich im standardisierten Abschnitt der Interviewepisode die jeweils befragte Kompetenz stets ermutigt, die gewählte standardisierte Antwortmöglichkeit durch beliebige themenbezoge310
311
312
Eine solche Rollenverteilung wurde zum Beispiel dadurch sichtbar, dass in einer Projektgruppensitzung anfangs angekündigt wurde: „Herr Kleidat wird sich heute einmal anschauen, was wir mit dem NKF vorhaben“ (TB3). Zur Methodologie dieser Befragungsmethode siehe statt vieler Scholl 2003 und Gläser/Laudel 2006. So sollte ein wissenschaftlicher Beobachter in teil- und nichtstandardisierten Interviews beispielsweise nicht nur darauf verzichten, die Interaktion mit eigenen Beiträgen zu dominieren, ‚suggestiv‘ zu fragen und Antworten zu bewerten und/oder zu häufig zu kommentieren, sondern es auch vermeiden, Ungeduld im Zuhören und bei Nachfragen zu signalisieren oder sich in starrer Weise am Frageleitfaden zu orientieren. Siehe dazu ausführlich Hopf 2005.
256
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
ne Anmerkungen zu ergänzen – eine Freiheit, die die befragten Kompetenzen eher sporadisch nutzten. Der standardisierte und halbstandardisierte Teil des Interviews wurde durch einen schriftlich vorliegenden Fragebogen insofern gestützt, als dass ich die standardisierten Fragen und Erwartungen entlang des Fragebogens in der Interaktion laut vorlas. Im Anschluss an Empfehlungen der Theorie organisationaler Befragungen (Edwards/Thomas 1993) orientierte sich mein Sprachstil im gesamten Interviewverlauf an dem ‚Jargon‘ der beobachteten Organisation. Die Auswahl, Vorbereitung und Durchführung der Interviews erfolgte nach Maßgabe der folgenden Schritte: Die Selektion der zu befragenden Kompetenzen in der Stadt X war zum einen von dem Kriterium geleitet, dass sich die Kompetenz im Zeitraum meiner Befragung an der Verknüpfung von Entscheidungen in Bezug auf die NKF-Reform beteiligte.313 Zum anderen orientierte sich meine Auswahl an der Zielsetzung, möglichst viele verschiedene Interviewinteraktionssysteme zu erzeugen, um so eine große Anzahl unterschiedlicher Beobachtungen der reformierenden Stadt X untersuchen zu können. Mit diesem Kriterium habe ich versucht, dem erkenntnistheoretischen und methodologischen Postulat zu entsprechen, einen Fall anhand einer Vielfalt verschiedener Perspektiven zu beobachten.314 Vor diesem Hintergrund richtet sich meine Auswahl von Gesprächspartnern für die geplanten Interviews darauf, möglichst alle Kompetenzen zu befragen, die sich im Zeitraum meiner Fallstudie an der Vernetzung von Entscheidungen zur NKF-Reform beteiligen. Da die Stadt X seinerzeit weit mehr als tausend Stellen miteinander verknüpfte, schien dieses Vorhaben im Rahmen meiner methodischen Steuerungsversuche auf den ersten Blick etwas gewagt und auf einen Misserfolg nach instrumentell-rationalen Maßstäben hinauszulaufen. Doch in 313
314
Dieses Kriterium schließt an mein oben beschriebenes Verständnis einer reformierenden Organisation an: Eine reformierende Organisation beschreibt das organisationale Netzwerk derjenigen Entscheidungen, die sich auf ein bestimmtes Reformthema beziehen. Außerdem ist dieses Kriteriums als Reaktion darauf zu verstehen, dass reformsoziologische Fallstudien in ihrer Reflexion der genutzten Interviewmethoden mitunter lediglich darstellen, wie viele Interviews durchgeführt und/oder welche hierarchischen Kompetenzen den befragten Kompetenzen zugeschrieben wurden. So bleibt unklar, nach welchen spezifischeren Maßgaben (über das Kriterium der „Organisationsmitgliedschaft“ hinausgehend) die Selektion der Interviewpartner erfolgte und ob alle an der Reform beteiligten Kompetenzen im Zeitraum der Studie mit Hilfe von Interviews befragt wurden oder nur ein Ausschnitt des reformierenden Entscheidungsnetzwerks beobachtet werden konnte oder sollte. In diesem Zusammenhang verweise ich exemplarisch auf einige neuere Fallstudien, die sich mit dem Thema „Reform“ befassen: Sehr spärliche Informationen zur Vorgehensweise bei der Selektion der befragten Stellen geben Brunsson 2006 und Bohn 2007. Hingegen spezifizieren Jung 2008 und Scheidemann 2008 eine Mehrzahl von Kriterien zur Auswahl ihrer Interviewpartner, ohne dabei in ihren Fallstudien den Anspruch zu verfolgen, das aktuell reformierende Entscheidungsnetzwerk in Bezug auf die involvierten Stellen ‚vollständig‘ zu erfassen.
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X
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Vorgesprächen mit mehreren Stellen der Stadt X zeichnete sich Ende des Jahres 2004 schnell ab, dass die Zahl der an der NKF-Reform beteiligten Kompetenzen in dem von mir geplanten Untersuchungszeitraum Anfang des Jahres 2005 überschaubar bleiben würde. Denn seitens der Organisation wurde mir signalisiert, dass das Reformprojekt „NKF“ erst noch ‚offiziell‘ gestartet werden müsste und in der ersten Phase der Reform nur wenige Kompetenzen an dem NKF-Projekt mitarbeiten würden. Um möglichst alle Kompetenzen zu identifizieren, denen eine Beteiligung an der Vernetzung der organisationalen Entscheidungsproduktion in Bezug auf die NKF-Reform in der Stadt X zugeschrieben wurde, entschied ich mich, die Auswahl meiner Interviewpartnerinnen und Interviewpartner durch das Verfahren des „snowball sampling“ zu steuern. Die Schneeballmethode kann methodologisch durch die Unterscheidung von „Stufen“ und „Namen“ geleitet werden (Goodman 1961; Gabler 1992): Indem in einem gestuften Verfahren ermittelt wird, welche Adressen in Bezug auf ein bestimmtes Thema in der Kommunikation konstruiert werden, ermöglicht das „snowball sampling“ eine schrittweise Beobachtung der Vernetzung sozialer Adressen. In den Vorgesprächen mit der Stadt X und in den ersten Episoden meiner teilnehmenden Beobachtung zu Beginn der Fallstudie wurde rasch deutlich, dass in der organisationalen Selbstbeobachtung vier Kompetenzen der Stadt X das Zentrum des NKF-Projekts bildeten.315 Die Zentralität dieser vier Kompetenzen wurde auch in schriftlichen Beschreibungen der Reform hervorgehoben, da der netzwerkartige Zusammenhang dieser Kompetenzen dort als „Kernteam“ des NKF-Projekts in X-Stadt bezeichnet wurde (Dokumente EAE4; EAE5; EAE6). Im Rahmen meines Schneeballverfahrens zur Auswahl von Kompetenzen für Interviews konstruierte ich dieses Kernteam entsprechend der begrifflichen Konventionen von Schneeballstichproben als ‚nullte Stufe‘. Für die Identifizierung weiterer Kompetenzen benutzte ich in der so definierten nullten Stufe und in allen weiteren Stufen die folgende standardisierte Frage (immer in Begleitung der nachfolgenden, die Frage erläuternden Antworthilfe): „Mit welchen anderen Verwaltungsmitgliedern arbeiten Sie bei der Umsetzung des NKF zusammen? Bitte geben Sie die Namen aller relevanten Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeiter an.“ Diese Frage wurde stets durch meine Erläuterung ergänzt, dass „Zusammenarbeit“ nicht einen flüchtigen Kontakt oder eine einfache Unterhaltung über das NKF meinen soll, sondern dass in dieser Zusammenarbeit in irgendeiner Weise Entscheidungen in Bezug auf das NKF (im Zeitraum ab Januar 2005) vorbereitet oder getroffen wurden oder werden. Dieses Auswahlverfahren setzte 315
Diese Beobachtung der Selbstbeobachtung bestätigte sich später netzwerkmethodisch, da die vier Akteure auch im quantitativen Sinne verschiedener netzwerkanalytischer Maße, die eine Zentralität im Netzwerk beschreiben, die zentralen Rollen in der Reform spielten.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
ich in mehreren Befragungswellen fort, bis schließlich in der dritten Stufe keine Kompetenzen mehr adressiert wurden, die nicht bereits in den vorangegangen Stufen genannt worden waren. Durch die Schneeballmethode erzeugte ich eine Netzwerkpopulation von insgesamt 51 Kompetenzen, die ich als diejenigen Kompetenzen beobachte, die im Zeitraum meiner Studie von Januar bis Mai 2005 in die NKF-Reform der Stadt X involviert waren. Dabei zeigte sich: Die auf die NKF-Reform bezogenen Kommunikationswege beschränkten sich exklusiv auf solche Kompetenzen, die der Behörde der Stadt X zugerechnet wurden. Es wurden also zu Beginn der Reform nur Kompetenzen derjenigen Teilorganisation verknüpft, die in X-Stadt als „Stadtverwaltung“ oder „Verwaltung“ bezeichnet wurde – im Unterschied zu der „Rat der Stadt“ oder „Politik“ genannten Teilorganisation. Das methodisch konstruierte NKF-Kompetenznetzwerk überspannte sowohl alle hierarchischen Differenzierungen der behördlichen Suborganisation von X-Stadt (top-down: Bürgermeisterin, Beigeordnete/Dezernenten, Amtsleiter, Abteilungsleiterin, Sachbearbeiter) als auch sämtliche fachliche Differenzierungen dieser Organisation auf der hierarchischen Gliederungsebene von Dezernaten. Die Interviews mit den Kompetenzen der im Schneeballverfahren gewählten Population wurden auf die folgende, standardisierte Weise vorbereitet und durchgeführt: Zunächst wurde die Frage nach der Bereitschaft einer Kompetenz, sich zur NKF-Reform befragen zu lassen, per E-Mail eingeleitet. In dem E-MailAnschreiben verwies ich jeweils auf wissenschaftliche Erkenntnisinteressen, den erwarteten Nutzen für die Stadt X sowie die Akzeptanz der Befragung seitens der Organisationsspitze und der Personalvertretung. Aufgrund der höheren Ablehnungswahrscheinlichkeit schriftlicher Kommunikation bat ich in meiner E-Mail nicht um eine Antwort, sondern kündigte einen Anruf an, um die Interviewbereitschaft persönlich zu erfragen und gegebenenfalls Interviewtermine direkt am Telefon zu vereinbaren. In diesen Telefonaten sagten mir alle 51 angefragten Kompetenzen ein Interview zu. Dabei baten mich drei Interviewpartnerinnen im Vorfeld der Befragung um ergänzende Informationen zu den Inhalten und zu Verwendungszwecken. Bei der Konzeption der Interviewinteraktionen kam es mir darauf an, methodisch sicherzustellen, dass diese Interaktionssysteme das Organisationssystem „Stadt X“ primär in Bezug auf Entscheidungen zur NKF-Reform beobachten würden. Um die Erzeugung solcher Aussagen meiner Interviewpartner zu fördern, die als Beschreibung von Entscheidungskommunikation verstanden werden konnten, etablierte ich drei Rahmenbedingungen für die Interviews, die mir geeignet erschienen, die Unterscheidung von „Entscheidungen der Stadt X zum NKF“ und „meine persönliche Meinung zum NKF“ zu erleichtern.
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X
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Eine erste Maßnahme, die einen ‚dienstlichen Charakter‘ der Interviews fördern sollte, ist darin zu sehen, dass alle Interviews während der Dienstzeiten der Befragten und in den Räumlichkeiten der Stadt X durchgeführt wurden. Als zweite Vorkehrung erstellte ich den folgenden Text, der den Interviewpartnern jeweils zu Beginn der Befragung schriftlich vorgelegt wurde, verbunden mit der Bitte um Kenntnisnahme und Beachtung bei der (ausschließlich) mündlichen Beantwortung meiner Fragen während des gesamten Interviews: „Bitte stellen Sie sich die Situation vor, Sie müssten ein für den verwaltungsinternen Gebrauch bestimmtes Papier verfassen, in dem Sie zum NKF schriftlich Stellung beziehen.“ Diesen Text ergänzte ich jeweils mündlich mit dem Hinweis: „Ich möchte also gar nicht wissen, was Sie persönlich oder privat zum NKF denken, sondern interessiere mich nur für Ihre offiziellen Beobachtungen, wie das NKF in der Stadt X gesehen wird, und zwar so, wie Sie diese Positionen in der Verwaltung auch amtlich vertreten.“ Damit sollte im Unterschied zur empfohlenen Vorgehensweise der üblichen Methodenliteratur den Interviewpartnern signalisiert werden: „Soziale Erwünschtheit“ ist sozial erwünscht (im Fall meiner Fallstudie). In einigen Interaktionen neigten die Interviewpartner oder Interviewpartnerinnen dennoch dazu, mir „im Vertrauen“ ihre Erwartungen an das NKF zu ‚verraten‘ oder ihre ‚ehrliche Meinung‘ mitzuteilen. Auf solche Äußerungen reagierte ich mit der Bitte, bei der ‚amtlichen Version‘ der NKF-Beobachtung zu bleiben und wieder in die Rolle eines Beobachters von Entscheidungen zu wechseln. Diejenigen Einschätzungen und Aussagen zum NKF, die nach meinem Verständnis als persönliche Auffassungen und nicht als Beobachtungen von Entscheidungskommunikation stilisiert wurden, habe ich methodisch nicht berücksichtigt. Als dritte Vorkehrung zur Differenzierung von persönlichen und amtlichen Beobachtungen zum NKF war geplant, im Vorfeld der Serie von Interviews anzukündigen, dass die Antworten auf meine Fragen organisationsintern nicht anonymisiert werden würden und die Nichtidentifizierbarkeit der befragten und in den Interviews genannten Personen, Stellen, Kompetenzen und Organisationen nur für die wissenschaftliche Darstellung der Fallstudie garantiert werden würde. Dieser Vorschlag wurde seitens der Verwaltungsspitze modifizierend abgelehnt: Es wurde mir lediglich gestattet, zur Durchführung des oben skizzierten Schneeballverfahrens auf eine Anonymisierung von Namen innerhalb der Stadt X zu verzichten. Zugleich wurde mir vorgeschlagen, keine Audioaufzeichnungen der Interviews zu erstellen, sondern die Antworten meiner Befragung schriftlich zu protokollieren. Da mir die organisationale Akzeptanz meiner Interviews auch von einem solchen Verzicht auf die Speicherung von Tonmaterial abhängig erschien, entsprach ich dieser Empfehlung. Dadurch entstand insbesondere im halb- und nichtstandardisierten Teil der Befragung methodisch der
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Nachteil, dass ein zirkulär fast simultanes Fragenausdenken und -stellen (als Reaktion auf Antworten), Zuhören, Auswerten der Antworten und schnelles Protokollieren methodisch relevanter Aussagen erforderlich wurde. Dies hatte zur Folge, dass eine starke Reduktion der in den Interviews auf teil- und nichtstandardisierte Weise erzeugten Texte bereits unmittelbar während der Datenerhebung erfolgte. Die spätere Inhaltsanalyse konnte sich also nicht direkt auf die Texte der Interviews beziehen, sondern musste als ihr Material die schriftlichen Protokolle dieser Interviews nutzen. In den Interviews versuchte ich den durch die Protokollierung bedingten Verlust von in der Interaktion gesprochenen Aussagen dadurch zu verringern, dass ich die von mir in der Interviewsituation als methodisch relevant beobachteten mündlichen Äußerungen möglichst umfangreich und möglichst wortgetreu in Form von Sätzen oder Satzfragmenten schriftlich notierte. Den standardisierten Teil des Fragebogens, mit dem die Interviews jeweils begannen, habe ich inhaltlich wie folgt gegliedert: Die Kompetenzen wurden zu Beginn der standardisierten Befragung nach der Dauer ihrer Mitgliedschaft in der Stadt X und der Dauer der Besetzung der aktuellen Stelle gefragt, um Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, inwieweit die Kompetenz an Entscheidungen zu (vergessenen oder erinnerten) Reformen in der Vergangenheit der Stadt X beteiligt war. Danach folgte dann die oben aufgeführte Frage zur netzwerkartigen Selektion von weiteren in Bezug auf das NKF entscheidungsrelevanten Kompetenzen in der Stadt X, durch die die jeweils nächste Stufe des Schneeballverfahrens generiert wurde. Anschließend wurde nach entscheidungsrelevanten Kontakten der Kompetenz zum Thema „NKF“ mit Stellen von anderen Organisationen als der Stadt X gefragt, also Beobachtungen der Kommunikation des eigenen Systems mit gleichartigen fremden Systemen beobachtet. Im nächsten Abschnitt des standardisierten Teils des Fragebogens stand das Erkenntnisinteresse im Mittelpunkt, ob die im NKF-Diskurs formulierten Erwartungen in Bezug auf die eigene Organisation akzeptiert oder abgelehnt werden. Hier ging es also um standardisierte Beobachtungen zur Frage, inwieweit in der NKF-Reform der Stadt X an solche Sinnzumutungen des Reformdiskurses „NKF“ angeschlossen wurde, die verschiedene zukünftige, durch das NKF veränderte Strukturen des Organisierens beschrieben.316 Das Ja oder das Nein zu der jeweiligen Erwartung wurde immer auf die gleiche Weise durch vorgegebene Antwortkategorien in 316
Zu diesem Zweck wurden in der Konstruktion des Fragebogens mehrere Aussagen aus zentralen Texten des NKF-Reformdiskurses extrahiert, geringfügig paraphrasiert und in Bezug zur Stadt X gesetzt, zum Beispiel auf diese Weise: Der Satz „Die Reform wird die Verwaltungssteuerung verbessern und auch politische Rationalitäten beeinflussen.“ (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2003a, 5) wurde im Fragebogen in die folgende Aussage transformiert: „Das NKF wird die Steuerungsmöglichkeiten in der Stadt X verbessern“.
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X
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einer konventionell endpunktbenannten, bipolaren Skala in sieben Stufen differenziert,317 und zwar in der Form von „trifft überhaupt nicht zu.....-3….-2…. -1.…0….+1….+2….+3.….trifft voll und ganz zu“. Für eine quantifizierende Auswertung der Antworten habe ich diese Stufen vollständig in eine Intervallskala überführt und in der diese Beobachtungen beobachtenden Analyse als Zustimmung oder Grad der Ablehnung von Aussagen zum NKF verstanden. Der standardisierte Teil des Fragebogens endete mit einer Frage, inwieweit die befragte Kompetenz in einer Gesamtbetrachtung einen Konsens oder einen Dissens in X-Stadt in Bezug auf Ziele und Zwecke der NKF-Reform beobachtet. Im anschließenden halbstandardisierten Teil des Interviews sollte ermittelt werden, welche Erwartungen bezüglich künftiger Entscheidungen über Entscheidungsprämissen im Anschluss an die organisationalen Beschreibungen des NKF beobachtet wurden. Ich versuchte, solche Beobachtungen von Erwartungen in unterschiedlicher Weise anzusprechen, indem ich im Leitfaden des Fragebogens (in flexibler Reihenfolge und mit variierenden Formulierungen) mehrere Fragen zu den vermuteten zukünftigen „Aufgaben“, „Schwierigkeiten“, „Zeitplänen“, „Ressourcen“ und „Koordinationsbedarfen“ aufwarf. Hierbei achtete ich darauf, meine Interviewpartnerinnen frei erzählen zu lassen, auf deren Aussagen mit situativ entworfenen Fragen zu reagieren und dabei Wechsel zu Themen, die nicht mit meinen Erkenntnisinteressen konvergierten, ohne Intervention im Gespräch mitzuvollziehen.318 Nur in wenigen Interaktionen war eine behutsame Lenkung solcher Themenwechsel zurück in die Richtung einer methodisch geleiteten Befragung erforderlich, und dies zumeist nur im Hinblick auf die Markierung eines möglichen Abschlusses des Interviews. Zum Leitfaden der Interviewführung gehörte auch eine Vorgabe, wonach nicht gefragt werden sollte. Da in der Befragung Beobachtungen erzeugt werden sollten, die sich, an die Hypothese 3 anschließend, auf das Vergessen früherer Reformen der Stadt X beziehen sollten, habe ich in allen Interviews darauf verzichtet, nach Reformen in der organisationalen Vergangenheit zu fragen. Entsprechend der soeben dargestellten Vorgehensweise wurden, wie bereits erwähnt, insgesamt 51 Interviews mit einer Dauer von einer halben Stunde bis zu drei Stunden durchgeführt. Die Protokollierung der in diesen Interaktionen erzeugten mündlichen Texte erzeugte einen handschriftlichen Text im Umfang von rund 200 Seiten, den ich in Orientierung an der Serie der Interviewepisoden 317 318
Zur Methodologie der Skalen in Fragebogen siehe statt vieler Porst 2009. Dieser narrative Teil der Befragung führte dazu, dass die geplante Dauer der Interviews von etwa einer dreiviertel Stunde, die ich in den Terminabsprachen in Aussicht stellte, von dem tatsächlich benötigten zeitlichen Umfang manchmal – je nach Anschlussterminen und ‚Auskunftsfreudigkeit‘ der befragten Kompetenzen – zum Teil stark abwich und die methodischen Interaktionen oft mehr als eine Stunde und manchmal bis zu drei Stunden dauerten.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
chronologisch einteilte. Die so definierten 51 Protokolltexte versah ich mit einer zählenden Notation (von „IP1“ bis IP51“), die bei der Identifizierung und Ordnung der Texte zu inhaltsanalytischen Zwecken jeweils erkennen lassen sollte, dass auf ein chronologisch nummeriertes Interviewprotokoll verwiesen wird. 5.4.2 Selektion und Differenzierung von Dokumenten In der Methodentheorie wird das Fassungsvermögen des Begriffs „Dokument“ zumeist auf schriftliche Kommunikation begrenzt: Dies geschieht, indem Beispiele für Dokumenttypen genannt und Anleitungen geboten werden, wie die selegierten Dokumente kategorisiert werden können und verstanden werden sollen (Rapley 2007; Wolff 2005a). Da die Abgrenzung zur Beobachtung nichtschriftlicher Präsentationsformen – Bilder, Kleidung, Töne, Werkzeuge, Videos und andere „Artefakte“, deren Gebrauch als mitgeteilte Information verstanden werden kann – dabei stillschweigend oder beiläufig vollzogen wird, erscheint die Definition, das mit „Dokument“ nur Schriftstücke gemeint sein sollen, methodentheoretisch wenig reflektiert.319 Es finden sich zwar auch Methodologien, die sich mit der Frage der theoretischen Abgrenzung eines Dokuments von anderen kommunikativen Formen auseinandersetzen, etwa im Rahmen einer Unterscheidung von textlichen und visuellen Materialien (Lueger 2010). Zum Teil möchten diese dann aber, als Theorie einer Dokumenten- und Inhaltsanalyse (Laatz 1993) oder als Theorie einer Artefaktanalyse (Froschauer 2002), sowohl sprachliche als auch nichtsprachliche Kommunikation mit jeweils einem Begriff – „Dokument“ bzw. „Artefakt“ – erfassen, so dass begrifflich die Unterscheidung „sprachlich“/„nichtsprachlich“ dann wieder ausgeblendet wird. Im Folgenden werde ich den Begriff „Dokument“ exklusiv auf schriftliche Kommunikation beziehen und diese Form von Texten sowohl von mündlicher als auch von nichtsprachlicher Kommunikation unterscheiden. Darüber hinaus möchte ich die in meiner Fallstudie methodisch beobachtete schriftliche Kommunikation differenzieren, indem ich zwischen „Dokument“ und „Protokoll“ unterscheide: Als Dokumente sollen Schriftstücke bezeichnet werden, deren Genese ich aus der Perspektive meiner eigenen Beobachtungsposition fremden Beobachtern zurechne, die also unter der Bedingung meiner Nichtbeteiligung erzeugt wurden. Demgegenüber sollen solche Texte, deren Produktion meine Beteiligung mit eigenen Beiträgen vorausgesetzt hat, als „Protokolle“ begriffen 319
Es lassen sich viele Beispiele für Forschungen finden, die den Begriff „Dokument“ anscheinend in diesem Sinne gebrauchen, ohne dass dieses Begriffsverständnis erläutert würde. Der Diskussionsstand lässt aber die Unterstellung, dass ein Verständnis des Dokumentbegriffs im Sinne von „Schriftstücken“ methodologisch ‚kanonisiert‘ sei, nicht unbedingt zu.
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X
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werden. Auf die in meiner Fallstudie genutzten Verfahren der methodischen Erst- und Zweitbeobachtungen appliziert, bedeutet dieser Unterscheidungsgebrauch, dass ich zum einen Protokolle der unter Bedingung meiner Anwesenheit von mir beobachteten Interaktionen (Interviews und teilnehmende Beobachtungen) erzeugt, zum anderen Dokumente des von mir beobachteten Systems selegiert und sowohl Protokolle als auch Dokumente dann später mit Hilfe von Inhaltsanalysen beobachtet habe. Mit dieser Beschreibung habe ich eine weitere methodologische Unterscheidung eingeführt: Die Auswahl von Dokumenten beobachte ich als Verfahren methodischer Direktbeobachtungen. Diese Datenerhebung unterscheide ich von Methoden der Datenanalyse.320 Daher ersetze ich den verbreiteten Begriff der „Dokumentenanalyse“ durch den Begriff der „Dokumentenselektion“. Durch welche Kriterien war meine Auswahl von Dokumenten der Stadt X gesteuert? In methodentheoretischen Beschreibungen von „Dokumentenanalysen“ wird zunächst zum „Aufspüren“ und zur „Sicherung von Spuren“ aufgefordert (Laatz 1993, 209) und dann unterstellt oder kurz postuliert, dass nur solche Dokumente methodisch ausgesucht werden, die einen Bezug zu der genutzten Theorie und zu der eigenen Forschungsfrage vermuten lassen und somit von anderen Texten thematisch unterschieden werden können: „(…) obviously, what materials make up your archive ist directed by both your specific research question and your theoretical trajectory“ (Rapley 2007, 10; Hervorhebung des Originals weggelassen). Methodologisch wird hier lediglich der Hinweis gegeben, dass die Auswahl geeigneter Dokumente in mehreren Schritten erfolgen kann und nach einer ersten, groben Sichtung des Materials eine „Quellenkritik“ im Sinne der „Brauchbarkeit“ der Dokumente für die Beantwortung der untersuchungsleitenden Fragen vorgenommen werden sollte (Laatz 1993, 211f.). Dementsprechend werden die jeweils eigenen Kriterien einer Studie zur schrittweisen Reduktion der beobachteten Dokumente in methodischen Darstellungen von 320
In der Methodologie der Dokumentenanalyse wird gegen eine solche Unterscheidung wie folgt argumentiert: Die Unterscheidung von Erhebungsverfahren und Analyseverfahren sei „künstlich“, weil eine Erhebung immer schon „analytische Elemente“ enthalte und darauf „(…) nur eine weitere aufbereitende und analysierende Stufe (…)“ folge, „(…) die man gewöhnlich als Aufbereitungs- und Analysephase bezeichnet.“, so dass eine Trennung der Verfahren ‚objektiv‘ nicht greife (Laatz 1993, 210; Hervorhebung auch im Original). Diese Argumentation erscheint mir widersprüchlich, denn sie lässt selbst erkennen, wie „Erhebung“ und „Analyse“ als methodische Erst- und Zweitbeobachtungen deutlich unterschieden werden können, nämlich als zwei in der zeitlichen Differenzierung von Vorher und Nachher getrennt beobachtbare Verfahren. Außerdem besteht auch in der Sachdimension methodentheoretisch überhaupt keine Veranlassung, das methodische Erfordernis, bei der zirkulären Auswahl und Sichtung von Dokumenten eine erste Zuordnung des Inhalts zur Forschungsfrage vorzunehmen, als „Analyse“ zu bezeichnen, geschweige denn, eine solche Textbeobachtung mit dem Verfahren einer Inhaltsanalyse zu verwechseln.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Dokumentenanalysen nicht methodologisch reflektiert, sondern als von den theoretischen Erkenntnisinteressen geleitet dargestellt, und es kann dann beschrieben werden, zu welchen Reduktionen dies geführt hat,321 so dass an das Forschungskriterium der Nachvollziehbarkeit der methodischen Schritte angeschlossen wird. In Anlehnung an diese methodologischen Hinweise habe ich das Verfahren zum ‚Aufspüren‘ von Dokumenten zur reformierenden Stadt X an den von mir oben formulierten Hypothesen, den Kriterien meiner Fallselektion und an systemtheoretischen Beschreibungen der methodischen Beobachtung von Kommunikation orientiert: Zunächst sei daran erinnert, dass es für ein systemtheoretisch angeleitetes Verstehen von Texten darauf ankommt, die Texte als Zusammenhang von Selektionen eines Systems in einer Folge kommunikativer Ereignisse zu beobachten. Denn wenn man Dokumente als Selektionen versteht, die eine Verbindung zwischen Kommunikationsereignissen herstellen, indem sie im Rückblick aus dem Möglichkeitsraum bereits entworfener Sinnalternativen auswählen und im Vorausblick kommunikative Anschlussmöglichkeiten vorschlagen und diese zugleich beschränken, kann man beobachteten, wie sich ein System mit seinen dokumentierten Texten in Form von Erinnerungen und Erwartungen eigene Strukturen verschafft.322 Meine Fallauswahl zielte darauf eine Organisation zu beobachten, die sich in ihrer Selbstbeobachtung als gegenwärtig reformierende Organisation begreift. Insofern ging es zum einen darum, solche Texte des Systems zu beobachten, die das System als Beschreibung und/oder Prämissen seine aktuellen und zukünftigen Sinnselektionen versteht. Für die Selektion schriftlicher Texte habe ich daher solche Dokumente gesucht, die die reformierende Organisation „Stadt X“ im Zeitraum meiner Fallstudie in ihrer Selbstbeobachtung als Texte erinnert hat, die sie in Bezug auf ihre NKF-Reform nicht lediglich als Memoiren betrachtet, sondern im Vorausblick auf die Zukunft der NKF-Reform zur Strukturierung von Entscheidungen genutzt hat. Im Anschluss an die Hypothese 5, die zwischen 321
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Siehe als Beispiel für eine solche Darstellung der Vorgehensweise bei einer Dokumentenanalyse die Forschung von Wingens/Weymann 1988. Eine solche systemorientierte Beobachtungsweise von Kommunikation kann dem methodischen Beobachten auch dabei helfen, verschiedene Referenzen der Texte unterschiedlicher Systeme auf verschiedene fremde Systeme zu differenzieren. So versteht es sich beispielsweise in systemtheoretischen Beobachtungen eines Texts, der auf Themen und Sprache des Rechts, der Politik und der Wissenschaft verweist, von selbst, dass unterschieden wird, ob dieser Text als wissenschaftliche Beobachtung des Rechts und der Politik oder als rechtliche und politische Beobachtung der Wissenschaft oder als eine in anderer Weise gewählte Kombination von Systemreferenzen zu verstehen ist. In der Methodologie der Dokumentenanalyse scheinen mir solche systemtheoretischen Kategorisierungsmöglichkeiten die, über die übliche Ordnung von Schriftstücken durch Themen, Autoren (‚Quellen‘) und Formaten hinausgehend, gesellschaftliche Leitdifferenzierungen berücksichtigen, noch nicht reflektiert worden zu sein.
5.4. Datenerhebung: Methodische Erstbeobachtungen der reformierenden Stadt X
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eigenen und fremden Reformideen unterscheidet, habe ich die erinnerten Texte nach Zurechnung von Autorenschaft differenziert und diejenigen Dokumente, deren Entstehung die Stadt X sich selbst zurechnete, von solchen Dokumenten unterschieden, die aus Sicht der Stadt X von fremden Autoren erstellt wurden. Da zum anderen in der Fallstudie Beobachtungen erzeugt werden sollten, die sich mit der Hypothese 2 verbinden lassen, habe ich Texte gesucht, die auf Reformen der Stadt X verweisen, die sich von der NKF-Reform periodisch unterscheiden lassen, zeitlich vor dieser Reform begonnen und beendet wurden und möglicherweise in Vergessenheit geraten sind. Diese Kriterien der Dokumentenselektion zusammenfassend, habe ich also zwischen erinnerten und vergessenen Texten sowie zwischen Texten mit systemeigener und systemfremder Autorenschaft unterschieden. Bei der Suche nach diesen Dokumenttypen habe ich zwei unterschiedliche Verfahren genutzt: Um festzustellen, ob schriftliche Texte für Reformentscheidungen erinnert wurden, die auch in Zukunft als Prämissen dienen sollten, habe ich in den Interviews mit Kompetenzen der Stadt X danach gefragt, ob schriftliche Informationen für Entscheidungen zur Einführung des NKF ‚aktuell‘323 genutzt werden und diese auch in Zukunft noch Anleitung bieten werden. In diesem Zusammenhang nannte ich als Beispiele Textformate wie Bücher, Aufsätze, Verwaltungsvorlagen, Dienstanweisungen, Gesetze, Vorschriften, Berichte, Akten, Powerpoint-Präsentationen, Info-Material, Mitarbeiterzeitschriften oder Handreichungen. Wurde diese Frage bejaht, erkundigte ich mich – sofern mir die Dokumente nicht bereits bekannt waren, nach Titel und Autor(en/innen) und bat gegebenenfalls auch um Hinweise, wie ich mir diese Texte beschaffen könnte. Nach Abschluss meiner Interviewserie differenzierte ich die auf eben diese Weise ermittelten, organisational erinnerten (und vermutlich auch künftig genutzten) Dokumente nach organisationseigener oder organisationsfremder Autorenschaft und sortierte die so nach Typ unterschiedenen Dokumente jeweils chronologisch. Die Antworten auf meine Frage nach erinnerten Reformdokumenten, die aktuell für Reformentscheidungen genutzt werden, halfen mir zugleich dabei, den zweiten Schritt meiner Erstbeobachtung vergessener Dokumente zum Thema „NKF“ zu vollziehen, da die von keinem der interviewten Kompetenzen erwähnten (im ersten Schritt ausgewählten) Schriftstücke als vergessene Dokumente beobachtet werden konnten. Im ersten Schritt zur Erhebung vergessener Dokumente zu Reformen der Stadt X definierte ich Archive elektro323
In den Interviews wurde „aktuell“ alltagssprachlich verwendet: Die Frage nach „aktuell“ genutzten Dokumenten wurde von mir methodisch auf den Zeitraum des von der befragten Kompetenz beobachteten Beginns der NKF-Reform bis zum Zeitpunkt des Interviews bezogen und in diesem Sinne den Kompetenzen jeweils etwa so erläutert: „…‘aktuell‘ meint: im Zeitraum der letzten Wochen, seit Beginn der NKF-Reform“.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
nischer und gedruckter Texte dieser Organisation – das waren das Intranet und die Verwaltungsbücherei der Stadt X – als ‚Möglichkeitsräume‘ des Organisationsgedächtnisses für eine potenziell erinnernde (also nicht aktualisierte!) Selektion derjenigen Dokumente zur NKF-Reform und zu vergangenen Reformen der Organisation, die möglicherweise in der gegenwärtigen Reformperiode vergessen wurden. Da diese Schriftstücke für die Analyse von Daten zu früheren Reformen der Stadt X genutzt werden sollten (neben den zu diesem Erkenntnisinteresse gewonnenen Interviewdaten), reduzierte ich die Selektion von Dokumenten auf solche Texte, die eine Autorenschaft der Stadt X erkennen ließen. Denn nach meinem Verständnis verwies eine Autorenschaft der Organisation auf ein eigenes Reformbemühen, während die Archivierung von Texten zu Reformen anderer Organisation als der Stadt X lediglich die Vermutung einer vorangegangenen Umweltbeobachtung erlaubte. Eine weitere Eingrenzung der Dokumentenrecherche, die auf die Begrenzung der für die Sichtung und Auswahl erforderlichen zeitlichen Ressourcen zielte, nahm ich in der Weise vor, dass ich meine Suche auf das Aufspüren von Dokumenten ab dem Jahr 1990 beschränkte. Aufgrund von Vorgesprächen war zu vermuten, in diesem Zeitraum fündig zu werden, da die Stadt X in den 1990er Jahren offensichtlich durch den Reformdiskurs des „New Public Management“ folgenreich irritiert wurde. Welche der im ersten Schritt erhobenen Dokumente erinnert und welche vergessen wurden, konnte durch den oben dargestellten zweiten Schritt, nämlich der Frage nach den seit Beginn der NKF-Reform und in Zukunft vermutlich genutzten Dokumenten, ermittelt werden. Die methodischen Kriterien und Schritte meiner Dokumentenselektion führten zu der Erhebung von insgesamt 35 Dokumenten zum Thema „NKF“ bzw. zu früheren Reformen. Diese Textsammlung habe ich nach Anleitung der soeben beschriebenen Unterscheidungen kategorisiert und innerhalb dieser Kategorien jeweils in chronologischer Reihenfolge nummeriert. Für dieses Verfahren nutzte ich die folgenden Bezeichnungen: Dokumente, die in eigener Autorenschaft erstellt und zur NKF-Reform erinnert wurden (Notation: Dokumente EAE1 bis EAE27), Dokumente, die in eigener Autorenschaft zur NKF-Reform oder zu vor der NKF-Reform begonnenen Reformen produziert und vergessen wurden (Notation: Dokument EAV1 bis EAV4) und Dokumente, die von fremden Autoren zur NKF-Reform erstellt und erinnert wurden (Notation: Dokument FAE1 bis FAE6).324 324
Die Dokumente FAE1, FAE2, FAE3, FAE4, FAE5 und FAE6 sind im Literaturverzeichnis in entsprechender Reihenfolge als „Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) 1999; 2003a; 2003b; 2004; 2004-2008; 2005“ aufgeführt. Mangels Anonymisierungsbedarfs verwende ich im Folgenden nicht die Notation der Dokumentenselektion, sondern beziehe mich für Verweise auf diese Texte auf die Angaben des Literaturverzeichnisses.
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Die Erhebung von Dokumenten, die von den 51 befragten Kompetenzen erinnert wurden, führte in quantitativer Hinsicht zu einer auffälligen Verteilung, die zwei Dokumente ins Zentrum rückte: Dies waren die Dokumente EAE5 (Bericht „Einführung des Neuen Kommunalen Finanzmanagements in der Stadt X“ und EAE6 (Powerpoint-Foliensatz „Projekt Einführung NKF“). Lediglich diese beiden Dokumente wurden von allen Befragten genannt. Alle anderen angegebenen Dokumente zum Thema „NKF“ wurden jeweils von weniger als zehn befragten Kompetenzen erinnert. Aus dieser quantitativen Zweitbeobachtung der Dokumentenselektion haben sich bereits erste Konsequenzen für mein Verständnis der Texte ergeben: Da alle befragten Kompetenzen sich auf die Texte EAE5 und EAE6 bezogen, habe ich diese als besonders folgenreiche Texte in Bezug auf die Reformentscheidungen der Stadt X angesehen. Etwas genauer formuliert, habe ich angesichts der zahlreichen Anschlüsse an diese beide Texte unterstellt, dass diesen nicht nur für retrospektive und prospektive Beobachtungen der Reformentscheidungen der Stadt X aus den Blickwinkeln einzelner Kompetenzen eine besondere Bedeutung zukommt, sondern auch für die Verknüpfung von Reformentscheidungen mit Reformentscheidungen in X-Stadt. 5.4.3
Textproduktion durch teilnehmende Beobachtung
Im Unterschied zu den von mir durchgeführten Interviews mit einzelnen Kompetenzen der Organisation habe ich, wie bereits oben ausgeführt, auch solche Interaktionen methodisch beobachtet, die als Beisammensein von mehreren Kompetenzen der Stadt X zum Thema „NKF“ zu verstehen sind. Diese Interaktionen wurden jeweils organisational in der Weise von früheren Reformentscheidungen zum NKF programmiert, als dass anschließende neue Entscheidungen zur NKFReform in der Stadt X getroffen werden sollten. Mein Entschluss, die (im Vergleich zu anderen Formen der methodischen Beobachtung von Interaktionen wie zum Beispiel Interviews oder experimentell initiierte Gruppendiskussionen), ‚passive‘ und ‚nichtintervenierende‘, teilnehmende Beobachtung auf Kommunikation unter der Bedingung von Anwesenheit zu beschränken, deren Genese organisational programmiert wurde, beruhte auf zwei Annahmen: Erstens vermutete ich, mit Hilfe dieser Interaktionen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit organisationale Entscheidungskommunikation beobachten zu können als durch das nichtteilnehmende oder teilnehmende Beobachten von solchen Interaktionen verschiedener Kompetenzen, die nicht in der Projektplanung der NKF-Reform explizit oder implizit vorgesehen waren, also etwa durch ein verdecktes ‚Belauschen‘ von Gesprächen oder durch ein sichtba-
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
res ‚Einschalten‘ in Interaktionen auf den Fluren oder in der Kantine der Stadt X. Zweitens mochte ich auch eine „dabeistehende Beobachtung“ (Mulder van de Graaf/Rottenburg 1989, 30) von (implizit in Reformentscheidungen vorausgesetzten) Besprechungen und Arbeitsabläufen in den Büros von Entscheiderinnen und Entscheidern nicht durchführen, da bereits in den die Fallstudie vorbereitenden Gesprächen mit Kompetenzen der Stadt X deutlich wurde, dass ein solches ‚über-die-Schulter-Gucken‘ getrost als organisational unerwünschte Beobachtungsmethode unterstellt werden konnte. Die Auswahl von Interaktionen organisationaler Kompetenzen, in denen vermutlich Entscheidungen zur NKF-Reform getroffen werden würden, schematisierte ich, indem ich meine Ansprechpartner in der Stadt X im Zeitraum meiner Fallstudie regelmäßig, im Abstand von etwa zwei Wochen, fragte, bei welchen (im Rahmen des NKF-Projekts geplanten) Sitzungen ich zuschauen und mir Notizen machen dürfte. Eine solche Erlaubnis zur teilnehmenden Beobachtung erhielt ich für fünf Projektsitzungen.325 Das Verfahren der Direktbeobachtung dieser Interaktionen hatte ich im Vorfeld der Untersuchung ebenfalls schematisiert. Im Anschluss an Unterscheidungen der Methodologie teilnehmender (und ‚externer‘, nichtteilnehmender) Beobachtungsverfahren (Lüdtke 1992; Lueger 2010) lässt sich das Skript meiner Vorgehensweise wie folgt reflektieren. Meine teilnehmende Beobachtung wurde vor oder zu Beginn der Interaktionen von einer anwesenden Kompetenz der Stadt X angekündigt und war während der gesamten Dauer der Sitzung für jede anwesende Kompetenz sichtbar. In jeder beobachteten Interaktion unterließ ich es, durch irgendeine mündliche Äußerung oder durch irgendwelche Bewegungen meines Körpers zu den Themen der Sitzung beizutragen, und beschränkte mich auf das angekündigte Zuhören und schriftliche Protokollieren der Kommunikation der Kompetenzen. Die Verschriftlichung des Beobachteten erfolgte – ähnlich wie bei der schriftlichen Aufzeichnung der in meinen Interviews erzeugten mündlichen Texte und im Sinne der methodologischen Aufforderung, „Zitatfetzen“ zu „skribbeln“ (Bachmann 2002, 340) – mit der Zielsetzung, möglichst viele Aussagen der Interaktion, die einen Bezug zu meinen theoretischen Erkenntnisinteressen vermuten ließen, während dieser Interaktion in Form von Satzfragmenten zu notieren. Die auf diese Weise produzierten Texte bezeichnete ich als „Protokolle teilnehmender Beobachtung“, die ich in chronologischer Zählweise mit einer Notation von „TB1“ bis „TB5“ kennzeichnete und ordnete.
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Im Zeitraum von Januar bis Mai 2005 wurden mir insgesamt 23 Reformprojektsitzungen bekannt. Deren Entscheidungskommunikation konnte ich in extrem reduzierter Form durch den Zugang zu Ergebnisprotokollen verfolgen (Dokumente EAE9 bis EAE27).
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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5.5 Ergebnisse der Fallstudie – Verknüpfungen methodischer Zweitbeobachtungen mit Theorie Für methodische Zweitbeobachtungen der in der Fallstudie erhobenen Texte wurden, wie oben beschrieben, inhaltsanalytische Verfahren genutzt. Dabei ermöglichten vor allem die Methoden der strukturierenden und der explizierenden Inhaltsanalyse (bezogen auf die Erkenntnisinteressen der Fallstudie) adäquat komplexe Zweitbeobachtungen der methodischen Erstbeobachtungen.326 Weiterhin wurden solche Beobachtungen, die im Rahmen der Datenanalyse als Elemente einer Kategorie definiert wurden, zum Teil einer quantifizierenden Betrachtung zugeführt. Die verschiedenen Analyseverfahren ermöglichten es, sowohl im Sinne der Veranschaulichung der Kontingenz methodischer Entscheidungen unterschiedliche Perspektiven des Verstehens zu generieren, als auch im Sinne der Triangulation die Entscheidung für ein bestimmtes Verstehen zu konsolidieren. Vor der Darstellung der inhaltsanalytischen Ergebnisse muss noch darauf hingewiesen werden, dass ich dem Verstehen der Dokumente der Stadt X besonderes Gewicht beigemessen habe. Denn die schriftlichen Texte der Dokumente wurden von der Organisation selbst erzeugt – ohne eine Regulierung von meiner Seite. Außerdem deutet die Schriftlichkeit der Texte im Unterschied zu den methodisch beobachteten Interaktionen an, dass es darum geht, „(…) Programme zu fixieren und für die anfallenden Entscheidungsprozesse eine einheitliche Textgrundlage bereitzustellen“ (Luhmann 2000b, 214). Organisieren findet heutzutage (zumindest in Verwaltungsorganisationen) „weitgehend interaktionsfrei“ (Dammann/Grunow/Japp 1994, 238) statt und konzentriert sich auf schriftliche Kommunikation. Zwar werden manchmal Telefonate oder Besprechungen bevorzugt, doch für schriftlich fixiertes Textmaterial lässt sich mit höherer Plausibilität unterstellen, dass dieses für iterativen Gebrauch gedacht ist und die Sinnvorschläge tatsächlich als Entscheidungsprämissen für folgende Entscheidungen dienen. Im Folgenden sollen die Resultate der methodischen Beobachtungen zweiter Ordnung vorgestellt werden und auf die oben (Abschnitt 3.3) beschriebenen theoretischen Annahmen zu den Bedingungen der Akzeptanz von Reform bezogen werden. Weil die Verbindungen von methodischen und theoretischen Beobachtungen dabei in den Vordergrund gerückt werden sollen, folgen die Gliederungspunkte dieser Darstellung nicht den Unterscheidungen der methodischen Erstbeobachtung und auch nicht den an diese Differenzierungen anschlie326
Die in diesem Satz formulierte Bewertung meiner methodischen Zweitbeobachtungen zeigt besonders deutlich, dass die Verknüpfung theoretischer Beobachtungen mit methodischen Beobachtungen zweiter Ordnung eine Zweitbeobachtung dieser Verknüpfung erfordert.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
ßenden, auf Protokolle und Dokumente bezogenen Zweitbeobachtungen. Dementsprechend werden zum Beispiel nicht ‚inhaltsanalytische Beobachtungen der Interviews‘, ‚inhaltsanalytische Beobachtungen der Dokumentenselektion‘ und ‚inhaltsanalytische Beobachtungen teilnehmender Beobachtungen‘ als Abschnitte im folgenden Text unterschieden. Die hier gewählte Unterteilung von methodischen Beobachtungen orientiert sich vielmehr an den oben beschriebenen Hypothesen zu den Bedingungen der Möglichkeit von Reformakzeptanz. Damit wird zum einen bezweckt, eine Fragmentierung der Verbindung von methodischen Beobachtungen mit den durch Hypothesen thematisch geordneten theoretischen Aussagen zu verhindern. Zum anderen erscheint mir eine solche Gliederung des „case study report“ eher den methodologischen Postulaten bezüglich der Darstellung der Herstellung von Resultaten einer Fallstudie zu entsprechen: Die Kombinationen verschiedener Erhebungs- und Analyseverfahren werden vermutlich leichter nachvollziehbar sein, wenn diese Beobachtungen in gebündelter Form auf die theoretischen Annahmen bezogen werden und sich die methodischen Zweitbeobachtungen unterschiedlicher Erstbeobachtungsverfahren im Sinne der Triangulation im unmittelbaren Kontext einer jeweiligen Beobachtung wechselseitig stützen, ergänzen oder in Frage stellen können. Außerdem ist zu vermuten, dass diese an Hypothesen orientierte Form der Gliederung die Darstellung der Zweitbeobachtungen strafft: „The selectiveness is relevant in limiting the report to the most critical evidence and not cluttering the presentation with supportive but secondary information. Such selectiveness takes a lot of discipline among investigators, who usually want to display their entire evidentiary base, in the (false) hope that sheer volume or weight will sway the reader. (In fact, sheer volume or weight will bore the reader)“ (Yin 1994, 150; Hervorhebungen von mir, CPK).
Vor der an Hypothesen orientierten Darstellung meiner Zweitbeobachtungen möchte ich allerdings methodische Resultate beschreiben, die die Nachvollziehbarkeit meiner weiteren hermeneutischen Entscheidungen erleichtern dürften. Es geht um die Fremdbeobachtung (1) einer generalisierten Akzeptanz des NKFReformpakets und (2) der Konstruktion zeitlicher Markierungen in der reformierenden Stadt X. Diese Beobachtungen liegen ‚quer‘ zu den Problemstellungen der Hypothesen; sie betreffen die speziell durch unterschiedliche Hypothesen geleiteten Datenanalysen gleichermaßen. (1) Die Darstellung der Herstellung von Ergebnissen meiner Fallstudie startet mit Beobachtungen zur Akzeptanz des Sinnpakets „Reform“, die ich im theoretischen Programm der vorliegenden Untersuchung als Bezugsproblem meiner Hypothesen vorgestellt hatte: Im Unterschied zu den zahlreichen und vielfältigen Respezifikationen der Generalisierung „NKF-Reform“ wurde die Akzeptanz
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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dieser Reform als einer kompakten Einheit in der Stadt X zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Niemals (gemeint ist: in keinem der von mir in der Erstbeobachtung gewählten oder erzeugten Texte) wurde die Möglichkeit angesprochen, dass die Stadt X die Einführung des NKF eines Tages aufgeben könnte. Die NKFReform als organisationale Strukturänderungen generalisierende Einheit wurde in X-Stadt in der Periode meiner methodischen Beobachtungen vielmehr immer wieder neu bejaht – typischerweise eingeleitet mit Formulierungen wie „Das NKF kommt…“ oder „Die Einführung des NKF…“, so dass die Akzeptanz der kompakten Sinneinheit „NKF“ sich organisational schnell als Selbstverständlichkeit etablieren konnte. Dass im Anschluss an das Paket „NKF-Reform“ solche Entscheidungen entworfen und beschlossen werden sollten, die als Änderungen spezifischer Strukturen die Stadt X als Gesamtheit betreffen würden, ist in der organisationalen Selbstbeobachtung im Zeitraum meiner methodischen Beobachtungen nie bezweifelt worden. So wurde hinsichtlich des Umfangs der Änderungen bereits zu Beginn der Reform in verschiedenen Texten beispielsweise in Aussicht gestellt, dass die mit der NKF-Reform verknüpfte Einführung eines Produkthaushalts („PHH“) und einer Kosten- und Leistungsrechnung („KLR“) in sämtlichen Organisationseinheiten erfolgen sollte (Dokumente EAE5; EAE6), dass das geplante Erlernen des neuen kommunalen Haushalts- und Rechnungswesen „mehr oder weniger alle Beschäftigen und den Rat“ (IP22) betreffen würde und dass die Reform insgesamt „(…) mit einem komplexen und ressourcenaufwändigen Entwicklungsprozess, ggf. neuen Organisationsstrukturen und veränderten Rollenverständnissen verbunden ist“ (Dokument EAE4). Von einem künftig möglichen Widerstand gegen das beabsichtigte Reformieren, etwa seitens einzelner Suborganisationen, war nur in zwei Hinsichten die Rede. Erwartet wurden sowohl ein NKF-unspezifischer als auch ein NKFspezifischer Dissens: Zum einen wurde dem internen Publikum, vor allem unter unspezifischen Verweis auf eine „Reformmüdigkeit“ (IP1) und einem „Beharren auf dem Status quo“ (IP 48), in mehreren Interviews eine Abneigung gegen das Schema „Reform“ unterstellt, also eine generalisierte, vom NKF-Reformpaket sachlich unabhängige Ablehnung des Reformierens. Zum anderen wurde ein Mangel an Konsens in Bezug auf Paket und Respezifikationen der NKF-Reform thematisiert und beispielsweise als ein „fehlendes Verständnis für das NKF“ (IP17) problematisiert. In beiden Fällen wurde zwar unspezifisch den Reformbetroffenen in der Stadt X unterstellt, sie wären nicht von der Richtigkeit des Reformierens überzeugt. Zugleich wurde aber angenommen, dass die Betroffenen das Reformpaket im Sinne einer Verständigung akzeptieren würden. Die Bearbeitung des antizipierten Dissensproblems wurde in X-Stadt gleich zu Beginn des Reformprojekts suborganisational ausdifferenziert: Es wurde ein
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
„Teilprojekt für Kommunikation, Information“ gegründet, das sowohl mehrere NKF-Schulungen für die Reformbetroffenen veranstalten sollte, als auch für organisationsinterne Reformwerbung und Überzeugungsarbeit zuständig war (EAE6). Ziel dieser Suborganisation war es, neben der „Qualifizierung der Mitarbeiter für das neue Rechnungswesen“ (EAE6), also auch, „(…) Geist und Notwendigkeit des NKF zu kommunizieren“ (IP27). Die erwarteten Defizite und Querelen in Bezug auf Überzeugungen hinsichtlich der Richtigkeit der NKF-Reform änderten jedoch nichts daran, dass die Stadt X sich selbst ohne jegliches Bedenken unterstellt hat, diese Reform im Sinne einer generalisieren Einheit zu akzeptieren. Die Frage, ob diese unproblematische Akzeptanz des Pakets „NKF-Reform“ als eine Folge von Ablehnungen und Zustimmungen in Bezug auf spezifischere Sinnzumutungen in diesem Paket beobachtet werden kann, die Akzeptanz des Reformpakets also auch im Fall der reformierenden Stadt X eine Deformierung des Pakets voraussetzte, wird im Rahmen der an den einzelnen Hypothesen orientierten methodischen Beobachtungen noch beantwortet werden. An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass das theoretisch gewählte Bezugsproblem der Reformakzeptanz sich im Fall der reformierenden Stadt X methodisch so beobachten ließ, dass während des gesamten Zeitraums meiner Datenerhebung die NKF-Reform in Form einer generalisierten Einheit organisational akzeptiert wurde. (2) Die nächsten Beobachtungen betreffen Zeitverhältnisse: In den vorangegangenen Abschnitten wurde die zeitliche Limitierung meiner Untersuchung des Falls der reformierenden Stadt X bereits mehrfach angesprochen und mit der Formulierung „im Zeitraum meiner methodischen Beobachtungen“ umschrieben. Da eine Vielzahl meiner Analysen sich auf den Umgang der reformierenden Stadt X mit verschiedenen Zeitschemata richtet, möchte ich vor der Darstellung spezifischer Beobachtungen zu den Hypothesen mein Verständnis der Periodisierung der NKF-Reform in der Stadt X beschreiben. Es geht dabei auch um die Frage, welchen zeitlichen Ausschnitt der Reformperiode ich im Zeitraum meiner methodischen Beobachtungen nach Maßgabe der „Eigenzeit“ (Luhmann 1991a, 176) der NKF-Reform der Stadt X beobachtet habe. Die Datenerhebung meiner Fallstudie wurde in einem Zeitraum von fünf Monaten, von Januar bis Mai 2005, durchgeführt. Schon vor Beginn der Fallstudie, in der Betrachtung des Reformdiskurses zum NKF, und auch in meinen Vorgesprächen mit Kompetenzen der Organisation, war offensichtlich, dass das Ende dieser Reform in X-Stadt außerhalb dieses Zeitraums liegen würde: Wie auch immer Anfang und Ende dieser Reform in der Selbstbeschreibung der Organisation dann datiert werden würden – es war rasch deutlich, dass die NKFReform in der Stadt X vermutlich sechs oder mehr Jahre andauern würde.
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5.5 Ergebnisse der Fallstudie
Zeitmarkierungen der NKF-Reform in der Stadt X
„Pilotierung mit Echtdaten“
„Überprüfung, Definition und Einführung von Produkten, Kennzahlen und KLR“
ReformEnde (1) ReformEnde (2)
„Produktivstart Haushaltsplanung“
„verwaltungsweite Umsetzung der konzeptionellen Vorgaben“ „Nachjustieren“
Gesamtkonzept“
„betriebswirtschaftliches
„Erarbeitung Grobkonzept“ Genese der Reformprojektorganisation: „Vorbereitung Projektarbeit“
Reform„Bilanzierungs- und BewertungsvorStart (1) gaben“,„Erfassung und Bewertung ReformVermögen und Verbindlichkeiten“, Start (2) „technische Umsetzung inkl. ReformVeränderungsdienst“ Start (3) ReformStart (4) ReformStart (5) Reform„Geschäftsprozessoptimierung“ Start (6) ReformStart (7)
„Kontenplan“, „Produktrahmen“, „technische Umsetzung Kosten- und Leistungsrechnung“, organisatorischen Handlungsbedarf identifizieren“, „Finanzstatistik“, „Pilotierung“, „Nachjustieren“
„Produktivstart Haushaltsbewirtschaftung“
Abbildung 3:
„Aufstellung Konzernbilanz“
ReformEnde (3)
NKF-Qualifizierung der Mitarbeiter „Auswahl Software“, „IT-Zeitplanung“, „Einführung doppische Kasse“, „Anbindung Komplementärsoftware“, „Berechtigungs- und Schnittstellenkonzept“, „Vornahme von Systemeinstellungen, Programmierungen, Altdatenübernahme“ „Struktur Haushaltsplan“, „Konzept Organisation Finanzbuchhaltung“, „Abgleich mit Produkten, Produktrahmen, Kontenplan“, „Erarbeitung Konzepte Steuerung, Controlling, Berichtswesen“
Zeit (Jahresabschnitte) 2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Die in Abbildung 3 dargestellten zeitlichen Unterscheidungen lassen sich wie folgt näher beschreiben: Für das Ende ihrer NKF-Reform hatte die Stadt X mehrere Zeitpunkte markiert, davon wurden zwei terminlich fixiert: Zum einen (1) wurde für fast alle Ziele des Reformprojekts (Umstellung des Rechnungswesens auf doppelte Buchführung, Einführung eines Produkthaushalts usw.) eine Frist bis zum 1. Januar 2009 terminiert (Dokumente EAE4; EAE5; EAE6; EAE7; EAE8).327 Einzige Ausnahme (2) war die Frist für das Reformziel des Aufstellens eines Gesamtabschlusses („Konzernbilanz“). Dieses Ziel sollte spätestens zum Stichtag 31.12.2010 erreicht werden. Diese beiden organisationale Befristungen der Reform schlossen an Regelungen des NKF-Gesetzes (§ 1 und § 2 NKFEG NRW) an und übernahmen dabei auf den Tag genau die rechtlich normierten Termine. Allerdings bezogen sich diese Fristen auf eine projektförmig organisierte Reformperiode. Darüber hinaus (3) konnte ich in Texten der Stadt X aber mehrere Hinweise darauf finden, dass die durch das NKF angeleiteten Änderungen von Strukturen über das Ende des geplanten Reformprojekts hinausgehen würden (siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt 5.5.4). Wann diese Strukturänderungen dann letztendlich zum Abschluss der NKF-Reform in den 2010er Jahren führen und den Wechsel von einer reformierenden Organisation zu einer reformierten Organisation markieren würde, ließ die Stadt X terminlich im Unklaren. Für die Feststellung eines organisationalen Starttermins der NKF-Reform haben sich sieben verschiedene Markierungen angeboten: (1) Bereits im Mai des Jahres 2004 wurden in X-Stadt zwei Texte produziert (EAE1 (Bericht „Produkthaushalt in X-Stadt“) und EAE2 (Powerpoint-Foliensatz „Produkthaushalt in XStadt“)), die im Rahmen der Themenschwerpunkte „Einführung eines Produkthaushalts (PHH)“ und „Einführung einer Kosten- und Leistungsrechnung (KLR)“ zum Teil an das im Mai 2004 bereits in einer Entwurfsfassung bekannte NKF-Gesetz anschlossen und die möglichen Folgen der gesetzlichen Vorgaben für die Stadt X beschrieben. In der Selbstbeschreibung der Stadt X spielten diese Texte für zeitliche Unterteilungen der NKF-Reform jedoch keine Rolle, da spätere Texte diese Dokumente nicht als Startpunkte der NKF-Reform in X-Stadt bezeichneten. Ein weiterer möglicher Termin (2) für den Beginn der Reform in X-Stadt ist der Juni 2004, da in einem im März 2005 durchgeführten Interview die reformierende Organisation in Bezug auf das NKF als „seit Mitte Juni letzten Jahres in der Startphase“ (IP31) beobachtet wurde. Als Starttermine der NKFReform kommen auch (3) die Entscheidung zur Einsetzung eines Kernteams zur Erarbeitung eines Grobkonzepts für die Reform am 21. September 2004 (EAE4) oder (4) die Markierung des Beginns der Reformprojektphase „Erarbeitung 327
Zur Unterscheidung von Terminen und Fristen siehe Luhmann 2000b, 174ff.
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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Grobkonzept“ mit dem Datum 1. Oktober 2004 (EAE5 und EAE6) in Betracht. Außerdem (5) wird in einer grafischen Darstellung von ‚Meilensteinen‘ in der Zeitplanung des Reformprojekts der 1. Januar 2005 als Beginn der Einführung des NKF in X-Stadt terminiert (EAE5 und EAE6). Eine weitere Datumsmarkierung des Reformbeginns (6) kann in der am 18. Januar 2005 im Verwaltungsvorstand getroffene Beschluss bezüglich der „Grundsatzentscheidung zur Einführungskonzeption“ (EAE4) gesehen werden. Schließlich (7) wurde die „Kick-OffVeranstaltung“ am 17. Februar 2005 zur NKF-Reform als „offizieller Projektstart“ in X-Stadt beobachtet (TB3). Ich möchte nun in meiner methodischen Beobachtung der skizzierten Terminierungen darauf verzichten, die Selbstbeschreibung der Organisation in Bezug auf die Datierung eines Anfangstermins zu disambiguieren und Kriterien für eine organisationssoziologisch ‚richtige‘ Fremdbeobachtung der Startzeit der NKF-Reform zu konstruieren. Zur Beantwortung der Frage, welche Subperiode(n) der Reformperiode „NKF“ ich beobachtet habe, genügt es zu erkennen, dass die Stadt X sich selbst im Zeitraum meiner Fallstudie als reformierende Organisation betrachtet hat, die entweder mit der NKF-Reform „gerade erst“ (IP7) begonnen hat oder in Kürze beginnen wird. Trotz unterschiedlicher Datierungen des Reformstarts war man sich in den ersten fünf Monaten des Jahres 2005 einig, dass man „ganz am Anfang“ (IP36) der Reform stehen würde. Kriterium für diese organisationale Selbstbeschreibung des eigenen Zeitschemas war erstens die Darstellung eines ‚Meilensteins‘ in der Zeitplanung der Reform, der eine Frist bis zum 01.01.05 als datiertes Ende der ersten Subperiode der NKF-Reformperiode konstruierte (EAE5 und EAE6). Zweitens wurden in diesen beiden Texten in der Subperiode vom 01.10.04 bis zum 01.01.06 mehrere Phasen mit Verweisen auf konzeptionelles und vorbereitendes Entscheiden bezeichnet („Erarbeitung Grobkonzept“, „betriebswirtschaftliches Gesamtkonzept“, „NKFQualifizierung der Projektmitglieder“ und „Vorbereitung der Projektarbeit“) und diese Phasen von einer späteren Phase der „Umsetzung“ unterschieden. Drittens wurde bis zum Abschluss meiner Datenerhebung im Mai 2005 diese Subperiode der „Konzeption“/„Vorbereitung“ auch deshalb als Phase des Reformbeginns verstanden, weil die in dieser Phase zu gründende Projektorganisation zum Thema „NKF“ noch nicht – wie ohne Befristung geplant – in allen Teilen suborganisational ausdifferenziert war (IP51). Die Stadt X hat sich in der Periode meiner Fallstudie demnach immer wieder neu als eine Organisation gesehen, die derzeit damit beginnt oder gerade erst begonnen hat, sich selbst nach Maßgabe des Pakets „NKF“ zu reformieren. In der Eigenzeit der Reformperiode hatte die reformierende Organisation „Stadt X“ also noch sehr viel Reformzukunft vor sich.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
5.5.1 „Ultra posse nemo obligatur“: Produkte, Nachfrage und Effekte in der reformierenden Stadt X Mit der ersten Hypothese wurde oben die theoretische Annahme formuliert, dass Organisationen eine Reform als Paket wahrscheinlich dann akzeptieren, wenn sie an die im Paket enthaltenen spezifischeren Zukunftsbeschreibungen in der Weise selektiv anschließen, dass nur die als steuerbar vermuteten zukünftigen Zustände als Ziele gewählt werden. Anders formuliert besagt diese Vermutung: Eine Reform kann als eine generalisierte Einheit unspezifisch von einer Organisation akzeptiert werden, sofern einige der durch diese Generalisierung bezeichneten spezifischeren Differenzen einer Reform verneint werden, und zwar nach Anleitung der Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten. Für methodische Beobachtungen zu dieser Aussage habe ich in der Datenanalyse die folgenden Schritte gewählt: Zunächst (1) habe ich beobachtet, welche organisationalen Zukünfte die Stadt X im Anschluss an das Paket „NKF-Reform“ entwarf, welche Ketten von Respezifikationen dabei als Zwecke und Mittel (die als Kaskaden von Zweck-Mittel-Verschiebungen in Form von Oberzielen und Unterzielen vermutet werden (Kleidat 2003, 10)) konstruiert wurden und wie die Organisation diese von ihr beobachteten, spezifischen Reformerwartungen in der zukünftigen Zeit verteilt hat. Im nächsten Schritt (2) wurde analysiert, welche Steuerungsvermutungen nach dem Schema von Produkten, Nachfrage und Effekten mit verschiedenen Reformzukünften verbunden wurden. Dabei habe ich beobachtet, ob die Unterscheidungen von Reformprodukten, Reformnachfrage, Reformeffekten als Selektionsschema für die Akzeptanz oder Ablehnung von spezifischen Zweckbeschreibungen des Reformpakets „NKF“ fungiert haben. Im Folgenden sollen die Ergebnisse meines methodischen Vorgehens in Bezug auf die Hypothese 1 nach Anleitung der soeben skizzierten Schritte dargestellt werden. Angesichts der Masse der methodisch gewählten bzw. generierten Texte, die von mir ausgewertet wurden, möchte ich eine exemplarische Auswahl der inhaltsanalytisch und quantifizierend erzeugten Zweitbeobachtungen präsentieren. Damit mein methodisches Verstehen der Reformentscheidungen der Stadt X möglichst nachvollziehbar werden kann, habe ich mich für eine ausführliche Darstellung einzelner analytischer Entscheidungen am Beispiel verschiedener Textstellen entschieden. Diese kleinteilige Beschreibung meines Verstehens soll zudem exemplarisch mein Vorgehen bei den Inhaltsanalysen mit Bezug zu meinen anderen Hypothesen veranschaulichen. Dabei werde ich hier auch solche Möglichkeiten des Beobachtens aufzeigen, die als plausible Alternativen methodischen Beobachtens im Verhältnis zu dem von mir gewählten Verständnis betrachtet werden können. Dies geschieht, um die Kontingenz des methodischen Entscheidens zu verdeutlichen.
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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(1) Ich beginne die Darstellung der methodischen Ergebnisproduktion zur Hypothese 1 mit dem Beispiel der Zweitbeobachtung der Dokumente EAE5, EAE6 und EAE3. Welche durch Reform zu erzielenden Zukünfte sind in diesen Schriftstücken beschrieben worden? Im Dokument EAE5 findet sich direkt unter der Überschrift „Projektziel“ folgender Satz: „Ziel des Projektes ist die Umsetzung und das Ausfüllen der gesetzlichen Vorgaben des NKFG NRW unter Berücksichtigung der (…) Besonderheiten [von X-Stadt; CPK] spätestens zum 01.01.2009.“328
Mit „Projekt“ war in X-Stadt in Kontext des Dokuments EAE5 nichts anderes als die NKF-Reform gemeint. In anderen Textpassagen dieses Dokuments ist die Reform alternativ sehr häufig als „Einführung des NKF“ bezeichnet worden. Die Unterscheidung „Projekt“ implizierte somit im weiteren Zusammenhang den Verweis auf die organisationale Entscheidung, das Paket „NKF“ einzuführen, also weitere Entscheidungen an diejenige Entscheidung künftig anzuschließen, die die Zielsetzung formulierte, sich selbst zu reformieren. Außerdem konnte die synonyme Verwendung der Ausdrücke „Projekt“ und „Reform“ und „NKFEinführung“ sprachlich dazu beitragen, die hier zu entfaltende Tautologie („Ziel der NKF-Reform ist die Einführung des NKF“) zu verschleiern. Die Reformabsicht wurde im oben zitierten Satz des Dokuments EAE5 zunächst durch die Zukunftsbeschreibungen „Umsetzung“ und „Ausfüllen“ spezifiziert. Im Zusammenhang mit den im Text anschließenden Referenzen auf den Reformdiskurs „NKF“ und auf die Individualität der Stadt X verdeutlicht der Satz, wie das Umsetzen und Ausfüllen des Reformpakets vollzogen werden sollte. Das NKFGesetz wurde als ein Input im Sinne eines Rahmens für eigenes Entscheiden beobachtet: Die Vorgaben des Gesetzes hatte die Stadt X sowohl als normative Orientierungen für Entscheidungen verstanden, die sie als vom NKF-Gesetz betroffene Organisation würde treffen ‚müssen‘, wie auch als Generatoren von Freiheiten, die im Ausfüllen der mit der Gesetzgebung einhergehenden, programmatischen Lücken liegen würden. Das letztgenannte Verständnis eröffnete somit Freiräume für Entscheidungen, die die Organisation als ‚kreative Eigenleistungen‘ oder als ‚Basteleien‘ im Umgang mit den rechtlichen Vorgaben des Reformgesetzes sich selbst zurechnen konnte. Schließlich hat der Satz in seinem letzten Teil mit der Formulierung „spätestens zum 01.01.2009“ das Ziel einer befristeten Reform entworfen. Die beiden anschließenden Sätze im nächsten Dokument EAE5 haben dann weitere organisationale Reformzukünfte spezifiziert. Dies geschah sprachlich in eher impliziter Form, da weder Ziele oder sons328
Zwecks Anonymisierung habe ich in diesem Zitat den Namen der Organisation durch die Bezeichnung „X-Stadt“ ersetzt.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
tige Bezeichnungen für künftige Soll-Zustände, sondern einfach Verben im Futur zur sprachlichen Markierung von möglichen Direktiven der Reform genutzt wurden: „Im Rahmen einer optimalen Projektstruktur unter Einsatz notwendiger Personalund Sachressourcen wird nicht nur das Rechnungswesen von der Kameralistik auf die doppelte Buchführung überführt. Gleichzeitig werden die zuvor aufgezeigten Vorteile insbesondere hinsichtlich neuer städtischer Steuerungsinstrumentarien in Zusammenarbeit mit der Politik und der Verwaltungsleitung erarbeitet.“
Die im ersten Satz dieser Textstelle genannten Zukünfte habe ich als Skizze einer prospektiven Zweck-Mittel-Konstellation verstanden: Die Zukünfte „optimale Projektstruktur“ und „notwendige Personal- und Sachressourcen“ sollten in künftigen Organisationszeiten als Mittel für den Zweck „Überführung des Rechnungswesens von der Kameralistik auf die doppelte Buchführung“ (und für weitere Zwecke) wirken. Die Zukunft „Projektstruktur“ bezeichnete in diesem Verständnis eine (in der Zeitperspektive des Dokuments EAE5) noch zu gründende Suborganisation der Behörde der Stadt X („Reformprojektorganisation“), deren Organisationszweck in der Einführung des NKF in X-Stadt liegen sollte. Der zweite Satz birgt aus meiner Sicht ebenfalls ein Zweck-Mittel-Schema: Das hier nicht als solches beschriebene Kausalverhältnis konstruierte (aus Sicht der künftigen Parallelorganisation) eine „Zusammenarbeit mit der Politik und der Verwaltungsleitung“ als zukünftige Ursache der noch weiter in der Zukunft liegenden Wirkungen der „zuvor aufgezeigten Vorteile“. Mit „Vorteilen“ waren hier neben den „neuen Steuerungsinstrumentarien“ die auf der Seite 3 des Dokuments EAE5 genannten Werte „Transparenz“, „Effizienz“ und „Partizipation“ gemeint. Die Ausführungen unter der Überschrift „Projektziel“ wurden im Dokument EAE5 mit folgenden Satzfragmenten fortgesetzt, die explizit als „Ziele“ bezeichnete Zukünfte beschrieben haben: „Die (…) Ziele [von X-Stadt; CPK] (Zitat zwecks Anonymisierung verändert) im Einzelnen: - Organisation des Rechnungswesens nach dem System der doppelten Buchführung und Einrichtung einer Finanzbuchhaltung mit Buchführung, Zahlungsabwicklung und Liquiditätsplanung unter Beachtung der Sicherheitsstandards, - Eröffnungsbilanz unter Berücksichtigung der spätestens zum 31.12.2010 vorzunehmenden Einbeziehung aller verselbständigten Aufgabenbereiche zum Gesamtabschluss (Konzernbilanz), - doppischer, produktorientierter und/oder Verantwortungsbereiche abbildender Haushaltsplan incl. entsprechendem Jahresabschluss, - Abbildung der Finanzstatistiken, - flächendeckender Einsatz der Kosten- und Leistungsrechnung,
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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- produktorientiertes Planungskonzept und -verfahren für den Haushalt auf der Grundlage der einzusetzenden Ressourcen zur Zielerreichung, - produktorientiertes, mehrstufiges Controllingkonzept und -verfahren für die Finanz- und Leistungsdaten, - qualifizierte Projektmitglieder und NKF-Anwender, - Einsatz einer NKF-geeigneten Software.“
Die einleitende Formulierung „im Einzelnen“ verstehe ich als Verweis auf Differenzierungen und Respezifizierungen der vom Reformpaket symbolisierten organisationalen Zukunft, die an die als „Einführung des NKF“ bezeichnete Entscheidung zu Beginn der Reform anschließen sollen. In dieser Zukunftsbeschreibung ist zu erkennen, dass es hier nicht (wie im vorigen Textabschnitt) um eine extrem simplifizierende Kurzerläuterung der Generalisierung „NKF“ mit Stellvertretungsfunktion à la „Überführung des Rechnungswesen von der Kameralistik auf die doppelte Buchführung“ geht, sondern die Kompaktheit des Reformpakets in geordneter Weise in Entscheidungsprämissen aufgelöst werden soll. Dies geschieht, indem mit einer sachlichen Zerlegung der Organisationszukunft begonnen wird, die nach dem Stufenschema einer Zielpyramide „Oberzwecke“ und „Unterzwecke“ unterscheidet und kaskadenhaft Zwecke und Mittel von Stufe zu Stufe verschiebt: Zugleich werden dabei aus (im Verhältnis zu ihren Unterzielen) unspezifischen Oberzwecken spezifischere Unterzwecke (= Mittel zur Verwirklichung von Oberzwecken) abgeleitet. Aus Sicht der Organisation lautete das Oberziel: „NKF-Einführung“. Das organisationale Ziel „NKFReform“ wurde durch Unterziele konkretisiert, die als Reformziele „im Einzelnen“ die Reform – über das Symbol „NKF“ hinaus – durch weitere Unterscheidungen inhaltlich näher bestimmten. Im zitierten Text wurden diese Reformziele als auf einer Spezifikationsstufe liegend dargestellt, so dass vermittelt werden konnte: Diese Zwecke sind die spezifischeren Bestandteile der Reform. Das Schema der Zielpyramide wurde auf der Seite 6ff. des Dokuments EAE5 (unter der Überschrift „3.3 Projektaufträge“) fortgesetzt. Die Reformziele „im Einzelnen“ wurden hier durch als „Projektaufträge“ bezeichnete Unterziele spezifiziert, fungierten also in diesem Verhältnis als Oberziele für Projektaufträge. Im nächsten Schritt wurden die Projektaufträge dann wiederum ihrerseits zu Oberzielen, denn in dem später verfassten Dokument EAE6 wurden diese durch anschließende Unterziele in einer nächsten Spezifikationsstufe dekomponiert. Im Anschluss an diese Beobachtungen von Ziel-Mittel-Schematisierungen kann in der Zeitdimension eine deutliche Markierung von zwei Subperioden zu Beginn der Reformperiode beobachtet werden, die für die weitere Analyse der von X-Stadt konstruierten Zeitschemata wichtig ist: Denn eine erste Beschreibung einer Zweck-Mittel-Konstellation der Stadt X im Kontext der NKF-Reform besagte sinngemäß: ‚Damit die Stadt X die NKF-Reform durchführen kann, wird
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
eine Reformprojektorganisation benötigt‘. In der ersten Subperiode zu Beginn der Reform wurde die reformierende Parallelorganisation, die in Hinsicht auf die gesamte Reformperiode als Mittel fungieren sollte, als Ziel verstanden. Denn in der Frühphase der Reform Anfang des Jahres 2005 musste diese Suborganisation erst gegründet werden, also eine Mitgliedschaftsgrenze gesetzt, Personal rekrutiert, fachliche und hierarchische Kommunikationswege festgelegt, Grenzstellen zur „Restorganisation“ der Stadt X ernannt und über Programme – „Projektaufträge“ und „Spielregeln“ (Dokument EAE6) – entschieden werden. In der zweiten Subperiode wurde diese in der Sprache der Stadt X „Projektstruktur“ benannte Suborganisation aus Sicht der Stadt X dann wieder Mittel für das Ziel „Einführung des NKF“. Die Dokumente EAE5 und EAE6, die nach meinen Beobachtungen die zentralen Vorgaben für weitere Entscheidungen zur NKF-Reform formulierten, beschrieben die programmatische Umsetzung der Reform in der Subperiode 2 aber nicht aus Sicht der Stadt X, sondern bereits aus Sicht der noch zu gründenden Parallelorganisation, also in der Perspektive der zukünftigen Gegenwart einer organisational etablierten Reformprojektorganisation! In dieser Perspektive wurden dann die meisten der zu erreichenden Ziele der NKF-Reform als Outputs der reformierenden Suborganisation betrachtet, die an die externe „Restorganisation“ der Stadt X ‚zur Weiterverarbeitung‘ abgegeben wurden. Das Kausalschema, das ich hier beobachtet habe, lautete: Eine parallel zum Normalbetrieb der Gesamtorganisation arbeitende Reformprojektorganisation soll Entscheidungen zur NKF-Reform treffen, die die Strukturen der gesamten Organisation verändern werden. Die Suborganisation „Projektstruktur“ wurde somit als Ursache eines Strukturwandels betrachtet, der in der gesamten Organisation wirkt. Die Nutzung dieses Kausalschemas lässt sich nun nicht nur in verschiedenen Dokumenten beobachten, sondern in unterschiedlicher Formulierung auch in allen Interviewprotokollen. Daher habe ich mich dafür entschieden, diese Perspektive der organisationalen Selbstbeschreibung für meine Fremdbeobachtung zu übernehmen und die im Hinblick auf Reformziele konstruierten Kausalannahmen aus Sicht der reformierenden Suborganisation zu betrachten. Bevor ich jedoch verschiedene organisationale Steuerungsvermutungen nach der Differenz von „kausal beherrschbar“ und „kausal nicht beherrschbar“ im Schema von Produkten, Nachfrage und Effekten beobachte, soll zunächst ein methodischer Zwischenschritt exemplarisch dargestellt werden, nämlich die Unterteilung von in der Sachdimension und in der Zeitdimension unterschiedenen (durch Reform zu bewirkenden) Organisationszukünften, und zwar nach dem Schema aufeinander folgender Schritte (‚erst dies‘, ‚dann das‘, ‚darauf folgt dies‘ usf.). Zur Veranschaulichung meines Verstehens der zeitlichen Gliederung von Reformzielen der X-Stadt nutze ich Textauszüge aus dem Dokument EAE3.
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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Diese Beobachtungen sollen zugleich als weitere Beispiele für meine Anwendung des inhaltsanalytischen Verfahrens der engen Kontextbeobachtung fungieren. Bei dem Dokument EAE3 handelt es sich um eine Ausgabe (September 2004) einer nur innerhalb der Behörde der Stadt X verbreiteten Zeitschrift. In einem Artikel zur NKF-Reform, der mit Zitaten aus einem Interview mit einer als „Finanzfachmann“ bezeichneten Kompetenz der Stadt X garniert wurde, heißt es dort: „Anders als beim kameralistischen System verlangt das neue Rechnungswesen immer eine Betrachtung auch des Wertverlustes des Kommunalvermögens, wie Gebäude oder Fahrzeuge. Beispielsweise wird parallel zur Abnutzung eines Gebäudes nun dieser Aufwand über Abschreibungen erfasst. (…) Dadurch soll das NKF-Ziel ‚Generationsgerechtigkeit‘ erreicht werden. Künftige Belastungen werden somit rechtzeitig sichtbar. Weiterer Vorteil des NKF ist die Vereinheitlichung des durch die Auslagerung von bestimmten Aufgaben in selbstständige Betriebe jetzt zersplitterten zweiteiligen Rechnungswesens (Haushalt = Kameralistik, Betriebe = Doppik).“
Zum einen werden mit diesen Aussagen NKF und Kameralistik im Schema besser/schlechter verglichen („Anders als beim kameralistischen System…“ und „Weiterer Vorteil des NKF…“), und diese Bewertungen der beiden Typen des Haushalts- und Rechnungswesens mit zeitlichen Differenzierungen verbunden. „Jetzt“ ist das Rechnungswesen „zersplittert“, während in Zukunft „das neue Rechnungswesen“ für Transparenz sorgt. Zum anderen werden verschiedene Zielbeschreibungen und Vorteile des NKF auf verschiedene Zeiträume verteilt. Erst (Zielbeschreibung in der Zukunft Nr. 1) werden Wertverluste des Kommunalvermögens erfasst (also die Vergangenheit des kommunalen Vermögens betrachtet), dann werden (Zielbeschreibung in der Zukunft Nr. 2) künftige Belastungen sichtbar (also die Zukunft des kommunalen Vermögens beobachtet). Und wenn anschließend (Zielbeschreibung in der Zukunft Nr. 3) die Organisation ihren Haushalt so steuert, dass die kommunalen Schulden zumindest nicht weiter anwachsen, kann letztendlich (Zielbeschreibung in der Zukunft Nr. 4) das NKFZiel „Generationengerechtigkeit“ erfüllt werden. Das Verhindern einer künftigen Zunahme organisationaler Schulden, das ich als Zielbeschreibung in der Zukunft Nr. 3 beobachte, wird in diesem Textausschnitt zwar nicht explizit mitgeteilt, doch das in den Sätzen implizierte Kausalskript in Richtung der Wirkung „Generationengerechtigkeit“ wird wohl jedem Verwaltungsentscheider so stark vertraut sein, dass die Zielbeschreibung der Schuldenvermeidung als ‚fehlendes Bindeglied‘ zwischen der Sichtbarkeit künftiger Belastungen und einer Generationengerechtigkeit verstehend in den Text ‚hineingelesen‘ werden dürfte.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
(2) Im zweiten Schritt meiner Datenanalyse im Anschluss an die Hypothese 1 geht es um die methodische Beobachtung von Steuerungsannahmen der Stadt X, die sich auf verschiedene Reformrespezifikationen beziehen: Welche Reformzukünfte wurden aus Sicht der Parallelorganisation bzw. Reformprojektorganisation von X-Stadt als Produkte, Nachfrage oder Effekte behandelt? Vorab beschreibe ich meine Kriterien und Verfahren für das Erkennen von Reformprodukten, Reformnachfrage und Reformeffekten: Reformprodukte unterscheiden sich von Reformnachfrage und von Reformeffekten theoretisch dadurch, dass die Organisation darauf vertraut, die vermuteten Kausalfaktoren für das Bewirken des Produkts im Griff zu haben. Dieses Vertrauen in die Beherrschbarkeit der Herstellung von Produkten kann man in der Organisationskommunikation erstens daran erkennen, dass an die Beschreibung einer Reformzukunft in spezifizierender Weise durch Entscheidungen angeschlossen wird. Dabei werden Ketten zusammen und nacheinander wirkender Ursachen und Wirkungen in der Form von Zwecken und Mitteln erzeugt. Diese Verkettungen entlang der Spezifizierungen des Oberziels „Produkt“ bauen als fortgesetzte Zweck-Mittel-Verschiebungen im Schema von Oberzielen und Unterzielen pyramidenhaft aufeinander auf, so dass ein kausales Modell generiert wird, das der Organisation als ein sicheres und stabiles Gerüst erscheint und eine Anleitung bietet, wie das Produkt bewirkt werden kann. Das Kriterium „Grad der Spezifikation“ der organisationalen Mittel bzw. Ursachen zur Herstellung des Produkts verweist in diesem Verständnis also darauf, dass die Organisation es aus ihrer Sicht selbst in der Hand hat, den zukünftigen Zustand zu verwirklichen. Zweitens können Reformprodukte daran erkannt werden, dass sie als ‚echte‘ Zwecke der organisationalen Planung fungieren: Die zur Herstellung des Produkts konzipierte Zielpyramide wird organisational nicht nur als Beschreibung einer möglichen Zukunft mit Fassadenfunktion beobachtet, sondern intern als Programmierung eines Zwecks verstanden und in die Planung der Organisation aufgenommen. Als ein drittes Kriterium für das Beobachten von Produkten konstruiere ich die „Zweifellosigkeit“ der mit der beabsichtigten Wirkung verbundenen Kausalunterstellung. Die Organisation stellt die Möglichkeit des eigenen Bewirkens der betrachteten Zukunft nicht in Frage, sondern betrachtet die organisationale Beherrschung der Differenzänderung in Richtung des angezielten Zustands als Selbstverständlichkeit: Die Steuerung – so die organisationale Vermutung – mag vielleicht schwierig sein, aber das, was man sich für die Zukunft vornimmt, ist auf jeden Fall machbar. Negiert man die soeben aufgeführten Kriterien für das Erkennen von Produkten, erhält man eine theoretische Anleitung für das methodische Beobachten von Effekten: Die kausale Modellierung der gewählten Zukunftsbeschreibung bleibt oberflächlich und wird nicht im Detail veranschaulicht. Anschließende Spezifizierungen der beabsichtigten Zukünfte in
283
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
Entscheidungsprogrammen fehlen ebenso wie deren Einbindung in Organisationspläne. Es wird einfach behauptet, dass eigene Entscheidungen den künftigen Zustand ‚irgendwie‘ bewirken werden. Die Möglichkeit des organisationalen Verursachens des gewünschten Zustands wird zwar bejaht, die Kausalbeziehung von Organisation und Zukunft ist jedoch brüchig, so dass das Bewirken des Zustands als unsicher vermutet wird. Zukünfte, die sich auf Nachfrage beziehen, verweisen immer auf ein Publikum bzw. auf mehrere Publika. Die beschriebene Zukunft muss also in irgendeiner Form auf eine asymmetrische und komplementäre Beziehung von leistenden Experten und diese Leistungen nachfragenden und/oder konsumierenden Laien referieren. Die Anwendung dieser Kriterien in der strukturierenden und explizierenden Inhaltsanalyse aller erinnerten Dokumente zum NKF und aller Interviewprotokolle hat nun Möglichkeiten erzeugt, die organisationale Verteilung von Zukunftsbeschreibungen des Pakets „NKF“ im Schema von Reformprodukten, Reformnachfrage und Reformeffekten auf eine bestimmte Weise methodisch zu beobachten. Mein Verständnis dieser Dispositionen möchte ich in tabellarischer und grafischer Form in zwei Darstellungen zusammenfassen. Die Abbildung 4 hebt die zeitlichen Unterteilungen der aus Sicht der reformierenden Projektorganisation der Stadt X durch Reformentscheidungen zu bewirkenden Zukünfte und die mit zunehmender zeitlicher Entfernung vom aktuellen Entscheiden zunehmende Brüchigkeit der organisationalen Kausalunterstellungen hervor. In der Tabelle 1 liegt der Schwerpunkt hingegen auf einer adäquaten Darstellung der in der Sachdimension zu beobachteten Unterscheidungen der Zukünfte im Schema von Produkten, Nachfrage und Effekten. Dabei wurden die als Reformprodukte, -nachfrage oder -effekte verstandenen Formulierungen der Dokumente und Protokolle geringfügig paraphrasiert. Abbildung 4:
ReformprojektOrganisation (ParallelOrganisation) der Stadt X
Gegenwärtiges Entscheiden
Produkte, Nachfrage und Effekte der NKF-Reform aus Sicht der Reformprojektorganisation der Stadt X (Schwerpunkt der Darstellung in der Zeitdimension) ReformProdukte: Doppik, KLR, Vermögensbewertung, Bilanz, Schulungen usf. Zukunft 1
ReformNachfrage: Volksvertretung, Haushaltsplaner, Bilanzbuchhalter usf.
ReformEffekte 1: Transparenz des Wirtschaftens, Neue Steuerungsmöglichkeiten
ReformEffekte 2: Steigerung der Effizienz der Organisation, stärkere Partizipation des Publikums
ReformEffekte 3: Generationengerechtigkeit (langfristig nachhaltiger Einsatz finanzieller Ressourcen)
Zukunft 2
Zukunft 3
Zukunft 4
Zukunft 5
284
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Tabelle 1: Produkte, Nachfrage und Effekte der NKF-Reform aus Sicht der Reformprojektorganisation der Stadt X (Schwerpunkt der Darstellung in der Sachdimension) Produkte (inkl. Produktion)
Nachfrage
Effekte
Spezifikationsstufe 0: - Aufstellung der Eröffnungsbilanz unter Berücksichtigung der Anforderungen an die Konzernbilanz Spezifikationsstufe 1: - Erfassung und Bewertung von Anlagevermögen, Umlaufvermögen, Sonderposten, Rückstellungen, Verbindlichkeiten und Rechnungsabgrenzungsposten - Ermittlung der Ausgleichsrücklage - Definition der künftigen Geschäftsprozesse und Anpassung/Erarbeitung entsprechender dienstlicher Regelungen Spezifikationsstufe 0: - Bereitstellung einer NKF-geeigneten Softwareumgebung Spezifikationsstufe 1: - Altdatenübernahme - Programmierung von Systemeinstellungen - Anbindung von Komplementärsoftware - Ausarbeitung eines Berechtigungs- und Schnittstellenkonzepts - Umstieg auf die doppische Kasse Spezifikationsstufe 0: - Flächendeckende Einführung des Produkthaushalts und der Kosten- und Leistungsrechnung Spezifikationsstufe 1: - Produktbildung und Abgleich der bereits gebildeten Produkte mit den gesetzlichen Vorgaben des NKF - Überprüfung und ggf. Anpassung des bestehenden KLRKonzepts auf die Anforderungen des NKF - Erarbeitung eines produktorientierten Planungskonzepts für den Haushalt - Konzeptionierung eines produktorientierten Controllingverfahrens - Entwicklung und Darstellung des Jahresabschlusswesens - Entwicklung von Kennzahlen zur Leistungsmessung - Erarbeitung von Vorschlägen für Zielvereinbarungen Spezifikationsstufe 0: - Erarbeitung eines Steuerungskonzepts für die Stadt X Spezifikationsstufe 1: - Erarbeitung von Konzepten für Controlling und Berichtswesen, die Organisation der Finanzbuchhaltung, aufbau- und ablauforganisatorische Veränderungen, die Struktur des Haushaltsplans Spezifikationsstufe 0: - Zielgruppenspezifische Kommunikation und Information der Beschäftigten und der Politik Spezifikationsstufe 1: - Identifikation der zu qualifizierenden Zielgruppen - Festlegung der Schulungsinhalte je Zielgruppe - Auswahl geeigneter Referenten - Qualitätssicherung
Alle Mitglieder der Volksvertretung der Stadt X
Das Wirtschaften der Stadt X wird transparenter für die Stadt X
Alle Mitglieder der Behördenspitze der Stadt X
Behörde und Volksvertretung der Stadt X verfügen über neue Steuerungsmöglichkeiten
Alle Bilanzbuchhalter der Stadt X
Die Stadt X wird ihre Aufgaben effizienter wahrnehmen
Alle Haushaltsplaner der Stadt X
Die Bürgerinnen und Bürger gewinnen an Informationen über das Haushalts- und Rechnungswesen von X-Stadt
Alle Haushaltsbewirtschafter der Stadt X
Die Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern in XStadt kann sich erhöhen
Alle Buchhalter der Stadt X
Die interkommunale Vergleichbarkeit erhöht sich
Alle Rechnungsprüfer der Stadt X
Das NKF sorgt für Generationengerechtigkeit Die Organisationsmitglieder sind für den Umgang mit dem NKF qualifiziert
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
285
Wie angekündigt, möchte ich das Verfahren zur Erzeugung meines Verständnisses des organisationalen Gebrauchs der Unterscheidungen von Produkten, Nachfrage und Effekten in Bezug auf die NKF-Reform im Folgenden anhand von Beispielen veranschaulichen: Bei der inhaltsanalytischen Konstruktion von Produkten habe ich drei verschiedene Spezifikationsstufen beobachtet. Es stellte sich daher für eine zusammenfassende Darstellung die Frage, welche Spezifikationsstufe abgebildet werden sollen. In der Tabelle 1 sind nun in der ersten Spalte Produktbeschreibungen der Spezifikationsstufen 0 und 1 zu sehen. Dabei veranschaulichen die Beschreibungen der ersten Spezifikationsstufe die Zerlegungen der Zielbeschreibungen der nullten Stufe und damit den Aufbau von Reformkomplexität. Die Produktzukünfte dieser Spezifikationsstufen können im Vergleich zu den sehr umfangreichen Produktbeschreibungen der Spezifikationsstufe 2 im Rahmen der hier gewählten Darstellungsform noch einigermaßen übersichtlich präsentiert werden. Am Beispiel der organisationalen Zukunftsbeschreibung „Einführung des Produkthaushalts“ möchte ich kurz darlegen, wie ich nach den oben skizzierten theoretischen Kriterien zur methodischen Beobachtung eines Reformprodukts gekommen bin: Erstens wurde die „Einführung des Produkthaushalts“ (definiert als nullte Stufe der Produktspezifikation) von X-Stadt mit zunehmender Dauer der Reform in zwei weiteren Stufen spezifiziert. Die Spezifizierungen der Stufe 1 lassen sich wie folgt verstehen: Da die Stadt X in ihrer Vergangenheit bereits Produkte für einzelne Ämter definiert hatte, wurde die Bezeichnung „Einführung des Produkthaushalts“ weiterhin dadurch spezifiziert, dass kontrolliert werden sollte, ob die bereits gebildeten Produkte mit dem rechtlich programmierten Produktrahmen des NKF-Gesetzes zu vereinbaren sind. Außerdem sollten Produkte in der Organisation „flächendeckend“ definiert werden, das heißt, in weiteren Ämtern von X-Stadt eingeführt werden. Dabei war vorgesehen, dass sich die Produktorientierung sowohl steuernd und prospektiv auf die Planung des organisationalen Haushalts beziehen sollte, als auch kontrollierend und retrospektiv auf das Controlling. Die Produkte sollten schließlich mit Kennzahlen zur Messung von organisationalen Leistungen versehen werden und in Konzepte für Zielvereinbarungen integriert werden. Aufgrund des Umfangs der organisational erzeugten Sinnangebote in der von mir konstruierten zweiten Stufe der Spezifizierungen der Zukunftsbeschreibung „Einführung des Produkthaushalts“ stelle ich nun lediglich die an die Differenz „Produktbildung“ anschließende Kommunikation der Stadt X vor. Im Hinblick auf die Definition von Produkten wurden in dieser Stufe zunächst die Kategorienunterscheidungen von Produkten, Produktgruppen und Produktbereichen
286
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
eingeführt und mit der Frage des Detaillierungsgrads und der Gliederungstiefe verbunden. Des Weiteren wurde das Kriterium der „eindeutigen Zuordnung von Produkten zu Organisationseinheiten“ als Prämisse eingeführt und daran anschließend eine spezifizierende Entscheidungsalternative als Frage formuliert: Soll die Produktbildung sich in jedem Fall an der aktuellen Gliederung der Organisation in Suborganisationen (Dezernate, Stäbe, Ämter, Abteilungen) orientieren, oder sollen Suborganisationen fusionieren (z. B. durch die Zusammenlegung von Ämtern), so dass suborganisationale Überschneidungen bei der Verknüpfung von Entscheidungen in Bezug auf die Herstellung bestimmter Produkte vermieden werden? Außerdem wurde problematisiert, wie Produkte „besonderer Organisationseinheiten“, nämlich der Output von Stäben und Bezirksämtern, beschrieben und in den Haushalt eingebunden werden sollte. Schließlich wurde die Definition von Produkten mit suborganisational unterschiedenen Fristen versehen, und zwar in der Form, dass festgelegt wurde, welchen Ämtern der Behörde der Stadt X bis zu welchem Termin die neuen Produktdefinitionen ihrer „Aufgaben und Leistungen“ von der Reformprojektorganisation mitgeteilt werden sollte. Durch diese Spezifikationen der organisationalen Zukunftsbeschreibung „Einführung des Produkthaushalts“ wird sichtbar, dass dieser Vorschlag des Reformpakets „NKF“ als konkretes Zweckprogramm aufgefasst wurde und in der Reformprojektorganisation Entscheidungen vorbereitet und getroffen wurden, die die Differenz des aktuellen Organisationszustands (kein Produkthaushalt) zum gewünschten Zustand (Produkthaushalt) verringern sollten. Die Kommunikation hinsichtlich des Zwecks „Produkthaushalt“ kann man demnach so verstehen, dass die reformierende Parallelorganisation der Stadt X geglaubt hat, die Ursachen für das Bewirken dieses Ziels steuern zu können. Zweitens spricht für ein Verständnis der Reformkommunikation „Einführung des Produkthaushalts“ als Reformprodukt, dass dieser Zweck als Entscheidungsprogramm mit anderen Entscheidungen über Entscheidungsprämissen verknüpft und somit von X-Stadt als Teil einer Planung der NKF-Reform verstanden wurde. Für Entscheidungen zu dieser Zwecksetzung wurde Personal der Behörde der Stadt X für eine Mitgliedschaft in der Reformprojektorganisation rekrutiert. In Bezug auf netzwerkartige Entscheidungsprämissen hat X-Stadt diesem Personal in der reformierenden Parallelorganisation nicht nur Stellen mit bestimmten fachlichen und hierarchischen Kompetenzen zugewiesen (EAE5; EAE6). Die Zielsetzung „Produkthaushalt“ wurde darüber hinaus auch in der Reformprojektorganisation suborganisational ausdifferenziert, indem innerhalb dieser Projektorganisation ein „Teilprojekt Ziele, Produkte“ gegründet wurde (neben mehreren weiteren Suborganisationen). Dies kann man als organisationale Konstruktion einer Zweck-Mittel-Relation beobachten, die eine stabile kausale
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
287
Beziehung in der Form unterstellt, dass das Mittel „Teilprojekt Ziele, Produkte“ den Zweck „Einführung des Produkthaushalts“ bewirken wird. Ein drittes Argument für mein Beobachten dieses Zwecks als Reformprodukt finde ich vor allem in den Protokollen der Interviews mit den an der NKFReform beteiligten Kompetenzen. In fünfzehn Interviews wurden „Schwierigkeiten“ bei der Erstellung des Reformzwecks „Produkthaushalt“ beschrieben. Die Schwierigkeiten bezogen die befragten Kompetenzen jedoch niemals generalisierend auf das Bewirken (des Produkthaushalts) als solches, sondern spezifischer auf noch unbeantwortete Fragen bei der Herstellung dieses Zustands. Dass die Stadt X dieses Ziel erreichen würde, galt als selbstverständlich und wurde trotz erwarteter Schwierigkeiten in der Steuerung („Konzeption und Implementation“) nie in Frage gestellt: „Wir befassen uns schon lange mit dem Produkthaushalt. Die Verwaltung ist in der Lage, das zu schultern“ (IP16). Die Möglichkeit eines Verfehlens des Ziels „Einführung des Produkthaushalts“ wurde zu keinem Zeitpunkt in Erwägung gezogen. Insofern habe ich die Äußerungen der Kompetenzen zu möglichen Schwierigkeiten bei der Verursachung eines Produkthaushalts so verstanden, dass man sich gerade deshalb mit den Fragen möglicher Probleme hinsichtlich der Bewirkung dieses Ziels befasst hat, weil die Organisation von der Möglichkeit der Verwirklichung dieses Ziels überzeugt war. Das skizzierte methodische Beobachten der Sinnzumutung „„Einführung des Produkthaushalts“ als Bewirken eines Reformprodukts dürfte nochmals anschaulicher werden, wenn diese mit Beobachtungen verglichen werden, die das methodische Erkennen von Reformeffekten angeleitet haben. Ich möchte das Beobachten von Effekten am Beispiel der durch die NKF-Reform in Aussicht gestellten verbesserten „Effizienz der organisationalen Aufgabenwahrnehmung“ zeigen. Eine durch das Paket „NKF“ angeleitete organisationale Beschreibung der Zukunft zu Beginn dieser Reform besagte: „Durch das NKF wird das Wirtschaften in der [Stadt X; CPK] transparenter. Es werden hierdurch nicht nur verwaltungsintern, sondern auch für die politischen Gremien, insbesondere den Rat, andere Steuerungsmöglichkeiten eröffnet, welche eine effizientere Aufgabenwahrnehmung ermöglichen“ (EAE5).
In dieser Beschreibung werden mehrere zukünftige Zustände genannt, die als Effekte vermutet werden können, nämlich die „Transparenz des Wirtschaftens“, die „anderen Steuerungsmöglichkeiten“ und die „effizientere Aufgabenwahrnehmung“. Im gesamten Dokument EAE5 ist dies die einzige Textstelle – das ist eine erste Auffälligkeit, die ich vorab vermerken möchte, in der die Stadt X solche Zukünfte in schriftlicher Form erwähnt hat. Ansonsten ist weder in diesem Schriftstück noch in irgendeinem später produzierten Dokument des Typs
288
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
„EAE“ von „Transparenz“, „Wirtschaftlichkeit“ oder „neuen Steuerungsmöglichkeiten“ (mit diesen oder ähnlichen Worten) die Rede gewesen. Die in dem zitierten Satz gewünschte, durch Reform zu bewirkende Zukunft einer effizienteren Organisation wurde exklusiv in einem mit „Einleitung“ betitelten Abschnitt des „Zwischenbericht Einführung NKF“ genannt, während im nächsten Abschnitt dieses Textes, der mit „Projektziele“ überschrieben war, mit keiner Silbe auf die Absicht einer „Verbesserung der Effizienz der Aufgabenwahrnehmung“ verwiesen wurde. Im Kontext dieser Überschriften lässt sich bereits vermuten, dass eine Steigerung der Effizienz des organisationalen Wirtschaftens nicht als von der Reformprojektorganisation anzusteuerndes Ziel verstanden wurde, bei dem es auf die Unterscheidung von Verfehlen und Treffen (= Zielerreichung) ankommen würde, sondern als hochstufige Generalisierung, die lediglich als mögliche unspezifische Folge der durch das NKF-Paket angeleiteten, als kausal beherrschbar unterstellten Änderungen von Entscheidungsprämissen eintreten könnte. Anders formuliert: Die Strukturänderungen des Reformpakets „NKF“, die man im Griff zu haben meinte (wie zum Beispiel die Einführung der doppelten Buchführung und der Kosten- und Leistungsrechnung) wurden als eine Ursache für die zeitlich weiter entfernte Wirkung „Effizienz“ konstruiert. Dieses methodische Verständnis der organisationalen Beobachtung einer durch das NKF zu verursachenden erhöhten Effizienz kann durch eine kleinteiligere inhaltsanalytische Beobachtung der oben zitierten Sätze konsolidiert werden. Denn diese Sätze nutzen das folgende Kausalschema: Sobald die NKFReform umgesetzt ist (Zukunft 1 in der Abbildung 4), wird das Wirtschaften transparenter und es ergeben sich andere Steuerungsmöglichkeiten (Zukunft 3 in der Abbildung 4). Falls dann von der Organisation (wie auch immer) „anders“ gesteuert werden sollte, kann die Organisation ihre Aufgaben effizienter wahrnehmen (Zukunft 4 in der Abbildung 4). Der Text unterscheidet also zwischen Naheffekten und Ferneffekten der NKF-Reform. Die mit zunehmender zeitlicher Entfernung der Zukünfte einhergehende, zunehmende Brüchigkeit der unterstellten Kausalbeziehungen von aktueller Entscheidungsproduktion und Effekten zeigt sich im oben zitierten Satz auch schon in der Wortwahl: Während der Eintritt der näheren Effekte der „Transparenz“ und der „veränderten Steuerungsmöglichkeiten“ sprachlich mit konstativen Formulierungen („wird“ bzw. „werden“) ausgestattet wurde, ist die „Verwirklichung einer effizienteren Aufgabenwahrnehmung“ hingegen sprachlich mit mehr Unsicherheit hinsichtlich der damit verbundenen organisationalen Steuerungserfordernisse versehen worden, indem in diesem Zusammenhang von „ermöglichen“ die Rede ist.
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
289
Das methodische Verstehen, dass „Transparenz“ von X-Stadt als ein im Verhältnis zu „Effizienz“ zeitlich näherer Effekt beobachtet wurde, kann weiterhin durch die Analyse des nichtstandardisierten Teils der Befragung von Kompetenzen der Stadt X gefestigt werden: In den Interviews wurde mehrfach angezweifelt, dass die NKF-Reform zu einer höheren Transparenz des Haushalts der Stadt X führen würde. Dass „mehr Effizienz“ und „bessere Steuerung“ als im Vergleich dazu kausal noch unsicherer zu bewirkende und zeitlich weiter entfernte Effekte beobachtet wurden, zeigt sich exemplarisch anhand der folgenden Äußerungen: „Liefert die Verwaltung etwas, was die Politik gar nicht haben will? (…) Die Transparenz des NKF-Haushalts führt vielleicht gar nicht zu einer besseren Steuerung“ (IP33) und „Die Politik entscheidet nicht nach Effizienz“ (IP48). Dies sind Aussagen, die sowohl die Skepsis in Bezug auf das Bewirken spezifischer Reformideen vermitteln als auch die kausale Anordnung der möglichen Verwirklichung dieser Reformrespezifikationen in der Zeit. In einer weiten Kontextanalyse der Beschreibung „effizientere Aufgabenwahrnehmung“ zeigt sich, dass diese (im Januar 2005) im Dokument EAE5 mit der NKF-Reform verbundene Zukunft von späteren, organisational produzierten Dokumenten nicht in spezifizierender oder programmierender Weise aufgegriffen wurde. Zudem hat X-Stadt den Reformzweck „Effizienz“ weder in den durch teilnehmende Beobachtung begleiteten Projektsitzungen noch in den teilstandardisierten und nichtstandardisierten Abschnitten meiner Interviews näher erläutert. Wie die durch die NKF-Reform zu bewirkende Effizienz in der Organisation sichtbar und gestaltet werden würde, spielte für die Organisation offensichtlich eine allenfalls untergeordnete Rolle. Entsprechende organisationale Fragestellungen, z. B. ‚Wie soll in Zukunft auf Basis der NKF-Daten bewertet werden, welche Entscheidungsprogramme als unwirtschaftlich anzusehen sind?‘ oder ‚Um wie viel Prozent soll der Wirkungsgrad der Organisation in Bezug auf welche Aufgaben gesteigert werden?‘, die im Anschluss an eine Zweckbeschreibung „Effizienz“ möglich gewesen wären, fehlten ebenso wie eine Zweckprogrammierung und eine Einbindung in Planungen der Organisation. Die Stadt X hatte also zu Beginn ihrer NKF-Reformperiode (noch) keine Vorstellung dahingehend entwickelt, wie durch Respezifikationen der Generalisierung „Effizienz“ genau diese erreicht werden könnte. In der Frühphase der Reform wurde diese Erwartung auch sofort wieder vergessen. Nur die für die Außendarstellung der Reform im März 2005 entworfene PowerpointPräsentation „Bericht zum NKF“ (Dokument EAV5), die ich methodisch als „vergessenen“ Text der Stadt X zur NKF-Reform beobachtet habe, verweist zu einem späteren Zeitpunkt der Reform noch auf die Vorstellung, das NKF bewirke eine erhöhte Wirtschaftlichkeit: Dies geschieht allerdings auch nur implizit unter der Überschrift „Intergenerative Gerechtigkeit“ und der daran
290
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
anknüpfenden Bemerkung, dass mit der NKF-Reform erreicht werden solle, die „Leistungsfähigkeit“ der Stadt X „dauerhaft zu sichern“ (Dokument EAV5, Seite 24). Außerdem wurden die von mir befragten Kompetenzen in den Interviews durch meine standardisierten Fragen zu den erwarteten wirtschaftlichen Wirkungen der NKF-Reform an die Zukunftsbeschreibung „Effizienz“ erinnert. Diese methodischen Thematisierungen des Effekts „Effizienz“ blieben nach meinen Beobachtungen aber folgenlos für die Entscheidungskommunikation der Stadt X. Im Rahmen einer weiten Kontextanalyse fand sich in Bezug auf die Zukunftsbeschreibung „Effizienz“ allerdings auch ein organisational erinnerter Text, der als Artikel in einer nur intern verbreiteten Organisationszeitung einige Monate vor dem Dokument EAE5 produziert wurde und eine sehr skeptische Einschätzung zu möglichen Effizienzsteigerungen als zukünftig durch Reform bewirkte Folge formulierte: „Sicherlich kann vom NKF eine neue Steuerungsqualität ausgehen, da jetzt den einzelnen Aufgaben über Produkte der jeweilige Ressourcenverbrauch zugeordnet wird. Diese neue Steuerung der Verwaltung muss jedoch auch konkret erfolgen. Andernfalls werden nur neue Zahlenfriedhöfe produziert nach dem Motto: viel Aufwand, wenig Erfolg. (…) Ob eine (…) Kommune wie [die Stadt X; CPK] mit dem neuen Finanzmanagement dann besser fährt, bleibt abzuwarten. Unterm Strich wird aber die Erkenntnis bleiben: Auch durch die Doppik wird das Geld nicht mehr, aber durch die Doppik wird das Geld auch nicht weniger“ (EAE3).
Dass im Hinblick auf die Zukunft „Effizienz“ die vermutete kausale Beziehung zwischen (seinerzeit) aktuellen Entscheidungen und der (damals) gewählten Zukunft von X-Stadt allenfalls als schwach angesehen wurde, zeigte sich auch bei der Inhaltsanalyse von Interviewprotokollen. In den nichtstandardisierten Abschnitten der Befragung wurde mehrfach und explizit die Einschätzung vertreten, dass aus Sicht der Behörde der Stadt X eine erhöhte Effizienz nicht als eine Wirkung der NKF-Reform erwartet werden könne, sondern eine solche Folge – wenn überhaupt – ungesteuert auftreten würde. Statt der NKF-Reform wurden alternativ als die wichtigsten Ursachen für eine künftig erhöhte Wirtschaftlichkeit der Stadt X zum einen die Haushaltsentscheidungen der Volksvertretung, die sich nicht oder nur selten am Kriterium der Effizienz orientieren würden (IP16), zum anderen die Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen (IP 25) vermutet. In der Perspektive der interviewten Beobachter der Reformprojektorganisation wurde also das Bewirken einer effizienteren organisationalen Aufgabenerledigung externalisiert. Man ging davon aus, die Beziehungen von Ursachen und Wirkungen hier nicht selbst in der Hand zu haben und fühlt sich daher auch nicht dafür zuständig, den gewünschten Effekt der Wirtschaftlichkeit mittels NKF-Reform zu erzielen.
291
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
Meine Entscheidung, die Reformspezifikation „Effizienz der Aufgabenerledigung“ als Reformeffekt zu verstehen, erfährt auch Unterstützung durch die Resultate einer quantifizierenden Zweitbeobachtung der standardisierten Befragung von Kompetenzen der Stadt X. Wie oben dargestellt, antworteten die 51 von mir befragten Kompetenzen mit Hilfe von endpunktbenannten, bipolaren und in sieben Stufen unterteilten Ratingskalen auf Fragen zur Zustimmung oder Ablehnung in Bezug auf bestimmte Zukunftsvorstellungen, die mit der NKFReform verknüpft wurden. Die Antwortmöglichkeiten waren wie folgt schematisiert: trifft überhaupt nicht zu...-3…-2…-1.…0…+1…+2…+3…trifft voll und ganz zu. In jeder der 51 Interviewepisoden wurde in stets gleichförmiger Weise unter anderem nach der Beobachtung der vermuteten organisationalen Akzeptanz solcher Wirkungsversprechen der NKF-Reform gefragt, die eine Verbesserung der organisationalen „Effizienz“ bzw. „Wirtschaftlichkeit“ in Aussicht stellten. Eine deskriptivstatistische Analyse der Antworten führt zu den folgenden Ergebnissen: Tabelle 2: Deskriptivstatistische Verteilung der quantifizierend beobachteten Abstufungen der Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf Beschreibungen der NKF-Reform, die auf eine gestiegene Wirtschaftlichkeit und Effizienz der Organisation verweisen Zukunftsbeschreibung der NKF- Reform
„Das NKF wird zu einem stärker wirtschaftlich orientierten Denken in der Stadt X führen.“
„Das NKF wird dazu führen, dass die Folgekosten politischer Entscheidungen stärker berücksichtigt werden.“
„Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern.“
1,2
0,3
Parameter Arithmetisches Mittel Median Standardabweichung
1,3 1
1
0
1,1
1,1
1,5
Spannweite
5
4
6
Minimum
-2
-1
-3
Maximum
3
3
3
Beobachtungen
51
51
51
292
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Die in der Tabelle 2 dargestellte Verteilung besagt, dass die Antworten der Kompetenzen zu den Reformerwartungen „stärker wirtschaftlich orientiertes Denken“ und „Folgekosten politischer Entscheidungen werden stärker berücksichtigt“ sich bei numerischer Betrachtung in einem niedrigen positiven Bereich konzentrieren. Demgegenüber sind die Beobachtungen bezüglich der Erwartung einer „langfristigen Verbesserung der organisationalen Haushaltssituation“ deutlich heterogener und verteilen sich um den Nullpunkt der Skala. Wie aber ist diese quantitative Verteilung nun im Hinblick auf Ablehnung und Akzeptanz zu verstehen? Im Folgenden diskutiere ich Rekonstruktionsmöglichkeiten der standardisiert erzeugten Bejahungen und Verneinungen von Sinnangeboten der NKF-Reform am Beispiel der Aussage „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern“. Auf der einen Seite wird es um zwei verschiedene binäre Betrachtungen (Tabellen 4 und 5) anhand einer methodisch konventionellen, sprachlich abgestuften Betrachtung gehen. Auf der anderen Seite soll eine ‚temporalisierende‘, Unsicherheit und Wechselmöglichkeiten berücksichtigende Variante eines möglichen Verstehens vorgestellt werden (Tabelle 6). Dabei klammere ich die bekannte methodologische Diskussion zu den Verzerrungsproblemen der Akquieszenz („Ja-SageTendenz“) und der „Tendenz zum mittleren Urteil“ aus,329 da für mich nicht zu erkennen war, ob solche Tendenzen den Interviewpartnern meiner Befragung unterstellt werden konnten. Tabelle 3: Konventionelles methodisches Verständnis der Verteilung von Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern.“ Numerische Beobachtung
Abgestuftes Skalenverständnis +3 trifft voll zu
Prozent
1
2,0
+2 trifft weitgehend zu
13
25,5
+1 trifft eher zu
11
21,6
0 unentschieden
11
21,6
-1 trifft eher nicht zu
8
15,7
-2 weitgehend unzutreffend
5
9,8
-3 trifft überhaupt nicht zu Beobachtungen 329
Häufigkeit
Siehe dazu statt vieler Scholl 2003.
2
3,9
51
100,0
293
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
Ich beginne diese Diskussion mit einer tabellarischen Darstellung, die als ‚Rohversion‘ der Datenauswertung noch keine reduzierende Zuordnung der standardisierten Antworten auf die Kategorien von Akzeptanz oder Ablehnung vornimmt (Tabelle 3). Die Konstruktion der numerischen Verteilung orientiert sich in Tabelle 3 an den methodisch üblichen Formulierungen, die Ja und Nein spiegelbildlich zwischen den Polen uneingeschränkter Bejahung und Verneinung auf den Nullpunkt „unentschieden“, in stufenweisen Abschwächungen zulaufen lassen. Binarisiert (und entdifferenziert) man dieses Verständnis von Zustimmung und Ablehnung, so entstehen Resultate entsprechend der Tabelle 4. Tabelle 4: Binarisierung und Aggregation des konventionellen methodischen Verständnisses der Verteilung von Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern.“ Numerische Beobachtung
Beobachtungen
Binäres Verständnis
Aggregation Häufigkeit
Prozent
+3
Ja
1
2,5
+2
Ja
13
32,5
+1
Ja
11
27,5
0
-
-
-
-1
Nein
8
20,0
-2
Nein
5
12,5
-3
Nein
2
5,0
40
100,0
Häufigkeit
Prozent
Ja
25
62,5
-
-
-
Nein
15
37,5
40
100,0
Eine alternative, zweite Verstehensmöglichkeit könnte darin liegen, jede Abschwächung der Bejahung der Reformerwartung als Verneinung zu beobachten. Denn man kann argumentieren, dass nur eine uneingeschränkte Zustimmung des „trifft voll und ganz zu“ als „Ja“ verstanden werden kann, während jede noch so geringfügige Einschränkung der Zustimmung als eine ‚höflich‘ formulierte Variation der vorgeschlagenen Reformerwartung gedeutet werden kann, die ‚kleine Neins‘ in Bezug auf ein oder mehrere Sinnfragmente dieser Erwartung voraussetzt. Eine solche Beobachtungsweise hätte im Vergleich zu den methodisch üblichen Interpretationen von Ratingskalen deutlich andere Ergebnisse hinsichtlich der Verteilung von Ja und Nein, wie die Tabelle 5 zeigt.
294
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Tabelle 5: Binarisierung und Aggregation eines auf Verneinungen konzentrierten methodischen Verständnisses der Verteilung von Zustimmung und Ablehnung in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern.“ Numerische Beobachtung
Binäres Verständnis
Aggregation Häufigkeit
Prozent
+3
Ja
1
2,0
+2
Nein
13
25,5
+1
Nein
11
21,6
0
Nein
11
21,6
-1
Nein
8
15,7
-2
Nein
5
9,8
-3
Nein
Beobachtungen
2
3,9
51
100,0
Häufigkeit
Prozent
Ja
1
2,0
Nein
50
98
51
100,0
Ein dritter Verstehensvorschlag besagt, dass die Abstufungen des standardisierten Erhebungsinstruments „Antwortskala“ jenseits der Pole „trifft voll und ganz zu“ und „trifft überhaupt nicht zu“ von den Kompetenzen genutzt wurde, um Unsicherheiten und Revisionsmöglichkeiten ihrer Erwartungen in Bezug auf den zukünftigen Eintritt der von der Reform behaupteten Wirkung zu markieren. Die klar überwiegende Benutzung der spiegelbildlichen Abschwächungen eines klaren Ja oder Nein kann man nämlich so verstehen, dass mit den Antworten die Bekundung von Sicherheit in Bezug auf die Zukunft vermieden und kognitives Erwarten stilisiert wurde: Die befragten Kompetenzen wollten demnach in der Mehrzahl in ihrem abgeschwächten Ja eine Übergangsmöglichkeit in Richtung des Neins implizieren und in ihrem abgeschwächten Nein einen künftig möglichen Wechsel auf das Gleis der Zustimmung signalisieren (siehe Tabelle 6). Dieses Verständnis der organisationalen Beobachtungen bezüglich der Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern“ kann man somit als das methodische Verstehen einer ‚Temporalisierung‘ des Ja/Nein-Schemas bezeichnen. Denn die Organisation hielt sich mit Blick auf die künftig mögliche Reformwirkung einer verbesserten Finanzsituation bereit, vom Ja oder vom Nein auf die jeweils andere Seite zu springen. Eine Revision der Einschätzung der gegenwärtigen Zukunft und zukünftige Erwartungswechsel hinsichtlich der Reformwirkung wurde durch Abschwächungen der Akzeptanz und der Ablehnung aktuell bereits ‚eingepreist‘.
295
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
Tabelle 6: Differenzierung und Aggregation eines methodischen Verständnisses der Verteilung von Zustimmung, Ablehnung und Unsicherheit in Bezug auf die Reformerwartung „Das NKF wird langfristig dazu beitragen, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern“ Numerische Beobachtung
Verständnis
Aggregation Häufigkeit
Prozent
Ja
1
2,0
Unsicherheit, +2 Übergang zum Nein
13
25,5
Unsicherheit, Übergang zum Nein
11
21,6
+3
+1
0
Unsicherheit
11
21,6
-1
Unsicherheit, Übergang zum Ja
8
15,7
-2
Unsicherheit, Übergang zum Ja
5
9,8
-3
Nein
Beobachtungen
2
3,9
51
100,0
Häufigkeit
Prozent
Ja
1
2,0
Unsicherheit, Übergang vom Ja zum Nein oder vom Nein zum Ja
48
94,1
Nein
2
3,9
51
100,0
Ich schlage vor, an die hier zuletzt vorgestellte, dritte Verstehensmöglichkeit anzuschließen, die eine organisationale Unsicherheit in Bezug auf die durch Reform hervorzurufende Verbesserung der Haushaltslage in den Daten zu sehen meint: Mein Argument für die Bevorzugung dieser Verstehensoption ist nun nicht, dass die Reformerwartung sich auf eine ferne Organisationszukunft bezieht, die per se als unsicher und revisionsbedürftig zu gelten hat und dies in der Häufigkeit der Abschwächungen von Ja und Nein erkennbar wird. Denn die Stadt X hat andere durch die NKF-Reform zu bewirkende Zukünfte demgegenüber als sicher dargestellt, obwohl deren Verwirklichung, da erst zukünftig, als ebenso unsicher hätten betrachtet werden können. Auffällig ist vielmehr, dass die Antworten auf diese und andere Fragen nach den wirtschaftlichen Wirkungen im Fall einer abgeschwächten Bejahung von den Befragten häufig mit solchen
296
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Kommentierungen versehen wurden, die die standardisierte Abschwächung nichtstandardisiert bestärkten. So wurde zum Beispiel das abgeschwächte Ja der Antwort „+2“ („stimme weitgehend zu“) nochmals weiter in Richtung des Nein eingeschränkt, indem die Antwort mit Kommentaren wie „mit viel Optimismus“ (IP48), „Wir wollen es mal hoffen“ (IP 51) oder auch lapidar mit „Ja, kann sein“ (IP 17) verknüpft wurden.330 Insgesamt ist im Verstehen der Antworten zu berücksichtigen, dass die standardisierte Frage die Reformerwartung in Bezug auf Kausalität bereits vorsichtig formuliert hatte („NKF wird dazu beitragen“) und das NKF nicht als alleinigen Faktor für eine bessere organisationale Wirtschaftlichkeit ankündigte. Trotz dieser Formulierung, die multiple Ursachen einer möglichen Verbesserung unterstellte, haben die Kompetenzen dennoch mehrheitlich angezweifelt, dass die Organisation daran glaubt, ihre Steuerung könne bewirken, mit Hilfe des Mittels „NKF-Reform“ den Zweck „Wirtschaftlichkeit“ zu erreichen. Dies wurde im Rahmen der methodisch standardisierten Antworten von den meisten befragten Kompetenzen entweder im Stile des ‚Ja, aber‘ oder eines ‚Nein, vielleicht aber doch‘ kundgetan. Demgegenüber war sich einerseits lediglich eine Kompetenz sicher, dass organisational angenommen wird, dass das NKF aus Sicht der Organisation langfristig dazu beitragen wird, die finanzielle Situation der Stadt X zu verbessern. Andererseits haben zwei Kompetenzen die organisationale Erwartungen so beobachtet, dass die Reform diese Wirkung aus Sicht der Stadt X mit Sicherheit nicht entfalten wird. Demnach hat eine große Mehrheit der Befragten die Steuerungsvermutung der Organisation in Bezug auf die Reformwirkung einer verbesserten Haushaltslage als unsicher angesehen. Wenn somit auch die quantifizierende Zweitbeobachtung der Interviewprotokolle zu dem Ergebnis kommt, dass die Kausalbeziehung zwischen Reform und der gewünschten Zukunft „„Effizienz“ aus Sicht der Organisation als ‚brüchig‘ beobachtet wurde, dann konsolidiert das die Resultate der oben ausführlich dargestellten Inhaltsanalyse zu dieser Reformerwartung: Die Stadt X hat die Reformerwartung einer zukünftig besseren organisationalen Effizienz als möglichen Effekt der Reform behandelt. Ich komme nun zur Beantwortung der Frage, inwieweit die Stadt X ihre Erwartungen an die NKF-Reform als Reformnachfrage von Reformprodukten und Reformeffekten unterschieden hat.
330
Auf der Seite des eingeschränkten Neins wurden ebenfalls (aber nicht ganz so oft) Anmerkungen eingestreut: Diese bezogen sich jedoch zumeist auf die Tauglichkeit der NKF-Reform, eine verbesserte Effizienz und Wirtschaftlichkeit der Organisation zu bewirken. Denn es wurde – wie bereits oben erwähnt – etwa kommentiert, dass die Haushaltslage nicht vom NKF, sondern von „der Politik“ oder „der Gewerbesteuer“ abhänge.
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
297
Wie oben theoretisch näher beschrieben, bezieht sich der Nachfragebegriff auf Zukünfte, die auf ein Publikum bzw. auf mehrere Publika verweisen. Die beschriebene Zukunft muss also in irgendeiner Form auf eine asymmetrische und komplementäre Beziehung von leistenden Experten und diese Leistungen nachfragenden und/oder konsumierenden Laien referieren. Dabei ist zwischen der Nachfrage nach Reformprodukten und der Nachfrage nach Reformeffekten zu unterscheiden. Im Fall der NKF-Reform der Stadt X wurde eine Nachfrage nach Effekten lediglich in Form einer möglicherweise steigenden Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern als Folge einer besseren Transparenz des kommunalen Entscheidens über Zahlungen behauptet (siehe oben Tabelle 1 und Abbildung 4). Aus Sicht der Stadt X ging es hierbei um eine kausal unsichere Fernwirkung, so dass diese Effektnachfrage im Fremdbeobachtungsschema der organisationalen Steuerungsannahmen im Bereich der Reformeffekte anzusiedeln ist. Dagegen ist die Nachfrage nach den Produkten einer Reform zeitlich vor den Effekten und damit bezüglich des ‚Härtegrads‘ der Kausalitätsunterstellung zwischen Produkten und Effekten angesiedelt. In der Stadt X wurde zu Beginn der NKF-Reform nur ein Reformprodukt mit daran anschließenden Nachfrageerwartungen verbunden, nämlich das Produkt „Qualifizierung“ (EAE5; EAE6). Damit waren interne „NKF-Schulungen“ in der Stadt X gemeint, die dazu dienen sollten, dass das neue Haushalts- und Rechnungswesen in der Organisation zukünftig richtig verstanden und angewendet werden würde. Der hierdurch zu erreichende Effekt wurde einfach dadurch markiert, dass man als Wirkung der Nachfrage und des Konsums der NKFQualifizierung darauf hoffte, dass verschiedene Kompetenzen in X-Stadt „qualifiziert“ sein würden. Insgesamt wurden sieben intraorganisationale Publika als nachfragende bzw. konsumierende Laien des Reformprodukts „Qualifizierung“ unterschieden, nämlich alle Kompetenzen der (1) Volksvertretung der Stadt X und (2) der Behördenspitze („Verwaltungsvorstand“) der Stadt X sowie alle (3) Haushaltsplaner, (4) Haushaltsbewirtschafter, (5) Buchhalter, (6) Bilanzbuchhalter und (7) Rechnungsprüfer der Stadt X (siehe oben Tabelle 1). In den Dokumenten wurden diese organisationsinternen Publika der Reformproduktnachfrage nur bezeichnet, ohne dass die Nachfrage nach bzw. der Konsum von Schulungen hinsichtlich ihres Umfangs mit expliziten Angaben genauer spezifiziert worden wäre. Dass aber alle Kompetenzen der benannten Zielgruppen mittels der NKF-Schulungen qualifiziert werden sollten, wird durch entsprechende explizite Formulierungen in den Interviews mit Kompetenzen der Stadt X sichtbar: Dort hieß es beispielsweise: „Im Grunde muss hier jeder, der mit Zahlungsvorgängen zu tun hat, geschult werden“ (IP23) Die spezifische Nachfrageerwartung bezogen auf die jeweiligen Publika lautete also: „alle“.
298
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Zusammenfassend zeigt sich, dass die Stadt X an die im Reformpaket „NKF“ enthaltenen Sinnzumutungen sehr selektiv nach dem Kriterium der eigenen Steuerungsannahmen in Bezug auf diese Zumutungen angeschlossen hat. Diejenigen durch Reform zu bewirkenden künftigen Organisationszustände, die als kausal ‚machbar‘ unterstellt wurden, hat die Organisation in weiteren Entscheidungen spezifiziert. Demgegenüber wurden im Verlauf der Respezifikation des Reformpakets „NKF“ solche Reformerwartungen, deren Steuerbarkeit durch die Organisation von der Organisation angezweifelt wurden, nach dem Schema von Produkten, Nachfrage und Effekten sehr rasch in der Weise evolutionär ‚ausgesiebt‘, als dass die kausal nicht beherrschbaren Reformeffekte nicht in anschließenden Entscheidungen konkretisiert, sondern rasch vergessen wurden. Mit Hilfe dieses Unterscheidungsgebrauchs hat die Stadt X stillschweigend einen Leitsatz etabliert, die eine Akzeptanz der Reform wahrscheinlicher werden ließ: ‚Wir nehmen uns nur das vor, was wir auch erreichen können‘. Andere Reformzwecke, nämlich Effekte, wurden als mögliche Folgen des organisational Bewirkbaren betrachtet, aber nicht als Ziele, die man unbedingt aus eigener Kraft erreichen müsste. So fiel es der Stadt X leichter, „Ja“ zu beabsichtigten Strukturänderungen zu sagen, die in der Einheit „NKF-Reform“ verpackt waren. „Ultra posse nemo obligatur“ – dieses Prinzip hat die Stadt X bei den Zukunftsprogrammen ihrer NKF-Reform beherzigt. Durch die Beschränkung der zweckprogrammatischen Reformrespezifikation auf die als organisational steuerbar vermuteten Ziele hat sich die Stadt X selbst die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die NKF-Reform immer wieder neu akzeptiert werden konnte. 5.5.2 Die Reformmemoiren der Stadt X: Zwischen ‚aufgehübschter Gedenkkultur‘ und ‚widerständiger Gegenbewegung‘ Eine zweite Hypothese zu den möglichen Lösungen des Bezugsproblems der vorliegenden Untersuchung hatte behauptet, dass die Wahrscheinlichkeit von Reformakzeptanz durch die Selektivität des Organisationsgedächtnisses in Bezug auf die Bewertung vergangener eigener Reformen gesteigert wird. Dabei wurden drei Formen der Selektivität unterschieden, nämlich das Vergessen einer Enttäuschung instrumentell-rationaler Reformerwartungen („forgetfulness“) das Erinnern des nach instrumentell-rationalen Kriterien bewerteten Erfolgs („cherry picking“) und der Verzicht auf eine Evaluation früherer Reformen, die eine Organisation in ihrer Vergangenheit bereits durchgeführt und beendet hat. Die Verknüpfung dieser theoretischen Annahmen mit meinen methodischen Beobachtungen setzt zunächst einmal voraus, dass im Fall der Stadt X zwischen einer gegenwärtigen (aktuellen) Reformperiode und vergangenen (früheren)
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
299
Reformperioden unterschieden werden kann. Als „gegenwärtige Reformperiode“ verstehe ich theoretisch eine bereits in der Vergangenheit begonnene Reformperiode, die im Moment dieser Beobachtung noch andauert, deren Ende also (vom Zeitpunkt der Beobachtung aus) in der Zukunft liegt. Demgegenüber bezeichne ich als „vergangene Reformperiode“ solche Perioden, die in der Vergangenheit begonnen und in der Vergangenheit beendet wurden. Die Konstruktion von methodischen Beobachtungen zur ersten Seite dieser Unterscheidung war unproblematisch: Dass es sich bei der NKF-Reform der Stadt X um eine aus organisationaler Sicht aktuelle (angefangene und noch nicht beendete) Reformperiode handelte, war bereits Kriterium für die Selektion des Falls „Stadt X“ gewesen. Auf der anderen Seite verlangte eine an den Annahmen der Hypothese 2 orientierte methodische Untersuchung, dass sich die X-Stadt in ihrer Vergangenheit mindestens einmal reformiert hat. Dementsprechend habe ich in den methodisch beobachteten Texten nach Verweisen der Stadt X auf eigene Reformen der Vergangenheit gesucht. Dieser Schritt wurde bereits durch die oben beschriebene Selektion von Dokumenten eingeleitet, die in Bezug auf das Gedächtnis der Organisation zur Zeit der NKF-Reformperiode methodisch zwischen zwei Dokumententypen mit Referenzen auf eigene Reformen differenziert hatte: Dokumente der Stadt X, die von ihr erinnert wurden, und Dokumente der Stadt X, die von ihr vergessen wurden. Diese Rekonstruktion organisational aktuell erinnerter oder vergessener Dokumente sollte in der anschließenden Inhaltsanalyse die methodische Unterscheidung unterstützen, welche Entscheidungen in Bezug auf mögliche vergangene Reformen organisational in Vergessenheit geraten waren. Dieses Vorgehen verweist bereits auf den nächsten methodischen Schritt: Zur Beantwortung der Frage, welche Erfahrungen mit beendeten Reformen in der NKF-Reformperiode im Gedächtnis der Stadt X gelöscht und welche aktualisiert wurden, habe ich vergessene und erinnerte Dokumente der Stadt X einem Vergleich zugeführt, der erkennen lassen sollte, inwieweit sich die Organisation selektiv, in verschiedenen Bezügen, an organisationseigene Reformperioden vor der NKF-Reform erinnert hatte. Dabei war analytisch allerdings zu berücksichtigen, dass das organisationale Erinnern/Vergessen früherer Reformentscheidungen keineswegs mit dem organisationalen Erinnern/Vergessen bestimmter Dokumente zusammenfallen muss. Die Gegenüberstellung erinnerter und vergessener Dokumente sollte die Gegenüberstellung erinnerter und vergessener Reformerfahrungen lediglich vorbereiten. In meiner inhaltsanalytischen Untersuchung ging es ja nicht um die Selektivität des Gedächtnisses im Umgang mit Dokumenten, sondern darum, die vermutete spezifische Selektivität des Organisationsgedächtnisses im Umgang mit Reformerwartungen der Vergangenheit sichtbar zu machen. Das methodische Erkennen von erinnerten und vergessenen
300
5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Entscheidungen früherer Reformen durfte sich daher nicht vereinfachend auf relativ große Sinnpakete wie die Einheit „Dokument“ beschränken, sondern sollte auch sehr viel kleinere Sinneinheiten im Text eines Dokuments – beispielsweise ein Satzfragment – erfassen, sofern diese als Verweis auf frühere Reformen verstanden werden konnten. Als Resultat der Dokumentenanalyse entlang der Unterscheidung von gegenwärtiger und vergangener Reformperiode hat sich nun gezeigt, dass die Stadt X in dem methodisch für die Dokumentenselektion gewählten Zeitraum der Organisationsvergangenheit (Dokumente ab dem Jahr 1990) eine Reformperiode als vergangene Reform von der NKF-Reform unterschieden hatte. Ich rekonstruiere hier nun zunächst (1) die vergessenen organisationalen Beschreibungen dieser früheren Reformperiode, indem ich meine inhaltsanalytischen Beobachtungen der als vergessen konstruierten Dokumente EAV1 bis EAV4 zusammenfasse. Anschließend (2) beschreibe ich meine Suche nach organisational aktualisierten Spuren der beendeten Reformperiode: Die Texte der erinnerten Dokumente und Protokolle, die in der Periode der NKF-Reform entstanden sind, wurden von mir hinsichtlich der Frage analysiert, ob und wie in der Rückschau auf die vergangene Reformperiode damalige Erwartungen (und gegebenenfalls: deren Bewertungen) erinnert und vergessen wurden. (1) Die Beschreibungen in den Dokumenten EAV1, EAV2 und EAV4 lassen deutlich erkennen, dass die Stadt X sich Mitte der 1990er Jahre dafür entschieden hatte, eine Reform durchzuführen, die sich an dem als „Neues Steuerungsmodell“ („NSM“) bezeichneten Verwaltungsreformdiskurs orientierten sollte. Im Folgenden bezeichne ich diese Reformperiode der Stadt X kurz als „NSM-Reform“. In den vergessenen Dokumenten wurden als Ursache für die Entscheidung der Stadt, sich nach dem Vorbild des NSM zu reformieren, verschiedene Organisationsdefizite benannt: „Probleme im Finanzbereich“ (EAV1) sowie (etwas spezifischer) eine „zu starke Inputorientierung“, „kein aussagefähiges Berichtswesen“ und „fehlende Kennzahlen und Indikatoren für Effektivität und Effizienz“ hatte die Stadt X in ihrer Selbstbeschreibung seinerzeit beklagt. Darüber hinaus wurde eine „unzureichende Transparenz der Leistungen“, „kein funktionsfähiges Zielvereinbarungssystem“ und – im Verhältnis von Volksvertretung und Behörden der Stadt X – eine „organisierte Unverantwortlichkeit“ festgestellt (EAV4). Als Lösungen dieser Probleme zielte die Stadt X mit Ihrer NSM-Reform in Richtung der Organisationszukunft auf „verstärkte Kundenorientierung“, „verbesserten Ressourceneinsatz“, „klarere Abgrenzung der Kompetenzen von Politik und Verwaltung“, „Dezentralisierung“, „Hierarchieabflachung“ (EAV1) und die organisationale Verwirklichung der Werte „Effizienz“, „Effektivität“
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
301
und „Flexibilität“ (EAV2). Um diese Zwecke einer „neuen Verwaltungssteuerung“ (EAV1) zu erreichen, sollten netzwerkartige und programmatische Entscheidungsprämissen verändert werden. Dazu gehörten die „Reorganisation“, „Auflösung“ oder „Neugründung“ von Suborganisationen der Stadt X, ein „besseres Berichtswesen“ und „mehr Kostentransparenz“, die Einführung von „Zielvereinbarungen“, die „Bewertung des städtischen Vermögens“ sowie „Produktdefinitionen“ und die Einführung der „kaufmännischen Buchführung“ und der „Kosten- und Leistungsrechnung“ (EAV1). Die in X-Stadt zur Zeit der NKF-Reformperiode aktuell vergessenen Texte berichteten auch von erfolgreich hergestellten Reformprodukten der NSMReform: Der im Jahr 1998 produzierte Text des Dokuments EAV1 beschreibt mehrere durch „Outsourcing“ und „Neugründungen“ erzeugte Änderungen im Bereich der Kompetenzen und Kommunikationswege und eine damit verbundene „Bewertung des Vermögens der neuen Organisationseinheiten“ als bereits erzielte Resultate der NSM-Reform. Demgegenüber findet sich in dem im April 1999 entstandenen Dokument EAV3 der dazu inkonsistent anmutende Hinweis, dass die Stadt X seinerzeit bereits mehrere Jahre an der Konzeption der Reform gearbeitet hatte, sich also lange Zeit nur mit der Anfertigung von Beschreibungen und Planungen der beabsichtigen Strukturänderungen beschäftigt hatte, und es erst „jetzt ernst wird“. Beide Beschreibungen lassen jedenfalls übereinstimmend sichtbar werden, dass sich die Stadt X zum Zeitpunkt des Entstehens der Dokumente EAV1 und EAV3 bereits mehrere Jahre nach Anleitung des Neuen Steuerungsmodells reformiert hatte. Im Rahmen einer „vorläufigen Bewertung“ (EAV3) der NSM-Reform wurde darüber hinaus retrospektiv beschrieben, dass die Änderungsversuche einerseits „enorme Beharrungskräfte“ (EAV1) aufgezeigt und „Unsicherheiten“, „Reibungsverluste“ (EAV2) sowie „Auflösungserscheinungen“ und „Irritationen“ (EAV3) produziert hatten, so dass im Rahmen der Reform die „eigentliche fachliche Diskussion, wie Arbeit und Leistungen verbessert werden können, in den Hintergrund geraten“ war (EAV3). Andererseits wurde positiv vermerkt, dass die Einführung eines Berichtswesens zu „wesentlich mehr Transparenz“ (EAV3) geführt hatte. Einschätzungen des künftigen Erfolgs der NSM-Reform fielen damals vorsichtig aus: Ob die Reform die gewünschten Erfolge bringen werde, könne „derzeit noch nicht eindeutig“ (EAV2) bzw. „erst in vier bis fünf Jahren“ (EAV3) beantwortet werden. Gleichwohl wurde für die weitere Umsetzung der NSMReform „ein beherztes Vorgehen“ (EAV1) empfohlen, damit „Änderungen im beruflichen Alltag“ in Zukunft dann „erste Früchte der Reform reifen“ (EAV3) lassen könnten. Hierfür müssten sich „die neuen Formen der Zusammenarbeit
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
erst noch tragfähig entwickeln“ (EAV3). Dabei wurden auch „Enttäuschungen“ erwartet, die die Organisation „in Kauf nehmen“ (EAV2) sollte. In zeitlicher Hinsicht markierten die analysierten Texte nur den Start der NSM-Reformperiode: Als Beginn wurde zum einen das Jahr 1994 (EAV1) und zum anderen das Jahr 1996 (EAV2) genannt, so dass sich der Anfang der Reform vereinfachend in der Mitte der 1990er Jahre vermuten lässt. Hinsichtlich des Fortlaufs der Reform wird in den Texten der Dokumente EAV1, EAV2 und EAV3 sichtbar, dass die NSM-Reform zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Texte in den Jahren 1998 und 1999 noch andauerte. Für die Beobachtung eines Reformendes musste ich also auf später produzierte Texte zurückgreifen, unabhängig davon, ob sie von der Organisation (genauer: den im Rahmen der Fallstudie befragten Kompetenzen) erinnert oder vergessen worden waren. Es zeigte sich jedoch, dass ein Ende der Reformperiode in keinem der von der Stadt X erzeugten schriftlichen Texte beschrieben wurde: Zur Frage des Abschlusses der NSM-Reform hüllten sich alle von mir methodisch beobachteten Schriftstücke der Stadt X in ein Schweigen. Allerdings ist auffällig gewesen, dass Dokumente, die in den Jahren 2004 (EAE1; EAE2) oder 2005 (EAV4) von der Organisation erstellt wurden und sich (auch) rückblickend zum Thema „Reformen in der Stadt X“ äußerten, den Anfang von neuen geplanten Strukturänderungen kleineren Umfangs – nämlich die „punktuelle Einführung betriebswirtschaftlicher Instrumente“ (EAV4) – in das Jahr 2001 gelegt haben. Da diese Anfangsmarkierung (wie immer) eine Unterscheidung von Vorher und Nachher voraussetzte, habe ich inhaltsanalytisch vermutet, dass diese organisationale Markierung des Anfangs einer neuen Periode beabsichtigter Strukturänderungen zugleich als das nichtbezeichnete Ende der alten Periode beabsichtigter Strukturänderungen verstanden werden kann: Das Vorher der ab dem Jahr 2001 geplanten Strukturänderungen fungierte hier als die nicht markierte Seite der Unterscheidung Vorher/Nachher. In einer weiten Kontextanalyse der verschiedenen Beschreibungen von Reformen der Stadt X habe ich diese daher so gedeutet, dass durch ein Aussparen des Bezeichnens früherer Reformen ein zeitlicher Schnitt zum Wechsel des Jahrzehnts gesetzt wird, der – obwohl es nicht gesagt wird – das Ende der NSM-Reform spätestens im Jahr 2001 besagt. Dieses anhand der Dokumentenanalyse vermutete Ende der Reformperiode konnte methodisch nun mit Hilfe der Interviewprotokolle konsolidiert werden, da einige der befragten Kompetenzen sich explizit zum Ende der NSMReformperiode äußerten. Demnach wurde die NSM-Reform Ende des Jahres 1999 „für eine Neubewertung erst einmal auf Eis gelegt“ (IP23). Nach einem „politischen Machtwechsel“ (IP12) in der Stadt X – also einem Wechsel der Organisationspitze in Folge von politischen Wahlen, entschied die neue hierar-
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
303
chische Leitung, dass die von der früheren Organisationsleitung initiierte Reform „überprüft“ werden sollte (IP12). Im Anschluss an diese Überprüfung wurden in den Jahren 1999 und 2000 zum einen die durch die NSM-Reform organisational bereits durchgeführten Änderungen von Kompetenzen und Kommunikationswegen zum Teil wieder rückgängig gemacht. Zum anderen entschied die Stadt X, weitere, von der NSM-Reform geplante Änderungen, wie beispielsweise die Einführung von Zielvereinbarungen, nicht fortzusetzen. Diese Entscheidungen führten aber organisational nicht unbedingt zum Eindruck eines ‚Abbruchs‘ der Reform, vielmehr wurde das Ende so beschrieben, dass die Reformbemühungen im Laufe des Jahres 2000 „nach und nach eingeschlafen“ (IP22) sind. (2) Im nächsten Schritt der methodischen Zweitbeobachtungen zur Hypothese 2 soll nun die Frage beantwortet werden, an welche der soeben skizzierten Beschreibungen einer Reform der Vergangenheit in der gegenwärtigen Reformperiode von X-Stadt durch aktualisierende Erinnerungen angeschlossen wurde und an welche nicht. Für diesen Vergleich habe ich sämtliche in der methodischen Erstbeobachtung erzeugten Dokumente und alle Protokolle der Interviews und der teilnehmenden Beobachtungen inhaltsanalytisch ausgewertet. Wenn dabei im Folgenden von einem Organisationsgedächtnis im Singular die Rede ist, muss von vornherein im Blick behalten werden, dass die beobachteten Beschreibungen des Organisationsgedächtnisses, die während meiner Fallstudie von unterschiedlichen Beobachtern zu unterschiedlichen Zeitpunkten angefertigt wurden, auf eine Mehrzahl verschiedener Zustände eines fortlaufend aktualisierten Organisationsgedächtnisses verweisen. Meine Inhaltsanalyse ist daher darauf angelegt gewesen, die verschiedenen Beschreibungen des Organisationsgedächtnisses im Hinblick auf mögliche Strukturen des Erinnerns und Vergessens vergangener Reformen im Rahmen der gegenwärtigen Reformperiode zu beobachten, die man als Programmierung des Gedächtnisses verstehen kann Vorab möchte ich auf methodologisch verwertbare Zweitbeobachtungen bezüglich der methodischen Rekonstruktion eines Organisationsgedächtnisses hinweisen: In den Interviews der Fallstudie bestätigte sich hinsichtlich des Erinnerns und Vergessens abgeschlossener Reformperioden die Vermutung, dass mit Hilfe von Interviewinteraktionen solche Gelegenheiten entstehen können, die gerade durch den Verzicht auf explizite Fragen nach der Organisationsvergangenheit eine adäquate methodische Beobachtung der von den Befragten angefertigten Beschreibungen des Organisationsgedächtnisses erlauben. Dabei kam es insbesondere auf die methodische Handhabung der Differenz von Organisationsgedächtnis und persönlichem Gedächtnis an: Die Interviews wurden, wie oben beschrieben, so gestaltet, dass nicht individuelle Einschätzungen, sondern organisational stilisierte (‚amtliche‘) Beschreibungen der eigenen Organisation mit-
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
geteilt werden sollten.331 Im Anschluss an diese Vorkehrung konnte bezüglich der in den Interviewinteraktionen beschriebenen Erinnerungen daher methodisch unterstellt werden, dass es um die Beobachtung von möglichen Beiträgen zur Programmierung des Organisationsgedächtnisses im Bezug auf frühere Reformen ging.332 Vergleicht man das Beobachten des Organisationsgedächtnisses durch Interviews mit den anderen in dieser Fallstudie genutzten Erhebungsmethoden, so ermöglichten vor allem die durch die Analyse von Dokumenten gewonnenen Aussagen eine angemessene Beschreibung des Organisationsgedächtnisses. Denn bei den von der Stadt X produzierten Dokumenten, die in der aktuellen Reformperiode die frühere Reformperiode aktualisieren, kann man aufgrund der Schriftlichkeit und der Verbreitung der Texte annehmen, dass erinnernde Textstellen für einen wiederholten Gebrauch genutzt wurden und das Organisationsgedächtnis im Umgang mit der reformierenden Vergangenheit zugunsten eines konsistenten Erinnerns und Vergessens programmiert haben. Demgegenüber musste ich insbesondere die Protokolle von Interviewinteraktionen – aber auch die Protokolle der teilnehmenden Beobachtungen organisational konditionierter Interaktionen – im Hinblick auf Aussagen über die Programmierung des Organisationsgedächtnisses methodisch vorsichtiger behandeln. Im Vergleich zu den schriftlichen Texten war bei den mündlichen Beschreibungen des Organisationsgedächtnisses inhaltsanalytisch eher in Frage zu stellen, ob die jeweiligen Memoiren in der Organisation weiterhin iterativ genutzt und sich in ihrem Gedächtnis verfestigen würden. Hier konnte in der methodischen Zweitbeobachtung nämlich auch immer vermutet werden, dass es sich um die Beobachtung von ‚Sondervorstellungen‘ handelte, die zur Vermeidung eines mehrdeutigen Erinnerns und Vergessens rasch wieder aus dem Programm des Organisationsgedächtnisses aussortiert wurden. Die Inhaltsanalyse der Beschreibungen des Gedächtnisses von X-Stadt ließ schon in der ersten Runde der Materialsichtung vermuten, dass ein quantifizierender Ansatz wenig Auskunft über eine selektive Programmierung des Organi331
332
Es sei noch erwähnt, dass die Datenerhebung nicht darauf angelegt war, mögliche Umformungen jeweils persönlicher Memoiren von Kompetenzen in Erinnerungen des Organisationsgedächtnisses zu beobachten. So habe ich beispielsweise nicht verfolgt, ob möglicherweise persönlich stilisierte Erinnerungen an Reformen der Vergangenheit im Rahmen schriftlicher Rundverfügungen oder per Mitteilung im organisationalen Intranet in das Organisationsgedächtnis umgewandelt wurden. Dennoch habe ich bei der Protokollierung und der Inhaltsanalyse fortlaufend darauf geachtet, individuelle Erinnerungen, die ‚versehentlich‘ geäußert wurden, zu erkennen. Es war aber lediglich bei einem Interviewprotokoll inhaltsanalytisch notwendig, Beschreibungen des Befragten, die auf organisationale Erinnerungen an frühere Reformen verweisen, von solchen Äußerungen abzugrenzen, die auf persönliche Memoiren dieses Interaktionspartners hindeuten.
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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sationsgedächtnisses bei seiner Gestaltung von Reformen der Vergangenheit geben würde. Wenn ich nämlich der Frage nachgegangen wäre, wie oft frühere Reformen der Organisation erinnert oder vergessen worden sind, dann hätte dies, nach Texttyp differenziert, zum Beispiel zu solchen Ergebnissen geführt: ‚Verweise auf Reformen der Vergangenheit können in rund 10 Prozent der Dokumente des Typs „EAE“ beobachtet werden; ungefähr die Hälfte der in den Interviews befragten Kompetenzen hat sich nicht zu einer reformierenden Vergangenheit der Stadt X geäußert, allerdings haben sich alle Interviewpartner an das Dokument EAE5 erinnert, das seinerseits mehrere Erinnerungen an frühere beabsichtige Strukturänderungen der Stadt X enthielt.‘ Eine solche quantifizierende Beschreibung würde zwar in ihrem methodischen Vorgehen für sich selbst ‚richtig Ergebnisse‘ produzieren, wäre aber zur Beschreibung des organisationalen Erinnerns und Vergessen nicht angemessen komplex. Außerdem zeigte sich in der methodischen Zweitbeobachtung recht schnell, dass sich die Inhaltsanalyse nicht darauf beschränken durfte, Erinnern und Vergessen lediglich auf die Einheit „Reform“ zu beziehen. Dies hätte eine extreme Simplifizierung der methodisch möglichen Beobachtungen bedeutet und im Hinblick auf die theoretischen Vermutungen der Hypothese 2 zu logisch widersprüchlichen Aussagen geführt, da ich konjunkte Sätze in Bezug auf Erinnern oder Vergessen des Organisationsgedächtnisses hätte formulieren müssen: Reformen der Organisationsvergangenheit werden sowohl erinnert als auch vergessen. Wenn frühere Reformen erinnert werden, werden sie sowohl bewertet als auch nicht bewertet. Zugunsten einer adäquat komplexen Beschreibung der organisationalen Möglichkeiten des Erinnerns und Vergessens früherer Reformen ergab sich inhaltsanalytisch der Bedarf, die Unterscheidung von Generalisierung (Paket) und Respezifikation zu nutzen und zwischen einer Reform als Gesamtpaket und ihren respezifizierten Zwecken zu differenzieren. Darüber hinaus drängte sich eine weitere theoretische Differenzierung auf, nämlich die Unterscheidung des Schemas „Reform“ von organisational identifizierbaren Reformen und deren Spezifikationen. Die inhaltsanalytische Nutzung dieser theoretischen Differenzierungen erschien mir im Fall der Stadt X insbesondere hinsichtlich der Zwecke „Einführung des Produkthaushalts (PHH)“ und „Einführung der Kosten- und Leistungsrechnung (KLR)“ notwendig, da diese von der Stadt X in Bezug auf verschiedene Reformperioden in sehr unterschiedlicher Weise im Organisationsgedächtnis aktualisiert wurden. In einer ersten Runde der Inhaltsanalyse fiel auf, dass in den erinnerten Dokumenten und in den beobachteten Interaktionen (Interviews und Reformprojektgruppensitzungen) immer wieder, oft in einem Atemzug, von der „Einführung des Produkthaushalts (PHH)“ und der „Einführung der Kosten- und Leis-
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
tungsrechnung (KLR)“ die Rede war, damit aber in verschiedenen Texten sowohl auf unterschiedliche Reformperioden der Organisation als auch auf verschiedene ‚kleinere‘ Strukturänderungen außerhalb von Reformperioden verwiesen wurde. Um einen vorläufigen Überblick über die verschiedenen sachlichen und zeitlichen Kontextualisierungen der Schemata „Einführung des PHH“ und „Einführung der KLR“ zu gewinnen, habe ich, als erste Annäherung an eine methodische Rekonstruktion organisationaler Erinnerungen, die folgende Historie angefertigt, die an die in den Jahren 2004 und 2005 produzierten Schriftstücke der Stadt X anschließt: Die Einführung von PHH und KLR begann zur Zeit der NSM-Reform in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre (EAE1). Was in dieser Zeit hinsichtlich des PHH und der KLR spezifisch passiert ist, wurde in den Texten nicht erinnert. Die Einführung blieb aber aus Sicht der Stadt X unvollendet, denn nach dem Ende der NSM-Reform hat sich die Stadt X im Jahr 2001 erneut für die Einführung von PHH und KLR entschieden (EAE1; EAE2). Im Rückblick auf diese Periode der zweiten Einführung, die vom Jahr 2001 bis zur Mitte des Jahres 2004 dauerte, wurde beobachtet, dass bereits mehr als ein Dutzend Suborganisationen der Stadt X den PHH und/oder die KLR „eingeführt“ hatten, während acht Suborganisationen einen solchen Strukturwandel „vorbereiteten“ (EAE2). Zu Beginn der NKF-Reform wurde dann entschieden, zum dritten Mal innerhalb eines Jahrzehnts mit der Einführung von PHH und KLR zu beginnen, und zwar nach einem „Abgleich der bereits gebildeten Produkte“ bzw. des „bestehenden KLR-Konzepts“ mit den Vorschriften des NKF-Gesetzes (EAE5). In der methodischen Fremdbeobachtung der damit einhergehenden zeitlichen Markierungen der reformierenden Organisation lassen sich somit drei Perioden beabsichtigter Strukturänderungen erkennen (siehe dazu auch unten die Tabelle 7): Die Einführung von PHH und KLR der NSM-Reformperiode in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurde in X-Stadt von einer Periode der Einführung von PHH und KLR unterschieden, die im Jahr 2001 begann und im Jahr 2004, jedenfalls mit dem Beginn der NKF-Reform, endete. Diese wurden als Perioden der Vergangenheit von der Periode der gerade erst begonnenen NKFReformperiode voneinander abgegrenzt. Die X-Stadt hat also zur Zeit der NKFReform eine Periode in Form der Einführung von PHH und KLR erinnert, die als Periode zwischen der NSM-Reformperiode und der NKF-Reformperiode markiert wurde. Die in dieser „Zwischenperiode“ intendierten Strukturänderungen wurden von der Stadt X in der Sachdimension dabei aber nicht als eigenständige Reformperiode beobachtet. In verschiedenen Beschreibungen des Organisationsgedächtnisses wurden allerdings Sachdimension und Zeitdimension in Bezug auf die Einführung von PHH und KLR sehr unterschiedlich kombiniert. Methodisch habe ich hier vier
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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Alternativen unterscheiden können: Die Organisation beschrieb ihre Strukturänderungsabsichten als (1) inhaltlichen „Bestandteil“ der NKF-Reform (EAE2) oder als (2) „Element“ der NSM-Reform (IP22), aber auch – losgelöst von einer Zuordnung zu einer spezifischen Reformperiode – als (3) „Ansatz“ verschiedener Reformwellen (IP1) oder als (4) „Aktivität“ im Rahmen einer kontinuierlichen „Verwaltungsmodernisierung“ der Stadt X (EAE5). Die Möglichkeit unterschiedlicher Erinnerungen scheint mir nun vor allem dadurch bedingt gewesen zu sein, dass die Einführung von PHH und KLR im Organisationsgedächtnis nur auf einer sehr hohen Stufe der Generalisierung aktiviert wurde, und zwar fast ausschließlich genau auf dieser Stufe, die nur die Bezeichnungen „PHH“, „KLR“ und „Einführung“ nutzt. Was „Einführung von PHH und KLR“ jeweils bedeutet hatte, wurde in den Memoiren zur NSMPeriode gar nicht und in denen zur „Zwischenperiode“ nur geringfügig konkretisiert. Aktuelle Spezifizierungen der Einführung von PHH und KLR gab es, wie oben beschrieben, nur in Bezug auf eine mögliche Zukunft der Organisation in der NKF-Reformperiode. So fiel es dem Organisationsgedächtnis leicht, diese Sinnpakete in seinen jeweils aktualisierenden Erinnerungen in verschiedene Perioden zu packen. Die vier Erinnerungsschemata in Bezug auf die „Einführung des Produkthaushalts“ und die „Einführung der Kosten- und Leistungsrechnung“ lassen sich wie folgt skizzieren: In der ersten Alternative wurde die „Zwischenperiode“ der Jahre 2001 bis 2004 erinnert, während mögliche Bezüge zur NSM-Reform nicht im Gedächtnis aktiviert wurden (IP49; IP7; EAE2). Die Einführung von PHH und KLR wurde hier in der Sachdimension als ein „Bestandteil“ der NKF-Reform gesehen, dessen Anfang aber zeitlich vor der Periode der NKF-Reform lag. Es kam damit zu einer Perspektive, in der Zeitdimension und Sachdimension ‚gekreuzt‘ wurden, so dass die Einführung von PHH und KLR als zeitliche Vorwegnahme eines Inhalts der späteren NKF-Reform erscheinen konnte. Die Organisation konnte sich dadurch selbst in Bezug auf die zukünftige Reform als ‚proaktiv‘ beobachten: Da im Zeitraum der Jahre 2001 bis 2004 bereits in verschiedenen Suborganisationen der Stadt X der PHH und/oder die KLR als ‚implementiert‘ galten, betrachtete man einen Teil der NKF-Reform als erledigt. Die Einführung von PHH und KLR wurde in dieser Perspektive aus der Vergangenheit in die Zukunft der NKF-Reformperiode hinein verlängert. Das zweite Schema des Erinnerns betonte ein Wiederaufleben alter Reformideen aus den 1990er Jahren (IP12; IP22; IP23) und stellte die Einführung von PHH und KLR in eine Reihe mit anderen Reformspezifikationen aus der Zeit der NSM-Reformperiode, die nun – in der NKF-Periode – wieder aktuell werden würden: „Der Faden wird wieder aufgenommen“ (IP22) hieß es in diesem
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Zusammenhang. Die „Zwischenperiode“ der Einführung von PHH und KLR wurde hier ausgeblendet. Ein drittes Schema referierte auf unterschiedliche Reformperioden, bezeichnete das zur Markierung von Perioden erforderliche Vorher/Nachher jedoch nicht im Einzelnen, sondern sprach unspezifisch und undatiert von früheren „Reformwellen“ (IP1). Der Blick auf den beabsichtigten Strukturwandel der Vergangenheit fokussierte in diesem Schema darauf, dass die Organisation bereits mehrere Anläufe unternommen hatte, die eigenen Strukturen in Richtung eines Produkthaushalts und einer Kosten- und Leistungsrechnung zu steuern. Ebenso wie in der dritten Erinnerungsversion wurden auch in der vierten Alternative die Markierungen von NSM-Reformperiode und Zwischenperiode ‚neutralisiert‘: Hier spannte man einen weiten historischen Bogen, in dem die Einführung von PHH und KLR als Spezifikation einer langjährigen, fortlaufenden und nicht abgeschlossenen „Verwaltungsmodernisierung“ der X-Stadt betrachtet wurde (EAE5; IP50; IP8). Damit wurde eine Kontinuität der Schemata „Einführung des PHH“ und „Einführung der KLR“ von der Organisationsvergangenheit bis hinein in die Zeit der NKF-Reformperiode hervorgehoben. Die Bezeichnung „Verwaltungsmodernisierung“ fungierte in diesem Kontext als Markierung der Einheit des gesamten planvollen Strukturwandels und verwies in der Zeitdimension ohne Markierung von Perioden darauf, dass die Stadt X sich bereits in früheren Zeiten des Schemas „Reform“ bedient hatte. Die in anderen Erinnerungsvarianten markierten Reformperioden oder Reformwellen wurden hier zugunsten einer Darstellung der sachlichen und zeitlichen Konsistenz des organisationalen Reformstrebens geglättet: In dieser Sichtweise hatte X-Stadt nicht seit Jahren wieder und wieder (erfolglos) versucht, den PHH und die KLR in der gesamten Organisation einzuführen; vielmehr konnte der durch eine Vielzahl reformierender „Aktivitäten“ nachweisbare, beharrliche Modernisierungseifer betont werden. Mit diesem Erinnerungsschema konnte sich die Stadt X folglich als eine sich selbst permanent reformierende Organisation stilisieren. Das erste und zweite Schema des Erinnerns bezogen sich in der Sachdimension auch auf andere Strukturänderungsabsichten der Vergangenheit, nämlich die „Bewertung des städtischen Vermögens“ und die „Einführung von Zielvereinbarungen“ in der Periode der NSM-Reform und die „Einführung einer betriebswirtschaftlichen Standardsoftware“ in der „Zwischenperiode“ der Jahre 2001 bis 2004. Man kann hier nun inhaltsanalytisch auf einen Wiedererkennungseffekt schließen, der das Gedächtnis die sachlich ähnlichen Strukturänderungsabsichten aus Vergangenheit und Zukunft als Identität miteinander verknüpfen ließ: Die Organisation erkannte im neuen Reformpaket mehrere Respezifikationen, die in schematisierter Form als aus der eigenen Vergangenheit bekannte Strukturänderungsabsichten registriert wurden. Da die Organisation mit den Reformspezifika-
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tionen in der gegenwärtigen Reformperiode bereits Erfahrungen in ihrer Vergangenheit gemacht hatte, besaßen diese Zukunftswert und wurden erinnert. In der Fremdbeobachtung wird allerdings schnell sichtbar, dass dieses Schema des „Wiedererkennungseffekts“ nicht schematisch vom Organisationsgedächtnis verwendet wurde: Vergleicht man die vergessenen Dokumente mit den erinnerten Dokumenten und den Protokollen, fällt auf, dass einige Respezifikationen der NKF-Reform, die ebenfalls als schon bekannte Zwecke aus der NSM-Reformperiode hätten konstruiert werden können, nicht wieder erneut thematisiert wurden, sondern in der aktuellen Reformperiode organisational unbeachtet im Aktenschrank lagerten. Insgesamt hat meine Inhaltsanalyse zur Rekonstruktion einer sehr starken Differenzierung des Erinnerns und Vergessens im Umgang mit Strukturänderungsabsichten der Vergangenheit geführt. Die Tabelle 7 zeigt die verschiedenen Sortierungen des Organisationsgedächtnisses in zwei vergangenen Perioden sowie deren Beziehungen zur gegenwärtig andauernden Periode der NKFReform. Die Darstellung soll auf einen Blick veranschaulichen, welche Entscheidungen über Strukturänderungen der Vergangenheit in der aktuellen Periode erinnert und welche vergessen wurden. Um mögliche Bedingungen dieser Differenzierungen des Organisationsgedächtnisses verstehen zu können, möchte ich das Erinnern und Vergessen der NSM-Reform und ihrer Respezifikationen nun in einem Zusammenhang mit der Verteilung von positiven und negativen Bewertungen und der Unterscheidung von Reformprodukten und Reformeffekten betrachten. Die Generalisierung „NSM-Reform“ wurde in der Periode der NKFReform widersprüchlich bewertet: Zum einen hat man dieses frühere Reformpaket der Stadt X unter Berücksichtigung seines Zukunftswerts („damals wurden schon viele Vorarbeiten geleistet“) als „vergleichsweise praxiswirksam“ bewertet (IP38). Zum anderen war man unzufrieden mit den Reformergebnissen, da „nie irgendetwas richtig zu Ende geführt worden“ (IP23) und die „bisherige Arbeit nur rudimentär zu verwenden“ (IP 28) war. Die Widersprüche bei der Bewertung des Reformpakets lösen sich etwas auf, wenn man sich die Erinnerungen und Bewertungen von Spezifikationen verschiedener Reformperioden anschaut, die als in der Sachdimension ähnlich oder identisch konstruiert werden können: Zunächst kann man in dem Vergleich der erinnerten Dokumente und der vergessenen Dokumente der Stadt X erkennen, dass die NKF-Reform zum Teil auf die gleichen Effekte – höhere Effizienz, bessere Steuerung, mehr Transparenz zielte – wie die NSM-Reform (siehe Tabelle 7).
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
In diesem Vergleich fällt nun auf: Die Organisation hat vollständig vergessen, dass sie in der vergangenen Reformperiode schon einmal versucht hatte, sich insgesamt besser zu steuern und effizienter und transparenter zu werden. Tabelle 7: Erinnerte und vergessene Entscheidungen über Strukturänderungen in beendeten Perioden im Vergleich zur NKF-Reformperiode Erinnerte Entscheidungen über Strukturänderungen in Perioden, die in der Vergangenheit beendet wurden Produkthaushalt Kosten- und Leistungsrechnung Vermögensbewertung Reorganisation von Suborganisationen Zielvereinbarungen
Produkthaushalt Kosten- und Leistungsrechnung
Betriebswirtschaftliche Standardsoftware
Periode
Periode
NSM-Reform „Zwischenperiode“ (Zweite Hälfte der (Erste Hälfte der 2000er 1990er Jahre) Jahre) Vergessene Entscheidungen über Strukturänderungen in Perioden, die in der Vergangenheit beendet wurden Effizienz Effektivität Steuerung Flexibilität Kundenorientierung Transparenz Hierarchieabflachung Kaufmännische Buchführung Dezentralisierung Berichtswesen Abgrenzung von Politik und Verwaltung NSM-Reform „Zwischenperiode“ (Zweite Hälfte der (Erste Hälfte der 2000er 1990er Jahre) Jahre)
Entscheidungen über Strukturänderungen in der gegenwärtig unbeendeten Periode Produkthaushalt Kosten- und Leistungsrechnung Vermögensbewertung
Zielvereinbarungen Betriebswirtschaftliche Standardsoftware Effizienz Transparenz Steuerung Kaufmännische Buchführung NKF-Reform (Zweite Hälfte der 2000er Jahre)
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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Die Ähnlichkeit spezifischer Reformeffekte der aktuellen und der vergangenen Reformperiode wurde von der Organisation invisibilisiert. Reformeffekte früherer Reformperioden wurden in der Stadt X allerdings unspezifisch erinnert. Denn es wurde das Ausbleiben jedweder Nachfrage und jeglicher Effekte thematisiert, die in der Vergangenheit als Folge spezifischer Reformprodukte auftreten sollten. Dieses generalisierte Verfehlen von (in der Erinnerung nicht bezeichneten) Zielen der Nachfrage und Effekten der NSM-Reform wurde insbesondere der Volksvertretung der Stadt X angelastet: „Die Politik fängt mit dem Produkthaushalt nichts an“ (IP15) oder „im Rat guckt sich kein Mensch den Produkthaushalt an“ (IP48) heißt es in diesem Zusammenhang. Ein anderes Bild erhält man, wenn man die als in der Sachdimension ähnlich oder identisch konstruierten Produkte der NSM-Reform und der NKFReform vergleicht. Produkte einer alten Reform wurden in X-Stadt mit hoher Wahrscheinlichkeit dann erinnert, wenn sie in der Organisationsvergangenheit erfolgreich produziert wurden und in der damaligen Zukunft gebraucht werden konnten. Diese Voraussetzungen der Erinnerungen waren bei den NSMReformprodukten „PHH“, „KLR“ und „Vermögensbewertung“ erfüllt gewesen: „Wir sind schon weit bei der Einführung von Produkthaushalt, Kosten- und Leistungsrechnung und der Vermögensbewertung. Andere Städte, die noch nicht soweit sind, sind da neidisch“ (IP32) heißt es dazu in einer besonders prägnanten Formulierung, die ich hier stellvertretend für eine Vielzahl ähnlicher Äußerungen zitiere. Die NSM-Reformprodukte „Reorganisation“ und „Zielvereinbarungen“ wurden aus Sicht der Stadt X in einem engen Zusammenhang mit diesen erfolgreichen Produkten der NSM-Reform gesetzt und ebenfalls positiv erinnert. Hingegen wurde vergessen, dass die Stadt X bereits zur Zeit der NSM-Reform die Einführung eines kaufmännischen Rechnungswesens beabsichtigt hatte. Da diese Absicht der Strukturänderung auch eine zentrale Respezifikation des NKFPakets darstellte, die gleichlautende Absicht der NSM-Reform jedoch in keinem der erinnerten Dokumente, in keinem Interview und bei keiner teilnehmend beobachteten Interaktion erwähnt wurde, vermute ich, dass dieses Ziel der NSMReform seinerzeit organisational verfehlt wurde. Im Laufe der Inhaltsanalyse zeigte sich weiterhin, dass die Stadt X die Beurteilung früherer Reformen nicht auf eine zweckrationale Kontrolle von Erfolgen und Misserfolgen beschränkte und sich nicht nur daran erinnert hat, inwiefern Reformzwecke bewirkt wurden oder nicht. Erinnert wurden vor allem auch die Kosten und Schäden vergangener Versuche beabsichtigter Strukturänderungen: In dem für die Planung der NKF-Reform als zentral beobachteten Dokument EAE5 wurden die Erfahrungen der Stadt X mit den Kosten vergangener Reformen genutzt, um ausführlich die möglichen Kosten der künftigen NKFReform zu kalkulieren. In dieser Kalkulation wurde der Nachteil „Kosten“ der
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
NKF-Reform zwar auch mit den Vorteilen der NKF-Reform – etwa dem beabsichtigten Effekt der höheren Effizienz – ‚verrechnet‘. Doch es wurde vor allem betont, dass die in der Vergangenheit bewirkten Kosten, die für die Einführung des Produkthaushalts, der Kosten- und Leistungsrechnung und einer betriebswirtschaftlichen Standardsoftware sowie für die Bewertung des Vermögens einiger Suborganisationen in der Vergangenheit entstanden waren, als bereits eingesparte ‚Vorarbeiten‘ direkt von den zukünftigen Kosten der NKF-Reform abgezogen werden konnten. Dass diese aktuell positiv bewerteten Kosten („Umstellungsarbeiten im Reformprojekt“, EAE5) der Vergangenheit auch zu andauernden Schäden der Organisation geführt hatten, wurde schriftlich nicht dokumentiert, aber in etwa einem Viertel aller Interviews beschrieben: Die „Belastungen“, die „Mehrarbeit“ und die „Unsicherheit“ durch „immer wieder neue Reformen“ haben nach den Beobachtungen vieler Kompetenzen zu einer „Reformmüdigkeit“ geführt, so dass „viele der betroffenen Kollegen“ die „ständigen Änderungen“ leid wären. „(…) Nase voll!“ (IP49) – diese Umschreibung einer generalisierenden Ablehnung in Bezug auf das Schema „Reform“ wurde in der Rückschau als schädliche Reformfolge und in der Vorschau auch als Risiko für die Zustimmung zur NKFReform in X-Stadt mehrfach thematisiert. Die hier zu beobachtende Negativbewertung des Schemas „Reform“ widerspricht nun den Erinnerungen im Dokument EAE5, die als generalisierendes Reflexionsresultat der Reformerfahrungen unter dem Titel „Verwaltungsmodernisierung“ eine Positivwertung des Schemas „Reform“ konstruiert. Hier muss man allerdings anmerken, dass eine Generalisierung der Ablehnung des Schemas „Reform“ durch das Schema „Reformmüdigkeit“ nur begrenzt erfolgte. Denn das Schema „Reformmüdigkeit“ implizierte, dass die Organisation momentan ein Problem hat: Sie ist ‚müde‘ von den Reformanstrengungen der Vergangenheit und benötigt – um sprachlich im Bild zu bleiben – nur eine vorübergehende ‚Erholungspause‘, um Kraft für neue Reformbemühungen zu schöpfen. Nach dem ‚Reformurlaub‘ der Organisation würde es dann weitergehen können. Das Schema „Reformmüdigkeit“ vermittelte also, dass für die Organisation vorübergehend ein Problem darin liegen würde, die Kosten einer Reform zu akzeptieren. Es stellte aber nicht die Tauglichkeit des Schemas „Reform“ in Frage, Probleme der Organisation zu lösen. Als Zwischenergebnis kann man vereinfachend festhalten: Auf der positiven Seite wurde erinnert, dass man als reformierende Organisation in der Vergangenheit schon einige Reformprodukte hergestellt hatte, die man in der Zukunft der gegenwärtigen Reformperiode würde gebrauchen können. Auf der negativen Seite wurde sowohl erinnert als auch vergessen, dass die Stadt X in einer instrumentell-rationalen Rückschau nicht alles erreicht hat, was sie sich in
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früheren Reformen vorgenommen hatte, und dass das, was erreicht wurde, mit hohem Aufwand verbunden war und diese Kosten mit negativen Folgen („Reformmüdigkeit“) für die aktuelle Reformperiode verbunden gewesen sind. Es stellt sich jetzt die Frage, inwieweit die Stadt X mit dieser Selektivität des Erinnerns und Bewertens ihrer Reformvergangenheit die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass eine Akzeptanz der NKF-Reform wahrscheinlicher wurde. Die bisherigen Analysen haben im Hinblick auf die Vermutungen der Hypothese 2 gezeigt, dass vergangene Reformpakete nicht vergessen wurden, sondern lediglich verschiedene Spezifikationen eines Pakets. Eine Evaluierung der Erinnerungen an die reformierende Vergangenheit fand statt, sowohl im Hinblick auf einige Reformspezifikationen als auch auf das Reformpaket „NSM“. Darüber hinaus wurde auch das Schema „Reform“ mit Bezug auf die Vergangenheit bewertet. Daher kann die Aussage der Hypothese 2.3 von der Fallstudie nicht konsolidiert werden. Eine Verbindung der methodischen Zweitbeobachtungen mit den Hypothesen 2.1. und 2.3. führt nun ohne zusätzliche Unterscheidungen zu der widersprüchlichen Aussage, dass Negatives wie Positives vergangener Reformperioden in aktuellen Reformperioden erinnert und vergessen wird. Will man sich damit nicht begnügen, kann nun berücksichtigt werden, dass die Inhaltsanalyse sich bis jetzt auf die methodische Beobachtung von Aktualisierungen und Invisibilisierungen vergangener Reformen und deren Spezifikationen im Gedächtnis der Stadt X befasst hat, ohne dass nach möglicherweise unterschiedlichen Funktionen dieser Gedächtnisoperationen gefragt worden wäre. Ich verstehe meine Beobachtungen zum Organisationsgedächtnis so, dass dieses in den ersten Monaten der NKF-Reformperiode an der Verfestigung von zwei unterschiedlichen Strukturen des Erinnerns und Vergessens in Bezug auf Reformen der Vergangenheit gearbeitet hatte, die sich auf unterschiedliche Problemlösungen der Organisation bezogen: Die erste Programmierung des Gedächtnisses war auf die Funktion der Akzeptanzbeschaffung gerichtet: Die Organisation sollte in unspezifischer Weise positive Beiträge zum Thema „Reform“ erinnern, während negative Erfahrungen aussortiert wurden. Diese Struktur des Erinnerns und Vergessens verstehe ich als die dominierende Programmierung des Organisationsgedächtnisses, da die entsprechenden Sinnofferten mit Hilfe des Dokuments EAE5 in der Organisation nicht nur abgelagert, sondern schriftlich verbreitet und in zahlreichen Interviews zu verschiedenen Zeiten redundant aktualisiert wurden. Hier hat die Stadt X nach meinen Beobachtungen versucht, eine in schriftlichen Texten offiziell fixierte und auf vergangene Reformerfolge getrimmte Gedächtniskultur zu errichten, die die Memoiren des Systems ‚aufhübschen‘ sollte.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Die Sinnangebote der ‚widerständigen Gegenbewegung‘, die zweite Programmierung des Gedächtnisses von X-Stadt, mussten ohne Schriftlichkeit auskommen,333 wurden aber in der NKF-Reformperiode als mündlicher Text immer wieder neu aktualisiert. Hier wurde vorgeschlagen, negative Reformerfahrungen zu erinnern. Dabei konnte zum einen auf Misserfolge mehrerer Spezifikationen der NSM-Reformperiode verwiesen werden, die aufgrund der Ähnlichkeit mit Reformideen der NKF-Periode mit Zukunftswert ausgestattet werden konnten. Denn die Gegner der NKF-Reform verfügten mit den schlechten Erfahrungen der Vergangenheit über einen Vorrat an Argumenten, der zumindest das Bewirken der von der NKF-Reform beabsichtigten Effekte in Frage stellen konnte. Zum anderen ging es um die durch die Reformen entstehenden Kosten und den Folgeschaden der ‚Reformmüdigkeit‘. Mit dieser generalisierenden Ablehnung des Schemas „Reform“ konnte sich das zweite Programm des Gedächtnisses unabhängig von den konkreten Erlebnissen während der NSM-Reform in der NKFReformperiode mit Bedenken gegenüber Strukturänderungsabsichten versorgen. Die Funktion dieser widerständigen Zweitprogrammierung des Gedächtnisses ist nun darin zu sehen, dass sie in der Stadt X dazu beigetragen hat, die Widerspruchsfunktion von Reform zu sichern. Das Programm der negativen Reformerinnerungen fungierte als Korrekturvorbehalt gegenüber der offiziellen Geschichtsschreibung des Systems und sicherte durch sein Angebot der Visibilisierung negativer Erfahrungen ein ausreichendes Verstehen der Organisation für sich selbst: Bei Bedarf konnte Widerspruch gegen die programmierte ‚Schönfärberei‘ der selektiv positiven Reformerinnerungen eingelegt und eine Blindheit für die Risiken einer reformierenden Organisation begrenzt werden. Nach meinem Verständnis liefen diese beiden, potenziell kontroversen Programmierungen des Gedächtnisses in der NKF-Periode bis auf Widerruf ‚friedlich‘ nebeneinander her. Aufgrund der Vormachtstellung der schriftlichen Variante kam es nicht zu einer Konfusion des Gedächtnisses durch eine Konfrontation des positiven und negativen Reformgedenkens. Gleichwohl war diese Rollenverteilung der beiden konträren Gedächtnisprogrammierungen revisionsfähig eingerichtet, weil die Programmvariante der negativen Reformerinnerungen als ‚drohender Schatten‘ im Hintergrund mitlief und die Möglichkeit hatte, in neuen Gedächtnisoperationen in den Vordergrund gerückt zu werden. Bezieht man die methodischen Ergebnisse zur Hypothese 1 mit ein, dann kann man im Hinblick auf die Formulierung abstrahierender Aussagen vermuten, dass ein Organisationsgedächtnis zur Akzeptanz von Reform auf zweierlei Weise 333
Die Mündlichkeit schlechter Erfahrungen mit Reformen ist theoretisch zu erwarten: „All die Fehler und falschen Ansätze und die Bemühungen, die zu ihrer Korrektur erforderlich waren, gelangen möglichst nicht in die Akten und jedenfalls nicht in die Öffentlichkeit; denn offenkundige Fehler sind sehr viel fehlerhafter als heimliche Fehler.“, liest man bei Luhmann 1964a, 114.
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beiträgt: Einerseits lässt sich die soeben beschriebene Selektivität im Umgang mit Reformen der Vergangenheit beobachten. Andererseits werden innerhalb einer Reformperiode die ‚überambitionierten‘, organisational nicht oder kaum steuerbaren Reformrespezifikationen bereits kurz nach Beginn einer Reform vergessen. Das bedeutet für die These der „organizational forgetfulness“: Vergessen findet nicht nur im Verhältnis von aktuellen und vergangenen Reformperioden statt. Vergessen kann in Bezug auf Reformrespezifikationen bereits im Laufe der aktuellen Reformperiode einsetzen, und zwar sehr früh, nur kurze Zeit nach dem Reformbeginn. 5.5.3 „Organisierte Heuchelei“: Reformeifer und Verschiebungen von Reformaction als lose gekoppelter Mix Im Anschluss an Aussagen der Theorie organisierter Scheinheiligkeit behauptet die oben formulierte Hypothese 3, dass Organisationen die Chancen von Reformakzeptanz verbessern, indem sie Talk-, Decision- und Action-Einheiten, die Reformen betreffen, in Form der (1) zeitlichen Distanzierung, (2) der suborganisationalen Binnendifferenzierung und der (3) Differenzierung von Leistungsund Publikumsrollen voneinander entkoppeln. Für methodische Beobachtungen zu der Annahme der Entkopplung von Talk und Decision und Action möchte ich an den oben ausgeführten theoretischen Vorschlag anknüpfen, die organisationale Einheitsbildung von Talk und Decision und Action als flexibel gestaltbar zu verstehen und solche Konstruktionen nicht nur in Bezug auf das Gesamtpaket einer Reform zu betrachten, sondern auch solche Einheiten dieser Trias zu berücksichtigen, die sich auf Reformrespezifikationen beziehen. Ich werde daher im Folgenden in zeitlicher und sachlicher Hinsicht die Gesamtperiode der NKFReform von deren Subperioden, die sich auf Respezifikationen des NKF-Pakets beziehen, unterscheiden. Vor der Darstellung meiner inhaltsanalytischen Ergebnisse bezüglich der Hypothese 3 soll erneut darauf hingewiesen werden, dass die Periode meiner Beobachtung der reformierenden Stadt X nicht mit der Gesamtperiode der NKFReform konvergierte. Im zeitlichen Rahmen meiner Fallstudie konnte ich, wie bereits notiert, eine frühe Phase der NKF-Reformperiode beobachten, nicht jedoch ihr Ende. Dies bedeutet, dass ich nur Talk- und Decision-Entscheidungen der Stadt X in Bezug auf die Markierung des Reformendes und eines großen Teils der Subperioden der NKF-Reform beobachten konnte. Anders formuliert, konnte ich in der Periode meiner Fallstudie weitgehend nur Beschreibungen und Planungen des möglichen Ablaufs einer auf mehrere Jahre ausgedehnten Reformzukunft beobachten. Wie die folgenden Ausführungen aber veranschauli-
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
chen werden, ist dieser Umstand im Hinblick auf die Verknüpfung von Theorie und Beobachtungen dieser Fallstudie kein methodisches Manko gewesen. Zur Beantwortung der Frage, ob der Dreiklang von Talk, Decision und Action zur Vermeidung möglicher Disharmonien voneinander entkoppelt wurde, ist zunächst zu verstehen, auf welche Einheiten die Stadt X das Schema dieser drei Unterscheidungen bezogen hat. Hierfür greife ich auf die oben bereits beschriebenen Markierungen der NKF-Reformperiode und deren Subperioden zurück, die oben in der Abbildung 3 veranschaulicht wurden. Betrachtet man hinsichtlich der gesamten NKF-Reform die beschriebenen Termine des Anfangens und des Beendens, dann könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Stadt X eine Beendigung ihrer NKF-Reform plante. X-Stadt hätte in diesem Fall die NKF-Reform dann nicht nur als „Projekt“ bezeichnet, sondern überraschenderweise auch so geplant, nämlich als Entscheidungsperiode mit einem Ende. Wenn hier von einer möglichen Überraschung die Rede ist, dann verweist dies auf die oben formulierte theoretische Erwartung, dass eine reformierende Organisation die Bezeichnung einer Befristung der Reform vermeidet, um die angekündigte Reformaction immer weiter in die Zukunft verschieben zu können. Dem ersten Anschein zum Trotz erfüllt sich diese Erwartung: Das Reformende bleibt auch im Fall der reformierenden Stadt X organisational terminlich ohne eine Markierung. Obwohl dies inhaltsanalytisch nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, handelt es sich bei den beiden terminlichen Markierungen eines Reformendes um ‚Scheinmarkierungen‘, mit der sich die Organisation ein zeitliches Schlupfloch in Bezug auf die Befristung der Reform geschaffen hat. Wie kommt es zu so einem Manöver? Zunächst sind die organisationalen Befristungen der NKF-Reform als Anschlüsse an die rechtliche Programmierung der Reformdauer zu verstehen: Im NKF-Gesetz waren zwei Fristen für die organisationale Erstellung von Reformprodukten terminiert. Die Genese der Idee, die Reformdauer durch Stichtage zu beschränken, wurde in Dokumenten der Stadt X entsprechend extern, auf das Land NRW, zugerechnet. In der Beschreibung und Planung der künftigen Reformzeit hat die Stadt X diese Termine zur Markierung eines Endes des NKF-Reformprojekts aufgegriffen. Entscheidend ist nun jedoch: Das Ende des Reformprojekts hat nicht das Ende der NKF-Reform bezeichnet. Diese Divergenz von Reform und Reformprojekt wird verständlich, wenn man sich ansieht, welche Folgen die Etablierung einer Reformprojektorganisation in X-Stadt für die Verteilung von Talk, Decision und Action in Bezug auf die Einheit der NKF-Reform hatte. Wie im Weiteren dargelegt werden soll, konnte Reformaction aus dem Reformprojekt herausfallen, weil die Stadt X mit der NKF-Reform eine Einheit bezeichnet hatte, die sachlich und zeitlich nicht mit der als „Reformprojekt“ bezeichneten Einheit übereinstimmte.
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5.5 Ergebnisse der Fallstudie
Im Rahmen der methodischen Beobachtungen zur Hypothese 1 wurde bereits beschrieben, dass die Stadt X in einer der ersten Subperioden ihrer NKFReform eine „reformierende Parallelorganisation“ eingerichtet hatte, die unter dem Titel „Einführung des NKF“ das Reformieren der Organisation in Form eines Projekts durchführen sollte. Diese Reformprojektorganisation rekrutierte als ihre Mitglieder exklusiv Mitglieder der Behörde der Stadt X. Insofern wurde mit Gründung der Reformprojektorganisation eine Subsuborganisation innerhalb der Suborganisation „Behörde“ der Organisation „Stadt X“ errichtet. Die Reformprojektorganisation differenzierte sich ebenfalls intern weiter aus und gründete mehrere Suborganisationen. Die Abbildung 5 veranschaulicht diese suborganisationalen Binnendifferenzierungen im Kontext der NKF-Reform. Abbildung 5:
Binnendifferenzierungen der Stadt X im Kontext der NKFReform Organisation „Stadt X“
Suborganisation 1 „Behörde“ Steuerungsgruppe Kernteam
Teilprojekt 4
Reformprojektorganisation
Teilprojekt 3 Teilprojekt 1
Teilprojekt 6
Schulungen
Teilprojekt 5 Teilprojekt 2
Publikum 1 „Restbehörde“
Suborganisation 2 „Volksvertretung“
Informationen über Entscheidungen der Reformprojektorganisation Produktdefinitionen
Publikum 2 „Volksvertretung“
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Ob die durch die Reformprojektorganisation errichtete Mitgliedschaftsgrenze im Verhältnis zur „Restorganisation“ der Stadt X (als „organisationsinterner Umwelt“) auch eine Grenze in Bezug auf Reformtalk, -decision und -action setzte, kann nur beantwortet werden, wenn methodisch rekonstruiert wird, wie die Stadt X mit diesen drei Unterscheidungen in Bezug auf die Einheit der NKFReform umgegangen ist. Für die Rekonstruktion dieser Einheit ist zunächst die Beobachtung eines sachlichen und zeitlichen Fixpunktes erforderlich. Als einen solchen Fixpunkt habe ich Beschreibungen der zukünftigen Reformaction gewählt, da diese das gewünschte Ende der Reform markieren und zeigen, wie sich die Organisation ihren durch Reform veränderten Gesamtzustand vorstellt. Daher habe ich in der Inhaltsanalyse nach Äußerungen gesucht, die neue Strukturen einer künftigen Stadt X als Ergebnisse der Reformanstrengungen betrachten. Solche Äußerungen zum Zielzustand der Reform habe ich als Beschreibung (Talk) oder Planung (Decision) des reformierten Organisationsalltags (Action) verstanden. Weil auf Reform zugerechnete Änderungen der Strukturen basalen Entscheidens in der Periode meiner Fallstudie nur als Vorschau auf einen neu etablierten Organisationsalltag in einer entfernten Zukunft beobachtet werden konnten, gab es methodisch keine Möglichkeit, Reformaction im Sinne von Reformergebnissen aktuell in Aktion zu sehen. Die Beobachtung der organisational gegenwärtig erwarteten Reformaction setzte also das Erkennen derjenigen Talkoder Decision-Entscheidungen voraus, die vermitteln konnten, wie die reformierende Organisation sich selbst als in der Zukunft erfolgreich reformierte Organisation sah. In den von der Stadt X verfassten, schriftlichen Texten zur NKF-Reform mangelte es, wie erwähnt, nicht an der Beschreibung von Zielen, Unterzielen und Unterunterzielen. Jedoch wurden in diesen Texten zumeist nicht Ziele für die gesamte Organisation, sondern Ziele der Reformprojektorganisation beschrieben, die als „Aufgaben“ des Reformprojekts formuliert wurden. Diese Orientierung an Aufgaben der Projektorganisation führte dazu, dass primär die beabsichtigten Änderungen von Strukturen und weniger die in Zukunft geänderten Strukturen beschrieben wurden. Diese unterschiedliche Gewichtung der Beschreibungen von Änderungen und Ergebnissen, die in der sehr häufigen Benutzung von Wörtern wie „einführen“, „umsetzen“ oder „umstellen“ zum Ausdruck kommt, habe ich nicht als sprachlich beliebige, unterschiedslos austauschbare Formulierungsvarianten für die Bezeichnung einer Einheit von Entscheidungen verstanden, sondern als Verweis auf eine suborganisational differenzierte Disposition über Reformtalk, -decision und –action. Denn wenn als Zwecke der Reformprojektorganisation programmiert wurde, dass ein „Produkthaushalt flächendeckend“, eine „Kosten- und Leistungsrechnung verwaltungsweit“ umgesetzt und „Zielvereinbarungen zwischen Politik und Verwaltung“ eingeführt werden sollten, dann
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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bedeutete das für die Reformprojektorganisation nicht das Ziel, reformierte Action-Strukturen in der Stadt X zu etablieren: Mit Vokabeln wie „Einführung“ oder „Umsetzung“ wurde in Bezug auf diese Reformspezifikationen beispielsweise weder die Situation beschrieben, dass die Behörde und die Volksvertretung über die Anfertigung von Produkten von X-Stadt bestimmte Ziele vereinbaren, noch der Zustand, dass sich Entscheidungen über Zahlungen an einem Produkthaushalt orientieren, dessen Produkte die Werte aus einer Kosten- und Leistungsrechnung verwenden. Der Zielzustand, der mit „Umsetzung“ und „Einführung“ im Kontext der Reformprojektorganisation gemeint war, bezog sich vielmehr darauf, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich ein solches Finanzmanagement im basalen Entscheiden der Stadt X in einer weiter entfernten Zukunft etablieren kann. Einfacher formuliert: Reformaction gehörte nicht zu den Aufgaben der Reformprojektorganisation. Ihr Ziel war lediglich, die Vorgaben des NKF-Gesetzes im Laufe der Jahre so in den Planungen der Stadt X umzusetzen, dass Ende der 2000er Jahre die Organisation in der Lage sein würde, ihren Haushalt nach Maßgabe des NKF zu führen. Ob dann zum Ende des Reformprojekts eine Veränderung der Haushaltsführung beginnen würde, hing also nicht von der Reformprojektorganisation ab, sondern davon, dass sich die Stadt X nach Ende des Reformprojekts an den von der Reformprojektorganisation beschlossenen Prämissen in ihren Alltagsentscheidungen orientieren würde. Dass mit den Vorbereitungen für eine Veränderung der organisationalen Action-Strukturen zwar das Projekt der Parallelorganisation beendet sein würde, die Stadt X sich aber in ihrem Finanzmanagement damit noch nicht an einem kaufmännischen Rechnungswesen, einem Produkthaushalt oder Zielvereinbarungen orientieren würde, wird in den Beschreibungen der reformierenden Organisationszukunft an verschiedenen Stellen sichtbar. In einigen Interviews wurde recht deutlich formuliert, dass die Reformprojektorganisation sich in den nächsten Jahren mit konzeptionellen Fragen befassen würde, die dann in eine Planung für die restliche Stadt X münden sollte: Im Reformprojekt „(…) geht es erst einmal darum, dass Instrumentarium zu schaffen, um geregelt Konsequenzen aus den neuen Informationen zu ziehen. Man wird dann sehen, ob die Informationen auch systematisch verwendet werden. Da muss sich die politische Kultur ändern.“ (…) „Technische Fragen, das Steuerungskonzept, die Prozessgestaltung, wie schaffe ich es, Produktverantwortung abzubilden – das sind Fragen, die uns das ganze Projekt über begleiten werden. Am Ende, da muss das neue Rechnungssystem, die Kosten- und Leistungsrechnung, auf Knopfdruck funktionieren. (…) Die Steuerungsinstrumente sind dann die Kür, aber die Politik wird gezwungen werden, sich damit zu beschäftigen“ (IP16).
Weiter heißt es in einem anderen Interview:
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„Wir müssen jetzt ausarbeiten, wie Produkte definiert und gegliedert werden, ob Organisationsstrukturen an Produkte angepasst werden, wie Regeln und Dienstanweisungen geändert werden müssen. In den nächsten Jahren wird sich das konkretisieren. Einige werden sich wundern, die Verwaltung wird dann einfach mal richtig durchgeschüttelt“ (IP33).
Auch in den schriftlich fixierten Texten ist erkennbar, dass das Ende des Reformprojekts nicht das Ende der Reform in der Stadt X bedeutete (EAE5; EAE6). Die Divergenz von Reformperiode und Reformprojektperiode wurde hier durch die Termine der Subperioden sichtbar (siehe oben, Abbildung 3): Der „Produktivstart“ der neuen NKF-Haushaltsbewirtschaftung sollte Anfang 2009 beginnen, die Planung dieses Haushalts etwa ein halbes Jahr früher. Mit „Produktivstart“ war gemeint, dass sich mit Beginn dieser Subperiode die ActionStrukturen ändern würden. So sollte das Rechnungswesen ab 2009 nicht mehr kamerale Finanzdaten produzieren, sondern auf eine doppelte Buchführung umgestellt werden, um erstmals Daten für den neuen Produkthaushalt liefern zu können. Bis dahin würde die Stadt X nur „(…) kamerale Finanzdaten für den Haushalt heranziehen“ (IP42). Gemäß der Zeitplanung des Projekts wäre ein Wechsel von der Kameralistik zur doppelten Buchführung auch gar nicht früher möglich gewesen, da bis zum Ende des Jahres 2008 die Reformprojektorganisation unter anderem damit beschäftigt sein würde, eine für das NKF geeignete Softwareumgebung bereit zu stellen, Schulungen in der gesamten Stadt X durchzuführen oder das Konzept der Kosten- und Leistungsrechnung zu testen. „Die Zeit bis 2009 ist nicht zu lang bemessen. Eine Umstellung von heute auf morgen geht nicht“ (IP49). Was in den Schriftstücken nicht explizit gesagt wurde (und für alle erfahrenen Verwaltungsleute der Stadt X wohl auch nicht gesagt werden musste): Dies implizierte, dass für die Dauer des Reformprojekts der Status Quo der ActionStrukturen nicht verändert werden würde und sich der Organisationsalltag in den nächsten Jahren weiterhin an den alten Regeln der Kameralistik orientieren würde. Die stillschweigende Botschaft der Zeitplanung des Reformprojekts lautete also: Ein neues Haushaltwesen würde es im basalen Entscheiden erst ab dem Jahr 2009 geben. In mehreren Interview wurde dieses Hinausschieben der Veränderung von Action-Strukturen auch ganz direkt angesprochen: „Erst 2009 wird es etwas Neues geben“ (IP26). „Wir werden jetzt schon geschult. Aber für uns wird das NKF doch wahrscheinlich erst 2009 relevant“ (IP30). In Bezug auf die gesamte NKF-Reform hat die Reformprojektorganisation also angekündigt, als ihr Projektergebnis solche Decision-Strukturen zu produzieren, die Prämissen für eine Reform der Action-Strukturen der gesamten Organisation liefern würden. Die Reformprojektorganisation zielte auf eine Planung für die Fortsetzung der NKF-Reform außerhalb dieser Parallelorganisation, die
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dann als neue Entscheidungsprämissen des Finanzmanagements an die restliche Organisation abgegeben werden und das basale Entscheiden im Organisationalltag verändern sollte. Dieser Output wurde von der Reformprojektorganisation auf zwei verschiedene Publika in der Stadt X gerichtet: Als Reformbetroffene der Zukunft wurden in der Stadt X zum einem die Kompetenzen der Volksvertretung („Politik“, „Ratsmitglieder“) adressiert. Zum anderen wurden all diejenigen Mitglieder der Behörde von den Planungsprodukten des Reformprojekts prospektiv betroffen, die nicht zugleich Mitglieder der Reformprojektorganisation waren und die für die Projektorganisation innerhalb der Behörde der Stadt X die andere Seite – eine interne Behördenumwelt – bildeten. Mit dieser Beschreibung wird bereits erkennbar, dass in der reformierenden Stadt X die Differenzierung der Rollen von Reformentscheidern und Reformbetroffenen mit einer durch die Gründung der Reformprojektorganisation ausgelösten, suborganisationalen Differenzierung einherging. In der Perspektive der Reformprojektorganisation kam es bei der NKF-Reform somit in Bezug auf die Verteilung von Leistungs- und Publikumsrollen zu einer suborganisationalen Dreiteilung aus Reformprojektorganisation, Volksvertretung und den „(…) übrigen Kollegen in der Verwaltung außerhalb des Projekts (…)“ (IP17), die als behördeninternes Publikum der Reform eine „Restbehörde“ bildeten. Im Reformprojekt war man ein Entscheider mit der besonderen Aufgabe, ein für die eigene Organisation passendes Konzept für die Einführung des NKF zu entwickeln und dieses Konzept in eine umfangreiche Planung für eine Veränderung des Organisationsalltags der Reformbetroffenen zu überführen. Diese Entscheidungen der Reformprojektorganisation sollten in der Zukunft die gewohnten Action-Strukturen der „Restbehörde“ und der Volksvertretung auf unterschiedliche Weise verändern. Die Restbehörde sollte für Action in Bezug auf die Reformprodukte zuständig sein und die Finanzdaten für den NKF-Haushalt generieren. Die Volksvertretung sollte ihr basales Entscheiden an diesen veränderten Haushaltsinformationen ausrichten und dadurch die gewünschten Reformeffekte bewirken. Dass die Gründung der Reformprojektorganisation eine Distanz zwischen Reformentscheidern und Reformbetroffenen erzeugte, wurde von den befragten Kompetenzen selbst beschrieben: „Man sieht, dass die formale Projektstruktur eine sehr deutliche Marke nach außen gesetzt hat“ (IP48). „Innerhalb des Projekts arbeiten wir in einem abgeschlossenen Bereich“ (IP13). „Es ist ganz wichtig, dass die Arbeitsteilung zwischen den Leuten innerhalb und außerhalb des Projekts vernünftig abgestimmt wird. Im Projekt sitzt man im stillen Kämmerlein und kann sich ein paar schöne Sachen überlegen, aber die Leute an der Front, die das dann in den Dezernaten umsetzen sollen, da wird man sehen, inwieweit die dann Unterstützung aus dem Projekt bekommen“ (IP46).
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Diese Abnabelung des Reformprojekts wurde nicht nur auf das Errichten einer Mitgliedschaftsgrenze zwischen Entscheidern und Betroffenen zurückgeführt, sondern auch auf das zeitliche Hinausschieben von Reformaction: „Die Kollegen lassen das auf sich zukommen. Viele haben das Gefühl, dass das NKF noch gar nicht aktuell ist und sie sich nicht damit beschäftigen müssen“ (IP37).
Die Abkopplung von Reformentscheidern und Reformbetroffenen wurde durch eine Programmierung der ‚grenzüberschreitenden‘ Kommunikation verstärkt. Die möglichen Kommunikationswege der Reformprojektorganisation zu den beiden Publika wurden auf wenige Kanäle beschränkt (siehe Abbildung 5). Nach den „Spielregeln“ (EAE6) der Reformprojektorganisation war es nur einigen wenigen Grenzstellen erlaubt, mit den Reformbetroffenen in Kontakt zu treten. Diese Reglementierung der Kommunikationskanäle war auch suborganisational in „Teilprojekten“ (EAE5; EAE6) ausdifferenziert. So durften nur zwei Teilprojekte (die „Steuerungsgruppe“ und das Teilprojekt „Qualifizierung, Kommunikation“) die Reformbetroffenen in der Volksvertretung und der Behörde über wichtige Entscheidungen der Reformprojektorganisation informieren. Zudem waren Kontakte zu den Betroffenen, die für konzeptionelle und planerische Entscheidungen notwendig waren, so etwa bei der Definition von Produkten oder bei der Durchführung von Schulungsmaßnahmen, ebenfalls auf die für diese Entscheidungen zuständigen Teilprojekte beschränkt. Die Konsequenzen dieser Kanalisierung wurden in den Interviews unter anderem so beschrieben: „Es gibt für die meisten Mitarbeiter ja gar keine Informationen, was im Projekt so läuft. Nur über einzelne Kontakte bei den Schulungen erfährt man ´was“ (IP49).
An dieser Stelle halte ich fest: In Bezug auf die gesamte NKF-Reform hatte die X-Stadt die Strukturen von Talk und Decision einerseits und Action andererseits sowohl durch eine Differenzierung von Rollen für Reformentscheider und Reformbetroffene, durch eine suborganisationale Einschränkung von Kommunikationswegen und durch eine zeitliche Distanzierung voneinander entkoppelt. Und es kann mitlaufend vermerkt werden: Die theoretische Vermutung, dass Talk und Decision sich einander nahe stehen, während Action einer anderen Welt der Organisation angehört, kann ebenfalls mit Hilfe der methodischen Beobachtungen dieser Fallstudie konsolidiert werden. Dass ein Abkoppeln der Reformprojektorganisation von der „Restorganisation“ den Reformentscheidern und das zeitliche Hinausschieben von Reformaction dabei half, Konfrontationen mit den Reformbetroffenen zu vermeiden, und die Möglichkeit förderte, bezüglich der Reformplanung das organisationsinterne
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Publikum vor ‚vollendete Tatsachen‘ zu stellen, wurde auch von mehreren der befragten Kompetenzen – mehr oder weniger verklausuliert – beschrieben: „Das erforderliche Know-how muss zum richtigen Zeitpunkt übermittelt werden; man wird sehen, wer, wann und wie informiert werden muss. Es wird auf jeden Fall schwierig, alle Verwaltungsmitglieder mitzunehmen. Erfahrungsgemäß gibt es Tendenzen zu blockieren“ (IP15). „Nicht viele Leute sind hier reformwütig. Dabei braucht ja keiner im Umstellungsprozess wirklich Angst zu haben. Einige klammern sich einfach an den lieb gewonnenen Strukturen; dieses Beharrungsvermögen wird schon ein Problem werden“ (IP48). „Wir haben da auch ein Generationenproblem, der Nachwuchs hat schon eher BWL-Kenntnisse, aber viele Ältere haben null Berührungspunkte mit dem kaufmännischen Rechnungswesen und können mit dem NKF gar nichts anfangen“ (…) „Wir müssen uns auch darauf einstellen, dass es ein Akzeptanzproblem mit der Politik geben wird. Für die sind die Zeithorizonte einfach zu weit weg, bis dass das NKF akut wird. Außerdem liegen noch Wahlen dazwischen“ (IP1). „Wir werden uns überraschen lassen, ob die Politiker mit dem Produkthaushalt und dem NKF überhaupt etwas anfangen können. Es wird schwierig, die Politik mitzunehmen“ (IP15).
Ich hatte oben angekündigt, die Einheitskonstruktionen von Talk und Decision und Action in der methodischen Zweitbeobachtung des Falls flexibel einzusetzen. Dies ist in der vorangegangenen Beschreibung durch die Unterscheidung von Reformprojekt und Reform bereits implizit geschehen: Denn wenn in Bezug auf die gesamte Reform die Ergebnisse des Reformprojekts als Reformdecision verstanden werden können, so sind sie doch in Bezug auf die Periode des Reformprojekts als Action zu erkennen. Jenseits der Perspektive der gesamten Reformeinheit ließen sich Einheitskonstruktionen von Talk und Decision und Action nun für alle der in X-Stadt unterschiedenen Subperioden der NKF-Reform durchexerzieren. Für eine beispielhafte Rekonstruktion der organisationalen Verwendung von Talk, Decision und Action im Rahmen einer Subperiode der NKF-Reform beschränke ich mich im Folgenden auf die Subperiode, die in der Sachdimension auf den Aufbau einer Reformprojektorganisation zielte. Die Ausdifferenzierung dieser reformierenden Parallelorganisation hat nämlich nach meinem inhaltsanalytischen Verständnis der Dokumente EAE4 bis EAE27 stark dazu beigetragen, dass die Stadt X sich bereits zu Beginn der Reform als eine reformierende Organisation beschreiben konnte, die über die NKF-Reform nicht nur spricht, sondern Strukturen des Organisationsalltags verändert. Die Subperiode „Aufbau der Reformprojektorganisation“ beginnt im Herbst des Jahres 2004 mit der Beschreibung einer möglichen Parallelorganisation zur Einführung des NKF, die im Rahmen der Erarbeitung eines Grobkonzepts vom Kernteam der NKF-Reform erstellt wurde. Dieser Talk wurde dann ab dem 18. Januar 2005 durch eine Planungsent-
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scheidung der Behördenspitze begleitet, der als „Beschluss des Verwaltungsvorstands zur Grundsatzentscheidung und zur Einführungskonzeption“ (EAE4) bezeichnet wurde. Am 17. Februar wurde diese Planungsentscheidung durch daran anschließende Entscheidungen über die Verknüpfung verschiedener Entscheidungsprämissen im Hinblick auf die Gründung einer Reformprojektorganisation respezifiziert. Ab Februar 2005 begann dann eine an dieser DecisionStruktur orientierte Action, die in den nächsten Wochen dazu führte, dass sich verschiedene „Teilprojekte“ als Suborganisationen der Reformprojektorganisation gründeten. Dass diese Suborganisationen im Frühjahr 2005 nach und nach ihre Arbeit aufnahmen, also damit anfingen, ihre Entscheidungen nach Anleitung der Planung anzufertigen, wurde inhaltsanalytisch in einer Vielzahl von Dokumenten (EAE8 bis EAE27) erkennbar, die das Entscheidungsgeschehen in den Sitzungen der Teilprojekte protokollierten. Im Hinblick auf die Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit der NKFReform habe ich diese Generierung von Action in einer Subperiode der Reform nun wie folgt verstanden: Durch die Gründung der Reformprojektorganisation änderte sich der Organisationsalltag der involvierten Kompetenzen in einem erheblichen Umfang. Mit der Rekrutierung für das Reformprojekt mussten wöchentlich mehrere Arbeitsstunden zur Anfertigung von Entscheidungen mit Verweis auf das NKF geleistet werden. Da der Aufbau der Parallelorganisation mit Beflissenheit in Angriff genommen wurde und innerhalb weniger Wochen gelang, konnte man gleich zu Beginn der Reform einen Erfolg vorweisen und intern signalisieren: ‚Es tut sich etwas bei dieser Reform, und was wir uns als Ziel vornehmen (hier: der Aufbau einer Reformprojektorganisation), das schaffen wir auch ziemlich schnell‘. Dadurch wurde in X-Stadt die Vorstellung der ‚Machbarkeit‘ des Reformierens bestärkt, da über die NKF-Reform augenscheinlich nicht nur geredet und diskutiert wurde, sondern auch sehr schnell die angekündigten Veränderungen des basalen Entscheidens bewirkt werden konnten. In der Subperiode „Aufbau der Reformprojektorganisation“ lagen Talk, Decision und Action zeitlich und sachlich nah beieinander. Dies führte in der Gründungsphase der Teilprojekte der Reformprojektorganisation auch zu dem Eindruck, dass „(…) eher weniger über Inhalte diskutiert wird, sondern über Prozesse: Wer bekommt welche Zuständigkeit im Projekt?“ (IP22). „Wir konzentrieren uns so auf operative Fragen, dass noch nicht einmal die Arbeitspakete geschnürt werden“ (IP48). „Die Teilprojekte legen los, ohne dass die übergeordnete Strategie klar wäre“ (IP22). Diese wohl eher kritisch gemeinten Äußerungen verweisen auf die hier interessierende, ‚engagierte‘ Vorgehensweise des Reformierens: Entsprechend der Beschreibung und Planung des Reformprojekts ging man in X-Stadt Schritt für Schritt vor und beschäftigte sich zunächst mit dem Naheliegenden, nämlich das Reformprojekt erst einmal durch
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Personal- und Kompetenzentscheidungen in Gang zu setzen. Die Stadt X konzentrierte sich jeweils auf das Hier und Jetzt des Reformprojekts, während die weiter entfernte Zukunft der Reform mit all ihren ambitionierten und aufwändigen Zielen vergessen werden konnte. Die Gliederung der Reform in Subperioden half der Organisation dabei, in Bezug auf die Anforderungen des gesamten Reformpakets kurzsichtig zu werden. Mit Gründung der Reformprojektorganisation setzte neben dieser zeitlichen Verkürzung der Reform durch Subperiodenkonstruktion zudem ein suborganisationales ‚Kleinarbeiten‘ der Reformzwecke in respezifizierende Unterzwecke und Unterunterzwecke ein. Die Entscheidungen über Unterzwecke der Reform wurden im Kommunikationsnetz voneinander entkoppelt, indem die Teilprojekte der Reformprojektorganisation sich jeweils auf die Bearbeitung von bestimmten Unterzwecken spezialisierten. Auf diese Weise wurde frühzeitig – noch vor einer Konfrontation von Reformentscheidern und Reformbetroffenen – die Möglichkeit vorbereitet, die ursprünglichen Reformabsichten zwischen den Suborganisationen der Reformprojektorganisation ungestört „herunter zu koordinieren“. „Keine Ahnung, was in den anderen Teilprojekten läuft“ (IP48) ist eine Beschreibung, die in ähnlicher Formulierung in mehreren Interviews zu finden ist, und auch die Beobachtung, dass die Protokolle der Teilprojektsitzungen „nicht besonders aussagekräftig“ seien (IP38), weist darauf hin, dass ein Herunterkoordinieren der Reformzwecke durch die suborganisationalen Differenzierungen begünstigt wurde. Damit wurde der Weg für ein vergessendes oder deformierendes Aussieben anfänglicher Reformzwecke geebnet, das die Wahrscheinlichkeit der Akzeptanz des Reformpakets wahrscheinlich erhöhen würde. Denn das sich abzeichnende ‚Zurechtschrumpfen‘ des Reformpakets auf ein erträgliches Maß – zum Beispiel durch Vergessen der Reformeffekte – bedeutete, dass im Vergleich zu den ursprünglichen Reformideen die übrig bleibenden Reformzumutungen von den Reformbetroffenen leichter akzeptiert werden würden. Insgesamt zeigt der Fall der reformierenden Stadt X eindrucksvoll, wie Organisationen mit Hilfe der Entkopplung von Talk, Decision und Action selbst Vorkehrungen dafür schaffen, eine im zukünftigen Reformverlauf wahrscheinliche Destabilisierung von Reformakzeptanz unwahrscheinlich werden zu lassen: Die Reformentscheider konnten in Ruhe konzeptionieren (Talk) und planen (Decision), wie die NKF-Reform in das basale Entscheiden (Action) der Stadt X überführt werden sollte: Durch das Errichten einer Mitgliedschaftsgrenze zwischen der Reformprojektorganisation, der Volksvertretung und der Restbehörde, hatte sich das Reformprojekt von seinen organisationsinternen Publika abgeschottet. Abgesehen von Schulungen und Informationen über Planungsentscheidungen würde man die Reformbetroffen in den nächsten Jahren nicht weiter mit
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der NKF-Reform behelligen. Es war geplant, Reformaction erst zum Abschluss des Reformprojekts von den Betroffenen zu erwarten. Zu dem Zeitpunkt, wenn die Reformbetroffenen mit Änderungen im Action-Bereich beginnen würden, hätte sich das Reformprojekt dann bereits wieder aufgelöst. In der instrumentell-rationalen Perspektive einer reformierenden Organisation, die eine feste Kopplung von Planung und basalem Entscheiden unterstellt, war diese ‚Zukunftsgestaltung‘ unproblematisch: Sobald die planerischen und technischen Voraussetzungen für das NKF geschaffen waren, musste die Reform ‚nur noch‘ in die Tat umgesetzt werden. Und während für die Anfertigung von Reformdecision als Output der Reformprojektorganisation eine Befristung im Anschluss an die Terminvorgaben des NKF-Gesetzes angekündigt wurde, hatte man für die Herstellung von Reformaction kein terminliches Ende vorgesehen. Durch die Unterscheidung von Reformprojekt und Reform entstand ein zeitliches Schlupfloch, das der Stadt X die Möglichkeit bot, das Ende der Reform bei Bedarf immer weiter in eine unbekannte Zukunft zu verschieben. Auf diese Weise hat die Stadt X die Strukturen von Talk, Decision und Action in Bezug auf die NKF-Reform in zeitlicher, suborganisationaler und rollenspezifischer Hinsicht entkoppelt und damit Vorkehrungen getroffen, die in Zukunft möglichen Inkonsistenzen zwischen Talk, Decision und Action zu invisibilisieren. Einer möglichen Enttäuschung instrumentell-rationaler Reformerwartungen wurde gleich zu Beginn der Reform vorgebeugt. Denn eine direkte Konfrontation von Beschreibung und Planung der Reform auf der einen Seite und den zu reformierenden Strukturen der Alltagsentscheidungen auf der anderen Seite wurde vermieden. Berücksichtigt man im Fall der reformierenden Stadt X das Vergessen der Effekte in den ersten Monaten des Reformprojekts, dann kann außerdem in Richtung theoretischer Aussagen vermutet werden: Bei der zeitlichen Entkopplung der Sinnangebote einer Reform geht es im Hinblick auf die Inkonsistenzen des Reformierens nicht nur darum, Talk, Decision und Action voneinander zu distanzieren. Denn das ‚Zurechtschrumpfen‘ eines Reformpakets auf die leichter akzeptablen Zumutungen kann auch bereits zu Beginn einer Reform einsetzen, und zwar in der Form, dass Talk in sich inkonsistent wird. Daher kommt es auch im Verhältnis von Talk-Entscheidungen verschiedener Zeitpunkte darauf an, Widersprüche auszublenden und rasch einen Teil dessen zu vergessen, was ursprünglich als Gesamtpaket künftiger Strukturänderungen angekündigt wurde.
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5.5.4 Erfolgsmediengebrauch in der Stadt X: Reform als nicht besonders schmuckvoller „hierarchically mandated change“ Die Vermutung der oben ausführlich vorgestellten Hypothese 4 besagt, dass die Akzeptanzchancen von Reform verbessert werden, indem Reformvorschläge an Erfolgsmedien gekoppelt werden. Damit richtet sich das Erkenntnisinteresse auf einen besonderen organisationalen Gebrauch symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien im Zusammenhang mit Reformentscheidungen: Welche Erfolgsmedien erzeugen bei Reformen eine Sondermotivation, die über die organisational normale, durch Erfolgsmediengebrauch im Rahmen der Mitgliedschaftsrolle etablierte Motivationslage hinausgeht? Zur Verbindung der Hypothese 4 mit methodischen Beobachtungen habe ich in der Inhaltsanalyse von Texten der reformierenden Stadt X nach Verweisen auf Zusammenhänge zwischen der NKF-Reform und den oben näher beschriebenen Erfolgsmedien „Geld“, „Liebe“, „Macht“/„Recht“, „Kunst“, „Wahrheit“ und „Werte“ gesucht. Bei der Erkundung der möglicherweise genutzten Medien konnte zunächst festgestellt werden, dass die Stadt X weder Liebe noch Kunst mit der NKFReform in Verbindung gebracht hat. Auch das Wahrheitsmedium wurde nach meinen Beobachtungen nicht zur Akzeptanzbeschaffung genutzt: Die Entscheidung, sich selbst nach dem Muster des NKF zu reformieren, hat X-Stadt an keiner Stelle mit Verweisen auf Forschung oder auf Gutachten von Hochschulgelehrten begründet. Des Weiteren konnte ich keinerlei Anhaltspunkte dafür finden, dass, über die in Arbeitsverträgen festgelegte Entlohnung hinaus, das Erfolgsmedium „Geld“ zum Einsatz kam, um etwa in Form der Auszahlung von Zuschlägen und Boni eine Sondermotivation für das Reformieren zu schaffen. Hingegen wird im vorliegenden Fall deutlich sichtbar, dass bei der Beschreibung der NKF-Reform auf das Medium der Werte verwiesen wurde. Allerdings geschah dies – um es vorwegzunehmen – in einer für Reformkommunikation auffällig unauffälligen Weise. Bei der inhaltsanalytischen Rekonstruktion von möglicherweise Reformakzeptanz motivierenden Werten zeigte sich, dass die Stadt X dieses Medium in expliziter Form lediglich im Zusammenhang mit einigen derjenigen Sinnangebote der NKF-Reform verwendet hat, die in den Analysen zur Hypothese 1 als „Effekte“ der Reform bezeichnet und von „Reformprodukten“ und „Reformnachfrage“ unterschieden wurden: „Effizienz“, „Transparenz“, „Generationengerechtigkeit“, oder „Partizipation“ gehörten zu den Semantiken, die die Stadt X mit der Beschreibung von Effekten der NKF-Reform gekoppelt hatte, so dass im Zusammenhang von Effekten und Werten zum Ausdruck gebracht werden konnte, welche künftigen Zustände wünschenswerte Zustände sein sollten.
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Diese Nähe von Werten und Effekten wird verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Effekte zu den Zwecksetzungen einer Reform gehören. Effekte werden also organisational als bewertete Wirkungen konstruiert, die Präferenzen angeben. Nun sind auch Reformprodukte organisational gewählte Zwecke, die das Werturteil implizieren, dass die bezweckte Wirkung besser ist als ihre Negation: Die Doppik mag ein besseres Rechnungswesen als die Kameralistik sein – aber der riesige Aufwand für die Umstellung des Finanzmanagements lohnt sich doch wohl nur, wenn das Reformprodukt „Doppelte Buchführung“ zu der entfernteren Wirkung führt, dass Entscheidungen der Organisation über Zahlungen stärker als bisher an dem Wert „Effizienz“ orientiert werden. Appliziert auf den Fall der Stadt X bedeuten diese Überlegungen, dass die in jeder Zwecksetzung der Reform jeweils vorausgesetzten, abstrakten Werturteile nur im Zusammenhang mit der Auswahl von Effekten als Präferenz deutlich sichtbar gemacht wurden. Es sei angemerkt, dass eine solche direkte Hervorhebung von Werten für dieses Medium im Allgemeinen ungewöhnlich ist. Die Mitteilung der mit der NKF-Reform verbundenen Werte verweist aber in Richtung theoretischer Aussagen auf den besonderen Gebrauch des Wertmediums im Fall von Reform: Bei der Verknüpfung von Werten mit den Zwecken einer Reform entstehen explizit formulierte Präferenzen, die erkennen lassen, dass sie auf kontingenten Entscheidungen beruhen, die im Unterschied zu Werten also leicht abgelehnt und geändert werden können. Dies gilt auch für das Schema „Reform“ als solches. Die Präferenz für aufwändige Strukturänderungen ist begründungsbedürftig und lässt Widerstand erwarten. Diese Unwahrscheinlichkeit der Reformakzeptanz wird im Schema „Reform“ antizipiert, und daher werden die Werte der Reform nicht nur angedeutet. Vielmehr sollen die Werte die Reformzwecke erläutern. Deshalb wird die enge Verknüpfung der Strukturänderungsvorschläge mit bestimmten Werten in der Kommunikation betont. Die Plausibilität der Kombination von Werten und Effekten wurde bei der NKF-Reform der Stadt X nun dadurch begünstigt, dass die als Effekte markierten Zwecke derart unspezifisch beschrieben wurden, dass sie auf einer fast genauso hohen Stufe der Generalisierung lagen, wie die mit ihnen gekoppelten Werte: Wenn als ein Zweck der Reform angegeben wird, die „Effizienz der Aufgabenerledigung“ zu steigern, dann ist die Funktion dieser abstrakten Beschreibung wohl kaum darin zu sehen, Entscheidungen über konkrete Strukturänderungen der Organisation anzuleiten. Vielmehr wird man diese Kopplung von Werturteil und Zwecksetzung so verstehen, dass es hier auf Akzeptanzbeschaffung für das gesamte Reformpaket ankam. Im Fall der reformierenden Stadt X war die enge und sichtbare Verknüpfung von Zwecken und Werten in Bezug auf das Problem der Reformakzeptanz
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aber nicht unbedingt erfolgreich. In der Inhaltsanalyse wurde erkennbar, dass die befragten Kompetenzen zwischen Zwecken und Werten unterschieden. In den Interviews wurde oft an die Rede von „Transparenz“, „Wirtschaftlichkeit“ und „Steuerung“ angeschlossen. Die Werte wurden als Werte behandelt und weder bezweifelt noch hinterfragt, so dass ihre organisationale Akzeptanz getrost unterstellt werden konnte. Im Hinblick auf die Effekte der Reform wurde jedoch auf Zweckrationalität umgeschaltet, und dabei gewann in den Interviews – im Unterschied zu den Behauptungen der schriftlichen Texte – die Unsicherheit bezüglich der Relationen von Zwecken und Mitteln die Oberhand. Wie oben in den methodischen Ausführungen zur Hypothese 1 näher erläutert, wurde die Vermutung der kausalen Brüchigkeit des Bewirkens von Effekten der Reform insbesondere dadurch begründet, dass die Volksvertretung bei ihren Haushaltsentscheidungen möglicherweise andere Kriterien als etwa Effizienz präferieren und sich die Verwirklichung der Reformeffekte gar nicht wünschen würde. „Die positiven Möglichkeiten, die im NKF stecken, führen ja nicht per se zu einer besseren Steuerung, die müssen auch genutzt werden. Es kommt darauf an, ob die Politik etwas damit machen will. In der Wirtschaft wäre das natürlich selbstverständlich, ein Unternehmen orientiert sich nicht an einer Wiederwahl“ (IP16).
Damit wurde implizit auf folgendes Schema in Bezug auf die Rangordnung von Präferenzen der Volksvertretung der Stadt X verwiesen: Gegenüber dem politischen Fokus des Machtgewinns (oder, wenn man eine Selbstbeschreibungsvariante übernehmen mag: der Orientierung der Ratsmitglieder am Gemeinwohl), steht die Frage der Ausgabendisziplin bei den Entscheidungen der Volksvertretung oft an zweiter Stelle, da das Wahlvolk zumeist Wohltaten, nicht aber Leistungskürzungen honoriert. Und die Anwendung dieses Schemas auf die explizit bewerteten Wirkungen der NKF-Reform bedeutete: In Bezug auf die Zwecke der Reform im Bereich der Effekte fehlte es an der Unterstellbarkeit des organisationalen Akzeptierens. In der zweckrationalen Perspektive auf die Effekte wurde vereinzelt aber auch die Kostenseite der Zweck-Mittel-Relation problematisiert. Die Zwecke der NKF-Reform wurden bejaht, aber die Richtigkeit der Mittel bezweifelt: „Produkthaushalt und KLR sind wichtig, da sind wir schon seit Jahren dabei, und das ist gut, wenn das forciert wird. Dass das NKF und die Doppik jetzt aber der Heilsbringer sein sollen, ist ein bisschen störend. Was mit dem NKF letztendlich erreicht werden soll, bessere Informationen über den Haushalt, mehr Bewusstsein für die Kosten; mit einer erweiterten Kameralistik könnten wir das viel einfacher machen“ (IP18). „Die Umstellung wäre auf Basis der Kameralistik leichter gewesen. Mit der Doppik sind viele gar nicht vertraut. Das ist ein Riesenwerk, was gemacht
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werden muss. (…) Die Informationen über Folgekosten hätte man auch mit einer erweiterten Kameralistik abbilden können“ (IP28).
Neben diesen Hinweisen auf ein wenig geglückte Kopplung von Werten und Zwecken kommt hinzu, dass sich in den von der Stadt X verfassten Dokumenten nur an sehr wenigen Stellen einige spärliche Ausführungen zu den gewünschten Effekten und den damit verbunden Werten der Reform finden lassen. Alle anderen Reformabsichten wurden nicht mit Werten garniert, auch nicht in Form einer beiläufigen Anspielung. Sie waren einfach nur Präferenzen. „Die Kommunikation aus dem Projekt heraus ist sehr nüchtern.“ (IP27) ist ein Kommentar, der darauf anspielt. Auch in ihrer Selbstbeobachtung hatte die Stadt X offenbar bemerkt, dass die Kopplung von Werten und NKF-Reform nur selten vorkam, und zwar – gemäß der kritischen Äußerungen einer Vielzahl der befragten Kompetenzen: zu selten. Thematisiert wurde, dass die Reformbetroffenen vielleicht eine Vorstellung hätten, welche Strukturänderungen mit dem NKF verbunden sein würden, nicht aber, zu welchem Zweck dieser Aufwand betrieben werden sollte. Im Kontext der standardisiert gestellten Frage nach den erwarteten Schwierigkeiten der NKF-Reform wünschten sich rund 45 % der Interviewpartner, dass die Vorteile der NKF-Reform stärker vermittelt werden sollten. „Die Zielsetzung muss doch klar sein, es muss schon gesagt werden: Was soll das Ganze eigentlich?“ (IP49) ist eine deutliche Formulierung des in den Interviews insgesamt am häufigsten angesprochene Problems, dass es am „Transport von Sinn und Zweck des NKF“ (TB3) in der Stadt X mangeln würde. Dazu passt, dass das bemerkenswert selten angesprochene Wünschenswerte dieser Reform ausschließlich im Talk der Reform erwähnt wurde: Generalisierungen wie „Bürgerbeteiligung“, „Transparenz“ oder „Generationengerechtigkeit“ wurden niemals im Zusammenhang mit den Planungsentscheidungen verwendet. Für die Beantwortung der Fragen, welche Software von wem wie verwendet oder wie viele Produktgruppen von wem nach welchen Kriterien definiert werden sollen, boten diese Werte (und auch die mit ihnen verknüpften Effekte) keine zureichende Anleitung und mussten durch spezifischere Präferenzen ersetzt werden: Die für das NKF zu beschaffende Software sollte z. B. „nah am Standard“ und auch „kostengünstig“ sein (TB4), während die zu definierenden Produktgruppen „den gesetzlichen Vorgaben genügen“ und sich möglichst „ohne Änderungen“ (EAE5; EAE6) in das bestehende Netzwerk der Kompetenzen und Kommunikationswege einfügen sollten. Insgesamt gesehen, wurde also weitgehend darauf verzichtet, in der organisationsinternen Bewerbung des NKF ‚dick aufzutragen‘ und die Reform mit Werten auszuschmücken. Zur Verbesserung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit der NKF-Reform wurden zwar einige Werte genannt und im engen Zusammen-
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hang mit den gewünschten Effekten als explizit deklarierte Präferenzen kommunikativ hervorgehoben. Aber die Bedeutung des Wertgebrauchs scheint im vorliegenden Fall, gemessen an organisationssoziologischen Erwartungen, eher gering gewesen zu sein: Denn die oben dargestellten, theoretischen Aussagen haben vermuten lassen, dass Reformen ihre Attraktivität insbesondere durch eine Verknüpfung mit schönen Prinzipien, Idealen und Werten gewinnen. Insofern verstehe ich die Beobachtung meiner Inhaltsanalyse, dass die NKF-Reform in der Stadt X nur in sehr begrenzter Form mit Werten gekoppelt wurde, als ein methodisches Ergebnis, das die theoretischen Erwartungen überrascht. Im Unterschied zur Verwendung des Wertmediums war der Gebrauch von (rechtlich codierter) Macht von großer Bedeutung, um in der reformierenden Stadt X die Voraussetzungen für eine Akzeptanz des NKF zu schaffen. Wie bereits oben skizziert, wurde das Sinnpaket „NKF“ in X-Stadt als exogene Reformidee einer fremden Organisation verstanden, das – je nach Spezifizierung der Autorenschaft – entweder dem „Innenministerium NRW“, der „Landesregierung NRW“, dem „Landtag NRW“ oder einfach dem „Land NRW“ zugerechnet wurde. Das an alle 396 Kommunen in NRW adressierte Sinnangebot „NKF“ des Landes NRW hatte seine Annahmewahrscheinlichkeit dadurch gesteigert, dass es als Gesetz beschlossen wurde und damit alle Kommunen zur Durchführung der vorgeschlagenen, umfangreichen Strukturänderungen rechtlich verpflichtete. Auch für die NKF-Reform der Stadt X fungierte das Gesetz als Dispositiv. Wie noch zu zeigen sein wird, sorgte diese mit Macht und Recht gekoppelte fremde Anleitung des eigenen Reformieren sowohl für ‚Druck‘ als auch für ‚Entlastung‘ in der Stadt X. Zunächst fiel inhaltsanalytisch auf, dass in den schriftlichen Texten der Stadt X zur NKF-Reform die gesetzliche Verpflichtung des Reformierens stark hervorgehoben wurde. So lautete die Überschrift des Dokuments EAE3: „Rechnen wie ein Kaufmann: Stadtverwaltung muss das Neue Kommunale Finanzmanagement spätestens ab 2008 einführen“. In der Beschlussvorlage bezüglich der „Grundsatzentscheidung zur Einführungskonzeption“ (EAE4) wurde als zentraler Sachverhalt gleich zu Beginn des Textes formuliert: „Der Landtag hat am 16.11.2004 das Gesetz über ein Neues Kommunales Finanzmanagement (NKFG) beschlossen. Damit sind alle Kommunen in NRW verpflichtet, ab 01.01.2005 die notwendigen Umsetzungsschritte vorzunehmen“.
Weiterhin hatte die Stadt X in ihrer Beschreibung des ‚Oberzwecks‘ der NKFReform auf die Kopplung der Reform mit rechtlich codierter Macht verwiesen:
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
„Ziel des Projektes ist die Umsetzung und das Ausfüllen der gesetzlichen Vorgaben des NKFG NRW unter Berücksichtigung der (…) Besonderheiten [von X-Stadt; CPK] spätestens zum 01.01.2009“ (EAE5).
Schließlich wurde auch in den Respezifikationen der Reform immer wieder darauf hingewiesen, dass sich die Strukturänderungen der Organisation an den „Anforderungen“ bzw. „Vorgaben“ des NKF-Gesetzes orientieren müssten (EAE5; EAE6). Für die Annahmewahrscheinlichkeit von Reformentscheidungen in der Stadt X war es in mehreren Hinsichten ein großer Vorteil, auf die in Form rechtlich verbindlicher Reformerwartungen gebrauchte Macht des Landes NRW verweisen zu können: So lag einer der Vorzüge der Referenzen auf einen organisationsfremden Machtgebrauch darin, dass der konfliktträchtige Unterschied zwischen Reformentscheidern und Reformbetroffenen verwischt werden konnte. Wie bei Reformen allgemein üblich, wurde im vorliegenden Fall die Entscheidung, das NKF-Paket in die Organisation zu transferieren und eine Reform zu initiieren, an der Spitze der Hierarchie der Stadt X getroffen (EAE4; EAE5). Mit dieser Entscheidung wurde in X-Stadt zwar in Bezug auf die NKF-Reform organisationsintern die Unterscheidung von Reformentscheidern und Reformbetroffenen etabliert, da klar zum Ausdruck kam, dass die Organisationsspitze die Hauptlast der Strukturänderungen auf die subordinierten Kompetenzen übertragen würde. Es war aber nun leicht, diese Unterscheidung zwischen Reformentscheidern und Reformbetroffenen verschwimmen zu lassen, da die Stadt X in ihren Bezügen auf das Sinnpaket „NKF“ nicht immer deutlich zwischen dem fremden Reform-Dispositiv des Landes („NKF-Gesetz“) und den eigenen Reformentscheidungen („Anpassungen an das NKF“) unterschied. Selbstreferenzielle und fremdreferenzielle Strukturänderungsabsichten wurden zumeist einheitlich als ‚das‘ NKF bezeichnet. Durch diese Ungenauigkeit konnten die Reformentscheider, je nach Opportunität, festlegen oder im Unklaren lassen, ob es sich bei den spezifischen Reformzumutungen um den Willen der Reformentscheider oder um den Willen des Gesetzgebers handelte. Im Hinblick auf die interne Akzeptanzbeschaffung war jedenfalls damit die Möglichkeit für die Reformentscheider geschaffen, ihre Selektionen auf die machtvollen Vorgaben einer fremden Organisation, nämlich des Landes NRW, abwälzen zu können: Man hatte ja nicht ‚frei‘ über die NKF-Reform entscheiden können, sondern wurde vom Land dazu ‚gezwungen‘: „Der Gesetzgeber hat das so gewollt.“ (IP17) lautet in diesem Zusammenhang eine typische Aussage. Die Strukturänderungen, die die Reformentscheider als endogen entstandene, intern zurechenbare Entscheidungen beschlossen, konnten in einer grenzüberschreitenden Verlängerung der Kausalkette des Entscheidens als ein durch Machtgebrauch fremd-
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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bestimmter Organisationswandel dargestellt werden, nämlich als ein exogener, „hierarchically mandated change“. In dieser organisationalen Perspektive waren dann nicht nur die hierarchisch unterworfenen Kompetenzen der Organisation den Reformentscheidungen zum NKF unterworfen. Die hierarchische Leitung der Organisation war dem NKF selbst unterworfen: Nicht die Stadt X, sondern der Gesetzgeber entschied über das Reformhandeln der Stadt X. Die Grundsatzfrage des Reformierens – ändern oder nicht ändern? – war dem System im Fall des NKF von einer fremden Organisation abgenommen worden. Somit konnten sich die Reformentscheider gegenüber den Reformbetroffenen selbst als Betroffene des NKF darstellen. Die Reformentscheider hatten sich die Reform nicht selbst ausgedacht, sondern waren selbst Betroffene von den Reformideen, über die das Land NRW entschieden hatte. Die Botschaft an die betroffenen Mitarbeiterinnen und Kollegen war demnach: ‚Wir sind nicht Herr im eigenen Haus und sitzen alle im selben Boot‘. Die Differenz zwischen Reformprotagonisten und Reformgegner konnte so eingeebnet werden. In Bezug auf die Beschaffung von Reformakzeptanz war ein weiterer Vorteil der Verknüpfung der NKF-Reform mit rechtlich codierter Macht darin zu sehen, dass die alte Diskussion, ob die Kameralistik oder die Doppik das bessere Rechnungswesen für die öffentliche Verwaltung darstellen würde, sich mit dem NKF-Gesetz des Landes NRW erledigt hatte. Die Stadt X hatte in ihrer Vergangenheit zwar Mitte der 1990er Jahre, während der NSM-Reform, bereits selbst die Einführung des kaufmännischen Rechnungswesens in Erwägung gezogen, sich letztendlich aber gegen die Doppik und für eine Fortsetzung der Kameralistik entschieden. Und auch zu Beginn der NKF-Reform waren einige der Kompetenzen der Auffassung, dass eine „erweiterte Kameralistik“ (IP18; IP28) gereicht hätte und durch das neue Rechnungswesen der Haushalt „nur für Experten transparent“ (IP17), aber „für viele Leute unverständlich“ (IP1) sein würde. Vor diesem Hintergrund wurde als Vorteil gesehen, dass die Akzeptanz des NKF durch Macht und Recht gestärkt wurde: „Das erspart uns viele Diskussionen“ (IP31). „Es ist auch nicht schlecht, dass das NKF als Gesetz vorgeschrieben ist. Das bringt für den Rat der Stadt etwas mehr Druck, sich um die Neue Steuerung zu kümmern“ (IP26). „Im Unterschied zu früheren Reformen haben wir nun eine Reform, zu der alle verpflichtet sind. Auch die Politik muss sich danach richten“ (IP28).
Dass die Stadt X die NKF-Reform vermutlich nicht ohne den Verweis auf die rechtlich codierte Macht des Landes NRW initiiert hätte und dieses Medium für einen wichtigen Motivationsschub sorgte, wird auch durch die folgende Äußerung erkennbar: „Wir haben uns um das NKF nicht gerissen…“ (IP8). Außerdem konnte insbesondere die gesetzlich normierte Befristung der Reform organi-
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
sational genutzt werden, um den Druck des Machtgebrauchs des Landesgesetzgebers in Richtung der Reformbetroffenen zu ‚verlängern‘ und die Organisation von ihrer ‚Reformmüdigkeit‘ befreien: „Die Motivation ergibt sich aus dem Zwang, bis 2009 fertig zu werden“ (IP31). „Viele Mitarbeiter sind seit über zehn Jahren in Projekten tätig – die wollen von Reform nichts mehr hören. Dass wir jetzt eine gesetzliche Aufgabe haben, und wir müssen das ja bis 2009 erledigen, das hilft bei der Motivation“ (IP28). „Die Zeitschiene ist kritisch, für uns als größere Kommune ist das schon ziemlich eng bemessen“ (IP39).
Allerdings wurde von einigen Kompetenzen auch reflektiert, dass die Anbindung des Reformvorschlags „NKF“ an Macht und Recht lediglich die Unterstellbarkeit des Akzeptierens der Reform in der Stadt X erleichtern würde, nicht aber die Unterstellbarkeit von Konsens. „Es fehlt noch an der inhaltlichen Begeisterung. Für viele ist das nur ein Gesetz. (IP1). Ein Kollege, der denkt, dass das sinnvoll ist, geht da ganz anders heran, als einer, der sagt: ‚Wir müssen das aufgrund eines Gesetzes.‘ Für die Mitarbeiter ist das erst einmal einfach mehr Arbeit, weil sie sich eingewöhnen müssen. Da gibt es kein Hurra wegen des neuen Systems“ (IP35). Es macht schon einen deutlichen Unterschied, ob man sagt ‚Wir sind halt verpflichtet, das zu machen‘ oder ‚da stehe ich dahinter‘ (IP33)
Zumindest die Reformprotagonisten hatten demnach das Übergewicht des Machtmediums gegenüber der Wertkommunikation im Fall der NKF-Reform eher kritisch beobachtet. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass im Fall der reformierenden Stadt X aus der Palette der Erfolgsmedien lediglich das Machtmedium und das Wertmedium verwendet wurden. Im Verhältnis der beiden genutzten Erfolgsmedien zeigt sich eine theoretisch bemerkenswert geringe Bedeutung des Gebrauchs von Werten, während die Referenzen auf die Bindung der NKF-Reform an einen rechtlich codierten Machtgebrauch nach meinem Verständnis für die Akzeptanzwahrscheinlichkeit der Reform sehr wichtig waren. Hinsichtlich des Machtgebrauchs war von Vorteil, dass die Reformentscheider der Stadt X nicht selbst mit negativen Sanktionen drohen mussten, sondern auf die Macht einer fremden Organisation verweisen konnten. Dies verminderte die organisationsinterne Differenz der Rollen von Reformentscheidern und Reformbetroffenen und die mit dieser Rollenunterscheidung einhergehende Konfliktwahrscheinlichkeit. In Bezug auf die Entscheidung des Landes NRW, ein NKF-Gesetz zu erlassen, waren alle Kompetenzen der Stadt X in der Rolle der Betroffenen.
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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5.5.5 ‚Wir wissen selbst, was am besten für uns ist‘: Die kategoriengebundene Attraktivität fremder Reformideen und die Einzigartigkeit des Reformierens Im theoretischen Programm dieser Arbeit wurde darauf verwiesen, dass viele Organisationen im Anschluss an Selbst- und Fremdbeobachtungen nicht nur ihre Einzigartigkeit beschreiben, sondern auch die Möglichkeit nutzen, sich selbst mit Hilfe typisierender Selbstsimplifikationen bestimmten Kategorien zuzuordnen. Jede Kategorienzugehörigkeit ist mit einem Bündel sozialer Prämissen verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass organisationsextern attribuierte Erwartungen von den adressierten Organisationen akzeptiert werden, erhöht sich daher vermutlich dann, wenn diese Erwartungen mit einer Kategorienzugehörigkeit verknüpft werden. Denn bei Ablehnung riskiert das System, seine Zugehörigkeit zu der jeweiligen Kategorie zu verlieren. Ein solcher ‚Druck von außen‘ muss vom betroffenen System selbst erzeugt werden. In der Selbst- und Fremdbeobachtung des Systems setzt dies die Annahme voraus, dass es seinen kategorialen Status in seiner Umwelt einbüßt, wenn es bestimmte kategoriale Erwartungen nicht akzeptiert. Diese Aussagen hatte ich oben – in den theoretischen Ausführungen zur Hypothese 5.1 – auf den spezifischeren Zusammenhang einer kategoriengeleiteten Selbst- und Fremdbeobachtung mit den Akzeptanzchancen organisationsextern zugerechneter Reformideen übertragen: Vor dem Hintergrund des Risikos eines Akzeptanzverlusts in der Umwelt der Organisation verbessert die Verknüpfung von fremden Reformvorschlägen und der eigenen Kategorienzugehörigkeit die Chancen, dass externe Vorschläge akzeptiert werden. Dabei ist nun zu berücksichtigen, dass Organisationen aber in jedem Fall immer wieder neu entscheiden können, ob sie in Bezug auf fremde Ideen ihre Kategorienzugehörigkeit oder ihre Individualität betonen. Während ein kategoriengestützter Transfer der Vorschläge eines Reformdiskurses als „mindless imitation“ erfolgen kann, also weitgehend ohne Rücksicht auf die zu bewirkenden Zustände und die Individualität der akzeptierenden Organisation, stellt sich in einer instrumentell-rationalen Perspektive genau umgekehrt die Frage des ‚Passens‘ von abstrakten Reformzwecken und spezifischen Systemzuständen: Ist das, was andere Systeme als erfolgreiche Lösung ihrer Probleme behaupten, auch als Lösung für die eigenen Probleme geeignet? Im Unterschied zur Behauptung einer kategorialen Bedingtheit von Akzeptanz wurde in Form der Hypothese 5.2 daher angenommen, dass die Akzeptanzchancen von Reform auch durch solche Selbst- und Fremdbeobachtungen verbessert werden können, die die Reformideen anderer Systeme nach instrumentell-rationalen Kriterien bewertet.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Überführt man diese Annahmen in Aussagen, die nahe an der Selbstbeobachtungssprache von Organisationen gehalten sind, so lassen sich zwei Argumente unterscheiden, die aus Sicht einer Organisation für den Transfer von Sinnangeboten eines Reformdiskurses sprechen können. Das erste Argument besagt: ‚Wir reformieren uns, weil alle anderen (in unserer Kategorie) sich auch reformieren‘. Ein entsprechender Transfer würde dann auf eine „mindless imitation“ hinauslaufen. Das zweite Argument bezieht sich auf die organisationale Suche nach den „best possible solutions“ und kann in Kombination mit dem ersten Argument oder unabhängig von diesem vorgetragen werden. In einer Verbindung des ersten und zweiten Arguments könnte es dann etwa heißen: ‚Die mit uns vergleichbaren Organisationen X und Y haben gute Erfahrungen mit der Reform Z gemacht. Reform Z wird auch uns weiterhelfen können‘. In den von Kategorien entkoppelten Fällen kann man einfach sagen: ‚Reform A hat sich andernorts als Lösung für Problem X bewährt. Damit können auch wir unsere Probleme lösen‘. Die vorangegangenen Beschreibungen des Falls der reformierenden Stadt X haben bereits mehrfach verdeutlicht, dass diese Organisation das Sinnpaket „NKF“ als eine exogene Reformidee verstanden hat. Durch den Transfer dieses Pakets wurde der Reformdiskurs „NKF“ zu einem Dispositiv für die NKFReform der Stadt X. Dementsprechend erzeugte diese Organisation zwei Versionen ihrer Referenzen auf das NKF. Einerseits wurde dieses selbstreferentiell als die NKF-Reform der Stadt X behandelt. Damit hatte die X-Stadt eine einzigartige Version des NKF geschaffen, nämlich ein organisational individualisiertes NKF in Form der NKF-Reform. Andererseits, in fremdreferentieller Perspektive, wurde das NKF als das Reformdispositiv „NKF in NRW“ beobachtet, das einen geplanten Strukturwandel einer Vielzahl anderer Organisationen instruierte. Die Beobachtung, dass das fremde Sinnangebot „NKF“ von X-Stadt transferiert wurde, impliziert die Beobachtung, dass das eigene Sinnangebot „NKFReform“ akzeptiert wurde. Denn der Transfer des Pakets „NKF“ hat sich im bejahenden Anschluss an diejenige Entscheidung vollzogen, die in X-Stadt verkündet hatte, sich selbst nach Anleitung dieses Pakets zu reformieren. Dass akzeptiert und transferiert wurde, beantwortet natürlich noch nicht die Frage, wie akzeptiert und transferiert wurde. Die Stadt X hat sich durch das NKF ja nicht ‚irgendwie‘ selbst irritiert und informiert. Vielmehr sind spezifische Vorkehrungen der organisationalen Selbst- und Fremdbeobachtung zu vermuten, die die Chancen verbesserten, dass sich X-Stadt von dem Fremdling „NKF“ angesprochen fühlte. Zur methodischen Beobachtung der Transferbedingungen habe ich mit Blick auf die Hypothese 5.1 zunächst untersucht, welche der vielen Möglichkeiten einer typisierenden Selbstsimplifikation die Stadt X im Kontext ihrer
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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Anschlüsse an den Reformdiskurs „NKF“ gewählt hat. Für die an dieser Frage orientierte Inhaltsanalyse habe ich im ersten Schritt mehrere Abgrenzungsmöglichkeiten für eine kategorisierende Selbstbeschreibung der Stadt X theoretisch rekonstruiert und mich dabei an den naheliegenden Differenzierungen nach Systemtyp (Organisation), territorialen Zurechnungen (zum Beispiel: Deutschland oder Nordrhein-Westfalen), der funktionssystemspezifischen Domäne (Verwaltung und politische Politik als Subsysteme der Politik) und Kombinationen dieser drei Unterscheidungen (zum Beispiel: politisch-administrative Organisation in NRW) orientiert. In vier der von X-Stadt verfassten Schriftstücke zur NKF-Reform (EAE3; EAE4; EAE5; EAE7) verweisen insgesamt acht Textstellen auf eine kategorisierende Selbstbeschreibung der Stadt X: In sieben Fällen kategorisiert sich die Stadt X als „Kommune in NRW“ oder als „Gemeinde in NRW“, fasst also die Bezeichnung des Systemtyps mit der Bezeichnung der funktionssystemspezifischen Vereinfachung in den Wörtern „Kommune“ oder „Gemeinde“ zusammen und kombiniert diese mit der Angabe der regionalen Grenze „NRW“. Nur einmal wird bei der Kategorisierung der Stadt X auf eine territoriale Zurechnung verzichtet und die funktionssystemspezifische Primärorientierung subsystemisch aufgefächert, indem die Stadt X als „Verwaltung und Politik“ (EAE3) bezeichnet wird. Es mag selbstverständlich klingen, soll aber als Akzeptanzbedingung noch einmal hervorgehoben werden: Ohne eine solche Kategorisierung des eigenen Systems hätte die Stadt X die NKF-Reform nicht eingeleitet. Bei der Beobachtung ihrer Umwelt konnte die Stadt X nur im Anschluss an die Selbstkategorisierung als „Kommune in NRW“ auf das Sinnangebot „NKF“ aufmerksam werden und sich zugunsten einer daran orientierten Reform entscheiden. Denn die Organisation „Land NRW“ hatte ihr Angebot „NKF“ exklusiv für den Empfängerkreis der nordrhein-westfälischen Städte und Gemeinden konzipiert, verbunden mit der durch Machtgebrauch gestützten Erwartung, dass alle Organisationen dieser Kategorie die per Gesetz vorgeschriebenen Strukturänderungen durchführen würden. Die externe Reformerwartung an einen bestimmten Organisationstyp kam schon im Namen des NKF-Reformdiskurses zum Ausdruck: „Neues Kommunales Finanzmanagement“. In der kategorisierenden Transferperspektive der Stadt X wurde – wie oben ausgeführt – der Gebrauch rechtlich codierter Macht in Form des NKF-Gesetzes betont und in Bezug auf die fremde Organisation „Land NRW“ deutlich zwischen der entscheidenden Organisation und den betroffenen Organisationen unterschieden: Das Land NRW war der Absender der Reformbotschaft „NKF“, die Stadt X und alle anderen Kommunen in NRW deren Empfänger.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Als Akzeptanzbedingung der NKF-Reform kann also eine Kategorisierung der Stadt X als eine spezielle Form („Kommune“) einer politisch-administrativen Organisation in NRW notiert werden. Dabei kam es für X-Stadt darauf an, innerhalb der Kategorie „politisch-administrative Organisation“ sich selbst als eine kommunale politisch-administrative Organisation von der politischadministrativen Organisation „Land“ zu unterscheiden. Denn die Differenz von Land und Kommune markierte im NKF-Diskurs zugleich den Unterschied zwischen der über die Reformidee „NKF“ entscheidenden Organisation und den von dieser Idee betroffenen Organisationen. Mit dem Verweis auf den Machtgebrauch des Landes und der Differenzierung der Kategorie der politisch-administrativen Organisation in NRW in „Land“ und „Kommunen“ ist nun bereits ein bestimmter Diffusionsvorgang des Sinnpakets beschrieben, nämlich ein „hierarchically mandated change“. Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass das Reformkonzept vor dem Erlass des NKFGesetzes in sieben „Modellkommunen“ des Landes NRW getestet wurde, und zwar – nach Auffassung der sieben Modellkommunen und des Landes NRW – erfolgreich. Dieses Gelingen der Reformtests wurde im Reformdiskurs stark hervorgehoben, verbunden mit der Schlussfolgerung, dass das NKF sich in den Kommunen ausreichend bewiesen hätte und nun in gesetzliche Regelungen überführt werden könnte: „Der Vorschlag (…)“ [für das NKF-Gesetz; CPK] „(…) beruht (…) auf sieben Praxiserprobungen, die im Kern eines gezeigt haben: Das NKF funktioniert. Die Doppik ist das richtige betriebswirtschaftliche ‚Betriebssystem‘ für eine moderne, leistungsfähige Kommunalverwaltung“ (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2003a). Zudem hatte im Jahr 2005 eine Vielzahl anderer Kommunen in NRW mit der Einführung des NKF begonnen. Die Modellkommunen und alle anderen vom NKF betroffenen Städte und Gemeinden sollten sich nach Wunsch des Innenministeriums über ihre Reformerfahrungen austauschen und regelmäßig zum Stand ihrer Umsetzung in einem „NKF-Netzwerk“ berichten (Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2004-2008). Insgesamt zeigt sich: Der Reformdiskurs „NKF“ war darauf angelegt, die Ausbreitung des NKF als Reform individueller Organisationen nicht nur durch rechtlich codierte Macht in Gang zu setzen, sondern auch durch vergleichende Selbst- und Fremdbeobachtungen der vom NKF betroffenen Organisationen zu unterstützen. Insofern stellt sich die Frage, ob die Akzeptanz des Sinnangebots „NKF“ in X-Stadt auch im Wege der Imitation gefördert wurde – sei es in Bezug auf das Gesamtpaket oder durch Verweis auf Respezifikationen dieses Pakets. Mit dieser Frage lassen sich nun Erkenntnisinteressen verbinden, die sich an der Hypothese 5.2 orientieren. Denn im Fall ihrer NKF-Reform konnte die Stadt X nicht nur beobachten, dass 395 andere Organisationen ihrer eigenen Kategorie, nämlich
5.5 Ergebnisse der Fallstudie
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der Organisationskategorie „Kommune in NRW“, 395 Reformen durchführten, die alle von dem gleichen Sinnangebot, nämlich dem NKF-Diskurs, angeleitet wurden. Zugleich bot sich für X-Stadt die Gelegenheit, insbesondere diejenigen fremden Kommunen in einer instrumentell-rationalen Perspektive zu beobachten, die sich in ihrem Vorhaben, vom NKF-Paket geleitete Strukturänderungen zu implementieren, als weiter fortgeschritten beschrieben. Ähnliche Organisationen reformierten sich nach der Vorgabe des gleichen Reformgesetzes – was also lag näher, als sich im Netzwerk der NKF-Kommunen über ‚Tipps und Tricks‘ des NKF-Reformierens zu informieren, von den Erfahrungen derjenigen Organisationen, die bereits weiter auf ihrem Weg zur NKF-Kommune waren, zu lernen und deren Fehler nicht zu wiederholen? Zumindest die Modellkommunen behaupteten ja eine eigene Vergangenheit in Bezug auf das Schema „NKF“, die (als Schema) für X-Stadt erst noch in der Zukunft stattfinden würde. Hinsichtlich der Akzeptanzchancen der NKF-Reform in der Stadt X hätte man demnach erwarten können, dass diese sich auch dadurch verbesserten, dass andere NKFKommunen in NRW Erfolgsgeschichten über ihre NKF-Reform erzählten. Die Förderung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit der Zumutungen des NKF würde dann in einer Kombination aus kategorialer und instrumentell-rationaler Selbstund Fremdbeobachtung dem Prinzip folgen: ‚Was Systeme, die unserem sehr ähnlich sind, für gut befunden haben, das wird sicherlich auch uns Gutes tun können‘. Im Hinblick auf das Schema „Erfolgsrezept“ kann zudem vermutet werden, dass die Stadt X in einer instrumentell-rationalen Selbst- und Fremdbeobachtung nicht nur Organisationen des gleichen Typs ins Visier nahm, sondern auch solche desjenigen Organisationstyps, dem man sehr viel Erfahrung mit doppelter Buchführung, Kosten- und Leistungsrechnung oder einer Steuerung nach Kennzahlen unterstellen konnte, nämlich Unternehmen. X-Stadt wollte ein kaufmännisches Rechnungswesen einführen; insofern mögen sich auch Kontakte mit Systemen dieser Organisationskategorie angeboten haben. Inwieweit lassen sich diese Vermutungen mit inhaltsanalytischen Beobachtungen vereinbaren, die die Referenzen der Stadt X auf die NKF-Reformen fremder Organisationen fokussiert haben? In den schriftlichen Texten finden sich keine Hinweise darauf, dass die Stadt X sich für ihre Reformentscheidungen in irgendeiner Form an anderen, vom NKF betroffenen Kommunen in NRW orientiert hätte. Die NKFModellkommunen wurden lediglich in einer Textpassage in einem Dokument der Stadt X erwähnt: „Noch im Jahr 1999 hat das Land NRW ein Modellprojekt ins Leben gerufen, das die Grundlagen für das NKF erarbeiten sollte. An dem Modellprojekt nahmen folgende Städte und Gemeinden aus allen Größenklassen teil: Brühl, Dortmund, Düsseldorf, Moers, Münster, Hiddenhausen (im Kreis Herford) und Kreis Gütersloh.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
Diese Modellkommunen haben in jeweils einigen Ämtern bis Mitte 2003 die kaufmännische (= doppische Buchführung) und das Beschreiben von kommunalen Leistungen in Form von Produkten ausprobiert. Die Erfahrungen und Ergebnisse, die das Modellprojekt in den vier Jahren gesammelt und erarbeitet hat, sind anschließend in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen“ (EAE7).
Dieser Verweis auf fremde Organisationen, die ihre Strukturen nach Anleitung des NKF veränderten, erschien unter der Überschrift „Wie kam es zum NKF?“. In diesem (und im folgendem) Zusammenhang habe ich die zitierten Sätze als beiläufige Beschreibung eines Teils der NKF-Historie verstanden, die zur zentralen Botschaft dieses Textes überleiteten sollte: „Und seit dem 16.11.2004 gibt es nun das „Gesetz über ein Neues Kommunales Finanzmanagement für Gemeinden im Land NRW – NKFG NRW“. Das NKF-Gesetz ist am 01.01.2005 in Kraft getreten und verpflichtet alle Städte und Gemeinden in NRW, das NKF bis spätestens 01.01.2009 einzuführen. Gleichzeitig wurde die Gemeindeordnung (GO) geändert und die Gemeindehaushaltsverordnung (GemHVO) neu gefasst. Die Gemeindekassenverordnung (GemKVO) gibt es seitdem nicht mehr“.
Mit dem NKF-Gesetz war der entscheidende Bezugspunkt der organisationalen Fremdreferenzen genannt. Der weitere Text des Dokuments EAE7 befasste sich dann nur noch mit den „neuen gesetzlichen Regelungen“. Dass man auf Imitationen der erfolgreichen NKF-Reformentscheidungen anderer Organisationen verzichten würde, wurde in X-Stadt gleich zu Beginn der NKF-Reform angekündigt. Bei dieser Beobachtung beziehe ich mich auf die Kommunikation der „Kick-Off-Veranstaltung“ zur NKF-Reform der Stadt X, die einen Anfang des NKF-Reformprojekts markierte (siehe oben). An dieser ‚Großinteraktion‘ nahmen alle Kompetenzen teil, die in das Reformprojekt involviert waren. Die hierarchisch leitende Kompetenz des Reformprojekts verkündete dort folgende Einschätzung zur „Frage der interkommunalen Zusammenarbeit“: „Die NKF-Städte haben bislang wenig zustande gebracht. Im Verhältnis zu den Modellkommunen können wir daher keine ‚Win-win-Situation‘ erwarten. Die Voraussetzungen in den einzelnen Städten sind einfach zu unterschiedlich, als dass eine intensive Kooperation mit denen lohnend erscheint“ (TB3).
Damit wurde nicht nur die Individualität und Unvergleichbarkeit der vom NKF betroffenen Systeme betont. Zugleich wurde in Bezug auf die Kommunikation der Stadt X mit Organisationen der gleichen Kategorie spezifiziert, was besonders im Dokument EAE5 prägnant zum Ausdruck kam. Für die NKF-Reform in X-Stadt gab es hauptsächlich zwei Orientierungspunkte: Das NKF-Gesetz und
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das eigene System. Die Stadt X würde bei ihrer NKF-Reform nicht irgendetwas imitieren, sondern das NKF-Dispositiv an sich selbst anpassen, die fremden Änderungsvorschläge also nach Maßgabe des eigenen Systems verändern. Ich zitiere hier nochmals die Beschreibung des Ziels des NKF-Reformprojekts: „Ziel des Projektes ist die Umsetzung und das Ausfüllen der gesetzlichen Vorgaben des NKFG NRW unter Berücksichtigung der (…) Besonderheiten [von X-Stadt; CPK] spätestens zum 01.01.2009“ (EAE5).
Ob sich ein interkommunaler Austausch über das NKF für die Stadt X lohnen würde, war nach meinem Verständnis allerdings organisational umstritten. Einerseits wurde in den Interviews bezweifelt, dass man von den Erfahrungen der Modellkommunen lernen könnte. Der Talk des Landes NRW und der Modellkommunen in Bezug auf die NKF-Erprobung wurde als „Heuchelei“ betrachtet: „Das ist eine Beschönigung der Projektergebnisse. Die Modellkommunen sind zum Großteil noch gar nicht soweit, viele Bestandteile des NKF wurden ausgeklammert“ (IP48).334
Die Schlussfolgerung, dass Kontakte mit anderen vom NKF betroffenen Organisationen überflüssig wären, fand aber Kritik: „Die Denke ist hier: Das Knowhow für das NKF haben wir selbst. ‚Interkommunaler Vergleich‘ und ‚Best Practice‘ brauchen wir nicht, das können wir auch allein“ (IP26). Auch andere Kompetenzen sprachen sich für Kooperationen mit anderen Kommunen aus: „Wir sollten ruhig daran denken, uns Hilfe von anderen Städten zu holen. Die könnten dann auch von uns profitieren“ (IP42). Einige Interviewpartner hatten bereits mit mehreren anderen Kommunen über ihr „Vorgehen bei der NKFUmsetzung“ (IP3) gesprochen. Diese Kontakte erfolgten allerdings sporadisch und wurden von der Stadt X nicht programmiert. Nur in einem Interview wurde angemerkt, dass Unternehmen als Vorbild für die Einführung eines kaufmännischen Rechnungswesens fungieren könnten und eine Verbindung zu einer Firma „wahrscheinlich hergestellt“ (IP22) werden würde. Insgesamt lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Steigerung der Reformakzeptanz und der Beobachtung anderer Organisationen unter instrumentellrationalen Gesichtspunkten nur schwer erkennen. Die NKF-Reform wurde nicht durch Erfolge anderer Organisationen inspiriert. In Bezug auf Respezifikationen 334
Dies spricht natürlich dafür, dass es Kontakte mit den Modellkommunen gab, die die Stadt X mit Informationen über den Zustand dieser reformierenden Organisationen versorgte, die jenseits von Fassadendarstellungen lagen.
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5. Bedingungen der Akzeptanz des NKF in der Stadt X
des NKF-Pakets war strittig, inwiefern man von den Erfahrungen anderer NKFKommunen profitieren könnte. Den angeblichen Erfolgen der Modellkommunen wurde misstraut und der Aussage dieser Organisationen, dass „das NKF funktioniert“, nicht geglaubt. Aus Sicht von X-Stadt hatten die Modellkommunen entsprechende Beweise für eine gelingende Reform noch nicht erbringen können. Die Beobachtung, dass fremde Organisationen sich ebenfalls nach dem Muster des NKF reformierten, dürfte somit kaum dazu beigetragen haben, den Glauben an die ‚Machbarkeit‘ der eigenen NKF-Reform zu bestärken und damit die Akzeptanz der Reform zu fördern. Es war zudem in einer instrumentell-rationalen Selbst- und Fremdbeobachtung strittig, ob Imitationen der Problemlösungen anderer Organisationen und „Best Practice“ eine Hilfe für das eigene Reformprojekt bieten könnten. Nach meinem Verständnis der Texte der Stadt X wurden zur Beantwortung dieser Frage eher folgende Schemata bevorzugt: ‚Kooperationen mit fremden Organisationen in einer mutmaßlich vergleichbaren Situation lohnen sich für uns nicht. Wir unterscheiden uns zu stark von anderen Organisationen und müssen unsere eigenen Lösungen finden. Unser Wissen reicht aus, um uns ohne fremde Hilfe nach Maßgabe des NKF-Gesetzes zu reformieren. Wir schaffen das allein‘. Insofern lassen sich als Ergebnisse der methodischen Beobachtungen zur Hypothese 5 folgende Aussagen festhalten: In ihren Selbst- und Fremdbeobachtungen zum NKF konzentrierte sich die Stadt X auf das NKF-Gesetz und ihren eigenen Zustand. In der kategorialen Perspektive war für die Akzeptanz des fremden Sinnangebots „NKF“ entscheidend, sich selbst als „Kommune in NRW“ zu kategorisieren. In der instrumentell-rationalen Perspektive wurde hingegen die eigene Individualität hervorgehoben. Kontakte mit fremden Organisationen, die Änderungen ihrer Strukturen nach Anleitung des NKF beabsichtigen, wurden nicht programmiert, obwohl die Stadt X hierfür 395 andere Kommunen in NRW zur Auswahl hatte. Der Nutzen eines interkommunalen Austausches war in der Stadt X strittig, aber als dominierende Sichtweise konnte inhaltsanalytisch verstanden werden: Andere reformierende Organisationen in einer mutmaßlich vergleichbaren Situation waren aus Sicht der reformierenden X-Stadt kaum vergleichbar. Die Stadt X ging davon aus, die „best possible solutions“ für die eigene Reform ‚in sich selbst‘ zu finden. Imitationen der Reformentscheidungen fremder Organisationen waren nicht die bevorzugte Option. Es erscheint somit unwahrscheinlich, dass eine instrumentell-rationale Selbst- und Fremdbeobachtung des NKF-Pakets und seiner Respezifikationen im Fall der reformierenden Stadt X dazu beigetragen hat, die Wahrscheinlichkeit der Reformakzeptanz zu erhöhen. Die methodischen Beobachtungen zur NKFReform der Stadt X können die Annahme der Hypothese 5.1 konsolidieren, nicht aber die der Hypothese 5.2.
6. Rekombinationen – Schlussbetrachtungen als Vorschläge für Anschlussbetrachtungen
Im abschließenden Teil der Untersuchung möchte ich drei Fragen beantworten. Erstens geht es um eine selektive Rückschau auf die methodische Überprüfung theoretischer Vermutungen, die sich an der durch Hypothesen aufgefächerten Gliederung meiner Fallstudie orientiert: Welche der vorangegangenen methodischen Beobachtungen haben zu Erkenntnissen geführt, die bestimmte theoretische Aussagen zu den Bedingungen der Akzeptanz von Reform konsolidieren oder diese mit Zweifeln versehen können? Diese Rückschau möchte ich mit Rekombinationen der in meiner Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse verknüpfen. Durch eine solche Herstellung von Querverbindungen soll es gelingen, modifizierende, stärker differenzierende oder neu erscheinende Fragestellungen oder Vermutungen zu plausibilisieren. Insofern sind die folgenden Schlussbetrachtungen dieser Studie auch als Anregungen für mögliche Anschlussbetrachtungen weiterer Studien zu den Bedingungen der Akzeptanz von Reform zu verstehen. Eine zweite Frage lautet daher: Welche Resultate der vorliegenden Arbeit können dazu auffordern, weitere Hypothesen über die kommunikativen Voraussetzungen des Reformierens zu formulieren, die dann in anderen wissenschaftlichen Untersuchungen getestet werden können? Drittens soll die Frage der Ergiebigkeit der dargestellten Beobachtungen von dem engeren Kontext der Erkenntnisinteressen dieser Arbeit gelöst werden: Welche der theoretischen Differenzierungen (inklusive der methodentheoretischen Unterscheidungen), die in der vorliegenden Untersuchung vorgeschlagen wurden, erscheinen geeignet, relativ unabhängig von der hier gewählten Fragestellung das Unterscheidungsvermögen soziologischer Theorie zu bereichern? Die folgende Darstellung möglicher Rekombinationen der bislang in dieser Arbeit beschriebenen Erkenntnisse verwendet die genannten drei Fragen als ein Orientierungsschema ohne eine strenge textliche Gliederung. Meine Antworten habe ich stattdessen in einem lockeren Zusammenhang in acht Abschnitten gebündelt.
C. P. Kleidat, Bedingungen der Akzeptanz von Reform, DOI 10.1007/978-3-531-93088-6_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6. Rekombinationen
6.1 Reformpaket und Reformrespezifikation: Ablehnung als Bedingung von Akzeptanz Sieht man sich organisationssoziologische Forschung näher an, ist nicht immer ganz einfach zu verstehen, worauf sich die Rede von Reform im jeweiligen Aussagekontext genau bezieht. Zuweilen bleibt unklar, ob es um einen von identifizierbaren Organisationen entkoppelten Kommunikationszusammenhang oder um eine einzigartige Reform einer individualisierbaren Organisation oder um einzelne Reformziele geht. In meiner Untersuchung hat sich für das theoretische und methodische Beobachten von Reform ein Unterscheidungsgebrauch als notwendig erwiesen, der Bezugnahmen auf Reform nicht einheitlich als Reformkommunikation bezeichnet, sondern weitere Differenzierungen einführt. Hierfür habe ich in dieser Arbeit die Unterscheidung „Reform“ mit begrifflichen Unterscheidungen verknüpft, die sich entlang der Differenzierung von „Generalisierung“ und „Spezifizierung“ sortieren lassen: Auf der höchsten Stufe der Generalisierung kann man vom Schema „Reform“ bzw. Reformschema sprechen. Eine erste Spezifikation des Schemas kann man in Form von „Reformdiskursen“ beobachten, die sich durch spezifische thematische Bezugspunkte vom Reformschema und voneinander unterscheiden lassen. Reformdiskurse beziehen sich unspezifisch auf das vergangene, aktuelle oder potenzielle Reformieren individualisierter oder kategorisierter Organisationen, das heißt, sie entwerfen von Organisationen entkoppelte Strukturänderungsvorschläge (‚Reformmodelle‘) für eine Mehrzahl dieser Systeme und/oder reflektieren in hochgeneralisierter Form Reformgeschehnisse. Im Falle einer engeren Kopplung von Reformdiskurs und Organisation kann man Reformdiskurse auch als „Reformdispositive“ bezeichnen, um kenntlich zu machen, dass das Reformieren von den Sinnangeboten eines Diskurses instruiert wird. Im Unterschied zu Diskursen zum Thema „Reform“ findet „Reformieren“ nur in individuell bestimmbaren Organisationen statt. Reformierende Organisationen können auf den von ihnen als eine Reform beobachteten Entscheidungszusammenhang in zweierlei Weise referieren, nämlich unspezifisch, als eine generalisierte Einheit, oder spezifisch, als Vielfalt von Differenzierungen der Reformeinheit. Diese beiden Möglichkeiten der Bezugnahme auf Reform können als die Unterscheidung von „Reformpaket“ und „Reformrespezifikation“ begriffen werden. Die Respezifikationen können mit Hilfe weitere Unterscheidungen spezifiziert werden, so etwa durch die Unterscheidung von programmatischen und netzwerkartigen Entscheidungsprämissen oder durch Spezifikationen innerhalb eines Prämissentyps, so etwa – wie in dieser Arbeit praktiziert – nach Anleitung des Differenzierungsschemas von Oberzwecken und Unterzwecken.
6.2 Myopia statt Forgetfulness?
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In Bezug auf das soziologische Problem der Reformakzeptanz hat es sich in der Fallstudie der vorliegenden Arbeit insbesondere bewährt, zwischen Reformpaket und Respezifikationen einer Reform zu unterscheiden: Durch diese theoretische Differenzierung wurde methodisch erkennbar: Reformen können als Paket bejaht werden, weil Reformrespezifikationen verneint werden. Die Akzeptanz eines Reformpakets impliziert also nicht eine dauerhafte Akzeptanz aller Reformrespezifikationen. In diesem Zusammenhang hat sich zur Differenzierung des organisationalen Umgangs mit Zustimmung auch der Akzeptanzbegriff der soziologischen Systemtheorie als fruchtbar erwiesen: Obwohl in der Stadt X dem organisationsinternen Publikum in Bezug auf das Reformpaket weder Konsens noch Verständigung, sondern eher Widerstand unterstellt wurde, hat diese Organisation doch niemals daran gezweifelt, dass das Reformpaket in der gesamten Organisation problemlos akzeptiert wurde. 6.2 Myopia statt Forgetfulness? Vergessen und Erinnern vergangener Reformen – beides geschieht begrenzt, wie meine Fallstudie rekonstruiert hat. Auch hier ist es wichtig gewesen, zwischen Reformpaket und Reformrespezifikationen zu unterscheiden, denn so konnte beobachtet werden: Die in der Vergangenheit einer Organisation beendeten Reformen werden weder vollständig vergessen noch werden sie in allen Einzelheiten aktualisiert. Das, was als Respezifikation von einem früheren Reformpaket erinnert wurde, hat die Organisation dann auch in ihrer Gegenwart bewertet. Dabei hat mein Verständnis des Gedächtnisses der Stadt X zu der Beschreibung geführt, dass frühere Reformbemühungen sowohl positiv als auch negativ bewertet werden, bei der Programmierung des Gedächtnisses jedoch zwischen einer dominierenden offiziellen Gedenkkultur und einer (bei Bedarf aufgerufenen) Kultur des Reformwiderstands unterschieden werden kann. Somit hat die vorliegende Fallstudie theoretische Annahmen zum Umgang von Organisationen mit der eigenen reformierenden Vergangenheit nicht oder nur modifizierend bestätigen können. Zudem hat der Fall der reformierenden Stadt X gezeigt: Bestimmte Strukturänderungsvorschläge vergangener Reformen können relativ unabhängig von einer Zuordnung zu bestimmten Reformperioden über verschiedene Reformpakete hinweg in die Gegenwart ‚hinübergerettet‘ werden. Sie bleiben auf diese Weise als Beiträge zum Thema der beabsichtigten Änderungen organisational fortlaufend ‚tagesaktuell‘. In Bezug auf das wissenschaftliche Problem der wiederholten organisationalen Verwendung des Schemas „Reform“ ist Nils Brunssons Beschreibung der organisationalen Vergesslichkeit organisationssoziologisch besonders prominent
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6. Rekombinationen
geworden. Die Ergebnisse meiner Fallstudie sprechen nun nicht unbedingt dafür, eine starke Akzentuierung von „Forgetfulness“ fortzusetzen. Zum einen werden Reformen der Vergangenheit selektiv vergessen (und erinnert).335 Zum anderen werden aber auch die Zukünfte in aktuellen Reformperioden im Laufe der Zeit vergessen. Doch dieses Vergessen der Zukunft wird durch Brunssons „Forgetfulness“ nicht beobachtet. Das mit Forgetfulness bezeichnete Vergessen (eines Großteils) der in der Vergangenheit beendeten Reformen ist und bleibt zwar eine wichtige Vorkehrung für die Möglichkeit von Akzeptanz erneuten Reformierens: Doch man kann in diesem Problembereich etwas weniger einseitig und vor allem auch etwas abstrakter ansetzen und dann Forgetfulness als eine Lösungsmöglichkeit mitführen. Ich möchte mit diesen Überlegungen darauf hinaus, dass es sich für die soziologische Beschreibung von Reform lohnen könnte, die Theorie einer organisationalen „myopia“ (Levinthal/March 1993; Miller 2002) einzubeziehen: Forgetfulness wäre dann lediglich als eine Spezifizierungsmöglichkeit eines Zusammenhangs von Bedingungen zu verstehen, der die Zeitdimension von Bedingungen der Reformakzeptanz betrifft und der als kurzsichtiger organisationaler Umgang mit zeitlichen Horizonten beschrieben werden kann. Der Fall der Stadt X hat gezeigt: Organisationen sind in ihren Reformentscheidungen kurzsichtig, und zwar sowohl in Richtung der Vergangenheit als auch in Richtung der Zukunft. Die eigene Vergangenheit wird vom Organisationsgedächtnis aktuell immer wieder neu gefiltert, und dabei ändert sich das, was für die Zukunft bewahrenswert erscheint, fortlaufend. In Richtung Zukunft mag man argumentieren, dass die weiter von der Gegenwart entfernte Zukunft (z. B. der Bereich der Reformeffekte) mit höherer Wahrscheinlichkeit vergessen wird. Erstens muss man hier und jetzt entscheiden. Die aktuell vorliegenden Informationen über die Welt, wie sie im Moment ist, sind oft komplex genug gewählt, so dass man sich im Entscheiden nicht auch noch allzu sehr mit Vergangenem oder Zukünftigem beschäftigen möchte. Zweitens passiert bis zum Erreichen der durch einen Zweck markierten zukünftigen Gegenwart in den zukünftigen Gegenwarten, die von jetzt bis dorthin liegen, ja so vieles, das man jetzt noch gar 335
In einem neueren Beitrag Brunssons werden Aussagen der „Forgetfulness-These“ von dem Begriff des Vergessens gelöst und in einen Zusammenhang mit Überlegungen zum organisationalen Lernen im Verlauf einer Reform überführt (Brunsson 2006). Brunsson entwickelt hier einige spezifizierende Aussagen, die auch für das Thema der Reformakzeptanz fruchtbar erscheinen. Während sich die „Forgetfulness-These“ auf das Vergessen des Scheiterns früherer Reformen und des Unterlassens eines Vergleichs alter und neuer Reformen bezieht, geht es in dem neueren Aussagezusammenhang des „flexible learning“ um die Unterscheidung von Ex-anteund Ex-post-Versionen einer Reform. Ohne dabei von „Vergessen“ zu sprechen, betreffen die Überlegungen zum „flexible learning“ ebenfalls die organisationale Befreiung von der Vergangenheit: „(…) the reformers did not learn for the future because they kept history and the future separate“ (Brunsson 2006, 161).
6.3 Illusion der Steuerungsillusion?
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nicht wissen kann. Organisationen entscheiden daher häufig myopisch. Gerade für die Akzeptanzchancen von Reform scheint diese Kurzsichtigkeit ein großer Vorteil zu sein. Denn eine Organisation kann, wie im Fall der Stadt X, durch eine kleinteilige Einheitsbildung von Reformsubperioden den Eindruck gewinnen, sehr viel Reformaction zu produzieren, dies jedoch nur in Bezug auf die kleinen Ziele der kleinen Subeinheiten. Das große Ganze der Reform, die ambitionierte Gestaltung einer wunderschönen Organisationszukunft, kann dann, weil die Organisation gegenwärtig so viel mit Reform zu tun hat, in Vergessenheit geraten. Und dies verlangt myopisches Entscheiden. 6.3 Illusion der Steuerungsillusion? Warum reformierende Organisationen keine naiven Organisationen sind Der Gebrauch der Differenzen „Produkte“, „Nachfrage“ und „Effekte“ bei der Rekonstruktion des Falls der reformierenden Stadt X hat gezeigt: Um Akzeptanz für eine Reform zu gewinnen, müssen bestimmte Zukunftsvorschläge dieser Reform abgelehnt werden. Dabei wird Zweckrationalität gegen Zweckrationalität ausgespielt. Dies wird nur richtig verständlich, wenn man zwischen Reformpaket und Reformrespezifikationen unterscheidet. Reformen präsentieren sich zweckrational durchdacht und behaupten, dass die von ihnen im Paket angebotenen Ideen verwirklicht werden können. Die methodischen Beobachtungen in dieser Arbeit bestätigen die Vermutung, dass Organisationen mit dieser Behauptung differenziert umgehen: Die Respezifikationen eines Reformpakets werden nach Maßgabe von Steuerungsvermutungen im Schema von Produkten, Nachfrage und Effekten organisational ‚ausgesiebt‘, das heißt, vergessen, verneint oder bejaht. Nur die Vorschläge eines Reformpakets, die kausal überzeugen, werden zweckrational weiter bearbeitet. Glaubt man hingegen nicht an die organisationale Bewirkbarkeit eines im Reformpaket angebotenen Zwecks, schaltet man auf Skepsis um – aber nur in Bezug auf die betrachtete Respezifikation, nicht in Bezug auf das gesamte Reformpaket. So kommt es in der Evolution des Reformierens zu einem Zurechtstutzen des Reformpakets nach dem Kriterium zweckrationaler Tauglichkeit. Spezifische Vorschläge des ursprünglichen Reformpakets werden zweckrational verneint, so dass als Folge der Verneinungen ein stark deformiertes, jedoch zweckrational akzeptables Paket übrig bleibt, mit dem man umgehen kann. Das Filtern der Respezifikationen eines Reformpakets geschieht vor allem durch die Differenzierung von Produkten und Effekten: Während Reformeffekte in den verschiedenen Spezifikationsstufen zunehmend dem Vergessen oder der expliziten Ablehnung anheimfallen, werden Reformprodukte mit hoher Wahr-
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6. Rekombinationen
scheinlichkeit angenommen und weiter spezifiziert. Man kann diese Annahmen auch rollentheoretisch differenzieren: Aus Sicht von Reformbetroffenen erscheinen Reformpakete als „black box“. Wechseln die Betroffenen komplementär ihre Rolle, werden sie zu Reformentscheidern und können die „black box“ entschärfen,336 indem sie nur diejenigen spezifischen Vorschläge des Pakets annehmen, die sie als Reformprodukte verstehen. Wie der in dieser Arbeit untersuchte Fall zeigt, mögen dann ‚Sinn und Zweck‘ einer Reform insgesamt unklar bleiben. Wenn wenigstens an Reformprodukte in Decision und Action angeschlossen wird, beschränkt sich die Produktion einer „Ruine des guten Willens“ (Luhmann 2002a, 181) jedoch auf Reformeffekte. Es erscheint mir somit organisationsoziologisch übertrieben, wenn man reformierenden Organisationen in jedem Fall unterstellen würde, sie würden sich Illusionen hingeben, was die Einschätzung ihrer Steuerungsmöglichkeiten anbelangt. Auch insofern ist es wichtig, zwischen der Akzeptanz eines Reformpakets und der Akzeptanz der Respezifikationen des Pakets zu unterscheiden. Die von mir in dieser Arbeit methodisch beobachtete Organisation schien jedenfalls zu wissen, was sie konnte und was nicht. Daher schrumpfte sie das Reformpaket auf das, was sie als wahrscheinlich bewirkbar vermutete. Die Vernachlässigung weit in der Zukunft liegender Effekte und die Konzentration auf naheliegende Reformziele verweist auch auf einen weiteren bemerkenswerten Stil des Umgangs mit Reform: Die Stadt X beobachtete ihr eigenes Entscheiden über Reform als kleinschrittig, als Entscheiden bezogen auf die dringenden Fragen des Hier und Jetzt. Dieses ‚Fahren auf Sicht‘ im „fog of change“ (Hannan/Polos/Carrol 2003) lässt sich als Hinweis deuten, dass diese Organisation eine Ahnung hatte, dass ihre eigene Zukunft trotz Reform immer wieder neu vollkommen unbekannt sein würde. Zusammenfassend kann man auch sagen: Reformierende Organisationen sind nicht unbedingt naive Organisationen. 6.4 Ein sich von sich selbst entkoppelnder Talk und das Schlupfloch in die Ewigkeit Unabhängig vom Thema „Reform“ habe ich in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagen, die Unterscheidungen von Talk, Decision und Action im Zusammenhang mit Begriffen der systemtheoretisch angeleiteten Organisationssoziologie 336
Diese Wortwahl erinnert an die ursprüngliche Bedeutung der „black box“: Sie wird nicht geöffnet und entschärft, sondern bleibt verschlossen, weil sie möglicherweise Sprengladungen enthält. Ein Vorgehen, das sich manchmal auch bei Reformpaketen anbietet, so dass es heißt: Annahme verweigert! Zum Verständnis der „black box“ als erbeutetes „Feindmaterial“ im Krieg siehe Watzlawick/Beavin/Jackson 1996, 45.
6.4 Ein sich von sich selbst entkoppelnder Talk und das Schlupfloch in die Ewigkeit
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wie folgt zu verstehen: Talk bezieht sich auf prospektive oder retrospektive Beschreibungen möglichen Organisierens. Mit Decision ist organisationales Planen gemeint, also ein auffälliges Entscheiden über die Kombination verschiedenartiger Prämissen für weiteres Entscheiden. Action bezeichnet unauffällige, basale Entscheidungen, die im Alltag der Organisation einfach durchlaufen. Talk, Decision und Action gewinnen soziologisch an Spannung, wenn Misstöne in den Interrelationen dieses Dreiklangs vernommen werden können. Der devianzsoziologische Beobachtungsertrag wird größer, wenn man Einheitsrekonstruktionen dieser begrifflichen Trias nicht bloß an einfache (neoinstitutionalistische) Üblichkeitsvermutungen kettet. Die theoretische Überlegung dieser Arbeit, Talk, Decision und Action in der Sachdimension337 flexibler als bisher einzusetzen, hat sich im methodischen Programm in der Fallstudie bewährt. Erstens konnten so verschiedene Einheitskonstruktionen von Talk, Decision und Action der Stadt X in der Periode ihrer NKF-Reform beobachtet werden. Nur dadurch wurde sichtbar: Eine starre gesetzliche Frist, die das Ende des Reformierens auf den Tag genau bestimmte, konnte umgangen werden, indem die Stadt X zwischen Reform und Reformprojekt unterschied und in Beziehung auf die beiden Seiten dieser Differenzierung zwei unterschiedliche Einheiten von Talk, Decision und Action bildete. In der Periodenkonstruktion des Reformprojekts war vorgesehen, das die Reformaction fristgerecht endete. Die phasenhafte Aufteilung von Talk, Decision und Action in Bezug auf die Periode der gesamten Reform war dagegen ganz anders aufgeteilt. Hier wurde das Reformieren entfristet: Reformaction sollte erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist und damit nach Abschluss des eigenen Reformprojekts beginnen. Die Organisation hatte sich durch diese Differenzierung gegenüber den gesetzlichen Vorgaben ein zeitliches Schlupfloch geschaffen, das es ihr erlauben würde, die Reformaction bis in alle Ewigkeit fortzusetzen. In Kombination mit der Untersuchung des organisationalen Umgangs mit der Differenzierung von Produkten, Nachfrage und Effekten bei Reform wurde in der Fallstudie zweitens erkennbar, dass es bei der zeitlichen Distanzierung von Respezifikationen eines Reformpakets zur Invisibilisierung von Inkonsistenzen des Reformierens nicht nur darum geht, Talk, Decision und Action voneinander zu entkoppeln. Im Zeitverlauf wird Reformtalk in sich selbst inkonsistent, und zwar relativ rasch. Daher reicht es für eine organisationssoziologische Beobachtung von Entkopplungen des Reformtalks in der Sachdimension vermutlich oft nicht aus, wenn das Beobachten auf die Ex-ante- und die Ex-post-Version einer Reform (Brunsson 2006, 162) begrenzt wird. Das ‚Zurechtschrumpfen‘ und 337
Im Hinblick auf die Zeitdimension habe ich dagegen vorgeschlagen, die sequentielle Kombinierbarkeit von Decision und Action innerhalb einer sachlichen Einheit von Talk, Decision und Action einzuschränken, siehe oben Abschnitt 2.3.
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6. Rekombinationen
‚Anreichern‘ eines Reformpakets auf bzw. mit steuerbare(n) Reformziele(n) kann offensichtlich sehr früh in einer Reformperiode einsetzen, und dafür ist es für eine reformierende Organisation vor allem bei der Aktualisierung von Talk wichtig zu vergessen, was man früher einmal über die Reform gesagt hatte. Insgesamt hat diese Arbeit bestätigen können, dass die von Nils Brunsson geprägte Formel von Talk, Decision und Action in soziologischen Untersuchungen ertragreich eingesetzt werden kann. Alle theoretischen Erwartungen, die in Bezug auf zeitliche, rollenförmige und suborganisationale Bedingungen von Reformakzeptanz in Zusammenhang mit dieser Begriffstrias formuliert wurden, konnten durch methodische Beobachtungen des Falls der reformierenden Stadt X bestätigt werden. 6.5 ‚Deine Reform, meine Reform‘: Transfers, Erfolgsmedien und totale Betroffenheit Bei meiner Rekonstruktion des Verhältnisses der NKF-Reform der Stadt X und des NKF-Diskurses fiel auf: Obwohl 395 andere Kommunen zur gleichen Zeit nach Anleitung des gleichen Reformgesetzes ihre Version einer NKF-Reform durchführten, hat die Stadt X die Einzigartigkeit des eigenen Systems betont und nur ausnahmsweise Kontakte zu vergleichbaren betroffenen Organisationen hergestellt. Auf einen Erfahrungsaustausch oder eine Suche nach guten, fremden Lösungen für die eigenen Probleme der NKF-Einführung wurde weitgehend verzichtet. Wenn man dieses ‚Abkapseln‘ als Mangel der interkommunalen Zusammenarbeit bewertet, mag dies vielleicht einen erfahrenen Verwaltungsentscheider nicht verwundern, wohl aber einen neo-institutionalistisch informierten Beobachter, der in dem beobachteten Fall mit der Imitation von Best Practice gerechnet hätte. Dementsprechend konnte meine Fallstudie theoretische Erwartungen überraschen. Ein ‚Abkupfern‘ des Reformierens von anderen Organisationen wurde in einer zweckrationalen Perspektive gerade abgelehnt: Es lohnte sich nicht, weil die Stadt X sich zu stark von den anderen vom NKF betroffenen Kommunen unterschied und man von Wissen und Erfahrung der anderen nicht profitieren konnte oder wollte. Doch auch ohne solche Imitationen fanden Transfers statt, und zwar als kategoriengebundener „hierarchically mandated change“ (Tolbert/Zucker 1983). Eine fremde Organisation, das Land NRW, war mächtig und das NKF-Gesetz das instruierende Dispositiv. Ansonsten orientierte man sich an sich selbst. Und dieses Selbst beobachtete sich nicht nur als eine einzigartige Organisation sondern auch als Mitglied einer Kategorie. Diese Selbstbeobachtung einer Kategorienzugehörigkeit sorgte dafür, dass die Organisation von dem mit rechtlich codierter Macht versehenen Sinnangebot „NKF-Reform“
6.5 ‚Deine Reform, meine Reform‘: Transfers, Erfolgsmedien und totale Betroffenheit
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überhaupt kommunikativ erreicht werden konnte. Die eigene Bindung an die Kategorie „kommunale, politisch-administrative Organisation im Land NRW“ und der fremde Gebrauch des Erfolgsmediums „Macht“ bezeichnen somit zwei organisationale Selektionen, die in der Fallstudie als Bedingungen von Reformakzeptanz methodisch rekonstruiert werden konnten. Dies provoziert soziologisch zu anschließenden Fragen: Wieso wurde gerade dieses Erfolgsmedium im Zusammenhang mit dieser Kategorie gewählt? Hat der Gebrauch des Machtmediums dazu geführt, dass eine Verbindung der Reform mit dem Medium der Werte weitgehend entbehrlich wurde? Abstrahiert man die Problemstellung vom hier beobachteten Fall der Stadt X, kann man sich für Situationen interessieren, in denen bestimmte Erfolgsmedien mit bestimmten Organisationskategorien wahrscheinlich in einem Zusammenhang auftreten. Die zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Erfolgsmedien mit funktional und/oder territorial differenzierten Organisationstypen eröffnen einen großen Spielraum für vergleichende Analysen. Wenn zum Beispiel Reformvorschläge mit wissenschaftlichen Wahrheiten verknüpft werden: Sind dann Universitäten im Vergleich zu anderen Organisationstypen besonders empfänglich für diese Botschaften oder gerade nicht? Eine weitere Überlegung im Kontext solcher Transfers betrifft die organisationale Zurechnung der Genese von Reformofferten und die Differenzierung von Reformentscheidern und Reformbetroffenen: In der organisationalen Kommunikation können sowohl Stellen, Personen oder Kompetenzen als auch Organisationen insgesamt adressiert werden. Wenn man die statische, an hierarchische Positionen gekoppelte Abgrenzung von „Reformers“ und „Reformees“ risikosoziologisch reformuliert und, wie hier geschehen, stattdessen die Rollen von „Reformentscheider“ und „Reformbetroffener“ unterscheidet, dann wird besser sichtbar: Je nachdem, ob man selbst oder jemand anders über Reformpakete und ihre Spezifikationen entscheidet, kann man zwischen diesen beiden Rollen wechseln, und zwar innerhalb der gleichen Reformperiode mehrfach. Im Hinblick auf Bedingungen der Reformakzeptanz der reformierenden Stadt X konnte mit Hilfe dieser rollentheoretischen Überlegungen Folgendes beobachtet werden: Wird die Idee für das eigene Reformieren einer fremden Organisation zugerechnet und erzwingt diese fremde Organisation aus Sicht der reformierenden Organisation das Reformieren durch Machtgebrauch, so kann sich die reformierende Organisation in ihrer Gesamtheit in der Rolle des Reformbetroffenen beobachten. In der soziologischen Beobachtung dieser Selbstbeobachtung wird man dies anders sehen müssen und die reformierende Organisation als Betroffene eines Reformdiskurses verstehen. Entscheidend ist aber der Bezug zum Problem der Reformakzeptanz: Jeder in der reformierenden Organisation kann in seinem Entscheiden über die Reform dadurch entlastet werden, dass die ‚Schuld‘ für alle
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6. Rekombinationen
‚Reformqualen‘ immer auf die fremde Organisation abgeladen werden kann, die sich die Reform ursprünglich ausgedacht hatte. Kausal gesehen, hat das ganze Reformgeschehen jemand anders als man selbst ausgelöst. 6.6 Wozu reformieren? Reform als Blendwerk und Erleuchtung von Organisation Warum nur all die Mühe mit Reformen? Im Anschluss an den Forschungsstand zu den Beziehungen von Reform und Organisationsproblemen möchte ich vorschlagen, zwei Funktionen des Reformierens zu unterscheiden, nämlich eine Fassadenfunktion und eine Visibilisierungsfunktion. Es geht beim Reformieren somit darum, andere zu blenden und/oder sich selbst zu erleuchten. Mit der Bezeichnung „Visibilisierungsfunktion“ können funktionale Überlegungen unterschiedlicher Stoßrichtungen vereint werden: Während die systemtheoretische Organisationssoziologie ihren Schwerpunkt auf ein verbessertes organisationales Selbstverständnis als Folge der durch Reform zu Tage geförderten Interessenunterschiede legt, betont die neo-institutionalistische Reformtheorie das Erzeugen von Hoffnung auf verbesserte Organisationszustände. Wie in dieser Arbeit ausgeführt, lassen sich die beiden Beschreibungen als zwei Seiten der Lösung eines Bezugsproblems verstehen: Wird der durch Reform erzeugte Widerstand des Systems gegen sich selbst hervorgehoben, richtet sich der Blick auf ansonsten verborgen gebliebene Meinungsverschiedenheiten, suborganisationale Trägheiten und pessimistische Urteile über das eigene Steuerungsvermögen. Wird hingegen das Hoffen auf Idealzustände des Organisierens fokussiert, geht es bei Reform darum, bislang okkulte Organisationsträume sichtbar werden zu lassen. In beiden Fällen hat Reform die Funktion der Visibilisierung. Die Fassadenfunktion von Reform wird organisationssoziologisch üblicherweise so verstanden, dass diese eine ‚Öffentlichkeit‘ der Reform verlangt und ein (aus Sicht der Organisation mindestens zu unterstellendes) organisationsexternes Publikum das Geschehen wohlwollend verfolgt. Kann soziologisch nicht auch dann von Reform gesprochen werden, wenn das entsprechende Entscheiden ‚im stillen Kämmerlein‘ stattfindet, nicht auf Außenwirkung abzielt und von der Organisationsumwelt unbeachtet und ohne Bewertung bleibt? Es geht dabei nur eingeschränkt um eine Diskussion, ob eine öffentliche Sichtbarkeit des Reformierens unvermeidlich ist (Luhmann 2000b, 346) oder ‚geheime‘ Reformen vorstellbar sind. Vielmehr ist hier danach zu fragen, ob die Fassadenfunktion von Reform internalisiert werden oder auch ganz wegfallen kann. Ich vermute, dass beides organisational möglich ist und dies soziologisch als Reform verstanden werden kann: Dabei setzt eine Internalisierung der Fassadenfunktion
6.7 Eigenes und fremdes Verstehen von Reform
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theoretisch voraus, dass – wie in dieser Arbeit in einem anderen Kontext vorgeschlagen wird – organisationsinterne Publika beobachtet werden, für die das ‚Aufhübschen‘ des Organisierens mittels Reform veranstaltet wird. Und ein Argument für eine Entbehrlichkeit der Fassadenfunktion bei Reform könnte darin zu sehen sein, dass Reformieren eben nicht nur eine Funktion erfüllt, sondern neben der Errichtung und Beleuchtung einer schönen Fassade auch eine Lösung für das Problem einer zureichenden Selbstbeschreibung bietet, nämlich Visibilisierung. 6.7 Eigenes und fremdes Verstehen von Reform Das Wort „Reform“ ist kein wissenschaftlicher Begriff. Die Soziologie muss daher für ihre Beschreibung von Reform solche Worte verwenden, die sich als Begriffe in den Zusammenhang einer Theorie einfügen. Dies bedeutet für das soziologische Beobachten von Reform: Welche Änderungen von organisationalen Strukturen als Reform verstanden werden können, muss weitgehend denjenigen Organisationen überlassen bleiben, die sich selbst als reformierende Organisationen verstehen. Nur: Wie weit ist „weitgehend“? Diese Einschränkung deutet bereits an, dass die Soziologie vielleicht dabei mitreden möchte, was als Reform verstanden werden kann und was nicht. Wird an organisationssoziologische Forschung angeschlossen, kann das Schema „Reform“ so rekonstruiert werden, dass dieses immer Entscheidungen bezeichnet, die sich auf die Absicht einer Verbesserung des organisationalen Gesamtzustands durch gesteuerte Strukturänderungen beziehen. Mit dieser Beschreibung des Schemas „Reform“ verfügt eine soziologische Fremdbeobachtung über eigene Kriterien zur Beobachtung von Reform, beispielsweise durch die genannten Unterscheidungen „Organisation“, „Verbesserung“, „Steuerung“ usw. Man hat somit die Möglichkeit, spezifische Änderungsabsichten von Organisationen, die dabei von Reform reden, dahingehend zu kontrollieren, ob diese den Kriterien des Reformschemas entsprechen oder nicht. Da die theoretische Rekonstruktion des Schemas eine abstrahierende Fremdbeschreibung von Selbstbeschreibungen in Bezug auf Reform darstellt, ist allerdings zu vermuten, dass sich bei einer solchen Konsistenzprüfung von organisationaler Selbstbeobachtung und soziologischer Fremdbeobachtung nur im Ausnahmefall Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben können. So zum Beispiel, wenn eine Organisation auf die Idee käme, die Änderung einer organisationalen Telefonnummer als Reform zu bezeichnen. Erschiene dieses Bezeichnen auch dann soziologisch unplausibel, wenn es sich (etwa in der Absicht einer Anpassung der Nummer an einen internationalen Standard) um den Notruf der Polizei handeln würde? Vermutlich schon, aber dann könnte man sich vielleicht dafür
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6. Rekombinationen
interessieren, warum auch diese Strukturänderung organisational als Reform verstanden wird. Letztendlich kommt es hier auf das Vorgehen beim Verstehen des Schemas „Reform“ an, und in diesem Zusammenhang stellen sich mehrere Fragen: Im Verhältnis von organisationaler Selbstbeobachtung und soziologischer Fremdbeobachtung kann man (weil man an Theorie glaubt) bezweifeln, ob sich methodisch überhaupt Fälle von Organisationen beobachten lassen, die sich als reformierend verstehen, deren Entscheidungen jedoch nicht zum Schema „Reform“ passen. Und: Wie könnte man eine solche Divergenz beobachten, ohne sich dem Verdacht einer soziologischen Besserwisserei auszusetzen? Das Problem der Unterstellung ‚Ihr behauptet ja nur zu reformieren, tut dies aber gar nicht‘ lässt sich mit Hilfe des Beobachtens von Beobachtern natürlich auf wissenschaftlich ergiebige Weise auslagern und in spannende Fragestellungen verwandeln: Wie konstruieren Systeme in der Umwelt von reformierenden Organisationen Abweichungen vom Schema „Reform“? Unter welchen Voraussetzungen führt die Beobachtung des devianten Reformierens eines fremden Systems zu interorganisationalen Konflikten? 6.8 Warum resignieren? Die „mechanisms of hope“ als Bumerang soziologischer Aufklärung Reformdiskurse standen nicht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit und wurden im theoretischen und methodischen Programm nur gestreift. Entsprechend tentativ habe ich mögliche Antworten auf die Frage eines Wandels der diskursiven Thematisierung von Wandel dargestellt. In diesem Zusammenhang habe ich versucht, die Vermutung zu plausibilisieren, dass im Mainstream der Organisationslehre zwar an Theorien evolutionären Organisationswandels angeschlossen wird, dies aber in einer stark deformierenden Weise geschieht: Evolutionstheoretische Aussagen werden derart verbogen, dass von der Theorie oft nur noch das Etikett „Evolution“ übrig bleibt. Allenfalls wird der Aussagezusammenhang auf eine Theorie kleinschrittigen Wandels reduziert, die sich dann anscheinend problemlos in trivialisierende Modelle des Organisierens integrieren lässt. Dieser bislang missglückte Transfer evolutionstheoretischer Sinnpakete lässt es wiederum soziologisch verständlicher werden, weshalb das klassische Modell des hierarchischen Zweckverbands mögliche Irritationen unbeschadet überstanden hat und der Glaube an die Möglichkeit instrumentell-rationaler Reformerfolge persistiert. Die mangelnde Lernfähigkeit von Organisationen und theoretischer Organisationsreflexion in Bezug auf die instrumentell-rationalen Erfolgschancen von
6.8 Warum resignieren? Die „mechanisms of hope“ als Bumerang soziologischer Aufklärung
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Reform ist soziologisch zuletzt mit teilweise ironischen Untertönen kommentiert worden (Brunsson 2006). Falls man Organisationsforschung mit aufklärerischen Absichten betreiben möchte, sehe ich aber keinen Grund, die Hoffnung aufzugeben, dass organisierende Sozialsysteme mit Hilfe von Organisationssoziologie, Implementationsforschung oder Evolutions- und Steuerungstheorie nicht eines Tages zu einem besseren Verständnis des eigenen Systems gelangen könnten. Jeder, der gerne auf unbeweisbare Weise spekuliert, kann und darf auf den Eintritt von nicht beherrschbaren Effekten hoffen – warum nicht auch ein nichtwissenschaftlicher Beobachter der möglichen Folgen von Theorie? Und wenn man an die Visibilisierungsfunktion von Reform glaubt: Gerade das Reformversagen im instrumentell-rationalen Sinne und die Evaluierung der Kosten und Schäden einer Reform könnten Organisationen irgendwann dazu animieren, verstärkt bescheidenere Formen der Veränderungsplanung zu wählen und nach theoretischen Angeboten Ausschau zu halten, die einen künftigen Verzicht auf Reform wissenschaftlich stützen können. Vielleicht gefällt es in Zukunft Organisationen ja besser, sich nicht als ein Instrument, sondern als ein nichttriviales System zu modellieren. In Kenntnis von Systemtheorie mag man darauf hoffen, aber Hoffnung ist kein wissenschaftlicher Stil des Erwartens. Wünsche sind hier jedoch erlaubt, sofern ein wissenschaftlicher Wunsch sich an die Wissenschaft richtet. Ob als Desiderat der Forschung formuliert oder nicht: So oder so ist jedenfalls im Hinblick auf das Thema des Wandels des Wandels eine stete soziologische Wachsamkeit gefragt. Hier wären (immer wieder neue) Diskursanalysen wünschenswert, die etwa als Metaanalysen verschiedener Reformdiskurse den jeweils aktuellen Stand der Vorstellungen über Organisationswandel reflektieren. Dieses Unterfangen würde nur dann keine Erkenntnisse versprechen, wenn man die „Mechanismen der Hoffnung“ nicht auch auf soziologische Erwartungen appliziert und stattdessen davon ausgeht, dass die Dominanz instrumentellrationaler Organisationsmodelle sich evolutionär ewig fortschreibt. Diese Arbeit hat den Versuch unternommen, die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Reformakzeptanz auf eine differenzierte Weise zu beantworten. Es geht auch einfacher, vielleicht so: Organisationen können Reformen deshalb akzeptieren, weil sie nicht sich selbst, sondern ihre Reformen reformieren.
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