Charles Simmons
Belles Lettres
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Charles Simmons
Belles Lettres
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War Shakespeare wirklich schwul? Und wie ekelhaft können Chefs eigentlich werden? «Belles Lettres», der neue Roman von Charles Simmons, erzählt anhand der Intrigen in einer Zeitungsredaktion die ewige Mesalliance zwischen Geld und Geist und den Abgrund zwischen hohem Anspruch und debiler Wirklichkeit. Eine äußerst komische und unterhaltsame Donquichotterie, garniert neun garantiert unbekannten Shakespeare-Sonetten. ISBN 3 406 50870 3 Originalausgabe «The Belles Lettres Papers» Aus dem Englischen von Klaus Modick Übersetzung der Sonette: Ulrike Draesner Verlag C. H. Beck oHG, München 2003
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Frank Page, der Ich-Erzähler in Charles Simmons' neuem Roman, der eigentlich nur eine Seminararbeit über die seit den 50er Jahren wöchentlich erscheinende, renommierte Literaturzeitschrift «Belles Lettres» verfaßt hat, wird in der Folge selbst dort Redakteur und erlebt die zwiespältige Wirklichkeit hinter der edlen Fassade. Die schwerreichen, aber nicht gerade belesenen Inhaber, die über ein ganzes Arsenal von Zeitschriften gebieten, wechseln nach völlig inhaltsfernen Gesichtspunkten die Chefredakteure aus, eine Sekretärin will Rezensentin werden und wird rechtzeitig auf einen hochbezahlten Posten bei einer anderen Zeitschrift weggelobt, eine Liste der 25 bedeutendsten Autoren Amerikas wird nach geradezu karnevalesken Gesichtspunkten zusammengestellt und erregt dann weltweit Aufsehen. Aber der Höhepunkt ist erreicht, als neun bislang unbekannte Sonette Shakespeares auftauchen, die auf die schwierige Frage, ob Shakespeare schwul war, eine ziemlich eindeutige Antwort geben. Sie spielen eine entscheidende Rolle bei dem Kampf der Redaktion gegen einen besonders ekelhaften neuen Chefredakteur. Die ewige Mesalliance zwischen Geld und Geist, die allmähliche Entstehung der Zeitungswirklichkeit beim Beeinflußtwerden, der Abgrund zwischen hohem Anspruch und debiler Wirklichkeit wird mit bösehinreißender Komik beschrieben. Simmons' äußerst unterhaltsame Donquichotterie ist ein Vergnügen für jeden Leser, der seinen Spaß an Scherz, Satire, Ironie und deren tieferer Bedeutung hat. Verlag C.H. Beck
Autor
Charles Simmons, geboren 1924, war mehrere Jahrzehnte als Redakteur bei der «New York Times Book Review» tätig. Für seinen ersten Roman «Powdered Eggs» («Eipulver») erhielt er 1964 den Faulkner Award. Er lebt und arbeitet in New York und auf Long Island. Nach dem großen Erfolg von «Salzwasser» (C.H. Beck 1999) erschien 2001 im selben Verlag auch sein früherer Roman «Lebensfalten» auf deutsch sowie 2002 sein jüngster Roman «Das Venus-Spiel». Klaus Modick, 1951 geboren, lebt als mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller in Oldenburg. Zuletzt erschien sein Roman «Der kretische Gast». Er übersetzte William Gaddis, R.L. Stevenson, William Goldman u.a. Ulrike Draesner, geboren 1962, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Ihr preisgekröntes Werk umfaßt Lyrik, Essays und Prosa. Zuletzt erschien ihr Roman «Mitgift».
Für Deirdre und Maud
Inhalt I Das Spielzeug eines reichen Mannes........................................ 8 II Hinter den Kulissen von Belles Lettres.................................. 22 III Keine Sau kennt Harold Brodkey ........................................ 34 IV Mr. Margin und Frau 1 ........................................................ 56 V Mr. Margin und Frau 2.......................................................... 75 VI Ein Schurkenstück ............................................................... 90 VII Der Sanierer ..................................................................... 106 VIII Totes Holz....................................................................... 119 IX Gelungene Konferenz ........................................................ 132 X Kalte Schulter ..................................................................... 145 XI Leserbriefe......................................................................... 157 XII Falsche Lügen .................................................................. 168 XIII Die fröhlichen Fälscher................................................... 183 Anmerkung des Übersetzers .................................................... 192
Das Personal von Belles Lettres Frank Page, ein Redakteur und der Erzähler Aubrey Buckram, der Gründer der Zeitschrift Winifred Garamond Buckram, die erste Herausgeberin und Aubreys Frau Samuel Serif, der erste Chefredakteur Xavier Deckle, der zweite Chefredakteur Cyrus Tooling, der ursprüngliche Besitzer von Protean Publications und Käufer von Belles Lettres F. E. Backstrip, der dritte Chefredakteur Skippy Overleaf, der vierte Chefredakteur Jonathan Margin, der fünfte Chefredakteur Ellie Backstrip, eine Redakteurin Ed Princeps, ein Redakteur Ben Boards, ein Layouter Virginia Wrappers, eine Redakteurin Barry Vellum, ein Redakteur Claire Tippin, eine Sekretärin Cyrus Tooling Jr., der gegenwärtige Chef von Protean Publications und Sohn des ursprünglichen Besitzers Mary (Tool) Tooling, seine Frau Lou Bodoni, die Bürochefin Chuckle Faircopy, ein Redakteur Rose Cloth, eine Sekretärin Phil Flush, der Personalchef von Protean Publications Shirley Baskerville, die Vizechefberaterin von Protean Publications Art Folio, ein Bürobote
Sylvia Topstain und Cynthia Binding, seine Gehilfinnen Christopher Blanks, ein freier Mitarbeiter Newbold Press, der sechste Chefredakteur Das Informationsleck, ein Redaktionsmitglied Bobby Quatro, ein Bürobote Selma Watermark, eine Sekretärin Der Schriftsteller als Gast, ein berühmter amerikanischer Autor S. Sewnbound, ein Shakespearespezialist Gary Cartouche, ein Statistiker der Elizabethanischen Epoche
I Das Spielzeug eines reichen Mannes Dieses Einführungskapitel ist die komprimierte Fassung einer Seminararbeit, die ich 1982 auf dem College über die Geschichte der literarischen Wochenzeitschrift Belles Lettres anfertigte. Sie behandelte die Jahre 1951-73 und die Redaktionen unter Samuel Serif (1951-54), Xavier Deckle (1954-60), F. E. Backstrip (1960-71) und Skippy Overleaf (1971-73). Mit den beiden nachfolgenden Chefredakteuren Jonathan Margin und Newbold Press setzte sie sich jedoch nicht auseinander. Deren Tätigkeit steht vielmehr im Mittelpunkt des hier vorgelegten Werks, eines Berichts aus erster Hand, insofern es sich aus meinen Erinnerungen an die zwei Jahre speist, die ich für die Zeitschrift tätig war. Belles-Lettres (der Bindestrich wurde 1960 gestrichen) war 1951 von Aubrey Buckram gegründet worden, teils als Hochzeitsgeschenk für seine Braut, teils als Bestechungsinstrument. Winifred Garamond, die kurz zuvor ihr Examen am Radcliffe-College abgelegt hatte, willigte nämlich in die Ehe mit Buckram nur unter der Bedingung ein, eine eigene, berufliche Karriere starten zu können. Sie hatte ihren Magister in mittelalterlicher Geschichte mit einer Examensarbeit über Jeanne d'Arc gemacht und spielte nun mit dem Gedanken, ein Graduiertenstudium in Yale anzuschließen. Bereits vor der Hochzeit kaufte Buckram eine Wohnung an der unteren Fifth Avenue in New York (freute sich aber auch damals schon auf ein Landhaus auf dem Familiengut in Oyster -8-
Bay), und die Vorstellung, daß seine junge Braut nach New Haven pendeln müßte, behagte ihm ganz und gar nicht. Er versuchte sie zu überreden, ein Examen an der Columbia-Universität abzulegen, aber davon wollte sie partout nichts wissen, sondern sagte (die Bemerkung gilt in Cambridge inzwischen als geflügeltes Wort): «Nach Radcliffe auf die Columbia zu gehen wäre so wie Einkaufen bei Macy's in einem Kostüm von Chanel.» Um Winifred also «den gruseligen, von Slums umgebenen Steinklotz» zu ersparen, der «wie eine Zuchtperle in einer verrosteten Fassung» sei (so Buckram über Yale, zitiert nach einem Artikel von 1960 aus Time, in dem über den Verkauf von Belles-Lettres an Protean Publications berichtet wird), «kam mir die Idee mit der Zeitschrift, und ich hatte keine Probleme, sie Winny zu verkaufen. Ich wollte also nicht etwa das Gesicht der amerikanischen Literatur verändern, sondern ich wollte nur, daß meine Frau daheim blieb.» Die Redaktionsräume von BellesLettres befanden sich direkt um die Ecke ihrer Wohnung an der East Eleventh Street in einem rotbraunen Sandsteinhaus, das Buckram eigens zu diesem Zweck erstand. Winifreds erstes Problem bestand darin, ob sie Belles-Lettres persönlich führen oder eine erfahrene Kraft einstellen sollte. Zwar war sie Redakteurin ihrer HighSchool-Zeitung gewesen und hatte auch gegen Ende ihres Studiums an der Harvard Crimson mitgearbeitet, doch handelte es sich diesmal immerhin um ein professionelles Projekt. Also wurde ein Redakteur eingestellt, und sich selbst ernannte Winifred zur Herausgeberin (als solche figuriert sie im Impressum des allerersten Hefts, erschienen am 4. September 1951). Auf die Auswahl des Redakteurs hatte Buckram vermutlich Einfluß genommen, obwohl er seine Rolle dabei stets herunterspielte, indem er Bemerkungen wie die folgende machte (ebenfalls aus dem -9-
Time-Artikel): «Winny war vollständig und ausschließlich verantwortlich. Wenn sie mich um meine Meinung fragte, sagte ich sie ihr, und wenn nicht, dann eben nicht.» Jedenfalls fiel die Wahl auf Samuel Serif, siebenundzwanzig, ein Kommilitone Buckrams in Harvard, wo Serif als recht extravaganter Redakteur des Advocate aufgefallen war. Nach dem Examen gründete er Sky Writing (1948-51) und fungierte auch als Chefredakteur dieser Vierteljahrsschrift, die heute weitgehend vergessen ist; kurz nach dem Krieg fand sie allerdings durchaus Beachtung, wie alle literarischen Zeitschriften, die seinerzeit als Zeichen einer amerikanischen Renaissance gesehen wurden. Als das Geld 1951 ausging, ging Sky Writing ein, und Serif übernahm die Redaktion von Belles-Lettres. Buckram, Erbe eines Klebstoff- und BaumwollVermögens, pumpte angeblich schon im ersten Jahr 400000 Dollar in die Zeitschrift. Sie sollte solchen Wochenzeitschriften wie The Saturday Review of Literature Konkurrenz bieten, die damals zwar renommiert war, aber neben der Literatur auch andere kulturelle Bereiche abdeckte; Time und Newsweek, die Bücher nur unter dem Aspekt rezensierten, ob aus dem Thema eine gute Story zu schlagen war; den kleinen Zeitschriften, die Bücher seriös rezensierten (manche behaupteten: sterbenslangweilig), aber um Monate, manchmal um Jahre zu spät; und schließlich den journalistisch geprägten Literaturbeilagen von Sonntagszeitungen wie The New York Times und The New York Herald Tribune. «Es war ein weites, unbestelltes Feld», sagte Buckram. Aber unter Samuel Serif bestellte Belles-Lettres dieses Feld nicht. In den drei Jahren seiner Chefredaktion betrug die wöchentliche Auflage im Durchschnitt siebentausend -10-
Exemplare, im letzten Jahr war sie etwas niedriger als im ersten. Buckram bemerkte dazu: «Sam Serif ist und bleibt ein sehr heller und sehr fleißiger Bursche, aber er hatte einfach keine Ahnung, was er mit dem Geld anfangen sollte, das ich ihm gab. Ich verstehe vollkommen, daß einige der Rezensionen, die er in Auftrag gab, Eingang in Anthologien gefunden haben, aber die Leute wollten nun mal nicht jede Woche eine Vierteljahresschrift studieren. Sam und ich sind immer noch gute Kumpel, und ich hoffe, er sieht es mir nach, wenn ich sage, daß er bei BellesLettres im Proseminar sitzen blieb.» Wenn man sich die ersten Ausgaben ansieht, leuchtet ein, was Buckram meinte. Viele der Rezensionen sind über viertausend Wörter lang; in manchen Ausgaben stammte die Hälfte der Rezensionen von Fakultätsmitgliedern, auch emeritierten, aus Harvard; und die Illustrationen waren belanglose Dekorationen. Es liegt auf der Hand, daß Serif, wild entschlossen, eine einflußreiche Zeitschrift herauszubringen, seine natürliche Unbekümmertheit unterdrückte, genau jene Qualität also, die ihm als Redakteur einer Zeitschrift, die auf eine breite Leserschaft zielte, gut zu Gesicht gestanden hätte. Nach drei Jahren waren sich Buckram, Winifred und sogar Serif selbst einig, daß die Zeitschrift einen neuen Chefredakteur brauchte. Wie Xavier Deckle in Buckrams Blickfeld geriet und wie er dazu überredet wurde, die Verantwortung für etwas zu übernehmen, das im wesentlichen das Spielzeug eines reichen Mannes war, sind ebenso wichtige wie undurchsichtige Elemente der Belles-Lettres-Geschichte. Time zitierte Buckram so: «Offensichtlich kam für diesen Job in Amerika nur ein einziger Mann in Frage. Wenn man sich die wichtigsten literarischen Ereignisse in Amerika während der letzten -11-
zehn Jahre genauer ansah, kam man zu dem Schluß, daß Deckle überall beteiligt war. Er kannte einfach jeden. Und er war kein gescheiterter Autor, sondern Redakteur. Die Frage, wie ich ihn dazu brachte, den Job anzunehmen, möchte ich schlicht damit beantworten, daß ich gute Argumente hatte.» Unerklärlicherweise hatte man Winifred für den TimeArtikel nicht interviewt. Im Herbst 1981 schrieb ich ihr und fragte nach ihrer Meinung zur Einstellung Deckles. Ihre Antwort fiel ausführlich aus und berührte viele Aspekte der Belles-Lettres-Geschichte. Über die Vereinbarung mit Deckle schrieb sie: «Xavier war meine Idee, so wie Sam Serif Aubreys Idee gewesen war. Als Herausgeberin von Belles-Lettres war ich für die Zeitschrift letztendlich verantwortlich und führte deshalb eine rege Korrespondenz. In meinen Unterlagen befinden sich mindestens dreißig Briefe, die Xavier während Sams Redaktion schrieb. Im ersten Brief wurde lediglich ein bestimmter Rezensent empfohlen. Die folgenden Briefe ich muß wohl nicht betonen, daß ich auf Xaviers Interesse an einer damals praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit agierenden Zeitschrift mit Dankbarkeit reagierte - waren voller Kommentare über die Zeitschrift im besonderen und über Literatur im allgemeinen. Natürlich leitete ich alle Vorschläge an Sam weiter, der manchmal auf sie reagierte, manchmal aber auch nicht. Wie dem auch sei, zu dem Zeitpunkt, da Sam sich verabschiedete, war ich entschlossen, Xavier einzustellen. Aubrey entsprach Xaviers recht selbstbewußten Forderungen, aber ich lege doch großen Wert darauf, daß aus Ihrem Referat klar hervorgeht, daß die Entscheidung für Xavier Deckle nicht Aubrey, sondern mir zu verdanken ist.» (Meiner Bitte um eine Gegendarstellung entsprach Buckram nicht. Fairerweise muß ich einräumen, -12-
daß es für ihn wohl kaum höchste Priorität hatte, einen strittigen Punkt in einer Seminararbeit zu klären.) Unstrittig ist jedenfalls, daß der anschließende Aufstieg von Belles-Lettres zu Ansehen und Profitabilität sich dem redaktionellen Genie Xavier Deckles verdankte. Bis auf den heutigen Tag weiß niemand genau, wie es ihm gelang, die Autoren zu gewinnen, die für ihn schrieben. Er selbst sagte: «Regelmäßig betrieben ist Literaturkritik ein undankbares Geschäft. Gelegentlich ist es eine Methode, alte Freundschaften zu ruinieren oder sich neue Feinde zu schaffen.» Daß es ihm 1959 gelang, Hemingway dazu zu bringen, unter Pseudonym Faulkners Spätwerk «Das Haus» zu rezensieren, bleibt einer seiner größten Coups. In Anbetracht der damaligen Verfassung Hemingways und der fragwürdigen Qualität von Faulkners Roman fiel die Kritik klar und freundlich aus. Als die Identität des Rezensenten bekannt wurde - Deckle selbst soll das Geheimnis gelüftet haben -, schrieb Faulkner an Deckle und bot an, die Gefälligkeit zu erwidern; leider erschienen zu Hemingways Lebzeiten keine neuen Bücher mehr von ihm. Der andere Coup, der freilich nie in Druck ging, bestand darin, mit einem Exemplar von Eliots Stück «Der Privatsekretär» 1956 Ezra Pound in St. Elizabeths zu besuchen und Pound zu überreden, Verbesserungen anzubringen. Deckle wollte unbedingt eine Druckfassung des derart lektorierten Stücks herausbringen, aber Eliot und sein Verlag erhoben Einspruch. (Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, daß die folgenden Auflagen des Stücks stillschweigend mehrere von Pounds Änderungsvorschlägen übernahmen.) Es waren also in der Tat die goldenen Jahre von Belles-Lettres, aber sie fanden ihr plötzliches, tragisches Ende, als Deckle 1960 nach einem Sturz von der Terrasse seiner New Yorker Wohnung starb. (In der von Buckram in Umlauf -13-
gebrachten Version soll Deckle betrunken gewesen und ausgerutscht sein. Allgemein ging man jedoch von Selbstmord aus. Ein Jahr später kamen Beweise ans Licht, daß Deckle an jenem Abend zwei Seeleute aufgegabelt hatte, die ihn von der Terrasse warfen. Darauf angesprochen, sagte Buckram: «Wenn das stimmt, kann ich nur sagen, daß Xavier starb, wie er gelebt hat: immer volles Risiko.») Deckles Tod und ein weiteres Ereignis führten Ende der sechziger Jahre dazu, daß Buckram Belles Lettres an Cyrus Toolings Protean Publications verkaufte. Nach neun Jahren Ehe ließ Winifred nämlich Buckram wegen eines Belles-Lettres-Redakteurs namens Pavel Faircopy sitzen. (Winifred und Faircopy kehrten der Zeitschrift den Rücken und gründeten ein Mitteilungsblatt für Kunstauktionen. Faircopys jüngerer Bruder trat 1961 in die Redaktion ein und war immer noch da, als ich 1983 zu Belles Lettres stieß.) Der doppelte Verlust war zuviel für Buckram, und er akzeptierte Toolings Angebot von angeblich 6 Millionen Dollar. (Gegenüber Time wollte Buckram die Summe weder bestätigen noch dementieren, sagte jedoch, daß er trotz allem, was er in das Magazin investiert habe, mit Plus-Minus-Null aus der Sache herausgekommen sei. Als Time nachfragte, ob daraus zu schließen sei, daß er das Geld nicht versteuern würde, sagte er: «Fragen Sie meinen Steuerberater, und wenn er es Ihnen verrät, schmeiße ich ihn raus.») Die Zeitschrift geriet nun in dezidiert kommerzielle Hände. Es war ein merkwürdiger Zufall (obwohl unterstellt wurde, daß dieser «Zufall» Belles Lettres für ihn überhaupt erst interessant machte), daß Cyrus Tooling eine Reihe Lifestyle-Magazine verlegte, deren Titel aus geläufigen französischen Wörtern bestanden - Jardin, Théâtre, Vin. In diesem Zusammenhang ist es -14-
aufschlußreich, daß Buckram im Time-Artikel für sich in Anspruch nimmt, den Namen Belles-Lettres erfunden zu haben, wenn er anmerkt: «Den Namen wählte ich nicht ohne Ironie. Dennoch war er allemal besser als die der Konkurrenzblätter, unter denen ich mich noch an ‹Bookworm› und ‹Bookbag› erinnern kann.» Bei der Wahl des nächsten Chefredakteurs für die nunmehr bindestrichlose Belles Lettres ging Tooling kein Risiko ein. Auf den Posten hievte er F. E. (Effie) Backstrip, den Chefredakteur von Jardin («es grünt so grün das grüne Magazin»). Backstrip, der damals Anfang Fünfzig war, hatte tatsächlich sein gesamtes Berufsleben bei Protean verbracht und galt als Garant für Auflagenstärke. Den Magazinen der Protean-Gruppe war stets der Spagat zwischen den Bedürfnissen der Leser und denen der Anzeigenkunden geglückt. Backstrip übertrug das Erfolgsrezept auf Belles Lettres, versuchte aber zugleich, an Deckles Einfallsreichtum anzuknüpfen. Gleichwohl galten die Autoren, die Backstrip lancierte, durchweg als mittelmäßig. Dwight Macdonald behauptete, daß Backstrips untrügliches Gespür für Zweitklassigkeit ein besonderes Talent sei. Nichtsdestotrotz, oder eben deshalb, verdoppelte sich während der ersten drei Jahre unter Backstrip die Auflage, die bei Deckles Tod 140000 erreicht hatte, und stieg auch während der nächsten vier Jahre weiter an, wenn auch nicht so dramatisch. Die Erlöse aus der Werbung nahmen in diesen sieben Jahren ebenso zu wie der Umfang der einzelnen Ausgaben. Selbst als die Zahlen sich 1968 stabilisierten, blieb die Zeitschrift ökonomisch gesund. Von jedem Dollar, den die Buchindustrie für Werbung ausgab, bekam Belles Lettres im Durchschnitt 56 Cents. Backstrip kam, um es milde zu formulieren, in Intellektuellenkreisen nicht gerade gut an. Eins seiner -15-
Probleme bestand darin, daß er Nachfolger des allseits beliebten Deckle war. Gegen Ende von Backstrips Regiment bemerkte ein Kommentator, Deckle nachzufolgen sei ebenso schwierig, wie Kennedy nachzufolgen. Der intellektuelle Knackpunkt war, daß sämtliche redaktionellen Entscheidungen Backstrips von witzloser Naivität oder, schlimmer noch, raffiniertem Zynismus geprägt waren. Und je populärer und einflußreicher Belles Lettres wurde, desto stärker formierte sich der intellektuelle Widerstand gegen das Blatt. Artikel, in denen Backstrip angefeindet wurde, stammten unter anderen von Macdonald, Paul Goodman und Robert Lowell. Zwei kleine Zeitschriften, Tiresias und Clear Water, füllten ganze Hefte mit kritischen Analysen, Parodien und anderen Bloßstellungen von Belles Lettres. Tiresias stellte eine besonders rufschädigende Zitatensammlung aus Belles-LettresRezensionen zusammen und brachte auch ein Interview mit Backstrip, in dem er verriet, wie er Chefredakteur geworden war: «Als Cyrus mich fragte, sagte ich mir: ‹Scheiß der Hund drauf, wenn ich erfolgreich Fotomodelle entblättert hab, werd ich wohl auch in Büchern blättern können›.» Außerdem tönte er: «Ich sag's Ihnen lieber gleich, daß ich kein literarisches Trüffelschwein bin.» Diese Bemerkungen wurden später immer wieder als unwiderlegbarer Beweis seines Banausentums zitiert. Am Ende seiner Dienstzeit fügte ein enttäuschter Bewunderer in der Columbia Journalism Review noch Gründe dafür an, warum die Presse derart auf Backstrip eingedroschen hatte: «Die Leute, die ihn nicht mochten, agierten unter dem Motto ‹hart, aber fair›. Wenn sie jemanden verprügelten, gingen sie davon aus, selber Prügel zu beziehen oder angedroht zu bekommen. Daß aber einer von ihnen eine wüste Attacke auf Backstrip ritt -16-
und der sich damit revanchierte, daß er eine glühende Eloge über das neue Buch des Betreffenden lancierte, brachte diese Leute auf die Palme. Sie bekamen Backstrip einfach nicht in den Griff. Entweder war er zu dumm für sie - oder zu schlau.» Die Columbia Journalism Revue ahnte natürlich nicht, daß Cyrus Tooling, der Backstrip während der Angriffe stets die Stange hielt, ihm empfohlen hatte, sich niemals zu verteidigen (Backstrip erzählte das einmal einem Kollegen, der es dann brieflich an mich weitergab): «Wenn eine Zeitschrift mit einer Auflage von zehntausend Sie als Arschloch bezeichnet, wehrt sich in einer Zeitschrift mit einer Auflage von dreihunderttausend nur ein Arschloch gegen diese Behauptung.» 1971, als er zweiundsechzig war, ging Backstrip - oder er wurde gegangen. (Er starb 1976; Tooling 1975.) Ein Kollege sagte: «Die Sechziger Jahre waren vorüber, und Effie Backstrip hatte mit ihnen nichts anzufangen gewußt. Es hatte ihn auch niemand dazu aufgefordert. Aber das war keine Entschuldigung. Der alte Tooling brauchte etwas oder jemanden, der dem Publikum zurief: ‹Schaut her, wir sind so jung wie alle anderen auch.› Backstrip hatte aber einen höchst konservativen Kurs gesteuert. So war es nur konsequent, daß Protean einen sehr jungen, sehr hellen, sehr unkonventionellen, von den Sechziger Jahren geprägten Typen zu seinem Nachfolger ernannte. Belles Lettres mußte schnell den Anschluß finden. Es war ein Experiment. Und es ging schief.» Der neue Chefredakteur war Skippy Overleaf, erst siebenundzwanzig Jahre alt (genau so alt, wie Samuel Serif vor zwanzig Jahren gewesen war); er war das damalige Wunderkind des amerikanischen Journalismus. Zugleich arbeitete er als verantwortlicher Fernsehkritiker für Proteans Zeitschrift Le Tube, wo er unter dem -17-
Pseudonym Voyeur publizierte; dazu gelegentlich Literaturkolumnen für The New Republic, GastTheaterkritiker fürs New York Magazin; beliebter Korrespondent des New York Statesman für antiamerikanische Beiträge; und kein Monat verstrich, in dem nicht zwei bis drei seiner Features in diversen Magazinen landesweite Verbreitung fanden. Er hatte drei Bücher veröffentlicht und Verträge für vier weitere abgeschlossen. Er produzierte auf hohem Niveau derartige Mengen, daß Wilfrid Sheed ihn einmal verdächtigte, eineiige Zwillinge zu sein. Mit der Entscheidung für ihn waren fast alle glücklich. Die Belles-Lettres-Redakteure hatten während der turbulenten Sechziger Jahre keinerlei Impulse setzen können und konnten es kaum abwarten, endlich von der Leine gelassen zu werden. Selbst die Intellektuellen, die normalerweise gegenüber einem so jungen und glänzenden Mann mißtrauisch gewesen wären, schienen einverstanden zu sein. Tooling selbst glaubte vermutlich, er habe sich auf etwas Waghalsiges, wenn nicht Gewaltiges eingelassen. «Protean Publications», sagte er, «ist stolz und glücklich, diese erhabene kulturelle Verantwortung in die Hände der nächsten Generation zu legen. Man hat mich gefragt, ob ich Skippy Overleaf nicht als zu jung für diese Aufgabe erachte, worauf ich geantwortet habe: «Denken wir immer daran, daß Napoleon in Skippys Alter bereits eine Armee befehligte.» Unbehagen empfanden lediglich die Verlage. Ein Vertreter von Doubleday faßte diese Gefühle in einer Eloge auf den scheidenden Backstrip zusammen: «Ich bringe Effies Stärken auf diesen Punkt: Er las gern mal ein gutes Buch, und wenn ihm eins besonders gefiel, vermittelte er sein Vergnügen gern den Leuten. Und wenn er das tat, dann nannte er auch gleich den Titel, den Namen des Autors, den Verlag und den Preis, und diese -18-
Angaben waren immer korrekt. In meinen Augen war Effie der ideale Buchverkäufer.» Alles in allem erwies sich Overleaf als unsteter TeilzeitChefredakteur. Er produzierte weiterhin soviel wie vorher. Ein Belles-Lettres-Redakteur sagte dazu: «Skippy schenkte uns etwa einen Tag pro Woche - das heißt, wenn er nicht gerade anderweitig beschäftigt war.» Wie konnte die Zeitschrift überhaupt erscheinen? «Es lief halt irgendwie. Natürlich war der Tag, an dem Skippy anwesend war, voller Überraschungen. Er war eine Silvesterrakete mit einer Extraration Funkenregen. In seinem zweiten Monat passierte diese VietnamGeschichte. Damals dachten wir, die Marines würden die Redaktion besetzen.» Die Vietnam-Geschichte war eine zehntausend Worte lange Sammelrezension über die gesamte Anti-Kriegs-Literatur, die landesweit bei kleineren und großen Verlagen erschienen war. Sie war entsprechend heterogen und unübersichtlich. Der Großteil bestand aus pamphletistischen Breitseiten, darunter die Forderung, Johnson, Nixon und ihre Helfershelfer müßten als Kriegsverbrecher à la Nürnberg angeklagt werden. Overleaf vergab den Auftrag und brachte den Beitrag, ohne Tooling die leiseste Warnung zu geben, dessen politische Einstellung derjenigen der meisten amerikanischen Geschäftsleute entsprach: daß nämlich alles, was in diesem Fall gut für Protean Publications ist, auch gut für Amerika sein müsse. Er war außer sich, daß einer seiner Mitarbeiter eine seiner Zeitschriften für ideologische Zwecke mißbraucht hatte, und er war drauf und dran, Overleaf fristlos zu feuern. Man warnte ihn jedoch, daß der Rauswurf als politisches Signal interpretiert werden würde, und politische Signale wollte er auf keinen Fall setzen. Das Beste wäre, die Sache abkühlen zu lassen und Overleaf später zu feuern. Der -19-
Vietnam-Artikel fand gleichwohl ein ausgesprochen positives Echo; er wurde in fast allen europäischen Ländern nachgedruckt; und Tooling glaubte eine Weile wieder daran, doch den richtigen Mann angeheuert zu haben. Aber Overleaf und Belles Lettres zeigten sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Die Auswahl der rezensierten Bücher wirkte willkürlich, wenn nicht gar absurd, und die Wahl der Rezensenten war eine einzige Provokation. The Village Voice, hoch erfreut, daß ein großer kommerzieller Verlag wie Protean mit seinem eigenen Chefredakteur haderte, verulkte Overleaf: «Es war höchste Zeit, uns darüber aufzuklären, was Drogendealer, Schwanzlutscher, beinharte Frauen und männliche Softies, Heroinschmuggler und Schneeschnüffler über Bücher denken. Du weißt, wo's lang geht, Skipper. Halt Kurs!» Den Hals brach Overleaf schließlich die dreißigtausend Worte lange, schrittweise Anleitung eines Erstsemesters der technischen Hochschule von Massachusetts, wie man sich eine Atombombe bastelt. Für den Druck opferte Overleaf eine komplette Ausgabe, Diagramme inklusive. Er veröffentlichte das starke Stück unter der Überschrift: «Wenn Eure Kongreßabgeordneten nicht hören wollen, dann…» und bezeichnete die betreffende Ausgabe von Belles Lettres in seinem Leitartikel als «die HiroshimaNummer». Nach der Vietnam-Affäre hatte Tooling nicht nur Overleaf, sondern auch den für Protean arbeitenden Druckereien Anweisungen gegeben, daß er alles, was in die Zeitschrift kam, vorher zu Gesicht bekommen wollte. Doch Overleaf wartete eine Woche ab, in der Tooling abwesend war, und lieferte das Material erst in letzter Sekunde ein. Die Ausgabe war innerhalb eines halben Tages ausverkauft und wurde in sämtlichen Druck- und elektronischen Medien detailliert abgehandelt. Im -20-
Kongreß wurde formeller Protest eingelegt. Ein Kommentar in der New York Times bezeichnete den Artikel als «einen Akt bar jeder Vernunft und Zurechnungsfähigkeit.» Tooling verbreitete eine Presseerklärung, wonach «dieser brillante junge Mann offenbar überarbeitet ist, wofür ich persönlich verantwortlich bin. Er hat mir versprochen, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen.» Und in der Tat soll Overleaf schwierige Zeiten durchgemacht haben, nachdem er von der Chefredaktion entbunden worden war. Der fünfte Chefredakteur von Belles Lettres war Jonathan Margin, der den Posten 1973 als Neununddreißigjähriger übernahm. Wie seine beiden unmittelbaren Vorgänger, war auch er bereits Angestellter von Protean gewesen, bevor ihm die Chefredaktion angetragen wurde. Im Gegensatz zu Backstrip war er ein literarisches Trüffelschwein, und im Gegensatz zu Overleaf war er kein Wunderkind. Das Pendel war in die Ruheposition zurückgeschwungen. Mein Job bei Belles Lettres verdankte sich dem glücklichen Zufall, daß mein College-Professor ein Exemplar meines Referats an Margin schickte, der mir eine sehr genaue Analyse zukommen ließ, in der er zeigte, wo ich den Nagel auf den Kopf getroffen und wo ich daneben gehauen hatte, mit dem abschließenden Urteil: «Aber irgendwie scheinen Sie uns verstanden zu haben. Besuchen Sie mich doch einmal, wenn Sie wieder in New York sind.» Das geschah im Herbst 1983, und Mr. Margin war so liebenswürdig, mir eine Stelle anzubieten.
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II Hinter den Kulissen von Belles Lettres Sobald ich der Redaktion beigetreten war, wollte jeder von mir wissen, wie es bei Belles Lettres zuging. Lasen wir wirklich alle Bücher selbst? Wie entschieden wir, welche rezensiert werden sollten? Wie suchten wir die Rezensenten aus? So lauteten die unschuldigen Fragen. Leute, die mehr vom Literaturbetrieb verstanden, wollten wissen, ob wir die Rezensenten beeinflußten und die Rezensionen redigierten. Die Leute aus dem Literaturbetrieb fragten erst gar nicht; sie gingen sowieso von der Existenz einer meinungsmonopolistischen Verschwörung aus, obwohl niemand genau wußte, wozu die gut sein sollte. Wenn ich mich an diese Fragen erinnere, denke ich an ein Gespräch, das ich während unseres ersten gemeinsamen Mittagessens mit Jonathan Margin führte. «…so hat also jeder seinen persönlichen Geschmack», sagte er. «Und Gott sei Dank! Womit sonst ließe sich rechtfertigen, daß wir unsere Urteile einem wehrlosen Publikum aufschwatzen? Wir von Belles Lettres bilden schon eine merkwürdige und, das darf ich gleich hinzufügen, faszinierende Mischung aus Typen und Temperamenten. Unsere Empfindungsfähigkeit reicht von wüster Vulgarität bis ins Delikateste, wenn nicht gar Dekadente. Mir will es so vorkommen, als repräsentierten wir ein kritisches Modell des amerikanischen Lesepublikums. So befürworten wir etwa ein Buch, indem wir es im Rahmen der Intentionen des Buchs befürworten. Wir lehnen Krimis nicht grundsätzlich ab, wir lehnen nur schlechte Krimis ab. Wir befürworten Lyrik nicht grundsätzlich, wir befürworten nur gute Lyrik. Und wenn -22-
ein Buch eine Meinung vertritt, sei sie noch so befangen oder voller Vorurteile, versuchen wir, klar zu machen, wer wir sind und wo wir stehen, und beurteilen dann das Buch nach der Stichhaltigkeit seiner Argumentation. Ich will damit sagen, daß wir bei Belles Lettres an der Machart interessiert sind, an den Mitteln, am Prozeß…» Mr. Margin war ein langer, dünner Mann aus einer alten, aber armen Familie aus New England. Er hatte ein knochiges New-England-Gesicht und eine tiefe, durch Selbstironie angereicherte Stimme. «Sie fragen sich jetzt wahrscheinlich», fuhr er fort, «wie eine solche Gruppe von, wie ich zu sagen pflege, unterschiedlichen, wenn nicht gar unvereinbaren Charakteren gemeinsam eine Zeitschrift für Literaturkritik zustande bringt. Das frage ich mich oft selbst. Was glauben Sie beispielsweise, was passiert, wenn zwei Redaktionsmitglieder unterschiedlicher Meinung über ein Buch sind?» «Überlassen Sie das denn nicht dem Rezensenten?» fragte ich. «Ach!» Meine Frage gefiel ihm. «Aber welchem Rezensenten schicke ich es, dem scharfen Rezensenten oder dem milden Rezensenten, dem John Simon oder dem Anthony Burgess?» «Ich habe auch schon milde Rezensionen von John Simon gelesen», sagte ich. «Ach! Aber nehmen wir mal an, besagtes Buch stammt nicht von einem toten Europäer. Sondern von einem lebenden Amerikaner, genauer gesagt von einem Amerikaner, der seit Jahren nicht belangt wird, obwohl er einen Mord…» «Heller?» sagte ich. Mr. Margin erbleichte. «Ich dachte eigentlich eher an…» «Styron?» sagte ich. -23-
Diesmal erbleichte er nicht, sondern räusperte sich. «Sagen wir einfach: ein überschätzter Autor. Sie haben meinen Punkt trefflich illustriert. Ich sage ‹überschätzter Autor›, aber damit meine ich natürlich nur: meiner Meinung nach überschätzt. Wir wollen also mal annehmen, daß ein anderes Redaktionsmitglied den Autor für alles andere als unterschätzt hält und meint, das neue Buch sei ein Meisterwerk. Wem schicken wir es dann, John Simon oder Anthony Burgess?» «John Simon», sagte ich. «Einverstanden. Und warum?» «Mit Meisterwerken kennt er sich aus, mit echten und mit angemaßten.» «Und Anthony Burgess?» fragte Mr. Margin. «Er kennt sich mit echten Meisterwerken aus, aber nicht mit angemaßten.» «Wieso das?» «Er sagt nicht, daß sie angemaßt sind, er benutzt einfach seine anmaßende Stimme.» Mr. Margins Augen verengten sich. «Ich sehe schon, daß Sie ein schlaues Kerlchen sind», sagte er. Dieser Meinungsaustausch fiel mir einige Monate später wieder ein, als sich die Redaktion an einem Montagnachmittag zur wöchentlichen Konferenz in Mr. Margins Büro versammelt hatte. Alle Mitarbeiter waren mit den neuen Büchern erschienen, die sie oder er übers Wochenende gelesen hatten, um Rezensionsempfehlungen abzugeben. Die Prozedur lief üblicherweise im Uhrzeigersinn um den Konferenztisch ab, an dem wir saßen, begann zu Mr. Margins Linken mit Ellie Bellyband, die detailliert die Plots von vier oder fünf englischen -24-
Romanen nacherzählte - englische Erzähler waren ihre Domäne -, schließlich aber von Rezensionen abriet, weil die Romane nicht auf der Höhe ihrer Vorgänger waren, und setzte sich mit Ed Princeps zu Mr. Margins Rechten fort. Ed stellte dann sieben bis acht, manchmal sogar zehn akademische Sachbücher vor. Seine Begeisterung für Bücher war groß, für akademische Bücher enorm groß, und es fiel Mr. Margin immer schwer, auf eine Rezension zu verzichten, mochte das Thema auch noch so exotisch sein, nachdem Ed geschwärmt hatte, daß es witzig, anregend, bahnbrechend und traumhaft geschrieben sei und wir uns in den eigenen Finger schnitten, wenn wir es ignorierten. An diesem Montagnachmittag gab Mr. Margin jedoch Ed als erstem das Wort, da er über einen besonderen Fall zu berichten habe. «Ed!» sagte Mr. Margin und nickte dabei wie ein Conferencier. Selbst wenn sie nur aus ein oder zwei Worten bestanden, leitete Ed seine Beiträge stets mit einem Hüsteln, einer Kunstpause und einem Lächeln ein. Das Hüsteln war teils entschuldigend, teils wichtigtuerisch, das Lächeln war jungenhaft und diabolisch zugleich. Heute sagte er dramatisch: «Das hier ist ein ganz dicker Fisch.» Und tatsächlich lagen zwei dicke Bände gebundener Druckfahnen vor ihm. Ich glaube, die anderen dachten, genau wie ich, es handelte sich um ein wissenschaftliches Standardwerk, an dem seit Jahren gearbeitet worden war. Es war jedoch Norman Mailers ägyptischer Roman, und alle horchten auf. Wir hatten seit Monaten davon läuten gehört, und obwohl Fahnenabzüge schon in den Buchclubs und Taschenbuchverlagen zirkulierten, hatten die Kritiker noch nichts zu sehen bekommen; jedenfalls bis jetzt nicht. Persönlich fühlte ich mich etwas übergangen, weil ich -25-
glaubte, daß man mir bei Belles Lettres die amerikanische Gegenwartsliteratur als «mein Feld» zugewiesen hatte. Gleichwohl hatte Mr. Margin seine Gründe, Ed den ersten Einblick zu gewähren. «Bevor ich beginne», sagte Ed, «möchte ich gleich sagen, daß Normans Roman unbeschreiblich ist.» Ed hatte die irritierende Angewohnheit, bekannte Personen beim Vornamen zu nennen. Wenn er von «Pauline», «Mordecai», «Gore» redete, wußte man gleich, wen er meinte, aber gelegentlich sprach er von «John» oder «Bill», und dann mußte man nachfragen: John-Wer? Bill-Wer? Als wieder einmal nachgefragt worden war und er uns gesagt hatte, daß es sich bei John um Updike handelte, erklärte er, daß er sich in letzter Zeit große Sorgen um John gemacht habe und sich ihm von daher besonders verbunden fühle. (Zur Ehrenrettung dieser Marotte Eds muß ich einräumen, daß ich ihn einmal gegenüber Updike erwähnte, und Updike fragte: «Wie geht's denn Ed Princeps so?» Updike erzählte mir außerdem, Eds vollständiger Vorname sei Editio, was ich nicht gewußt hatte, und fügte mit einem schlauen Lächeln hinzu: «Er ist doch wirklich ein Original, nicht wahr?») Wie auch immer - Ed fuhr über Mailers Roman fort: «Er heißt ‹Antike Abende›, und ich sage, daß er unbeschreiblich ist, weil ihr vielleicht keine klare Vorstellung davon bekommen habt, worum es geht, wenn ich fertig bin. Also werde ich euch sagen, womit er vergleichbar wäre. Es ist das Alte Testament, verfaßt von Mel Brooks, ‹Das tibetanische Totenbuch› von Henry Miller, die Ilias von Woody Allen, die Büste der Nofretete von Red Grooms…» «Ich hab gehört, daß da drin viel gefurzt und gekotzt wird», sagte Ben Boards. Ben ist der Layouter von Belles Lettres und nimmt an den Redaktionskonferenzen teil, um -26-
ein Gefühl für das zu bekommen, was läuft. «Auch viel Arschfickerei», fügte er hinzu. «Lauter! Lauter!» rief Virginia Wrappers, eine altgediente Redakteurin, die sich selbst - wie alle anderen auch - für die Garantin des Niveaus hielt. Sie war wohl im Lauf der Jahre etwas schwerhörig geworden, hatte aber den Bogen raus, die Leute jene Dinge wiederholen zu lassen, die sie eigentlich nur einmal sagen wollten. «Auch viel Arschfickerei», sagte Ben Boards. «Was soll das denn heißen?» sagte sie. Wie er es oft tat, warf sich Mr. Margin dazwischen wie ein Brennstab in spaltbare Materie. «Ben hat gesagt, Virginia, er habe gehört, der neue Mailer sei voll wüster Vulgarität.» «Ich verstehe», sagte sie und lehnte sich zurück. «Ich habe Ed um den Bericht über Mailers Roman gebeten», sagte Mr. Margin, «weil er, wie wir alle wissen, einen ausgeprägten altphilologischen Hintergrund hat. ‹Antike Abende› dürfte sich als umstrittenes Werk herausstellen, und wir wollen uns da auf festem Grund bewegen. Dieser Mailer ist ganz anders als all die Mailers, die wir kennen, nicht wie der frühe Mailer mit ‹Die Nackten und die Toten›, nicht wie der jüngste Mailer mit seinen Marilyn-Büchern und ‹Das Lied des Henkers›. Dies ist ein total neuer Mailer, auf den nicht jeder gefaßt sein dürfte. Ich selbst halte das Buch für ein gewaltiges Experiment, von… wie viele Seiten, Ed?» Ed schlug den Einbandrücken des zweiten Bandes auf und sagte: «Eintausendsiebenhundertundvierzehn Seiten Druckfahnen.» «Dürfte ich das bitte mal sehen?», sagte Barry Vellum, der bei Belles Lettres für Naturwissenschaft und Lyrik zuständig war, weil sich sonst niemand für dergleichen -27-
interessierte. «Ich kenne Mailer persönlich, und ich habe alle seine Bücher gelesen.» Ed schob die beiden Bände über den Tisch und redete weiter. «Wenn wir dies Buch bewerten wollen, müssen wir uns bewußt sein, daß Mailer hier alle seine Stärken ausgespielt hat - sein profundes Verständnis der modernen Gesellschaft, sein unvergleichliches Ohr fürs amerikanische Idiom, seine absolut meisterhafte Beherrschung von Erzählweisen, seine donquichotteske Fertigkeit, populären Vorurteilen mit offenem Visier zu begegnen, seine unvergleichliche Bereitschaft, sich selbst zum Narren zu machen - und es ist gerade diese letztgenannte Qualität, die, wenn ich das mal so ausdrücken darf, für einen Künstler von höchster Bedeutung…» «Ed, darf ich Sie mal unterbrechen?» sagte Barry Vellum. «Ich habe eben den zweiten Band auf Seite 1231 aufgeschlagen, und ich würde das gerne vorlesen.» «Meinen Sie, daß wir dafür genug Zeit haben?» sagte Mr. Margin. «Ich glaube, es könnte aufschlußreich sein», sagte Ed. «Na schön, Barry, schießen Sie los!» Barry las vor: «Zu ihrem eigenen Vergnügen suchte sie in ganz Theben seltene Heiligtümer auf. Anders als Usermare, verehrte sie nicht nur Amon, sondern auch Götter, denen in anderen Städten gehuldigt wurde, Ptah in Memphis oder Toth in Khnum, zu schweigen vom großen Osiris-Kult in Abydos, doch hatten all diese Götter auch hier ihre Tempel mit ergebenen Priestern, und meine Königin fand noch manch anderen Gott in manch anderem Tempel, häufig an den schäbigsten Stellen - am Ende eines schlammbedeckten Wegs mitten in den Slums von Thebes, wo die Kinder so schmutzig und unwissend waren, daß sie -28-
bei ihrem Anblick weder die Köpfe neigten noch ins Staunen gerieten, sondern nur mit den Augen rollten.» (Barry rollte mit den Augen.) «Weil der Weg zu schmal für ihre Sänfte war, watete sie mit ihren zierlichen Füßen in goldenen Sandalen bis zum Ende des Torwegs, wo sie sich von Priestern dieses schäbigen, kleinen Tempels des Hathor oder Bestet oder Khonsu die Füße waschen ließ, oder in vornehmeren Quartieren, vorbei an den Pforten säulengeschmückter Villen mit Torwächtern und auf eigene Kosten errichteten kleinen Steinsphinxen könnten wir zwischen schlanken Säulen eines, wie sie selbst es ausdrückte, ‹göttlichen Tempelchens› eintreten, um der Göttin Mut unsere Ehrerbietung zu erweisen, der Gemahlin des Amon, oder bis…» «Das war Seite 1231», sagte Barry. «Tja, ganz recht», sagte Ed, «und was sagt Ihnen das, Barry?» «Nicht viel.» Ed hüstelte, lächelte und sagte: «Das wundert mich gar nicht. Wenn man irgendeine zufällige Seite aus dem zweiten Teil eines gigantischen Werks aufschlägt und außerhalb des Zusammenhangs liest, kann man doch nicht erwarten, daß einem das etwas sagt. Stellen Sie sich mal vor, jemand hätte 1921 Seite 877 aus dem ‹Ulysses› in einer Konferenz wie unserer vorgelesen!» «Na gut», sagte Barry, «dann versuch ich's eben mit dem ersten Teil.» Er schlug den Band am Anfang auf. «Das hier ist Seite 74.» «Barry», sagte Mr. Margin, «Sie wollen doch nicht etwa noch mehr vorlesen?» «Mehr! Mehr!» sagte Virginia Wrappers. «Wieso nicht?» sagte Ed. -29-
«Also gut», sagte Mr. Margin. «Scheint ja auf allgemeines Interesse zu stoßen.» Und Barry las: «In solcher des Lichts verlustig gegangener Dunkelheit, in der sich kein Lüftchen regte, nicht der leiseste Hauch einen Gedanken belebte, dauerte der Zweifel des Sekhem an. Man würde geschätzt werden. Und die Zeit verrann ohne Maß. War's eine Stunde, war's eine Woche, bevor in meinem Geist das Licht des Mondes aufging und das Innere meines Körpers in seinem Schein badete? Vor dem Vollmond schwebte ein Vogel mit leuchtenden Schwingen, und sein Kopf erstrahlte wie ein glühender Punkt. Der Vogel mußte der Khu sein. Indem ich ihn mit seinem Namen belehnte, dämmerte mir, daß zumindest ein Gedanke wieder Einlaß in meinen Kopf gefunden hatte und von dem Khu ausgegangen sein mußte - diesem süßen Vogel der Nacht -, einer Kreatur göttlichen Wissens, uns zu Lehen gegeben wie das Ren oder das Sekhem. Ja, gleich dem Namen und der Macht erschien der Khu, um unsere Gedanken zu erleuchten, solange wir unter den Lebenden weilten, doch im Tode mußte er zum Himmel zurückkehren. Denn, anders als der Ba und der Ka, jene vierten und fünften Elemente der sieben Seelen und Geister, die nach unserem Tode gewiß zugrunde gehen mußten, währte der Khu gleich dem Sekhem und dem Ren ewig. Und doch - nicht in alle Ewigkeit, nicht gänzlich unbeschadet. Denn aus dem Wabern seiner…» «Das war Seite 74, und das sagt mir immer noch nicht viel.» Barry schob die beiden Bände über den Tisch in Richtung Ed. Mr. Margin sagte: «Danke, Barry. Waren diese beiden Seiten denn tatsächlich repräsentativ, Ed?» «Sie waren repräsentativ für eine der Ebenen des Buchs. Es gibt andere.» Aber er führte das nicht weiter aus und ließ die gebundenen Druckfahnen in der Tischmitte liegen. -30-
Ich glaube, er hatte das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, indem er Barry vorlesen ließ. Er richtete seine Aufmerksamkeit nun passiv auf Mr. Margin, der sagte: «Also, haben Sie einen Vorschlag, wer das rezensieren soll, Ed?» «Ich glaube, Joyce Carol könnte etwas damit anfangen», sagte er. «Sie hat 'ne ziemlich ausgeprägte Schamschwelle gegenüber Scheiße, aber dafür ist sie zu niedrig», sagte Barry. «Lauter! Lauter!» rief Virginia. «Joyce Carol Oates' Schamschwelle gegenüber Scheiße ist nicht ausgeprägt genug, um Norman Mailers neuen Roman zu rezensieren», sagte Barry lauter. «Gut, dann nehmen wir sie eben nicht», sagte Virginia. «Weitere Vorschläge?» sagte Mr. Margin und öffnete das Thema damit für eine breitere Debatte. Es war schwierig zu verstehen, wer genau was sagte, aber einige der Vorschläge klangen so: «Wie wär's mit einer dieser Trochäen von der Columbia, zum Beispiel Morris Dickstein?» «Schwammig», sagte jemand. «Vielleicht jemand mit mehr… Format», sagte Mr. Margin. «Stephen Marcus?» sagte jemand. «Schwammig», tönte es erneut. «V. S. Pritchett», sagte jemand. «Der würde das nicht machen.» «Aber klar doch. Es geht immerhin um Norman Mailer.» «Ich finde, wir sollten in Amerika bleiben», sagte Mr. Margin. -31-
«Wie wär's mit einem anderen Romancier, Vonnegut etwa?» «Wie stehen die beiden zueinander? Liegen sie im Clinch?» «Vonnegut schreibt nicht mehr für uns, seit wir diesen Verriß über ihn gebracht haben.» «Ben DeMott würde sich darum reißen, und er hat auch so eine freundliche Art.» «Wir sind nicht an einer ‹freundlichen Art› interessiert, wir sind an einem klaren Urteil interessiert», sagte Mr. Margin und wandte sich an mich: «Frank, haben Sie vielleicht eine Idee?» «Könnten wir uns John Simon vorstellen?» sagte ich. «Barbarei unterstütze ich nicht», sagte Mr. Margin. «Dann wüßte ich jemanden», sagte ich. «Einen anerkannten Autor mit internationaler Reputation, der literarisch selbst experimentierfreudig ist, frei von Eifersucht und von vielen für ein Genie gehalten…» «Goethe ist tot», sagte Ed Princeps. «Aber Anthony Burgess lebt noch», sagte ich. Im Raum herrschte Schweigen. Ich beobachtete Mr. Margins Gesicht, um herauszufinden, ob er sich an unser früheres Gespräch erinnerte. Ich glaube nicht, daß dem so war, weil er schließlich sagte: «Das ist eine gute Idee, Frank, eine verdammt gute Idee. Sind wir alle einverstanden?» Wir waren alle einverstanden. «Dann also Burgess… für eine große Kritik! Claire», sagte Mr. Margin zu Claire Tippin, seiner Sekretärin, die während der Konferenz Protokoll geführt hatte, «schicken Sie Tony schleunigst ein Telegramm.»
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Nach der Konferenz fragte ich Claire unter vier Augen, warum Mr. Margin so freundlich mit Mailer umsprang. «Ich glaube», sagte sie, «weil Mailer sich bereit erklärt hat, die neue Biographie zu rezensieren, die Mr. Margin geschrieben hat. Das dürfte eine ziemlich geschwätzige Angelegenheit werden, das müssen Sie zugeben.» «Und als Gegenleistung…» sagte ich. «Schriftlich gibt's da nichts», sagte sie, «aber man ist sich einig.» Und so ging es mehr oder weniger immer bei Belles Lettres zu. Ich muß noch berichten, daß Barry bei der nächsten Konferenz mit seiner Bodley-Head-Ausgabe des «Ulysses» erschien und uns Seite 877 vorlas, die zu Molly Blooms Bewußtseinsstrom gehört und entgegen Eds Vermutung wohl auch schon 1921 gut angekommen wäre: «weil er doch glatt seine drei- oder viermal mal gekommen sein muß mit diesem gräßlich großen roten Vieh von einem Ding was er hat ich dachte doch glatt ihm platzt die Ader oder wie zum Teufel sie das nennen obwohl seine Nase an sich gar nicht so groß ist nachdem daß ich meine ganzen Sachen ausgezogen hatte bei runtergelassenen Jalousien und das nach dem stundenlangen Anziehn und Parfümieren und Kämmen also wie aus Eisen oder wie eine dicke Brechstange stand ihm die ganze Zeit er muß Austern gegessen haben glaub ich ein paar Dutzend er war ganz groß bei Stimme nein so einen hab ich mein Lebtag noch nicht gefühlt einen von dem Format daß man das Gefühl hatte er füllt einen total aus…» Drei- oder viermal bat Virginia Wrappers Barry, lauter zu sprechen.
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III Keine Sau kennt Harold Brodkey Mr. Margin rief mich in sein Büro und forderte mich auf, Platz zu nehmen. Er zitierte Redaktionsmitglieder in sein Büro, wenn das Gespräch unter vier Augen stattfinden sollte. Wenn er einen allerdings bat, Platz zu nehmen, hatte jemand ein echtes Problem. Diesmal hatte Mr. Margin selbst eins. «Ich weiß nicht, Frank, ob Sie es wissen, aber Tool kann mich nicht leiden.» «Nein, wußte ich nicht», sagte ich, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Mir war zu Ohren gekommen, daß Mr. Margin vor dem Rauswurf stand, zumindest aber auf eine untergeordnete Position bei Mer et Terre, dem Reisemagazin von Protean, degradiert werden sollte. «Ja, sie kann mich überhaupt nicht leiden.» Tool war Mary Tooling, die Frau von Cyrus Tooling Jr., des gegenwärtigen Verlegers der Protean-Gruppe, eines Sohns des Unternehmensgründers. Mrs. Tooling brachte den kulturellen Zeitschriften des Unternehmens besonderes Interesse entgegen. Ich beobachtete sie amüsiert, wenn sie ihre monatlichen Konferenzen mit der Belles Lettres Redaktion abhielt. Sie war eine dominante Frau, etwa fünfundvierzig Jahre alt, mißtrauisch, elegant gekleidet, schwarze Augen, mit denen sie uns abschätzig musterte. Sie führte das große Wort. Gelegentlich stellte sie auch eine Frage, wartete die Antwort aber erst gar nicht ab. Oder sie hörte sich die Antwort an und nickte, wenn sie sich bestätigt fühlte. Oder sie hörte nicht auf das, was wir sagten, sondern verstand nur das, was sie hören -34-
wollte. Als sich zum Beispiel einer von uns beklagte, daß er ein größeres Büro brauchte, sagte sie schließlich: «Also gut, dann kriegen Sie eben eine Gehaltserhöhung.» «Ich weiß nicht, warum sie mich nicht leiden kann», sagte Mr. Margin. «Ich befolge ihre Anweisungen so penibel, daß sogar sie mir erklären kann, was sie von mir wollte. Ich streite mich nie mit ihr. Ich rede nicht schlecht über sie. Es stimmt schon, daß wir aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Aber wir sind hier immerhin bei Protean Publications, wo die verschiedensten Strömungen des amerikanischen Journalismus zusammenlaufen, und zwar harmonisch und profitabel.» Das letzte Wort klang irgendwie falsch, und Mr. Margin machte eine Pause, um es in seiner Rede sacken zu lassen. «Frank, während der kurzen Zeit, die Sie bei Belles Lettres sind, haben Sie sich als scharfer Beobachter erwiesen. Wissen Sie irgend etwas, das vielleicht… die Situation entschärfen könnte?» Er wollte Klatsch hören. «Was halten Sie eigentlich von Mrs. Tooling?» fragte ich. Er straffte sich. «Was ich von Mrs. Tooling halte? Ich finde, sie ist ein…» Nun folgte eine entsetzlich lange Suche nach dem treffenden Wort, das sich dann als «Drahtbesen» entpuppte. «Könnte es sein, daß Mrs. Tooling Sie nicht leiden kann, weil Sie sie nicht leiden können?» Auf die Idee war Mr. Margin noch gar nicht gekommen und wirkte verblüfft, als er darüber nachdachte. Als er wieder zu sich kam, sagte er: «Glauben Sie, daß sich etwas… an der Situation ändern ließe?» «Wenn Sie ihr gegenüber plötzlich freundlich auftreten, weiß sie natürlich, daß Sie schwindeln. Da gäben Sie sich eine Blöße. Ich würde zu Flüsterpropaganda raten, Mr. Margin.» -35-
«Flüsterpropaganda», sagte er. «Jawohl, und bei der heutigen Konferenz halten wir außerdem die Augen offen und richten unsere Antennen aus, nicht wahr? Es versteht sich wohl von selbst, Frank, daß diese Sache unbedingt unter uns bleiben…» «Selbstverständlich», sagte ich. Was für eine beschissene Situation, dachte ich, und das in Mr. Margins Alter. Er ist ein hoch angesehener Redakteur. Er ist seit zehn Jahren Mitglied der GrolierGesellschaft und inzwischen in der Zulassungskommission. Er steckt die Prügel weg, die er von Verlegern wie Lyle Stuart bekommt, weil Belles Lettres dessen Bücher nicht rezensiert, und er hört solchen Leuten wie Don Fine freundlich zu («Jonathan, Sie wissen, daß ich mich nie beklage, aber…»). Er schafft es auch, daß nur die besten Autoren für ihn schreiben, und zwar für Honorare, die deutlich niedriger als bei anderen Zeitschriften sind. Dennoch wäre niemand scharf darauf, einem annähernd qualifizierten, neunundvierzigjährigen Redakteur einen Job für das Gehalt anzubieten, auf das sich Mr. Margin hochgearbeitet hat. Ich hatte den Eindruck, daß eine akademische Karriere für ihn besser gewesen wäre. Dann wäre er inzwischen Fachbereichsdirektor an einem guten oder Präsident an einem mittelmäßigen College gewesen. In beiden Fällen hätte er es dann mit Leuten zu tun gehabt, mit denen er sich besser verstünde als mit Mary Tooling. Mrs. Tooling erwartete uns im großen Konferenzsaal von Protean. Sie präsidierte am Kopf des langen Tisches, und Mr. Margin nahm seinen Platz am anderen Ende ein. Sie sahen aus wie Mann und Frau, und wir anderen waren wie die Kinder, die an den Seiten des Tisches saßen. -36-
«Marge», begann Mrs. Tooling, «ich habe gestern mit Dick Snyder zu Mittag gegessen. Dick Snyder», erklärte sie uns Ahnungslosen, «ist der Chef von Simon and Schuster. Dick findet, daß Belles Lettres stinkt. Ich sagte, ‹Dick, wie meinen Sie das›. ‹Stinkt›, sagte er. ‹Stinkt.› So redet der Chef von Simon and Schuster, Marge.» Mrs. Tooling lehnte sich in Erwartung von Mr. Margins Antwort über den Tisch, und die Redaktionsmitglieder drehten die Köpfe hin und her, als verfolgten sie ein Tennisspiel. «Das verstehen Sie nicht richtig, Tool», sagte Mr. Margin. «Wenn uns ein Verleger auf diese Weise kritisiert, dann will er uns damit weichkochen, damit wir ihm bei nächster Gelegenheit etwas schuldig sind. Das ist alles.» Wir wandten uns wieder Mrs. Tooling zu. Mr. Margins erste Worte - das verstehen Sie nicht richtig - waren unglücklich gewählt. Mrs. Tooling sagte: «Ich will Ihnen mal was sagen, Marge. Wenn Kongreßabgeordnete, Senatoren, Verfassungsrichter oder der Präsident der Vereinigten Staaten bestimmte Dinge wissen wollen, dann rufen sie mich oder meinen Mann an. Ich verstehe sehr wohl.» «Ich verstehe auch», sagte Mr. Margin nach einer Pause. Mrs. Tooling fuhr fort: «Dick Snyder, Chef von Simon and Schuster, behauptet also, Belles Lettres stinkt. Was sollte ich dazu sagen? Daß es nicht stinkt? Hätte ich Dick Snyder treuherzig in die Augen blicken und ihm in aller Unschuld sagen sollen: ‹Dick, Belles Lettres stinkt nicht›?» Sie meinte die Frage tatsächlich ernst und zeigte auf mich. «Na klar», sagte ich. -37-
«O ja, ich hätte es sagen können. Wegen Meineid würde mich deshalb niemand in den Knast bringen. Aber ich frage Sie jetzt mal ganz direkt: Stinkt Belles Lettres oder stinkt es nicht?» Sie zeigte auf Barry Vellum. «Als stinken würde ich das nicht bezeichnen», sagte Barry. «Ich auch nicht», sagte Mrs. Tooling. «Ich würde sagen, daß es überhaupt keinen Geruch hat. Wenn ein Kritiker von Théâtre sich ein Stück ansieht und sich amüsiert, dann sagt er: ‹Ich habe mir das Stück angesehen, und ich habe mich dabei amüsiert. Wenn ihr euch das Stück anseht, werdet ihr euch auch amüsieren.› Aber was macht die Literaturkritik? Sie macht nur Andeutungen. Wenn ein Buch gut ist, will ich das deutlich hören.» Mrs. Tooling hob die Stimme. «Schreien Sie es heraus: ‹Ich liebe dieses Buch. Es ist ein tolles Buch.›» «Begeisterung ist billig», sagte Mr. Margin, «und nicht immer überzeugend.» «Wer redet denn von Begeisterung?» sagte Mrs. Tooling. «Ich rede von Verständlichkeit.» Armer Mr. Margin! Er dachte, längst unter sein Niveau gegangen zu sein, aber Mrs. Tooling sagte ihm, daß es immer noch niedriger ging. Sie redete weiter: «Belles Lettres ist die mächtigste Literaturzeitschrift der Welt, aber Sie nutzen diese Macht nicht. Ich wünsche nicht, daß Sie Geschmack aufbringen, Geschmack bedienen, Geschmack verfeinern. Ich wünsche, daß Sie Geschmack produzieren! Ich will nicht, daß Belles Lettres darüber spekuliert, wer den Nobelpreis bekommt, ich will, daß Belles Lettres über den Nobelpreis entscheidet.» «Auf den Pulitzer-Preis haben wir einen gewissen Einfluß», sagte Mr. Margin. «In diesem Jahr gehöre ich -38-
der Jury an…» «Ich rede nicht von Gemauschel hinter den Kulissen. Ich will, daß derlei auf den Tisch kommt. Ich will, daß Belles Lettres entscheidet, wer leben darf und wer sterben muß. Und keine Kompromisse.» Ich fand, daß das zu weit ging, und sagte deshalb: «Mrs. Tooling, ich habe eine Idee.» «Sie können mich Tool nennen! Schießen Sie los!» Sie war jetzt richtig in Fahrt. «Warum legt Belles Lettres nicht einfach fest, wer die fünfundzwanzig besten amerikanischen Schriftsteller sind? Eins, zwei, drei, vier…» Mrs. Tooling starrte mich an und sagte: «Die fünfundzwanzig besten amerikanischen Schriftsteller. Eins, zwei, drei, vier.» «Und keine Unentschieden», sagte ich. «Und keine Unentschieden», sagte sie. «Wie heißen Sie?» «Frank Page, Ma'am, aber das sollte eigentlich nur ein Witz sein.» Das überhörte sie. «Marge, das ist genau das, was wir brauchen. Damit kommen wir auf die Titelseite der Times. Es wird Kommentare und Gegenlisten hageln. Wie war doch noch mal gleich Ihr Name?» «Frank Page.» «Margin!» brüllte Mrs. Tooling. «Jawohl?» «Auf geht's!» Mr. Margin nickte. Mrs. Tooling stand auf. «Jetzt stimmt die Richtung. Eins, zwei, drei, vier…» -39-
«Und keine Unentschieden», sagte ich. «Und keine Unentschieden!» sagte sie. Obwohl Mrs. Tooling meine Ironie als redaktionellen Vorschlag mißverstanden hatte, überschütteten mich die Redaktionsmitglieder auf dem Rückweg zu Belles Lettres mit Komplimenten. Ed Princeps fand, die Idee sei «ein Knaller». Ben Boards, der Layouter, meinte, man müsse sich zusammensetzen, um die entsprechenden Illustrationen auf Hochglanz zu polieren. Virginia Wrappers sagte, der Artikel «würde eine Menge Leute zurechtstutzen». Nur Mr. Margin zog ein saures Gesicht, und als wir wieder in der Redaktion waren, mußte er mir gar nicht erst sagen, daß er mich in seinem Büro erwartete und mich bat, Platz zu nehmen. «Wie konnten Sie das nur tun, Frank?» «Ich war doch nur ironisch», sagte ich. «Gegenüber einem… Drahtbesen kann man nicht ironisch sein.» «Das weiß ich jetzt auch, Mr. Margin. Aber vielleicht sorgt die Idee tatsächlich für Aufsehen im Sinn von Belles Lettres. Könnten wir die Sache nicht einfach als Spiel aufziehen?» «Frank, Sie haben die Strategie von Belles Lettres nicht begriffen, oder besser gesagt die Strategie jeder Zeitschrift, die sich durch Anzeigen finanziert. Es stimmt schon, daß wir auf die Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Büchern hinweisen. Es stimmt auch, daß wir hoffen, auf die zwei oder drei echten Talente aufmerksam gemacht zu haben, die sich im Verlauf von zehn Jahren herauskristallisiert haben. Aber von Woche zu Woche gesehen, betonen wir die Unterschiede möglichst wenig.» -40-
«Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Mr. Margin.» «Für jede einzelne Woche gilt: Neues Spiel, neues Glück. Jede Woche halten wir drei oder vier Bücher hoch, damit die Leute in die Buchläden laufen und sie kaufen oder zumindest das Gefühl bekommen, daß sie sie kaufen sollten. Wir sagen den Lesern nicht etwa: ‹Das Buch hier, das in dieser Woche erschienen ist, ist ziemlich gut, aber warten Sie lieber bis nächste Woche, weil dann ein wirklich gutes Buch erscheint.) Verstehen Sie?» «Ja, Sir.» «Wenn wir also unseren Lesern beibringen, daß die fünfundzwanzig besten amerikanischen Autoren soundso heißen und soundso, wie können wir ihnen dann eine Woche später, wenn keiner dieser Autoren ein Buch veröffentlicht, klarmachen, sich ein Buch des sechsundzwanzigstbesten amerikanischen Autors zu kaufen, oder, um es deutlicher auf den Punkt zu bringen, des hundertsechsundzwanzigstbesten Autors in Amerika? Es ist ja schön und gut, das alte Spielchen zu spielen, ob Faulkner besser als Hemingway und Hemingway besser als Fitzgerald war - tote Autoren schreiben nun mal keine Bücher mehr -, aber, wenn ich mich mal Mrs. Toolings Diktion befleißigen darf: Hier geht's ums Geld und ums pralle Leben.» «Tut mir aufrichtig leid, Mr. Margin. Aber sollten Sie das nicht mal Mrs. Tooling klarmachen? Ihr geht es doch genauso um den Erfolg von Belles Lettres wie Ihnen.» «Unter anderen Umständen könnte ich das vielleicht. Unter anderen Umständen müßte ich es aber auch erst gar nicht weil die oder der Verantwortliche sowieso verstünde, was ich gerade gesagt habe. Wenn ich jetzt zu Tool liefe, würde sie sehr genau verstehen, worum es geht - aber sie würde auch schnallen, daß aus den Reihen meiner -41-
Redaktion eine Idee gekommen ist, die mich im Grunde blamiert.» «Ist das jetzt nicht ein wenig… kraß?» sagte ich. «Nein. Im Hinblick auf Zeitschriften gibt es noch etwas anderes, was Sie nicht verstehen. Sie sind noch ein junger Redakteur. Sie begreifen eine Zeitschrift aus ihren redaktionellen Inhalten. Aber eine Zeitschrift ist nur ein Vehikel, das sich Werbekunden mieten. Wenn Leser und Werbekunden es wünschten, ließe sich unsere redaktionelle Ausrichtung innerhalb eines Monats verändern. Zusammen mit der alten Ausrichtung würden natürlich auch die Redakteure rausfliegen. Nicht, daß sie sich nicht anpassen könnten. Aber gegenüber der werbetreibenden Industrie müßten sie als Bauernopfer herhalten…» In diesem Augenblick verkündete Claire Tippin, Mr. Margins Sekretärin, daß Mrs. Tooling am Telefon sei. Mr. Margin stapfte zu seinem Schreibtisch, als trüge er eine Bleiweste. Ich stand auf, um mich zu verabschieden. Er bedeutete mir, sitzen zu bleiben. «Ja… Genau… Ja… In Ordnung… Wenn wir es veröffentlichen, bevor es fertig ist, wird die Sache allerdings sehr viel komplizierter. Jede Pressetussi in der Branche wird hier wegen ihrer Autoren auf der Matte stehen. Ich schlage vor, daß wir abwarten, bis die Sache steht, und dann reiben wir sie der Öffentlichkeit mit geballter Kraft unter die Nase…. Ja…. Sein Name ist Frank Page…. Er ist bereits Redaktionsassistent… Verdoppeln?… Also gut…. Ja…. Ja», sagte Mr. Margin und legte den Hörer mit Nachdruck auf. Er wandte sich wieder an mich. «Sie sollen die Idee ‹exekutieren›. Und Ihr Gehalt ist auch gleich verdoppelt worden. Damit liegen Sie uneinholbar vor mir.» -42-
Ich nickte. Was sollte ich dazu auch sagen? «Außerdem, wie ich schon Mrs. Tooling angedeutet habe: Wenn durchsickern sollte, was wir vorhaben, rennen uns sämtliche Pressetussis und -heinis die Bude ein, laden uns zum Mittagessen ein, zum Abendessen, zu Wochenenden auf dem Land, stellen oder legen sich persönlich zu unserer Verfügung, und alles nur, damit ihre Autoren es schaffen.» «Das klingt gar nicht so übel, wie es klingt», sagte ich. «Nun ja, Sie sind noch jung», sagte Mr. Margin. Gleich am nächsten Morgen ließ Mr. Margin die Redaktion in seinem Büro antreten. «Trotz unserer Vorbehalte», sagte er und bezog sich dabei auf die Tatsache, daß die Idee weder von ihm war noch seinen Neigungen entsprach, «sehe ich eigentlich keinen Grund, warum wir die Sache nicht mit Geschmack und Witz durchziehen sollten. Es ist ein Allgemeinplatz, daß eine Zeitschrift nicht per Volksabstimmung herauszugeben ist, aber in diesem Fall wünsche ich mir eine Gemeinschaftsleistung. Die von uns zu erarbeitende Liste sollte sowohl vertretbar als auch originell sein, verantwortungsbewußt, aber nicht verkrampft, sollte gleichermaßen Überraschungen wie feste Überzeugungen widerspiegeln, auf einem bestimmten Begriff von Ästhetik basieren, aber auch die Ausnahmen akzeptieren, sollte amerikanisch, aber nicht borniert sein, Traditionen ebenso berücksichtigen wie experimentelle…» Mit solchen Sachen war Mr. Margin einfach unschlagbar. Es kam natürlich vor, daß er sich in seiner eigenen Rhetorik verhedderte. Aber dennoch kam er schließlich auf den Punkt: «…Ich möchte also, daß jeder einzelne von Ihnen seine -43-
eigene Liste der fünfundzwanzig besten amerikanischen Autoren erstellt. Und ordnen Sie Ihre Wahl bitte in alphabetischer Reihenfolge. Über die Rangfolge eins, zwei, drei, vier dürften wir uns früher, als uns lieb ist, den Kopf zerbrechen. Im Augenblick geht es mir nur um die groben Umrisse Ihrer Vorstellungen. Und noch eins: Weil wir die Sache mit einem Minimum an äußeren Einflußnahmen bewältigen sollten, schlage ich vor, daß aus der Redaktion nichts nach außen dringt.» Leichte Unruhe kam auf, und Mr. Margin ließ den Blick dringlich um den Tisch schweifen. «Gehe ich recht in der Annahme, daß einige von Ihnen bereits zum Telefon gegriffen haben?» Es gab keine Dementis. «Sei's drum», sagte er seufzend. «Frank», er nickte in meine Richtung, «ist von seinen regulären Aufgaben entbunden, um die Angelegenheit zu einem zügigen und befriedigenden Ergebnis zu bringen. Bitte übergeben Sie ihm Ihre Listen so bald wie möglich.» Wie nicht anders zu erwarten, verkündete am nächsten Morgen The Post auf Seite sechs, daß Belles Lettres in Kürze die fünfundzwanzig besten Schriftsteller Amerikas küren würde, und fügte hinzu - meiner Meinung nach maliziös -, Nominierungen könnten telefonisch oder persönlich beim Redakteur Jonathan Margin eingereicht werden. Am folgenden Tag schrieb Edwin McDowell in der New York Times einen Artikel, der besagte, daß entgegen den im Literaturbetrieb kursierenden Gerüchten die Zeitschrift Belles Lettres nicht - er wiederholte auch noch dies «nicht» plane, die fünfundzwanzig besten Schriftsteller Amerikas auszuwählen. Gleichwohl schrieb er am -44-
nächsten Tag einen zweiten Artikel, der darauf hinauslief, daß Belles Lettres sehr wohl eine solche Liste veröffentlichen würde; die Verwirrung habe sich ergeben, weil der zuständige Redakteur Jonathan Margin in einem Telefoninterview nachdrücklich dementiert habe, die Leserschaft zu Nominierungen aufzufordern. Die Intelligencer-Kolumne der Zeitschrift New York brachte eine Meldung, gemäß der Belles Lettres, «die einflußreiche, literarische Wochenzeitschrift, wie von der Times erst dementiert und dann bestätigt, auf jeden Fall die fünfundzwanzig amerikanischen Topautoren benennen wird. Innerhalb der Führungsriege von Protean Publications, Eigentümer von Belles Lettres, setzt man voll auf die Idee, um die als lustlos empfundene Linie des Chefredakteurs Jonathan Margin aufzufrischen. Die Auswahl der fünfundzwanzig Unsterblichen erfolgt seitens der kompletten Redaktion unter Federführung von Frank Page, des neuen Redaktionsassistenten bei Belles Lettres, an dem die Bosse von Protean anscheinend einen Narren gefressen haben.» In seiner Nation-Kolumne schrieb Alexander Cockburn: «Jonathan Margin, Chefredakteur des literarischen Schnarchblatts Belles Lettres, hofft darauf, uns alle mit seiner Version der fünfundzwanzig besten Autoren Amerikas zu wecken. Laß gut sein, Margin. Wir können sie im Schlaf herbeten. «Los geht's bei Bellow und endet bei Updike, und die Zehn-zu-eins-Wette gilt, daß Charles Bukowski es wieder mal nicht schafft. Schnarcht weiter in Frieden, o gläubige Leser der Schönen Literatur!» Nach wenigen Tagen hatte ich alle Listen eingesammelt und brachte sie Mr. Margin. -45-
«Wie sind sie denn?» fragte er. «Interessant.» «Das klingt ja geheimnisvoll.» «Eigentlich nicht. Sehen Sie selbst!» Das tat er dann auch und las, aus rhetorischen Gründen, die Liste der Büroleiterin Lou Bodoni laut vor: «John Ashbery, Ingrid Bengis, Paul Bowles, Rita Mae Brown, Susan Brownmiller, Guy Davenport, Marilyn French, Marilyn Hacker, Jill Johnston, June Jordan, Paule Marshall, James Merrill, Kate Millett, Robin Morgan, Marge Piercy David Plante, Adrienne Rich, Paul Robinson, May Sarton, Alix Shulman, Kate Simon, Valerie Solanis, Gloria Steinem, Alice Walker, Edmund White.» Mr. Margin sah mich verblüfft an. «Zugegeben», sagte ich, «das ist schon ein Dokument.» «Ja», sagte er und schien für einige Sekunden in Nachdenken zu versinken. «Also», sagte er dann, «Sie wissen ja bestimmt, daß Lou Bodoni eine radikale Feministin ist.» «Das wußte ich nicht. Auf mich wirkt sie eher angenehm.» «Das Problem mit radikalen Feministinnen», sagte Mr. Margin, «besteht darin, daß sie zuerst Angst haben, die sie später in Haß umwandeln, und aus dem wird dann schließlich Verachtung. Sobald die ganze Angst in Verachtung verwandelt ist, können sie recht angenehm sein, eben wie Lou. Beobachten Sie sie mal, wenn es Streit zwischen zwei männlichen Redakteuren gibt. Dann umspielt ihre Lippen ein kleines, unwillkürliches Lächeln. Ich stelle mir vor, daß Stalin so gelächelt haben muß, als sich Roosevelt und Churchill in die Wolle bekamen. Aber -46-
falls Sie sich wundern sollten, warum mich derlei interessiert: Meine zweite Frau war eine radikale Feministin.» «Ist sie jetzt keine radikale Feministin mehr oder nicht mehr Ihre Frau?» «Ach, nicht mehr meine Frau», sagte er. «Ich hätte eigentlich noch ganz gern Kontakt zu ihr, aber sie arbeitet sich immer noch am Haß ab…. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß auf Virginia Wrappers Liste kein einziger Name von denen auftaucht, die Lou nennt?» «Das habe ich gemerkt», sagte ich. Er las, wiederum aus rhetorischen Gründen, Virginias Liste vor: «Nelson Algren, Louis Auchincloss, James Baldwin, Hortense Calisher, John Cheever, Edward Dahlberg.» (Mr. Margin machte eine Pause und fuhr fort.) «Joan Didion, J. P. Donleavy, William Gaddis, William Gass, Paul Goodman, Elizabeth Hardwick, Lillian Hellman, James Jones, Jack Kerouac, Harper Lee.» (Wieder legte er eine Pause ein.) «Alison Lurie, William Maxwell, Walker Percy, Reynolds Price, J. D. Salinger, Diana Trilling, Lionel Trilling, Robert Penn Warren und Thornton Wilder.» «Frank, haben Sie Virginia denn nicht gesagt, daß es eine Liste lebender Autoren sein soll?» «Ich dachte, das sei selbstverständlich.» «Ach so, na gut», sagte Mr. Margin. «Andererseits listet Chuckle Faircopy fast nur Halbtote auf. Von Bellow bis Updike, ganz so, wie der Bursche in der Nation geschrieben hat, der mit dem häßlichen Namen.» «Chuckles Liste hat mich wirklich überrascht», sagte ich. -47-
«Ich dachte, das würde die exzentrischste aus der ganzen Truppe. Übrigens, was treibt der eigentlich da in seiner Ecke, wenn er keine Überschriften für die Rezensionen schreibt?» «Mehr macht er nicht», sagte Mr. Margin und lehnte sich zurück. «Chuckle war schon vor meiner Zeit hier, und so weit ich weiß, hat er früher sehr viel für Belles Lettres geschrieben. Die Überschriften waren nur ein Teil seiner Aufgaben. Im Lauf der Zeit und mit zunehmendem Alter hat er sich dann aber ganz auf die Überschriften kapriziert. Hin und wieder zeigt er mir seine Manuskripte - zwanzig Seiten für eine Überschrift. Er hat mir erzählt, daß ihm manchmal, wenn er den ganzen Tag und auch noch abends zu Hause gearbeitet hat, die endgültige Version im Traum erscheint. Dann wacht er auf, notiert sie und kann vor lauter Aufregung nicht mehr einschlafen.» «Sind denn die Überschriften so gut?» fragte ich. «Mir kommen sie stinknormal vor», sagte Mr. Margin. «Neulich hat er mir eine gezeigt, an der er zwei Tage gearbeitet hat. Es ging um eine Rezension über eine Stadtgeschichte von New York City. Die Überschrift lautete: ‹So war New York›.» «Und was halten Sie von seinem unbescheidenen Vorschlag?» fragte ich. «Verdankt sich der etwa auch seinen Überschriften?» Zwischen Ralph Ellison und Allen Ginsberg hatte Chuckle sich selbst unter die fünfundzwanzig besten Schriftsteller Amerikas eingereiht. «Vor einigen Jahren», sagte Mr. Margin, «hat er ein paar Romane veröffentlicht. Sie erschienen und verschwanden. Als ich hier damals zur Probe eingestellt wurde, hat er mir Widmungsexemplare geschenkt. Ich habe sie nicht zu Ende gelesen, aber ich wußte natürlich, daß er auf meine Reaktion wartete, und da habe ich ihm schließlich gesagt, -48-
daß ich sie für gut und seriös hielt.» «War er damit zufrieden?» fragte ich. «Ich glaube schon, obwohl er hinzufügte: ‹und witzig›.» «Aber Sie haben sie nie gelesen?» «Nein. Aber verraten Sie ihm das um Himmels willen nicht!» «Natürlich nicht!» sagte ich. Ich hätte sie selber ja auch nicht gelesen. Chuckle, dessen Bruder Pavel vor mehr als zwanzig Jahren mit Winifred Buckram durchgebrannt war, war offensichtlich ein trauriger Fall. Er mußte Ende Fünfzig sein, ein großer, dünner Mann, dem die Haare ausgingen, mit Halbbrille und verwitterten Gesichtszügen. Ich wußte zwar, daß er für Belles Lettres die Überschriften schrieb, aber ich hatte keine Ahnung, daß er die ganze Woche lang nichts anderes tat. Wenn er sich grübelnd über seine Schreibmaschine beugte und plötzlich zügig zu tippen begann, war ich mir sicher, daß er mehr als Überschriften komponierte. «Tja, was machen wir jetzt, Frank?» «Wir müssen die Liste selber aufstellen. Wir übernehmen Chuckles Vorschläge, schmeißen die Penner raus, fügen drei oder vier Großmuftis dazu, sagen der Werbeabteilung, daß sie schon mal die Gerüchteküche brodeln läßt, und bringen das Scheißding mit einer kurzen, knackigen, bombastischen Einleitung.» Mr. Margin nickte und seufzte philosophisch. Die Versuchungen von Verlegerseite, die unsere Liste beeinflussen wollten (Mr. Margin hatte sie für unwiderstehlich gehalten), blieben aus. Ein zuckersüßes Werbemädchen lud mich allerdings zum Mittagessen ein, weil sie mit mir über einen ihrer Autoren diskutieren -49-
wollte. Ich erklärte ihr, was sie selber wissen mußte, daß die Redakteure von Belles Lettres keine Essenseinladungen aus der Verlagsbranche annehmen dürften. Sie fragte, ob das auch für Essen gelte, das aus Resten bestehe und von einer Amateurköchin in ihrem privaten Reich serviert würde. Ich sagte, daß ich das eher nicht glaubte, und so verabredeten wir uns. Aus keinem anderen Grund, als Mr. Margin zu amüsieren, erwähnte ich ihm gegenüber die Einladung. «Um welchen Autor geht's denn?» fragte er. Ich nannte den Namen. «Der kommt doch sowieso auf die Liste.» «Das habe ich ihr mehr oder weniger auch schon gesagt», sagte ich, «aber sie möchte eben gern mit mir reden.» «Ich habe den Verdacht, daß sie Sie auf ihre Abschußliste setzen will», sagte er, und am Morgen des Tages, an dem das Essen stattfinden sollte, erklärte er mir, daß ich zu viel gearbeitet hätte und den Nachmittag frei nehmen sollte. Es stellte sich dann heraus, daß sie nicht nur über ihren Autor reden, sondern ihn in der nächsten Woche heiraten wollte. Auf der Basis von Faircopys Liste erstellte ich eine eigene, fügte zehn Namen hinzu, damit Mr. Margin und ich genügend Verhandlungsmasse haben würden, und wenn man unseren Altersunterschied bedenkt, wurden wir uns schnell einig. Wir laborierten nur etwas länger an John Barth, Donald Barthelme und Thomas Pynchon herum. Ohne zu verraten, wer sich für wen stark machte, darf ich doch sagen, daß uns ein honoriges Tauschgeschäft gelang. Ich zeigte Chuckle die Liste, um ihm zu sagen, daß sie wesentlich auf seiner Auswahl beruhte, und um ihn -50-
schonend darauf vorzubereiten, daß sein Name fehlte. Er sagte, daß er nicht beleidigt sei, da er ohnehin bezweifelt habe, daß Mr. Margin oder ich seine Bücher gelesen hätten. Mr. Margin rief die Redakteure in sein Zimmer. Claire Tippin, seine Sekretärin, hatte Kopien der Liste gemacht und verteilte sie wie Speisekarten. «Zuerst einmal», sagte Margin, «möchte ich mich bei Ihnen für Ihre äußerst bedenkenswerten Vorschläge bedanken. In den letzten Wochen ist mir kaum eine interessantere Lektüre unter die Augen gekommen als Ihre Listen. Jede für sich war für mich die reinste Gehirngymnastik. Mir kommt es so vor, als hätte ich darin nicht nur Vorlieben und Hintergründe entdeckt, sondern auch das ernste Bestreben, den häufig genug verwirrenden Zusammenhang der amerikanischen Szene zu ergründen. Die Liste, die Sie nun in Händen halten, ist ein ausgewogener Kompromiß. Die ‹Ausgewogenheit› verdankt sich Frank und mir und hat vielleicht zwei oder drei Namen auf die Liste verholfen, die bei Ihnen nicht erwähnt worden sind. Es tut mir leid, daß die Liste nicht länger sein kann und nicht jeden einzelnen Schriftsteller enthält, der von dem einen oder anderen von Ihnen vorgeschlagen wurde. Eine derart komplette Liste wäre ein unschätzbares Dokument, weitaus interessanter als dies ‹Substrat›, das wir der Öffentlichkeit präsentieren werden. Eine solche Liste hätte nämlich den wahren Geschmack der Redakteure des einflußreichsten literarischen Publikationsorgans unserer Muttersprache offengelegt. Und bedenken Sie bitte auch: Angenommen, nur mal angenommen, uns läge solch eine Auswahl einer ähnlichen Gruppierung Londoner Intellektueller aus dem Jahr 1616 vor, Shakespeares Todesjahr. Es wäre ein ideengeschichtliches Dokument ersten Ranges!» -51-
So redete Mr. Margin noch eine ganze Weile und bat schließlich um Diskussionsbeiträge. «Warum steht Mary McCarthy, die ihr halbes Leben in Frankreich verbracht hat, auf einer Liste der besten Schriftsteller in Amerika?» «Mit ‹in Amerika›», sagte Mr. Margin, «meinen wir im wesentlichen ‹amerikanische Staatsbürger›. So wie auch I. S. Singer auf der Liste erscheint, obwohl er erst als junger Erwachsener einwanderte und nicht auf Englisch schreibt.» «In dem Fall wäre George Steiner ein amerikanischer Staatsbürger, der in England lebt. Warum steht er nicht auf der Liste?» Mr. Margin nickte mir zu, die Antwort zu geben. «Aus vielen Gründen.» «Wenn wir mit ‹die besten› ‹die wichtigsten› meinen, dann sollte auf jeden Fall auch Michael Harington auf der Liste stehen.» «Es tut mir wirklich leid, sagen zu müssen, daß ‹die besten› schlicht ‹die besten› meint», sagte Mr. Margin. «Ich habe das Gefühl, daß wir vorsätzlich engagierte Schriftsteller ausgeklammert haben. Norman Podhoretz ist doch mit Sicherheit so einflußreich wie jeder andere Schriftsteller in Amerika.» «Dann hätten wir auch Irving Kristol und Hilton Kramer aufnehmen müssen», sagte ich. «Das könnte Ihnen doch auch nicht recht sein.» -52-
«Es sind keine Kritiker auf der Liste. Ich möchte Alfred Kazin noch einmal nominieren.» «Noch einmal?» fragte Mr. Margin. «Schließen wir eigentlich experimentelle Autoren aus?» «Nach meinem Verständnis», sagte Mr. Margin, «ist ein experimenteller Autor ein Autor, dessen Experiment gescheitert ist.» «Und wo bleibt Renata Adler?» fragte jemand. Das schien niemand zu wissen. Mr. Margin und ich überreichten Mary Tooling die Liste. Sie bestellte uns am nächsten Tag in ihr Büro. «Wollen Sie wissen, was mein Mann dazu gesagt hat?» Wir nickten. «Mein Mann hat gesagt - entschuldigen Sie bitte meine Ausdrucksweise -, aber mein Mann sagt: ‹Harold Brodkey kennt doch keine Sau. Und wo zum Teufel bleibt Herman Wouk?›» «Was Brodkey betrifft», sagte Mr. Margin, «dachten wir, daß ein paar abgelegenere Namen der Liste ein gewisses… Flair verschaffen.» «Und wo bleibt Herman Wouk?» fragte Mrs. Tooling. «Es gibt viele Schriftsteller in Amerika», sagte Mr. Margin. «Okay, aber was mich betrifft», sagte Mrs. Tooling, «wo zum Teufel bleibt…» und sie erwähnte fünf Schriftsteller, die ihrer Meinung nach auf die Liste gehörten. «Wenn Sie es wünschen», sagte Mr. Margin. «Ich wünsche es», sagte Mrs. Tooling. «Aber stellen Sie sie nicht ganz nach oben. Mogeln Sie sie irgendwie -53-
dazwischen. Und noch etwas: Dies ist eine alphabetische Reihenfolge. Die Rede war aber von eins, zwei, drei, vier.» «Tool», sagte Mr. Margin, «das ist unmöglich. Wer ist besser, Bellow oder Updike? Mailer oder Roth? Das läßt sich unmöglich entscheiden.» «Entscheiden Sie sich!» sagte sie und erhob sich zum Zeichen, daß wir entlassen seien. Wir behalfen uns damit, daß wir die letzten zwölf Namen auf der alphabetischen Liste zwischen die ersten dreizehn mischten. Dann plazierten wir die letzten elf dieser durchgemischten Liste über die ersten vierzehn. Ein Experte für Geheimcodes hätte vielleicht entschlüsselt, was wir getan hatten, aber niemand sonst. Der Rest ist natürlich Geschichte. Wie Mrs. Tooling prophezeit hatte, wurde die Liste weltweit kommentiert. Ich bringe sie hier zu Meditationszwecken noch einmal zum Abdruck: «Allen Ginsberg, John Updike, John Hawkes, Kurt Vonnegut, Edward Hoagland, Eudora Welty, John Irving, Richard Wilbur, Mary McCarthy, Herman Wouk, Norman Mailer, Woody Allen, Bernard Malamud, Donald Barthelme, James A. Michener, Jacques Barzun, Arthur Miller, Saul Bellow, Lewis Mumford, Thomas Berger, Philip Roth, Peter De Vries, I. B. Singer, E. L. Doctorow und Anne Tyler.» The Times of London schrieb: «Eine erstaunliche Bestätigung des amerikanischen Reichtums! Diese Erhebung schreit geradezu: ‹Fülle!› England, Dein Sprößling ist Dir über den Kopf gewachsen.» L'Express: «Für Kenner der amerikanischen Literatur -54-
bergen diese fünfundzwanzig Namen keine Überraschung. Die Rangfolge freilich schon! Sie ist das reinste Spiel von These und Antithese, voller Witz und Häme und dennoch überaus treffend! Daß ausgerechnet Ginsberg, der Säulenheilige der Sechziger Jahre, als führender amerikanischer Schriftsteller dasteht! Und daß er vor dem großartigen Updike rangiert! Was für ein Skandal! Was für eine Weisheit!» Literaturnaya Gazeta: «Fünfundzwanzig angepaßte Schriftsteller. Wo bleiben diejenigen, die die entscheidenden Fragen stellen? Wo bleiben Robert Coover, Gore Vidal, Seymour Krim?» Nachdem alles vorbei und ein großer Erfolg war, gratulierte ich Chuckle Faircopy noch einmal zu seiner ursprünglichen Liste. «Soll ich Ihnen mal was sagen?» sagte er. «Ich habe sie einfach aus den biographischen Stichworten abgeschrieben», und dabei zog er ein Exemplar des American Heritage Lexikons aus dem Regal. «Hier werden etwa fünfundzwanzig lebende, amerikanische Schriftsteller erwähnt, und die fünfundzwanzig habe ich ausgewählt.» «Vierundzwanzig», sagte ich. Er lächelte versonnen und sagte: «Es wird ja noch weitere Auflagen geben.»
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IV Mr. Margin und Frau 1 Ich saß mit Mr. Margin beim Mittagessen. Als die Getränke serviert wurden, sagte er: «Frank, waren Sie schon mal verliebt?» «Na klar», sagte ich. «Es ist eine unheimliche Erfahrung.» «Das kann man wohl sagen.» «Unheimlich», sagte er, und mir dämmerte, daß mein Verliebtsein nicht mit seinem Verliebtsein vergleichbar sein sollte. Also sagte ich: «Irgendwie schon unheimlich.» «Mir ist es viermal passiert», sagte er. «Viermal!» «Beim ersten und dritten Mal habe ich die Frau geheiratet.» «Und beim zweiten Mal?» «Ich denke oft, daß ich beim zweiten Mal auch hätte heiraten sollen.» «Und warum haben Sie nicht?» «So merkwürdig es klingen mag, aber sie schien mir einfach zu nett zu sein.» «Zu nett?» sagte ich und heuchelte Überraschung. Oder, um es anders auszudrücken, ich war überrascht, daß er sich selbst so gut einschätzen konnte. Einer seiner Freunde und Altersgenossen hatte mir erzählt, daß seine erste Frau ihn sehr rüde behandelt hatte und wohl auch nicht ganz dicht war. Sie legte ihm tote Vögel unters Kopfkissen. -56-
«Ich fragte ihn», erzählte der Freund, «wie er reagiert habe, als das passierte, und er sagte, daß er zu ihr gesagt habe: ‹Louise, was ist das denn?›, und sie antwortete: ‹Weißt du etwa nicht, was das ist, Jonathan?›, und er sagte: ‹Es ist ein toter Vogel›, und sie sagte: ‹Wenn du weißt, daß es ein toter Vogel ist, warum fragst du mich dann?›, und er sagte: ‹Ich meine, warum hast du ihn mir unters Kopfkissen gelegt?›, und sie sagte: ‹Wenn du das nicht selber weißt, kann ich dir auch nicht helfen.›» Die zweite Frau war die radikale Feministin, und als Mr. Margin einmal betrunken war, hatte er mir erzählt, daß sie die Beine zusammenpreßte, wenn sie mit ihm schlief. Ich fragte ihn, wie das überhaupt möglich sei, und da sagte er: «Ja, eben.» «Aber sie sprachen von vier Frauen», sagte ich. «Ich bin jetzt wieder verliebt», sagte er, und darin schwang eine Mischung aus Stolz und Verlegenheit mit. «Das ist ja toll!» sagte ich. «Ich bin verliebt in», und er legte eine für ihn untypische, theatralische Pause ein, «Claire.» Claire Tippin, Mr. Margins Sekretärin, war das Idealbild einer Sekretärin, stets gut gelaunt, kompetent, korrekt wie ein Butler und, wie Barry Vellum es ausdrückte, mit Zugspitzen-Titten. «Vermutlich fragen Sie sich jetzt, wie das passieren konnte.» «Allerdings.» «Das ist schon eine verrückte Geschichte», sagte er, lächelte seinen Drink an und rührte darin herum, bis das Glas überschwappte. «Angefangen hat alles im Büro an einem Montagabend. Außer mir und Claire waren schon alle weg…» -57-
Ehrlich gesagt, war es eine ziemlich alltägliche Geschichte. Anscheinend hatten sie nach jenem ersten, schicksalhaften Montag auch alle weiteren Abende der Woche in der Redaktion verbracht. Zu ihr konnten sie nicht gehen, weil sie eine Freundin zu Besuch hatte, und zu ihm konnten sie nicht gehen, weil die radikale Feministin, seine ehemalige Frau, immer noch einen Schlüssel hatte und gelegentlich aufzutauchen pflegte. Also trieben sie es, was auch immer es war, im Büro. Ich muß nicht betonen, daß Mr. Margin keine Details verriet, aber die Details kannte ich bereits von anderen Redaktionsmitgliedern, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen ausplauderten. «Sie kennen doch den alten Morris-Sessel im Abstellraum…» Nach dieser Woche in der Redaktion verreisten sie Samstag und Sonntag gemeinsam und verbrachten dann während der folgenden Woche die Nächte in ihrer Wohnung, aus der sie die Besucherin endlich herauskomplimentiert hatte. Anschließend flog sie für zehn Tage allein nach Hawaii. «Die Reise war schon lange geplant», sagte Mr. Margin. «Sie konnte sie nicht mehr stornieren. Nachdem sie abgereist war, dachte ich erst, daß wir lediglich eine heftige und plötzliche gegenseitige Anziehung ausgelebt hatten, und um ehrlich zu sein, freute ich mich darauf, allein zu sein und sozusagen über alles in Ruhe nachdenken zu können, aber schon am nächsten Tag war ich total durcheinander. Ich hatte mich verliebt, zum vierten Mal in meinem Leben. Das Verblüffende ist aber nun, daß Claire an ihrem ersten Tag in Hawaii genau das Gleiche empfand. Ihr wurde klar, daß sie verliebt war. Was mich anging, wollte ich mich ihr gegenüber unbedingt erklären. Ich wußte nicht, wo auf Hawaii sie sich aufhielt. Ich besorgte mir per Auskunft die -58-
Telefonnummer ihrer Mutter, aber sie wußte gar nicht, daß Claire nach Hawaii geflogen war.» «Hat Claire Sie angerufen?» fragte ich. «Nein, aber sobald sie wieder da war, bin ich über sie hergefallen.» «Und daß Sie über sie hergefallen sind, hat ihr gefallen», sagte ich. «Ja, und so ist das also passiert.» «Ich finde das einfach toll», sagte ich. «Verliebt zu sein…» «…und wiedergeliebt zu werden.» «Mehr kann man nicht erwarten.» «Nein», sagte Mr. Margin. Aber da war noch etwas. «Da wäre noch etwas», sagte Mr. Margin. «Etwas, was ich tun könnte?» «Sie ist mit einer Begleitperson nach Hawaii geflogen, was sie auch ohne weiteres zugegeben hat. Die Reise war ja schon seit Monaten geplant, die Tickets gebucht, die Hotelreservierung…» «Das sagten Sie schon.» «Es blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als zu fliegen.» «Und sie flog mit einem Mann?» «Das weiß ich ehrlich gesagt nicht», sagte Mr. Margin. «Sie will es Ihnen nicht sagen?» «Nicht, daß sie es mir nicht sagen will. Sie will es nur nicht mit mir diskutieren. Sie sagt, es habe mit ‹unserer Zweisamkeit› nichts zu tun, was ja einerseits völlig einleuchtend ist… Frank, ich werde von Obsessionen heimgesucht.» -59-
«Das kann ich gut verstehen.» «Sie haben es ja selbst gesagt - warum hat sie mich nicht angerufen, als ihr klar wurde, daß sie mich liebt?» Fast hätte ich gesagt, daß sie vielleicht zu beschäftigt gewesen sei. Doch statt dessen sagte ich: «Aber warum machen Sie sich denn jetzt Sorgen? Die Reisevorbereitungen sind doch schon vor langer Zeit getroffen worden. Was gewesen ist, ist gewesen, das Wichtigste sind die Gegenwart und die Zukunft.» «Das hat sie fast wortwörtlich selbst gesagt.» «Und das stimmt ja auch», sagte ich. «Ich weiß, daß es stimmt, aber…» «Wollen Sie, daß ich es in Erfahrung bringe?» «Frank, das ist mir furchtbar peinlich. Wenn ich nicht genau wüßte wie… menschlich Sie sind…» «Und wie soll ich das anstellen?» «Tja», sagte er, und hatte also einen Plan. «Laden Sie sie zum Mittagessen ein.» Ich nickte. «Erzählen Sie ihr, daß Sie nach Hawaii fliegen.» Ich nickte erneut. «Bitten Sie sie um Tips. Welches Hotel, welche Inseln. Ich kenne sie. Sie müssen nichts anderes tun, als das Thema anzuschneiden und zuzuhören. Dann ergibt sich der Rest von selbst…» Er machte eine Pause vor lauter Peinlichkeit, aber nicht, weil er mich um Hilfe bat, sondern weil er mich dazu aufforderte, sie auszutricksen. Dennoch sagte er: «Würden Sie mir helfen?» «Natürlich», sagte ich. «Ich werde tun, was ich tun kann. Aber ich regle das auf meine Weise.» «Ich verstehe», sagte er. -60-
«Es ist nicht so, daß ich Ihrer Methode nicht folgen will, aber das ist einfach nicht meine Art. Ich versuche es auf meine Weise. Sie können mir vertrauen!» «Ich vertraue Ihnen», sagte er, nickte vor sich hin, als müsse er sich vergewissern, daß ich seine Liebesaffäre nicht ruinieren würde - und ihn gleich mit. «Und jetzt reden wir über andere Dinge», sagte ich und hob mein Glas, um auf meinen Vorschlag anzustoßen. «Auf andere Dinge!» sagte er. Man lädt eine Sekretärin nicht einfach so zum Mittagessen ein, wie man einen Redaktionskollegen einladen würde, jedenfalls nicht, wenn die Sekretärin so aussieht wie Claire Tippin. Wenn man es täte und sie annähme, wenn dann der Moment käme, da man gemeinsam die Redaktion verließe, gemeinsam wartend vor dem Aufzug stünde, benebelt vom Scheiß-egal-jetztBrandy-zum-Kaffee eine Stunde zu spät gemeinsam in die Redaktion zurückkehrte, dann würde man von allen komisch angeglotzt und würde komisch zurückglotzen. Wenn man also entsprechende Absichten hätte, lüde man sie nicht zum Mittagessen ein, sondern wartete einen Abend ab, an dem sie Überstunden machte, näherte sich ihr und sagte: «Jetzt könnte ich gut einen Drink gebrauchen. Wie steht's mit Ihnen?» Vermutlich hatte es genau so mit Claire und Mr. Margin angefangen, nur daß ich den Verdacht hegte, daß Claire gewartet und sich ihm genähert hatte. Wie dem auch sei - ich löste das Problem, indem ich sie zum Mittagessen einlud, während Barry Vellum und Mr. Margin persönlich an ihrem Schreibtisch standen, und da Barry mir keinen Seitenblick zuwarf, wurde die Einladung wohl als harmlos verstanden, außer vielleicht von Claire, die sich, glaube ich, wunderte, warum ich sie vor all -61-
diesen Leuten zum Mittagessen einlud. Während wir uns im Restaurant unterhielten, bemühte ich mich, sie vor falschen Schlußfolgerungen zu bewahren. Ich erwähnte Freundinnen, damit sie nicht auf die Idee käme, von mir angebaggert zu werden; als sie auf die Redaktion zu sprechen kam, wechselte ich das Thema, damit sie nicht dachte, daß es mir um Klatsch und Tratsch ging; ihre Frage, ob ich glaubte, daß alle in der Redaktion «jobmäßig an der richtigen Stelle» säßen, bejahte ich, damit sie nicht dachte, daß ich sie darauf abklopfte, ob sie anderweitig einzusetzen wäre (als diese Wendung des Gesprächs ins Leere lief, glaubte ich, bei ihr eine leichte Enttäuschung zu spüren). Warum ich sie nicht zu falschen Schlußfolgerungen kommen lassen wollte, ist mir selber nicht ganz klar. Vielleicht kam ich mir von Anfang an allzu doppelzüngig vor, indem ich Mr. Margins Mission betrieb. Jedenfalls unterliefen mir zwei Unehrlichkeiten. Die erste war, daß ich lebhaftes Interesse an ihrer Reise äußerte. Ich lächelte und lächelte und erfuhr mehr als ich wissen wollte über Flora und Fauna, Himmel, Strände, Wetter und Bewohner Hawaiis. Meine zweite Unehrlichkeit war die Bemerkung: «Haben Sie sich da nicht einsam gefühlt?», was sie verneinte, da sie mit einer anderen Person gereist sei, die sogleich ein Teil ihrer Geschichte wurde. «Die Person» und «dieser Person» tauchte zwei, drei, vier Mal anstelle von er, sie, ihm, ihr, seiner, ihrer in solchen Sätzen auf, die normalerweise nach dem einschlägigen Personalpronomen verlangt hätten. Es war eine virtuose Vorstellung im Vermeiden geschlechtlicher Eindeutigkeit, woraus ich schloß, daß die Person männlich und ausgesprochen heterosexuell gewesen sein mußte. Beim Kaffee verblüffte sie mich -62-
dann, indem sie die Augen niederschlug und sagte: «Sie stehen Mr. Margin sehr nah, nicht wahr?» Das glaubte ich schon, sagte ich. Und da sagte sie: «Ich auch», und berührte meinen Handrücken mit den Fingerspitzen. Sie hatte meine Absicht durchschaut, wollte mich beruhigen und wollte auch, daß ich Mr. Margin beruhigte. Ich habe vielleicht den Eindruck vermittelt, daß Claire eine üppige Frau war. Aber abgesehen vom ZugspitzenEffekt war sie eher zierlich, feinknochig, mit zarten Handgelenken und Botticelli-Händen. Sogar ihr Gesicht hatte diesen ernsten und offenen Botticelli-Ausdruck, der auf mich wie eine sehr anziehende Mischung aus Schönheit und Dummheit wirkt. Nachdem sie meinen Handrücken berührt hatte, fragte ich mich, ob sie mir ihren Kopf wie eine Katze entgegenrecken würde, wenn ich ihr jetzt mit der Hand Wangen und Hals streicheln würde. Dann hatte ich plötzlich die Phantasie, daß sie ihren Mund öffnen würde, aber nicht, um mich zu beißen, sondern um mir die Hand abzulecken. Und da wußte ich, daß sie Mr. Margins Eifersucht würdig war und beschloß, das mir Mögliche zu tun, damit er sie für sich behalten konnte. Am Tag nach meinem Treffen mit ihr wollten Mr. Margin und ich eigentlich zusammen Mittagessen, aber er konnte es nicht abwarten und lud mich schon am gleichen Abend zu einem Drink ein. Ich erzählte ihm zwar mehr oder weniger alles, was sie gesagt hatte, verschwieg jedoch, wie angestrengt sie versucht hatte, das Geschlecht der Person zu verschleiern, und sagte einfach, daß ich es nicht herausgefunden hätte. Ihre zärtliche Bemerkung hob ich mir für den Schluß auf, und als ich sie dann zitierte, sah er selbst ein bißchen wie ein Botticelli aus. Aus Dankbarkeit berührte er sogar meinen Handrücken. -63-
Zwei Wochen später bat mich Mr. Margin am Montagmorgen, in seinem Büro Platz zu nehmen, und sagte: «Sie kennen mein Prinzip, daß jedes Redaktionsmitglied eigene Texte für die Zeitschrift beisteuern kann, soweit es seinem Status angemessen ist.» Ich nickte. Es lag etwas in der Luft. «Alle sollen entschieden das Gefühl haben, daß er oder sie Teil des Teams sind.» Ich nickte wieder. «Und wenn nun hin und wieder jemand unter der Voraussetzung, der jeweiligen Aufgabe gewachsen zu sein, einen Artikel schreibt, ein Buch rezensiert, gibt es keinen Grund, warum er oder sie sozusagen nicht ‹die Sache in die Hand nehmen sollte›. O ja, ich weiß sehr wohl, daß es Redakteure gibt, die auf dem Standpunkt stehen: ‹Wir sind die Redakteure, die anderen die Autoren.› Aber dem stimme ich nicht zu. Ich denke, daß Redakteure, wenn er oder sie selber zur Feder greifen, zu schreiben lernen und damit auch lernen, wie sie als Redakteur…» Was mich betraf, hatte ich inzwischen gelernt, wie man Mr. Margin auf die Sprünge half. Meistens reichte es schon, ein bißchen auf dem Stuhl herumzurutschen oder sich am Fußgelenk zu kratzen. Diesmal geriet mir etwas ins Auge. Ich zog und zupfte an meinem Lid herum und ließ die Augäpfel rollen. «Kommen Sie zurecht?» fragte Mr. Margin und lehnte sich vor. «Brauchen Sie ein Taschentuch?» Mit spitzen Fingern zog er eins aus seiner Brusttasche und hielt es mir hin. «Alles klar», sagte ich, nahm das Taschentuch und rollte weiter mit den Augen. «Schon weg», sagte ich und wischte mir den Augenwinkel aus. «Puh!» stöhnte ich. -64-
Mr. Margin ließ mir Zeit, mich zu sammeln, und sagte dann: «Um auf den Punkt zu kommen: Claire hat mich um den neuen Graham Greene gebeten.» Ich nickte. «Nicht um ein Exemplar des Buchs», sagte er, «sie möchte es rezensieren.» «Rezensieren!» sagte ich. «Rezensieren», sagte er. «Ist Claire dem wirklich gewachsen?» «Sehen Sie doch einmal selbst», sagte er und zog aus seinem Schreibtisch ein fünf- bis sechsseitiges Typoskript. «Sie meinen, sie hat schon?» «Ja», sagte er, «so schlecht und recht.» Claire war die perfekte Tippse, aber diese Seiten wimmelten von handschriftlichen Einschüben, Streichungen und Ersetzungen mit zahlreichen Umstellungspfeilen. Die Seiten sahen wie Ausschnitte einer Straßenkarte aus. Natürlich handelte es sich bei den Eingriffen um Mr. Margins Versuch, die Sache hinzubiegen. «Würden Sie sich das einmal durchlesen?» fragte er so behutsam wie möglich. «Natürlich.» «Und würden Sie auch versuchen», fügte er hinzu, «aus meinen Kritzeleien zum…» «… Kern der Sache vorzustoßen?» schlug ich vor. «Le cliché juste», sagte er mit untröstlichem Lächeln. Claire war zweifellos eine ehrgeizige, junge Frau. Ich erinnerte mich, daß sie schon früher versucht hatte, von Lou Bodoni entdeckt zu werden, Büroleiterin und kesser -65-
Vater von Belles Lettres. Lou reagierte begeistert, und zwischen den beiden ging wie in einer Wechselstube eine ganze Weile allerlei Papier hin und her. Später erfuhr ich, daß das Papier mit Claires literarischen Versuchen bedeckt war, die von Lou lektoriert, von Claire überarbeitet und erneut von Lou lektoriert wurden - und so weiter. Lou sagte sogar eines Tages zu mir: «Wissen Sie, Claire hat hier wirklich was drin», und tippte sich dabei an die Stirn. Und nicht nur da drin, dachte ich, sagte aber nichts, weil ich wußte, wie sehr Lou es genoß, aus Männern das Schlechteste herauszuholen. Jedenfalls befand sich Lou nicht in der Position, die es ihr ermöglicht hätte, Claire mit mehr als guten Ratschlägen weiterzuhelfen, während Mr. Margin sie tatsächlich protegieren konnte. Zumindest würde er es eventuell können, und genau das war's, worüber wir nachzudenken hatten. Ihre Rezension war noch konfuser, als ich befürchtet hatte. Ich selbst hatte den neuen Graham Greene noch nicht gelesen. Offenbar hatte sie sich die Druckfahnen unter den Nagel gerissen, als sie in der Redaktion angekommen waren, hatte sie mit nach Hause genommen und übers Wochenende ihre Rezension geschrieben. Bislang hatte ich auch noch nichts von Belang über das Buch gelesen. Also war ich genauso ahnungslos, wie jeder Belles Lettres-Abonnent es sein würde, aber nachdem ich Claires Text durchgegangen war, hatte ich immer noch keinen blassen Schimmer, worum es in dem Buch überhaupt ging. In diesem Gewerbe entdeckt man das schlecht Geschriebene in diversen Varianten. Es gibt die Variante mit simplen Fehlern: induzieren statt implizieren, überflüssig statt im Überfluß, desinteressiert statt uninteressiert, irisieren statt irritieren. Als Redakteur ist man derlei gewöhnt, und obwohl man sich fragt, wieso -66-
solche Autoren weiter schreiben wie sie schreiben, versteht man doch, wieso sie dennoch reüssieren können als Redakteur unterstellt man, daß der Überfluß an Fehlern desinteressierte Lehrer impliziert, ist darüber nicht allzu irritiert und korrigiert die Fehler. Weiterhin gibt es die schwungvollen Schreiber, die sämtliche Gepflogenheiten der Sprachkonvention vom Tisch wischen. Mit diesen schlechten Autoren ist der Umgang schwierig, weil nicht mehr viel übrig bleibt, nachdem die Tautologien gestrichen, die Redundanzen ausgemerzt und die Anschlußfehler zur Logik gerufen worden sind; und der Redakteur, der den Text ursprünglich vielleicht in dem Geiste gelesen hat, in dem er geschrieben wurde, wundert sich über seine frühere Begeisterung. War's der Martini während der Mittagspause, die späte Stunde oder die Nachsicht, die um so milder stimmt, je länger man diesen Dienst am Text betreibt? Weiterhin gibt es den ambitiösen Autor, der Empathie statt Sympathie und ich persönlich statt ich benutzt; sein Glück mit spirituell statt religiös versucht, mit zentral statt wichtig, mit moppsig statt mollig (Barry Vellum verteidigte moppsig als Beschreibung einer Frau mit dicken Möppsen); und in jedem Satz Platz für in der Tat findet. Merkwürdigerweise ist dieser Mangel an Eleganz meistens dem Drang nach Eleganz geschuldet und befriedigt bei der Korrektur stärker als fast jeder andere Eingriff das Bedürfnis des Redakteurs nach Selbstachtung. Als dieser Drang einmal das Wort Impedimentiae hervorbrachte, für das die Redaktion den rhetorischen Begriff des «Doppelplural» erfand, ließ sich Mr. Margin dazu überreden, das Wort als Kuriosität in der Rezension zu belassen. Um Fehler zu korrigieren, muß der Redakteur allerdings -67-
verstehen, was der Autor sich beim Schreiben gedacht hatte. Normalerweise ist das einfach, weil das schlecht Geschriebene meistens in der einen oder anderen Weise zum gesprochenen Wort tendiert, und die Intention des gesprochenen Worts ist klarer als jede noch so gute Prosa. Bei Claires Rezension wußte man dennoch nicht, was sie meinte. Zwei oder drei Sätze ging es akzeptabel dahin, aber dann schrieb sie etwa: «Die Charaktere dieses Buchs existieren von Gnaden ihres vorurteilsvollen Einflusses auf die Wirklichkeit», oder: «Gut und Böse funktionieren hier zum Nachteil der meisten, wenn nicht gar aller subjektiven Implikationen»; oder: «In Graham Greenes Welt müssen wir uns Erlösung als subsummierte Verdammnis denken.» Ich begann damit, eine Reinschrift (wenn ich das einmal so ausdrücken soll) von Claires Rezension zu tippen, damit ich mir ein Bild machen konnte, das nicht von Mr. Margins panischem Lektorat geschönt war. Ich nahm die Sache an drei aufeinanderfolgenden Abenden in Angriff, Dienstag nüchtern, Mittwoch beschwipst, Donnerstag betrunken, konnte mir aber keinen Reim darauf machen. Am Mittwoch begrüßte mich Mr. Margin mit hoffnungsfroher Ungeduld. Am Donnerstag hatte er offensichtlich eine schlaflose Nacht hinter sich. Am Freitag ließ ich es zu, daß er mich in sein Büro bat. Claires Schreibtisch stand direkt an der anderen Seite der Tür, weshalb er sie schloß. «Ist es so schlimm, wie ich dachte?» Ich nickte. «Schlimmer?» «Es ist wirres Zeug», sagte ich. «Kann man da gar nichts machen?» «Können wir ihr nicht einfach sagen, daß es -68-
unpublizierbar ist?» Mr. Margins Schweigen wirkte so schmerzlich, daß ich sagte: «Okay, ich kümmere mich darum.» «Geht das denn?» «Es geht.» «Sind Sie sicher?» «Ganz sicher.» «Ich frage Sie erst gar nicht, wie.» «Das gehört eben zu meinem Job, Mr. Margin.» «Das wüßte ich aber», sagte er. Ich besorgte mir ein Exemplar von Greenes Roman. Er hieß «Ein erbärmlicher Irrtum» und handelte von einem linksgerichteten israelischen Zeitungsjournalisten, der sich der palästinensischen Sache annimmt, indem er über die elenden Lebensbedingungen auf der West Bank berichtet. Die Reportagen werden in einem linksextremen, israelischen Blatt publiziert und in der ganzen arabischen Welt aufgegriffen und nachgedruckt. Der neue Premierminister der Arbeitspartei ist ein Jugendfreund des Journalisten, und als dieser für den Nobel-Preis nominiert wird, muß der Premierminister sich entscheiden, ob er dem Rat eines bestimmten Kabinettsmitglieds folgen soll, den Journalisten beseitigen zu lassen, oder eine Spaltung seiner Partei zu riskieren. Das Problem wird dadurch gelöst, daß die CIA den Auftrag erledigt, weil der Einfluß des Journalisten inzwischen auch die gemäßigten Araber gegen Israel aufwiegelt. Am Samstag schrieb ich eine Rezension, überarbeitete sie am Sonntag und gab sie, ohne von Claire bemerkt zu werden, gleich am Montag früh Mr. Margin.
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«Ganz ausgezeichnet», sagte Mr. Margin, «hat aber nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was Claire geschrieben hat.» «Sagen Sie einfach, daß Sie den Text etwas aufpoliert haben», sagte ich. «So blöd ist Claire nicht.» «Glauben Sie mir, Mr. Margin. Das ist genau das, was sie eigentlich sagen wollte.» «Aber es ist eindeutig Ihr Stil und Ihre Wortwahl.» «So ist es. Ich bin mir sicher, daß sie in meinem Stil schreiben wollte.» «Sie sind überheblich.» «Notwendigkeit ist die Mutter der Überheblichkeit.» Mr. Margin schwieg nachdenklich, aber zum ersten Mal, seit dieses Problem aufgekommen war, saß er wieder aufrecht auf seinem Stuhl. «Ich lasse mich darauf ein», sagte er. «Es wird funktionieren», sagte ich. «Natürlich», sagte er und seufzte den Seufzer der Erlösten. Als ich mittags zum Essen ging, sah ich, wie Claire die Rezension las, und als ich zurückkam, hörte ich an ihrem Tipp-Rhythmus, daß sie zufrieden war. Am Abend sah ich die beiden vor dem Gebäude und durfte davon ausgehen, daß ihr gemeinsames Abendessen entspannt ausfallen würde. Nachdem die Rezension erschienen war, rief Greenes amerikanischer Verleger an, erkundigte sich nach Claire Tippin und lud sie zum Essen ein, wo er ihr einen Brief -70-
Greenes präsentierte, aus dem hervorging, daß von allen Rezensionen des Buchs die von Belles Lettres die einzige vernünftige gewesen sei; aber Greene wies auch darauf hin, daß der Roman keine Nacherzählung der ChristusGeschichte sei, da es sich bei der Christus-Geschichte um eine positive oder negative Metapher für das Leben des Durchschnittsmenschen handele. «Wer Erlösung erheischt, vermeide das Naheliegende», lauteten des Briefs letzte Worte. Claire lieh sich den Brief aus und ging damit in der Redaktion hausieren. Greenes Verleger ließ die komplette Rezension als Anzeige in der New York Times nachdrucken, «im Dienste der Öffentlichkeit», und Claire gelangte in New York schlagartig zu bescheidenem Ruhm. Nichts von dem, was ich bislang geschrieben hatte, hatte je so viel Aufmerksamkeit erregt, und Mr. Margin war peinlich berührt, daß nicht mir die Anerkennung zufiel. «Ich kann Ihnen nicht mal eine Gehaltserhöhung geben», sagte er. «Ihre letzte Gehaltserhöhung hat Sie schon zum Spitzenverdiener in der Redaktion gemacht. Aber sagen Sie mir doch, was ich für Sie tun kann.» «Ich würde Sie gern zum Mittagessen einladen», sagte ich. «Ich hatte gehofft, daß wir einfach gemeinsam essen und plaudern können», sagte Mr. Margin, «aber ich fürchte, die Sache mit Claire ist noch nicht ausgestanden.» Er gab mir eine Nachricht von Mrs. Tooling: «Zwei Fragen: Seit wann beauftragen wir Sekretärinnen mit Buchkritiken? Und seit wann halten wir uns Leute, die solche Kritiken schreiben können, fünf Jahre lang als Sekretärinnen?» Unter die Nachricht schrieb ich: «Es überrascht mich sehr, daß ich ausgerechnet Sie an die gute Tradition bei -71-
Belles Lettres erinnern muß, Talente für Bürotätigkeiten einzustellen, damit sie uns und wir sie kennenlernen können. Claire Tippin war seit fünf Jahren Redaktionsmitglied, und zwar nicht nur als Sekretärin, sondern als Sekretärin des Chefredakteurs und somit in einer herausragenden Position, von der aus sie die Arbeitsweise der Zeitschrift beobachten konnte. Als wir sie einstellten, war sie erst (Alter:), also gewissermaßen noch ein Mädchen. Heute ist sie (Alter:), eine junge, gereifte Frau mit hinreichender Erfahrung, um größere Verantwortlichkeiten übernehmen zu können. Ich habe Claire seit langem genau beobachtet. Als sich die Chance bot, habe ich sie ermuntert, zuzugreifen. Sie ist nicht nur dem Vertrauen, das ich in sie gesetzt habe, gerecht geworden, sondern auch und besonders dem Glauben an sich selbst. Sie ist darüber hinaus der bei Belles Lettres gepflegten Tradition gerecht geworden, die ich oben erwähnte.» Mr. Margin las, was ich geschrieben hatte, und sagte: «Das kann ich unterschreiben, ohne ein einziges Wort zu ändern. Es gibt aber noch ein anderes Problem. Claire öffnet automatisch meine redaktionelle Korrespondenz und hat also die Nachricht gelesen. Mal angenommen, Sie wären Claire und würden jetzt dies hier lesen - was würden Sie dann tun?» «Wenn ich Claire wäre und die Nachricht gelesen hätte, wenn ich Claire wäre, und dies hier jetzt läse… dann würde ich mir den nächsten Updike reservieren lassen.» Mr. Margin war verblüfft. «Heute morgen wollte sie wissen, wann der nächste Updike erscheint.» «Wir könnten ihr dann wieder helfen.» «Nein, diese Maskerade muß ein Ende haben. » «Und was wäre die Lösung?» -72-
«Für's erste noch eine Flasche Wein.» Die Lösung kam vom Time Magazine in Form eines Angebots an Claire als festangestellte Autorin. Mr. Margin riet ihr, anzunehmen, machte ihr klar, daß ihr der Sekretärinnengeruch bei Belles Lettres ewig anhängen würde, und sie nahm an. «Aber wie will sie das schaffen?» fragte ich Mr. Margin. «Sie werden schon merken, daß sie nicht schreiben kann, und dann machen sie sie eben zur Redakteurin. Auf diese Weise bin ich übrigens selbst Redakteur geworden.» «Und was, wenn ich fragen darf, empfinden Sie bei dieser ganzen Geschichte?» «Daß Claire geht? Die Franzosen nennen den Liebesakt den kleinen Tod. Ein Franzose mittleren Alters, würde ich sagen, hat die Wendung geprägt, die nicht auf die ekstatische Erfahrung anspielt, sondern auf die Einsicht, daß es nicht immer so weitergehen kann.» Die Antwort hatte Niveau. An ihrem letzten Arbeitstag schmissen wir für Claire eine Party. Alles in allem war es ein Beweis des guten Willens. Es war schon lange her, daß Belles Lettres jemandem den Laufpaß zum Ruhm gegeben hatte. Es gab lediglich zwei Mißtöne. Lou Bodoni hatte eine Fabel mit dem Titel «Zwei Tittchen geben sich in Kauf» geschrieben, die sie auch vorlas. Und von Mrs. Tooling kam eine weitere Kurznachricht. Mr. Margin nahm mich beiseite, um sie mir zu zeigen. Die Frage lautete, warum Mr. Margin es zuließe, daß Claire Tippin, nachdem Mr. Margin sie «entdeckt» habe, zur Konkurrenz abwanderte, besonders im Licht der Tatsache, daß sich Protean Publications -73-
derzeit einer Sammelklage zu erwehren hätten, die von weiblichen Angestellten wegen diskriminierender Einstellungs- und Gehaltspraktiken erhoben werde. «Sagen Sie ihr, daß Sie nicht damit gerechnet hätten, daß sie die 63000 Dollar überbieten wollte, die Time zahlt.» «Bekommt Claire denn so viel?» fragte er. «Keine Ahnung. Aber es wird Mrs. Tooling das Maul stopfen.» Etwa einen Monat später fragte ich Mr. Margin, ob er noch Kontakt zu Claire habe. «Leider nicht», sagte er. «Und es war durchaus nicht meine Entscheidung.» «Tut mir leid», sagte ich. «Ja», sagte er, «und ich leide wohl unter einer merkwürdigen Mischung aus…» «Erinnerung und Begehren?» «Le cliché juste», sagte er.
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V Mr. Margin und Frau 2 Claire Tippins Nachfolgerin war eine überaus schlichte junge Frau namens Rose Cloth. Mr. Margin interviewte zwanzig Bewerber, die meisten Frauen, aber auch einige Männer. Gegen Ende verlor Phil Flush, unser Personalchef, die Geduld: «Sie sagen mir ja auch nicht, was Sie wirklich wollen, Margin. Sie lehnen die Leute einfach ab und sagen mir nicht, warum. Ich schicke Ihnen jetzt noch eine vorbei, aber dann ist Schluß.» Er schickte Rose Cloth, und Mr. Margin stellte sie ein. «Flush muß geglaubt haben, daß ich eine Wuchtbrumme suche», sagte Mr. Margin zu mir. «Aber eigentlich war es genau umgekehrt. Wenn eine auch nur halbwegs attraktiv war - physisch, meine ich -, habe ich sie sofort abgelehnt.» «Waren die anderen denn alle attraktiv?» «Lieber Himmel, nein! Haben Sie die Dicke gesehen? Die hat sich in meinem Büro eine Zigarre angesteckt.» «Von den jungen Männern sah aber keiner so aus, als rauchte er Zigarren», sagte ich. «Einer von denen war sehr hübsch», sagte Mr. Margin. «Der Blonde mit den kleinen Ohren?» «Die Ohren sind Ihnen also auch aufgefallen. Der hätte jedes Bürogeheimnis ausgeplaudert. Nein, Miss Cloth wird das schon richtig machen.» Sie machte gar nichts richtig. In Steno und Schreibmaschine konnte sie Claire nicht das Wasser reichen, aber das eigentliche Problem kam ans Licht, als -75-
ich eines Tages gemeinsam mit ihr das Gebäude verließ und sie fragte, wie sie zurecht komme. Sie sah nachdenklich aus, weshalb ich sie auch angesprochen hatte. «Mr. Page, darf ich Ihnen mal eine persönliche Frage stellen?» «Na klar.» «Was für ein Mensch ist Mr. Margin eigentlich?» «Was ist das denn für eine persönliche Frage? Und in welcher Hinsicht soll er was für ein Mensch sein? «In persönlicher Hinsicht.» «Er ist ein Mensch wie wir alle. Wenn Sie mir verraten, was Sie meinen, kann ich Ihnen vielleicht präziser antworten.» «Ich glaube, er tritt mir persönlich nah.» «Sie meinen, daß er Sie anbaggert?» «Ja.» Ich atmete tief durch. Hier lauerte ein Problem. Über Mr. Margin und Claire wußte jeder Bescheid. «Könnten Sie mir erklären, was Mr. Margin getan hat, daß Sie auf diese Idee kommen?» «Eine Frau fühlt so etwas.» «Ich verstehe, aber etwas präziser bitte.» «Wie er mich ansieht, was er zu mir sagt, sein Tonfall, seine ganzes Benehmen.» «Das ist allerdings viel.» «Ja, das ist wirklich sehr viel.» «Also, ich will Ihnen mal was sagen, Miss Cloth. Ich kenne Mr. Margin ziemlich gut, und so ist er einfach nicht.» «Vielleicht nicht Ihnen gegenüber», sagte sie und ließ -76-
mich stehen. An diesem Abend rief ich Mr. Margin in seiner Wohnung an und fragte, ob ich vorbeikommen könne. Wir wohnen in der gleichen Straße, aber zwischen uns liegt der Central Park. Ich hatte eine Sozialwohnung auf der West Side, er eine teure Eigentumswohnung auf der East Side. Gelegentlich hatte ich bei ihm schon zu Abend gegessen; gekocht und serviert wurde von einem kolumbianischen Ehepaar, das kein Englisch sprach. Heute abend führte er mich ins Wohnzimmer, wo Kaffee und ein Tablett mit Spirituosen bereit standen. Er war so überaus freundlich, daß ich das Thema Rose Cloth einstweilen nicht anschnitt. Aber Frauen lagen sozusagen in der Luft. «Wissen Sie, meine erste Frau hat mir diese Wohnung geschenkt.» «Das wußte ich nicht», sagte ich. Es mußte die Frau mit den toten Vögeln gewesen sein. «Ja, nachdem sie mich verlassen hat, hat mir ihr Anwalt die Unterlagen geschickt, aus heiterem Himmel.» «Großzügig.» «Wenn man bedenkt, was für eine grausame Frau sie war. Sie konnte es sich aber auch leisten.» «Reich?» «Sehr reich. Als ich sie kennenlernte, war ich noch jung und hielt es für einen wahren Glücksfall, mich in eine reiche Frau verliebt zu haben. Das fand meine Mutter auch. Zu meiner Schwester sagte sie oft: ‹Wärst du lieber die Sklavin eines armen oder die Geliebte eines reichen Mannes?›, und dann habe ich, mutatis mutandis, ihre Frage auf meine Art beantwortet. Nichts von dem, was ich bislang getan hatte, entzückte sie so sehr wie meine -77-
Beziehung zu Louise - nicht die Hauptrolle in der CollegeInszenierung von ‹L'École des maris›, nicht mal mein summa cum laude. Mein Vater sah das anders. Er sagte, daß ich hoffentlich keinen zweiten Job annehmen müßte. Ich fragte ihn, wie er das meinte. ‹Für Louise wirst du rund um die Uhr arbeiten›, sagte er.» «Und? War das der Fall?» «Nein, aber mit ihrer Grausamkeit hielt sie mich kurz.» «Was denn für Grausamkeit, falls Ihnen die Frage nicht zu persönlich ist?» «Nein, nein, schon gut. Das ist ja auch lange her. Also, ich entdeckte diesen Charakterzug schon ganz am Anfang unserer Ehe, als wir miteinander schliefen. Sie sagte, daß sie etwas über chinesische Frauen gelesen hätte, deren Dorf im Zweiten Weltkrieg von Japanern überrannt worden war. Die Geschichte ist übrigens bekannt. Die Frauen steckten sich Rasierklingen in die… in sich selbst. Einige der Frauen wurden totgeprügelt, als die Soldaten merkten, was sie getan hatten. Wie gesagt, wir wollten gerade miteinander schlafen, und ich hörte ihr nur mit einem Ohr zu, als sie plötzlich sagte: ‹Du würdest mich doch nicht umbringen, wenn ich so etwas täte, nicht wahr, Jonathan?›» «Und was haben Sie da gesagt?» «Ich habe gar nichts gesagt. Allerdings fand ich es dann doch schwierig, mit ihr zu schlafen. Um ehrlich zu sein, mußte ich es mir anschließend…» «Selber besorgen?» «Genau.» «Wie lange waren Sie verheiratet?» «Acht Jahre.» Ich zuckte zusammen. -78-
«Ja. Ich weiß. Wenn wir Dinnerparties gaben, deckte sie manchmal einen separaten Tisch für mich und sagte den Gästen, ich sei noch zu jung, um mit den Erwachsenen zu essen.» «Haben Sie sich denn tatsächlich an diesen Tisch gesetzt?» «Ja. Ich habe versucht, es als Witz darzustellen. Die Gäste, die uns kannten, taten auch so, als fänden sie es witzig.» «Das kommt mir völlig absurd vor.» «Das war es auch. Aber ich war wirklich in Louise verliebt, verstehen Sie? Moment, ich zeige Ihnen mal was.» Er stand auf und verließ das Zimmer. Entweder war sein Fuß eingeschlafen, oder er hatte sich schon ein paar hinter die Binde gekippt, bevor ich gekommen war. Das Zimmer sah nach altem New Yorker Geld aus europäische Möbel aus dem achtzehnten Jahrhundert, gekauft im neunzehnten; ein riesiger Perserteppich und neben den Drucken mit Blumen- und Sportmotiven eine Hudson-Valley-Landschaft von Mary Cassatt, eine Strandszene von Prendergast und zwei dunkle, von oben beleuchtete Ahnenporträts in Öl. Wie ich erwartet hatte, kam Mr. Margin mit einem Farbfoto von Louise zurück, eine umwerfend hübsche Frau mit hohen Wangenknochen, großen, gleichmäßigen Zähnen und vollen, purpurroten Lippen - falls die Farben echt waren; sie lächelte einer schwarzweißen Katze zu, die sie im Arm hielt. «Verstehen Sie, was ich meine?» sagte Mr. Margin. Sollte ich verstehen, warum er sie geliebt hatte oder daß sie grausam gewesen war? «Süßes Kätzchen», sagte ich. -79-
«Morgens im Bett waren ihre ersten Worte immer irgendwelche Beschwerden, daß ich dies getan und jenes gelassen hätte; oft schlief ich da noch; ihre zweiten Worte waren liebevoll, galten aber der Katze. Ich begann, die Katze heftig zu verabscheuen. Wenn man verliebt ist, weiß man nicht recht, wie man sich wehren soll.» Ich nutzte die nachdenkliche Pause, um das Thema Rose Cloth anzuschneiden. Er war verblüfft. «Frank, ich gebe Ihnen mein Wort als Gentleman…» «Schon klar», sagte ich. «Die Frage ist bloß, wie man nun damit umgeht.» Wir beschlossen, die Sache einfach zu ignorieren. Wenn die Frau Zicken machen sollte, würde man es schnell merken. Aber wenn Tool Wind davon bekäme, würde sie die Sache garantiert gegen uns verwenden. «Vielleicht sollte ich sie zum Essen einladen und einfach mal mit ihr über alles reden», sagte Mr. Margin. «Wenn man ein Problem offen und ehrlich anspricht, löst sich oft…» und so weiter. Ich deutete an, daß sie möglicherweise die Einladung ablehnen würde, dann aber behaupten könnte, daß er ihr offen Avancen gemacht hätte. Schließlich kamen wir zu dem Ergebnis, daß wir beide auf der Hut bleiben sollten und es für ihn das beste wäre, ihr mit extrem formeller Höflichkeit zu begegnen, sie nur anzusehen, wenn er sie anspräche, ihre Gegenwart zu ignorieren, falls sie Überstunden machte, und die Büroräume sofort zu verlassen, falls er mit ihr allein in der Redaktion wäre. Außerdem würde ich ihr gegenüber sämtliche Kritik offen aussprechen, die er an ihrer Arbeit äußerte. Wir tranken bis spät in die Nacht, redeten über viele Themen, wechselten aber kein Wort über seine zweite Frau. -80-
Apropos radikale Feministinnen: Als ich am nächsten Morgen ins Büro kam, war Rose Cloth tief im Gespräch mit Lou Bodoni versunken, die, wie mir immer klarer wurde, jede Gelegenheit ergriff, weiblichen Kollegen zu Diensten zu sein. Als Mr. Margin eintraf, sagte ich es ihm und schlug vor, augenblicklich Phil Flush einzubestellen, um Miss Cloth das Mundwerk zu legen. Mr. Margin griff zum Haustelefon: «…das neue Mädchen, das Sie mir geschickt haben…. Meinetwegen neue Frau…. Ich weiß über die Sammelklage Bescheid, Phil. Darüber können wir uns ein anderes Mal unterhalten. Im Augenblick möchte ich über Miss Cloth reden…. Ja, ich weiß, daß Sie mir zwanzig zur Auswahl geschickt haben. Ich mache Ihnen ja auch keine Vorwürfe, Phil…. Phil…. Hören Sie doch bitte mal zu! Ich fürchte, daß wir eine Klage wegen sexueller Belästigung an den Hals… Natürlich nicht…. Nichts…. Absolut nichts…. Hören Sie, kommen Sie einfach mal rüber!» Mr. Margin knallte den Hörer neben die Gabel. Phil Flush, erhobenen Hauptes und vorgereckten Bauchs, wirkte auf mich immer wie der Verhandlungsführer einer außerirdischen Invasionstruppe, besonders, wenn er in fremden Bürozimmern auftrat. Mr. Margin rief Rose Cloth dazu, schloß die Tür, und wir vier setzten uns an den Konferenztisch. Sie war eine verkniffene, kleine Kreatur und erinnerte mich an ein verschüchtertes Mäuschen. «Es war stets meine tiefste Überzeugung», begann Mr. Margin im Stil einer Tischrede, wobei er uns alle ins Auge faßte, «daß wir, wie sehr wir uns auch bemühen mögen, gegenüber unseren Mitmenschen immer Fremde bleiben. Selbst nach Jahren der Vertrautheit, nach Jahren gegenseitiger Nähe, enthüllt uns ein einziges Wort, eine einzige Geste, ein einziger Gesichtsausdruck plötzlich eine -81-
Facette eines anderen menschlichen Wesens, mit der wir nie gerechnet hätten, und verändert so unsere gesamte Vorstellung von ihr oder ihm, und wenn wir noch nach Jahren der Beobachtung derart irren können, bedenke man doch erst die Möglichkeiten der Fehleinschätzung nach lediglich sechs Tagen wechselseitigen Beieinanders, zumal während intensiver Arbeitsstunden, die uns alle, ihn oder sie, mit ihren Pflichten ausfüllen…» Ich ließ mein Clipboard schnicken. «Worauf ich hinaus will, Miss Cloth, ist, daß Mr. Page mir berichtet hat, Sie seien über etwas irritiert, das Sie als einen gewissen Mangel an Schicklichkeit im Hinblick auf meinen Umgang mit Ihnen empfänden. Ist das richtig?» «Das ist richtig.» «Ja, also, als ich davon erfuhr, war mein erster Impuls, Sie unverzüglich aufzusuchen und Ihnen zu versichern, Ihnen mein Wort als Gentleman zu geben, daß ich nicht einmal für den leisesten Moment in meinen Gedanken auch nur einen Hauch von Unschicklichkeit Ihnen gegenüber hegte. Dann wurde mir freilich bewußt, daß Gedanken trotz alledem nicht zu erraten sind und es mithin angemessener sei, Sie hierher zu bitten, zusammen mit Mr. Page und Mr. Flush, damit Sie uns in Ihren eigenen Worten darstellen können, was in meinen Reden, Handlungen oder Verhaltensweisen diese Gefühle in Ihnen ausgelöst haben könnte.» Sie antwortete wie eine Zeugin im Kreuzverhör. «Ja. Bei meinem Einstellungsgespräch hat Mr. Flush mir schon gesagt, was ich zu erwarten hätte.» «Was Sie zu erwarten hätten?» sagte Flush. «Streiten Sie das jetzt bitte nicht ab. Sie haben gesagt, und ich zitiere Sie wortwörtlich, Sie haben gesagt: ‹Mr. Margin ist ein schwieriger Mensch, aber Sie werden schon -82-
mit ihm zurecht kommen, sobald Sie ihn besser kennen.› Ein klareres Signal gibt es doch gar nicht.» «Wieso bin ich schwierig, Flush? Das leuchtet mir nicht ein.» «Na ja, Marge, schwierig ist vielleicht nicht das richtige Wort…» «Der Punkt ist doch der», sagte ich, «unabhängig vom richtigen Wort, daß Sie auf jeden Fall nicht den Zuhälter für Mr. Margin gespielt haben.» «Das will ich doch sehr hoffen», sagte Flush. «Was hat bei Ihnen denn sonst noch Verdacht erregt, Miss Cloth?» fragte ich. «Es muß doch noch etwas anderes gewesen sein.» «Als Sie mich interviewt haben», sagte sie und zeigte mit einem kleinen, weißen Finger auf Mr. Margin, «haben Sie mir erklärt, was von mir im Büro erwartet wird. Dann sind Sie aufgestanden, und ihre Kleidung war dabei nicht korrekt.» «Meine was war nicht korrekt?» fragte Mr. Margin. «Ihre Kleidung war nicht korrekt.» «Meinen Sie etwa, daß Mr. Margins Hosenstall offen stand?» fragte ich. «Ja.» «Ist das alles, Miss Cloth?» «Dann habe ich das über meine Vorgängerin erfahren.» «Was haben Sie über sie erfahren?» «Was er ihr angetan hat.» «Was hat er ihr denn angetan?» «Er hat sie erst verführt und dann gefeuert.» «Miss Cloth!» sagte Mr. Margin. «Hat Ihnen das Miss Bodoni erzählt?» fragte ich. -83-
«Andere auch.» «Miss Cloth, ich versichere Ihnen…» Ich hielt die Hand hoch, und Mr. Margin sprach nicht weiter. «Danke, Miss Cloth. Ich glaube, wir sind jetzt im Bilde.» Ich ging zur Tür, öffnete sie, und Miss Cloth verließ das Zimmer. «Bodoni fliegt raus», sagte Mr. Margin, nachdem wir drei uns eine Weile angestarrt hatten. «Geht nicht», sagte Flush. «Sie ist Hauptklägerin der Sammelklage.» «Dann schafft sie wenigstens aus dieser Redaktion weg.» «Geht nicht. Diskriminierung.» «Angenommen, ich würde sie eigenhändig hinauswerfen?» fragte Mr. Margin. «Schwere Diskriminierung.» «Zeigen Sie uns mal Rose Cloths Lebenslauf», sagte Mr. Margin angewidert. Flush nahm einen Bogen Papier von seinem Clipboard und gab es Mr. Margin. «Flush, hier steht, daß sie ein Diplom von William and Harry hat. Haben Sie das überhaupt gelesen? Haben Sie das mal gegengecheckt? Die Frau ist nicht ganz richtig im Kopf.» Das Treffen endete in allseitigem Geschnatter. Nachdem Flush gegangen war, sagte Mr. Margin: «Jetzt reicht es aber wirklich, Frank. Kommen Sie heute abend zu mir zum Essen.» Als ich Mr. Margins Büro verließ, sah ich, daß weder Rose Cloth noch Lou Bodoni an ihren Schreibtischen saßen, und ich vermutete, daß sie bereits wieder miteinander konferierten.
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Abends eröffnete mir Mr. Margin, nach dem Abendessen werde Shirley Baskerville, Proteans Vizechefberaterin, vorbeikommen. Da dann jede Menge geschäftliche Themen besprochen werden würden, wandten wir uns so lange gezielt etwas anderem zu, nämlich Bala, Mr. Margins zweiter Frau. «Ihr Vater», erklärte Mr. Margin, «war ein Geschichtsfreak, und Bala wurde am hundertsten Jahrestag der Schlacht von Balaklava geboren. Ich glaube nicht, daß der Name tatsächlich Einfluß auf ihren Charakter hatte, aber er sagte wohl etwas über den Charakter ihres Vaters aus. So wie Jungs, die Lance oder Damien heißen - solche Namen beeinflussen nicht sie, sondern ihre Mütter, die sie ihnen gaben. Wie dem auch sei, Bala brütete ununterbrochen Ideen aus, und manche waren wirklich extrem.» «Wir reden aber doch wohl nicht etwa davon, auf BHs zu verzichten, nicht wahr?» fragte ich. «Nein, nein. Es ging eher in die Richtung, daß sie sich beigebracht hatte, im Stehen zu urinieren.» «Geht das denn?» «Zugesehen habe ich ihr dabei nicht. Sie behauptete, bei einer Frau im Chelsea Hotel einen entsprechenden Kurs mitgemacht zu haben. Das hatte irgendwas mit Muskelkontrolle zu tun. Sie fragte mich, nebenbei bemerkt, übrigens auch, ob ich bereit sei, als Solidaritätsgeste im Sitzen zu urinieren.» «Und? Haben Sie's gemacht?» «Wenn es sich so ergab. Derlei Dinge fand ich nie sonderlich wichtig. Manche von Balas Ideen fand ich amüsant, und andere habe ich sogar unterstützt. Wissen Sie, ich bin ein Feminist - oder war jedenfalls einer, bis diese Bodoni in mein Leben trat. Schwieriger war da -85-
schon der Umgang mit Balas Verhalten in der Öffentlichkeit, zum Beispiel in Fahrstühlen. Sie ertrug es nicht, wenn Männer ihr beim Aussteigen den Vortritt ließen, und manchmal geriet sie dann an jemanden, der ähnlich unbeugsame Vorstellungen wie sie selbst hatte. Sie fuhren dann von Stockwerk zu Stockwerk mit dem Fahrstuhl auf und ab, beide nicht willens, dem anderen den Vortritt zu lassen. Eines Tages fuhr ich mit Bala und so einem Typen zusammen im Fahrstuhl, und er fragte mich, ob ich zu dieser, Sie wissen schon, gehörte. Er benutzte die gängige Obszönität für eine Frau. Ich antwortete, daß wir zusammen seien, jawohl, daß ich mich aber aufs Schärfste von seinem Sprachgebrauch distanzierte, und wenn er sich nicht entschuldige, würde ich ihn aus dem Fahrstuhl werfen. Tja, und da hat Bala mir schwer einen verpaßt, indem sie sagte, daß sie keinem ihrer Ehemänner derartige Sexismen durchgehen ließe. Sie war schon kompliziert.» Shirley Baskerville war eine kleine Frau Mitte Dreißig; sie hatte eine lange, spitze Nase, die ihre Augen nach innen zusammen zu ziehen schien. Als Mr. Margin mich ihr vorstellte, schielte sie mit einem mißtrauischen Blinzeln auch noch horizontal. «Und seit wann arbeiten Sie schon für Protean, Mr. Page?» «Seit etwa einem Jahr.» «Erst seit einem Jahr?», sagte sie. «Es kommt mir aber wie fünf vor», sagte ich. «Erst fünf?», sagte sie. «Frank ist meine rechte Hand», sagte Mr. Margin nachdrücklich. -86-
«Ihnen ist ja wohl klar, Mr. Margin, daß es sich um eine äußerst delikate Angelegenheit handelt.» «Ich finde sie eher abgeschmackt», sagte ich. «Ich glaube, wir können Frank vertrauen, Miss Baskerville. Aber ich sehe die Sache weder als delikat noch als abgeschmackt. Die Frau ist verwirrt. Flush hat sie beobachtet. Das muß er Ihnen doch auch berichtet haben.» «Flush hat sich sehr unklar ausgedrückt», sagte sie. «Unklar? Wie meinen Sie das?» «Ich meine, daß auch Ihre Personalunterlagen nicht klar sind.» «Ich wußte gar nicht, daß es Personalunterlagen von mir gibt, Miss Baskerville. Wo befinden sich diese Unterlagen?» «Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten, Mr. Margin. Ich muß Ihnen aber sagen, daß wir uns einen derartigen Skandal, wie ihn die Sache Cloth verspricht, nicht leisten können. Wir haben uns einer Sammelklage zu erwehren, die von einer ganzen Reihe von Frauen, die bei Protean beschäftigt sind, gegen uns eingeleitet worden ist. Die Gefahr liegt weniger im anhängigen Urteil als vielmehr in der Öffentlichkeit. Einundsechzig Prozent unserer Leserschaft sind Frauen. Wenn wir schuldig gesprochen werden, vergrätzen wir diese Leserschaft. Ich möchte, daß Sie sich einen Satz aus Miss Cloths Beschwerde anhören.» «Welcher Beschwerde?» Statt einer Antwort zog Miss Baskerville ein Stück Papier aus ihrem Aktenköfferchen und las vor: «Mir geht jegliches Verständnis dafür ab, wie amerikanische Frauen ein Erzeugnis unterstützen können, das von ihren Unterdrückern hergestellt wird. Die einzige Erklärung wäre, daß den Frauen die Tatsachen nicht geläufig sind. -87-
Mir liegt daran, jeder einzelnen Abonnentin von Protean Publications vor Augen zu führen, wem sie ihr Geld in den Rachen wirft.» Miss Baskerville sah uns, wie mir schien, anklagend an. Mr. Margin rang um Fassung. «Würden Sie bitte die gesamte Erklärung vorlesen?» «Wie Sie wünschen. ‹Lieber Mr. Tooling…»› «Mr. Tooling!» sagte Mr. Margin. «Ja. ‹Lieber Mr. Tooling! Sie sollten darüber informiert sein, daß ein hochrangiger und mächtiger Mitarbeiter von Protean Publications sich des Verhaltens flagranter sexueller Belästigung schuldig gemacht hat. Schon bei meinem Einstellungsgespräch und seit meiner ersten Woche als Sekretärin von Jonathan Margin, dem Chefredakteur von Belles Lettres, bin ich permanenten Anzüglichkeiten, eindeutigen Blicken, Lippenschmatzen und zweideutigen Handbewegungen ausgesetzt gewesen und mußte es einmal sogar über mich ergehen lassen, daß Mr. Margins Hose auf provozierende Weise offen stand. Diese Vorkommnisse haben mich mental tief verstört. Es ist allgemein bekannt, daß Mr. Margins Verhalten das eines Wiederholungstäters ist. Wie konnten Sie es zulassen, eine Person mit derart depraviertem Charakter auf einer Position zu halten, in der ihm unschuldige Frauen zum Opfer fallen können?› Und jetzt folgen die Sätze, die ich erwähnte. Die Beschwerde fährt fort: ‹Infolgedessen werde ich eine detaillierte Liste der Belästigungen erstellen, und falls Sie diese als Produkt meiner Phantasie abtun wollen, sollten Sie wissen, daß es für Mr. Margins Fehltritte eine Belastungszeugin gibt, die seit langem als zuverlässige Mitarbeiterin bei Protean tätig ist. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dieser Angelegenheit Ihre geschätzte Aufmerksamkeit widmen wollten, und verbleibe…›» -88-
«Miss Baskerville», sagte Mr. Margin, «Ihnen ist doch sicherlich klar, daß Miss Cloth dieses Dokument nicht selbst verfaßt hat.» «Darum geht es hier nicht, Mr. Margin.» «Das ist doch die reinste Juristensprache.» «Genau darum geht es, Mr. Margin.» Als das Personalbüro Rose Cloths Hintergrund ausleuchtete, stellte sich heraus, daß nicht nur ihr CollegeDiplom, sondern auch alles andere in ihrem Lebenslauf frei erfunden war. Den Zeitraum, den sie angeblich als Sekretärin bei Psychology Today verbracht haben wollte, hatte sie in Wirklichkeit in einer psychiatrischen Klinik verbracht. Nichtsdestotrotz war die Affäre für Mr. Margin wenig hilfreich.
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VI Ein Schurkenstück Ich glaube, den Hals brach Mr. Margin die innerhalb der Redaktion als Schurkenstück berühmt gewordene Affäre. Der Bürobote hatte über einen langen Zeitraum und im großen Stil Rezensionsexemplare an einen Antiquar verkauft, und die Sache flog auf. Art Folio, der Bürobote, war sechsundvierzig Jahre alt und verrichtete seinen Dienst seit neunundzwanzig Jahren. Sein Gehalt betrug 348 Dollar pro Woche; der Erlös aus den Rezensionsexemplaren summierte sich jedoch auf etwa 30000 Dollar pro Jahr. Folio war als Siebzehnjähriger unter der Chefredaktion Xavier Deckles zu Belles-Lettres gekommen. Davor war es gängige Praxis der Zeitschrift gewesen, den Büroboten unter College-Absolventen zu rekrutieren - etwa den Sohn eines Freunds eines Redakteurs -, ihm so Einblicke in die redaktionelle Arbeit zu gewähren und ihn dann nach ein paar Monaten, versehen mit einem Empfehlungsschreiben, seiner Wege ziehen zu lassen. Irgendwann war man jedoch der Meinung, daß Belles Lettres einen ständigen Mitarbeiter brauchte, um Satzvorlagen schnell zur Druckerei zu bringen, Büchersendungen der Verlage auszupacken, morgens Kaffee zu holen und Anrufe entgegenzunehmen, wenn die Redakteure verhindert waren. (Kurz nach seiner Einstellung erwarb sich Folio übrigens gleich einen gewissen Ruf in eigener Sache, weil er sich am Telefon mit der Floskel meldete: «Wem schlägt die Stunde?») Als Folio bei der Zeitschrift anfing, verfügte er über -90-
sechsmonatige Erfahrung als Bürobote des Messenger of the Sacred Heart, einer katholischen Abonnentenzeitschrift. Als einige in der Redaktion die Ansicht vertraten, Folio sei für den Job zu alt, wurde er nachdrücklich von Phil Flush verteidigt, unserem Experten in ethnischen Fragen, der gern darauf hinwies, daß er stets Katholiken für Tätigkeiten bevorzuge, bei denen die Gefahr von Diebstahl, Bestechung und Unterschlagung bestand. «Besonders bei Jobs, die keine Aufstiegschancen bieten», sagte er. «Ich habe häufig jüdische Bewerber für solche Jobs abgelehnt, selbst wenn sie besser qualifiziert waren. Ich will allerdings einräumen, daß ein Katholik, der sich etwas zu Schulden kommen läßt, das dann auch gleich sehr gründlich tut. Natürlich beziehe ich mich da auf gewisse italo-amerikanische Typen oder, um ganz allgemein konkreter zu werden, auf gewisse sizilianischamerikanische Typen. Doch alles in allem verbürge ich mich lieber für einen Katholiken in einem Job mit hohem Versuchungspotential und geringen Aufstiegschancen.» Mr. Margin kam dem Schurken durch reinen Zufall auf die Schliche. Anscheinend schleppte Folio die Rezensionsexemplare nicht einfach aus der Redaktion, wofür er eine Schubkarre gebraucht hätte, sondern er versandte sie an drei Deckadressen. Die Adressen hatten sich im Lauf der Jahre geändert und lauteten schließlich folgendermaßen: «Mr. Christopher Blanks», bei einem lokalen Postfach; «Mr. C. P. Broadsides», c/o Folios Freundin Sylvia Topstain; und «Mr. Eric Blair», ein Name, der zu Hause auf Folios Briefkasten klebte. Christopher Blanks war eine real existierende Person, die für Belles Lettres eine monatliche Kolumne über Selbsthilfebücher betreute. Folio dachte sich vermutlich, daß die Vertrautheit des Namens möglichen Verdacht zerstreuen würde, falls der Postsachbearbeiter die -91-
Zeitschrift lesen sollte. C. P. Broadsides war gleichfalls ein gelegentlicher Rezensent für sexualwissenschaftliche Literatur. Den Namen Eric Blair wählte Folio, wie er mir später gestand, weil er ihm irgendwie literarisch vorkam. Man könnte meinen, daß Folio über diesen Eric Blair stolperte. Es war jedoch Christopher Blanks. Blanks kam seit Jahren einmal im Monat in die Redaktion, um sich die Selbsthilfe-Bücher abzuholen, die Folio für ihn aus den über hundert Rezensionsexemplaren aussortierte, die täglich bei Belles Lettres eingingen. Bei diesem letzten Mal entschied sich Blanks allerdings dafür, die Bücher nicht nach Hause zu schleppen, sondern an seine Anschrift senden zu lassen, und deshalb brachte er sie in den Postraum, wo der puertoricanische Postsachbearbeiter, der für den Versand zuständig war, Blanks erklärte, daß die Bücher falsch adressiert seien. Zuerst dachte Blanks, der Puertoricaner sei lediglich etwas stumpf, zumal er in seinem hispanischen Singsang redete - «Miiister Blanks, ich glauben Sie haben hier falsches Adress, ein falsches Adress ich glauben Sie haben hier.» Zufälligerweise befand sich jedoch im Postraum ein an Blanks adressiertes Paket, das der Puertoricaner ihm zeigte, um sich verständlich zu machen. Blanks wollte es sofort öffnen, doch der Postsachbearbeiter bestand auf der Anwesenheit eines Vorgesetzten und rief Mr. Margin, damit er bezeugen könne, daß Blanks die Person war, für die er sich ausgab. Im Paket fanden sich gebundene Bücher im Gesamtwert (Ladenverkaufspreis) von vierhundert Dollar unrezensierbare Nachschlagewerke, Kunstbände und technische Bücher -, von denen keines für Blanks' Kolumne in Frage kam. Mr. Margin, Blanks und der Postsachbearbeiter zogen sich in Mr. Margins Büro zurück und baten Shirley Baskerville hinzu. -92-
Nachdem Mr. Margin erläutert hatte, wie der vollständig in Folios Verantwortung liegende Postversand bei Belles Lettres abgewickelt wurde, schien die Sache sonnenklar zu sein. Aber Miss Baskerville warnte: «Den Schuldigen zu kennen, ist eine Sache, Beweise sind eine andere.» Dann sagte sie, daß der Inhalt sämtlicher Folio-an-BlanksPakete zu erfassen sei und alle Bücher nach der Methode, mit der Geld sortiert wird, markiert werden («ein kleines X auf jede Seite 100»), neu verpackt und an den Empfänger versandt werden sollten. Außerdem sagte sie, daß sie einen Mann damit beauftragen werde, zu überwachen, wer die Pakete in Empfang nähme, und ihn («Entschuldigen Sie, ich meine natürlich die Person», sagte sie entsexualisierend) wenn möglich dabei zu fotografieren. Weiterhin sagte sie, daß sämtliche von Belles Lettres ausgehende Post zu kontrollieren und, falls notwendig, zu öffnen und ihr Inhalt zu erfassen sei - und so weiter. Sie ermahnte Mr. Margin, daß er, so lange sich der Fall noch im Stadium der Ermittlung befinde, keinesfalls seinen normalen Umgang mit und seine Behandlung von Folio verändern dürfe. «Das gilt auch für jedes andere Redaktionsmitglied», fügte sie hinzu, da auch für Folio der Satz gelte: Im Zweifel für den Angeklagten. «Und ich muß wohl kaum betonen, daß diese Angelegenheit absolut vertraulich zu behandeln ist. Einerseits liegt es nicht in unserem Interesse, daß der Tatverdächtige sich der Überwachung entzieht. Andererseits müssen wir verhindern, daß Belles Lettres mit einer Verleumdungsklage überzogen wird.» Zwei Wochen später versammelten sich Mr. Margin, Miss Baskerville und ich in Mr. Margins Büro, und Folio wurde herbeizitiert. «Setzen Sie sich, Art, bitte», sagte Mr. Margin zuvorkommend. «Nehmen Sie Platz. Das könnte -93-
jetzt schon eine Weile in Anspruch nehmen. Ich nehme an, daß Sie Miss Baskerville kennen? Unsere juristische Vizechefberaterin.» «Nicht persönlich», sagte Folio, wich einem Platz am Konferenztisch aus und machte es sich stattdessen in den Tiefen eines durchgesessenen Sessels bequem. Er schlug die Beine übereinander, stützte einen Ellbogen auf die Sessellehne, einen Daumen unters Kinn und legte die Spitze des ausgestreckten Zeigefingers an die Nasenspitze. Ich fand es bemerkenswert, daß wir alle unsere Stühle nach ihm ausrichten mußten, um ihn ansehen zu können. Hatte er etwa Michael Korda gelesen, oder war das einfach seine Art? Erst später wurde mir klar, daß letzteres der Fall war. Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit schwarzem, lockigem Haar und blauen Augen, was ja immer eine interessante Kombination ist. Wenn ich nicht gewußt hätte, worum es ging, hätte er mit diesem Hauch ironischen Selbstschutzes um die Mundwinkel auf mich wie ein munterer Verlierer gewirkt. Aber er machte nun mal einen ganz anderen Eindruck, und mir wurde bewußt, daß ich ihn nie richtig wahrgenommen hatte, wenn ich ihn am Empfang gesehen hatte. Er trug ein kariertes Jackett, ein Polohemd mit offenem Kragen, Flanellhosen und Freizeitschuhe aus weichem Leder, was für einen simplen Büroangestellten viel zu sportlich aussah; wenn ein Unternehmer so gekleidet gewesen wäre, hätte man die Trabrennbahn samt Clubhaus an einem Nachmittag während der Woche assoziiert. «Wir sind darüber informiert», begann Miss Baskerville und blätterte in Notizen, «daß zahlreiche von Verlagen zu Rezensionszwecken an die Belles Lettres-Redaktion geschickte Bücher von einer unbefugten Person oder unbefugten Personen zu Händen eines oder mehrerer auf -94-
den öffentlichen Weiterverkauf zu Discountpreisen spezialisierter Buchhändler versandt worden sind. Wir sind außerdem darüber informiert, daß diese Bücher (die bei Eingang in die Belles Lettres-Redaktion Eigentum besagter Zeitschrift werden) auf Kosten von Belles Lettres an drei Scheinadressen versandt wurden. In den letzten zwei Wochen wurden insgesamt neun Pakete von der Belles Lettres-Redaktion an die eine oder andere dieser Adressen versandt. Diese neun Pakete wurden geöffnet, ihr Inhalt unter Zeugen registriert und dann an ihre Bestimmungsorte weitergeleitet. Ich halte hier eine Liste besagten Inhalts in Händen - 103 Bücher mit einem Ladenverkaufswert von insgesamt 2306,95 Dollar. Zwei der drei an ‹Christopher Blanks› versandten Pakete kamen an der vorgesehenen Postfachadresse an und wurden dort ordnungsgemäß abgeholt. Obwohl es unserem Observanten nicht möglich war, die Person zu fotografieren, die die Pakete in Empfang nahm, suchte unser Observant unerkannt die Redaktion auf und identifizierte den Postempfänger als Arthur Folio. Ich halte eine eidesstattliche Erklärung über diesen Sachverhalt in Händen. Zwei oder drei an ‹C.P. Broadside› zu Händen ‹Sylvia Topstain› gesandte Pakete erreichten vermutlich ebenfalls ihren Empfänger. Ich sage ‹vermutlich›, weil ihr Inhalt anschließend an einen anderen Ort verbracht wurde, worauf ich in Kürze zu sprechen kommen werde. Schließlich wurden alle drei an ‹Eric Blair› adressierten Pakete an Arthur Folios Wohnsitz ausgeliefert, was der Pförtner des Wohnsitzes besagten Arthur Folios bezeugt und beschworen hat. Der komplette Inhalt dieser sieben Pakete zuzüglich siebenunddreißig anderer Bücher, die vermutlich zu einem früheren Zeitpunkt an die eine oder andere der oben erwähnten Adressen geschickt worden sind, wurden am -95-
Dienstag dieser Woche von Sylvia Topstain in die in dieser Stadt ansässige Buchhandlung MyShelf verbracht. Vom Geschäftsführer besagter Buchhandlung erhielt dafür Miss Topstain die Summe von 600,49 Dollar in bar; der Geschäftsführer hat eine mündliche Erklärung abgegeben, gemäß der Miss Topstain und zuvor eine Cynthia Binding der Buchhandlung MyShelf seit elf Jahren in Abständen von zwei Wochen - das entspricht exakt der Existenzdauer der Buchhandlung - sogenannte Rezensionsexemplare neu erschienener Bücher verkauft haben, deren Ladenverkaufspreis sich auf eine Gesamtsumme von etwa 20000 Dollar belief, als die Verkäufe vor elf Jahren begannen, und im vergangenen Jahr eine Summe von etwa 120000 Dollar erreichte. Wir haben Beweise, daß sowohl Miss Binding als auch Miss Topstain zu Arthur Folio in intimen Beziehungen standen, Miss Binding über einen Zeitraum von mindestens vier Jahren, doch endete diese Beziehung vor sieben Jahren, und Miss Topstain seit den sieben Folgejahren bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Wir haben eine mündliche Aussage Miss Bindings, gemäß der sie ihre Geschäftsbeziehung mit der Buchhandlung MyShelf und ihre persönliche Beziehung zu Arthur Folio ebenso einräumt wie ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringt, diesen Sachverhalt zu beeidigen. Haben Sie etwas dazu zu sagen, Mr. Folio?» «Sie meinen zu Cynthia Binding?» sagte Folio. «Nein, ich meine zu dem gesamten Sachverhalt», sagte Miss Baskerville. «Wollen Sie mir nicht erst meine Rechte verlesen?» «Ich bin nicht die Polizei, Mr. Folio, obwohl ich mich der Vermutung nicht erwehren kann, daß Sie bald die Möglichkeit bekommen werden, sich mit der Polizei zu unterhalten. Im Augenblick möchte ich lediglich wissen, ob Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas zu diesen -96-
Anschuldigungen sagen wollen.» «Na klar. Erstmal finde ich, daß Sie alle miteinander saubere Arbeit geleistet haben, Sie besonders», sagte Folio und zeigte auf Miss Baskerville. «Außerdem sollten Sie wissen, daß hier immer mal wieder ein paar nette Leute rumgeschlichen sind. Keine Privatdetektive. Wenn die den Eindruck gehabt hätten, daß Sie hier Mist bauen, hätten die Sie schon zur Rede gestellt, wenn Sie wissen, was ich meine.» «Und Sie haben es ihnen gesagt?» sagte Miss Baskerville. «Ich bin nie gefragt worden. Aber klar doch. Wenn die irgendwie auf die Idee gekommen wären, daß hier jemand ein paar Bücher verschiebt, dann hätten die gesagt: ‹Hey, laß das lieber bleiben›, und damit wäre die Sache erledigt gewesen.» «Wir reden hier aber von mehr als nur ein paar Büchern, Mr. Folio», sagte Miss Baskerville. «Wie wär's, wenn Sie mich Art nennen. Dann nenn ich Sie auch Shirl?» «Tun Sie sich keinen Zwang an, Mr. Folio. Ich bin eher daran interessiert, was Sie zu den Anschuldigungen zu sagen haben.» «Die Anschuldigungen. Okay. Die Anschuldigungen. Tja, als ich hier anfing, bekam ich 42 Dollar die Woche 42 Dollar die Woche, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das waren 3 Dollar mehr, als ich vorher verdient hatte. Aber ich will Ihnen mal was sagen. Der Typ, der damals Chefredakteur war, dieser Mr. Deckle, der war in Ordnung. Ich meine, der interessierte sich echt für einen. Er sagte zum Beispiel zu mir: ‹Arthur, mir gefällt Ihre Frisur. Darauf freue ich mich immer schon, wenn ich mich auf den Weg ins Büro mache.› Er sagte auch, daß ich -97-
meinen Namen zu Mario ändern sollte, ‹Im Century Club heißen alle Kellner Arthur. Sie sollten Mario heißen.› Ich sagte, daß Mario Folio doch ein bißchen dollio klingen würde, und da hat er sich ausgeschüttet vor Lachen. Der war wirklich in Ordnung. Aber die Anschuldigungen. Okay. Die Verlage waren immer ganz heiß darauf, Mr. Deckle persönliche Exemplare ihrer teuren Bücher zu schicken, und er ließ sie sich immer nach Haus schicken. Ich hab mich gefragt, was er eigentlich mit den ganzen Büchern machte. Wissen Sie, was er damit gemacht hat? Er hat sie verkauft. Ein Buchladen hat einmal im Monat einen Lastwagen vorbeigeschickt und sie abgeholt. Aber es kamen trotzdem noch 'ne ganze Menge Bücher, die kein Mensch haben wollte. Schulbücher. Ausländische Bücher. Und da hab ich angefangen, sie mit nach Hause zu nehmen, ein oder zwei jedes Mal. Eines Abends fuhren Mr. Deckle und ich im Fahrstuhl nach unten, und er fragte mich, was ich da lesen würde. Es war ein Buch über Schizophrenie - 32 Dollar. Ich sagte zu ihm, daß meine Schwester schizophren sei, und deshalb würde mich das halt interessieren. Er sagte, daß sei ja eine große Tragödie, und wollte wissen, ob sie auch so eine attraktive Person sei wie ich selbst. Ich hab' gar keine Schwester, aber ich hab' ihm erzählt, daß sie das Gesicht eines Engels und den Körper einer Tänzerin hätte. Er sagte, daß er das sofort glauben würde, und gab mir einen kleinen Klaps auf den Hintern. Ich meine, der interessierte sich echt für einen.» «Das ist ja alles hochinteressant, Mr. Folio, aber vielleicht könnten Sie uns mehr darüber erzählen, wie Sie Ihre Buchverkäufe organisiert haben», sagte Miss Baskerville. «Wundern Sie sich gar nicht darüber, daß ich Ihnen das alles auf 'nem silbernen Tablett serviere?» «Ich vermute, daß Sie reinen Tisch machen möchten.» -98-
«Sie sind ja niedlich, Shirl», sagte Folio und lächelte sie an. «Da gibt's nicht mehr zu erzählen. Sie haben's schon voll erfaßt, mit eidesstattlichen Erklärungen und Fingerabdrücken. Von mir brauchen Sie nichts mehr.» «Es muß aber doch eine Entwicklung gegeben haben von den ein oder zwei mitgenommenen Büchern zu dem schwunghaften Handel, mit dem wir uns konfrontiert sehen.» «Na klar, das hat schon gedauert. Es wuchs eben, wie jedes Geschäft.» «Dann geben Sie im Wesentlichen also zu, daß die Anschuldigungen korrekt sind?» Folio hob eine Hand. «Jetzt setzen Sie mich aber unter Druck, Shirl. Unterschrieben hab ich noch gar nichts.» «Nein, aber hier gibt es drei Zeugen, die Ihr Geständnis gehört haben, und zusammen mit unseren eidesstattlichen Erklärungen in dieser Angelegenheit wäre das vor Gericht gleichbedeutend mit einem schriftlichen Schuldeingeständnis.» «Was wollen Sie also machen, Shirl?» «Sehen Sie irgendeinen Grund, warum wir die Angelegenheit nicht vor Gericht bringen sollten?» «Ja», sagte Folio. «Ich sehe einen Grund.» Mr. Margin, der während des Wortwechsels in seinem Stuhl zusammengesunken war, spreizte nun seine Hand vor Nase und Mund wie eine Maske. Er wußte, daß etwas kommen würde, und ich wußte es auch - nur wußten wir noch nicht, was. «Ich hab noch 'ne andere Operation am Laufen», sagte Folio. Mr. Margin und Miss Baskerville sahen erst sich und dann Folio an. Folio erwartete anscheinend eine -99-
entsprechende Nachfrage. Also fragte ich: «Was denn für eine Operation?» Er lächelte mir zu. Er wußte, daß mich die Affäre nicht betraf, und es war fast so, als ob auch er lediglich ein Beobachter und nur Mr. Margin und Miss Baskerville Beteiligte waren. «Eine gelungene Operation», sagte Folio. «Dann erzählen Sie mal schön», sagte ich. «Also gut, mach ich. Ich verkaufe Plätze auf der Bestsellerliste.» «Plätze auf der Bestsellerliste verkaufen!» riefen Mr. Margin und Miss Baskerville unisono. «Fünftausend pro Platz», sagte er und wartete wieder. «Und weiter?» sagte Miss Baskerville. «Wenn Sie's also genau wissen wollen. Erst einmal sammele ich ja die Plazierungen bei den Buchhandlungen ein, stimmt's? Mach immer die Dreckarbeit, stimmt's? Es gibt fünfzehn Plätze auf der Literaturliste und fünfzehn Plätze auf der Sachbuchliste, stimmt's?» Wir nickten. Mr. Margin war noch tiefer auf seinem Stuhl zusammengesunken, und mit der Hand bedeckte er jetzt ein Auge. «Okay. Die Bücher, die nicht auf der Liste erscheinen, reichen von sechzehn bis zehntausend oder so, wo niemand mehr mitzählt, stimmt's?» Wir nickten. «Okay. Ich verlange also 5000, wenn ich ein Buch um einen Platz hochdrücke. Wenn ein Buch auf Platz Sechzehn und also nicht mehr auf der Liste steht, macht das 5000, um auf Platz Fünfzehn und damit auf die Liste zu kommen. Wenn es auf Platz Siebzehn steht, macht das 10000 bis Platz Fünfzehn und auf die Liste. Gleicher -100-
Preis, um von Drei auf Eins zu kommen, 10000.» «Sind das 5000 pro Platz und pro Woche?» fragte Miss Baskerville. «Ganz recht.» «Dann nehmen manche Leute Ihren Service vermutlich schon länger als eine Woche in Anspruch.» «Zufriedene Kunden», sagte Folio. «Das dürfte ja äußerst lukrativ sein.» «Ganz recht», sagte Folio. «Dürfte ich fragen, wie Sie diese Operation begonnen haben, Mr. Folio?» «Natürlich dürfen Sie fragen. Angefangen hat es vor einigen Jahren, als ein Redakteur, der hier gearbeitet hat, in die Public-Relations-Branche wechselte. Er promotete einen Film, der nach einem Bestseller gedreht wurde. Er rief mich an. Ob ich die Namen der Buchhandlungen hätte, von denen wir unsere Bestseller-Informationen bekommen. Er wollte mir dafür 500 Dollar zahlen. Wofür er die Namen haben wollte, fragte ich ihn. Er erzählte mir, daß seine Firma die Idee hätte, daß der Film auf dem Bestseller Nummer Eins basieren sollte, und wenn es zu einem angemessenen Preis möglich sein sollte, den Titel zur Nummer Eins zu machen, würden sie das tun. Wenn sie die Namen der Buchhandlungen hätten, könnten sie Leute losschicken und so viele Exemplare kaufen lassen, daß der Titel auf Platz Eins gepuscht würde. Damals stand das Buch auf Platz Drei oder so und bewegte sich nicht weiter nach oben. Ich fragte ihn, wieviel das seiner Meinung nach kosten würde. 10- bis 15000 Dollar, sagte er - zumindest wollte die Firma soviel dafür rausrücken. Ich sagte, daß das aber gefährlich wäre, selbst wenn er die Namen der Buchhandlungen wüßte. Die Leute, die er losschicken wollte, um die Bücher zu kaufen, würden ja -101-
wissen, was los war. Er sagte, daß es eigentlich nur noch mehr Publicity gäbe, wenn es rauskäme, und Publicity wäre eben Publicity. Ich sagte, daß er dann aber die gleiche Nummer nie wieder abziehen könnte, und er sagte, so sei das eben mit tollen Ideen. Selbst wenn er die Namen wüßte, sagte ich, wäre das Buch vermutlich schon auf Platz Fünf oder noch tiefer abgerutscht, bevor er die Nummer starten könnte, und dann würden 10- bis 15000 nicht mehr reichen. Dann sagte ich ihm, daß ich für 10- bis 15000 vielleicht dafür sorgen könnte, das Buch ein bißchen zu puschen und damit allen Beteiligten Schweiß und Geld zu sparen. Dann fügte ich noch hinzu, wenn alle mit dem Ergebnis zufrieden wären, könnten wir vielleicht ins Geschäft kommen und die Sache regelmäßig für verschiedene Firmen durchziehen. Ihm gefiel die Idee, und ich sagte, daß ich mit dem Chef über alles reden würde, und vielleicht würden wir dann ins Geschäft kommen. «Mit dem Chef über alles reden?» sagte Mr. Margin. «Glauben diese Leute etwa, daß ich an dem Betrug beteiligt bin?» «Man weiß nie genau, was die Leute glauben, Mr. Margin. Kann schon sein. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Sie würden es wohl nicht in ihre Köpfe bekommen, daß der Chefredakteur nicht weiß, wie seine eigenen Bestsellerlisten zustande kommen.» «Das sind nicht meine eigenen Bestsellerlisten. Es handelt sich um eine empirische Erhebung. Sobald die Liste erstellt ist, habe ich rein gar nichts mehr damit zu tun.» «Tja, vielleicht ist es auch eher so, daß sie es nicht in ihre Köpfe bekämen, wieso der Chefredakteur nichts abbekommt, wenn Geld im Spiel ist. Das meiste abbekommt. Sie wissen schon, dem Löwen gebührt der Löwenanteil. Und man könnte ja auch gar nicht beweisen, -102-
daß der Chefredakteur nichts bekommt. Ich meine, ich bekomme 5000 pro Platz oder so. Auf meinem Kontoauszug erscheint das ja nicht. Stellen Sie sich mal vor, Mr. Margin, daß 4- von 5000 in ihrer Brieftasche landen. Das erschiene doch auch nicht auf Ihrem Kontoauszug. Wenn Sie wissen, was ich meine.» «Ich weiß genau, was Sie meinen», sagte Mr. Margin und sah Miss Baskerville verzweifelt an. «Wenn es nach mir geht, Mr. Margin, halten wir den Deckel auf der ganzen Sache.» Eine Weile herrschte Schweigen und gemeinsames Nachdenken. Dann räusperte sich Mr. Margin und sagte: «Also gut, Folio, ich glaube, wir sind jetzt im Bilde. Ich schlage vor, daß Sie Ihren Schreibtisch ausräumen, und ich gebe Ihnen dann Nachricht, wie wir in Ihrem Fall verfahren werden.» «Das gefällt mir nicht, Mr. Margin», sagte Folio. «Ich bin schon lange dabei, und ich glaube nicht, daß Sie mich so einfach vor die Tür setzen können, wenn Sie wissen, was ich meine.» «Was meinen Sie denn, Mr. Folio?» «Ich meine, ich könnte ja zu Mr. Tooling gehen oder so. Ich müßte ja nicht mal sagen, daß Sie in der Sache drin stecken. Ich meine, wo waren Sie denn eigentlich, Sie, der Chefredakteur, als ich die Rezensionsexemplare eingesackt und die Bestsellerlisten getürkt habe? Dann säßen wir aber beide vor der Tür, Mr. Margin.» Dem folgte nachdenkliches Schweigen, und Mr. Margin sagte: «Was schlagen Sie also vor?» «Ich bin schon lange dabei, hab ich ja schon mal gesagt, hab Pakete gepackt und Klos geputzt. Ich finde, mir steht etwas zu.» -103-
«Eine Gehaltserhöhung?» «Eine Beförderung, Mr. Margin. Ich möchte Redakteur werden, wie alle anderen auch.» «Redakteur!» sagte Mr. Margin. «Was halten Sie davon, Page?» fragte Folio. «Schlau genug sind Sie jedenfalls.» «So seh ich das auch. Also, was sagen Sie, Mr. Margin?» «Lassen Sie uns allein, sage ich.» «Und Sie geben mir dann Bescheid?» «Wir geben Ihnen Bescheid», sagte Mr. Margin mit Grabesstimme. Sobald Folio gegangen war, sagte Mr. Margin: «Miss Baskerville, glauben Sie, daß wir die Sache unter uns behalten können?» «Mr. Margin, Sie sind vielleicht dazu in der Lage, den Deckel drauf zu halten, aber ich kann das nicht. Der Mann gehört ins Gefängnis. Sie wollen doch nicht etwa ein Verbrechen decken, oder?» «Ich glaube nicht», sagte Mr. Margin. «Miss Baskerville», sagte ich, «wenn wir Folio loswerden wollen, müßten wir die Sache öffentlich machen, nicht wahr?» «Natürlich.» «Würde dadurch nicht das Ansehen der Zeitschrift beschädigt?» «Vielleicht. Andererseits würde man es uns anrechnen, daß wir einem Kriminellen das Handwerk legen.» «Und glauben Sie nicht auch», fuhr ich fort, «daß uns Verlage verklagen würden, weil deren Bücher nicht Nummer Eins wurden, weil Folio die Plazierung -104-
anderweitig verkauft hatte?» Mr. Margin richtete sich wieder auf, und Miss Baskerville fingerte an ihrem Kinn herum. Schließlich sagte sie, daß sie die Angelegenheit mit ihren Vorgesetzten diskutieren wollte. Nachdem sie weg war, dankte Mr. Margin mir überschwenglich und bat mich, mit Folio zu reden. «Er mag Sie. Laden Sie ihn zum Essen ein. Kriegen Sie raus, was er wirklich will!» Ich überließ Folio die Wahl des Restaurants, und sie fiel natürlich auf einen teuren Mafia-Laden, wo er ein gern gesehener Stammgast war. Ich sagte, daß er meiner Meinung nach aus der Bredouille sei, nicht jedoch Mr. Margin. Und ob er ernsthaft Redakteur werden wolle. «Quatsch, das könnte ich mir gar nicht leisten. Ich wollte Mr. Margin bloß einen kleinen Schreck einjagen. Ich wende mich einem anderen Tätigkeitsfeld zu.» «Dürfte ich fragen, um was es sich handelt?» «Können Sie sich das nicht denken? Bei meiner Qualifikation mit Büchern?» »Ein Buchmacher?» «Ganz recht.»
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VII Der Sanierer Kurz darauf fuhr ich in einen zweiwöchigen Urlaub. Am Freitag vor meiner beabsichtigten Rückkehr rief Mr. Margin mich auf dem Land an, um mir mitzuteilen, daß er abgelöst worden sei. «Von wem?» fragte ich. «Ich kann Ihnen soviel sagen, daß es ein ProteanKarrierist ist.» «Das schränkt das Feld aber nicht sehr stark ein.» «Ich kann Ihnen darüber hinaus sagen, daß er bei mehr Protean-Zeitschriften Chefredakteur war als jeder andere.» «Sie scherzen!» «Ich scherze nicht», sagte Mr. Margin. «Versteht er etwas von Büchern?» «Mein lieber Frank, er verfügt über eine weitaus wertvollere Qualifikation.» «Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß er das Wesen der Menschen versteht.» «Durchaus nicht. Er ist ekelhaft. Wenn er redet, rücken die Kollegen ihre Stühle weg und blicken zu Boden, und wenn es zu lange dauert, gehen sie austreten. Aber Mary Tooling ist natürlich von ihm überzeugt.» «Weil sie ihn mag?» «Nein, nein, mein lieber Junge. Eine derart abstoßende Erscheinung schiebt eine Firma nicht alle Tage nach vorn. Er schmeißt Leute raus.» So war es. Vor zwei Jahren war Newbold Press vom -106-
Rupert-Murdoch-Konzern abgeworben und dann als Sanierer von Zeitschrift zu Zeitschrift durchgereicht worden. Als Protean dem Chefredakteur von Vin kündigte - «das erlesene Magazin, gewidmet dem sphärischen Wunder des Weins» -, bekam Press den Posten und hatte nach drei Monaten ein Drittel der Redaktion gefeuert, die er durch billigere und flottere Kräfte ersetzte. Das Gleiche machte er mit Moi! -«das Magazin für die liebste Person in meinem Leben: Ich!» Als er Moi! umstrukturierte, reimten die Mitarbeiter den Titel auf Heu. Kurz darauf wurde bekannt, daß Newbold Press Chefredakteur von Esprit werden sollte - «das mutmachende Magazin für Männer und Bestien». Die Redaktion drohte unverzüglich damit, geschlossen zurückzutreten. Time und Newsweek berichteten über den Fall, und Press wurde in der Firmenhierarchie in Deckung gebracht, offensichtlich aber nur vorübergehend. «Können wir es nicht auch so machen wie bei Esprit?» fragte ich Mr. Margin. «Ich fürchte, nein. Die ganze Sache ist mit Hitlerscher Rücksichtslosigkeit eingefädelt worden. Gestern morgen hat Tool mich erst einmal in ihr Büro bestellt. Man ließ mich eine Stunde lang warten - absichtlich, wie sich herausstellte. Das Gespräch dauerte nur zehn Minuten. Der Kern ihrer Botschaft bestand nicht darin, daß ich als Chefredakteur von Belles Lettres abgelöst werden sollte, sondern daß ich schon abgelöst war. Zum gleichen Zeitpunkt saß Newbold Press nämlich bereits in meinem das heißt, in seinem - Büro und konfrontierte die Redaktion mit den neuen Machtverhältnissen. Tool legte mir nahe, mich erst nach dem kommenden Wochenende, genauer gesagt am späten Montagnachmittag, wieder in der Redaktion blicken zu lassen. Dann gibt es dort nämlich eine Party zur Feier von Press' Inthronisierung als -107-
Chefredakteur und meiner Ernennung zum Kolumnisten.» «Zum Kolumnisten?» «Wußten Sie nicht, daß es der Traum eines jeden Chefredakteurs ist, mit einer Kolumne in Rente gehen zu dürfen? Kein Verwaltungskleinkram mehr, nie wieder Beschwerden von Lesern und Anzeigenkunden. Keine Probleme mehr mit den Mitarbeitern. Keine Babypausen und keine Nervenzusammenbrüche mehr. Nur noch ein bißchen Lesen und Schreiben und Kontoauszüge abheften.» «Sind Sie sehr verärgert?» «Ich weiß es noch nicht, Frank. Ich glaube sogar, daß ich damit gerechnet habe.» «Und was für eine Kolumne soll das werden?» «Über Bücher. Finden Sie nicht auch, daß das eine umwerfende Idee ist? Tool wollte sie ‹Das literarische Spiel› nennen. Ich sagte, daß Literatur kein Spiel sei, und schlug, ironisch gemeint, ‹Causeries du Lundi› vor. Sie war einverstanden, und ich dachte: Warum eigentlich nicht?» «Aber die Zeitschrift erscheint doch gar nicht am Montag.» «Wir ändern den Erscheinungstermin. Das nennt man guten Journalismus.» «Ich verstehe aber immer noch nicht, warum wir es nicht wie bei Esprit machen können.» «Press hat schon Gespräche mit den Redakteuren geführt, immer hübsch einen nach dem anderen, wobei er der einen Hälfte in den Hintern getreten und die andere Hälfte zur Sau gemacht hat. Beispielsweise Virginia - er hat sie gefragt, was sie eigentlich bei Belles Lettres zu suchen habe. Am Telefon hat sie mir erzählt, daß sie einen -108-
Blackout bekam, als sie versuchte, ihre Tätigkeiten aufzuzählen. Press machte Bemerkungen wie: ‹Aber irgend etwas müssen Sie doch zu tun haben, Virginia. Ein Arbeitstag dauert acht Stunden. Denken Sie mal nach!› Und sie sagte dann solche Sachen wie: ‹Ich redigiere die Überschriften, ich habe die Überschriften seit zwanzig Jahren redigiert.› ‹Aber das dauert doch nur fünf Minuten, Virginia. Was machen Sie mit dem Rest des Tages? Setzen Sie sich jetzt mal schön an ihren Schreibtisch und schreiben mir eine Liste mit den Dingen, die Sie so treiben. Nehmen Sie sich ruhig Zeit dafür.› Sie sagte, daß sie die ganze Nacht nicht geschlafen habe. Auf diese Weise ist die Redaktion sortiert worden, in diejenigen, die leben dürfen, und in diejenigen, die sterben müssen, um Tools Formulierung zu benutzen. Erstere, fürchte ich, würden sich einem Protest wohl kaum vollen Herzens anschließen, und letztere haben ihren Rausschmiß nicht ungern akzeptiert. Press hat ganze Arbeit geleistet. Das ist ja auch seine Spezialität.» «Und zu welcher Fraktion gehöre ich Ihrer Meinung nach?» «Er braucht Sie. Hat Tool mir selbst erzählt. Und wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Frank?» «Natürlich.» «Sitzen Sie das aus. Er bleibt nicht lange. Er ist ein Ignorant und ein Prolet. Der Literaturbetrieb wird die Toolings unter Druck setzen, damit er verschwindet. Ich glaube auch gar nicht, daß er sehr lange bleiben soll.» «Und warum sollte ich das aussitzen?» «Um das, was von der Redaktion übrig bleibt, zu schützen, Frank.» Ich glaubte, daß ich dazu sogar in der Lage sein würde. Wenn ich Press die Unterstützung gäbe, die er benötigte, -109-
bekäme ich gewiß beträchtlichen Einfluß auf die Redaktion. «Und kann ich Ihnen irgendwie helfen? Was meinen Sie?» fragte ich. «Danke, Frank, aber ich brauche keine Hilfe. Wenn eine Firma einen der Ihren erst einmal zurechtgestutzt hat, neigt sie dazu, ihn in Frieden zu lassen. Nicht, daß die Firma ein Herz hätte; vielmehr hat sie die Gewißheit, daß sie dem Betroffenen einen kleinen, klebrigen Klumpen Selbsthaß implantiert hat, der wachsen und den Burschen schließlich zu einem Querulanten machen wird, und dann versteht jeder, warum der Bursche damals zurechtgestutzt werden mußte.» «Hat man das mit Ihnen schon geschafft?» «Das wissen wir jetzt noch nicht, oder?» «Ich glaube, ich werde das aussitzen», sagte ich. Newbold Press' dichter Haarschopf war, ganz im Stil Cyrus Toolings Jr., halb nach vorn und halb zur Seite gekämmt, und sein Gesicht sah so kindisch aus wie das eines Zwergs. Als ich ihn am folgenden Morgen zum ersten Mal in seinem Büro sah, legte er gerade einen zweireihigen, blauen Blazer ab, unter dem ein blaßlila Hemd mit weißem Kragen und weißen Manschetten zum Vorschein kam. Als er den Blazer am Schluß unseres Gesprächs wieder anzog, sah ich, daß in der Brusttasche eine goldene Taschenuhr steckte, befestigt mit einer Kordel an einer Spange, die im Knopfloch des Blazeraufschlags steckte. Unter dem Blazer trug er hellgraue Flanellhosen mit leichtem Aufschlag, und dazu polierte graue Slipper mit Schnallen. Seine Stimme klang quäkend, und wenn er Pausen überbrücken wollte, klopfte er mit seiner Pfeife gegen den Aschenbecher. Zum selben -110-
Zweck hustete er, räusperte sich grundlos und machte merkwürdige Geräusche wie «hiho» oder «huha». Wenn er keine Geräusche von sich gab, füllte er den Raum mit Körperbewegungen, rieb sich insbesondere die Brust und hob die Arme, so daß man die dunklen Flecken unter den Achseln sah. Während des Gesprächs stand er auf, ging im Zimmer auf und ab und griff sich mit der Hand in den Schritt, sei es aus Kameradschaftsgeist, sei es als Drohung. Was er sagte, hatte ich mehr oder minder erwartet, nur daß ich überrascht war, wie genau er über den Charakter einzelner Redaktionsmitglieder im Bilde war. Überrascht war ich auch, daß er einfach davon ausging, mich auf seiner Seite zu haben. Eine Bemerkung, die er mitten im Gespräch fallen ließ, erklärt vielleicht diese Annahme: «Sie und ich sind noch jung, Frank. Protean ist im mittleren Alter. Die Toolings erwarten von mir, daß ich den Laden davor bewahre, alt zu werden. Ich will, daß Sie mir dabei helfen.» Als ich die Gesprächspause nicht füllte, sagte er: «Wollen Sie mir dabei helfen?» «Ich will mir selber helfen», sagte ich. Sogleich entspannte er sich. «Ho-kay!» sagte er, zog sich an der Nase, zupfte sich am Ohrläppchen und entwickelte weiter seine Pläne: «Dann wollen wir mal auf den Punkt kommen. Ellie Bellyband weiß nicht mal, wo's zum Klo geht. Was sollen wir mit der anfangen?… Ich frage Sie!» «Darüber muß ich nachdenken», sagte ich. «Hokay! Ed Princeps sollte sich lieber mit Schriftrollen beschäftigen statt mit Büchern. Wir sparen uns seine 50000 und verteilen die auf zwei Mädels, die wir uns vom Vassar-College holen.» Ich nickte. -111-
«Hokay!» sagte er und schielte auf seine Liste. «Virginia biete ich eine Abfindung an. Zwei Jahre volles Gehalt zusätzlich zur Pension.» «Und wie reagiert sie darauf?» «Sie weiß, daß sie 'ne Nervensäge ist, und glaubt, uns aufhalten zu können. Wenn sie so weitermacht, steht sie am Ende mit nada da. Reden Sie mit ihr!» Press deutete mit dem Zeigefinger so auf mich, wie ich vermutlich auf Virginia zeigen sollte, wenn ich mit ihr sprechen würde. «Machen Sie das?» «Ich rede mit ihr», sagte ich. «Hokay!» Und so ging es weiter. Auch Chuckle Faircopy, der Exzentriker, der im wesentlichen die Überschriften für Belles Lettres verfaßte, mußte gehen. «Kontrollieren Sie die Überschriften», sagte Press. «Lehnen Sie sie grundsätzlich ab. Kurz vor Redaktionsschluß einer Ausgabe schreiben Sie eigene Überschriften. Nach drei oder vier Wochen ist er weg.» Lou Bodoni konnte bleiben, durfte aber nicht mehr mit Trainingshosen aufkreuzen. «Darum kümmere ich mich selbst», sagte Press. Ben Boards, der Layouter, konnte gleichfalls fürs erste bleiben, «aber Tool steckt mehr Knete in Belles Lettres. Wir drucken ab sofort nicht mehr auf Klopapier. Wenn Boards die Veränderungen schnallt, kann er bleiben. Und was Margin betrifft, sind Sie, soviel ich weiß, mit ihm befreundet. Damit hab ich keine Probleme. Wenn Sie sich um ihn kümmern wollen, redigieren Sie seine Kolumne, halten ihn bei Laune, ein gern gesehener Gast! Und was Frank Page betrifft, wollen wir ihm gern die Arbeit versüßen. Er muß uns nur helfen. Hokay?» Ich nickte. Er witterte wohl meine Zurückhaltung, weil er sagte: -112-
«Hören Sie zu, mein Freund, ich will diesen Job nicht allein machen. Ich wünsche Hilfe. Wer sollte Ihrer Meinung nach noch gehen?» «Darüber muß ich nachdenken», sagte ich. «Denken Sie jetzt!» «Jemanden rauszuschmeißen ist eine ernste Angelegenheit, ernst für die betreffende Person und ernst für die Zeitschrift. Sie wollen doch ein abgewogenes Urteil, nicht wahr?» Er musterte mich genau, und ich konnte seinem Blick entnehmen, daß er in meiner Antwort eine Drohung witterte, als ob ich zu den Toolings laufen und petzen würde, Newbold Press habe mich zu überstürzten Handlungen gezwungen. Er sagte nicht: «Hokay!». Er sagte: «Okay. Nach dem Mittagessen. Ein Name reicht.» Ich rief Mr. Margin an, um ihm zu berichten, was passiert war. Ich ging davon aus, daß er sich darüber freuen würde, daß ich seine Kolumne redigieren sollte. Das tat er auch. Und über das, was Press sonst noch gesagt hatte, wunderte er sich durchaus nicht. «Woher hatte er so viele Informationen über die Belegschaft? Von Ihnen ja wohl bestimmt nicht.» «Es gibt da etwas, was Sie wissen sollten, Frank», sagte Mr. Margin, und fuhr nach einer langen Pause fort: «In der Redaktion gibt es ein Informationsleck. Ich sage das mit größter Zurückhaltung. In meinen Augen ist Denunziation schlimmer als…» «Das verstehe ich nicht. Jemand aus der Redaktion informiert… ja, wen denn?» «Tool. Jetzt Press. Die betreffende Person hat auch versucht, sich mir anzudienen. Ich habe der Person -113-
geraten, die Information an eine höhere Stelle weiterzugeben, was, wie ich glaube, auch geschehen ist. Ich sage das, weil bei mehr als einer Gelegenheit Tool Dinge aus der Redaktion wußte, die sie nur durch dies Informationsleck erfahren haben konnte.» «Was denn zum Beispiel?» «Während einer Konferenz habe ich eines Tages der Redaktion erklärt, daß ich für den Fall, daß Tool einen bestimmten Essay ablehnen sollte, den ich als Titelgeschichte bringen wollte, noch einen anderen ‹auf Lager› hätte. Genau das waren meine Worte. Tool gefiel der Essay nicht, und als ich zu ihr sagte, daß es dann Probleme gebe, den Platz zu füllen, fragte sie, ob ich nicht einen anderen ‹auf Lager› hätte. Daraufhin habe ich diese Person von allen vertraulichen Konferenzen ausgeschlossen. Daraus müßten Sie eigentlich schließen können, um wen es sich handelt.» «Ich muß schon sagen, Mr. Margin, daß Sie da etwas naiv waren. Denunzianten gibt es in jedem Büro.» Er nannte mir den Namen der Person, nachdem ich ihm versprechen mußte, ihn niemals zu enthüllen und die Information nur zu benutzen, um mich selbst und die Redaktion zu schützen. Überrascht war ich nicht. Die Person war ein zur Selbsterniedrigung neigender grammatischer Beckmesser, der nicht nur auf korrektem Sprachgebrauch beharrte, sondern abweichende Einschätzungen danach beurteilte, von welchem hierarchischen Rang aus sie vorgebracht wurden. Zu Texten, die über die Qualität von Kriminalromanen hinausgingen, äußerte diese Person nie eine eigene Meinung, sondern legte eine derart hartnäckige Pedanterie an den Tag, daß die Kollegen die Geduld verloren. Ich verstand, daß Denunziation hier als Möglichkeit benutzt wurde, sich im System über das System lustig zu machen. -114-
Die Person tröstete sich so darüber hinweg, daß sie unter ihren eigenen Möglichkeiten arbeitete. «Ich nehme an, daß ich Sie heute nachmittag auf der Party sehe», sagte ich. «Meinen Sie, daß ich eine Rede vorbereiten sollte?» «Warum nicht? Wenn es sich so ergibt?» sagte ich. Nach dem Mittagessen nannte ich Newbold Press den Namen des Denunzianten als meinen Beitrag für seine Rausschmiß-Liste. Er bedankte sich, wie mir schien, nachdenklich. Die Party im Büro des Chefredakteurs begann mit dem Eintreffen der Toolings, Mary und Cyrus Jr. Cyrus war ein gedrungener Mann mit klobigem Kinn und dichtem Haar. Obwohl er schwergewichtig war, verfügte er nur über eine dünne Stimme, kleine Hände und kurze Arme, mit denen er schon beim nichtigsten Anlaß die Leute umschlang, etwa um einen Text zu belobigen, eine kluge Bemerkung zu delektieren, sich für eine extravagante Schmeichelei zu bedanken oder einfach nur aus purer Jovialität. Er legte einen Arm um Press und den anderen um Mr. Margin, als wollte er mit den beiden für ein Foto posieren. «Wenn ich an diese beiden Männer denke», begann er seine Ansprache, für die nun allgemeine Ruhe einkehrte, «denke ich daran, wie treffend mein Vater seine Firma genannt hat. Beide sind wie Proteus, der, wie wir wissen, ein griechischer Gott war, der sich in jede beliebige Gestalt verwandeln konnte. Marge Margin kann ich nur als Phänomen bezeichnen. Mein Vater stellte ihn ein, als er frisch von Harvard kam. Zuerst machte er eine -115-
Stipvisite bei Homme, von uns, wenn ich es recht erinnere, beworben mit dem Slogan: ‹das Magazin, das weiß, wie's geht›. Tja, und es ging. Die sechziger Jahre hatten ja ihre eigenen Vorstellungen über alles und jeden, auch über Zeitschriften. Aber Marge blieb am Puls der Zeit und ging als stellvertretender Chefredakteur zu Chez Elle, und zwar als einziges männliches Redaktionsmitglied. Wenn das nicht typisch proteisch ist!» Er sammelte mit breitem Grinsen Gelächter ein. «Und dann Belles Lettres, die unter Marges Chefredaktion zur führenden literarischen Zeitschrift englischer Sprache wurde.» «Hört, hört!» sagte Chuckle Faircopy, der bereits beim dritten Scotch war. «Was kann ich sonst noch sagen? Jetzt nimmt er eine weitere Stufe in Angriff. Er wendet sich direkt an die Öffentlichkeit, was, wie ich felsenfest überzeugt bin, Belles Lettres und seinen eigenen Ruhm mehren wird. Ich trinke auf Marge Margin, unseren Autor!» Damit entließ Cyrus Tooling Mr. Margin aus seinem festen Griff und wandte sich nach höflichem Beifall Newbold Press zu. «Mein zweiter Proteus ist vielleicht ein Genie, und ist doch erst knappe Dreißig. Er arbeitet erst seit zwei Jahren mit mir zusammen und hat vor seiner gegenwärtigen Aufgabe bereits drei Zeitschriften herausgegeben. Wir wissen ja alle, was Skriptflicker sind Superprofis, deren Stunde schlägt, wenn die Durchschnittsprofis ihr Bestes versucht haben, und manchmal ist es nur eine Frage von Stunden, daß sie ein Theaterstück vom Flop zum Hit machen…» «So 'ne Art Unfallchirurg», sagte Chuckle. «Manchmal ein Chirurg, ja; manchmal ein Psychiater; manchmal ein Kinderarzt, wenn der Patient noch jung ist…» -116-
«Unter was leidet Belles Lettres denn?» fragte Chuckle. «Ich wüßte nicht, daß Belles Lettres unter irgend etwas leidet», sagte Cyrus Tooling. «Höchstens eine kleine Unpäßlichkeit. Newbold, als was würden Sie Belles Lettres' Unpäßlichkeit bezeichnen?» «Im Augenblick», sagte Press, «als Große-KlappeBeschwerden.» «Ich glaube», sagte Cyrus Tooling diplomatisch, «wir würden jetzt alle gern ein paar Worte von Marge Margin hören!» Mr. Margin lächelte auf seinen Drink hinab, zwinkerte, schüttelte den Kopf, als sei er milde amüsiert über das, was er nun sagen würde, nippte an seinem Drink, schien sprechen zu wollen, ging dann aber erst zum Konferenztisch und schaltete das Tonbandgerät aus, das die von ihm als Informationsleck identifizierte Person ins Büro gebracht hatte, um aufzuzeichnen, was gesagt wurde. «Je parlerai en franςais», sagte er, «puisque nos très importants hôtes ici présents publient Jardin, Théâtre, Mer et Terres. Comme vous avez maintenant un nouveau rédacteur en chef de Belles Lettres, je voudrais parier de lui. Quand il vous demande de faire quelque chose, faitesle immédiatement et sans discuter. Il veut votre obéissance et non pas vos flatteries. S'il veut votre opinion, donnez-la lui, parce qu'il ne s'intéresse pas à ce que vous pensez, mais seulement à ce que vous faites. Ainsi vous conservez votre amour-propre. Ne montrez pas d'emotion car cet homme est comme un expert de judo, qui retourne contre lui le poids de son adversaire. Enfin, réservez votre dédain pour deux si importants personnages, Mr. und Mrs. Tooling, die Newbold Press die führende literarische Zeitschrift englischer Sprache in die Hände gelegt haben, Belles Lettres!» Mr. Margin sprach die letzten beiden -117-
Worte fast singend aus und hob sein Glas. «Bravo!» sagte Cyrus Tooling. «Gleichfalls!» sagte seine Frau.
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VIII Totes Holz Ich wunderte mich, daß David Levines Karikatur von Mr. Margin immer noch im Zimmer des Chefredakteurs hing. An den Wänden sah ansonsten nichts mehr aus wie zuvor. Ich hatte nie besonders auf Mr. Margins Bilder geachtet, aber seit sie nicht mehr da waren, erinnerte ich mich an eine Reihe Schwarzweißfotografien von Baumstümpfen, Astlöchern und Borke. Jetzt war nur noch der Levine übrig, auf dem ein langer, dünner Margin mit einem Fuß auf einem Bücherstapel balancierte und in der obersten Borte eines hohen Bücherregals nach einem bestimmten Band griff. Die Zeichnung war zu Promotionszwecken in Auftrag gegeben worden und erschien in Anzeigen mit dem Untertitel: «Für's Beste ganz nach oben.» Ich wußte, daß Mr. Margin das Bild gefiel; es hing nicht nur in seinem Büro, sondern er zitierte die Zeile gelegentlich mit einem bescheidenen Lächeln. Newbold Press sah, daß ich den Levine betrachtete, und sagte: «Ich habe ihn gebeten, das Bild hängen zu lassen. Ich habe ihm gesagt, daß es zur Einrichtung von Belles Lettres gehört…. Und er hat es hängen gelassen», fügte Press hinzu, als hätte er Mr. Margin übertölpelt. «Ich hab der Werbeabteilung gesagt, daß Levine auch eine Zeichnung von mir machen soll. Haben Sie vielleicht 'ne Idee dafür?» «Für einen Levine, der Sie zeigt?» Ich stellte mir ein halbaffenartiges Geschöpf vor, das in einer Hand eine Pfeife und in der anderen ein Buch hielt - und zwar verkehrt herum. Aber ich sagte zu ihm: «Wie wär's mit -119-
einer Figur, die wie Sie eine Pfeife in der Hand hält, aber eine ganz große, und in den Pfeifenkopf sind die Namen berühmter Literaten eingraviert, so wie im Fries einer Bibliothek?» «Was denn für Namen?» «Die üblichen.» «Zum Beispiel?» «Hesiod, Homer, Pindar, Pattia, Maxina, Laverna… Sie wissen ja schon.» Nach einer ernsten Pause sagte er: «Reichen Sie mir mal ein Memo mit den Namen rein.» «Der Platz würde natürlich nur für drei bis vier reichen.» «Ein Memo!» «Mach ich.» «Hokay!» sagte er. «Und jetzt wieder an die Arbeit. Ich habe hier Faircopys Überschriften. Schreiben Sie sie um, aber zeigen Sie sie mir, bevor Sie sie ihm zeigen.» «Ich soll ihm sagen, daß sie Ihnen nicht gefallen, stimmt's?» «Falsch. Sie sagen ihm, daß sie Ihnen nicht gefallen.» «Aber vielleicht gefallen sie mir ja.» «Sie verstehen mich nicht», sagte Press. «Ich habe nicht nur entschieden, daß diese Titel schlecht sind, sondern ich habe auch entschieden, daß Sie entschieden haben, daß sie schlecht sind.» Wir sahen uns einige Sekunden lang an, er mit dem eingefrorenen Lächeln, das er Mrs. Tooling abgeschaut hatte. Ohne weiteren Kommentar streckte ich die Hand nach den Überschriften aus. Ohne weiteren Kommentar gab er sie mir.
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Abends rief ich Mr. Margin an, um mich zu erkundigen, wie er mit seiner ersten Kolumne zurecht kam. Sie mußte am nächsten Tag fertig sein. «Ich dachte da an zweierlei, Frank. Zum einen mich sozusagen vorzustellen. Ich bin ja trotz allem für die meisten Leser ein Anonymus. Zum anderen von den Frustrationen zu erzählen, die einen Redakteur plagen, der durch die Worte anderer hindurch kommunizieren muß, und dagegen jetzt das Gefühl von Macht und Freiheit, das ihn überkommt, wenn ihm die Gelegenheit geboten wird, direkt das Wort zu ergreifen…» «Fühlen Sie sich jetzt denn so? Mächtig und frei?» «Frank, ich fühle mich matt und eingeschränkt. Ich bin kein Autor. Das weiß ich schon seit Jahren.» «Dann können Sie auch nicht darüber schreiben, daß Sie sich mächtig und frei fühlen. Warum erklären Sie nicht einfach, was der Chefredakteur einer Zeitschrift eigentlich zu tun hat, nämlich eine Gruppe von Autoren so zu leiten, wie ein Dirigent eine Gruppe von Musikern leitet, indem er aus der Gruppe mehr herausholt, als jeder einzelne das für sich könnte. Genau das haben Sie doch getan.» «Jedenfalls kam es mir so vor.» «Dann berichten Sie doch darüber. Das würde die Leute interessieren.» «Ich werd's versuchen.» «Und darf ich noch einen Vorschlag machen?» «Natürlich.» «Schreiben Sie es schnell. Sie sind vielleicht kein Autor, aber Sie sind ein guter Redner. Sprechen Sie beim Tippen. Es sind ja auch nur achthundert Worte. Rufen Sie mich an, wenn Sie fertig sind.» Eine Stunde später rief er zurück, las mir die Kolumne -121-
vor, und sie war gelungen. Dann redigierte ich Chuckle Faircopys Überschriften. Einige wären in der Produktion sowieso weggefallen. Zum Beispiel gab es auf gegenüberliegenden Seiten aufeinander abgestimmte Rezensionen, eine über einen Band mit Briefen Shaws, die andere über eine Auswahl aus George Eliots Briefen. Faircopy hatte darauf abgestimmte (um es dezent auszudrücken) Überschriften getextet: «Herzlich, George» und «Herzlich, George». Ich änderte sie in «Mann des Worts» und «Frau des Worts». Die meisten anderen Überschriften waren tadellos, und eine, für ein Buch über die Entstehung von Michael Ciminos Film «Heaven's Gate», war geradezu perfekt - «Episches Versagen». Ich ließ das so stehen. Am nächsten Morgen sah sich Press die Überschriften an und sagte: «Machen Sie ‹Episches Versagen› zu ‹Versägtes Epos›!» «Dann verliert es seinen tieferen Sinn», sagte ich. «Wir mögen keinen Tiefsinn», sagte er. «Ändern Sie das und zeigen Sie ihm, was Sie gemacht haben.» Ich schob das Treffen mit Faircopy so lange wie möglich hinaus, aber die Produktion würde bald die Überschriften verlangen, und so ging ich kurz vor Mittag zu seinem Schreibtisch. Er arbeitete bereits an der nächsten Ausgabe. «Chuckle», sagte ich, «die Überschriften.» «Scheibenkleister!» Er winkte mich auf seinen Besucherstuhl, und ich setzte mich, während er die Änderungen studierte. Er brauchte lange. Schließlich sagte er: «Das ist das Werk eines Arschlochs.» «Chuckle…» -122-
«Sie sind nicht das Arschloch, Frank. Ich kann mir schon denken, was hier abgeht.» «Sind Sie sich sicher?» «Und ob ich mir sicher bin. Für nächste Woche schreibe ich zwei Lieferungen von Überschriften, eine richtige und eine falsche. Die richtige gebe ich Ihnen und die falsche dem Arschloch. Wenn Sie sie dann redigieren, können Sie die richtige benutzen. Spielen Sie mit?» «Mach ich.» «Ich würde Sie nie für ein Arschloch halten, Frank. Nicht von diesem Kaliber.» «Danke», sagte ich und hatte das Gefühl, das man hat, wenn einem das Kuscheltier eines anderen Sympathie entgegen bringt. Nach dem Mittagessen rief mich Press in sein Büro. Er hielt Mr. Margins Manuskript hoch. «Was fällt Ihnen eigentlich ein?» «Wie meinen Sie das?» «Haben Sie das gelesen?» «Nein», sagte ich wahrheitsgemäß. «Er hat darüber geschrieben, wie er als Chefredakteur war. Ich bin hier der Chefredakteur. Er ist nur ein Kolumnist. War das Ihre Idee?» «Ich habe die Kolumne ja noch nicht mal gelesen», sagte ich. «Rufen Sie ihn an und sagen ihm, daß es so nicht geht.» «Darf ich ihm sagen, daß es Ihnen nicht gefällt?» «Darauf können Sie Ihren süßen Arsch verwetten.» Wie befohlen, rief ich Mr. Margin an, sagte jedoch: -123-
«Würden Sie etwas tun, ohne nach dem Warum zu fragen?» Nach einer Pause sagte er: «Natürlich, Frank.» «Haben Sie einen Durchschlag von Ihrer Kolumne?» «Ja.» «Bringen Sie die ins Verlagsgebäude und legen Sie sie Mr. Tooling vor. Sagen Sie einfach, daß Sie seine Meinung wissen wollen.» «Warum denn, Frank?» «Vertrauen Sie mir. Er wird sich geschmeichelt fühlen. Wollen Sie das tun?» «Wenn Sie meinen.» «Rufen Sie mich danach sofort an und erzählen mir, was er gesagt hat.» Fünfzehn Minuten später stand Press vor meinem Schreibtisch. «Haben Sie ihn erwischt?» «Er ist nicht zu Hause», sagte ich, und das stimmte wahrscheinlich sogar. «Bleiben Sie dran! Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie ihn erwischt haben!» «Hokay!» sagte ich. Fünfundvierzig Minuten später rief Mr. Margin aus dem Büro des Verlegers an. Seine Kolumne war ein voller Erfolg. «Cyrus hat sogar gesagt, daß er den Wechsel schon vor Jahren vorgenommen hätte, wenn er gewußt hätte, daß ich so gut schreiben kann. Außerdem hat er gesagt, daß er sich geschmeichelt fühle.» «Herzlichen Glückwunsch.» «Danke, Frank.» -124-
«Haben Sie ihn erwischt?» fragte Press, als ich in sein Büro kam. «Er hat mich angerufen und gesagt, daß Mr. Tooling seine Kolumne gefallen hat.» «Er hat sie Tooling gezeigt?» «Offenbar.» «Und Tooling hat was gesagt?» «Daß sie ihm gefällt.» «Haben Sie Margin gesagt, daß sie mir nicht gefällt?» «Ich dachte, daß ich Sie lieber vorher frage.» «Okay. Schwamm drüber. Geben Sie die Kolumne in Satz.» Ich wandte mich zum Gehen. «Machen Sie ihm klar, daß eine Kolumne zu diesem Thema mehr als genug ist.» «Das leuchtet ihm wahrscheinlich ein. Er war ja selber mal Chefredakteur.» Abends rief ich Mr. Margin an und berichtete ihm alles, was passiert war. «Sie sind ein kluger, junger Mann», sagte er. «Allerdings könnte Press merken, worauf Sie hinauswollen. Seien Sie vorsichtig.» Am nächsten Morgen fragte mich Press, ob ich mit ihm zu Mittag essen wollte. «Reservieren Sie einen Tisch in Ihrem Lieblingsrestaurant! Die Rechnung geht auf Protean.» Ich reservierte in meinem zweitliebsten Lokal, weil ich mein Lieblingsrestaurant nicht kontaminieren wollte. Würde er auf mir herumhacken, mich einschüchtern, an -125-
meinen gesunden Menschenverstand appellieren? Nichts dergleichen. Er erklärte sich mir. Nach einigen Floskeln, die er für höflich hielt, sprach er zusammenhängende Sätze: «Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle. Ich bin ein Mann, den im zarten Alter von dreizehn Jahren eine erstaunliche Offenbarung überkam: Es ist besser, Erfolg zu haben, als ein Versager zu sein. Ich verstand, daß Geld wichtig war: Es ist besser, reich zu sein als arm. Ich verstand, daß Macht erstrebenswert war: Es war besser, Befehle zu geben, als Befehle zu erhalten. Ich verstand, daß Ruhm köstlich war: Es war besser, bekannt zu sein, als anonym zu bleiben. Stimmen Sie mit mir überein?» Ich wußte kaum, was ich sagen sollte. Er zitierte irgend etwas, aber ich wußte nicht, was, und ich habe es bislang auch nicht herausgefunden. Er wiederholte: «Stimmen Sie mit mir überein?» Ich sagte, daß ich wahrscheinlich seiner Ansicht sei, obwohl mir auch das wichtig sei, was man tun müsse, um diese Dinge zu erreichen. Ich fügte hinzu, daß ich nicht glaubte, daß jedermann diesen Ansichten zustimme. «Ich rede nicht von Verlierern.» «Ich auch nicht», sagte ich. Weiterhin behauptete er, auf der Volksschule ein heller Junge gewesen zu sein. Seine Lehrer hätten seinem Vater empfohlen, ihn auf eine spezielle High School zu schicken. «Und da hat er mich dann auf eine sehr spezielle Schule geschickt. Ich machte eine Lehre als Automechaniker. Ich kann ein Auto mit den Füßen auseinandernehmen.» Die College-Gebühren mußte er durch eigene Arbeit aufbringen, obwohl sein Vater durchaus genug Geld hatte, für ihn zu zahlen. Wie er dann ins Verlagsgeschäft gestolpert war, erzählte er mir nicht. -126-
Unklar blieb auch, wie er sich selbst gegenüber fühlte. Hatte er über seinen Vater triumphiert? Hatte er ihm den Gehorsam verweigert? Zudem wußte ich nicht, wie er von mir gesehen werden wollte. Sollte ich ihn bedauern? Sollte ich ihn bewundern? Oder waren das nur neutrale Informationen? Jedenfalls schien seine Geschichte irgendwie nach einer Bestätigung zu schreien, und so kramte ich in meiner Erinnerung nach einem Beispiel elterlichen Betrugs. Das Beste, was mir einfiel, war meine Blinddarmoperation. Meine Mutter hatte mir gesagt, daß ich im Krankenhaus nur untersucht werden sollte. «Das hat mir wirklich Angst eingejagt», sagte ich. Als ich abends das Büro verließ, begegnete mir Tool im Fahrstuhl. Sie musterte mich mit ihren schwarzen Augen und sagte: «Sie haben heute mit Newbold zu Mittag gegessen.» Ich sagte, daß das stimme. «Gefällt er Ihnen jetzt besser?» fragte sie. «Besser als was?» «Besser als vorher.» Ich überlegte, und da er mir vorher absolut nicht gefallen hatte, sagte ich ehrlich: «Viel besser.» Mit einem Nicken bestätigte Tool ihre eigene Weisheit. Was sie wohl zu ihm gesagt hatte? Sie sind doch ein netter Kerl, Newbold. Erzählen Sie ihm etwas über sich. Dann wird er Sie mögen. Am nächsten Morgen war Press wieder voll bei der Sache. Ich sollte mit dem Großreinemachen fortfahren und Virginia Wrappers überreden, in Rente zu gehen. Ich -127-
fragte ihn, warum er ihr gegenüber nicht die gleichen, schweren Geschütze auffuhr, die er gegen die anderen in Stellung brachte. «Haben Sie noch nie was vom Buckram-Fluch gehört?» fragte er und klärte mich auf: Als Aubrey Buckram Belles Lettres an Cyrus Tooling Jr. verkaufte, geschah das unter der Bedingung, daß keinem Mitarbeiter fristlos gekündigt werden durfte. Wenn Tooling jemanden loswerden wollte, mußte er den Betreffenden abfinden. Damals bestand die Redaktion lediglich aus sieben Personen, einschließlich Virginia. Tooling empfand die Klausel allerdings als Herausforderung. Er spielte mit dem Gedanken, Belles Lettres zu verkaufen und dann wieder zurückzukaufen, und ging, vermutlich zutreffend, davon aus, daß der Buckram-Fluch sich bei dieser Transaktion verflüchtigen würde. Dann verfiel er jedoch auf einen viel simpleren Trick. In Einzelgesprächen überredete er drei der sieben Mitarbeiter, zu anderen Protean-Zeitschriften zu wechseln. Sechs Monate später, nachdem alle den Wechsel vollzogen hatten, wurden die Betreffenden gefeuert und bekamen lediglich Abfindungen für vierzehn Tage. Die ersten beiden waren nur platt und sprachlos. Der dritte beging jedoch Selbstmord. Und der vierte drohte sogar mit einer Klage. Cyrus' Anwälte meinten zwar, daß ein derartiger Prozeß aussichtslos sei, aber die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit warnte, daß The Village Voice nur darauf wartete, die Geschichte aufzublasen. Zudem hatte sich Protean damals eines Versuchs zu erwehren, die Firma gewerkschaftlich zu organisieren; und wenn die Geschichte in die Öffentlichkeit gelangt wäre, wäre das zu dem Zeitpunkt nicht sehr hilfreich gewesen. Alles in allem hielt man es also für besser, den Mann wieder einzustellen. Der Mann wollte aber gar nicht wieder eingestellt werden; er wollte klagen, und zwar wegen -128-
mentaler Grausamkeit und Verletzung seiner persönlichen Integrität. «Der Bursche», sagte Press, «ist mit 'nem Sack voll Geld nach Hause gegangen.» Ich sagte, daß ich wirklich nicht wüßte, was er sich von mir im Hinblick auf Virginia erwartete. «Ich kann ja nicht mit ihr verhandeln, weil ich nicht weiß, was Sie ihr anbieten wollen.» «Finden Sie einfach raus, was sie für Vorstellungen hat», sagte Press. «Sei's drum», sagte ich. Beim Mittagessen am nächsten Tag wich Virginia meinen Versuchen aus, das Thema Abfindung anzuschneiden, und als ich sie direkt fragte, ob man ihr Geld angeboten habe, sagte sie Dinge wie: «Sie wissen doch, wie das hier geht. Laber, laber, laber.» Als ich andeutete, daß ich bei diesem Gelaber vielleicht hilfreich sein könnte, kniff sie die Augen zusammen und sagte nur: «Vielleicht.» Sie überraschte mich auch damit, daß sie Bewunderung für die Änderungen äußerte, die Press betrieb. «Er hat schon eine tolle Karriere gemacht. Stellen Sie sich das doch mal vor, all diese Jobs in dem Alter! Allein schon die Diskussionen mit Newbold haben mich wieder zum Nachdenken gebracht. So viele gute Ideen hatte ich schon seit Jahren nicht mehr.» Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Vor einer Woche hatte sie selbst noch zu mir gesagt, drei Minuten mit Press seien wie dreißig Minuten in der U-Bahn. Dann ging mir aber auf, daß sie gedacht haben mußte, ich handelte in Press' Auftrag und würde also ihre Komplimente an ihn weitergeben. Zum Glück trank Virginia ganz gern ein Gläschen Wein zum Essen. Nach dem zweiten Glas gab sie zu, daß Press -129-
ihr eine Abfindung angeboten hatte, aber vermutlich wisse ich gar nicht, warum: Mr. Tooling wolle nämlich Press' Posten durch sie besetzen. Ich zeigte angesichts dieser Enthüllung gedämpfte Überraschung und fragte sie so rücksichtsvoll wie möglich, wie sie an diese Information gekommen sei. Sie sagte, darüber dürfe sie nicht reden, aber sie stamme aus gewöhnlich gut informierter Quelle, «dicht an höchster Stelle». «Tja, und wie finden Sie das, Virginia? Wollen Sie den Posten überhaupt haben?» «Nicht für mich persönlich», sagte sie, «sondern für die amerikanische Literatur.» Andererseits gebe es natürlich jüngere Kandidaten als sie; doch wiederum andererseits, wie viele gebe es schon mit ihrer Erfahrung? «Ich würde Sie gern als meinen stellvertretenden Chefredakteur sehen», sagte sie, «vorausgesetzt, daß Sie willens sind, sich unterzuordnen, Frank.» Ich versicherte ihr so glaubhaft wie möglich meine entsprechende Bereitschaft. «Was glauben Sie, Virginia, wie schnell dieser Wechsel vonstatten gehen wird?» «Darüber darf ich nicht sprechen. Sagen darf ich immerhin so viel: eher früher als später.» Ich nickte verständnisinnig, und sie lächelte entsprechend. Um meine eigene Sprachlosigkeit zu brechen, fragte ich sie, ob wir die Sache nicht mit einem weiteren Glas Wein begießen wollten. Sie war einverstanden und fügte schüchtern hinzu: «Wir dürfen nie vergessen, daß man den Tag nicht vor dem Abend loben soll.» «Hoffentlich gilt das nicht in diesem Fall», sagte ich. «Und, Virginia, dürfte ich noch einen Vorschlag machen? -130-
Falls Press Ihnen einen Job bei einer anderen ProteanZeitschrift anbieten sollte, müssen Sie mir versprechen, ihn abzulehnen.» Wieder kniff sie die Augen zusammen. Ob sie sich daran erinnerte, was vor Jahren mit den Leuten geschehen war, die den Job gewechselt hatten, oder ob sie sich eine noch leuchtendere Zukunft für sich selbst ausmalte, hätte ich nicht zu sagen gewußt. Sie sagte jedoch: «Eiskalt. Ich werde das eiskalt ablehnen.» Später am Nachmittag fragte mich Press, wie es mit Virginia gelaufen und wie es ganz allgemein um das tote Holz bestellt sei. Ich nickte geistesabwesend, also gewissermaßen philosophisch. «Das Problem mit Ihnen, Page, ist, daß Sie kein Blut sehen können.»
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IX Gelungene Konferenz Soweit man sich erinnern konnte, fanden die Redaktionskonferenzen traditionell am Montagnachmittag im Büro des Chefredakteurs statt. Wir waren alle sehr gespannt, wie Press sich bei der Konferenz verhalten würde. Die ersten drei hatten ohne ihn stattgefunden, und ich hatte ihn vertreten. Die ganze Prozedur war so eingeschliffen, daß sie wie von selbst nach dem bekannten Muster ablief. Ich verhinderte lediglich Witze über Press, die ansonsten alle Arbeit in Gekicher erstickt hätten. Nachdem beispielsweise Ed Princeps eine Untersuchung zum sich verändernden Balzverhalten von Singvögeln zur Rezension empfohlen hatte, warf er die Frage auf, ob wir nicht lieber Newbalz' Anwesenheit abwarten sollten, um einen Rezensenten auszuwählen. Barry Vellum sagte, wir sollten selber häufiger auf die Balz gehen und uns unsere eigenen Gedanken machen. Lou Bodoni protestierte gegen den Gebrauch sexistischer Männerphantasien als Ausweis selbständigen Denkens. Jemand anderes sagte, wir sollten uns nicht erpressen lassen, und Virginia Wrappers bat alle, lauter zu sprechen. Ich schlug vor, das Buch Mr. Margin zu überlassen, da er eine Kolumne über literarische Kuriositäten plante. Als die erste von Press zu leitende Konferenz näher rückte, verriet er seine Nervosität, indem er ein völlig überflüssiges Memo in Umlauf gab, demzufolge die Konferenz stattfinden werde. Das Memo sollte von Schreibtisch zu Schreibtisch gehen, per Initialen -132-
abgezeichnet werden und dann wieder bei Press landen. Unterwegs sammelten sich auf dem Memo lautmalerische Initialen wie A. M. O., V. P. D. und L. M. A. A., aber auch korrekte Namenskürzel. Ich fing das Blatt ab, ging in Press' Büro und verkündete, daß alle abgezeichnet hätten. Ich schlug Press vor, daß es vielleicht besser wäre, wenn ich die Konferenzen so lange leiten würde, bis er mit ihrem Ablauf vertraut sei, aber er sagte: «Nein. Sie können aber den Einpeitscher für mich spielen.» «Sie meinen: ‹Applaus für Newbold›?» «Sie haben's erfaßt.» Ich glaubte natürlich, daß er das scherzhaft gemeint hatte. Aber als sich am Montagnachmittag die Redaktion einfand und Platz genommen hatte, nickte Press mir zu. Ich nickte zurück. Er zog die Augenbrauen hoch und nickte noch einmal, und ich sagte: «Applaus für Newbold!» Die Redaktion war geschockt, weil sie das für einen Affront gegen Press hielt. Aber er spielte das Spielchen mit: «Ich sehe schon, daß Sie eine prima Truppe sind. Mäßigen Sie sich beim Lachen. Die Toningenieure sagen, daß man uns bis ins nächste Studio hören kann. Einer der Vizepräsidenten nimmt dort eine kleine Bußpredigt auf Band auf.» Er wartete, aber als niemand reagierte, sagte er: «Hokay! Heute erfahren wir allerhand über den geheimnisvollen B. Traven. Uns liegt auch ein Vorschlag des unvergleichlichen Lewis Auchincloss vor. Wir werden die beiden Schwergewichtler Saul Bellow und John Irving zum Kampf des Jahrzehnts aufeinander hetzen. Und noch viel mehr.» Der riesige, mit Intarsien verzierte Schreibtisch des Chefredakteurs war seit Xavier Deckles Tagen zum festen Inventar von Belles Lettres geworden. Dahinter saß nun -133-
Press auf einem hübschen Drehstuhl, den man wie einen Klavierhocker höher und tiefer stellen konnte, was er aber nicht wußte. Da Mr. Margin ein hochgewachsener Mann war, war der Stuhl nach unten gedreht, so daß die Schreibtischkante jetzt bis an Press' Brustbein reichte. Er hatte die Ellbogen ausgestreckt, beugte sich nach vorn und sah dabei aus wie eine hungrige Schildkröte. «Erstens, B. Traven. In meiner kleinen, heißen Faust halte ich hier den Brief eines Mannes aus Santa Fe, der behauptet, die Identität B. Travens zu kennen, und willens, bereit und fähig ist, sie zu enthüllen.» Press sah sich im Zimmer um. «Irgendwelche Kommentare?» Kein Kommentar. «Wo sind denn hier die Traven-Sklaven? Ed, wie wär's mit Ihnen?» «Man nimmt allgemein an», sagte Ed Princeps, «daß B. Traven das Pseudonym von Berick Traven Torsvan war. Eine Theorie geht davon aus, daß er 1890 in Chicago geboren wurde, eine andere, daß er aus Deutschland stammte. Gesichert scheint, daß er im Ersten Weltkrieg kämpfte und seit den zwanziger Jahren bis zu seinem Tod 1969 in Mexiko lebte.» «Eins-Plus! Sie wollen also sagen, daß wir's nicht anpacken sollen.» «Das habe ich nicht gesagt.» «Was haben Sie denn gesagt?» «Nur das, was ich gesagt habe.» «Also gut, und was ist Ihre Meinung?» «Ich habe keine Meinung.» «Reißen Sie sich zusammen!» sagte Press. Ed schlug ein Buch auf und begann zu lesen. Barry Vellum sagte: «Warum drucken wir nicht einfach -134-
das, was Ed gerade gesagt hat, und damit hat sich's?» «Wenn ich Ihre Meinung hören will, frage ich Sie danach», sagte Press. «Newbold», sagte ich, «warum sagen wir dem Mann in Santa Fe nicht, daß er uns erstmal nähere Details nennen soll? Wir können dann immer noch entscheiden, sobald wir mehr von ihm gehört haben.» «Kümmern Sie sich drum!» sagte Press und hielt mir den Brief so entgegen, daß ich aufstehen mußte, um ihn aus seiner Hand zu nehmen. «Hokay!» Press griff zu einem anderen Brief und sagte: «Lewis Auchincloss möchte eine Lobeshymne auf Gore Vidal ablassen. Was halten Sie davon… Virginia?» «Hat Gore Vidal nicht mal eine Lobeshymne auf ihn in The New York Revue geschrieben?» fragte sie. «Das war Louis Auchincloss», sagte Chuckle Faircopy. Ich beobachtete Press. Es war schwer einzuschätzen, wie viel er von dem begriff, was besprochen wurde. Jedenfalls ließ er die Idee fallen und griff wieder zu seinen Schwergewichtlern. «Tool und ich wollen die beiden Giganten, John und Saul, in den Ring schicken. Zusammen mit 'nem Mikro und 'nem Schiedsrichter sollen sie aufeinander losgehen. Wir drucken alles ab, die Ächzer, das Stöhnen, das Geseufze, als wären es Perlen der Weisheit. Ich frage nicht, ob das eine gute Idee ist - sie ist sogar sehr gut -, sondern ich frage, worüber sie sich streiten sollen.» «Dürfte ich bitte etwas sagen?» fragte Barry Vellum. Press nickte. «Wieso sind Sie sich so sicher, daß sie aufeinander losgehen werden?» «Weil's hier um Egos geht, um Platzhirsche, um 'ne -135-
Riesensache. Vielleicht müßte das Thema lauten: Wer hat die besseren Figuren? Wer hat die besseren Plots?» «Wer hat den Größten, du oder ich?» sagte Barry. «Sie haben's erfaßt.» «Wenn sie noch gar nicht zugestimmt haben», sagte ich, «sollten wir sie vielleicht erst einmal fragen, ob sie überhaupt mitmachen wollen, und uns dann erkundigen, worüber sie reden oder worüber sie sich streiten wollen.» «Kümmern Sie sich drum!» sagte Press zu mir. Dann zur Sekretärin: «Selma, nach der Konferenz holen Sie Irving und Bellow ans Telefon und stellen sie zu Frank durch.» «Welchen zuerst?» fragte sie. «Wen Sie zuerst erwischen», sagte Press. Seit Rose Cloths Weggang hatten wir uns zeitweise mit Sekretärinnen aus Proteans Aushilfenkontingent beholfen. Als Press inthronisiert wurde, hatten wir eine junge Frau, die mit Literatur einigermaßen vertraut war. Mr. Margin hatte sie eigentlich fest einstellen wollen, aber dazu war es nicht mehr gekommen. Ich schlug Press vor, sie einzustellen, aber nach drei Tagen verlangte er einen Ersatz und hatte nun also Selma Watermark, eine ernsthafte Frau mittleren Alters und die einzige Person in der Redaktion, mit der Press freundlich umging. Anfangs dachte ich, daß sie ihn vielleicht an seine Mutter oder eine Tante erinnerte, aber dann dämmerte mir, daß er sie mochte, weil sie die einzige war, die von Literatur noch weniger Ahnung hatte als er selbst. «Hokay! Jetzt mal ran an die Bücher! Freie Bahn für Sie, Frankie-Boy.» Ed Princeps hatte wie üblich den höchsten Stapel vor sich liegen, und ich nickte ihm zu. Er begann nicht nur unter Verzicht auf seine üblichen einleitenden Scherze, -136-
sondern heuchelte vielmehr eine verdächtige Geschäftsmäßigkeit: «Vor mir liegt ein sehr ambitionierter, sehr phantasievoller Debütroman, in dem es um einen katholischen Jüngling geht, der von einer Glaubenskrise geschüttelt wird. So sehr er sich auch bemüht, kann er das Dogma der Wandlung nicht akzeptieren, das bekanntlich davon ausgeht, daß Brot und Wein, wenn sie geweiht werden, zu Leib und Blut Christi werden. Er will durchaus an das Dogma glauben. Eines Tages nimmt er während der Messe an der Kommunion teil, entfernt aber die Hostie aus seinem Mund und versteckt sie in einem Taschentuch. Er nimmt die Hostie mit nach Hause und läßt sie trocknen. Dann meditiert der Held über viele Seiten reicher, bravouröser Prosa über die vor ihm auf dem Tisch liegende Hostie. Sie beginnt zu glühen, sich zu bewegen, Geräusche zu verursachen…» Die Fahnenabzüge in Eds Händen waren keineswegs, wie ich erkennen konnte, ein Debütroman, sondern ein neues Buch von Larry McMurtry. Deshalb sagte ich: «Vielleicht sollten wir auf den Plot verzichten, Ed, und lieber mit der Konferenz fortfahren. Ich nehme an, daß Sie das Buch zur Rezension empfehlen.» «Selbstverständlich. Und ich weiß auch schon den idealen Rezensenten. John Bark.» Press fragte: «Warum?» «Nun ja, als Autor von ‹Der Zwiebackhändler› ist er unwidersprochen der Einzige, der diesem genialen Werk gewachsen sein dürfte.» Press fragte: «Was meinen Sie dazu, Frank?» Bevor ich antworten konnte, sagte Chuckle Faircopy: «Dürfte ich einen anderen Vorschlag machen? Es handelt sich offenbar um einen Roman von gewisser religiöser Relevanz, und obwohl meine Bewunderung für John Bark -137-
über jeden Zweifel erhaben ist, sollten wir vielleicht seinen Bruder in Erwägung ziehen, den Theologen Karl Bark.» «Der ist tot», sagte Virginia Wrappers. «Tja, das macht's leichter», sagte Press. «Haben Sie alles, Selma?» «Wie schreibt er sich?» fragte sie. Ich lehnte mich zu ihr hinüber und sagte, daß ich später alles mit ihr zusammen korrigieren würde. Auch weiterhin war die Konferenz nicht eben ereignisarm. Neben anderen Rezensionsvereinbarungen beschlossen wir, John Hershey ein Schokoladenkochbuch zur Rezension zu schicken, ein Buch über Literaturkritik an Calvin Trilling, ein Buch über Entomologie an Gregor Samsa und einen feministischen Roman an Doris Grumble. An einem Punkt fürchtete ich allerdings, daß wir Ärger bekommen würden. Press nannte den Namen des Verlegers Alfred A. Knopf, und Lou Bodoni, die sich zu meiner Überraschung in diese Komödie einmischte, sprach den Namen so lange als Alfred Nopf aus, bis Press seine Aussprache schließlich anpaßte. Nachdem die anderen gegangen waren, sagte Press zu mir, ich müsse zugeben, daß er die Konferenz erfolgreich geleitet hätte. Ich pflichtete ihm bei und sagte, daß auch die Redaktion meiner Meinung nach eine gelungene Konferenz erlebt hätte. Ich war kaum wieder in meinem Büro, als Press erschien vor Selbstbewußtsein rot im Gesicht. «Jetzt drehen wir mal 'ne Runde», sagte er. «'ne Runde drehen?» «Mal 'n paar Ärsche aufreißen. Und nehmen Sie Ihr -138-
Clipboard mit.» Das Clipboard hatte, wie ich schnell merken sollte, keine andere Funktion, als mich zu Press' Adjutanten zu machen. Er begann mit Ellie Bellyband, auf deren Schreibtisch stets ein angebissenes Stück Napfkuchen lag. Und als wir ankamen, hatte sie natürlich ihre besockten Füße auf einen umgedrehten Papierkorb gelegt und leckte sich die Finger ab. Sie war gerade beim Mittelfinger angekommen. «Fühlen Sie sich hier ganz wie zu Hause», sagte Press, «und verlassen Sie die Redaktion niemals mit leerem Magen. Ein Häppchen ist immer gut für die kleinen grauen Zellen. Aber wenn Sie unbedingt zwischen den Mahlzeiten essen müssen, dann gehen Sie in die Cafeteria, die Mr. Tooling zu dem Zweck eingerichtet hat. Sie wollen doch nicht etwa, daß Mr. Tooling Mäuse ins Haus bekommt, nicht wahr?» Ellie stellte die Füße auf den Boden, setzte sich aufrecht und sah Press in einer Mischung aus Überraschung und Unverständnis an. «Werden in dieser Redaktion keine Fragen mehr beantwortet?» «Wie lautet die Frage denn?» sagte Ellie. «Wollen Sie, daß Mr. Tooling Mäuse ins Haus bekommt?» «Ich dachte, das sei eine rhetorische Frage.» «War es aber nicht.» Ich sah eine Vielzahl möglicher Antworten über Ellies Gesicht huschen. Schließlich sagte sie: «Nein.» Als nächstes marschierten wir zu Ben Boards, unserem Layouter, der auf einem hohen Hocker vor einem langen, fast völlig mit dem Müll graphischer Arbeit übersäten Tisch saß. In einer kleinen Lichtung blätterte er durch alte -139-
Belegbögen von Dick-Tracy-Comics. An Mr. Margins Toleranz gegenüber seinen Nebentätigkeiten war er so gewöhnt, daß er gar nicht erst auf die Idee kam, die Comics beiseite zu legen. «Was gibt's, Chef?» «Es gibt ein Tagesgehalt für einen Tag Arbeit.» Ben hatte mancherlei Interessen. Als Herausgeber oder Gestalter produzierte er etwa fünf Bücher pro Jahr, organisierte aber auch gelegentlich Kunstausstellungen für andere Firmen und Universitäten. Gleichwohl erledigte er seine Arbeit für Protean stets zuverlässig. Er fragte Press jetzt, worauf er eigentlich hinauswolle. «Ich sehe, daß Sie hier nicht richtig ausgelastet sind. Halten Sie es von jetzt an so, daß Sie weiterarbeiten und das bereits Geschaffte verbessern, wenn Sie glauben, fertig zu sein. Außerdem können Sie den ganzen Dreck, der auf diesem Tisch liegt und nicht zu Belles Lettres gehört, einsammeln und entsorgen. Wenn Ihnen das nicht paßt, werde ich Mr. Tooling vorschlagen, daß er von Ihnen Miete verlangt. Kapiert?» Ben sagte nichts. «Kapiert?» Ben schürzte ironisch die Lippen und nickte. «Ich will es hören!» brüllte Press. «Jawohl!» brüllte Ben zurück. Ich merkte, daß Press' Mobbingrunde keinem System gehorchte. Er ging einfach auf das los, was ihm unter die Augen kam. Als nächstes gerieten wir an Belles Lettres' neuen Büroboten Bobby Quatro, einen jungen Mann, der sich ein Freisemester von Princeton genommen hatte, «um mich mal umzusehen», wie er es formulierte. Er war schlaksig, sah gut aus und sprach ältere Männer mit «Sir» -140-
an, was ich persönlich leicht irritierend fand. Im Augenblick sprach er allerdings gerade die hübsche, schwarze Bürobotin von Voilà an («die Zeitschrift, die eine Ode an die Mode ist»), deren Redaktionsräume auf der anderen Seite des Foyers lagen. Er empfing Press und mich mit einem jungenhaften Lächeln. Ich glaube, daß er dachte, das Mädchen sei durch die Lockerheit, mit der er seinem Chef entgegentrat, zu beeindrucken. «Hallo Sir!» sagte er. «Muschis werden in der Freizeit beschnüffelt», sagte Press. «Sir?» Press wiederholte den Satz, und Bobby zog ihn an seinem Schlips zu sich heran. «Man redet nicht so in Gegenwart von Damen, nicht wahr, Sir?» Press sagte nichts. Ich glaube, er hatte nichts mehr zu sagen. «Nicht wahr, Sir?» Press schüttelte den Kopf. Bobby ließ ihn los, und Press taumelte zurück. Ich verzichtete darauf, ihn in sein Büro zu begleiten. «Das galt nicht Ihnen, Sir.» «Okay, aber ich würde mal sagen, daß Sie hier keine Zukunft mehr haben. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn Sie…» «Ja, Sir», sagte er, zog aus dem Schreibtischregal eine griffbereite Reisetasche und packte seine Sachen ein. «Und Sie», sagte ich zu dem Mädchen, «gehen jetzt lieber wieder in ihr Büro.» Sie verschwand auf der Stelle. Gesehen hatte den Vorfall nur ein einziges anderes Redaktionsmitglied, aber die Sache verbreitete sich mit -141-
Windeseile in der Redaktion und trug, glaube ich, zu dem bei, was folgen sollte. Am Spätnachmittag bemerkte ich, daß die meisten Redaktionsmitglieder nicht mehr an ihren Schreibtischen saßen. Schließlich kamen sie aber zurück, und kurz vor Feierabend rief mich das Informationsleck an (obwohl das Informationsleck keine zwanzig Meter von mir entfernt saß) und fragte, ob ich mich mit ihm in einer nahe gelegenen Bar treffen könne. Wenn ich mir einen Informanten in Sachen Film suchen müßte, hätte ich nicht diesen gewählt, war er doch das perfekte Klischee seiner selbst: Kriecherische Haltung, unruhige Augen, beschämtes Lächeln, feuchte Lippen. Ich hatte das Gefühl, daß diese Person aus Angst, geschlagen zu werden, sich bei der leisesten Bewegung meinerseits ducken würde. Das Informationsleck petzte, daß die Redaktion sich in einem Konferenzzimmer von Protean versammelt und einstimmig beschlossen hatte, aktiv gegen Press vorzugehen. Vorgeschlagen wurden unter anderem ein Protestbrief an den Herausgeber, eine öffentliche Erklärung auf der nächsten Aktionärsversammlung, eine leicht entschlüsselbare Satire auf Press, die in einer Zeitschrift wie etwa The Nation publiziert werden sollte. Man erinnerte sich auch daran, daß Art Folio sich einst damit gebrüstet hatte, für 500 bis 750 Dollar, je nach Bekanntheitsgrad des Betreffenden, jede beliebige Person ausradieren zu können. Unverzüglich wurden Zahlungen für eine solche Aktion zugesichert. Ed Princeps, der das Treffen mehr oder weniger leitete, schlug die Gründung eines «De-Pressions»-Komitees vor, um weitere Alternativen zu erarbeiten und dafür zu sorgen, daß ohne Zustimmung der Redaktionsmehrheit keine Schritte -142-
unternommen würden. Ich fragte das Informationsleck, ob er (oder sie) zu dem Komitee gehörte. Ja. Ich erkundigte mich auch, ob Sicherheitsvorkehrungen besprochen worden seien. Ja, mein Name war genannt worden. Chuckle Faircopy hatte gesagt, er würde für meine Zuverlässigkeit garantieren. Andererseits hatte Ellie Bellyband gesagt, daß ich mein wahres Gesicht gezeigt hätte, als ich mit Press nachmittags die Mobbingrunde gedreht hatte. Ed Princeps hatte gesagt, er stimme Chuckle völlig zu, aber da meine Position bei Belles Lettres zwiespältig sei, zwischen Redaktion und Geschäftsführung, hätte mich meine Anwesenheit auf dem Treffen kompromittiert. Schließlich fragte ich das Informationsleck: «Wieso erzählen Sie mir das eigentlich alles und nicht Press?», und das Informationsleck sagte: «Weil ich Ihnen vertraue, Frank.» Ich wunderte mich über diese merkwürdig verdrehte Projektion. Abends rief ich Ed Princeps an, verriet ihm den Namen des Informationslecks und sagte, daß er es aus dem Komitee entfernen müsse. Ed dachte eine Weile nach und sagte dann, er werde das Komitee ohne das Informationsleck einberufen und anschließend ein weiteres, getürktes Treffen mit dem Informationsleck organisieren. Ich rief auch Mr. Margin an, um ihm die Tagesereignisse zu berichten. Er gab zu bedenken, daß das Informationsleck mit Sicherheit erst Press informiert hätte, und Press hätte dann dem Informationsleck aufgetragen, mich zu informieren. «Press stellt Sie auf die Probe. -143-
Morgen früh müssen Sie als erstes zu ihm gehen und ihm wie ein echter Zuträger alles sagen.» Die beste Lösung bestand darin, zu Press zu sagen: «Sie wissen es ja wohl schon.» «Was?» «Es.» Er musterte mich, bohrte in der Nase, als suche er dort nach Weisheit, und sagte: «Ja. Ich weiß es. Woher wissen Sie, daß ich es weiß?» «Halten Sie mich für so dumm, daß ich es nicht herausfinden würde?» «Vielleicht.» Er hatte recht. Allein hätte ich es nicht herausgefunden. «Wie auch immer», sagte Press und beugte sich wie eine hungrige Schildkröte vor, «das ist mein Bier. Ich nehme sie mir einzeln vor, einen nach dem anderen.»
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X Kalte Schulter Von dem Informationsleck bekam ich keine Informationen mehr, dafür aber von Ed Princeps. Er rief mich zu Hause an und sagte, das echte Treffen habe mit Barry Vellum, Lou Bodoni und Chuckle Faircopy in seiner Wohnung stattgefunden. Und zwar: 1) Von Existenz und Identität des Informationslecks war niemand überrascht; Einzelgängern mißtrauten alle. 2) Sie beschlossen, daß ein Brief an den Herausgeber im Augenblick nicht sinnvoll sei. Da Press Bescheid wußte, hätte er Ausreden gefunden. 3) Barry schlug vor, daß er Selma «näherkommen» («Ich opfere mich») und auf diese Weise Einblicke in Press' Spesenkonto gewinnen könnte. Lou Bodoni fragte, wieso das Männersache sei; sie könne sich «Selma auf persönlicher Ebene» mit dem gleichen Ergebnis nähern. Der Auftrag ging an Lou. 4) Lou sagte, sie hätte Press dabei beobachtet, wie er seine private Post versandte, was bedeutete, daß er über einen persönlichen Briefmarkenvorrat verfügte. Wenn man nun die Rückseiten mit LSD präpariere? «Wir rufen den Notarzt, und dann wird er mit der Diagnose Nervenzusammenbruch abtransportiert.» Ed wies darauf hin, daß derlei kriminell sei, und die Idee wurde fallengelassen. 5) Chuckle sagte, er arbeite bereits an einer bestimmten Sache, wolle jedoch im Augenblick noch nicht darüber reden. 6) Ed schlug vor, daß alle eine Liste mit besonders -145-
dummen und beleidigenden Bemerkungen Press' anlegen sollten. Barry sagte, er habe Press von «Lady Chatterleys Liebhaber von Lawrence von Arabien» reden hören. Niemand glaubte ihm (aber ich hatte es selbst gehört). Ich fragte Ed, ob auch das getürkte Treffen bereits stattgefunden hätte. «Es ist morgen abend, hier in meiner Wohnung, aber wir haben schon alles geplant. Wir werden uns auf nichts einigen können. Und dann wird Lou Barry als Schwein bezeichnen und stinksauer abhauen.» «Das reicht nicht, Ed. Press ist nicht blöd. Ein echtes Treffen läuft nicht so ab.» «Wie läuft es denn ab?» «Es läuft so ab wie das Treffen, das ihr bereits hattet. Ihr könntet es einfach wiederholen. Die Ideen sind doch völlig harmlos.» «Haben Sie denn bessere Ideen?» «Ich spreche mal mit Mr. Margin. Er sieht die Dinge aus einem anderen Blickwinkel.» Mr. Margin fand den LSD-Vorschlag interessant, nicht als Plan, aber als Konzept. Wenn man für Leute verantwortlich sei, sagte er, besonders, wenn man sie rausschmeißen oder befördern, Gehaltserhöhungen gewähren oder verweigern müsse, dann bekomme man das Gefühl, daß einem jeder alles Mögliche antun könne. «Wie ein Offizier, der seine Männer in die Schlacht führt. Der Bursche, dem man den Fronturlaub verweigert hat, kann einen dann ungestraft von hinten abknallen. Wer hatte denn eigentlich die Idee mit dem LSD?» Ich sagte es ihm. «Ja, natürlich Lou. Wußten Sie, daß sie immer ein Federmesser dabei hat? Sie spitzt damit Bleistifte an, -146-
obwohl wir einen erstklassigen elektrischen Bleistiftanspitzer in der Redaktion haben. Bei Konferenzen hat sie das Messer manchmal rausgeholt und damit herumgespielt. Einmal hat sie es aufgeklappt und sich damit die Fingernägel sauber gemacht. Nach der Konferenz habe ich sie gebeten, es nicht wieder zu tun. Da hat sie mich gefragt, ob ich mich bedroht gefühlt hätte.» «Und was haben Sie gesagt?» «Ich habe gesagt, daß Toilette seine eigene Zeit und seinen eigenen Ort hat. Wissen Sie, was sie da gesagt hat? Sie hat gesagt: ‹Auf meiner Toilette mache ich andere Dinge.› Nein, Frank, ich will Ihnen mal was sagen: Wenn ich Press wäre, würde ich meine Briefmarken immer schön in der Brieftasche lassen.» Soweit Mr. Margins Beitrag. Ed berichtete über das getürkte Treffen. Was sich wie eine wirklich gute Idee anhörte, stammte ausgerechnet vom Informationsleck: Die Redaktion sollte Press systematisch auf die Nerven gehen - niemand betritt sein Büro, ohne ausdrücklich gefragt zu werden, niemand beginnt ein Gespräch mit ihm, jeder beantwortet seine Fragen und Anweisungen auf möglichst knappe Weise. «Aber Ihnen ist doch klar», sagte ich, «daß Press schon vorher Bescheid weiß.» «Oder er würde es sofort spitzkriegen. Aber das macht es für ihn ja keineswegs angenehmer. Und was glauben Sie wohl, wer die Idee aufgebracht hat?» «Ich denke, wir haben es hier mit einer Art Doppelagent zu tun», sagte ich. «Wie meinen Sie das?» «Wenn Sie nun das Informationsleck wären, würden Sie -147-
dann nicht auch versuchen, den Verdacht gegen Sie zu zerstreuen?» Ed pflichtete mir bei. Sobald ich am nächsten Morgen in der Redaktion erschien, ließ Press mich in sein Büro kommen. «Was wissen Sie über die Operation Kalte Schulter?» «Nie davon gehört.» In der Tat hatte ich den Namen noch nicht gehört. Er musterte mich auf eine Weise, die ich wohl für durchdringend halten sollte, und sagte dann: «Die Bande da draußen will mich ignorieren.» «Sie ignorieren?» «Mich ignorieren, mich ignorieren. Drücke ich mich nicht klar genug aus?» «Ja, doch», sagte ich, weil ich verhindern wollte, daß er sich mit mir anlegte. «Es gibt einen Grund dafür, daß diese Fleischklöpse da draußen sitzen und ich hier drinnen. Was bilden die sich eigentlich ein? Daß mir das Herz bricht, weil sie nicht mit mir reden? Ich wüßte schon, was wirklich funktionieren würde.» «Und das wäre?» «Wenn jeder von denen fünf Fehler in jede Ausgabe mogeln würde, wär ich in einem Monat draußen…» Er unterbrach sich selbst. Und die Idee war ja auch in der Tat ausgezeichnet. «Soll ich Ihnen mal was zeigen?… Selma, sagen Sie Virginia Wrappers, daß sie reinkommen soll!… Jetzt passen Sie mal auf!» Virginia marschierte in strammer Haltung herein, Fäuste geballt, Lippen zusammengepreßt. Press ging um seinen Schreibtisch herum, zog einen -148-
Stuhl heran und schob ihn Virginia hin. «Befreien Sie mal Ihre Füße von ihrer schweren Last, Virginia!» Sie setzte sich und sah mich streng an. Vielleicht wußte sie nicht, wo ich stand, aber vielleicht wußte sie es auch sehr genau. Auch Press setzte sich auf einen Stuhl, so daß wir ein Dreieck bildeten. «Ich möchte Ihnen lediglich mitteilen, Virginia, daß ich Ihre Arbeit beobachtet und Sie falsch eingeschätzt habe. Ich möchte mich entschuldigen, falls ich grob zu Ihnen gewesen sein sollte. Ich bin schließlich neu hier und kann nicht alles auf den ersten Blick erfassen. Ich möchte Ihnen sagen, daß Sie in meinen Augen das hohe Niveau dieser Zeitschrift repräsentieren. Auf der Konferenz neulich habe ich Ihnen genau zugehört, und ich habe registriert, was sie gesagt haben. Deshalb möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, mir persönlich zu sagen, wie wir die Zeitschrift verändern sollten.» Er lehnte sich mit einem aufmunternden Lächeln zurück, und sie ließ ihre Ideen vom Stapel. Sie empfahl, das Format der ersten Seite zu ändern, empfahl Rezensenten, die wir schon lange nicht mehr beschäftigt hatten (einige deshalb nicht, weil sie längst tot waren), empfahl eine andere Schrifttype, eine kürzere Bestsellerliste und einen Zitat-Nachweis-Service für die Leserschaft. Über das Ausmaß ihrer Vorschläge war ich ebenso überrascht wie über deren Stimmigkeit. Dann wurde mir allerdings klar, daß sie Belles Lettres unter der Redaktion Xavier Deckles beschrieb, als sie der Zeitschrift beigetreten war. «Tja, Virginia, ich bin sehr beeindruckt», sagte er und war es tatsächlich. «Danke, Newbold. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, hart zu arbeiten, aber nicht geschätzt zu werden. Mr. Deckle hat mich geschätzt. Mr. Backstrip hat mich geschätzt. Sogar Skippy Overleaf hat mich -149-
geschätzt. Und Mr. Margin hat genau das gesagt, was Sie eben gesagt haben, daß ich nämlich das Gewissen von Belles Lettres bin. Wortwörtlich hat er gesagt, daß ich ‹unsere Avatara des guten Geschmacks sei›.» Was sie sonst noch zu sagen hatte, bestand im wesentlichen darin, daß Bücher stets den Sinn ihres Lebens ausgemacht hätten, daß ihre Existenz auf Erden gerechtfertigt sei, wenn sie auch nur den kleinsten Beitrag zur Literatur geliefert hätte, daß wir, auch wenn wir nicht alle Dichter oder Romanciers sein könnten, die Verantwortungen unserer geringeren Berufung mit Würde auf uns zu nehmen und gewissenhaft auszuüben hätten. Anschließend erhob sich Press, um das Ende des Gesprächs anzudeuten. «Machen Sie weiter so, Virginia, und achten Sie mal bei Ihrem nächsten Gehalt genauer auf den Kontoauszug.» «Danke, Newbold», sagte sie und tupfte beim Gehen mit einem Papiertaschentuch an einem Auge herum. «Verstehen Sie, was ich meine?» sagte Press. Ich überlegte, ihn zu fragen, ob ihm das auch mit den anderen Redaktionsmitgliedern gelingen würde, ließ es aber sein. Vielleicht würde es ihm gelingen. Bevor ich ging, beauftragte er mich, die gesamte Redaktion für 2:30 Uhr in sein Büro zu bestellen. Um 2:25 versammelte sich die Belegschaft vor Press' Büro. Die Tür war geschlossen. Niemand hatte gesehen, daß er vom Mittagessen zurückgekommen war, aber offenbar war er wieder am Platz; Selma versicherte uns, daß er in seinem Zimmer war. Um 2:30 öffnete er dann die Tür. Wir strömten hinein und ließen uns auf Stühlen nieder, auf der Sitzbank am Fenster, einige mit dem Rücken zur Wand. Wir schauten alle Press an, der hinter -150-
seinem Schreibtisch saß und selbstzufrieden aussah. Auch die Redaktion schaute zufrieden drein, auf eine sehr entschlossene Art. Ich glaube, sie erwarteten ein Duell des Willens - Press würde auf sie eindreschen, und sie würden dazu eisern schweigen. «Hokay! Heute gibt's 'ne ganz besondere Überraschung. Und glücklicherweise muß niemand von Ihnen auch nur ein einziges Wort sagen.» Er griff zu einem Stück Papier, das wie eine Serviette aussah, und las davon ab: «‹Sie alle kennen sein Werk, Sie alle kennen sein Leben. Leben und Werk sind wie ein offenes Buch. Man hat ihn mit diversen Bezeichnungen charakterisiert. Tölpel, Rüpel, Penner. Man hat ihn aber auch das amerikanische Genie genannt. Letzteres hört er lieber, empfindet aber die anderen Bezeichnungen auch als zutreffend. Er ist dafür bekannt, alten Damen über die Straße zu helfen und jungen auf den Hintern zu klatschen. Einmal hat er die Frau eines amerikanischen Präsidenten aufgefordert, mit ihm ins Bett zu gehen, und er ist der Ansicht, daß sie es hätte tun müssen - hat er doch ihrem Mann den Job verschafft. Man sagt, daß er Mördern gegenüber nachsichtig sei, und vielleicht ist er das wirklich, weil er sich selbst ins Herz geschaut und dort mehr als einmal einen Mord gesehen hat. Und damit präsentiere ich Ihnen numero uno, den Mann, der die frohe Botschaft bringt, und zwar nicht nur an Heilig Abend.›» Press streckte den Arm, die Handfläche nach oben, in Richtung des Kleiderschranks aus. Als nichts passierte, sagte er noch einmal und lauter: «‹…und zwar nicht nur an Heilig Abend.›» Als immer noch nichts passierte, stand er auf und öffnete die Schranktür. Da stand im Profil ein bekannter amerikanischer Schriftsteller, in einer Hand einen Drink, in der anderen seinen Penis, und urinierte gegen Press' Mantel. Chuckle Faircopy klatschte Beifall. -151-
Der Rest der Redaktion fiel ein. Sogar Press applaudierte. Der Schriftsteller schüttelte ab, zog den Reißverschluß hoch und trat aus dem Schrank ins Zimmer. «Danke», sagte er. «Die raffiniert ausbalancierte Begrüßung habe ich selbst geschrieben. Aber da stand noch mehr: ‹Ich präsentiere Ihnen den Mann, der den Platz einer Frau in der Welt und den Platz eines Mannes in einer Frau kennt.› Newbold, warum haben Sie das ausgelassen?» Lou Bodoni buhte. «Deshalb», sagte Press und manövrierte den Schriftsteller auf einen Stuhl. «Aber Sie haben beim Mittagessen versprochen, uns zu sagen, was Sie von Belles Lettres halten.» «Phantastisch.» «Was gefällt Ihnen am besten?» «Die Wörter und die Bilder.» «Können wir uns noch irgendwie verbessern?» «Unmöglich.» «Dann glauben Sie also, daß Belles Lettres perfekt ist?» «Perfekt», sagte der Schriftsteller und nippte an seinem Drink, der nach Scotch oder Bourbon pur aussah. «Ich interessiere mich eher für Sie persönlich, Newbold. Sie gefallen mir. Sie sind so eine häßliche kleine Mißgeburt. Ein Maulwurf. Wühlt, frißt Käfer, große Schnauze, seidiger hellbrauner Pelz, Vorderläufe gut zum Buddeln. Sie müssen schon als Kind widerwärtig gewesen sein, Newbold. Warum wollen Sie sich dagegen wehren? Jeder hält Sie für einen widerlichen Kretin, und Sie sind auch ein widerlicher Kretin. Wissen Sie, warum Sie mir gefallen, Newbold? Sie haben keinen Stolz. Sie sind der Prinz des Machbaren.» -152-
Press lächelte vor sich hin. Aber als Chuckle «hört, hört!» rief, blickte der Schriftsteller vage in Chuckles Richtung und sagte: «Ich will Ihnen mal was sagen, Sie Blindgänger. Mir steht es zu, auf Newbold rumzutrampeln. Ich bin eine Berühmtheit, und er genießt das. Aber Sie sind nur eine von seinen Kreaturen. Sie haben lediglich das Recht, ‹jawohl, Sir!› zu sagen.» «Hört, hört!» sagte Press. «Die Domestiken darf man nie aus den Augen lassen, Newbold, sonst klauen sie einem das letzte Hemd.» Er wandte sich an die Belegschaft. «Angesichts dieses Meers der Mittelmäßigkeit würde ich am liebsten den Stöpsel ziehen und euch alle miteinander durch den Ausguß spülen. Und sowas nennt sich erwachsen? Warum bleibt ihr freiwillig unter der Knute dieses kleinen Gauners? Wenn er daraus auch nur den kleinsten Vorteil ziehen kann, stampft er euch doch in Grund und Boden. Die großen Gauner sind schon schlimm genug, aber erst die kleinen! Sie nutzen euch nicht nur deshalb aus, weil es gut für sie ist, sondern weil sie Spaß daran haben. Es sind Faschisten aus freien Stücken, und ihr seid ihre Helfershelfer. Sucht euch 'nen Job, in dem ihr über Leute herrschen könnt, die noch dümmer und schwächer sind als ihr selbst, und dann werdet ihr auch zu Faschisten aus freien Stücken.» «Sind Sie auch ein Faschist aus freien Stücken?» rief Barry Vellum. «Aber klar doch. Mein Verleger schickt mir Geburtstagsgrüße, Genesungswünsche und teilt mir all das Gute mit, daß die Leute auf Partys über mich erzählen. Und wissen Sie auch, warum? Wenn er das nicht täte, würde ich den Verlag wechseln. Was seine Sekretärin -153-
alles für mich tut, erzähle ich Ihnen lieber nicht.» Barry war aufgestanden. «Wollen Sie damit sagen, daß es zwei menschliche Klassen gibt? Die Ausbeuter und die Ausgebeuteten?» «Dieser Mann braucht einen Drink», sagte der Schriftsteller. «Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?» fuhr Barry fort. «Auf dem College haben wir zusammen in einem Zimmer gewohnt.» «Ich seh dich dreifach, Süßer, und an keinen dieser drei kann ich mich erinnern. Ich finde das alles zum Kotzen, Newbold. Lassen Sie uns abhauen.» Press holte den Mantel des Schriftstellers. Ich half dem Schriftsteller auf die Beine. Er hatte seine Vorstellung beendet, hielt die Augen halb geschlossen und bewegte den Unterkiefer, als ob ihm speiübel sei. Während Press ihm in den Mantel half, sagte er zu mir: «Tolle Show!» Gegen Ende der Woche berichtete ich all das Mr. Margin und fügte hinzu, daß die Operation Kalte Schulter meiner Meinung nach ein Fehlschlag gewesen sei. Das Problem war, daß die Operation nichts verändert hatte. Reden wollte mit Press ja sowieso niemand. Die kalte Schulter war ihm von Anfang an gezeigt worden. Mr. Margin meinte, der Schriftsteller sei während seines Besuchs sehr aufmerksam gewesen, insofern Press tatsächlich keinen Stolz habe. «Ächtung läuft immer und überall auf moralische Verachtung hinaus. Aber diesem Burschen ist das völlig egal. Frank, vielleicht sollten Sie alle die Sache entspannter sehen und ihn einfach ertragen wie schlechtes Wetter.» -154-
Am nächsten Tag, einem Freitag, kam Selma nach dem Mittagessen in mein Zimmer und sagte, Press benehme sich merkwürdig und ich möge einmal nach ihm sehen. Er saß zusammengesunken auf seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, die Hände wie Pfoten auf dem Schreibtisch. Er fluchte, sabberte vor sich hin, atmete schwer und war sehr bleich. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, aber er schlug nach irgend etwas vor seinem Gesicht, wie nach einer Fliege oder einem Spinnenfaden. Selma fragte, ob sie etwas tun könne. Er würgte, und eines seiner Augen flackerte wie ein Blinklicht. Ich sagte Selma, sie solle den Notarzt rufen und draußen auf dessen Eintreffen warten. Ein Krankenpfleger erschien mit einem Rollstuhl. Press zeigte keine Reaktionen. Der Krankenpfleger wischte ihm über die Stirn, fühlte die Temperatur, fühlte auch den Puls und fragte ihn, wie es ihm gehe. «Nehmen Sie mich von der Wand da weg!» sagte Press. «Welche Wand denn, Kollege?» «Er hat Angst, daß die Bücher auf ihn fallen könnten», sagte ich. «Was ist das hier, Kollege?» Der Krankenpfleger hielt ihm einen gestreckten Finger hin. Press legte die Hände vors Gesicht. «Sehn Sie mal, das ist 'n Lutscher.» Press blinzelte durch seine Finger und lächelte. «Okay, Kollege, auf geht's!» Wir hoben ihn in den Rollstuhl. «LSD?» fragte ich. «Sowas in der Art. Wir holen ihn runter, dann können Sie jemanden vorbeischicken, der ihn nach Hause bringt. -155-
Wie kommt er auf die Idee, während der Arbeit 'n Trip zu schmeißen?» «Bürostreß, vermute ich.» «Ich weiß, was Sie meinen», sagte der Krankenpfleger. Alle bekamen mit, wie Press zum Fahrstuhl geschoben wurde. Gerüchte kursierten, er habe einen Herzinfarkt gehabt, einen epileptischen Anfall, einen Anflug von Großzügigkeit. Ich entfernte die Briefmarken von Press' Schreibtisch und erzählte Ed Princeps, was passiert war. Er sagte, er wolle sich mal mit Lou Bodoni unterhalten.
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XI Leserbriefe Überzeugt, eine Lebensmittelvergiftung gehabt zu haben, erschien Press am Montag wieder in der Redaktion. Er rief mich in sein Büro. «Lassen Sie alles stehen und liegen!» sagte er. «Ich will, daß Sie einen Brief an die zehn besten Literaturkritiker in Amerika schicken und anfragen, was sie von der neuen Belles Lettres halten.» «Welche neue Belles Lettres?» fragte ich. «Seit ich am Ruder bin.» «Mir ist nichts Neues aufgefallen.» «Sie sind zu dicht dran. Ich will rauskriegen, was die Leute denken, besonders die Kritiker. Okay?» «Nur damit wir uns nicht mißverstehen: Ich wähle also zehn Kritiker aus…» «Die zehn besten Kritiker.» «Zehn gute Kritiker gibt es gar nicht», sagte ich. «Ach so? Dann eben die am wenigsten schlechten. Sie wissen schon, was ich meine.» «Ich wähle die zehn am wenigsten schlechten Kritiker in Amerika aus. Ich schicke denen einen Brief. Allen den gleichen Brief?» Press nickte. «Und frage in dem Brief, was sie von der neuen Belles Lettres halten. Soll ich ihnen sagen, daß die Zeitschrift neu ist, oder wissen sie das sowieso?» «Schreiben Sie einfach: ‹die neue Belles Lettres›! Was ist denn los, Page? Das ist doch wirklich nicht kompliziert.» -157-
«Wem soll das dienen?» «Mir. Ich möchte darüber informiert sein.» «Mit wessen Namen soll der Brief gezeichnet werden?» «Mit Ihrem. Sie schreiben den Brief, also unterschreiben Sie ihn auch.» «Mal angenommen, ich würde ihn nicht schreiben. Müßte ich ihn dann trotzdem unterschreiben?» «Page, ich kann auch jemand anders mit dieser Sache beauftragen.» «Warum tun Sie's dann nicht?» sagte ich und stand auf. Press zeigte auf mich. «Weil ich will, daß Sie das erledigen.» Ich überlegte, ob ich mich weigern und kündigen oder mich lieber weigern und gefeuert werden sollte, sagte jedoch: «Okay.» «Hokay! Morgen zeigen Sie mir den Brief und die Liste der Kritiker. Selma schickt ihn dann ab.» Der Brief, der eigentlich leicht hätte sein sollen, war die reinste Agonie. Hauptsächlich wohl, weil ich nicht verstand, worauf Press hinauswollte. Nach vielen langen und kurzen Entwürfen ließ ich es zu Hause, mit Scotch abgefüllt, um Mitternacht bewenden mit: «Der neue Chefredakteur von Belles Lettres, Newbold Press, wüßte gern, wie Ihnen die neue Belles Lettres gefällt. Vielen Dank.» Ich muß schwer betrunken gewesen sein, weil mir der Brief perfekt vorkam, als ich zu Bett ging. «Was soll das denn sein?» sagte Press. «Ein Telegramm? Ich will einen Brief. Schreiben Sie einen Brief! Schreiben Sie ihn etwas…» Er streckte die Hände aus, Handflächen nach oben. -158-
«Blumiger?» «Sie haben's erfaßt.» Ich nahm den Brief, blieb vor ihm sitzen und schrieb: «Wir von Belles Lettres wüßten gern, wie unsere Arbeit bei Ihnen ankommt. Jede Woche bringen wir eine neue Ausgabe heraus und haben dabei manchmal das Gefühl, selbst zu dicht an der Sache zu sein, um noch das gesamte Spielfeld überblicken zu können. Sie aber befinden sich an den Außenlinien. Sie sind Kritiker. Kritik ist Ihre Aufgabe. Wir möchten, daß Sie uns kritisieren. Wir möchten wissen, was Sie von uns halten. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir einen neuen Chefredakteur. Er macht sich Gedanken über die Wirkung seiner Arbeit auf die Zeitschrift. Deshalb würden wir von Ihnen besonders gern wissen, wie die jüngsten Ausgaben bei Ihnen angekommen sind. Wir erlauben uns, diese Ausgaben beizufügen, um Ihnen die kritische Durchsicht zu ermöglichen. Wir hoffen, daß Ihre knapp bemessene Zeit es gestattet, uns zu helfen. Und wir setzen auf Ihre Hilfe, weil Sie damit letztendlich der amerikanischen Literatur helfen.» Ich reichte Press den Brief. «Jetzt wird 'n Schuh draus. Das nenn ich 'n Brief. Hier!» Er gab mir den Bogen zurück. «Fügen Sie noch was hinzu! Schreiben Sie mit! ‹Anbei finden Sie einen Scheck über 500 Dollar. Er gehört Ihnen! Lösen Sie ihn ein! Ob Sie uns antworten oder nicht - es ist Ihr Scheck! Und tausend Dank! Ich wünschte, der Scheck beliefe sich auf eine Million.› Haben Sie das?» «Hab' ich», sagte ich. «Geben Sie Selma den Brief!» sagte er, stand auf und rieb sich den Brustkorb.
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Einer der Kritiker, inzwischen weit in den Siebzigern, der sich als junger Mann mit einer lyrischen Apotheose amerikanischer Prosa des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts einen Namen gemacht hatte, rief an und erkundigte sich, worum es eigentlich gehe. Ich wiederholte, was Press mir gesagt hatte. «Ja, ja», sagte er, «aber was will er denn?» Ich sagte, daß ich auch nicht mehr wüßte, als was in dem Brief stand. «Ach, kommen Sie schon», sagte er, «wie soll ich Ihnen antworten, wenn ich nicht verstehe, worum es eigentlich geht?» Das irritierte mich vermutlich deshalb, weil er sich genauso hilflos vorkam wie ich mir selbst. Ich sagte: «Warum erfüllen Sie nicht einfach das, um was Sie in dem Brief gebeten werden, und scheren sich nicht weiter um den Subtext.» Er sagte, wir seien ja eine ganz gerissene Truppe und er würde sich also die Sache allein zurechtlegen. Seine umfangreiche Antwort, die am nächsten Tag per Boten eingeliefert wurde, endete mit den Worten: «…Wie auch immer diese Leistung zustande gekommen sein mag, ist der allgemeine Tenor der Beiträge mit Sicherheit leichter und klarer geworden. Ob sich dies nun einem Wechsel zu neuen freien Mitarbeitern verdankt, strengerer Redigierung, redaktioneller Betreuung der Beiträge, bevor sie verfaßt werden, oder womöglich einem gestiegenen Bewußtsein seitens der freien Mitarbeiter, daß ihnen von nun an ein gepflegterer Stil abverlangt wird, läßt sich schwer einschätzen. Vielleicht handelt es sich um eine Kombination all dieser Gründe. Doch was immer die Hintergründe sein mögen, gibt es meiner Ansicht nach keinen Zweifel, daß Belles Lettres in eine neue Phase ihrer langen, ehrwürdigen und ungewöhnlich sinnvollen Existenz eingetreten ist.» Ein anderer Kritiker rief ebenfalls an, um herauszufinden, worum es ging, packte die Sache jedoch -160-
anders an. Er sagte nämlich, daß es seiner Ansicht nach ein brillanter, innovativer Schachzug sei, «die eher wichtigen freien Mitarbeiter» in den redaktionellen Prozeß einzubeziehen. Wer auch immer verantwortlich sei, habe jedenfalls ein ausgeprägtes Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Pflichten seiner Berufung an den Tag gelegt. Ich sagte, daß Press die Idee gehabt hätte, was den Kritiker in Verzückung versetzte. Als sein Brief eintraf, war folgendes zu lesen: «…Wie jede individuell hervorgebrachte Publikation habe ich auch stets Belles Lettres in ihrem Kontext verstanden, will sagen: als ein Organ des gesamten Kulturkörpers. Jede Veränderung des Körpers als Ganzes affiziert auch alle Einzelteile, wie auch umgekehrt jede Veränderung eines Einzelteils das Ganze affiziert. Im speziellen Hinblick auf Belles Lettres war mir stets klar, daß die Zeitschrift zum Zweck ihrer Beständigkeit und Ausrichtung sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft ausgriff. Was meine Wahrnehmung der neuen Belles Lettres angeht, möchte ich nur so viel sagen: Auch der jüngste Wechsel innerhalb der Chefredaktion steht in jener Tradition Belles Lettres', die ihre Identität stets nach den Modellen gemeißelt hat, die ihr die Überlieferung bot; die Lektionen der Konvention und des gesellschaftlichen Konsenses (literarisch, sozietär, politisch u.s.w.) hat die Zeitschrift immer gestärkt und in hohem Ansehen gehalten. Und das war gut so. Nur, indem wir unsere Bindungen zu dem stärken, was wir gewesen sind, können wir verstehen, was wir heute sind. Gleichwohl entdecke ich in den mir zugesandten Ausgaben von Belles Lettres eine entschiedene Verlagerung des Schwerkraftzentrums, sozusagen von der Vergangenheit zur Zukunft. Was einst ein Bewahrendes war, schwingt sich auf zum Prophetischen. Selbstverständlich benötigen wir beides; -161-
doch benötigen wir vielleicht an diesem Wendepunkt das letztere stärker. Bei diesem riskanten Manöver strecke ich Ihnen Herz und Hand entgegen.» Ein dritter Kritiker rief an und sagte, daß er durchaus daran interessiert sei, meinen Brief zu beantworten, daß ihm jedoch, wenn er «der Zeitschrift in dieser schwierigen Übergangsphase zur Seite springen würde», gewisse Rezensionsaufträge garantiert werden müßten. Er nannte sechs von zwölf der wichtigsten Titel des neuen Halbjahrs. Drei Bücher stammten von Autoren, mit denen er, wie ich wußte, befreundet war, und eins stammte von einem seiner erklärten Feinde. Ich sagte, daß ich bestenfalls seinen Namen ins Gespräch bringen könnte, wenn die Rezensenten ausgesucht würden. Er sagte, er sei enttäuscht, daß ich ihm keinen attraktiveren Schreibimpuls anbieten könnte. Nichtsdestotrotz würde er das ihm Mögliche beitragen, um uns aus der Patsche zu helfen. In seinem Brief fand er dann auch die neue Belles Lettres außerordentlich verdienstvoll. Alles in allem schickten sieben der zehn ihre Kritiken. Sechs waren umfangreich; eine war eine Postkarte: «Kommt mir vor wie immer. Alles Gute beim Umbau. Danke für den Scheck.» Neun der zehn Kritiker lösten ihre Schecks ein. (Monate später begegnete ich zufällig dem, der ihn nicht eingelöst hatte. Er sagte, daß er sich daran erinnern könne, einen Brief von Belles Lettres in der Annahme, daß es sich um eine Abonnementsmahnung handelte, ungeöffnet weggeschmissen zu haben. Er wollte wissen, ob man ihm den Scheck noch einmal zustellen könnte. Ich sagte, er könne es ja mal versuchen.) Als ich Press die Antworten brachte, war er sehr zufrieden. «Hokay! Hauen Sie jetzt mal fix tausendfünfhundert Wörter raus. Wir bringen das in der -162-
nächsten Ausgabe.» «Soll das ein Witz sein?» «Ich mache keine Witze. Wenn wir gute Arbeit leisten und die Kritiker uns das ins Stammbuch schreiben, gibt es keinen vernünftigen Grund, es unseren Lesern vorzuenthalten.» «Wollen Sie denn nicht vorher Genehmigungen einholen, die Briefe abzudrucken?» «Wieso Genehmigungen? Das sind doch bezahlte Gutachten. So, wie wenn ich 'n Ring beim Juwelier schätzen lassen würde.» «So ist es meiner Meinung nach keineswegs. Die Leute konnten doch nicht ahnen, daß Sie ihre Antworten veröffentlichen wollen.» «Glauben Sie nicht, daß sie gesagt haben, was sie meinen?» «Ehrlich gesagt - nein.» «Sehen Sie, das ist eben der Unterschied. Sie sind mißtrauisch. Ich nicht.» Ich hätte die Kritiker anrufen und ihnen damit Gelegenheit zum Einspruch geben können. Stattdessen kam ich zu der Einsicht, daß sie nun das bekamen, was sie verdienten. Ohne jede redaktionelle Einleitung füllten Auszüge aus den sechs Briefen Seite Drei der nächsten Ausgabe - als wären sie Ausdruck spontaner Liebesbezeugungen. Ich hörte nur etwas von dem ersten Kritiker. Jetzt wisse er, worum es gegangen sei, sagte er und wiederholte, daß wir eine gerissene Truppe seien. «Und was Sie angeht», sagte er, «Ihren Namen werde ich mir merken.» Die Briefe erregten durchaus Aufmerksamkeit. Die -163-
Zeitschrift New York verlieh Belles Lettres den William F. Buckley Preis für Eigenlob. Und der New Yorker brachte einen Cartoon von William Hamilton, auf dem ein Mann eine Ausgabe von Belles Lettres in der Hand hält und zu seiner Frau sagt: «Wenn man seine Flöte nicht selber bläst, bläst niemand sie.» The Village Voice, die herausfand, wie die Briefe zustande gekommen waren, entlarvte die Sache in einem seriösen Artikel mit der Überschrift «Bezahlt von Belles Lettres». Trotz der zweifelhaften Publicity bekamen Press und die Redaktion von Cyrus Tooling Jr. eine Kurznachricht: Aufmerksamkeit redlich verdient! Ed Princeps berief ein Treffen des De-Pressions-Komitees ein, das zu dem Ergebnis kam, daß Press Oberwasser hatte und das Komitee sich neu aufstellen und das weitere Vorgehen überdenken sollte. Das einzig Gute an Press' Triumph bestand darin, daß er mir nicht länger im Nacken saß, weiter totes Holz zu entsorgen. Anschließend war Press immer seltener in der Redaktion anzutreffen, fehlte erst halbe Tage und manchmal auch ganze Tage. Lou Bodoni erfuhr von Selma, daß er seine Zeit in Mrs. Toolings Büro verbrachte. Eine ominöse Entwicklung, fanden wir. Wurde ein Massaker geplant? Donnerstagvormittag traf sich die Belegschaft im Büro des Chefredakteurs, um die nächste Ausgabe vorzubereiten. Normalerweise hatten wir genügend Text, um damit drei Ausgaben zu füllen. Das war unsere Manövriermasse. Wenn beispielsweise die erste Seite einem Roman vorbehalten sein sollte, plazierten wir ein Sachbuch auf der zweiten, einen Essay wahrscheinlich auf der dritten und so weiter. Die Zusammenstellung wurde großspurig als Architektur bezeichnet. Mr. Margin war ein gewissenhafter Architekt gewesen. Er sorgte sich nicht nur -164-
darum, wie etwa die Abfolge von Lyrik auf Politik und Politik auf Wissenschaft wirken würde («Wir können von der Politik zur Wissenschaft übergehen, aber nicht von der Lyrik zur Politik. Vielleicht ginge es aber mit LyrikWissenschaft-Politik…»), sondern er bezog auch die Komposition der vorigen Ausgabe mit ins Kalkül ein («Frank, hatten wir erzählende Literatur nicht erst letzte Woche auf Seite Fünf?», worauf ich beispielsweise erwiderte: «Aber Literatur von einer Frau, und diese stammt von einem Mann», worauf er dann etwa erwiderte: «Ja, das leuchtet mir ein, eine hübsche Variante.» Wenn er dann bei anderer Gelegenheit zu mir sagte: «Frank, wir hatten letzte Woche Kurzgeschichten auf Seite Fünf, ebenfalls von einer Frau», sagte ich vielleicht: «Das ist ja genau der Punkt, auf den wir es ankommen lassen sollten», worauf er dann sagte: «Ja, das ist eine Art Kommentar, nicht wahr?»). Ehrlich gesagt bezweifele ich, ob auch nur zwei von tausend Lesern bewußt oder unbewußt Belles Lettres' Architektur von einer Woche zur nächsten verfolgten. Aber Mr. Margin war, wie gesagt, gewissenhaft. Nicht jedoch Press, den an Büchern lediglich deren journalistische Verwertbarkeit interessierte, das heißt, deren Gegenstand und das Renommee des Autors. Da er mit literarischen Namen und Themen kaum vertraut war, kaprizierte er sich nur auf das, was er kannte. So hob er etwa einen zweitklassigen Roman auf die erste Seite, weil er von einem berühmten Autor rezensiert wurde, selbst wenn Geist und Stil dieses Autors in den vergangenen Jahren gleichermaßen matt geworden waren. Wenn man die Entscheidung in Frage stellte, sagte Press: «Aber die Rezension ist doch von…» und sprach den Namen so dringlich aus, als ob er ein Argument sei. Abgesehen davon stellte er die Zeitschrift nach dem Zufallsprinzip -165-
zusammen. Merkwürdig war allerdings, daß trotz solcher Wurschtigkeit kaum ein Unterschied gegenüber Mr. Margins Sorgfalt in Belles Lettres zu entdecken war. Wir verbrachten also, wie gesagt, den Donnerstagvormittag mit solchen Tätigkeiten. Als Press an diesem Donnerstag verkündete, die ersten drei Seiten müßten noch offen gehalten werden, wirkte das auf uns wie ein Schock. Auf die Frage, um welche Story es sich handele, antwortete er, daß er darüber nicht sprechen dürfe, und auf die Frage nach den Gründen, antwortete er: «Aus Gründen der Sicherheit.» Diese Geheimnistuerei verstärkte nur noch die Befürchtungen innerhalb der Redaktion, und am gleichen Nachmittag kam es zu einem De-Pressions-Treffen in einem Konferenzzimmer. Später berichtete Ed Princeps mir, daß die Atmosphäre niedergeschlagen und zurückhaltend gewesen sei zurückhaltend, weil alle hofften, zu den Überlebenden zu gehören, falls es Überlebende geben sollte. Am nächsten Tag lud Press mich zum Mittagessen ein. Er wirkte aus unerfindlichen Gründen freudig erregt. Über das Treffen der Belegschaft wußte er Bescheid und behauptete, ihre Ängste fände er amüsant. Während wir uns unterhielten, versuchte ich, in seinem Blick das sadistische Vergnügen zu entdecken, das ein Rausschmiß verursacht hätte; ich sah aber nur dümmliche Nervosität. «Frankie-Boy», sagte er, «was wissen Sie über Shakespeare?» «Das, was jeder weiß.» «Haben Sie seine Sonette gelesen?» «Ja, klar.» «Alle?» -166-
«Ja.» «Nein, haben Sie nicht.» «Habe ich nicht?» «Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erklärte, daß Tool und ich neun verschollene Shakespeare-Sonette entdeckt hätten?» «Da wäre ich sprachlos.» «Was wissen Sie über Shakespeares Sex?» «Meinen Sie Geschlecht, Genitalien oder Verkehr?» «Wie er's trieb.» «Ein Sonett spricht ausdrücklich davon, sein männlicher Freund sei ‹ausersehn zur Frauenlust› und nicht zu seiner.» «Vergessen Sie's! Der Eiertanz beginnt jetzt von vorn», sagte Press. Vor Aufregung mußte er sich die Mundwinkel abwischen.
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XII Falsche Lügen Vorausexemplare der Ausgabe, die als «die ShakespeareNummer» berühmt werden sollte, wurden wie üblich zwei Tage vor der Auslieferung an die Verkaufsstellen von der Druckerei an die Redaktion geschickt; und wie üblich knallte der Bote ein Exemplar auf jeden Schreibtisch. Nie haben Erben einem Testament größere Aufmerksamkeit gewidmet als die Redaktionsmitglieder dieser Story. Ellie Bellybands Telefon klingelte; ohne aufzusehen, hob sie den Hörer drei Zentimeter von der Gabel und ließ ihn wieder fallen. Andere baten Anrufer, später zurückzurufen. Und während jedermann las, stolzierte Press auf und ab. «Und? Und?» sagte er. «Da staunt ihr, was?» In überdimensionierter Schriftgröße und kursiv gesetzt, füllte die Einleitung Seite Eins:
War Shakespeare schwul? Neun neu entdeckte Sonette des Dichters liefern den Beweis Am 2. April erreichte den Chefredakteur von Belles Lettres ein nicht unterzeichneter, eingeschriebener Brief. Er begann mit einigen Hinweisen auf die merkwürdige Publikationsgeschichte von Shakespeares Sonetten: daß sie offensichtlich ohne ausdrückliche Einwilligung des Autors 1609 in London erstmals erschienen; daß die -168-
Veröffentlichung keine bekannte, zeitgenössische Reaktion hervorrief, obwohl Shakespeares Ruhm zu Lebzeiten zu diesem Zeitpunkt auf seinem Höhepunkt war; daß das Ausbleiben von Reaktionen zu der Theorie geführt habe, die Verbreitung des Buchs sei untersagt worden; daß die Sonette über ein Jahrhundert weithin ignoriert wurden und ein Londoner Drucker erst 1711 einen Reprint der Erstausgabe veranstaltete. Seither waren sie stets lieferbar und haben eine Vielzahl von Spekulationen und Kontroversen ausgelöst; eine der am heftigsten debattierten Fragen war die, ob Shakespeare eine homosexuelle Beziehung zu «dem jungen Mann der Sonette» pflegte, für den gemeinhin der dritte Earl von Southampton gehalten wurde. Der Brief führte aus, daß von der Erstausgabe von 1609 noch 13 bekannte Exemplare existieren, keins davon in Privatbesitz, und wies des weiteren darauf hin, daß vor kurzem ein 14. Exemplar in einem Konvolut aus Southamptons Papieren entdeckt wurde. In dem Brief wurde nun die sensationelle Behauptung aufgestellt, daß dieses 14. Exemplar zwei lose, beidseitig mit neun unnumerierten Sonetten bedruckte Bögen enthalten habe; die Drucktype und das Papier, so der Brief, seien identisch mit denen der Erstausgabe. Die meisten dieser Sonette beschreiben oder beziehen sich unmittelbar auf sexuelle Beziehungen zwischen dem Autor und dem Adressaten. Mit der Erlaubnis, die Sonette zur Feststellung ihrer Echtheit jedem erforderlichen Gutachten zu unterziehen, wurden sie Belles Lettres angeboten. Der Brief endete mit der Bemerkung, daß der Eigentümer, der es zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorziehe, anonym zu bleiben, keinerlei finanzielle Gegenleistung erwarte. Reichliche Vergütung werde sich automatisch ergeben, sollte der dann vollständige Band mit den Sonetten je erscheinen -169-
können. Inzwischen bestehe das Interesse des Eigentümers einzig darin, seinen Fund durch die Vermittlung eines verantwortungsbewußten Publikationsorgans der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Anfänglich schien dies nur eine Mischung aus einem Scherz und einer Entführung zu sein. Allerdings erhielt Belles Lettres am 4. April den Anruf eines Mannes, der sich als Mittelsmann des Eigentümers ausgab und ankündigte, Fotokopien der Sonette persönlich zu überbringen. Beim Mittagessen am nächsten Tag wurden sie in unsere Hände gelegt - freilich unter der Bedingung, daß wir alles in unseren Kräften Stehende tun, die Angelegenheit bis zur Veröffentlichung geheimzuhalten. Das Interesse des Eigentümers, so der Mittelsmann, ziele auf journalistische Wirkung ab. Wir stimmten der Bedingung ebenso zu, wie wir mit der geäußerten Absicht übereinstimmten. Die Gedichte wurden strengsten Prüfungen unterworfen. Das Druckbild wurde mit einer der Erstausgaben verglichen und erwies sich ausnahmslos als damit identisch. (Vgl. Beispiele.) Offensichtlich waren beide Bögen mit demselben Schriftsatz gedruckt worden. S. Sewnbound, der führende Shakespeare-Forscher, wurde damit beauftragt, die Sonette nach inneren Beweisen für ihre Autorschaft zu analysieren. Sein Gutachten findet sich weiter unten; es kommt zu dem Ergebnis, daß die Sonette nicht nur von Shakespeare geschrieben worden sein könnten, sondern daß sie vielmehr «unmöglich von irgend jemand anderem geschrieben worden sein können». Unser zweiter Experte Gary Cartouche, hochangesehener Sprachstatistiker der Elizabethanischen Epoche, untersuchte die Gedichte im Hinblick auf Wortparallelen zu Shakespeares Gesamtwerk; seine Befunde, gleichfalls unten abgedruckt, liefern die wissenschaftlich exakte, -170-
verblüffende Bestätigung von S. Sewnbounds Deduktionen. Die neun Sonette werden hier auf zweierlei Weise wiedergegeben: Eine fotografische Reproduktion der Originalblätter, gefolgt von einer Transkription der Sonette in moderner Typologie, wobei Orthographie und Interpunktion dem heutigen Sprachgebrauch angepaßt sind. Selbst solche Leser, die mit den 154 inzwischen kanonischen Sonetten vertraut sind, dürften Schwierigkeiten haben, die Bedeutung einiger Verse zu verstehen. Doch weist S. Sewnbound darauf hin, daß mehr als alles andere gerade diese Schwierigkeiten die Echtheit der Autorschaft belegen. «Wer außer William Shakespeare», schreibt S. Sewnbound, «brächte die Kühnheit auf, jenes Sonett zu komponieren, das mit den Worten ‹Nun rühr dich schon…› beginnt?» Viele Verse dieser Gedichte sind in der intimen Sprache von Liebenden gehalten und beziehen sich auf Erfahrungen, die nur Liebende untereinander teilen. Andererseits sind viele Verse und manche Sonette als Ganze in ihrer Bedeutung nur allzu eindeutig. Es stellten sich die Fragen, wieso diese Sonette nicht in die Erstausgabe aufgenommen wurden und wie sie in das neu entdeckte Exemplar gelangten? Wie uns mitgeteilt wird, vermutet der Eigentümer, daß das Erscheinen der 154 Sonette, von Shakespeare nicht autorisiert und für ihn und Southampton vermutlich kompromittierend, den Drucker in ernste Schwierigkeiten gegenüber der Stationer's Company gebracht haben könnte, der von der Regierung lizensierten Verlegergilde; mit Sicherheit aber hätte es Probleme gegeben, wären diese neun Sonette in der Erstausgabe enthalten gewesen. Doch gelangten einige wenige Druckfahnen an «ausgewählte Subskribenten». Es -171-
versteht sich von selbst, daß es sich hierbei vorerst nur um eine Hypothese handelt, die mit Sicherheit noch von Fachleuten zu überprüfen sein wird. Inzwischen ist Belles Lettres stolz darauf, diesen bewegenden Fund ihren Lesern und damit der ganzen Welt präsentieren zu dürfen. Die Illustration zu dieser Einführung bestand aus zwei vergrößerten D's, eins als Großbuchstabe. «Der Anfangsbuchstabe des Erstdrucks von Shakespeares sechstem Sonett: ‹Das Holdeste, wir wünschen es vermehrt›»; das andere: «Der Anfangsbuchstabe von Shakespeares neu entdecktem Sonett: ‹Du fragst, ob jenes Frauenteil ich misse›.» Abgesehen von der unterschiedlichen Druckfarbe sahen sie identisch aus. Auf Seite Zwei erschienen die neun Sonette in zweifacher Ausfertigung, wie in der Einführung angekündigt: einmal in alter Drucktype, in denen die s's wie f's, die v's wie u's und die u's wie v's aussahen, mit unvermittelten Großbuchstaben mitten in den Zeilen; dem folgte die redigierte Fassung: Zu meines Bettes Lust dein Bett bring her und laß, was Liebe heißt, sie froh entdecken. Auch sie, die brav uns dienen, solln nicht mehr vergebens Feder nach der Feder strecken. Dein Bett hat mich wie du getragen still, so stoisch beide unter schwerer Fracht, nur dann ein Schrei von ihm, von dir, so schrill, wurd sie fürs Mal besonders groß erbracht. Die Betten werden Gutes von uns sagen, -172-
vergleichen unsre hübsch gespitzten Teile, wie sie zum Paß, o Linie, aus uns ragen und Liebesherzen heben, ohne Seile, Wenn diese beiden nicht sich trennen lassen, wo wärst dann du als nur bei mir zu fassen. Die Liebe, der Natur den Mittelwert versagte oder Mittel gab zu viel, hat Überfluß zum Trotz sich wohl bewährt und ganz und gar erreicht der Liebe Ziel. Noch übers Herz hinaus, fandst du, so schießt mein fiebrig knochenloses neues Glied, das Freudenperlen vorab von sich stieß, geöffnet, gebend, ohne Laß und Schied. Zum Grützbeutel geschrumpft, sinnlos, entköpft, mein Will, schamlos beschämt, doch tugendhaft wollt sitzen auf dem Stuhl ganz unerschöpft und wandte neu an Sehnsucht seine Kraft. Auch wenn wir kaum ein Kind wohl zeugen hier, der Freudenlaich geht ab, wann immer wir. Als schnell du mir entschlüpftest, letzte Nacht, den Weg dir zeigten Kerzen opulent, da sandte flugs ich einen Traum dir nach. Doch stand im augustplatten Firmament ein Bote nur, der Traum, den du geschickt, erfundne Liebe suchen dir, ganz neu. Als meinem Traum er arglos zugenickt, erwies dein treueloser Traum sich treu. -173-
Ein Traum so lüstern losgejagt - warum?, durch offne Fenster, radschagleich geschmückt. Mein Kuß gibt deinen nicht zurück rundum? Hat meine Liebe dich nicht ganz entzückt? Kein Traum je folgte auf Befehl, sagst du, doch bleib und meine Hand hält ihn im Nu. Ruh nicht, renk ein, ruf aus, red mit, reich her, es ist für uns des sanften Rückzugs Zeit, und nölt ein Kuhhirt dich auch an, denk mehr: mit andren unsre Liebe, das heißt Leid. Ists so, wie Liebesglück wird uns bezahlt, mit Ränken, Rache, Rebellion, Roulette? Doch Neid in Ohren haust, nicht sei geprahlt, den harten Vorwurf lassen wir, sind nett. Pardon, nicht wollen wir die Gnadenfrist, straffrei hat keiner Liebe je erschlagen, so dulden wir, was Strafe uns bemißt, veredeln, was der Liebe Strafen sagen. Doch könnten wir den scheuen Liebespegel aufs neue heben, wärn wir keine Flegel. Daß deine Stimme freut, ist's nicht allein, auch jeder deiner Schritte, her zu mir. Daß die Figur gefällt, es mag wohl sein, dein Schatten schon verspricht ekstatisch «wir». Daß du der Ramme Boden uns verlängern willst, erwärmt mir Lippen und das Herz. Wer deinen Atem kennt, den Düfte schwängern, kennt auch dein Haar so süß, die Haut wie Nerz. Und schließlich dann das blinde stumme Tasten, das Pflanzen kennen, kugelgleich und hohl, kein andrer Sinn erregt sich so ohne Rasten an all den Hügeln, Tälern, deinem Wohl. Mit jedem meiner Sinne kannst du walten, Was soll ich tun als seufzen und dich halten? Nun rühr dich schon, sieh an des Tages Glanz, es rasen -174-
Monde hinters Tor der Nacht, ein Pfand gesandt auf weitere Substanz, nicht fallen will in grauen Morgens Schacht. Falsche Lügen fachen rasche Feuer an gegeben ganz, doch jedem Blick entzogen, auf wilden Oskars Tränen, flüchtig, plan, was so getan, ist Bösem wohl entflogen. Oh Träne, traurig Stück aus seiner Hand, verbinde uns des Schicksals üble Wunde, ob fünf nun oder sechzig oder Tand, nichts ist für sterblichen Verkaufes Stunde. Nimm schnöde den Gewinn der Verse hier, solange Menschen sind, gedeiht es mir. Ein Bruder war ich dir? Als ich und Bild. Und Schwester, wenn die Wangen ich dir küßt, und oft dein Weib, gehorsam, mild, und Vetter dir, wie deine Wirtschaft wüßt, ein Vater, wenn du mit dem Kopf verrammt des Herzens Bitte, für den Weg zurück, und Tochter, dir mit Liebe angestammt, Cousin in deinen leichten Launen, Glück. All diese Rollen nimm, mein Angebot, daß im Wald der Mann sei gut bewacht. Noch eine Liebe schenk ich dir, devot, am schönsten, wenn geheim gebracht. Die Liebe, die des Fleisches Tasse füllt, sei rosig frisch auf immer uns enthüllt. Ein Teil von mir versteckt' sich gern in dir, er wohnt in zartem Hafen, deinem Fleisch, ich ließ ihn dort auf alle Zeit, bis wir ihn eingeschüchtert fänden von Gekreisch. Kaum hab ichs mir im Hafen recht gemacht, klaust du dem Mann den Himmel wieder fort, erklärst, dass Rettung, auch wenn dargebracht, doch dargebracht zu spät, verliert den Port. -175-
Wenn heiße Liebe sündigt, wenn sie liebt, wird unser Paradies bald Hölle sein. Laß ganz es uns genießen, eh's zerstiebt, dann sind die Qualen morgen leicht und klein. Wenn dieser Spruch dich heute Nacht gewinnt, dann bleib, ich bitt, rundum mir wohl gesinnt. Du fragst, ob jenes Frauenteil ich misse, das weich, gespalten, lockend offen lag? Mir Trost in deinem Herzen ich nun hisse, das alles gibt, was eine Frau vermag. Zu weiterem Ersatz hast du so reich ein reges, rasch sich reckend Teil, das dehnt und ebbt und schwillt gezeitengleich und meine Lady stillt, wenn sie sich sehnt. Genieren mich - ein Busen ohne Zitzen? Hab deinen Mund, der meine Lippen küßt. Hab deinen Hintern für die Fingerspitzen. Hab deine Augen für des Augs Gelüst. Zum Dutzend zähl ich Schönheiten dir nicht, du bist, was Freude macht, und mehr, mein Licht. Als sie fertig waren, begannen einige der schnellen Leser gleich noch einmal von vorn. Andere blätterten stirnrunzelnd vor und zurück. «Riesenscheiße!» schrie Barry Vellum. «Fabelhaft!» schrie Virginia Wrappers. «Ruhe da hinten!» schrie jemand anderes, und dann wurde weitergelesen. Nach zehn Minuten begann man, sich zu unterhalten. Drei oder vier versammelten sich vor meinem Schreibtisch. Mein Telefon klingelte. Es war Mr. Margin. Ein Bote hatte ihm ein Exemplar in die Wohnung gebracht. -176-
«Haben Sie's gelesen?» fragte er. «Ja. Was halten Sie davon?» «Ich weiß nicht recht, Frank. Die Abbildungen der Schrifttype sehen überzeugend aus. Aber irgend etwas stimmt damit nicht.» «Sie meinen, daß es nicht wie Shakespeare klingt?» «Doch, irgendwie schon. Es klingt aber auch nach dem, was ein paar clevere Leute auf einer Party ausgeheckt haben könnten. ‹Ruh nicht, renk ein, ruf aus, red mit, reich her.› Hätte Shakespeare so etwas geschrieben?» «Er hat auch ‹Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals!› geschrieben. Sind Sie zu Hause? Kann ich vorbeikommen?» Im Taxi las ich mir alles noch einmal durch, auch die Gutachten der beiden Experten. Wie die Einführung bereits verkündete, hegte S. Sewnbound keinen Zweifel an der Autorschaft: «Wer, wenn nicht ein höchst selbstbewußter Künstler, hätte sich an ein Wortspiel gewagt wie: ‹Ruh nicht, renk ein, ruf aus, red mit, reich her›? Zu Staunen und Bewunderung des Lesers erscheint in Shakespeares berühmtem Sonett 135 das Wort ‹will› (der Anfangsbuchstabe alternierend in Groß- und Kleinschrift) dreizehnmal. In ‹Ruh nicht, renk ein…› gibt es kaum weniger jambische Worte, die auf ‹r› anlauten! Und wer außer dem Schöpfer selbst hätte in seinem Sonett über die fünf Sinne, ‹Daß deine Stimme freut, ist's nicht allein›, den Tastsinn als den Sinn bezeichnen können, den ‹Pflanzen kennen, kugelgleich und hohl› - Pflanzen mit ihrer Konnotation zur Pubes, Kugeln mit ihrer unmittelbaren Assoziation von Testikeln? Und erst der Geniestreich: ‹kugelgleich und hohl› - hohl -177-
mit seiner ursprünglichen, außergermanischen Substantivbedeutung von ‹Stiel, Hohlstengel›, Kugel mit seiner mittelhochdeutschen (‹Kulle›) wie altenglischen (‹cudgel›), heute bereits wieder obsoleten Bedeutung von ‹Stock mit kugelförmig verdicktem Ende›. Und über beiden schwebt eine herzhafte Männlichkeit und das Gefühl kollidierender Körper.» «Der Grund», fuhr er in einem anderen Absatz fort, «daß Shakespeares Sonette Kommentatoren stets derart herausgefordert haben, besteht darin, daß man ein Geheimnis wittert. Aller Offenheit des Gefühls zum Trotz, scheint etwas zu fehlen. Das, was fehlte, wir wissen es nun mit letzter Klarheit, liegt in diesen neu entdeckten Sonetten offen zutage. Endlich kennen wir den Grund für des Dichters manifeste Zartheit, seine Exaltiertheit und seine Qual. Die Vorstellungskraft männlicher Liebe ist durchaus überwältigend. Man ist geradezu versucht zu sagen: Sie läßt uns erstarren. Und doch ist und bleibt sie bis ins Äußerste reinster Shakespeare und auch Elisabethanische Epoche. Wenn Shakespeare nie gelebt, wir aber diese unsignierten Gedichte aufgefunden hätten, könnten wir sie ohne den mindesten Zweifel aufs späte sechzehnte oder frühe siebzehnte Jahrhundert datieren, da ja gerade das Exzessive die Essenz der elisabethanischen Geisteshaltung war.» Das Exzessive, dachte ich, war auch die Essenz der Geisteshaltung Sewnbounds. Das mit «Nun rühr dich schon…» beginnende Gedicht sei «mit Abstand das beeindruckendste der neun, wenn nicht gar das beeindruckendste aller Shakespeare-Sonette überhaupt - mit seinen strahlenden Symbolen, seinem rollenden Rhythmus, seinen verblüffenden Vergleichen und seiner surrealen Vermischung des Abstrakten mit dem -178-
Konkreten. ‹Falsche Lügen› wird somit zu einer der nachdenkenswertesten Wortprägungen im Shakespearschen Kanon. Was ist eine falsche Lüge? Handelt es sich um die gleisnerische Absicht, die auf zweifache Weise Enthüllung verrät? Handelt es sich um die Lüge, die zweifach lügt, weil sie die Liebe betrügt? Handelt es sich, so denn ihr Paradoxon gelöst wäre, um die schlichte Wahrheit, wie ja auch die intrikateste Gleichung, auf A reduziert, gleich A ist? Oder handelt es sich um alles in einem? So, wie ich meinen Shakespeare kenne, bin ich geneigt zu sagen: alles in einem.» Gary Cartouches computergestütztes Gutachten war zwar nicht so interessant, aber genauso merkwürdig. Er legte dar, daß Shakespeares Werk bis zur Entdeckung dieser Gedichte aus 884647 Worten bestand; sein Wortschatz belief sich auf 29066 Wörter. Infolgedessen erscheint jedes Wort rein arithmetisch 30,435801 mal. Das betrifft natürlich nicht den vorliegenden Fall. Das Wort «der» erscheint 24457 mal, während andere Worte nur einmal erscheinen. «Shakespeares Gesamtwerk», schrieb Cartouche, «enthält einen ungewöhnlich hohen Anteil solcher ‹Einzel›-Worte. Entsprechend muß jedes Werk, das die Autorschaft Shakespeares glaubhaft für sich beanspruchen will, eine vergleichbare Anzahl aufweisen. Die neun Sonette erfüllen dieses wichtige Kriterium auf hervorragende Weise», und dann listete er die Worte auf, die sonst bei Shakespeare nicht vorkommen. Sein stärkster Beweis stützte sich allerdings auf die Reime. «Ein Reim im Gedicht ist wie ein Akkord in der Musik. Wir identifizieren einen Komponisten zuerst dadurch, daß wir seine Akkorde hören. Die neuen Sonette bestehen aus 126 Zeilen, mithin also aus 63 Reimpaaren. Eines dieser Paare erscheint dreimal in genialer Variation (mir/wir, hier/mir, dir/mir), ein anderes (her/mehr) -179-
zweimal; mithin gibt es in den neun Sonetten 60 unterschiedliche Reime. In den 154 Sonetten erscheinen diese 68 mal, eine erstaunliche Parallelität, die Shakespeares Autorschaft mehr als alles andere belegt.» Irgend etwas stimmte nicht mit der Logik, aber ich kam nicht dahinter, was es war. Mr. Margin war ziemlich aufgeregt, als ich eintraf. Sein Bademantel stand offen, und er war barfuß. Er kam gleich zur Sache: «Das Gedicht, das Sewnbound so gefällt, ‹Nun rühr dich schon, sieh an des Tages Glanz›, bedeutet rein gar nichts und stimmt auch grammatisch hinten und vorne nicht.» «Ich fand, daß es eigentlich ganz gut klingt.» «Frank! Lyrik ist mehr als Klang. Im Moment schlage ich gerade einzelne Worte im Wörterbuch nach. Wenn ich nur ein einziges aufstöbern kann, das nachweislich erst nach Shakespeares Zeit in Gebrauch kam, wissen wir, daß es eine Fälschung ist. ‹Augustplatt› taucht auf, das es weder damals noch heute gab, aber Shakespeare erfindet manchmal neue Worte.» «Und Freudenlaich.» «Das fand ich eigentlich recht schlau», sagte Mr. Margin. «Und können Sie etwas mit ‹der Ramme Boden› anfangen?» «Ich hab's gerade gefunden.» Auf einem Kaffeetisch lag ein aufgeschlagenes etymologisches Wörterbuch. Mr. Margin las daraus vor: «Stammt aus dem untergegangenen westgermanischen Wort für ‹Widder, Schafbock›, woraus sich später ‹Fallhammer› und ‹Rammbug› bei Schiffen entwickelt hat. Abgeleitet davon ‹rammen›, das heißt, ‹mit -180-
der Ramme eintreiben›. Und das eindeutig auch obszön konnotierte ‹rammeln› stammt ebenfalls von ‹Widder› und bedeutet eigentlich ‹bocken›.» «Wenn Ramme das bedeutet, was bedeutet dann aber ‹Daß du der Ramme Boden uns verlängern willst›?» Mr. Margin sprach die Zeile mehrfach variierend wie ein Schauspieler aus: «‹Daß du der Ramme Boden uns verlängern. ‹Daß du der Ramme Boden uns verlängern›.» Dann sagte er: «Rimbaud und Verlaine!» «Was?» «Rimbaud und Verlaine. Ramme Boden und verlängern. Moment mal, Moment!» Er griff zu seinem Exemplar von Belles Lettres und las nach kurzem Suchen vor: «‹Und nölt ein Kuhhirt dich auch an.› Noel Coward!» Er machte sich wieder über die Belles Lettres her und rief gleich darauf: «‹Im Wald der Mann sei gut bewacht›!» «Walt Whitman!» schrie ich. «Press ist tot.» «Lang lebe Press!» «Press ist tot. Lang lebe Press!» sangen wir unisono und tanzten bald in Mr. Margins Wohnzimmer herum. Als seine kolumbianische Haushälterin hereinschaute, tanzten wir auch mit ihr. Wir brauchten eine halbe Stunde, um in acht der neun Sonetten die darin verschlüsselten Homosexuellen aufzustöbern. Der neunte - ich habe inzwischen vergessen, welcher es war - entging uns; erst als die Wortspiele zu einem öffentlichen Ratespiel avancierten, kamen wir dahinter. Eine Stunde lang berieten wir unsere Strategie. Dann rief ich Selma an und erkundigte mich, was in der Redaktion los war. Im Augenblick wurde Press gerade für die Sieben-Uhr-Nachrichten interviewt. Ich wollte auf -181-
Nummer Sicher gehen, daß die Story nicht mehr aufzuhalten war, bevor wir Cyrus Tooling unsere Aufwartung machten.
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XIII Die fröhlichen Fälscher Seine Sekretärin sagte, daß Cyrus Tooling nicht zu sprechen sei. Wir baten sie, Mr. Tooling zu sagen, es sei dringend. Sie fragte, um welche Angelegenheit es sich handele. «Sagen Sie einfach ‹Shakespeare›», sagte ich. «Sonst nichts?» «Nun machen Sie schon!» sagte Mr. Margin, und sie machte es auch. Mrs. Tooling und Press saßen bei Tooling im Büro. Ich fand es amüsant, wie zahm und respektvoll diese beiden Berserker geworden waren. Sie hielten Exemplare von Belles Lettres in Händen. Mr. Margin und ich hatten auch unsere Exemplare dabei; allerdings waren sie annotiert. «Na, Sie beiden, wie finden Sie das?» sagte Tooling zu uns. «Ich finde, das ist 'ne ganz heiße Kiste. Aber es ist auch Schweinkram. Ich finde es nicht gut, wenn Belles Lettres Schweinkram bringt. Für den Schweinkram haben wir eigene Zeitschriften. Belles Lettres pflegt das Seriöse. Ich will damit nicht sagen, daß man es nicht hätte bringen sollen. Ich sage nicht mal, daß man es mir vorher hätte vorlegen müssen, weil ich dann nämlich, um ehrlich zu sein, nein gesagt hätte. Wenn ihr diesen Schweinkram drucken wollt, hätte ich gesagt, druckt ihn meinetwegen in Fille. Oder lieber gleich in Garςon.» «Mr. Tooling», sagte Press, «wir reden von Shakespeare. Gleich nach der Bibel kommt Shakespeare.» «Ich weiß. Ich sage ja auch nur, daß es mir lieber wäre, -183-
wenn diese heiße Kiste geschmackvoll wäre.» «Cy», sagte Mrs. Tooling, «irgend jemand mußte diesen Schmutz veröffentlichen, warum also nicht wir?… Stimmen Sie mir da zu?» fragte sie mich. «Nicht ganz», sagte ich. «Sind Sie etwa prüde?» «Eigentlich nicht.» «Oder homophob?» «Nicht sonderlich.» «Also, warum nicht?» «Vielleicht kann Mr. Margin das besser erklären. Er ist der Ansicht, daß Shakespeare diese Gedichte gar nicht geschrieben hat.» «Was ist denn mit Ihnen los, Margin?» sagte Press. «Sie wollen mehr über Shakespeare wissen als Sewnbound? Es mag ja Leute geben, die nicht glauben, daß das von Shakespeare ist, aber es gibt eben auch Leute, die's glauben. Na und? Über kurz oder lang werden die Gedichte sowieso als ‹die Belles-Lettres-Sonette› gelten. So was nenn ich Publicity.» «Marge», sagte Mr. Tooling, «wenn ich Sie recht verstehe, glauben Sie nicht, daß Shakespeare…» Er drehte seine geöffnete Handfläche hin und her. «Ich kann mir das eigentlich auch nicht vorstellen. Shakespeare! Wo soll das bloß noch enden?… Also gut, wie sehen Sie die Sache?» Wortlos reichte Mr. Margin sein bei den Sonetten aufgeschlagenes Exemplar von Belles Lettres an Tooling weiter. Ich gab meines Mrs. Tooling und Press. Wir hatten die acht Wortspiele unterstrichen und die Namen der acht Männer an den Rand geschrieben, und zwar mit ihren Lebensdaten oder annähernden Lebensdaten und dazu jeweils das Wort Homosexueller. Aus ihren versteinerten -184-
Gesichtern konnte ich schließen, daß Press und Mrs. Tooling sofort begriffen. Mr. Tooling brauchte nicht viel länger. «Also?» sagte er zu seiner Frau und Press. Sie sagten gar nichts. «Also?» Sie sagten immer noch nichts. «Soll ich euch das Fenster aufmachen, damit ihr rausspringen könnt? Oder soll ich lieber springen? Wenn ich mal eine ganz einfache Frage stellen darf: Was habt ihr getan, um die Sache zu verifizieren?» Ich wunderte mich über seinen freundlichen Tonfall. Doch dann brüllte er: «Redet!» Als sie immer noch nicht antworteten, senkte er wieder die Stimme: «Wie habt ihr das verifiziert?» «Wir hatten einen Sachverständigen, der die Drucktype begutachtet hat», sagte Press, «und wir hatten die beiden Shakespeare-Experten.» «Das steht ja schon in der Zeitschrift. Aber sagt mir, wie ihr den Mann kontrolliert habt, der euch die Unterlagen gebracht hat. Habt ihr Referenzen eingeholt? Wie sah er aus?» «Ein kleiner Mann», sagte Press. «Okay, ein kleiner Mann. Wie schön. War der weiß, schwarz, grün?» «Weiß.» «Er war also weiß. Welche Haarfarbe?» «Schwarz und gelockt.» «Ein kleiner, weißer Mann mit schwarzen, gelockten Haaren. Welche Augenfarbe?» «Blau», sagte Press. -185-
«Na bitte, es geht doch. Ein kleiner, weißer Mann mit schwarzen, gelockten Haaren und blauen Augen.» Mr. Margin meldete sich zu Wort. «Hat er ein Polohemd und Freizeitschuhe angehabt?» «Ich glaube ja.» «Marge, wissen Sie etwa, wer das ist?» fragte Tooling. «Ich glaube, es war der Bürobote, der hier gearbeitet hat, ein erwachsener Mann namens Folio. Hat er geredet wie einer, der Pferdewetten annimmt?» «Ja, hat er», sagte Press. «Ach!» sagte Tooling. «Jetzt aber mal schön eines nach dem anderen. Sie haben also diese schweinischen Gedichte von einem Mann bekommen, der geredet hat wie einer auf der Pferderennbahn. Der hat behauptet, die sind von Shakespeare. Und da behaupten Sie also auch gleich, daß die von Shakespeare sind und drucken sie in meiner Zeitschrift ab. Ist das so richtig?» «Es ist nicht ganz…» «Nicht ganz», sagte Tooling, «aber fast. Okay, da wir jetzt wissen, was passiert ist, müssen wir überlegen, wie wir damit umgehen. Haben Sie irgendwelche Ideen?» «Wir könnten einen Widerruf bringen.» Tooling wurde wieder lauter: «In der nächste Ausgabe? Wie kommen Sie darauf, daß es noch eine Ausgabe geben wird?» Er dämpfte seine Stimme: «Irgendwelche Ideen, Schatz?» Mrs. Tooling schüttelte den Kopf. «Und Sie?» sagte er zu mir. «Ich glaube, Mr. Margin hat eine Idee», sagte ich. «Das wundert mich nicht», sagte Tooling und lehnte sich mit übertriebener Ruhe auf seinem Sessel zurück. «Also -186-
bitte, Marge, Ihre Idee.» «Heute abend wird die Story im Fernsehen sein, morgen auf der Titelseite der Times…» «Entschuldigen Sie», sagte Mr. Tooling. «Auf der Titelseite der Times. Stimmt das, Newbold? Hat die Times Sie angerufen?» «Ja, Sir.» «Das nenn ich Publicity! Machen Sie weiter, Marge!» «Zuerst einmal möchte ich sagen, daß ich Lügen unter keinen Umständen tolerieren würde. Es sei denn, um ein eindeutiges Unheil abzuwenden, um eine verbrecherische Tat zu verhindern…» «Bitte, Marge, die Idee!» «Also gut, wenn morgen früh bereits die AnschlußStories geschrieben und weitere Experten nach ihrer Meinung gefragt werden, erklären wir, daß alles nur ein Scherz war, und um das zu belegen, verweisen wir auf die verschlüsselten Namen in den Gedichten. Letztendlich haben wir nur einen kritischen Kommentar zu den HitlerTagebüchern abgegeben oder zur Howard-HughesAutobiographie. Eigentlich müssen wir uns doch sehr wundern, daß der Scherz nicht sofort und von jedem durchschaut worden ist. Wenn die Ausgabe in den Verkauf gelangt, weiß bereits die ganze Welt, daß wir ein paar kluge Leute an der Nase herumgeführt haben, oder jedenfalls solche Leute, die sich selbst für klug halten…» Ich hob meine Hand leicht vom Knie. Mr. Margin registrierte die Bewegung und redete nicht weiter. Etwa eine Minute saßen wir vier schweigend da, bis Mr. Tooling auf seine Frau zeigte und fragte: «Ist das eine gute Idee?» Sie nickte. -187-
Er zeigte auf Press. «Ist das eine gute Idee?» Press nickte. «Marge, nehmen Sie das in die Hand! Und tun Sie mir den Gefallen und übernehmen Sie bis auf weiteres die Chefredaktion. Okay?» Mr. Margin nickte würdevoll. «Und Sie helfen ihm dabei!» sagte er zu mir. «Jawohl, Sir.» «Okay, Sie können gehen!… Ihr beiden», sagte er zu seiner Frau und Press, «bleibt hier!» Das Gebrüll hörten wir bis zum Fahrstuhl. Mr. Margin und ich gingen ins Speisezimmer des Konzerns, genehmigten uns zur Feier des Tages einen Drink und fuhren dann in seine Wohnung. Zuerst riefen wir Art Folio an. Ich versuchte, ihn etwas in die Irre zu führen, indem ich ihm zu dem Gaunerstück gratulierte. «War nicht mein Ding, ihr Süßen.» «Da hab ich aber was ganz anderes gehört», sagte ich. «Ich war nur der Bürobote. Ich meine, so wie immer.» «So wie ich es verstehe, Art, hätte die Sache gar nicht funktioniert, wenn Sie nicht alles richtig gemacht hätten.» «Wissen Sie, wovor die Schiß hatten?» «Wovor?» fragte ich, obwohl ich eigentlich ‹Wer? Wer?› fragen wollte. «Die hatten Schiß, daß ich Geld verlangen würde. Sie haben mir immer wieder gesagt, daß wir alle wegen Betrugs hochgehen, wenn ich Geld dafür nehmen würde. Ich bin doch nicht blöd. Aber sie hatten Schiß.» «Jetzt freut ihr euch alle wahrscheinlich ein Loch in den Bauch.» -188-
«Seit die Sache gelaufen ist, hab ich beide nicht mehr gesehen. Also, ihr Süßen, schöne Grüße allerseits. Ich seh euch dann ja in der Zeitung.» Mr. Margin glaubte, daß die anderen Fälscher - wir wußten ja jetzt, daß es noch zwei waren - CollegeStudenten waren, die Folio auf der Rennbahn kennengelernt hatte. Ich erinnerte mich aber, daß Chuckle Faircopy während eines De-Pressions-Treffens gesagt hatte, er arbeite an einem Geheimplan. Ich rief ihn bei Belles Lettres an. «Sie waren's, nicht wahr?» «Natürlich», sagte er. «Wer hätte das denn sonst hingekriegt?» Nachdem ich ihm erzählt hatte, wie es Mr. Margin und mir ergangen war, und ihn gebeten hatte, niemandem etwas zu verraten, bevor wir mit unserer Erklärung herauskämen, enthüllte er die Details. Sobald er auf die Idee gekommen war, brauchte er eine Woche, um die Sonette zu schreiben. «Für die ersten fünf brauchte ich pro Stück einen Abend. Dann dämmerte mir, daß ich mindestens eins einschmuggeln könnte, das überhaupt keinen Sinn ergibt. Das hat zehn Minuten gedauert und hat mich für den Rest irgendwie lockerer gemacht. Sewnbound hat mir ja schon attestiert, daß das ZehnMinuten-Sonett ziemlich gut ist.» «Sie sind alle gut, Chuckle, und für ihren Zweck sind sie perfekt», sagte Mr. Margin ins zugeschaltete Telefon. Die Logistik funktionierte folgendermaßen: Aus etwa zwanzig Sonetten einer Faksimile-Ausgabe der Erstausgabe von 1609 schnippelte Ben Boards Buchstaben für Buchstaben heraus, ‹komponierte› dann die neuen Gedichte so, wie ein traditioneller Buchdrucker es -189-
gemacht hätte, nur daß er statt Bleilettern eine Pinzette und Gummikleber benutzte. Das Resultat wurde fotomechanisch vergrößert, retouchiert und wieder auf Originalgröße verkleinert. Es war das letzte Schriftstück, das je an Press geliefert wurde. Mr. Margins Plan funktionierte so gut, daß am nächsten Tag sogar ein paar Redaktionsmitglieder glaubten, daß der Schwindel absichtlich inszeniert worden sei. Die Medien, die sich bislang nicht für die Story interessiert hatten, wie etwa die Nachrichtenmagazine, fanden sie jetzt unterhaltsam. Mir kam zu Ohren, daß Newsweek an eine Titelgeschichte dachte und erst davon Abstand nahm, als man nicht rechtzeitig herausfinden konnte, wer die Sonette verfaßt hatte. Als die Sache dann publik wurde, erlangten Chuckle und Ben - man muß es der Fairneß halber so formulieren - Berühmtheit. Mr. Tooling verzieh ihnen. Chuckles Romane wurden neu aufgelegt, bekamen gute Kritiken und verkauften sich sogar einigermaßen. Ben wurde von einer Werbeagentur angeheuert, die auf schicke Typographie spezialisiert war. Der Memorabilien-Händler Charles Hamilton verkaufte das Fälschermaterial für 110000 Dollar an die Universität von Texas; Chuckle, Ben und Art Folio teilten sich das Geld. Mr. Margin wurde auch offiziell wieder als Chefredakteur installiert; seine Kolumne gab er an Virginia Wrappers ab, durch deren edles Pathos sie sehr populär wurde. Mrs. Tooling wurde auf dem Landsitz der Toolings in Purchase, N.Y., zur Ruhe gesetzt. Press wurde zu Proteans Fachzeitschrift Salle de Bain versetzt («dem kleinsten Raum im Haus gebührt die größte Aufmerksamkeit»), und auf Mr. Margins Bitte auch gleich das Informationsleck, um Press zu assistieren. Ich kündigte, um dies Buch zu schreiben, doch vor meinem Ausscheiden gelang es mir noch, Bobby -190-
Quatro, den Büroboten, der Press am Schlips gezogen hatte, für den Rest seines Freisemesters von Princeton wieder in seinen Job einzusetzen. Claire Tippin kam bei Time nicht zurecht, und Mr. Margin stellte sie mit einem Jahresgehalt von 63000 Dollar wieder ein; ihren redaktionellen Sonderstatus versuchte er mir zwar zu erklären, konnte sich dabei aber nicht recht deutlich machen. Er und ich treffen uns häufig, und es ist mir ein Vergnügen, mitteilen zu können, daß er in jeder Hinsicht ein glücklicher Mensch geworden ist.
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Anmerkung des Übersetzers Sämtliche Personen des Romans sind Träger «sprechender Namen», die zu übersetzen natürlich möglich gewesen wäre (z.B. Frank Seite, Aubrey Goldesel oder Cyrus Prägedruck), deren Übersetzung dem Roman aber einen atmosphärisch unangemessenen Zungenschlag gegeben hätte. Die zitierte Passage aus James Joyces «Ulysses» ist der Übersetzung Hans Wollschlägers entnommen (Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975).
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