KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ PLANER
Berühmte
Ärzte
MÄN...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ PLANER
Berühmte
Ärzte
MÄNNER DIE DEN TOD BESIEGTEM
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
Die großen ärztlichen Erfolge unserer Zeit — die Triumphe über viele Krankheiten und die Verhütung vieler Krankheiten — sind nicht denkbar ohne das ebenso entsagungsvolle wie kühne, das ebenso angefeindete wie leidenschaftlich bejahte Lebenswerk der großen Ärzte der Vergangenheit. Erst allmählich enthüllte sich seit dem Beginn der Neuzeit dem Menschen der Mensch, und es ist eines der dramatischsten Kapitel der Forschungsgeschichte, wie ein Lebensgeheimnis nach dem andern entschleiert werden konnte. Indem viele Rätsel gelost wurden, denen gegenüber der Arzt des Altertums oder des Mittelalters noch keine Antwort wußte, gelang es in zunehmendem Maße, der vom Leid der Krankheit geschlagenen Menschheit entsprechende Heilmittel in die Hand zu geben und sie von unsäglichen Daseinsnöten zu befreien. Unzählige Helfer der Heilkunde, die dazu beitrugen, die großen Plagen von einst zu überwinden, blieben namenlos; von Zeit zu Zeit aber erhob sich einer aus der großen Schar der Helfenden ins hellere Licht, da er den Blick in noch tiefere Zusammenhänge öffnete und bisher unbekannte Tatsachen des Menschenlebens durchschaute. Die folgende Reihe von Lebensbildern großer Ärzte, deren Erkenntnisse und Leistungen in die Geschichte der medizinischen Forschung und Arbeit eingegangen sind, kann nur eine Auswahl sein. Aber sie wird den Leser vertraut machen mit einigen der erregendsten Aufgaben, vor die einst die Helfer am Krankenbett gestellt waren und die sie in einem oft heroischen Kampf mit ihrer Umwelt und in Abwehr uralter Vorurteile bewältigen konnten.
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Das H e r z ist e i n e P u m p e
Harvey entdeckt den Blutkreislauf Der junge Londoner Arzt William Harvey,* Doktor zweier Universitäten, der Universität von Padua und der von Cambridge, war der Sohn eines wohlhabenden Kaufherrn, der älteste von acht Söhnen. Nach des Vaters Wunsch hatten sie alle acht Kaufleute werden sollen. Sieben waren der Familientradition gefolgt, aber einer, William der Älteste, hatte eine andere Berufung in sich gefühlt und war praktischer Arzt in London, Spitalarzt an einem großen Krankenhaus der Weltstadt und Lehrer an einem College geworden. Seine Frau, die Tochter des königlichen Leibarztes Lanceiot Browne, hatte ihm eine ansehnliche Mitgift ins Haus gebracht. Ganz so wie ihr Mann, hielt sie auf strenge Umgangsformen. Bei Hof konnte es nicht vornehmer und kühler zugehen ais bei den Harveys. Aber das alles war doch nur der Hintergrund für das Schauspiel seines Lebens. Dieses Schauspiel hieß für ihn: Forschung und Arbeit.
*
Heute hat er seinen Freund, den einzigen, vor dem er manchmal etwas von seiner vornehmen Zurückhaltung verliert, zu sich in seine Studierstube gebeten. „Ich habe dir etwas mitzuteilen, etwas von unerhörter Bedeutung." Erwartungsvoll steht der Freund vor Harvey. Und der sagt, ohne Vorbereitung, ohne Einleitung: „Ich habe herausgefunden, daß unser Blut im Körper vom Herzen aus nach einem Kreislauf durch den ganzen Körper wieder zum Herzen zurückfließt." Entgeistert sieht ihn der Freund an. „Hör mal", sagt er . . . und er spricht nicht weiter. Aber in seinen Blicken steht deutlieh, was er sagen will und zu einem so stilvollen und vornehmen Herrn nicht zu sagen wagt: Hör mal, bist du .komplett verrückt? * Genaue Angaben zu den einzelnen Lebensbildern findet der Leser auf Seite 31 und 32.
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„Das Herz ist eine Pumpe", fährt Harvey fort, ohne sich um den verstörten Ausdruck des Freundes zu kümmern, „durch ie Pumpenbewegung der linken Herzkammer preßt es das Blut durch die Arterien in den ganzen Körper. Durch die Lücken im Gewebe gelangt der Blutsaft in die Venen, fließt in die rechte Herzkammer, und dann strömt es durch die Lunge. Die Lunge aber treibt es in die linke Herzkammer zurück, von wo der Kreislauf von neuem beginnt." Also das ist der Gipfel! Jedermann weiß in jener Zeit, daß nur die Venen Blut enthalten, während die Arterien erfüllt sin 1 von einer geheimnisvollen Flüssigkeit; Lebensgeist hat sie der große Galen genannt, andere haben ihr einen anderen Namen gegeben. Das Blut fließt hin und her, erfüllt und getrieben vom Lebensgeist, höchstens, daß zwischen Herz und Lunge ein engeres Verhältnis besteht. Das wird an allen Universitäten gelehrt und alle glauben es. Und nun kommt dieser junge Arzt, der freilich kein Anfänger ist, aber doch keine Autorität, und behauptet, daß das Blut im ganzen Körper in der Runde herumfließt — zirkuliert —, ungefähr so wie ein Pferd in der Runde geht in einer Zirkusarena. Harvey weiß, daß es im Körper gar inicht anders sein kann. Er hat errechnet, daß das Herz in jeder Stunde etwa das dreifache des Körpergewichtes an Blut in die Adern pumpt. Eine solche Blutmenge kann nicht ständig neu gebildet werden, sondern muß immer dasselbe Blut sein, das in einem Kreislauf fließt. Harvey (trägt diese Lehre seinen Studenten vor, und nach weiteren Forschungen, die seine Erkenntnisse bestätigen, läßt er in einem Frankfurter Verlag seine Schrift erscheinen „Anatomische Übung über die Herzund Blutbewegung in den tierischen Lebewesen", in der das alles auf das genaueste beschrieben und belegt wird. Es wirkt auf die wissenschaftliche Welt wie eine Bombe. Die größten Autoritäten der Zeit wenden sich leidenschaftlich gegen eine Theorie, die sie lächerlich und vernunftswidrig nennen. Sie nennen den Entdecker der Blutzirkulation „Monsieur le circulateur". Das ist ein feiner, beißender Spott, nur den Gelehrten ver4
ständlich; denn circulator ist ein lateinisches Wort und heißt: Scharlatan. Harvey läßt Hohn und Kränkung über sich ergehen. Sie verletzen ihn tief, aber äußerlich bleibt er, vornehmer Engländer vom Scheitel bis zur Sohle, unberührt, kühl und gelassen. Noch eine andere Erkenntnis macht Harvey berühmt und gibt seinen Gegnern Angriffspunkte, ihn zu bekämpfen. Fabricius, sein Lehrer in Padua, hat ihn zum Studium der Lebensvorgänge im bebrüteten Hühnerei angeregt. Jetzt nimmt er seine Untersuchungen und seine Überlegungen über die Fortpflanzung in der Tierwelt wieder auf. Sein Herr und König stellt ihm zu Versuchszwecken seinen Hirschpark zur Verfügung. Er macht Experimente mit einer für die damalige Zeit fast unvorstellbaren Kühnheit. Inmitten angestrengter Arbeit trifft ihn mit einem Schlag ein doppeltes Unglück. Die politischen Verhältnisse Englands haben sich zugespitzt, der Bürgerkrieg rast über das Land. Das Königtum wird gestürzt. Harvey, Anhänger des Königs, flüchtet — er verliert mit dem Hirschpark die Möglichkeit, seine Experimente pn den Hirschkühen fortzusetzen, er verliert die kostbaren Manuskripte mit den Anmerkungen jahrelanger Arbeit. Ohne Hilfsmittel, nur aus seinem Gedächtnis schöpfend, legt er die Ergebnisse seiner Geistesarbeit in einem neuen Werke nieder. „Gemeinsamer Ausgangspunkt aller Entwicklung bei Tieren ist das Ei, auch bei den Tieren, die lebende Junge gebären" — steht an seinem Anfang. Später hat man diese für alle höheren Tiere zutreffende Lehre kurz zusammengefaßt in das Schlagwort: Omne animal ex ovo — alles Leben entsteht aus dem Ei. Der Beweis für diese Behauptung gelang der Forschung aber erst im Jahre 1827. Harvey, der vornehme Herr, der formvollendete Gentleman und feinsinnige Gelehrte, um den es immer stiller geworden war, zog sich in das Haus einer seiner Brüder zurück, um dort einem einsamen Lebensabend entgegenzugehen. Er war von der Richtigkeit seiner Erkenntnisse so sehr durchdrungen, daß alle Anfechtungen auf ihn keinen Eindruck machten. In der Geschichte der Forschung wird Harvey als der Begründer der auf Experimenten beruhenden Gesamtwissenschaft vom Lebendigen, der experimentellen Biologie, verehrt. 5
Sieg
über den Pockentod
Jenner führt die Impfung ein John Hunter, der berühmte Chirurg und große Anatom, schrieb an seinen Freund, den Landrat Edward Jenner, der zwanzigJahre jünger war als er und gerade von Liebeskummer geplagt wurde: ,,Herzensnöte sind keine unheilbare Krankheit, und es ist selten, daß irgendwelche Folgen von ihnen zurückbleiben. Das ist anders als mit den Folgen der Pocken." Mehrere Jahre vorher war Jenner Schüler dieses Hunter gewesen, und zwischen den beiden Männern hatte sich eine Freundschaft entwickelt, die bis zum Tode Hunters währen sollte. Es war im Hause Hunters, wo Jenner durch einen jener historischen Zufälle, die das Geschick der Menschheit bestimmen können, sozusagen mit der Nase auf das Problem gestoßen wurde, das ihn dann sein ganzes Leben beschäftigte. Ein kräftiges, junges Landmädchen, das Eier aus einem Dorfe gebracht hatte, erzählte von einigen Pockenerkrankungen in ihrem Heimatort. „Alle Leute", sagte sie, „leben daheim jetzt in der Angst, daß sie ebenfalls krank werden könnten, und sie trauen sieh kaum, ihre Häuser zu verlassen." „Und du? Hast du keine F u r c h t ? " fragte Jenner. „Es wäre schade um dein hübsches Gesicht!" „Mir kann nichts passieren, ich kriege nie die Pocken", antwortete das Mädchen zuversichtlich, „ich hab' ja die Kuhpocken gehabt." In der Grafschaft Glouster, wo sie lebte, herrschte der Glaube — der Aberglaube, wie die Ärzte damals meinten —, daß eine Per-: son, die von den Kuhpocken, einer durch Kühe übertragenen, ansteckenden und verhältnismäßig ungefährlichen Krankheit, einmal befallen worden war, in Zukunft vor den Menschenpocken gesichert sei. Jenner erinnerte sich daran, daß der geniale Arzt Paracelsus* auf seinen Wanderungen in den deutschen, Schweizer und Tiroler * Vgl. Lux-Lesebogen 201 „Paracelsus".
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Bergen immer den alten, volkstümlichen Heilverfahren nachgespürt hatte, überzeugt davon, daß in manchen von ihnen eine tiefere Erkenntnis stecke als in den schön bemalten Töpfen der Apotheker mit ihren wirren und phantastischen lateinischen Aufschriften. Ein Gedanke, der ihm bei dem Gespräch mit dem Dorfmädchen blitzartig überkommen war, gab ihm keine Ruhe mehr. In alten Schriften hatte er gelesen, daß manche Nomadenvölker ihre Schafe, um sie vor einer verheerenden Seuche zu schützen, mit einem Dolche ritzten, der vorher in die Lungen der an dieser Krankheit verendeten Tiere gestochen wurde. Er wußte auch, daß niemand die Pocken zweimal bekommen konnte, daß die erste Erkrankung gegen weitere Erkrankungen immun — unempfänglich — machte. Es gab Ärzte, die deshalb etwas Pockengift, das sie aus den Pusteln Pockenkranker entnommen hatten, auf andere Menschen übertrugen, um in ihnen eine nicht allzu heftige Krankheit zu erzeugen, damit sie künftig gegen schwere Erkrankungen gefeit wären. Aber das war auch bei bester ärztlicher Betreuung immer ein lebensgefährliches Unterfangen. Jenners Bestreben war es, dar Krankheit auf eine harmlosere Weise Einhalt zu gebieten. Damals starben allein in England Jahr für Jahr 40 000 Menschen an den Pocken. Schreckliche Pockenepidemien, meist aus dem Orient oder aus Afrika stammend, hatten in mehr oder minder langen Zwischenräumen Europa heimgesucht. Ganze Familien, ganze Dörfer wurden durch die Blattern, wie die Pocken auch genannt wurden, ausgerottet. Es ist wahr, sie töteten nicht immer, ein Teil der Kranken kam mit dem Leben davon; aber die Zeichen der fürchterlichen Krankheit blieben bis zur Todesstunde tief eingegraben in ihre Haut. Viele wurden blind. Man hatte vor den Pocken fast noch mehr Angst als vor der Pest. Was sein Lehrer ihm eingeprägt hatte: immer wieder Experimente machen, geduldig sein, fleißig und'genau arbeiten! — das blieb Jenners Wahlspruch für das ganze Leben. Nach langem Zögern entschloß er sich eines Maientages zu dem großen, entscheidenden Versuch, für den er viel getadelt wurde, weil er dazu einen lebenden Menschen benutzte. Die Begegnung mit der Magd, das, was sie ihm erzählt hatte, und zahlreiche Vor-
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versuche gaben ihm den Mut zu seinem Vorgehen und die Gewißheit, daß es gelingen mußte. Jenner impfte einem gesunden jungen Menschen namens James Phipps etwas Gift aus Kuhpocken in den Oberarm ein. Das war keine gefährliche Angelegenheit, denn die Kuhpocken waren ja ziemlich harmlos und eine Erkrankung daran ging schnell und meist ohne Folgen vorüber; es bildete sich tatsächlich nur eine Pockenpustel an der Einschnittstelle im Arm des jungen James Phipps. Aber dann tat Jenner den kühneren Schritt: Er impfte den jungen Phipps bald danach mit dem Gift der Menschenpocken. Er glaubte sich zu einem so kühnen Wagnis berechtigt, weil er völlig davon überzeugt war, daß die eingeimpften Menschenpocken an dem Knaben wirkungslos bleiben müßten, da der Körper des Jungen durch das Kuhpockengift unempfänglich geworden war. Das Ergebnis gab ihm recht. Der Knabe blieb gesund. Und von diesem bedeutungsvollen Tage an begann die Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten — nicht nur der Pocken — aufzuhören, ein tragisches Blindekuhspiel zu sein, bei dem der Arzt im dunkeln tappte; die Bekämpfung der Krankheitserreger wurde zu einem Gebiet zielbewußter Forschung. Im Jahre 1798 hatte Jenner seine Schrift „Untersuchung über die Ursachen und Wirkungen der Kuhpocken" veröffentlicht. Schon zwei Jahre danach gab es allenthalben in Europa Ärzte, die nach dem Jennerschen Verfahren Impfungen vornahmen. 1801 erließ die Schweiz als erste ein Impfgesetz gegen die Pocken, Bayern und Hessen folgten im Jahre 1807. Nicht lange mehr, und die Pokkenseuche erlosch in Europa und in den Ländern, in denen nach der Jennerschen Vorschrift geimpft wurde. 1928 gab es in ganz Deutschland nur noch zwei Fälle von Pockenerkrankungen. Viele Stunden verbrachte Jenner damit, die zahllosen Briefe zu beantworten, die er von Ärzten aus aller Welt bekam. Einmal schrieb er auch an Napoleon, um die Befreiung zweier englischer Kriegsgefangenen zu erwirken. Der Kaiser las: „Majestät, ich bitte u n t e r t ä n i g s t . . . " Er unterbrach sich und sagte: „Jenner? Er braucht nicht zu bitten, er darf fordern. Wer würde einem sol r chen Manne etwas versagen!", und die beiden Engländer konnten heimkehren in ihr Land. 8
Louis Pasteur — der Mikrobendoktor
Die
„Totenklinik" von
Wien
Semmelweis hilft den Müttern Vor dem Tor des Wiener Allgemeinen Krankenhauses in der Alserstraße stand ein Mann, ein Bürger der Wiener Altstadt, und schrie verzweifelt seinen Jammer hinaus. Straßenweit konnte man sein Rufen hören. Der Pförtner des Krankenhauses redete auf ihn ein und war bemüht, ihn zu beruhigen. Aber er hatte keinen Erfolg. Schräg gegenüber, vor der Kirche, in der einst Beethovens Leichnam eingesegnet worden war, standen die Leute und schauten neugierig zu. Ein Fremder kam vorüber und fragte, was los sei. „Oh, das ist wieder einer, der Krawall macht, weil man seine Frau in die Totenklinik eingeliefert hat." Totenklinik? Das klang unheimlich; der Fremde wollte wissen, was dieses schreckliche Wort bedeute. „Dort oben in der Klinik", erklärte man ihm, „dort sterben die Frauen, jeden Tag bringt man zwei oder drei von ihnen auf den Friedhof." So war es wirklich. Die unglücklichen Mütter, die einem Kinde das Leben gegeben hatten und hier in der „Ersten Wiener Klin i k " lagen, starben kurz nach der Geburt ihres Buben oder ihres Mädels an dem gefürchteten „Kinderbettfieber". Was für eine Krankheit das war, darüber waren die Ärzte sich nicht recht klar. Man glaubte, daß es sich um eine Seuche handle, die auf u n günstige atmosphärische Einflüsse zurückzuführen sei. Vielleicht waren es auch — so meinte man — kosmische oder aus der Erde aufsteigende Strahlen oder sonstige Todeskräfte. Das merkwürdige war nur, daß in der „Zweiten Wiener Klinik", die nicht nur im selben Gebäude, sondern auf dem gleichen Gang lag, die Zahl der Todesfälle ungleich geringer war. Das war so auffallend, daß es sich sogar bei der Bevölkerung herumgesprochen hatte. Der Name Totenklinik hatte eine unheimliche Popularität bekommen. Mütter, die in die „Erste Klinik" verlegt wurden, wehrten sich oft verzweifelt, und ihre Angehörigen waren von tiefster Sorge erfüllt, wenn wegen der Dberfüllung der „Zweiten Klinik" keine andere Möglichkeit bestand als die Behandlung in der Unglücksstation des Krankenhauses. 10
Einmal hatte ein junger Assistenzarzt — er hieß Semmelweis und kam irgendwoher aus Ungarn — den Chefarzt gefragt, ob er es nicht auffällig finde, daß gerade in der Klinik, in der die junJ gen Mediziner herangebildet wurden, so viele Todesfälle vorkämen und nebenan in der anderen Klinik, wo Krankenhelferinnen unterrichtet wurden, so wenige. Der Chefarzt hatte ihm das übelgenommen und ihm recht deutlich zu verstehen gegeben, daß der Herr Assistenzarzt sich um seine Arbeit kümmern und nicht seine Nase in Dinge stecken möge, die ihn nichts angingen. Und bald schickte man den unbequemen Geist in einen erzwungenen Urlaub. Die Ärzte, die in diesem großen Krankenhaus arbeiteten, hatten sich an die zahlreichen für unvermeidlich gehaltenen Sterbefälle unter ihren Patientinnen und das täglich mehrmalige Erscheinen des Priesters mit den Sterbesakramenten gewöhnt. Aber Dr. Semmelweis konnte sich nicht daran gewöhnen. Immer wieder hatte er sich gefragt: Warum sterben bei uns so viele und nebenan so wenige? Er konnte keine Erklärung dafür finden, aber der Gedanke an das Massensterben der Mütter verfolgte ihn bis in seine Träume.
* Semmelweis kehrt nach Wien zurück. Der ihm aufgezwungene Urlaub ist zwar noch nicht zu Ende, ab=r er hat keine Ruhe gefunden. Gleich nach seiner Ankunft sucht er seinen Freund, Professor Kolletschka, zu treffen, um mit ihm seine Sorgen zu besprechen. Er weiß, daß er ihn am sichersten im Krankenhaus finden wird. Auf den Korridor wird Semmelweis von einem Diener begrüßt: ,.Guten Morgen, Herr Doktor, schon wieder zurück 1 Was machen's denn hier so früh!" „Ich suche Doktor Kolletschka." „Doktor K o l l e t s c h k a ? . . . Ja, wissen's denn n i c h t . . . ? " Was ist los? Der Ausdruck im Gesicht des Dieners läßt ihn Böses ahnen. Und dann erfährt er, daß Dr. Kolletschka am Tage vorher plötzlich gestorben ist, nach einer Krankheit von wenigen Stunden und nach furchtbaren Qualen. Ein Student hat ihn beim Sezieren einer Leiche durch Unachtsamkeit an der Hand geritzt, 11
und das hat offenbar eine Blutvergiftung zur Folge gehabt, an der er zugrunde gegangen ist. So erzählt es der Diener. Semmelweis ist wie vor den Kopf geschlagen. Um mehr zu erfahren, läßt er sich beim Chefarzt melden, der ihm mitteilt, daß der Leichnam Kolletschkas genau untersucht werden soll. „Wollen Sie es übernehmen?" fragt Professor Klein, „er war doch I h r Freund." Semmelweis übernimmt es. Er öffnet den Körper des Freundes und findet im Innern dasselbe Krankheitsbild, das für das so gefürchtete „Kindbettfieber" charakteristisch ist. Mit einem Male wird ihm klar, warum in der Klinik, wo die! jüfigen Mediziner arbeiten, so viele Mütter sterben und in der anderen so wenige: weil die Ärzte und Studenten aus den Ser ziersälen in die Krankenzimmer hinübergehen und mit ihren vom Leichengift infizierten Händen und Instrumenten die Mütter behandeln; die Schwestern aber kommen niemals in die Sezierhalle und können sich deshalb auch nicht mit den gefahrlichen Keimen verunreinigen und sie übertragen. Es ist wie eine Erleuchtung für ihn: Nicht an einer Seuche, nicht an Ausstrahlungen sterben die jungen Mütter, sondern daran, daß die übertragenen Verunreinigungen ihr Blut zersetzen.
* Semmelweis erreicht es, daß es den Ärzten, Pflegerinnen und Studenten zur Pflicht gemacht wird, vor dem Betreten der Krankensäle die Hände in einer Lösung von Chlorkalk zu waschen. Man lacht über die „dumme Vorsichtsmaßregel", man ärgert sich über sie, aber man hält sich an sie, schon deshalb, weil man mit dem reizbaren Dr. Semmelweis nicht gerne in einen Streit kom^ men will. Immer steht er da und schreit wie der Ausrufer einer Praterbude: „Hände waschen, meine Herren, Hände waschen 1" Jeden, der mit ungewaschenen Händen und ungewaschenen Instrumenten an ein Krankenbett treten will, fährt er wi« ein bissiger Köter an. Nach einem Jahr aber ist die Sterblichkeit der jungen Mütter in der berüchtigten Totenklinik von 10 bis 30 Prozent auf 1,27 Prozent gesunken, von 600 Todesfällen auf 40. Das, was man für eine seuchenartige Fieber- oder Ausdünstumgscrkrankung, für 12
„Kindbettfieber" gehalten hat, gibt es nicht mehr, ja mehr als das, Semmelweis hat nachgewiesen, daß es überhaupt nie existiert hat. Und was geschieht später? Es geht nicht mit rechten Dingen zu auf der Welt. Die Ärzte haben es sich in den Kopf gesetzt, daß das „Kindbettfieber" eine epidemische Krankheit sei, und sind von dieser Auffassung auch durch die in .die Augen springende Spitalsstatistik nicht abzubringen. Semmelweis kämpft mit Erbitterung gegen den unseligen I r r tum: in Wien als Assistenzarzt am Allgemeinen Krankenhaus, in Budapest als Vorstand einer Klinik, an der Universität, wo er Vorlesungen hält — überall stemmt er sich dem verhängnisvollen I r r tum entgegen.
* Vielleicht hätte man ihm das weniger übelgenommen, wenn er geschmeidiger, diplomatischer gewesen wäre. Aber er schrieb, da er von der Richtigkeit seiner Maßnahmen bis ins Innerste überzeugt war, beschwörende und, wo man nicht auf ihn hören wollte, beleidigende Briefe: „Das Morden, an dem Sie, Herr Professor, beteiligt sind, muß aufhören!" oder: „Wenn Sie fortfahren, Ihre Schüler in der Lehre des ^epidemischen Kindbettfiebers' zu erziehen, so erkläre ich Sie vor Gott und der Welt als Mörder!" E r beschimpfte seine Gegner. Der aussichtslose Kampf machte ihn von Tag zu Tag erbitterter, heftiger, aber auch mutloser. Während eines Aufenthaltes in Wien suchte er der Reihe nach alle Leiter und Ärzte der Kliniken auf, in denen junge Mütter lagen, überall machte er Skandal, und man begann zu munkeln: Der Mann ist übergeschnappt. Und als er wieder einmal einem seiner Widersacher eine peinliche Szene machte, wurde er plötzlich von kräftigen Armen umschlungen, weggetragen und irgendwohin gefahren. Er wehrte sich, aber man überwältigte ihn. In dem Raum mit den vergitterten Fenstern, in dem er sich befand, begriff er, was geschehen war: Man hatte ihn in ein Irrenhaus gebracht. Und jetzt geriet er völlig außer sich, jetzt begann er zu schreien und in seiner Ohnmacht um sich zu schlagen, so daß man wirklich mit gutem Gewissen sagen konnte, Semmelweis hat einen Tobsuchtsanfall 13
bekommen! Aber der Tod hatte den geistig Umnachteten bereits au seinen Verbannungsort begleitet. Bei einer Operation, die Semmelweis kurz vor seiner Einlieferung vorgenommen hatte, war ihm irgend ein Krankheitskeim in eine kleine Fingerwunde eingedrungen. So starb er schon bald an einer Blutvergiftung. Was Semmelweis damals erkannt und so leidenschaftlich verfochten hatte, ist — erweitert auf alle Zweige der ärztlichen Arbeit — längst eine Selbstverständlichkeit geworden: die Asepsis, das äußerste Bemühen, bei Wundbehandlungen alle schädigenden Keime fernzuhalten. Aber es mußten erst so bedeutende Männer wie Louis Pasteur, Robert Koch*, Joseph Lister und Ernst von Bergmann das Gewicht ihrer Erfahrungen, Entdeckungen und Forschungen in die Waagschale werfen, bis die Pioniertat des Arztes Semmelweis für die gesamte Chirurgie bedeutsam wurde — so bedeutsam, daß Ernst von Bergmann den scherzhaft-ernsten Satz niederschreiben konnte: „Trotz aller Fortschritte der Technik halte ich diese Tatsache für die größte Errungenschaft des 19. Jahrhunderts, daß der Arzt gelernt hat, sich vor seiner Arbeit seine Hände gründlich zu waschen."
Entdeckungen
im
Menschenkörper
Claude Bernard — der Dichter und Forscher „Tanzen? Das ist doch nichts für Sie, Monsieur Bernard!" Das frische Bauernmädel mit den roten Wangen sagt das lachend und wirft sich in die Arme eines anderen Tänzers. Sie hat das nicht bös gemeint, und die Burschen um Bernard herum, die ihn belustigt ansehen, weil er so verdattert dasteht, meinen es auch nicht böse. Aber er, Claude Bernard, der Sohn des armen Weinbauern, ist bleich. Er fühlt, wie er zittert, er kommt sich erniedrigt und beschämt vor, er möchte am liebsten in die Erde versinken. Er hat all seinen Mut zusammennehmen müssen, um das Mädel zum Tanz * über Robert Koch, der ebenfalls in diese Reihe von Lebensbildern berühmter Ärzte gehört, liegt ein eigener Lux-Lesebogcn vor (Heft \ r . 19).
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aufzufordern, und nun läßt sie ihn stehen. Er stiehlt sich aus dem Saal, unsicheren, unbeholfenen Schrittes, um so unbeholfener, als er sich bewußt ist, daß er nicht sehr geschickt und elegant mit seinen Beinen umzugehen weiß, die ihm immer irgendwie im |Wege sind. Mit den Händen, ja, das ist etwas anderes! Bcrnards Hände sind für einen Bauernsohn von überraschender Feinheit und Beweglichkeit, und seine Finger sind gelenkig, feinnervig und von großer Geschicklichkeit. Das weiß er — und so will er den anderen zeigen, was diese Hände vermögen.
* Abend für Abend, wenn die anderen Burschen ins Wirtshaus gehen, sitzt der Apothekergehilfe Claude Bernard in seiner Mansarde und schreibt. Manchmal steht er auf und gestikuliert, und dann setzt er sich wieder hin und läßt die Feder über die Blätter fliegen. So tun es die Dichter, und er fühlt und weiß: Auch ich bin ein Poetl Ein kleines, heiteres Theaterstückchen entsteht unter seinen Händen: „Die Rose aus dem Rhonetal". Es wird angenommen und wird gespielt, aber in so veränderter Form, daß er es selbst kaum wiedererkennt, aber er bekommt ganze hundert Francs als Honorar ausgezahlt. Dann schreibt er an seinem großen Schauspiel: „Artur, der Bretone". Das wird ein richtiges Drama in fünf Akten. Die Gelegenheit ist günstig: Er kann das vollendete Drama einem in hohem Ansehen stehenden Theaterkritiker unterbreiten. Doch der Fachmann schickt es mit einem freundlichen Begleitschreiben zurück: „Theater? Das ist wirklich nichts für Sie, Monsieur Bernard", und er rät ihm, lieber auf die Universität zu gshen und Arzt zu werden. Bernard folgt dem Ratschlag, aber begeistern kann er sich nicht für sein Studium. Er ist sich klar darüber, daß er sich weder für Heilmittel interessiert noch für Heilmethoden, weder für die Krankheiten noch für die Kranken. Die Vorlesungen hört er nur mit halbem Ohr, Kameraden uud Professoren halten ihn für uninteressiert. Zweimal fällt er bei den Prüfungein durch, aber schließlich schafft er es doch. Er kommt als Hilfsarzt in ein Krankenhaus. Er fühlt sich nicht 15
zu Hause in den Krankensälen, wohl aber im Seziersaal. Da kann er zeigen, was in ihm steckt. Keiner der anderen jungen Ärzte vermag ein anatomisches Präparat so sauber und geschickt zuzurichten wie er. Magendie, seinem berühmten Lehrer, fällt die Sonderbegabung des jungen Arztes auf, er gibt ihm die Stelle eines Assistenten und erklärt allen, die es hören wollen, daß Claude Bernard eine glänzende Zukunft vor sich habe. Bernard, endlich zu einigem Verdienst gekommen, heiratet eine Frau, die sich aber schon bald als seiner nicht würdig erweist. Er hat inzwischen ein Lehramt bekommen: aber ein Professor verdient in dieser Zeit nicht viel, der damalige Staat ist ein geiziger Brotherr. Frau Bernard, die von einem großen Haus geträumt hat, muß mit kleinen Münzen rechnen lernen. Das verzeiht sie ihrem Gatten nicht. Bernard stürzt sich in seine Arbeit, überhäuft sich mit Arbeit. Sein Laboratorium ist ein feuchter, dunkler Keller, in dem er sich den Keim einer Krankheit holt, an der er zeitlebens leidet. Sein scharfer Geist, der Zusammenhänge zwischen anscheinend voneinander ganz unabhängigen Erscheinungen und Vorgängen blitzartig erkennt, seine unbestechliche Beobachtungsgabe, seine unerhörte Sicherheit im Sezieren sind die Grundlagen seiner Entdeckungen. Als erster erfaßt er klar die Aufgaben und Leistungen der Leber und die der Bauchspeicheldrüse; als erster weist er nach, daß es Drüsen mit innerer Sekretion gibt, lebenswichtige Drüsen, die ihre Absonderungen unmittelbar ans Blut weitergeben; als erster beweist er, daß der Magen nicht, wie man bis dahin geglaubt hat, alle Verdauungsarbeit allein leistet, sondern daß er nur eine vorbereitende Arbeit tut, und daß es die Bauchspeicheldrüse ist, die mit dem Saft, den sie absondert, bei der Umformung der Fette und anderer Nährstoffe die Hauptrolle spielt. Bernard weist nach, daß die Leber Zucker erzeugt, während man bis dahin geglaubt hat, daß ihre einzige Aufgabe darin bestehe, die Galle auszuscheiden. Das ändert mit einem Schlage die alte Vorstellung, daß jedes Organ eine — und nur eine — Funktion auszuüben hat und unabhängig von den anderen Organen seine Arbeit verrichtet. Wenn Bernard die Ergebnisse dieser Forschungen schriftlich nie16
Neben Pasteur führte Robert Koch den großen Kampf gegen die Krankheitserreger
derlegf, so bekommt seine sonst so sachliche Sprache Schwung. Da wird er zum Poeten, wie er es in seinen Jugendjahren geträumt hat, zum Poeten — des Speichels, der Drüsen, der Leber, der Bauchspeicheldrüse. Claude Bernard untersucht die Bedeutung desl Zuckers im menschlichen Körper und lernt den Abbau und die Verwertung der Nahrung verstehen, die er als chemische Vorgänge erkennt. Er durchschaut die Bedeutung der Nerven bei der Regelung des Stoffwechsels, der Verdauung, der Atmung und des Blutkreislaufs. Lange Zeit beschäftigt er sich mit dem indianischen Pfeilgift Curare und seiner Wirkung auf bestimmte menschliche Organe und untersucht anschließend auch andere Gifte, deren jedes, wie er feststellt, auf andere Organe im Körper einwirkt. Damit schafft er die Grundlage für die Bekämpfung der Vergiftungsfolgen an den Punkten im Körper, wo Gifte vornehmlich ihre verhängnisvolle, oft tödliche Rolle spielen. Alle diese Entdeckungen macht er in so raschem Tempo, idaß man von einer „Explosion der Entdeckungen" spricht und von ihm sagte, er entdecke mit der gleichen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der er atme. Er hat Unschätzbares für die Medizin geleistet, weil jede seiner Entdeckungen der Ausgangs-, punkt für neue wertvolle Heilmethoden geworden ist. Er hat den Medizinern beste Waffen in die Hand gegeben. Gegner hat er eigentlich kaum gekannt, und er ist auch mit Ehrungen aller Art überschüttet worden. Napoleon III. hat Claude Bernard zum Senator ernannt. Als Bernard, 65 Jahre alt, eines Tages feststellt, daß das alte Nierenleiden, das ihm schon so viele Ungelegenheiten bereitet hat, sich plötzlich verschlechtert, gibt er sich keinen Illusionen hin. Er weiß, daß es nun ans Sterben geht. „Schade", sagt er, „ich hätte so gerne meine Arbeit über die Gärung vollendet." Bis zuletzt denkt er an seine Forschung. Bernard hat fachwissenschaftliche Werke von 18 Bänden Umfang hinterlassen, die in einer formvollendeten Sprache geschrieben sind. Seine 1865 erstmals erschienene „Einführung in das Studium der Experimentalmedizin" wird auch heute noch in immer neuen Auflagen herausgebracht. 18
Die
kranke
u n d die
gesund«
Zelle
Virchow — der Politiker, Arzt und Wissenschaftler In dem pommerschen Städtchen Schivelbein, das von einem Dentschordensschloß überragt wird, weitab von den großen. Verkehrswegen Europas, lebte ein kleiner Gastwirt mit seiner Frau, beide aus ehrenwerter, aber farbloser Umwelt stammend. Er trug den Namen Virchow und besorgte nebenbei auch das Amt des Stadtkämmerers. Rudolf, beider Sohn, war ein Bub wie alle anderen, vielleicht ein bißchen zarter, ein bißchen schwächer als seine Kameraden, vielleicht auch ein wenig stiller und mehr in sich gekehrt. Eiir das väterliche Gewerbe zeigte er weder Anlage noch Interesse. Hätten aber widrige Umstände und der Wille der Eltern ihn gezwungen, dem Vater im Berufe zu folgen, so wäre er wahrscheinlich trotzdem ein vorbildlicher Gastwirt geworden; denn vorbildlich in allem zu sein, was er tat, war sein Streben von Kindheit an. Er lernte spielend, aber nicht so wie andere, die es leicht haben, sich den Lehrstoff anzueignen, und deren blendende Intelligenz sie dazu verleitet, sich mit einem eindrucksvollen, aber oberflächlichen Wissen zu betrügen. Er wollte schon als Schüler immer das Wesentliche erkennen. Die Oberfläche hatte wenig Reiz für ihn, ihm war es immer darum zu tun, herauszukriegen, „was die Puppe eigentlich im Bauch hat." Schon daß man ihn auf die Mittelschule schickte, widersprach der bescheidenen Familientradition. Was den Vater dazu bewog, das war wahrscheinlich der Gedanke, daß sein Sohn vielleicht einmal Reserveleutnant werden könnte — und das war etwas, was damals in Pommern mehr galt als alles andere. Aber als es dann hieß, daß Rudolf seine Studien fortsetzen und Arzt werden wolle, da protestierte der Vater. „Das wird viel Geld kosten", sagte er. „Das kommt später wieder herein, mit Zins und Zinseszins", entgegnete die Mutter, und sie schmeichelte dem Stolz ihres Mannes damit, daß sie ihm ausmalte, wie schön es wäre, wenn er ein^ mal werde sagen können „Mein Sohn, der Doktor. . ." So gab er schließlich nach, und Rudolf durfte auf die Uni19
versität nach Berlin. Er hatte noch nicht einmal seinen Doktortitel, als er schon als Autorität in vielen medizinischen Fragen galt. Auch jetzt fiel die Leichtigkeit auf, mit der er alles erfaßte — den Professoren ebenso wie den Kameraden. Er war fleißig. Das Wort Pasteurs: „Es gibt im Leben nur ein einziges wirkliches Vergnügen, das ist die Arbeit!" hätte sein Motto sein können. Mit 22 Jahren erlangte Rudolf Virchow die Doktorwürde, und der junge Gelehrte wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem berühmten Berliner Krankenhaus der Charite. In einer eigenen Zeitschrift begann er weithin Einfluß zu gewinnen. Als er von der Regierung nach Obcrschlesien geschickt wurde, um dort die schrecklichen Folgen des Hungertyphus zu bekämpfen, wurde er von dem Elend, das er sah, so aufgewühlt, daß er kurz entschlossen in die politische Arena sprang, um sich der Rechte der Enterbten anzunehmen. Was er forderte war eine Erneuerung der sozialem Gesinnung der herrschenden Schichten, kürzere Arbeitszeiten für die Arbeiter, Krankemfürsorge in den Elendsvierteln, Sorge für Wohlstand und Bildung. Seine Mitbürger wählten ihn im Jahre 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung. Die Gegner sahein mit scheelen Augen auf diesen jungen Gelehrten, sie ahnten, daß er ihnen noch manche unangenehme Stunde bereiten werde. Da entdeckte ein Beamter, daß der Mann ja noch gar nicht dreißig Jahre alt war und daher nicht das passive Wahlrecht besaß. Leichter hätten die Gegner ihn nicht loswerden können. Aber sie wollten ihm noch eine Extralehre geben und ihm zeigen, was es heißt, gegen den Strom schwimmen zu wollen. Seine Zeitschrift „Die medizinische Reform" wurde unterdrückt, ihm selbst wurde die Lehrbefugnis und das Amt in der Charite entzogen. Lang sollte er nicht ohne Lehramt bleiben: Die Universität Würzburg bot ihm einen Lehrstuhl für Krankheitsforschung an. Er nahm die Berufung an, und niemand hatte das zu bedauern, weder er selbst noch die Universität, und schon gar nicht die Stadt, die plötzlich Weltruf erwarb durch die zahlreichen W i ß begierigen, die hinkamen, nur um die Vorträge des jungen Virchow zu hören. In Würzburg gefiel es ihm. Als jedoch der preußische Ministerpräsident, beeindruckt von Ruhm und Ansehen des 20
jungen Gelehrten, ihn in die Reichshauptstadt zurückrief, konnte er nicht widerstehen. Zehn Jahre lang war Rudolf Virchow der Politik ferngeblieben, aber jetzt in Berlin begann er wieder seinen Kampf für den Fortschritt der sozialen Verhältnisse. Er wurde zum Stadtverordneten und zum preußischen Abgeordneten gewählt, später gehörte er auch dem Deutschen Reichstag an. Unzählige Male lag er mit Bismarck, dem er sich erst später angenähert hat, in bitterem Streit. Als der große Kanzler ihm zu verstehen gab, daß ein Schuster bei seinem Leisten bleiben 6olle, und daß ein Arzt in der Politik nichts zu suchen habe, antwortete Virchow: „Der Arzt ist von Natur aus der Beschützer der Armen und Unterdrückten 1" Daß ein Mann neben einer ungewöhnlichen Kraftentfaltung als Politiker noch imstande sein sollte, auch eine solch große, bahnbrechende wissenschaftliche Arbeit zu leisten, wie es Virchow getan hat, ist nahezu unfaßbar. Man müßte Seiten um Seiten füllen, um nur ein skizzenhaftes Bild von seiner vielseitigen Tätigkeit zn'zeichnen. Die „Pathologie", die Lehre von den krankhaften Veränderungen und von den Störungen, die im Körper auftreten können, verdankt Virchow tiefste Einsichten, die bis heute gültig sind oder fortwirken. Mit seinem Buche über die Geschwülste hat er eine der Grundlagen für die moderne Pathologie geschaffen. Die Durchforschung und Erkenntnis der krankhaften Vorgänge im Organismus waren für ihn Ausgangspunkt für alles ärztliche Wissen. Virchow leitete, als ob das ein Kinderspiel wäre, ein riesiges Krankenhaus und bewältigte dort eine Arbeit, für die normalerweise die ganze Arbeitskraft eines sehr arbeitstüchtigen und arbeitsfreudigen Mannes kaum ausreicht. Er schuf für die Stadt Berlin eine neue Kanalisationsanlage, er rüstete, als der SiebzigerKrieg ausbrach, für die Armee die ersten Lazarettzüge aus und errichtete auf dem Tempelhofer Feld ein Barackenlager für die Verwundeten des Deutsch-Französischen Krieges. Unter den Schulkindern Deutschlands führte er eine umfassende Untersuchung durch, um den Anteil der Blonden und Brünetten an der Gesamtbevölkerung festzustellen. Fast nebenbei war er zum Begründer der „Anthropologie" ge21
worden, jener Wissenschaft, die sich mit der Entstehungsgeschichte, der Ausbreitung und den heutigen Erscheinungsformen der Menschen und der Menschheit befaßt und ihr Verhalten der jeweils sich ändernden Umwelt gegenüber. Virchow war aber auch eine unbestrittene Autorität auf dem Gebiet der Archäologie, dsr Völkerkunde und der Heimatkunst. Mit Schliemann war er an den Ausgrabungen des alten Troja beteiligt, und es gelang ihm, die Grabungstätigkeit Schliemanns in wissenschaftliche Bahnen zu lenken. Er durchforschte den Kaukasus nach Gräberfeldern und bereiste Ägypten, wo er die Königsmumien mit den entsprechenden Königsbildern verglich. Emsig beschäftigte er sich mit den Pfahlbauten Pommerns und anderen vorgeschichtlichen Ansicdlungcn. Rudolf Virchow gründete mehrere Museen, und er tat viel für die Volksbildung. U. a. gab er eine Sammlung volkstümlicher Schriften heraus, für die er selbst Abhandlungen über so verschiedenartige Themen wie die Trichinen, die Erziehung und Goethe als Naturforscher geschrieben hat. Er war im Vorstand des Fischereivereins, Vorstandsmitglied der Invalidenversicherung — kurz, er war überall, wo man einen Mann brauchte, der mehr verstand als die anderen und dem es gelang, dem Besseren zum Durchbruch zu verhelfen. Und dabei ist das Wichtigste noch nicht erwähnt: Virchow jst auch der Begründer der modernen Zellenlehre. Die Zelle war im 17. Jahrhundert als Lebenseinheit der Pflanze und im 19. Jahrhundert, kurz bevor Virchow zu forschen begann, auch als Lebenseinheit des tierischen und menschlichen Körpers erkannt worden. Jeder tierische und pflanzliche Organismus baut sich also aus Zellen als den Bausteinen des Lebendigen auf. Virchow lehrte, daß diese Zellen nur aus Zellen gebildet werden könnten und wandelte das Wort „Oinne animal ex ovo'' in den Satz um „Omnis cellula e cellula" — jede Zelle geht aus einer anderen Zelle oder — nach einer neueren Anschauung — aus Zcllbestandteilen hervor. Durch Virchow j s t der jahrhundertelange Problemstreit der „Humoristen" und der „soliden Leute" neu entzündet worden, die sich nicht darüber einigen konnten, ob die Ursache für Krankheiten in einer falschen Mischung der Körpersäfte, der „Humo22
Rudolf Virchow — der Erforscher vieler Krankheiten
r e s " (Blut, Sehleim, gelbe und schwarze Galle), zu suchen sei oder in Veränderungen, Entartungen, Störungen an den „soliden", festen Teilen des Körpers (Herz, Nerven). Virchow bezeichnete als den Sitz der Krankheit die Zelle; wenn das gesunde Leben, so erklärte er, an die Zelle gebunden ist und das kranke Leben nichts andres ist, als das durch allerlei äußere und innere Einwirkungen gehemmte gesunde Leben, so müssen auc'h die Krankheiten auf die Zelle zurückgeführt werden. Auf diesem Gedanken hat Virchow seine „Zellularpathologie" aufgebaut, jene Krankheitslehre, die das Wesen der Krankheiten in Lebensstörungen in den kleinsten Einheiten des Körpers, den Zellen, sieht. Die auf die Zellen begründete Krankheitslehre Virchows ist in der Folge abgewandelt worden, da man heute wieder mehr das Ganze des kranken Menschen betrachtet, den es zu behandeln und zu heilen gilt; trotzdem ist die „Zellularpathologie" Vichows immer noch eine der wesentlichen Grundlagen der modernen medizinischen Forschung.
Der
Mikrobendoktor
Pasteur bekämpft und überwindet die Tollwut Dieser hinkende, halbgelähmte Chemiker in seinem engen Bratenrock von bemerkenswert unelegantem Schnitt konnte in maßlosen Zorn geraten, wenn jemand auf eine seiner tiefüberlegten, wohlbegründeten Behauptungen mit einem Witz oder einer unsachlichen Ausrede antwortete. Das hatte wieder einmal einer seiner verstockten Widersacher getan, und er — Louis Pasteur — schrie außer sich vor Abscheu: „Dieser elende Mensch ist zu allem fähig!" Er sah aus wie ein Kleinbürger. Sein Alltagsleben war ohne Glanz und Vergnügen, er aß bescheiden, war immer besorgt, sein kleines Vermögen zusammenzuhalten und keine unnützen Ausgaben zu machen, er grüßte respektvoll die Leute, die er hoch im Range glaubte; wenn er einmal einen Spaziergang machte, was selten genug vorkam, so tat er das mit Frau und Kindern, und am Sonntag ging er mit ihnen zur Kirche. 24
Aber das Geschäft dieses Kleinbürgers war: Kampf gegen Krankheit und Tod. Er war nur ein einfacher Chemiker, und die Ärzte haben pich lange Zeit darüber aufgeregt, daß er es wagte, ihnen Lehren eu, erteilen. Und doch war er einer der größten ärztlichen Wohltäter der Menschheit. Auf einer Sitzung in der Akademie der Wissenschaften, wo er in Wirklichkeit gar nichts zu suchen hatte, führ er einen Arzt, der lang und breit mit vielen wissenschaftlichen Worten über das „Kindbettfieber" sprach, an und hielt ihm in scharfen Worten die Wahrheit vor, die von Semmelweis in Wien entdeckt, dann aber wieder vergessen worden war: „Das Kindbettfieber? Unsinn I Es sind die Mikroben, Bakterien, die der Arzt von einer kranken Frau auf eine gesunde überträgt!" Es ist uns heute unvorstellbar, daß viele Mediziner der damaligen Zeit nicht genug spotten und spötteln konnten über die „grotesken Theorien dieses kleinen bakterientollen Chemikers". Sie lächelten mitleidig. „Der Mikrob ist klein und Pasteur ist 6ein Prophet!" sagte ein Witzbold. Als man Pasteur dieses Wort hinterbrachte, bekam er einen seiner berüchtigten Zornanfälle. Er hatte nichts übrig für Witze, sogar seine Assistenten sagten:,,Der Meister kann alles, nur lachen kann er nicht!" Weitverbreitet ist die Meinung, daß Pasteur sozusagen der „ E r finder" der Mikroben sei. Aber das ist nicht der Fall. Er hat zwar eine Reihe dieser mikroskopisch kleinen Lebewesen entdeckt, aber er war keineswegs der erste, dem das gelungen i,st. Hingegen war er der erste, der erkannt hat, daß Fäulnis und Gärung das Ergebnis der Wirksamkeit dieser Kleinstlebewesen — Mikroben, Mikroorganismen — si,nd, die in den faulenden und gärenden Stoffen nicht etwa von selbst entstehen, sondern von außen in sie hineingelangen. Das, was er fand, klingt sehr einfach: Fäulnis und Gärung werden von Mikroben erzeugt, die selber alle von Mikroben „geboren" wurden. Aber damit hatte er si,clh in Gegensatz zu der damals herrschenden Meinung gesetzt, daß unter gewissen Umständen Lebendes aus Unbelebtem hervorgehen könne. Man glaubte, daß sich Ungeziefer aus Schmutz entwickeln und daß aus faulendem oder totem 25
Stoff Kleinstlebewesen aus sich selber hervorwachsen könnten. Indem Pasteur in gärendem und faulendem Stoff di,e mikroskopisch kleinen Lebewesen als Ursachen für das Werk des Garens und Faulens erkannte, hat er die Streitfrage um die Urzeugung entschieden. Wenn. aus Schmutz Lebewesen hervorgehen, so sind sie keineswegs „urgezeugt", sondern stammen von den im Schmutz verborgeinen Mikroben ab. Es ist interessant, daß man ihm, von dem man wußte, daß er ein gläubiger Christ war, den Vorwurf gemacht hat, er wolle nur deshalb nicht an die „Urzeugung" der Maden im faulenden Fleisch und im Käse glauben, um die biblische Schöpfungsgeschichte nicht Lügen zu strafen. Im Verlauf seiner Experimente entdeckte er, daß die gärungserzeugenden Bakterien nicht hitzebeständig sind und daß man daher Flüssigkeiten durch Erhitzen fast keimfrei machen und vor dein Verderb retten kann. Der Begriff der pasteurisierten Milch ist heute jedem Schulkind geläufig. Pasteur kam zu der Überzeugung, daß eine lange Reihe von Krankheiten durch Bakterien hervorgerufen wird. Ihn beschäftigte seitdem dauernd der Gedanke, ob es nicht möglich sei, auch den tierischen oder menschlichen Körper durch geeignete Verfahren vor der unheilvollen Einwirkung der Bakterien zu schützen. Ein Zufall wies ihm den Weg. Es geschah nämlich, daß bei seinen Versuchen über die Hühnerpest eine Bakterienkultur durch ein Versehen längere Zeit unbenutzt liegengeblieben war. Sie wurde dann doch durch Impfung bei einem Huhn verwendet, aber es erwies sich, daß sie offenbar nicht mehr wirksam war. Das Tier zeigte nur leichte Krankheitserscheinungen und erholte sich rasch. Später wurden demselben Huhn und einer Anzahl anderer Hühner frischere Bakterien der Hühnerpest eingeimpft. Und jetzt ereignete sich etwas überraschendes. Alle Hühner erkrankten und gingen zugrunde, während das früher mit den geschwächten Bakterien geimpfte Huhn auf die zweite Impfung überhaupt nicht reagierte. Pasteur erfaßte sofort, daß er es hier mit etwas zu tun habe, das der Jennerschen Schutzimpfung gegen die Pocken ähnlich war. Pasteur baute seine Versuche aus, und es gelang ihm, Hühner 20
gegen die Hühnerpest und Schafe gegen die Schafpest durch eine Schutzimpfung mit abgeschwächten Bakterien immun zu machen. Das alles war zunächst nur Laboratoriumsarbeit und rief, als es bekannt wurde, viel Ärgernis, Widerstand und Spott hervor. In der Absicht, Pasteur in eins unauslöschliche Blamage hineinzulocken, stellte ein Tierarzt aus Melun, ein Mann namens Rossignol, dem Gelehrten 50 Schafe zu einem Versuch zur Verfügung, der unter der Kontrolle der Öffentlichkeit vor sich gehen sollte. Zuerst sollten 25 Schafe mit dem von Pasteur gefundenen schwachen Impfstoff geimpft werden, und nach einer entsprechenden Zeit sollten dann alle 50 Schafe die Schafpest eingeimpft bekommen. „Wenn Sie recht haben", schrieb Rossignol an Pasteur, „so müssen die ungeimpften 25 Schafe eingeben, die geimpften aber gesund bleiben. Sind Sie bereit, die Probe zn wagen, ja oder nein?" Roux, der Mitarbeiter Pasteurs, warnte seinen, Meister davor, die Herausforderung anzunehmen, das Verfahren sei noch nicht genügend durchgeprüft. Pasteur antwortete: „Was im Laboratorium an 14 Schafen gelang, das muß auch für 50 Schafe gelten." Er sagte zu, und das Experiment ging unter der leidenschaftlichen Anteilnahme der Öffentlichkeit vor sich. 25 Schafe wurden schutzgeimpft, und alle 50 Schafe erhielten nachher eine totbringende Menge der Schafpestbazillen. ', Als am entscheidenden Tag, für den Pasteur den Tod der u n geimpften Tiere vorausgesagt hatte, ein ganzes Heer von Ärzten, Politikern und Journalisten nach Pouilly-Ie-Fort hinauspilgerte, wo dieser merkwürdige Versuch stattfand, bot sich allen ein unvergeßliches Schauspiel. Von den ungeimpften Schafen lagen 22 tot auf der Erde, zwei waren am Verenden und eines röchelte, so daiä auch nicht mehr an seinem nahen Tod gezweifelt werden konnte. Die geimpften 25 Schafe, aber waren munter, gesund und springlebendig. Es gab einen Beifall wie im Theater, und einer der erbittertsten Gegner Pasteurs, Dr. Diot, entblößte seinen Arm und sagte: „Impfen Sie mich, Pasteur, die ganze Welt muß um Ihre wunderbare Entdekkung wissen." 27
Nun beschloß Pasteur, sein Genie an einer Menschenkrankheit zu erproben. Er wählte sich die schrecklichste aus, die Tollwut, die fast immer den Tod herbeiführte. Wer von einem wutkranken Tier — meist ist es ein Hund, deshalb spricht man auch von der Hundswut, aber es kann auch ein Rind, ein Pferd oder sogar ein Kaninchen sein — gebissen wird, muß nicht unbedingt erkranken, aber wenn die Krankheit einmal zum Durchbruch kommt, so ist er fast ausnahmlos unrettbar verloren und geht unter den schrecklichsten Qualen zugrunde. Die Tierversuche zeigten Pasteur, daß eine Schutzimpfung gegen die Wutkrankheit grundsätzlich zwar möglich, zeitlich aber nur von kurzer Wirkung war. Eine allgemeine Schutzimpfung wie gegen die Poeken konnte also nicht in Frage kommen, um so weniger, als die Hundswut glücklicherweise nur selten ist. Wieder half ein genialer Gedanke Pasteur zur Lösung des Problems. Er fragte sich, ob es nicht möglich sei, die verhältnismäßig lange Zeit zwischen Ansteckung und Ausbruch der Krankheit zur Immunisierung zu benutzen, also dem Organismus in steigenden kleinen Mengen die Gegenwirkstoffe in dem Zeitraum zuzuführen, der zwischen der Infektion, der Verwundung durch das tolle Tier, und den ersten Krankheitszeichen liegt. Den dazu geeigneten Stoff fand er nach endlosen Versuchen im getrockneten Mark eines wutkranken Kaninchens. Die Hunde, denen er dieses Impfmittel einimpfte, erkrankten nicht, obwohl ihnen vorher tödliche Mengen der Wutbazillen zugeführt worden waren. Das war eine erstaunliche Angelegenheit für die Ärzte und eine Sensation für die Tagespresse, die ausführlich darüber berichtete. Bald wurde Pasteur von jenen Unglücklichen mit Briefen und Telegrammen bestürmt, die von einem tollen Hund gebissen worden waren. Man flehte ihn um Rettung an. Aber vom Tierversuch bis zur Menschenbehandlung war es ein schicksalsschwerer Schritt. Ein Verfahren, das sich beim Tierversuch bewährt hat, kann bei der Anwendung am Menschen versagen, ja, katastrophale Folgen haben. Indessen kam es nicht dazu, weil sich gerade zu diesem Zeitpunkt eines Tages eine unglückliche Mutter aus dem Elsaß bei ihm einfand und ihn anflehte, ihren neunjährigen Knaben, den 28
kleinen Joseph Meister, zu retten. Das Kind war vor zwei Tagen von einem tollen Hund 14 mal gebissen worden. Pasteur stand vor einem dramatischen, Gewissenskonflikt. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, daß der Knabe nicht erkranken werde, bei der Zahl und Schwere seiner Verletzungen außerordentlich gering, aber sie bestand doch, und wenn die Impfung sich jetzt als wirkungslos erweisen sollte, so setzte Pasteur sich der Gefahr aus, fü,r den Tod des Knaben verantwortlich zu sein. Er entschloß sich trotzdem zu dem Versuch, da es um Tod und Leben ging. Zehn Tage lang wurden dem Knaben immer kräftigere Gaben des Impfstoffes eingeimpft, zehn Tage lang lebte Pasteur in einer unerträglichen Spannung. Der Knabe blieb gesund, und Pasteur wußte jetzt, daß die schreckliche Hundswut mit Erfolg zu behandeln war. Er hatte gesiegt, aber es war ein Sieg, dm er mit seiner Gesundheit und der Kraft seines Geistes bezahlen mußte. Den Anwürfen, Verdächtigungen und Kämpfen, die er in den Jahren erbitterter Arbeit durchzustehen hatte — die er jetzt noch durchstehen mußte, war er nicht mehr gewachsen. Schon früher, da er erst 46 Jahre alt war, hatte ihn ein Schlaganfall an den Rand des Grabes gebracht. Ein zweiter warf ihn jetzt wieder aufs Krankenlager; als ein gebrochener arbeitsunfähiger Mann verließ er das Krankenhaus. Er hatte Schwierigkeiten, seinen linken Arm zu gebrauchen, er hatte Schwierigkeiten beim Gehen, beim Sprechen, beim Denken. Fast zwanzig Jahre hatte Pasteur noch zu leben — Jahre, in denen sein Ruhm von Tag zu Tag anwuchs, in denen überall Institute entstanden, die seinen Namen trugen, in denen die Saat, die er gesät hatte, reichliche, überreichliche Ernte trug. Aber er selber war nur noch ein Wrack. Zwei Jahrzehnte lang schrieb er keine einzige Zeile mehr, die der Größe seines Geistes angemessen wäre. Als man mit großem Pomp seinen 70. Geburtstag feierte, war er nur noch ein Schatten seiner selbst, nur daj Gespenst des genialen Pasteurs, der die Ehrungen, die auf ühn niederstromten, mit Tränen in den Augen empfing. Die Damkesworte konnte er selber nicht mehr ausspre29
chen, sein Sohn las das, was Pasteur der Welt zu sagen hattev von einem Blatt herunter . ..
Operationen
bei
vollem
Bewußtsein
Carl Ludwig Schleien und die örtliche Betäubung Hat man es jemals erlebt, daß über den Wert oder Unwert einer wissenschaftlichen Entdeckung durch Heben der Hand abgestimmt wird wie über einen Antrag in einer Wählerversammlung? Und dennoch geschah es auf dem denkwürdigen Chirurgenkongreß in Berlin, auf dem Carl Ludwig Schleich seine neue Methode der schmerzlosen Operation bei vollem Bewußtsein des Patienten geschildert hat. Er beendete sein Referat mit d?n Worten: „ M i t diesem unschädlichen Mittel in der Hand kann ich es ans ideellen, moralischen und strafrechtlichen Gesichtspunkten nicht mehr für erlaubt halten, die völlige Narkose da anzuwenden, wo dieses Mittel der örtlichen Betäubung ausreichend ist." Der Vorsitzende des Kongresses erhob sich zur Antwort: „Meine Herren Kollegen, wenn uns solche Dinge entgegengeschleudert werden, wie sie in dem Schlußsatz dss Vortrages enthalten sind, dann dürfen wi^r von unserer Gewohnheit, hier keine Kritik zu üben, wohl abweichen, und ich frage die Versammlung: Ist jemand von der Wahrheit dessen, was uns eben hier entgegengehalten wurde, überzeugt? Dann bitte ich, die Hand zu erheben!" Keine Hand erhob sich. Schleich trat vor und bat um das Wort. „ N e i n ! " schrie ihn der Vorsitzende an. — Da verließ der junge Gelehrte (den Saal.
* Indessen, es ist richtig, daß Carl Ludwig Schleich viel weniger Widerstand begegnet wärle, wenn er seinen Kollegen nicht von „ M o r a l " und „Strafrecht" gesprochen hätte. Schleich aber war von Jugend an ein Haudegen gewesen, dem das jungenhafte Ungestüm zeitlebens oftmals manche Schwierigkeiten gebracht hat. Auch in andern Lebenslagen hat Feindschaft aus dem Kreise sei30
ner Berufskollegen den Gelehrten oft nicht die volle Anerkennung finden lassen. Er selbst empfand das mit schmerzlicher Klarheit. „Nirgends war mein Sieg ein vollständiger", sagt er in seinen Lebenserinnerungen, „er führte mich oft auf Höhen, um mich tief abstürzen zu lassen . . . " Wenn später einmal jemand gesagt hat, daß man Schleich schon bei Lebzeiten hätte ein Denkmal setzen müssen, so war das nicht ganz unberechtigt. Die von ihm erfundene Methode der .„Lokalanästhesie", der örtlichen Betäubung, war eine medizinische Überraschung. Schleich hatte als Betäubungsmittel Kokain gewählt, das aus den Blättern des Kokostrauches gewonnen war. Hie schmerzstillende, betäubende Wirkung des Kokains war seit dem Jahre 1860 bekannt, aber das Kokain konnte wegen seiner Giftigkeit nur beschränkte Anwendung finden. Die geniale Entdeckung Schleichs bestand darin, daß die Gefährlichkeit des Kokains gedämpft wurde, während seine Wirksamkeit sich vervielfachte, wenn es in einer blutähnlichen Salzlösung verabreicht wurde. Durch Schleichs Entdeckung wurden siebzig Prozent aller Vollbetäubungen überflüssig. Dem in seiner Zeit besonders gefürchteten Narkosetod war weithin Einhalt geboten. Unzählige Menschen, die vielleicht nicht einmal Schleichs Namen kannten, verdankten ihm ihre Rettung. Kurze Lebensskizzen Harvey, William, geb. 1578 in Folkstone in der englischen Grafschaft Kent, geat. 1657 im Londoner Vorort Hongstead; studiert in Padua. 1609 Arzt am St. Bartholomew's Hospital in London mit großer Stadtpraxis. 1615 wird er Professor und später Leibarzt der König« Jakob I. und Karl I. Er entdeckt den großen Blutkreislauf und lehrt, daß alle (höheren) Tiere aus dem Ei hervorgehen. Begründer der experimentellen Biologie. Jenner, Edward, geb. 1749 in Berkeley in England, gest. 1823 im gleichen Ort. Schüler und Freund John Hunters, des berühmten Chirurgen am Londoner St. Georgs-Hospital. Nach dem Studium in London Landarzt in seiner Heimatstadt. Seit 1775 Beschäftigung mit den Pocken. Nach 21jährigen Studien und Versuchen 1796 erste Impfung. 1798 erscheint seine Schrift: Untersuchung über die Gründe und die Wirkungen der Pockenimpfung. Bis zum Jahre 181)2 sind 100 000 Menschen geimpft, den Impfstoff liefert zunächst das Kgl. Jennersche Institut zur Ausrottung der Pocken. Semmelweis, Ignatius, geb. Wien; studiert in Wien. haus. 1847 Beginn seines Tätigkeit. 1855 Professor
1818 in Ofen (Österr.-Ungarn). gest. 1865 in 1846 Assistent am Allgemeinen Wiener KrankenKampfes für die Desinfektion bei aller ärztlichen in Budapest. Mangelnde Anerkennung verbittern
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sein Leben. Er stirbt in einer Heilanstalt. Senimelweis ist der erste Vorkämpfer der „antiseptischen" Heilbehandlung (antiseptiach = gefährliche Krankheitserreger unschädlich machend). Bernard, Claude, geb. 1313 in St. Julien bei Lyon, gest. 1878 in Paris, Schüler und Nachfolger des französischen Lebens!orscherB Magendie. 1868 Mitglied der Franz. Akademie. Erkennt die Aufgaben der Leber und der Bauchspeicheldrüse und den Einfluß des Nervensystems auf Verdauung, Atmung und Blutkreislauf. Virchow, Rudolf, geb. 1821 in Schivelbein, Pommern, gest. 1902 In Berlin. Student in Berlin, dann wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charit6. Seit 1848 Kampf um durchgreifende Sozialreform und Reform des Gesundheitswesens („Die medizinische Reform"). 1849—56 wissenschaftliche Forschung in Würzburg; hier Begründung einer neuen Krankheitslehre („Zellularpathologie"). 1856—1902 in Berlin, bis zu seinem Tode höchste Autorität der deutschen medizinischen Forschung. Sein Institut ein Zentrum der Weltmedizin. 1861 preußischer Landtags-, 1880 Reichstagsabgeordneter; Berliner Stadtverordneter. Mitbegründer der radikaldemokratischen Deutschen Fortschrittspartei. Seinen Namen trägt das Berliner Rudolf -Vir chowKrankenhaus, Fasteur, Louis, geb. 1322 in Dole (Frankreich), gest. 1895 bei Paris. Professor in Dljon, Straßburg. Lille und Paris. Entdeckt, daß Gärung und Fäulnis (z. B. bei verdorbenem Fleisch, saurer Milch, ranziger Butter usw.) durch Kleinstlebewesen mitverursacht werden und daß diese durch Hitze abgetötet werden können. Erhält ab 1874 für diese Arbeiten lebenslängliche Staatspension. Durch Robert Koch angeregt, befaßt er sich mit Schutzimpfungen, legt seine Theorie, daß Infektionskrankheiten durch kleinste Erreger verursacht werden, vor und entwickelt Impfstoffe gegen zahlreiche Krankheiten, bes. die Tollwut (1875). Begründer der „PasteurInstitute" zur Erforschung von ansteckenden Krankheiten und als Impfstationen gegen Tollwut. Schleich, Carl Ludwig, geb. 1859 in Stettin, gest. 1922 bei Berlin. Nach dem Studium chirurgischer Spezialarzt, Professor und Chefarzt in Berlin. Erfindet in Weiterentwicklung der Forschungen dei Engländers Harvey Cushing das „Schleichsche Verfahren" der örtlichen Betäubung, d. h. die Unempfindlichmachung von zu operierenden Körperteilen bei vollem Bewußtsein durch Einspritzen bestimmter Lösungen; macht dadurch Vollbetäubungen bei einem großen Teil von Operationen überflüssig. Bekannt auch durch seine für die Allgemeinheit geschriebenen Bücher medizinischen Inhalts und seine Autobiographie „Besonnte Vergangenheit" (1922).
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Die Abbildungen auf dem Umschlag zeigen nach älteren Holzschnitten die Bildnisse von Carl Ludwig Schleich und Ignaz Semmelweis
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IM FALLE EINES FALL