Will Berthold
Überleben ist Alles Die letzten 60 Tage des Dritten Reiches Tatsachenroman
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Will Berthold
Überleben ist Alles Die letzten 60 Tage des Dritten Reiches Tatsachenroman
scanned by AnyBody corrected by Yfffi Deutschland in der Schlußphase des Zweiten Weltkriegs: Eine Familie erlebt die dramatischen letzten sechzig Tage des Dritten Reiches. 7. März 45: Die Amerikaner fluten über die unzerstörte Rheinbrücke bei Remagen – die letzten 60 Tage des Zweiten Weltkriegs sind angebrochen. Hitler, die Geisterstimme aus der Katakombe unter der Reichskanzlei, erteilt den Befehl »Verbrannte Erde«. Für Millionen von Deutschen heißt es jetzt: Überleben ist alles. ISBN 3-453-02107-X 1985 by Autor und AVA GmbH, München-Breitbrunn Printed in Germany 1986 Umschlagfoto: Süddeutscher Verlag, Bilderdienst, München Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schüt z, München
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Buch Deutschland in der Schlußphase des Zweiten Weltkriegs: Eine Familie erlebt die dramatischen letzten sechzig Tage des Dritten Reiches. 7. März 45: Die Amerikaner fluten über die unzerstörte Rheinbrücke bei Remagen – die letzten 60 Tage des Zweiten Weltkriegs sind angebrochen. Hitler, die Geisterstimme aus der Katakombe unter der Reichskanzlei, erteilt den Befehl »Verbrannte Erde«. Für Millionen von Deutschen heißt es jetzt: Überleben ist alles. Die auseinandergerissene Familie des Münchener Postrats Wamsler spiegelt das Schicksal eines ganzen Volkes wider: Die Eltern werden – ausgebombt – in die Festung Alpenland evakuiert. Sepp, der Älteste, verteidigt das belagerte Berlin. Florian gerät in den Rückzug zwischen Rhein und Donau. Michael erlebt in Italien den letzten alliierten Ansturm. Und Stupsi, das Nesthäkchen, wird als Nachrichtenhelferin dienstverpflichtet. Vom gleichen Autor erschienen außerdem als HeyneTaschenbücher Getreu bis in den Tod • Band 01/165 Lebensborn e.V. • Band 01/5171 Kriegsgericht • Band 01/5283 Division Brandenburg • Band 01/5346 Der große Treck • Band 01/5369 Hölle am Himmel • Band 01/5452 Iwans Doktor • Band 01/5484 Malmedy – Das Recht des Siegers • Band 01/5544 Spion für Deutschland • Band 01/5595 Krisenkommando • Band 01/5645
Nachts, wenn der Teufel kam • Band 01/5690 Madeleine Tel. 136211 • Band 01/5755 Verbotene Spiele • Band 01/5775 Die ehrenwerten Diebe • Band 01/5838 Zärtlichkeit in kleinen Raten • Band 01/5862 Ehesanatorium • Band 01/5947 Parole Heimat • Band 01/5982 Die Nacht der Schakale • Band 01/6034 Doppelt oder aus • Band 01/6191 Pinien sind stumme Zeugen • Band 01/6246 Vom Himmel zur Hölle • Band 01/6492 Die Stadt der Engel • Band 01/6645
Wenn der Westwind die Dunstglocke von Brand, Tod und Pulverbeize über den Rhein treibt, liegt in der Luft auf einmal eine Ahnung von Vorfrühling, ein Hauch von Frieden. Es ist der 6. März 1945, und lange kann der Krieg nicht mehr dauern, aber bis er nach einem rasenden Amoklauf verendet, werden in den nächsten neun Wochen mehr Menschen umkommen als in den letzten fünf Jahren zusammen. Dem Januar-Dammbruch im Osten folgte im Februar der Zusammenbruch im Westen. Rhein, Oder und Donau sind auf einmal Frontflüsse. Aachen, Trier, Mönchengladbach, Neuss und Venlo wurden von den westlichen Alliierten kassiert. Im Osten stehen die Russen schon bei Küstrin, Stettin und Frankfurt an der Oder. In der Ferne wummern schwere Geschütze. Die Einschläge bringen das veraltete Gebäude im Bonner Universitätsgelände zum Erzittern, das als Heeresreservelazarett zweckentfremdet wurde. Ein paar Kilometer weiter nördlich rauschen Bombenteppiche auf die geschundene Erde. Sowie sich das dunkle Explosionsgewölk verzieht, haben die Jabos wieder Büchsenlicht und knallen im Tiefflug auf alles, was sich bewegt. In Köln am Rhein feiert der Tod nachträglich einen schauerlichen Karneval. »Nun macht euch schon mal fertig für den Luftschutzkeller«, sagt der Gefreite Wamsler, der Stubenälteste, zu den anderen sieben Verwundeten im Krankenzimmer 18. Der Junge aus München – groß, dunkelblond, offene Augen, harte Lippen – sieht einen Moment lang durch das Fenster nach draußen. »Wenn das Lazarett nicht schleunigst verlegt wird, dann schnappen uns mit Sicherheit die Amis.« »Schlimm«, spottet der Gefreite Elias, von den anderen nur ›der Prophet‹ genannt. »Mir kommen gleich die Tränen.« »Mir auch«, schaltet sich Raschke – der Berliner mit dem Steckschuß in der Lunge - ein; er. keucht, hustet und prustet. -4-
Einen Moment lang lauscht er dem Gefechtslärm nach: »Kommt aus dem Norden. Vermutlich ist heute in Köln der Teufel von der Kette.« Die anderen nicken und rechnen die Entfernung nach. »Köln«, greift Redde, das Stubenferkel, das Stichwort auf: »Mensch, da hab’ ich im letzten Urlaub ’ne Kellnerin aufgerissen, eine mit solchen Apparaten!« Mit den Händen modelliert er einen kolossalen Busen in die Luft: »Groß und fest wie Melonen; sag’ ich euch, aber keine Hängefrüchte.« Er merkt, daß er heute mit dem Thema eins nicht ankommt und läßt es vorläufig sein. Bevor die Sirenen heulen, schaltet Wamsler das Radio ein: Statt der Luftlagemeldung wuchten schon zum dritten Mal markige Goebbels-Sätze über den Reichsrundfunk: »Ein Volk, das entschlossen ist, zur Verteidigung seines Lebens jedes Mittel, auch das kühnste und verwegenste, anzuwenden«, tönt der ehemalige Jesuitenzögling, »ist schlechterdings unschlagbar.« »Mach den Rappelkasten aus«, giftet der sonst so bedächtige Adamsky aus Pommern; seine Heimat ist bereits von den T 34 überrollt: »Ich kann das doofe Gequassel nicht mehr hören. Die Russen stehen bereits im Vorfeld von Berlin, und da sabbert dieser Klumpfuß, als hätt’ er lauter Idioten vor sich.« »Halt die Klappe!« fährt ihn Wamsler an. »Oder willst du als Defätist ...« »Nach dir, Flori«, schaltet sich der Obergefreite Elias ein, und ein ranziges Lächeln zuckt über sein zerklüftetes Gesicht. »Paßt mal auf, Sportsfreunde«, warnt der Stubenälteste und sieht dabei aus wie der jüngere Bruder des Drachentöters Siegfried, dem Hagen den Speer von hinten in den Leib gerannt hat: »Ein Sani von unserem Lazarett hat gestern zu einer Frau auf der Straße gesagt, daß der Krieg verloren ist, und er wurde auf der Stelle verhaftet. Wenn er noch lebt, hat er Glück -5-
gehabt.« »Oder auch Pech«, entgegnet Adamsky düster. »Hier auf unserer Stube können wir uns doch wohl noch offen unterhalten ... unter Kameraden ...«, meint Elias ziemlich kleinlaut. »Die Kameraden sind bei Stalingrad gefallen«, kontert Florian Wamsler. »Sachte, sachte, Junge«, bremst der Berliner seinen Pessimismus: »Stramme Nazis war ’n wir ja schließlich alle mal, aber das ist wie ’ne Kinderkrankheit. Wenn du die hinter dir jebracht hast, biste jeheilt, und zwar für immer.« »Schon gut«, versucht Wamsler das heiße Thema abzuwürgen. Er geht zu dem Tisch, an dem Elias arbeitet. »Was bastelst du denn hier zusammen?« fragt er ihn und betrachtet ein Papiergebilde, das aussieht wie ein Adventskalender. »Einen Friedensfahrplan«, erwidert der Prophet stolz. »Jeden Tag, den ich überlebe, mach’ ich ein Fenster auf wie ein Kind, das auf den Weihnachtsmann wartet.« »Wie viele Fenster hast du denn vorgesehen?« fragt Raschke interessiert. »So an die sechzig. Für jeden Tag eines. Die mußt du überstehen, so oder so. In jeder Gangart. Wenn du sechzigmal am Morgen so ein Fenster öffnen kannst, bist du fein raus, weil du dann nicht ins Gras gebissen hast.« Er führt seine Erfindung gleich vor: »Überleben ist alles.« »Und zwar fressend, saufend und pimpernd«, nimmt Redde einen zweiten Anlauf zum Thema eins: »Diese Kölnerin hat mir vielleicht die Eier glattgezogen. Ich hab’ nicht mehr gewußt, ob ich ein Männchen oder Weibchen bin.« »Schlappschwanz«, versetzt Adamsky, und sein Mund platzt dabei auf wie eine faulige Frucht. »Woher willst du eigentlich wissen, Prophet, daß sich der Krieg nur noch 60 Tage hinziehen -6-
wird?« »Länger kann die Scheiße doch nicht mehr dauern«, antwortet der Prophet. Sie glauben das auch, weil sie es glauben wollen. »Und was kommt dann?« fragt Wamsler. »Janz egal«, entgegnet Raschke, »schlimmer kann’s wohl nicht mehr werden.« »Und wenn dir die Amis tatsächlich den Pimmel abschneiden?« fragt Redde. »Das ist doch nur Propaganda«, hüstelt Raschke, »dieses Sterilisationsprogramm.« »Und der Morgenthauplan?«, fragt Wamsler, »auch nur Propaganda?« »Was weiß ich«, gesteht der Prophet ein. »Frag mich was Leichteres ... Jedenfalls«, setzt er tröstend hinzu, »es wird alles halb so heiß gefressen wie’s gekocht wird.« Der Erfinder des Friedenskalenders gibt weitere Erläuterungen: »Ich geh’ davon aus, daß wir noch mindestens drei Wochen im Lazarett bleiben werden, das wären schon mal einundzwanzig Fenster. Anschließend steht uns ein Genesungsurlaub zu: üblicherweise noch mal einundzwanzig Tage, das macht nach Adam Riese zweiundvierzig. Dann kommst du zum Ersatzbataillon, und das sind sechs, sieben Tage. Anschließend gehst du an die Front – der Weg ist zwar nicht mehr weit, aber die Schienenstränge sind kaputt, macht noch mal drei, vier Tage. Bis du dann an den Feind gerätst, vergehen vielleicht noch einmal ein, zwei Tage, und bis dahin haste mindestens schon fünfzigmal durch das Fenster in den Frieden geschaut.« »Oder in die Kloröhre«, blödelt Redde. »Dann mußt du nur noch sehen, daß du das letzte Schlamassel durchstehst«, fährt Elias unbeirrt fort. »Vielleicht noch zehn Tage, elf oder zwölf. Aber das werden wir doch noch schaffen, -7-
Kumpels, das ham wa ja schließlich gelernt.« Sie zählen ihre Frontjahre und ihre Verwundungen zusammen und kommen, im Vergleich zu ihrer Jugend, auf astronomische Zahlen. »Bei mir sind es schon fünf Jahre«, sagt Adamsky. »Ich Arschloch war vom ersten Tag an dabei. Aber ab jetzt halte ich mich an die Bibel: ›Seid klug wie die Schlangen und listig wie die Tauben‹.« »Verdünnisieren oder in die Erde kriechen, wie’n Regenwurm«, rät Raschke. »Wer’s jetzt noch nicht jefressen hat, der is’ selber dran schuld.« Das Gemäuer erzittert wieder im Rhythmus der Granateinschläge. Vielleicht kommt der Panzeralarm früher als der Luftalarm, aber weder die Amis noch die Tommies erscheinen heute im aufgescheuc hten Treibhaus, das sonst so schläfrig wirkt. Statt dessen setzt Oberfeldarzt Dr. Schlamm am frühen Nachmittag so überraschend eine Sondervisite an, daß die Männer der Stube 18 erst im letzten Moment ihr Bett erreichen. »Achtung!« brüllt Florian Wamsler und legt selbst noch im Liegen die Hände an und macht Meldung. Dem Sanitätsoffizier folgt der Spieß, ein Hauptfeldwebel wie aus dem Bilderbuch: geschniegelt und gebügelt, in Ausgehuniform, auf der Brust das Band des Kriegsverdienstkreuzes, gut im Futter, kerngesund. Aus einem verkrachten Medizinstudenten ist ein Zwölfender geworden, unabkömmlich im Heimatlazarett. Wenn der Mann einen scharfen Schuß hörte, dann höchstens auf der Latrine. Der Chefarzt geht langsam von Bett zu Bett; der Spieß folgt ihm wie ein schwanzwedelnder Hund. »Na, wie geht’s uns denn, Gefreiter Wamsler?« fragt der hohe Sanitätsoffizier jovial. »Gut, Herr Oberfeldarzt«, antwortet der Stubenälteste mit dem komplizierten Schußbruch. »Nur meinem Arm geht’s noch -8-
nicht so gut, Herr Oberfeldarzt.« »Dem rechten« korrigiert ihn der Rotgesichtige mit der dünnen Nase. »Versuchen Sie doch mal, ob Sie nicht auch mit Ihrem linken Arm ein Gewehr halten können.« Der Mediziner nickt dem Hauptfeldwebel zu, der sofort Wamslers Namen notiert. Er geht zu Raschke weiter, wirft einen flüchtigen Blick auf die Eintragungen der Fieberkurve: »Na ja, Raschke«, muntert er den Berliner auf: »Ich denke, die Kugel können wir Ihnen erst nach dem Krieg aus der Lunge operieren.« Wieder nickt er dem Spieß zu; der Spieß notiert, und der Oberfeldarzt ist schon bei Adamsky: »Was macht Ihr Fuß?« fragt er. »Steif, Herr Oberfeldarzt.« »Richtig«, erwidert der Mediziner und spielt weiter den leutseligen Heldenklau: »Dann müssen Sie halt humpeln. An der Front wird ja nicht exerziert. Notieren, den Mann«, sagt der Sanitätsoffizier im Weitergehen. Der Eid des Hippokrates, den Dr. Schlamm vor vielen Jahren geschworen hat, liegt in der Schublade, unter dem Mitgliedsbuch der NSDAP. Der Rotgesichtige bleibt vor Redde, dem Verwundeten mit dem Oberschenkeldurchschuß, stehen. »Die Wunde buttert noch heftig, Herr Oberfeldarzt«, erklärt das Stubenferkel ungefragt. »Das weiß ich selbst«, erwidert Dr. Schlamm, alias Dr. Eisenbart, eine Spur ungehalten. »Wir teilen Sie einer Genesungskompanie zu. Da versteht man sich schon darauf, sie trockenzulegen.« Der Spieß verliest die Namen: Fünf von acht wurden kassiert wie Fallobst. »Ihre Bettruhe ist aufgehoben«, stellt der SanitätsHauptfeldwebel fest. »In einer halben Stunde stehen Sie feldmarschmäßig im Garten. Inzwischen lasse ich Ihnen die Marschpapiere ausstellen.« »Achtung!« brüllt Wamsler noch einmal, als der Chefarzt die Stube verläßt. -9-
»Du Armleuchter«, beschimpft Raschke den Gefreiten Elias und klettert hustend und spuckend aus dem Bett. Er geht an den Tisch und schnappt sich den Friedenskalender des Propheten. »Das ist nicht Adam Riese«, giftet er und wirft dem Propheten die Bastelarbeit vor die Füße: »Das ist Adam Scheiße.« Fluchend und schimpfend steigen die Verwundeten in ihre Klamotten: 39 Mann stellt Dr. Schlamm ab für die Front. »Das letzte Aufgebot«, unkt Elias, »Krüppelspätlese zwo.« Sie sind keine heurigen Hasen mehr, aber doch noch sehr junge Veteranen. Alle tragen Orden und Ehrenzeichen, Jungsiegfried aus München die meisten. »Mensch, Junge«, sagt Raschke, doch ziemlich beeindruckt: »Du hast ja ’nen janzen Klempnerladen auf der Heldenbrust – paß bloß auf, daß dir beim Jewitter nicht der Blitz trifft.« »War schon mal Leutnant bei der Heeresflak gewesen«, gesteht der Gefreite mit dem Spiegelei, dem EK I und II, dem Silbernen Verwundetenabzeichen, der Silbernen Nahkampfspange. »Und ich hab’ etliche T 34 abgeschossen.« »Und deswegen biste kein Leutnant mehr?« fragt Adamsky anzüglich. »Eine Nebelkerze in so einer Kaschemme«, erwidert der Exoffizier. »Fünf, sechs Schnösel von der Kriegsschule, und ich war scharf auf die rote Rita. Blau war ich wie ein Veilchen, spitz wie Nachbars Lumpi. Da hab’ ich in meiner Not zwei von den Dingern gezündet und bin mit dem Mädchen abgezogen.« »Hast du’s dann wenigstens bei ihr geschafft?« fragt Redde, auf einmal wieder in seinem Fach. »Einmal schon«, erwidert der 22jährige Münchner. »Aber dann haben mich die Kettenhunde aus Ritas Bett geholt, und danach wurde ich zum Schützen Arsch degradiert.« »Das ist doch nicht ehrenrührig, Flori«, sagt Adamsky. »Kaum«, räumt Wamsler ein, »aber erklär’ das mal einem -10-
Vater, der’s vom Inspektor bis zum Postrat gebracht hat. Und mein großer Bruder, der Stolz der Familie, ist Hauptmann und hat sogar das Ritterkreuz.« »Feine Familie«, entgegnet Adamsky mit Spott und Anerkennung in der Stimme. »Gibt’s noch mehr Wamslers von dieser Sorte?« »Einen jüngeren Bruder und meine kleine Schwester Stupsi. Die ist unwahrscheinlich, das sag’ ich dir, eine Zuckerpuppe, bildhübsch und unnahbar!« »Haste nicht ein Foto von ihr, Flori?« fragt Redde. »Nicht für dich, du Schweinepriester«, wehrt Wamsler ab. »An Stupsi würdest du dir deine faulen Zähne ausbeißen. Sie war Zögling im St.-Anna-Kloster in München, falls du weißt, was das ist.« »Eine Nonnenfabrik«, grinst Redde. »Quatschkopf«, versetzt Wamsler. »Dort hat man meine Schwester zum braven Mädchen erzogen, und Sepp, Micha und ich haben auf Stupsi aufgepaßt, solange es ging.« »Drei Ritter und das Burgfräulein«, erwidert der Prophet. »Ganz recht. Und musikalisch ist die Kleine, schwärmt Florian, »tanzt wie eine Primaballerina, und wenn sie sich ans Klavier setzt und die Mondscheinsonate spielt, dann geht die Sonne auf.« »Und den Westerwald, kann sie den auch klimpern?« fragt Redde. »Banause«, entgegnet der Gefreite. »Ist sie denn nicht beim Bund deutscher Mädchen gewesen?« fragt Adamsky. »Beim BDM war sie natürlich auch.« »Und jetzt ist sie bei Muttern?« »Leider nicht«, antwortet der Exleutnant leicht betreten. »Vor -11-
kurzem hat sie sich freiwillig zum Einsatz als Luftwaffenhelferin gemeldet, sonst wär’ sie nämlich zum Volkssturm eingezogen worden, und dagegen waren wir alle im Familienrat.« »Schöne Scheiße«, schaltet sich Raschke ein. »Aber wenn deine Stupsi so unantastbar ist, wie du sagst, wird sie schon keine Offiziersmatratze werden.« »Halt’s Maul, du damischer Depp«, droht Jungsiegfried. Immer, wenn er zornig wird, schlägt bei ihm die bayerische Mundart deutlich durch: »Wenn’st no so an Schmarrn sagst, schmier’ i dir oane, daß dir Hörn und Sehn vergeht.« »War doch nicht so gemeint«, entschuldigt sich der mit dem Lungensteckschuß erschrocken. Rasch versöhnt präsentiert Wamsler nun doch das Familienfoto: In der Mitte der gestrenge Vater mit dem sorgfältig gepflegten Schnurrbart, auf den ersten Blick schon ein Pflichtmensch, der es zu etwas gebracht hat. Neben ihm, mit ondulierten Haaren und einem sanften Lächeln, Mutter Barbara, umgeben von ihren vier Kindern. An ihrer Seite Sepp, der Älteste. »Der Erste beim Sport«, erklärt Florian, »Und der Primus in der Klasse. Der jüngste Hauptmann in seinem Regiment und der vierte Ritterkreuzträger seiner Panzerdivision. Wo der hintritt, wächst kein Gras mehr«, versichert der jüngere Bruder. »Und den kennt ihr ja: Das bin ich, und hier, neben mir, das ist Michael«, erläutert er. »Der ist ganz anders wie Sepp, der macht sich nichts aus Orden und Ordnung, der weiß, wo Gott wohnt, ein Meister im Organisieren. Hat klein angefangen, in Italien, mit Saccharin und Feuersteinen. Der kommt mit mindestens zwei Koffern in Urlaub nach Hause, und meine Eltern haben dann für drei Monate ausgesorgt.« »Prima«, erwidert Raschke. »Wer ist dir nun lieber, der Sepp oder der Michael?« -12-
»Der Große imponiert mir natürlich mehr«, versetzt der Exleutnant, »aber ich fürchte, den Kleinen werden wir bald nötiger haben.« Elias, der Prophet, interessiert sich weniger für den geschäftstüchtigen Benjamin als für das Mädchen mit den großen Augen in dem klaren Gesicht: »Wirklich eine Wucht, dein Schwesterherz«, lobt er. »Aber die ist doch höchstens fünfzehn.« »Achtzehn«, erwidert Wamsler. »Das Foto ist drei Jahre alt, wurde bei der Silberhochzeit unserer Eltern geschossen. Übrigens, Stupsi wurde ins Rheinland eingezogen, in irgendein Nest zwischen Koblenz und Andernach«, setzt er hinzu. »Vielleicht ist sie ganz in der Nähe.« »Da hätt’ sie uns ja mal besuchen können«, sagt Raschke und atmet erregt. »Stimmt«, entgegnet Wamsler; er hatte mit seiner kleinen Schwester angeben wollen, aber sie war noch in der Grundausbildung und hatte sicher keinen Ausgang erhalten. »Jedenfalls«, kommt Adamsky zum Nächstliegenden, »wird's für Stupsi genauso Zeit, über den Rhein zu kommen, wie für uns. Bonn wurde zur Festung erklärt, und wer weiß, ob wir das im Lazarett überstehen würden.« In diesem Moment kommt der Spieß, begleitet vom Schreibbullen, aus dem Gebäude. »Achtung!« ruft der Exleutnant, denn gelernt ist gelernt. »Los! Antreten! Abzählen«, befiehlt der Geschniegelte mit dem doppelten Ärmelstreifen. Sie stehen, mäßig ausgerichtet, in Linie zu drei Gliedern, als der Schreibstubenhengst ihre Namen einzeln aufruft. Der Mann hat ängstliche Kaninchenaugen und wackelt mit den Ohren. Er macht es besonders gründlich, solange sein Auftraggeber in der Nähe steht. Der Spieß hakt pedantisch jeden Namen ab und stellt -13-
fest, daß Unterscharführer Baldauf aus Aachen fehlt. Er wird im ganzen Haus gesucht und auf dem WC gefunden. »Ach nee«, empfängt ihn der Spieß: »So einfach können Sie sich nicht drücken.« »Ich wollte mich nicht drücken, Herr Hauptfeldwebel«, entgegnet der 25jährige, dessen Heimatort schon von den Amis besetzt ist, »aber ich hab’ Dünnschiß, wenn Sie’s genau wissen wollen.« Der Spieß wartet, bis die Umstehenden ausgelacht haben. »Nun hört mal gut zu, Herrschaften«, kommt er dann vergleichsweise gemütlich zur Sache: »In Anbetracht der militärischen Lage muß dieses Lazarett heute noch auf die andere Seite des Rheins evakuiert werden. Von allen Verwundeten seid ihr nach Feststellung von Oberfeldarzt Dr. Schlamm noch in der besten Verfassung. Die Front braucht jetzt jeden Mann, folglich werdet ihr euch unverzüglich nach Remagen in Marsch setzen. Dort meldet ihr euch bei der Genesungskompanie.« Aus dem Hintergrund erschallt ein lauter, provokanter Furz. »Wer war die Sau?« unterbricht der Spieß seine Mitteilungen. »Die neue deutsche Geheimwaffe«, murmelt einer aus dem dritten Glied mit dumpfer Stimme. Und alle lachen. »Euch vergeht schon noch euer dreckiger Humor«, konstatiert der Spieß nicht unlogisch. Er läßt die Frechheit durchgehen, froh, diese renitenten Burschen endlich loszuwerden: »Dem Chefarzt ist die Entscheidung nicht leichtgefallen«, behauptet sein Vollstrecker. »Ihr seid noch nicht ganz ausgeheilt, und es stünde euch ein Genesungsurlaub zu. Aber der Heldenkampf unseres Volkes erlaubt das nicht. Bedankt euch dafür bei den Amis und Tommies. Bis die neuen Wunderwaffen zum Einsatz kommen, muß Großdeutschland auch noch den letzten Mann aufbieten.« Er mustert die wütenden, abweisenden Gesichter, die von dekorierten Soldaten, die sich nichts mehr vormachen -14-
lassen und nichts mehr fürchten, am wenigsten einen Drückeberger. Die Artillerie schießt wieder. Zwischen den wummernden Einschlägen hört man das Brummen der Tiefflieger, näher, dann wieder ferner. Es ist Zeit, das Palaver zu beenden, aber irgendwie genießt der Sanitätshauptfeldwebel, daß ein solcher Sauhaufen auf sein Kommando hören und vor ihm strammstehen muß. Vielleicht kommt er sich in diesem Moment vor wie ein Eunuch, der alle Puppen tanzen läßt. Auf jeden Fall fehlt ihm die Erfahrung und der Instinkt der vor ihm stehenden Frontsoldaten, denn als die auseinanderspritzen und Deckung suchen, verliert der Spieß ein, zwei entscheidende Sekunden. Die Bordkanonen einer doppelrümpfigen ›Lightening‹ erwischen ihn bereits mit dem ersten Feuerstoß. Die ZweiZentimeter-Geschosse zerfetzen den Hauptfeldwebel bei seinem versehentlichen Heldentod bis zur Unkenntlichkeit. Und Dr. Schlamm, der Heldenklau mit der gepflegten Bonhomie, wird auch keine neununddreißig Patienten mehr an den Frontabschnitt Remagen abkommandieren, denn fünf, die nicht mehr rechtzeitig die schützenden Mauern erreichten, wurden getroffen, unter ihnen Redde, das Stubenferkel. Er liegt auf dem Rücken und preßt mit den Händen die herausquellenden Gedärme in seinen aufgerissenen Leib. Der Gefreite ist voll bei Bewußtsein: Er sche int keinen Schmerz zu spüren, denn er macht, als sich ein junger Feldunterarzt über ihn beugt, ein geradezu glückliches Gesicht. »Auf den braucht ihr nicht neidisch zu sein«, sagt der Mediziner, als sie außer Hörweite des Schwerstverwundeten sind. »Der kratzt unter Garantie spätestens heute nacht ab.« »Redde sich, wer kann«, erwidert Raschke. »Ausgevögelt«, spricht Adamsky ein ordinäres Requiem. Zu mehr bleibt keine Zeit. Der Lastwagen mit dem Holzvergaser, der sie an die neue Hauptkampflinie schaffen soll, ist schon -15-
eingetroffen. Sie rollen nach Süden, zunächst am linken Rheinufer entlang, durch eine wunderschöne Landschaft, eingehüllt in den Pesthauch der Vernichtung. Wenn sie von der Anhöhe der Weinberge aus in das Gelände starren, ist ein Bombentrichter neben dem anderen, als trüge die Erde eine Gänsehaut. Schwere Bomberpulks überfliegen auf Südostkurs den Rhein; von ›Mustangs‹ geleitet, begegnen sie rückkehrenden Formationen. Kein deutsches Flugzeug ist zu sehen, dafür aber alliierte Verbände in drei Höhen gestaffelt. Am Himmel herrscht Platznot, als wollten die Amerikaner demonstrieren, daß sie allein im Jahr 1944 mit rund hunderttausend Kriegsflugzeugen von ihrer Rüstungsindustrie beliefert wurden. Jabo-Angriff. Die Verwundeten hechten vom Lastwagen, hoffnungslos, aber die Tiefflieger entdecken jetzt einen Güterzug und visieren nun dieses Ziel an. Der Transport entkommt mit drei Toten und fünf Verletzten. Der Oberfeldwebel, der ihn führt, entschließt sich, die kurze Fahrt erst im Schutz der Dunkelheit fortzusetzen. Er versteckt den schweren Holzvergaser bis dahin in einer Feldscheune. »Mensch, Junge«, sagt der Prophet. »Wer hätte gedacht, daß es einmal soweit kommt.« »Was ist eigentlich aus dem Westwall geworden?« fragt Raschke mit rasselndem Atem. »Mäusenester«, erwidert Adamsky. »Hoffnungslos veraltet, und dann nicht einmal genügend Besatzung für die Bunker.« »Aber die meisten stehen doch noch«, sagt Wamsler. »Fragt sich nur, wie lange«, keucht Raschke. »Aber jetzt, am Rhein, werden sie abgefangen.« Über Adamskys Gesicht läuft der Hohn wie Säure. »Und zwar von uns.« »Du machst dich ja«, sagt Wamsler. -16-
»Über den Rhein kommen sie nicht«, höhnt der verbitterte Pommer weiter, »sowenig wie sie über den Kanal oder über das Mittelmeer, über die Wolga, über den Dnjepr oder die Weichsel gekommen sind.« Erst spät nach Mitternacht erreicht der Transport aus Bonn – ein Oberfeldwebel und 27 Mann – Remagen. Der 7. März ist längst angebrochen. An die Männer der Genesungskompanie, bei der sie sich melden, werden Gewehre aus dem Ersten Weltkrieg und ein halber Verpflegungssatz ausgegeben. Die Verwundeten – die meisten nicht einmal Rekonvaleszenten – sollen die Sicherung der zweigleisigen Eisenbahnbrücke bei Remagen übernehmen und mit 27 Schuß pro Kopf den zu erwartenden Ansturm der mächtigsten Armee der Welt aufhalten. Zunächst einmal tut sich gar nichts. Sicher ist sicher, deshalb essen der Gefreite Wamsler und seine Kumpel die ganze Halbverpflegung schon zum Frühstück auf – Erfahrungswert. Von allen Seiten strömen Flüchtlinge, Zivilisten und Soldaten vom linken auf das rechte Rheinufer, die Brücke ist so lange wie möglich offenzuhalten und dann zu sprengen. Vergeblich überlegt sich Florian Wamsler, was wohl Sepp, sein großer Bruder, Primus in jeder Lage, in dieser Situation machen würde. Die Kampfgruppe des Hauptmanns Sepp Wamsler hetzt wie eine Geistereinheit durch die breite Frontlücke zwischen Westpreußen und Niederschlesien in Richtung Berlin. Militärisch gesehen kaum mehr als ein Störfaktor, wird sie doch zur Lebensretterin für zahlreiche, zwischen den Fronten herumirrende Flüchtlingstrecks. Der 28jährige Ritterkreuzträger – groß, erschreckend hager, eingefallenes Gesicht mit stark hervortretenden Backenknochen – hatte nach vier Frontjahren und fünf Verwundungen angenommen, daß es in diesem Krieg gar nicht mehr schlimmer kommen könnte, aber tagtäglich muß -17-
er jetzt diese Ansicht revidieren. Der Panzeroffizier aus München weiß seit langem, daß der Krieg verloren ist und es nur vernünftig wäre, die Waffen zu vernichten und die Hände zu heben, aber das Ringen im deutschen Osten ist etwas anderes als der Kampf im Westen. Jeder Tag, den die Kampfgruppe mit einem Restbestand von fünf Panzerfahrzeugen unter unerträglichen Bedingungen durchsteht, rettet Hunderten, wenn nicht Tausenden von Flüchtlingen das Leben, und so hat der Wahnwitz doch noch einen Sinn. Im März 45 rennen 5,3 Millionen Rotarmisten gegen 1,8 Millionen deutsche Verteidiger an. Die Sowjets brennen vor Kampfgeist und Rachedurst. Sie sind zahlenmäßig und auch von der Ausrüstung her den zu Verteidigern verkümmerten ehemaligen Angreifern haushoch überlegen. Der amerikanische Steuerzahler hat tief in die Tasche gegriffen, um die Russen mit Panzern, Flugzeugen, Lastwagen und Waffen aller Art auszustatten; von den 280 Milliarden Dollars, die die Yankees bis jetzt für den Sieg ausgegeben haben, schluckte die UdSSR einen erheblichen Brocken – und quittierte ihn mit Vorwürfen über mangelnde Unterstützung. Es fehlt nicht an Warnungen in Washington, aber der todkranke Präsident und vor allem das ihn beratende Küchenkabinett sind Stalin hörig, deshalb erhält ›Uncle Joe‹, was er fordert; auf der Konferenz von Jalta sogar noch die Beute in Polen, derentwegen er Schulter an Schulter mit Hitler das Nachbarland überfallen hatte – Rußland soll bis zur Curzon-Linie ausgedehnt werden. Jetzt, beim Schlußkampf in Ostdeutschland, kommen auf einen Kampfwagen mit dem Balkenkreuz 4,7 sowjetische, auf ein deutsches Geschütz 6,9 russische. Ein deutscher Infanterist steht 7,7 Sowjet-Soldaten gegenüber, und auf einmal verfügt Stalins Armee auch über 16000 Kriegsflugzeuge. Wenn ein deutsches am Himmel über Pommern oder Westpreußen auftaucht, muß es sich verflogen haben. -18-
Das oberschlesische Industriegebiet ist den Sowjets unversehrt in die Hände gefallen, Ostpreußen ist abgeschnitten, Breslau belagert, Kolberg eingeschlossen. Hier ließ Dr. Goebbels vor kurzem einen Durchhaltefilm über den alten Nettelbeck aus napoleonischen Zeiten drehen, mit Heinrich George, Christina Söderbaum und Horst Caspar – womit sogar ein »Viertelarier« im Sinne der Nürnberger Gesetze für den Heroismus Modell stehen durfte. Gleich nach der Premiere in der noch immer sinnlos verteidigten Atlantikfestung La Rochelle wurde der Film von der Realität eingeholt. Die Wirklichkeit hielt sich nicht an die Zelluloid-Heldenschnulze, auch wenn Vizeadmiral Schirwitz an Dr. Goebbels telegrafiert hatte: »Tief beeindruckt von der heldenhaften Haltung der Festung Kolberg und ihrer künstlerisch unübertrefflichen Darstellung.« Die Kampfgruppe Wamsler führt Krieg auf eigene Faust. Die Anweisungen kommen nicht aus dem Gefechtsstand der Armee; es sind Befehle des Gewissens. Das bedeutet: kein Sprit, keine Munition, keine Post und eine immer wieder abreißende Verbindung zum Hinterland und den eingeschlossenen Städten wie Graudenz und Greifenberg, die Hitler einfach zu Festungen erklärt hat. Wer sie verläßt, wird erschossen. Wer bleibt, wird von den Russen massakriert. »Führer befiehl, wir folgen dir.« Der drahtige Offizier aus München versorgt sich aus Feindbeständen: Er raucht Machorkazigaretten, kaut Sonnenblumenkerne und tankt seine Fahrzeuge an russischen Zapfsäulen auf. Das Prachtstück seiner Einheit, bestehend aus drei verschlissenen Tigerpanzern und drei Kampfwagen IV, ist ein erbeuteter T 34. Um die Russen auszutricksen, fährt er meistens an der Spitze. Bis die Iwans den Bluff erkennen, sind die anderen deutschen Fahrzeuge heran und feuern aus allen Rohren – solange sie Munition haben. Ein paarmal hat es jedenfalls geklappt, aber nunmehr ist Sense. »Wir haben höchstens noch für 30 Kilometer Sprit«, meldet -19-
Oberfeldwebel Briegler, »sehr optimistisch geschätzt.« »Saugen Sie das Benzin aus den drei Panzern IV heraus und füllen Sie unsere Tiger damit auf«, trifft Wamsler unverzüglich eine Entscheidung, die ihn drei Kampfwagen kosten wird. »Leutnant Schneiderbang«, wendet sich der Hochdekorierte an seinen Adjutanten – »lassen Sie die Munition übernehmen und unsere Prachtstücke zur Sprengung fertigmachen.« Im gleichen Moment meldet der Posten: »Fahrzeug von rechts.« Aus einer Schneewolke schält sich ein deutscher KradMelder, springt ab: »Bin schon seit drei Tagen hinter Ihnen her, Herr Hauptmann«, sagt der Obergefreite außer Atem. »Herr Hauptmann wurden vor einer Woche zum Major befördert.« »Sprit wär’ mir lieber«, erwidert der hagere Offizier, und die Umstehenden lächeln etwas schief. Der Melder bringt der Kampfgruppe den Befehl, bis zur Oder zurückzugehen und sich dort in die Verteidigungsstellung der Heeresgruppe Weichsel einzureihen. »Wenn ich noch so weit komme«, sagt der frischgebackene Major. »Sie können uns nicht zufällig mit etwas Sprit aushelfen?« »Darum wollte ich gerade Sie bitten, Herr Major«, entgegnet der Krad-Melder. Als einer seiner Leute, die sofort über den Postsack hergefallen waren, mit einem Telegramm auf den Führer der Kampfgruppe zugeht, weiß Wamsler, daß es nichts Gutes bedeuten kann. Er reißt es auf, starrt aufs Datum. Es stammt vom 25. Februar, wurde also schon vor zehn Tagen aufgegeben. ›BOMBEN-TOTALSCHADEN‹, kabelte ihm sein Vater, der Postrat aus München, ›MUTTER UND ICH WOHLAUF. ‹ Er zerknüllt das Formular, wirft es in den Schnee. Wohlauf, das ist schierer Hohn: Sein Vater, seit dem Ersten Weltkrieg oberschenkelamputiert, ist schwer herzkrank, und Mutter hat er je kaum anders gesehe n als mit Staubwedel und Mop. Sie hängt -20-
fast manisch an jedem Stück ihrer Einrichtung, und jetzt liegt alles in Schutt und Asche, auch das vom kärglichen Gehalt zusammengesparte Klavier für Stupsi, das Küken. Hauptsache, die Alten leben, sagt sich der Major und fragt sich unbewußt: Wie lange noch? »Die Iwans haben heute die Stadt Graudenz kassiert«, berichtet der Melder. »Das war zu erwarten«, erwidert der Major. Während er überlegt, wie weit der Weg zurück zur Oder ist, wird er wieder einmal in die Gegenrichtung abgedrängt. Längst ist der näherkommende Treck ausgemacht: Wagen hinter Wagen, besetzt mit vermummten Gestalten. Der Frost schneidet in die Gesichter, an den Wimpern hängen Eisperlen. Die vereiste Chaussee ist glatt, spiegelglatt gescheuert von Tausenden von Rädern. Pferde ohne Stollen rutschen, stürzen, werden wieder hochgezogen, nicken erschöpft mit den Köpfen, höchstens noch eine Handvoll Hafer für sie im Wagen. Menschen, von den Russen gejagt, vom Frost bedrängt und jetzt schon vom Heimweh überwältigt, ziehen weiter nach Nirgendwohin – wenn's nur im Westen liegt. Es ist ihnen schwindlig vor Hunger; eine fragliche Rettung narrt sie wie eine Fata Morgana. Es gibt keine Auffangstelle mehr; die NS-Volkswohlfahrt ist genauso beim Teufel wie die NS-Volksgemeinschaft. Manche wollen umkehren, weil sie vergaßen, das Licht zu löschen. Andere hadern mit sich, daß sie nicht doch geblieben sind. Heimat gibt man nicht auf, Heimat ist da, wo man das erste Herz in die Rinde schnitt, wo die Oma begraben ist, wo man in Nachbars Garten die Äpfel geklaut hat, wo man liebte, sich verlobte, heiratete. Heimat ist, wo die Kirche steht mit dem engen Chorgestühl und der herrlichen Orgel, und und – und vorbei, verloren, vertrieben. Wagen schlittern, stellen sich quer, überschlagen sich. Sie sind die ganze Nacht hindurchgerollt, aber jetzt reißt -21-
gnadenloses Licht den Himmel auf. Plötzlich ein Schrei: Russische Panzer. Sie kommen von links und von rechts, nehmen den Treck in die Zange, bereit, ihn niederzuwalzen, auszuplündern, und sich dann lebende Beute zu greifen: »Frau, komm!« Die Männer der Kampfgruppe Wamsler rennen zu ihren Fahrzeugen, ohne den Befehl des Majors abzuwarten. Der T 34 setzt sich wieder an die Spitze. Auf einmal sehen die entsetzten Flüchtlinge auch noch von vorne die Rotarmisten auf sich zukommen. Die Iwans müssen total betrunken sein, denn jetzt feuern sie auch noch aufeinander. Der deutsche Gegenstoß ist kurz und erfolgreich: Zwei Sowjetpanzer werden sofort in Brand geschossen, einer bleibt beschädigt liegen, die anderen drehen bei, und die flüchtenden Infanteristen werden vom MG-Feuer der Kampfgruppe niedergemäht. Der Major schüttelt die Fragen der ihn umringenden Zivilisten ab. Ihn interessiert zunächst mehr, in welchem Zustand der beschädigte Russenpanzer ist: Nicht mehr zu verwenden, aber fast vollgetankt. Sie saugen dem gestrandeten T 34 das Dieselöl aus dem Tank, filzen die toten Russen, dann nehmen sie den Treck in die Mitte, ein paar Kilometer wenigstens, dann müssen die Geretteten sehen, wie sie sich allein bis zur Küste durchschlagen. Noch hält sich – schwer umkämpft – die Bucht von Danzig als Notausgang über die Ostsee. Hier explodiert der Selbsterhaltungstrieb. Die Szenen, die sich beim Beladen der Schiffe abspielen, lassen Dantes Hölle als eine vergleichsweise gemütliche Wärmestube erscheinen. Um einen Platz an Bord wird mit den Ellenbogen gekämpft, mit Tränen, dem Gewehrkolben und oft auch mit der gezogenen Pistole. Die Reichsten unter den Ärmsten nehmen Matrosen beiseite und bieten ihnen für einen Platz auf dem Schiff als blinde Passagiere 20000 Reichsmark, 30000 und noch mehr. Männer schleichen sich in Frauenkleidern ein, kommen durch -22-
oder werden entdeckt und sofort gehängt. Kleine Kinder stehen höher im Kurs als Gold, Juwelen und Silberbesteck, sie haben Priorität und verschaffen ihren Müttern als Begleitpersonen Freiplätze auf den Schiffen. Sind die Mütter an Bord, reichen sie nicht selten die Kleinen Verwandten oder Bekannten, um auch ihnen eine Chance zu geben, oder verleihen sie an Fremde gegen Höchstgebot. Kinder werden im Durcheinander gestohlen, um mit ihnen an Bord zu kommen, und dann dort liegengelassen, um von den nächsten Findern wiederum als Passepartout verwendet zu werden – die Bestie Mensch als Kinderfreund. Die Flüchtlinge, die an Bord drängen und sich mitunter unmenschlich benehmen, haben auf der Flucht selbst Unmenschliches erfahren: Zuerst Räumungsverbot. Wer es übertritt, wird aufgeknüpft. Selbst Pimpfe hängen an den Scheunen. Die Todesstrafe wird so häufig und selbstverständlich vollstreckt wie eine gebührenpflichtige Verwarnung. Von Elbing bis Küstrin markieren die Exekutierten mit aufgerissenen Augen und heraushängenden blauroten Zungen den Weg in die neue Heimat – die einzigen Wegweiser übrigens, denn alle anderen Wegschilder und Ortsnamen wurden entfernt. Nur mit verbrauchten Ölresten in kyrillischen Buchstaben beschriftete Hinweise stehen an der vormaligen Reichsgrenze: ›Rotarmisten, hier betretet ihr das verdammte Deutschland‹ - und so werden sowjetische Angreifer zu verfluchten Mordbrennern einer von Gott verlassenen Region. Sie plündern, töten, schänden Mütter neben ihren Kindern und Kinder neben ihren Müttern, Greisinnen vor ausgebrannten Hauswänden mit der Parole: ›Sieg oder bolschewistisches Chaos‹. Im Dorf Sommerfeld überrumpelt die Vorausabteilung der Kampfgruppe an die achtzig Russen in den Betten der von ihnen genotzüchtigten Frauen, zerren sie heraus und stellen sie an die Wand. Die Soldaten der Kampfgruppe Wamsler stoßen häufig auf Spuren schauerlicher Verbrechen, die von den Sowjets an der Zivilbevölkerung verübt wurden. Die braune Propaganda spielt -23-
die roten Massaker noch hoch und treibt so die Panik zur Explosion. Massenverbrechen wie im ostpreußischen Ort Nemmerdorf oder später in der kleinen Gartensiedlung Metgethen bei Königsberg – die nach dem Krieg eine Dokumentation der Bundesregierung aufführt - werden Markenartikel des Grauens, stürzen die Flüchtenden in ein Entsetzen, das bis heute anhält. »Die Sowjets überrennen in einem Blitzeinsatz die idyllische Gartenstadt und verwandeln sie in eine Totenstadt. Leichenberge am Weg, Ermordete in jeder Wohnung, nebeneinander Frauen und Kinder, erschlagen, erdrosselt, erstochen, erschossen. Ein Augenzeuge, Angehöriger einer Nachrichtenersatzabteilung: ›Bestialisch umgebrachten Frauen sind die Brüste abgeschnitten worden. Andere hängen an Bäumen in den Gärten. Sie sind, kaum bekleidet, von den Roten an den Füßen aufgeknüpft worden. Frauen, die noch leben, steht das Grauen in den Augen. Alle wurden mißbraucht, auch achtjährige Mädchen. Nach dem deutschen Gegenstoß wird in Metgethen auf dem Fußboden ihres Wohnraums eine 63jährige Frau gefunden, die weinend berichtet, daß sich fünfzehn Rotarmisten an ihr vergangen haben. Auf den Straßen von Metgethen klagen fünfzehn leere, umgestürzte Kinderwagen die an, welche die Säuglinge verschleppt haben. Nur wer sich von den Bewohnern Metgehtens vorsorglich im nahen Wald verborgen hatte, blieb verschont.‹« (Bundesarchiv Koblenz, Ostdokumentation 20/5 VI) Die Rote Armee ist mit Haß munitio niert, und dazu hat sie jeden Grund. Sie ist über verbrannte Heimaterde vorwärtsgestürmt, vorbei an den Massengräbern deutscher Einsatzkommandos, über Auschwitz hinweg, über Majdanek in ein Land hinein, in dem ihre Kameraden als Kriegsgefangene zu Millione n umgekommen sind. Sie macht halt in Schnapsfabriken und Weinkellern, und sie hört die Hetztiraden der roten Propaganda. »Tötet, tötet«, fordert der sowjetische -24-
Schriftsteller Ilija Ehrenburg die russischen Eroberer auf: »Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, an den Lebenden nicht und nicht an den Ungeborenen! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft das faschistische Tier für immer in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der deutschen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute! Tötet, ihr tapferen, vorwärtsstürmenden Rotarmisten!« Der sowjetische Schriftsteller wird nach dem Krieg die Worte auf den Flugblättern abstreiten, aber das kann die Tausenden von Zerbrochenen und Gemordeten nicht mehr lebendig machen. Der kommunistische Schriftsteller Milovan Djilas beschwert sich bei Stalin über die Untaten der Rotarmisten bei der Eroberung Ostdeutschlands. »Aber das ist doch ein Soldatenspaß«, erwidert der Rote Zar. Nicht alle Russen benehmen sich so. Mitunter greifen ihre Generäle gegen eigene Truppen hart durch, doch meistens bleibt es den Einheitsführern überlassen, ihre Soldaten zu bändigen. Oft unterbleibt es, weniger aus Haß und Rachsucht, als wegen militärischer Zweckmäßigkeit: Das Millionenheer der Flüchtlinge zwischen den Fronten behindert ganz erheblich deutsche Truppenbewegungen und Gegenangriffe; die Sowjets aber brauchen darauf keine Rücksicht zu nehmen. Es gibt auch disziplinierte Kampftruppen, die die deutsche Zivilbevölkerung mit kalter Verachtung doch korrekt behandeln, Kommandeure, die keine Blutorgien dulden und Greueltaten kriegsgerichtlich verfolgen lassen. Ein Oberleutnant der in den deutschen Osten vordringenden Roten Armee heißt Solschenizyn und wird viele Jahre später den Nobelpreis erhalten, aber die sowjetische Nachbareinheit ist vielleicht die Truppe, deren Soldateska, zehn, zwölf Mann hoch, ein junges Mädchen vergewaltigt und auf dem Körper der Geschändeten ihre Notdurft verrichtet und sie dann – ebenfalls festgehalten in einer Dokumentensammlung der Bundesregierung – halbtot -25-
liegenläßt. Vae victis. icus. Die Welt, ausgezogen, die Nazi-Barbarei niederzuwerfen, hat sich selbst mit dieser Tollwut infiziert, und so heißt es auch: Gnade Gott den Siegern! Als die Kampfgruppe Wamsler die vorgeschobenen Linien der Heeresgruppe Weichsel erreicht, verfügt sie über kein Fahrzeug mehr und zählt nur noch 47 Mann, einschließlich der 19 Versprengten, die sie unterwegs aufgelesen hat. »Mensch, Wamsler«, begrüßt Oberst Steinert, der IA im Divisionsstab, den sich zurückmeldenden Major: »Ehrlich gesagt, Sie sehen aus wie ein Abruzzen-Räuber.« Er bietet ihm eine Zigarette an. »Auf Ihre Rückkehr hätte ich keinen Pfifferling mehr gesetzt.« Er betrachtet das verdreckte Pflaster an Wamslers Stirne, das die Wunde von einem Streifschuß bedeckt. »Mann, gehen Sie gleich zum Onkel Doktor. Das gibt sonst ’ne handfeste Infektion.« Wie viele Panzeroffiziere ist Steinert ehemaliger Kavallerist, ein Mann mit einem trainierten Körper, einem schmalen Gesicht und hartem Kinn nebst vielen Runzeln. »Waren Sie eigentlich der Held von Sommerfeld, Wamsler?« Der Major zuckt die Schultern. »Ich fühle mich nicht als Held«, erwidert er. »Eher schon als Narr.« »Aber das kommt doch fast auf das gleiche heraus«, entgegnet der IA mit einem verbitterten Lache n. »Und so geht es uns doch allen.« Ohne Übergang fragt er: »Zu Hause alles in Ordnung?« »Totalschaden«, versetzt der Münchner. »Aber meine Eltern haben es überlebt.« Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: »Ich brauche frische Männer, entsprechende Ausrüstung, neue Kampfwagen und ...« »Lieber Freund«, erwidert der Generalstabsoffizier, »ob Sie es glauben oder nicht, wir sind fast genauso abgebrannt wie Sie.« Eine Handbewegung zeigt den Unwillen des Majors. »Aber jetzt -26-
sehen Sie mal zu, wie Sie an ein frisches Hemd kommen und vielleicht sogar irgendwo eine Badewanne finden, dann sage ich Ihnen, wo fabrikneue Königstiger oder Panther zu holen sind.« »Das ist ein Wort, Herr Oberst«, entgegnet der Führer der dezimierten Kampfgruppe und spürt jetzt erst, wie schwer die Müdigkeit an ihm hängt. Eine Stunde später meldet er sich wieder auf dem Gefechtsstand der 9. Armee, und diesmal ist auch der General anwesend. Er hat ein Exemplar der NS-Edelzeitschrift Das Reich in der Hand und liest einen Artikel über die Flüchtlingstrecks vor: »Wer hat je so schöne Pferde gesehen?« Der General tippt sich an die Stirn. »Da reiten sie vorneweg, ein alter graubärtiger Herr, mit etwas müden Augen, aber straff, aufrecht, mit kurzem Pelz und Nerzmütze, die Beine in gut gearbeiteten Re itstiefeln, neben ihm die Frau, eine weißhaarige, aber wohl gar nicht so alte Dame im Reitsitz der Frauen. Schließlich der Junge, der Enkel, wohlauf, munter vor sich hinplaudernd.« Der General unterbricht sich. »Sind Sie auch so einem Luxustransport begegnet, Major Wamsler?« »Nein, Herr General.« »Zum Kotzen«, erwidert der Kommandierende: »Ich bin bereit, mit meinen Männern hier hopszugehen, um vielleicht noch ein paar hunderttausend Zivilisten zu retten.« Er knallt wütend dieZeitung auf den Tisch: »Aber ic h laß mich nicht auch noch verarschen!« Er atmet schwer: »Ich kann Ihnen verraten, wo Sie so einen Transport de luxe finden«, ruft er auf gebracht. »Den Luxuszug ›Steiermark‹ im Waldgebiet bei Prenzlau, auf der anderen Seite der Oder natürlich, da treffen Sie unseren Oberkommandierenden – hinten im Salonwagen ...« Der General knallt die Türe zu. »Ein komischer Vogel, dieser Heinrich Himmler«, stellt Oberst Steinert fest. »Seit dem 20. Juli sieht Hitler lauter Verschwörer, und so machte er aus einem gelernten Landwirt -27-
einen ungelernten Feldherrn. Kommen Sie, Wamsler, vertreten wir uns die Beine.« Ein paar Hitlerjungen auf Fahrrädern mit umgehängten Panzerfäusten grüßen stramm. »Unser Panzerjagdkommando«, erläutert der IA. »Man hat diesen Pimpfen für vier abgeschossene 734 das Ritterkreuz versprochen, und jetzt sind sie nicht mehr zu bremsen beim Griff nach der Blechkrawatte.« Er spricht, als hätte er Sand zwischen den Zähnen: »Eine unserer Geheimwaffen – die beste noch.« Überall hängen Plakate: DIE ODER IST HAUPTKAMPFLINIE WER SIE VERLÄSST, WIRD AUF DER STELLE ERSCHOSSEN. »Dabei hat der Iwan schon zwei Brückenköpfe auf dem westlichen Ufer«, erläutert Steinert. »Siebzig Kilometer noch bis zur Reichshauptstadt. Zwei Panzerstunden.« Er bleibt stehen. »Ist das nic ht Wahnsinn? Hier stehen wir wie die letzten Goten und kämpfen bald mit den Fäusten, und in unserem Rücken treten sich die Feldgendarmen gegenseitig auf die Füße, um den Befehl dieses Reichsheinis auszuführen.« Er lacht konvulsivisch: »Sollen sie ihn doch aufhängen, er ist ja weit hinter der Oder-Linie, ein käsebleicher Feigling, der den Starken mimt. Leere Worthülsen, Wamsler, nichts weiter.« Der Major war nie ein Freund Himmlers gewesen, aber gefürchtet hatte er ihn immer. Jetzt entnimmt er den zornigen Worten Steinerts, wie weit der Niedergang des Dritten Reiches schon fortgeschritten sein muß. Der gradlinige, krummbeinige Reiteroffizier kommt wieder zur Sache: »Sie waren doch inzwischen beim Truppenarzt?« »Jawohl, Herr Oberst«, entgegnet der Major. »Halb so schlimm. Sie wollten mir sagen, wo ich neue Königstiger ...« »Richtig«, erwidert der IA. »Passen Sie auf: Sie sind verwundet, Sie haben zu Hause einen Bombenschaden, und wir brauchen dringend neue Panzer. Unser General hat beste -28-
Beziehungen zum Stab Speer. Sie fahren also ins rückwärtige Reichsgebiet und greifen sich ›Tiger‹ und ›Panther‹ in den Rüstungsfabriken direkt vom Fertigungsband. Nehmen Sie ein paar zuverlässige Leute mit und lassen Sie sich nicht abwimmeln, Wamsler. Es sind uns mindestens 60 Kampfwagen zugesichert; keiner weniger, bitte. Wir stehen hier zwar auf verlorenem Posten, aber wehren möchten wir uns doch wenigstens. Bringen Sie Dampf in die Sache! Zwischendurch machen Sie einen Abstecher zu unserem Ersatztruppenteil und suchen sich dort erstklassige Besatzungen aus - Männer, keine grünen Jungens – für die Schlacht um Berlin.« »Aber das wird wohl nicht so schnell zu machen sein.« »Die Russen lassen sich ja auch Zeit mit ihrem letzten Angriff«, erklärt der IA und klopft dem Major auf die Schulter, und endlich begreift Sepp Wamsler, daß er eine Chance hat, in München bei seinen Eltern kurz nach dem Rechten zu sehen. Der Morgen des 7. März wirkt seltsam lustlos. Gegen acht Uhr kommen Regenschauer auf. Dicke Tropfen laufen über die Stahlhelme der Brückenverteidiger von Remagen. Gleich danach spitzt ganz kurz die Sonne aus dem Gewölk wie eine Maus aus dem Loch, um gleich wieder zu verschwinden, als wittere sie die Katze. An der zweigleisigen Ludendorff- Brücke, einem mächtigen, von vier Pfeilern getragenen Eisenmonster – erbaut im Ersten Weltkrieg, um den Nachschub nach Frankreich schneller an die Front zu bringen –, herrscht Nervosität; Panik fast. Befehle jagen sich und werden widerrufen. Die Nachrichtenverbindung ist abgerissen. Niemand weiß, wer eigentlich zuständig ist. Der Kampfkommandant Bratge, nicht mehr der Jüngste und im Zivilberuf ein Schullehrer, erweist sich als genauso unsicher wie das Wetter. Er hat längst einen Nachfolger, aber das weiß er -29-
noch nicht, denn Major Scheller, der Korpsadjutant des Generals Otto Maximilian Hitzfeld, sucht noch inmitten eines aufgelösten Rückzugs seinen Begleittrupp und seine Funkstelle, die unterwegs wegen Spritmangels liegengeblieben waren. Hauptmann Friesenhahn, ebenfalls Reserveoffizier, ist die Brückensicherung und notfalls die Sprengung anvertraut; er hat die Orts- und Brückenverteidigung mit dafür untauglichen Soldaten bis zum Überdruß geübt, aber für diese Aufgabe steht ihm nur eine dezimierte Kompanie des Landespionierregiments 12 zur Verfügung. Der Reserveoffizier hatte dringend Verstärkung angefordert und erhalten: angeblich Genesende aus einem Heeresersatzlazarett in Bonn. Die einen können nicht gehen, die anderen kein Gewehr halten. Im Grunde ist es ein Verbrechen, solche Leute an die Front abzustellen, aber der Hauptmann ist noch froh um jeden Halbkrüppel. Zunächst weiß er nicht, was er mit den Verwundeten anfangen soll. Dann schnappt er sich den Gefreiten, der auf ihn noch den besten Eindruck macht, einen, der seinen rechten Arm in der Schlinge trägt. Links hat er eine inzwischen organisierte Maschinenpistole geschultert. »Wie heißen Sie?« fragt ihn Friesenhahn. »Gefreiter Wamsler«, erwidert der breitschultrige Junge, der aussieht wie ein Behinderten-Siegfried. »Sie sind ab sofort der Wachhabende auf der Brücke«, befiehlt der Hauptmann. »Suchen Sie sich ein paar Leute aus. Ich mache Sie verantwortlich dafür, daß Sie jeden zurückschicken, der keine Marschpapiere hat. Machen Sie rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch. Sie lassen niemanden durch, auch keinen Offizier, nicht einmal einen General, und der Troß bleibt auf dem linken Ufer – und wenn er noch so gültige Papiere hat.« »Jawohl, Herr Hauptmann«, erwidert der frühere Leutnant, und es klingt wie das Zitat von Götz von Berlichingen. -30-
»Der Führer hat befohlen, daß keiner etwas auf dem östlichen Ufer zu suchen hat«, erläutert Friesenhahn seinen undurchführbaren Befehl. »Das westliche Rheinufer ist und bleibt unsere Hauptkampflinie.« »Und wenn geschlossene Einheiten anrücken?« fragt Wamsler. »Dann«, erwidert der Reserveoffizier in salomonischer Unschlüssigkeit, »handeln Sie gefälligst nach eigenem Ermessen.« »Jawohl, Herr Hauptmann«, versetzt Wamsler und schnappt sich seine Kumpels von Stube 18. »Schaugt’s net so damisch drein, Leute«, sagt er. »Einen besseren Posten könnt’ ma gar net finden.« Er deutet auf den Erpeler Tunnel, in den die Eisenbahnbrücke mündet. »Sowie die Amis kommen und wir unsere Munition verschossen haben, ziehen wir uns in das schützende Loch zurück. Einfacher geht’s nicht.« Der Prophet hat sich seinen Friedenskalender unter den Arm geklemmt, offensichtlich mehr auf sein Meisterwerk bedacht als auf den alten Karabiner. »Mußt du denn das Ding überall mit herumschleppen«, fährt ihn der Exleutnant an. »Omnia mea mecum porto«, erwidert Ellas zu seiner Verblüffung in einwandfreiem Latein und liefert die hausgemachte Übersetzung gleich nach: »Alles, was ich besitze, führe ich mit mir.« Er grinst über Wamslers verblüfftes Gesicht: »Staunste, was, fünf Klassen Gymnasium, fast bis zur mittleren Reife, dann war’s Matthäi am letzten.« Mit lahmendem Knie humpelt Uscha Baldauf auf den Wachhabenden zu: »Nimm mich mit, Kumpel«, ruft er schon von weitem: »Ich lieg’ hier sonst bloß herum.« »Von mir aus«, erwidert Wamsler wenig begeistert. Daß der Mann bei der Waffen-SS ist, wäre ihm egal, aber wenn Adamsky, Elias und Raschke wie zu erwarten ihre faulen Witze -31-
reißen, gibt’s mit Sicherheit Stunk. »Gehör’ ja eigentlich auch zur Wehrmacht«, erklärt der Aachener wie entschuldigend, »war bei der Luftwaffe, bin einfach zu diesem Runenverein versetzt worden.« Daß in der Eisenbahnunterführung zwischen Hunderten von Zivilisten auch noch drei beladene Tankwagen abgestellt sind, von denen einer leckt, weiß der Wachhabende aus München nicht. Auf der anderen Rheinseite aber verbrauchen beim verfahrenen Rückzug die motorisierten Wehrmachtseinheiten auf der Suche nach Sprit ihren letzten Tropfen. Wamsler postiert sich am zweiten Pfeiler. Illusionen macht er sich keine, aber die Zeit kann er hier ganz unterhaltsam totschlagen. Der erste, den der Gefreite mit der MP im Anschlag zurückjagt, ist ein ihm im Dienstrang weit übergeordneter Zahlmeister. Er gehört zu einem linksrheinischen ErsatzVerpflegungsmagazin, das die Alliierten erbeutet haben, und er besitzt gültige Marschpapiere, aber das ist Wamsler egal, Dienst ist Dienst und Troß ist Troß. »Zurück, Herr Stabszahlmeister!« sagt er und fuchtelt mit dem Lauf seiner entsicherten MP herum. »Was fällt Ihnen ein«, brüllt der Mann. »Ich werde Meldung gegen Sie erstatten.« »Zurück!« ruft Wamsler zum zweiten Mal. »Beschweren Sie sich ruhig über mich, Herr Stabszahlmeister, aber auf dem Verteidigungsufer.« Der Zahlmops fummelt unschlüssig an seiner Pistolentasche herum, dann zieht er mit blutrotem Kopf ab. »Mensch, gehst du ’ran«, sagt Adamsky voller Bewunderung. »Macht Spaß, was?« Aber gleich vergeht’s ihnen. Aus Richtung Remagen kommen Flaksoldaten. Sie gehören zur Luftwaffe und unterstehen dadurch dem Reichsmarschall und nicht dem Heer. Der Gefreite -32-
muß sie ziehen lassen; er schaut ihnen verärgert nach. »Schlipssoldaten«, mosert er. »Preisfrage: Es hat rote Kragenspiegel, liegt auf dem Dach und schläft. Was ist das?« »Die Flak«, erwidert Adamsky. »Gegenfrage: Kennst du den Unterschied zwischen einem alten Mann und der Flugabwehr?« »Die Flak bringt ihn nicht runter, der Alte bringt ihn nicht hoch«, wiehert Elias, der Prophet, und es gibt auch an einem solchen Tag etwas zum Lachen. Hauptmann Bratge spielt noch immer den Kampfkommandanten; er kontrolliert die Marschpapiere auf der anderen Seite schon beim Betreten der Brücke. Laut ArmeeOrder muß jeder, der über den Fluß will, die schriftliche Genehmigung seines Divisionskommandeurs vorweisen können. Der Reserveoffizier wundert sich, wie viele Divisionskommandeure es gibt. Er tritt unter die erschöpften, gereizten Männer, schimpft, flucht und droht, aber die Disziplin ist auch schon stiften gegangen. Der Hauptmann muß, um die weiterfahrenden Soldaten aufzuhalten, die Reifen ihrer Fahrzeuge zusammenschießen. »Der ist vielleicht fickrig«, sagt Uscha Baldauf. »Kein Wunder« erwidert Adamsky. »Möchtest du in seiner Haut stecken?« »Blödmann«, entgegnet der zwangsversetzte SSUnteroffizier. »Ich möchte’ nicht mal in meiner eigenen stecken.« Baldauf ist in Ordnung, stellen die anderen Verwundeten fest, er redet wie sie. Zaghafte Sonnenstrahlen brechen durch das Gewölk, klettern schüchtern an dem schlanken Türmchen der Apollinaris-Kirche hoch, streicheln die Erpeler Ley in ihrem Rücken, leuchten graue, stoppelige Gesichter aus. In hellen Scharen strömen jetzt Zivilisten über die Brücke: Frauen, Kinder, alte Männer zwischen Pferdefuhrwerken. Wamsler läßt sie unkontrolliert -33-
passieren und fordert sie auf, noch schneller zu laufen. Die Brücke, 16 Meter über dem Wasserspiegel, hat von Turm zu Turm eine Spannweite von 300 Metern. Vom ersten Kriegstag an war sie bisher so mit Flugabwehrgeschützen bestückt gewesen, die im Erdkampf wohl eine ganze Panzerdivision aufgehalten hätten, aber ausgerechnet jetzt, da man die Flak braucht, wird sie auf Befehl ihres Generals Pickert abgezogen. Am Vormittag unterstellt man den Kampfabschnitt Remagen drei verschiedenen Befehlshabern. Der vierte ist General Richard v. Bodmer. Der Kurier, ein Oberstleutnant, der Hauptmann Bratge diese Meldung überbringen soll, wird von den Amerikanern unterwegs abgefangen. Diesen fatalen Umstand lastet man General Bodmer schwer an, zumal er sich, entgegen einem Hitler-Befehl, von Bonn nach Beuel auf die andere Seite abgesetzt hat. Man wird ihn zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilen, aber der Truppenführer entgeht dieser Schande durch Selbstmord. Der Gefechtslärm kommt näher, aus Richtung Eifel. Warum sollten die Amerikaner nicht auch hier den Rhein erreichen, wo sie schon seit einer Woche links und rechts von Düsseldorf sind und die Tommies sogar schon seit 14 Tagen das Ufer nördlich von Kalkar erobert haben. Wamsler ist nur ein kleiner Leutnant gewesen, aber soviel versteht er von Strategie, um zu wissen: Wenn die Amerikaner wollen, kommen sie über den Rhein. Die beste Abwehr ist, darauf zu setzen, daß sie es – noch nicht – vorhaben. Sie kämpfen mit dem System: Siege mit Weile. Tatsächlich ist in einer veralteten Studie Dwight D. Eisenhowers der Rheinübergang erst für Anfang Mai geplant. In jedem Fall hat der alliierte Oberkommandierende seinen Soldaten eine 14tägige Rast versprochen, wenn sie das linke Ufer erreicht und gesäubert haben, und welcher Soldat würde sich nicht gerne einmal zwei Wochen pelzen?! Der Rhein ist eher eine magische als eine militärische Barriere, auch wenn der Goebbels-Schwall -34-
aus dem Schicksalsstrom einen Festungswall macht. Der Rhein ist eben etwas ganz Besonderes. Er wälzt sich durch Deutschland, in einem Flußbett aus Romantik und Gemüt. Schon in der Schule singen die Kinder: »Sie sollen ihn nicht haben, den heil’gen deutschen Rhein.« Später schildern die Lehrer im Geschichtsunterricht dramatisch Blüchers berühmten Rheinübergang bei Kaub – freilich in die andere Richtung. Dann: Ernst Moritz Arndt: »Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze«; Heinrich Heine: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.« Das Lied der Loreley gibt eigentlich sehr treffend die Situation wieder: Keiner, nicht Mann, nicht General, weiß, was es bedeuten soll, wenn ihm etwas befohlen und dann gleich widerrufen wird. Kurz vor elf Uhr stoppt der Gefreite Wamsler einen Offizier, der eigentlich nicht aussieht, als würde er sich auf die ungefährlichere Seite des Stroms verziehen. »Ihre Papiere, Herr Major«, verlangt der Wachhabende. »Nur nicht übertreiben, Gefreiter«, erwidert der Offizier im Lederpaletot mit dem Anflug eines Lächelns, »ich bin Ihr neuer Kampfkommandant Major Scheller.« »Gefreiter Wamsler«, meldet sich der Münchener stramm, »Wachhabender auf der Ludendorff- Brücke.« »Weitermachen!« befiehlt der Major. »Kann sein, daß wir heute noch die Brücke sprengen müssen. Ich werde Sie und Ihre Leute rechtzeitig verständigen, und dann nichts wie weg in Deckung – mit äußerster Beeilung.« »Jawohl, Herr Major«, erwidert Wamsler. Obwohl der fronterfahrene und dekorierte Offizier allein gekommen ist, bringt er etwas Ruhe in das hektische Durcheinander. »Der weiß wenigstens, was er will«, anerkennt selbst -35-
Adamsky. Der Pommer hat sicher recht, aber der neue Kampfkommandant weiß auch, was er nicht kann. Noch immer fehlt sein Begleitkommando nebst Funktrupp. Es fehlt das kampfstarke Bataillon, das sein General in die Ortsverteidigung eingebaut wähnt. Es fehlt die Flakbatterie am linken Rheinufer mit den Werfern, die noch unter Geheimschutz stehen – gerade deshalb wird die Waffe abgebaut und auf die andere Seite verfrachtet. Das Übersetzverbot ist inzwischen angeblich von Hitler in seiner Geisterkatakombe der Reichskanzlei in Berlin leicht gelockert worden. Vielleicht wird es auch nur von den Einheitsführern behauptet, die sich und ihre Truppen in Sicherheit bringen wollen. So oder so: Die schweren Waffen und die Munition bleiben am anderen Rheinufer zurück, werden hochgejagt und fehlen für den Rest des Krieges. Der abgelöste Kampfkommandant Bratge ist bemüht, sich die Erleichterung über das Erscheinen seines Nachfolgers nicht anmerken zu lassen: »Haben Sie die beiden Bataillone gleich mitgebracht, Herr Major?« fragt er. »Bataillone? Ich komm’ allein. Wir sind auf uns selbst angewiesen.« Die beiden Offiziere sehen sich an. Die Zigaretten in ihren Händen zittern leicht. »Wie lange können wir Ihrer Meinung nach Remagen halten?« fragt Scheller. »Sieht nicht gut aus«, erwidert Bratge vorsichtig. »Und die Brücke?« fragt der Major weiter. »Wir haben gerade den Sprengstoff bekommen«, meldet der abgelöste Kampfkommandant. »Nur 300 Kilo Donarit. Die Hälfte der angeforderten Menge. Wir müssen sehen, wie wir damit zurechtkommen.« -36-
Scheller nickt – als Frontoffizier ist er das Improvisieren gewöhnt. »Außerdem weist dieses Eisen- und Betonungetüm keine Sprengkammern auf«, fährt Bratge fort. »Wir müssen also die Zündschnur außen entlangführen.« Der Adjutant des Generals Hitzfeld nimmt auch diese Misere zur Kenntnis; er ist müde, sein Gesicht von den Strapazen der letzten Tage wie plissiert. Er kann sich denken, daß General Ludendorff 1916 nicht damit gerechnet hat, daß der Feind jemals so weit nach Deutschland vordringen würde. »Ich hab’ den Auftrag, die Brücke so lange offenzuhalten, wie es nur möglich ist«, sagt der Major aus Niederbayern. »Wir können sie also erst im letzten Moment sprengen. Ist das klar?« »Jawohl, Herr Major.« Die beiden Offiziere gehen die Stellungen ab. Am Rande der Brücke bietet sich ein seltsamer Anblick: 36 Soldaten, überständige Pioniere neben halbkurierten Verwundeten, singen auf Befehl von Hauptmann Friesenhahn ›Die Wacht am Rhein‹. Dann liest der Reserveoffizier ausgewählte Sprüche aus ›Mein Kampf‹ vor. Es bleibt offen, ob der Kompaniechef es ernst meint oder seinen Führer bloß auf den Arm nehmen will. Mit der Verteidigungsvorbereitung auf dem rechten Rheinufer zwischen Düsseldorf und Koblenz ist der Infanteriegeneral Joachim v. Kortzfleisch beauftragt worden; ein Heerführer ohne Truppe. Inmitten hinhaltender Kämpfe meldet General Gustav v. Zangen von der 15. Armee dem Oberkommandierenden der Heeresgruppe B, daß die Ludendorff-Brücke durch den raschen Vormarsch der Amerikaner bedroht ist, aber der kaltblütige Generalfeldmarschall Model steht in Köln im Häuserkampf. Der Offizier – mit dem Spitznamen ›Terrorflieger‹, gefürchtet bei seinen Offizieren, beliebt bei seinen Soldaten – weiß, daß die Lage aussichtslos ist und sucht in vorderster Linie den Tod. Doch selbst als er beim Rückzug über die Hohenzollernbrücke -37-
den Amerikanern ein Nachhutgefecht liefert, während die letzten Verteidiger Kölns bereits vor den geschwärzten Mauern des berühmten Doms die Hände hochnehmen, verfehlen die Feindgeschosse den Generalfeldmarschall. Der Oberkommandierende zieht sich so ziemlich als letzter aus der ehemaligen Römer- und jetzigen Ruinenstadt auf die andere Seite zurück, auf der weder improvisierte Befestigungen noch taktische Abwehrstellung ausgebaut werden durften, weil Hitler befohlen hatte, das linke Rheinufer um jeden Preis zu halten. Niemand wollte sich vorwerfen lassen, einen Führerbefehl sichtbar zu mißachten. »Das bißchen Operationsführung kann ja jeder machen«, hatte der Diktator nach der ersten Winterkrise in Rußland festgestellt und führende Generäle wegen Unfähigkeit nach Hause geschickt. Die Strategie des Gefreiten aus dem Ersten Weltkrieg, der sich selbst zum Obersten Befehlshaber der deutschen Wehrmacht ernannt hatte, war denkbar einfach: einigeln, stehen oder fallen. Die Kommandeure hafteten mit ihrem Kopf dafür, daß kein Meter eroberten Bodens aufgegeben wurde. Prompt waren die Katastrophen von Stalingrad, Nordafrika, der Verlust Siziliens, Unteritaliens, Frankreichs, Rußland, des Balkans, Polens und nunmehr großer Teile Deutschlands gefolgt. Zwar hatte sich der dilettierende Diktator mit gelernten Generalstabsoffizieren umgeben, sie aber zu Jasagern denaturiert. Der Chef des Wehrmachts-Führungsstabs, Generaloberst Alfred Jodl, erwies sich als ein in jeder Lage emsiger Kopfnicker, und Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel wurde als strategischer Erfüllungsgehilfe Hitlers selbst bei linientreuen Offizieren als so servil bewertet, daß sie ihn nur noch ›Lakeitel‹ nannten. Mit dem Fall Roms hatte vor neun Monaten der Endspurt des Zweiten Weltkriegs eingesetzt. Mit bestürzender Geschwindigkeit war der Schlußverkauf der Festung Europa -38-
über die Kriegsbühne gegangen. Schlag auf Schlag fielen die Hauptstädte Paris, Brüssel, Athen, Sofia, Belgrad, Budapest und Warschau. Waren diese Metropolen für viele Deutsche, die den Kopf in den Sand stecken wollten, noch böhmische Dörfer in weiter Ferne, so mußte jetzt der Wehrmachtsbericht Namen nennen, die in ihrem Bewußtsein förmlich explodierten: Köln, Bonn, Düsseldorf, Stettin, Küstrin, Breslau, Danzig, Königsberg, und wenn man auf die Karte sah, war sogar schon die Reichshauptstadt bedroht. Längst hatte Hitler eine Art strategischen Offenbarungseid geleistet und zwei der damals vor Moskau ohne Dank und Gruß entlassenen Heerführer wieder an die Spitze der Wehrmacht gestellt: Der Panzerspezialist Heinz Guderian – »Es hat zwischen uns manches Mißverständnis gegeben«, hatte ihn der›Führer‹wieder in Gnaden aufgenommen – war nunmehr Generalstabschef mit einer voll nach Osten gerichteten Optik. Der›schnelle Heinz‹bedrängt Hitler täglich mit der Forderung, die Ostfront zu verstärken – was nur auf Kosten des zweiten Rehabilitierten gehen kann, des Generalfeldmarschalls Gert v. Rundstedt, dem der Oberbefehl im Westen anvertraut wurde. Beide Offiziere wissen, daß nirgendwo der Untergang aufzuhalten ist, aber der Gedanke liegt nahe, dem vergleichsweise humanen westlichen Feind das Tor nach Deutschland zu öffnen und die Sowjets so lange aufzuhalten, bis Millionen von Menschen, Flüchtlinge wie Soldaten, ihrem Machtbereich entzogen sind. Es wendet die Niederlage nicht ab, macht sie aber erträglicher. Davon will Hitler jedoch nichts hören – seine Uhr ist auf Weltuntergang programmiert. Bei seiner letzten Rede hatte Hitler ›die entscheidende Wendung noch in diesem Jahr‹ angekündigt. Sechs Wochen später gibt es ebenso viele Flüchtlinge wie Soldaten – etwa zehn Millionen –, und an der als unbesiegbar verherrlichten Rheinfront hat sich die Verteidigungsdichte auf einen Mann pro zehn Meter Raum ausgedünnt. Jeden Tag werden jetzt im -39-
Durchschnitt von den Alliierten auf dem linken Rheinufer an die 10000 Gefangene gemacht. Der vormals gefürchtetste Soldat der Welt ist erschöpft, ausgebrannt, am Ende. Auch die Zivilbevölkerung, die so lange den Terrorangriffen aus der Luft standhielt, hat den Krieg jetzt satt bis oben hin. Im Rheinland, der Pfalz und im Saargebiet wird der Wunsch nach Frieden um jeden Preis übermächtig. Neben den Verteidigungslinien der Wehrmacht hängen die Zivilisten, trotz aller Todesdrohungen und Exekutionen weiße Bettlaken zum Fenster hinaus, voller Angst vor den Nachbarjungen, die sich im Garten mit Panzerfäusten und Maschinenpistolen den GIs stellen wollen, Vierzehnjährige, zum Sterben erzogen. Major Scheller hastet über die Brücke in das idyllische Remagen, um den Ortsverteidigern einzuschärfen, das 15000Seelen-Städtchen so lange zu halten, wie es irgendwie möglich ist, damit die Brücke als Fluchtweg offen bleibt. Dabei sieht er in die Gesichter abgekämpfter Soldaten und verängstigter Zivilisten, die ihn zum Teufel wünschen. Der Offizier stammt aus Landshut, seine Frau aus Köln. Es ist nicht die Zeit, an sie zu denken, aber einen Moment lang erleichtert es den Major, daß ›Hexe‹ - so ihr Kosename – mit den beiden Kindern zu seiner Mutter nach Niederbayern evakuiert worden ist. Er eilt weiter, an der schönen Uferfront des alten Römerkastells Rigomagus entlang; er sieht zur ApollinarisKirche auf einem sanften Hügel über dem Rheintal hoch, jene Kirche, die einst mit übriggebliebenen Bausteinen des Kölner Doms fertiggestellt worden war, entstanden aus einer Kapelle aus dem 6. Jahrhundert. Das Kreuz überragt uraltes Kulturland, dem der Untergang unter dem Hakenkreuz droht. Wo der Pesthauch des Krieges sanfte Rebhügel und alte Fachwerkhäuser erfaßt, zwischen Bingen und Bonn, ist der Rhein am schönsten. Einst gehörte die Region zur entmilitarisierten Zone. Mit ihrer Besetzung durch die Reichswehr hatte 1936 Adolf Hitler seine aggressive Kriegspolitik gestartet. -40-
Major Scheller steht wieder an der Ludendorff-Brücke, benannt nach einem Feldherrn, der – in der Illusion unbesiegt – den Ersten Weltkrieg nicht verloren haben will; aber es ist weder die Stunde der Romantik noch der Historie. Der Offizier läßt die Geheimakten zum anderen Ufer schaffen, richtet sich auf hinhaltenden Widerstand ein und fischt unter den Flüchtenden kampffähige Soldaten heraus. Wenn er ihnen den Rücken kehrt, türmen sie wieder – die Kampfmoral der meistens lächerlich Bewaffneten ist gebrochen. Manche haben auch schon an anderer Stelle versucht, über den Strom, hinter dem ihre Heimat liegt, zu kommen. Kurz vor Mittag wird der einseitige Brücken verkehr immer stärker, und der Gefreite Wamsler sieht keine Chance mehr, sich der Flut entgegenzustemmen. Wenn er einen Flüchtenden aufhält, staut er den Durchgangsverkehr und wird selbst mitgerissen. Er kann höchstens noch Stichproben machen, und das will er dem Kampfkommandanten melden, aber Adamsky bremst ihn: »Bist du blöd, Mensch, da stehen wir goldrichtig.« »Was heißt hier wollen«, fährt ihn der Wachhabende an, »können mußt du!« »Na also«, wiegelt Raschke ab. In diesem Moment kommt der Waffenbulle, schleppt zwei Panzerfäuste und fünf Eierhandgaranten an. »Was sagt ihr jetzt?« fragt er stolz, als wäre es Marketenderware. »Hab’ ich den Pimpfen abgenommen, bevor sie damit Schaden anrichten.« »Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen«, erwidert Wamsler und fletscht die Zähne. Hiobsnachrichten von allen Seiten. In Bodendorf ist die Ortsverteidigung zusammengebrochen. In Bittersdorf haben die ›Shermans‹ die provisorischen Befestigungen durchbrochen. Und kurz vor Remagen schließen beim Auftauchen der ersten US-Panzer die Volkssturmmänner nicht – wie geprobt – die Sperren, sondern laufen dem Ortsgruppenleiter, der sie in -41-
Parteiuniform führt, in allen Richtungen davon. Fünfzehnjährige Flakhelfer – die erstmals in den Erdkampf eingreifen sollen – lassen ihre Geschütze stehen und wetzen in blinder Panik auseinander. Gegen elf Uhr sind die ersten feindlichen Panzer auf der Höhe von Birresdorf schon mit bloßem Auge auszumachen. Sie wälzen sich weiter vorwärts – Richtung Rhein. Zwischen den›Shermans‹und der Brücke befinden sich jetzt nur noch Zivilisten, die in ganzen Rudeln davonhetzen. Die Verwirrung ist unbeschreiblich. Mitunter rollen auf den Straßen amerikanische Panzerfahrzeuge und deutsche Nachhutkolonnen nebeneinander her, ohne sich gegenseitig zu behelligen. USVorhut und deutsche Nachhut halten einander oft hoffnungsund kampflos auf, behindert von einem undurchdringlichen Menschenbrei. Man sieht mitunter 200, 300 und noch mehr Feldgraue, die sich ergeben haben bewacht von einem einzigen GI –, in die Kriegsgefangenschaft ziehen. Der linke Flügel der 3. US Army, geführt von General S. Patton, stößt nördlich der Mosel vor und erreicht den Fluß bei Neuwied und Andernach. Amerikas explosivster General, kenntlich an seinem Goldhelm, fährt seinen Soldaten beim Angriff häufig vo raus. Sie nennen ihn bewundernd ›Lucky Forward‹, doch auch ›Blood and guts‹ (›Blut und Gedärm‹). Dem Draufgänger kommt Eisenhowers Kreuzzug nach Deutschland viel zu langsam voran. Noch immer hält die Wehrmacht ein großes Gebiet links des Rheins, die ganze Pfalz, einen Großteil der Saar und weiter südlich sogar noch ein Stück von Lothringen. Die 1. Fallschirmjägerarmee verteidigt gegenüber Wesel noch einen starken Brückenkopf, weiter nördlich haben die Engländer und Kanadier das ganze linksrheinische Ufer besetzt. »Gib her das Ding«, sagt Uscha Baldauf und nimmt Wamsler die Panzerfaust aus der Hand. »Mit dem lahmen Knie kann ich jedenfalls besser damit umgehen als du mit deinem -42-
zerschossenen Arm.« »Da ist was dran«, erwidert der Wachhabende. »Übernimm dich bloß nicht, Uscha«, motzt Adamsky. »Es könnte sein, daß die Amis zwei Panzer haben oder sogar drei.« »Abschießen und abhau’n«, zahnt der Junge aus Aachen. »Klares Programm.« »Mensch, seht euch das an«, ruft Elias. »Achtung: Luftwaffenhelferinnen von vorn!« Ein ganzer Pulk uniformierter Mädchen jagt über die Brückenschienen, eingekeilt in Pferdefuhrwerke, Handkarren und eine Schafherde. »Wo kommt ihr her?« fragt Wamsler aufgeregt, aber er erhält keine Antwort. Beim zweiten Versuch ruft eine Rothaarige dem Wachhabenden im Vorbeihasten zu: »Aus Andernach – es kommen noch mehr von uns. Jagt bloß die Brücke nicht zu früh hoch!« Die Bewacher stehen wie kleine Inseln in der Menschenflut, die sie mitzureißen droht; ein unaufhaltsamer Zug von Müttern, Kindern, Arbeitern, Invaliden, Soldaten, Volkssturmleuten, Rotkreuzschwestern und männlichem Sanitätspersonal. Und Bauern, die jetzt auch ihr Vieh über die letzte Brücke treiben. Wieder eine Gruppe Blitzmädchen, eine von ihnen bleibt plötzlich stehen, starrt Florian Wamsler an: Im gleichen Moment erkennt der Gefreite Stupsi, seine kleine Schwester. Sie liegen einander in den Armen, stemmen sich gegen den Sog, der sie mit sich zum rechten Ufer reißt. Aneinandergeklammert werden sie abgedrängt, mitgeschoben, mitgezerrt, eingekeilt im Gedränge, Romeo und Julia, und doch Bruder und Schwester. »Hier wird nicht poussiert!« schreit der Waffenbulle mit abstrusem Humor. »Stupsi«, keucht der Bruder, »lauf, lauf! Lauf, so schnell du kannst. Geh durch den Tunnel, und dann nichts wie fort.« -43-
»Wir wurden zu spät verlegt«, erwidert die Achtzehnjährige mit dem noch frischen, ungezeichneten Gesicht. »Schreib den Eltern und ...« »Schon gut«, unterbricht sie Florian. »Schnell, los, weiter!« »Und was ist mit dir?« »Ich komm’ nach, verlaß dich drauf«, verspricht der Bruder. »Komm doch gleich mit, Florian«, drängt die Blondine in Fliegerblau. »Bald«, erwidert der Exleutnant. »Hab’ keine Angst, du weißt doch, Unkraut verdirbt nicht.« Er sieht ihr nach wie einem Spuk, er weiß nicht, hat er es geträumt, oder ist er seiner Schwester wirklich begegnet? Er rudert gewaltsam gegen die Menschenflut, zwängt sich zu Adamsky durch. »Deine Schwester?« fragt der Pommer. »Mensch, ist das ein nettes Mädchen.« »Brücke klar zur Sprengung!« meldet Hauptmann Friesenhahn. »Danke«, erwidert Hauptmann Scheller. »Wir sperren jetzt auf der linken Seite und dann ...« »Ich hab’ die Zündanlage noch einmal überprüft.« »Gut so«, versetzt Scheller. Auf den gegenüberliegenden Höhen sieht man jetzt schon mit bloßem Auge die ersten Feindpanzer, die heranrollen und sich teilen; die Hälfte fährt auf den Ortseingang zu, die andere direkt auf die Brücke. Es ist die Vorhut des 27. Panzer-GrenadiersRegiments der 9. US-Panzer-Division. Der Leutnant im vordersten Fahrzeug heißt Timmermann, is t im Zivilberuf Student, hat eine deutsche Mutter und einen USVater. Er ist als Besatzungskind nach dem Ersten Weltkrieg 1919 in Frankfurt geboren, mit den Eltern in die Staaten ausgewandert und als waschechter Yankee in West Point im Staat Nebraska aufge wachsen. Der junge Offizier hat sich von -44-
der Atlantikküste bis zum Rhein durchgekämpft und dabei etliche Orden verdient. Er hat es nicht mehr nötig, den Helden zu spielen und möchte baldmöglichst mit heilen Knochen wieder nach Hause kommen. Der Leutnant fä hrt an der Spitze, die sich von Euskirchen her Remagen nähert, so schnell es geht. »Stop!« ruft Timmermann dem Fahrer des Panzerspähwagens zu und starrt durch das Glas: Keine Frage, vor ihm liegt eine unzerstörte Rheinbrücke, mit Viehherden zwischen Soldaten, Zivilisten, Frauen und Kindern. Timmermann reicht seinem Kumpel Alex Drabik, einem Metzgergesellen aus Ohio, das Glas, aber der GI schüttelt den Kopf. »I see what I see, I’m not blind«, weist er brummelnd das Glas zurück; die intakte Brücke ist keine Halluzination. »Combat-Command-C-Lieutenant Timmermann«, meldet er sich bei seinem Regimentskommandeur über Sprechfunk: »There is an undestroyed bridge. Give me your order.« Der Regimentskommandeur läßt sich den Spruch wiederholen und gibt ihn an seinen Divisionschef, den Brigadegeneral William M. Hoge, weiter. Auch dieser besteht auf der Wiederholung der Meldung, dann jagt er auf den Apollinarisberg, um die Situation mit eigenen Augen zu besehen. Er gibt Timmermann den Befehl, bei dessen brutaler Kürze es den Leutnant und seine Männer kalt überläuft: »Damned, auf was wartet ihr noch? Nehmt die Brücke, Boys, bevor sie hochgeht.« Sie rollen los. Der Panzerspähwagen an der Spitze, dann drei ›Shermans‹, gefolgt von mehreren Schützenpanzerwagen, erreichen die Brückenauffahrt. Die Infanteristen springen ab. Ein wenig Zeit verlieren sie, als sie sich einen Bahnbeamten mit roter Mütze greifen; sie halten den Stationsvorsteher für einen deutschen General und sind enttäuscht, als sie ihn wieder laufenlassen müssen. -45-
Die ›Shermans‹gehen in Bereitstellung und nehmen das östliche Ufer unter Beschuß: Abgesprungene Infanteristen feuern mit ihren MPs aus der Hüfte und stürmen auf die Brücke. Es ist 15 Uhr 30, die Minute, die Kriegsgeschichte machen wird. Wamsler, mit seinen Le uten bis zum ersten Brückenpfeiler zurückgezogen, sieht, wie Baldauf mit der Panzerfaust zielt. »Ist doch noch viel zu früh«, ruft er dem Uscha zu. »Auf diese Entfernung schießt du doch nur ein Loch in die Luft.« »Scheißegal«, erwidert der Mann und drückt ab. »Die gehen ja sowieso mit der Brücke hoch.« »Wir doch auch«, knirscht Raschke und schießt die zweite Panzerfaust ab. Sie springen auf, jagen im Feuer zurück. Hinwerfen! Aufspringen! Weiterrobben! Aufspringen! – Sie machen es schulmäßig wie auf dem Kasernenhof, soweit es ihre körperliche Verfassung erlaubt. Elias, der Prophet, kommt nicht mehr hoch. Eine MG-Garbe hat ihn erfaßt. »Packt mit an!« schreit Wamsler den anderen zu. Während er und Baldauf den Verwundeten aufheben, hören sie den Befehl Major Schellers: »Sprengen!« »Verstanden!« ruft Hauptmann Friesenhahn zurück. »Befehl ausgeführt.« Keuchend schleppt der Trupp Wamsler den Verwundeten mit sich, auch wenn es Zeit frißt und in spätestens 30 Sekunden alles, was sich noch auf der Brücke aufhält, mit ihr in die Luft fliegen muß. Der einbeinige Postrat Josef Wamsler hat vor einer Woche wieder einmal einen schweren Anginapectoris-Anfall überstanden; er ist untersetzt, 59 Jahre alt, hat schütteres Haar -46-
und ist körperlich längst nicht mehr dem totalen Krie gseinsatz gewachsen, der jetzt auch für die Heimatfront gilt: 60-StundenWoche, Urlaub gestrichen, Beförderungen zurückgestellt. Die Lebensmittel wurden vor kurzem um weitere elf Prozent gekürzt – da man es aus propagandistischen Gründen nicht zugeben wollte, hat man die Gültigkeitsperiode einfach entsprechend verlängert -, und der Jahrgang 29 wird zum Einrücken in die Kasernen aufgerufen. Die überwiegend noch nicht einmal Sechzehnjährigen sollen jetzt das Vaterland retten. Der langjährige Hausarzt hat dem Postbeamten Wamsler die vorzeitige Pensionierung dringend angeraten, und auch der sonst wegen seiner Rücksichtslosigkeit gefürchtete Amtsarzt hat sie ihm nahegelegt, da jeder neue Anfall tödlich enden könne – aber der Pflichtmensch, dem in den letzten Wochen des Ersten Weltkriegs noch das linke Bein bis zum Oberschenkel amputiert werden mußte und der im Zweiten drei Söhne und eine Tochter an den Staat abzugeben hatte, will davon nichts wissen. Selbst als nach dem letzten schweren Luftangriff auf München am 25. Februar 45 seine Wohnung am Orleansplatz inmitten des sogenannten Franzosenviertels bis zu den Kellermauern zerschmettert wurde und Josef Wamsler 16 Stunden lang verschüttet unter den Trümmern gelegen hatte, war er nach seiner Bergung nicht seiner evakuierten Frau Barbara zu Verwandten auf das oberbayerische Land gefolgt. Er blieb in der vom Luftkrieg schwer gezeichneten Isarstadt, als hinge es von seinem Ausharren ab, ob die Bevölkerung auch noch das sechste Kriegsjahr durchstehen konnte. Er sitzt an seinem Schreibtisch und liest die ›Münchener Neuesten Nachrichten‹ Es ist die Ausgabe vom Mittwoch, dem 7. März 1945. Obwohl die Nachrichten geschönt oder gefälscht werden, sind die durch die Bank schlecht. Luftangriffe. Fronteinbrüche. Verlustmeldungen. Durchhaltephrasen. Die Kriegszeitungen leiden längst an Auszehrung, wiewohl die vielen Todesanzeigen der Gefallenen immer kleiner werden, -47-
beanspruchen sie doch einen beträchtlichen Teil des Raums. Briefträger sind zu Todesboten geworden, auch wenn es ihnen erspart bleibt, den Angehörigen die Hiobsnachrichten persönlich zu überbringen. Laut OKW-Verfügung Az: B 311AWA/WVW (III) wünscht der ›Führer‹, daß die Todesnachricht eines Soldaten der Familie durch den zuständigen Hoheitsträger der NSDAP in ›teilnehmender Form‹ überbracht wird, und zwar in unauffälliger Weise, weshalb dabei auch Zivil getragen werden darf. Was Krieg ist, braucht man dem Aufstiegsbeamten Wamsler nicht zuerst zu sagen. Zwar war auch er immer gegen das Diktat von Versailles gewesen, aber als mit dem Nationalsozialismus das Revanchegeschrei aufgekommen war, wurde er von der Militarisierungswelle nicht mitgerissen, wenngleich er kurz vor Kriegsbeginn doch noch in die Partei eingetreten war; wie er meinte, seinen Kindern zuliebe. Unter beträchtlichen Opfern hatte er alle vier auf die höhere Schule geschickt. Voralarm. Wamsler senior greift sich an die Brust. Die Zeit ist Gift für Patienten mit verengten Herzkranzgefäßen. Er weiß, daß er sich pensionieren lassen müßte, aber das will er nicht, solange die Kinder – die Eltern nennen sie noch immer so, obwohl sie, bis auf das auch schon flügge Nesthäkchen, alle volljährig sind – als Soldaten an der Front stehen. Es ist keine Rechnung der Logik, sondern des Herzens, das nun einmal anders addiert als der Verstand. Der Postrat schuftet meistens von acht bis acht, sorgt dafür, daß im nördlichen Bereich der bayerischen Landeshauptstadt die Beförderung von Briefen und Paketen noch halbwegs klappt, obwohl er sich vorwiegend auf dienstverpflichtete Hilfskräfte stützen muß. Die Post muß einfach funktionieren, schließlich ist ein ganzes Volk hauptsächlich auf die Feldpost-Liebe angewiesen. Manchmal gesteht Wamsler sich ein, daß er nur deswegen an seinem Schreibtisch ausharrt, weil ihn die Briefe Sepps, Florians, Michaels und neuerdings auch Stupsis – -48-
mindestens einen halben Tag früher erreichen: Lebenszeichen, die bereits bei der Aushändigung überholt sein können. Der alte Wamsler weiß auch, daß er im Todesfall die schlimmste Nachricht nicht in würdiger Form durch den Block- oder Ortsgruppenleiter erhalten würde, sondern schon vorher. Das hält er für notwendig, weil ihm dann Zeit bleibt, seine Frau schonend auf das Schlimmste vorzubereiten, falls ihn sein marodes Herz nicht vorher umbringt. Wamsler tritt ans Fenster, öffnet es einen Spalt, atmet durch. In seinem Personalakt steht, daß er fleißig, zuverlässig und strebsam ist, ein selbstloser Vater, ein gerechter Vorgesetzter und ein Untergebener, der es auch wagt, unsinnigen Anordnungen zu widersprechen. PG Wamsler gilt als der gute Deutsche schlechthin, als einer, der sich dagegen stemmt, so erbärmlich zu werden wie die Zeit, die ihm auferlegt ist wie eine Strafe. Die Kirchen sind jetzt voller als die Parteiversammlungen. Es wird gebetet und getötet, gebombt und gebangt, gehofft und gehamstert und – soweit es in die Zuständigkeit der ordentlichen Strafjustiz fällt geköpft, und zwar wie vom Fließband. Bei dem Postrat ist, trotz eigener Not und Sorge, das Mitgefühl für andere nicht verkümmert. Deshalb hat er sich auch so für Obermüller eingesetzt und ist dabei fast zu weit gegangen. Der Dienstverpflichtete war ihm als besonders tüchtig aufgefallen, ein Vorbild an Pünktlichkeit; er hatte bei Überstunden nicht gemeutert und war selbst bei der Weihnachtsfeier nüchtern geblieben, ein Musterknabe mit einem einzigen Laster – Obermüller war Kettenraucher. Der 56jährige hatte im Güterwagen gesessen und war nach Osten mit einem Umweg über Norden gerollt, als der Transport über Jüterborg von einem übereifrigen Polizisten angehalten und Obermüller von dem Volkssturmbataillon unter dem Verdacht verhaftet wurde, bei seiner Arbeit an der Paketsammelstelle zwei Zigaretten aus einem Feldpostpäckchen an einen Soldaten -49-
an der Front gestohlen zu haben. Er war geständig, kam vor ein Sondergericht, wurde zum Tode verurteilt und wartete jetzt in der Strafanstalt Brandenburg auf seine Hinrichtung. Wäre von Obermüller das ganze Zigarettenpäckchen gestohlen worden, hätte Postrat Wamsler für ihn keinen Finger gerührt, aber für zwei Zigaretten so gräßlich enden zu müssen, ging gegen sein Gerechtigkeitsgefühl. Er war erfolglos in der Verhandlung als Leumundszeuge aufgetreten und hatte – mit Erfolg – seinen mittelbaren Vorgesetzten, den Vizepräsidenten, nach der Verurteilung bestürmt, beim Reichsjustizministerium in Berlin für eine Begnadigung Obermüllers einzutreten. Gerne hatte es der stellvertretende Amtschef nicht getan. Zwar hielt auch er das Urteil für indiskutabel, doch wollte er sich nicht in die Belange der Justiz einmischen. Ein paarmal vergaß er es und mußte von Wamsler daran erinnert werden. Schließlich schrieb er tatsächlich nach Berlin, mehr dem Postrat zuliebe, der nunmehr dem Verurteilten in der Todeszelle mitteilte, daß alles getan würde, um seine Hinrichtung zu verhindern. Der kränkelnde Selbstlose sagte sich ganz einfach, daß keiner seiner Söhne den Kopf des armen Teufels fordern würde, wenn er ihm zwei Zigaretten unterschlagen hätte. Gewiß, eine solche Abhängigkeit vom Nikotin ist abscheulich – und ein anständiger Mensch stiehlt einfach nicht –, aber ein todeswürdiges Verbrechen ist das auf keinen Fall. 14 Uhr. Josef Wamsler schaltet den Volksempfänger ein, um die Nachrichten zu hören. Kein gutes Flugwetter heute. Zwar bombardiert die 8. US-Luftflotte Ziele in Dortmund, Bielefeld, Castrop-Rauxel, Soest und Gießen, aber wenigstens aus Italien fliegen heute keine Viermot-Bomber ein. Der Verteidiger Breslaus, General Hans v. Ahlfen, wird abgelöst und durch General Hermann Niehoff ersetzt. Gauleiter Hanke spricht über den Rundfunk zur kämpf enden Bevölkerung. Bei Lauban wurde der Frontbogen geschlossen. Die Division Großdeutschland -50-
schießt in Ostpreußen bei Zinten 20 Sowjetpanzer ab. Die Luftwaffe zerstört eine russische Brücke über die Oder. In Ungarn bleibt an der Dräu ein deutscher Angriff nach vier bis sechs Kilometern Geländegewinn stecken. In einem Blitzfernschreiben teilt das OKW der Heeresgruppe Weichsel mit: »Der Führer hat befohlen: Wer in Gefangenschaft gerät, ohne verwundet zu sein oder ohne nachweisbar bis zum Äußersten gekämpft zu haben, hat seine Ehre verwirkt. Die Gemeinschaft der anständigen und tapferen Soldaten stößt ihn von sich. Seine Angehörigen haften für ihn. Jede Zahlung von Gebühren und Unterstützungen an die Angehörigen fällt fort. Dies ist sofort bekanntzugeben. Das Nähere regelt der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, gez. Keitel, Generalfeldmarschall.« Der Postrat schaltet das Gerät ab. Er darf gar nicht auf die Landkarte sehen: Wenn in Breslau und in Ostpreußen gekämpft wird, aber auch schon in Köln und an der Oder auf der Höhe von Berlin, kann er sich ausrechnen, wie miserabel die militärische Lage sein muß. Dabei denkt er natürlich zuerst an seine Kinder: In Italien steht die Front, und so ist vermutlich wenigstens Michael nicht besonders gefährdet. Florian liegt verwundet im Bonner Lazarett. Schlimmstenfalls könnte er in USKriegsgefangenschaft geraten. Schlimmstenfalls? Vielleicht hat er bald ausgesorgt, sagt sich der Postrat, weil der Junge und das Nesthäkchen von den Anglo-Amerikanern gefangengenommen werden. An den Ältesten darf er nicht denken: die russische Front ist wohl die übelste von allen – dafür hat aber Sepp auch die längste Kriegserfahrung. Wenn einer vier Jahre überstanden hat, wird er vielleicht auch noch weiterhin durchkommen. Seine Kinder stehen ihm natürlich viel näher als der Zigarettendieb – und sind trotzdem schuldlos vom Tod bedroht –, aber Wamsler kommt von dem Gedanken an Obermüller, diesem armen, einsamen Hund, heute einfach nicht los – -51-
vielleicht ahnt er, was sich zur Stunde in der Strafa nstalt Brandenburg abspielt. Hinrichtungstag: 18 Verurteilte sind an der Reihe. Junge und Alte. Deutsche und Ausländer. Schwarzhörer, Schwarzschlächter und Schwarzseher, Verdunklungsdiebe und sonstige Volksschädlinge aller Art. Die Delinquenten stehen in einer Reihe. Für den Pfarrer ist pro Häftling eine Minute eingeplant. Wenn einer von ihnen auf geistlichen Beistand verzichtet, kommt dem anderen die eingesparte Zeit zugute. Ordnung muß sein bei der laut preußischem Strafvollstreckungs-Gesetz vom 1. August 1933 § 4, Absatz II ›ernstesten staatlichen Hoheitsbetätigung‹. Darüber wacht schon der Oberstaatsanwalt, der als Zeuge den Hinrichtungen beiwohnen muß, ein Mann mittleren Alters mit unsicheren Augen in einem blassen Gesicht. Der Ankläger wirkt in seinem dunklen Anzug, als trauere er um sein verschüttetes Gewissen. Es geht rasch. Die 18 Verurteilten sollen nicht unnötig leiden. Bevor man sie einzeln in den Schuppen führt, werden ihnen auf die Stirn und auf die Brust jeweils die gleiche Zahl gestempelt, damit es hinterher nicht zu Verwechslungen kommt und der Kopf eines Zigarettendiebs mit dem Rumpf eines Schwarzhörers weggeschafft wird. Der Henker ist vom Fach; je schneller er arbeitet, desto humaner ist er. Im September 43 sollte er in der Strafanstalt Plötzensee in Berlin 300 Verurteilte hintereinander enthaupten, doch bei der 186. Hinrichtung machten der Scharfrichter und seine Gehilfen schlapp: 114 Todeskandidaten mußten noch einen Tag länger auf den Henker warten – es war eine Lebensverlängerung ohne Gnade. Die meisten Delinquenten sind ruhig, gefaßt. Der erste ist ein Lette, der zweite ein Pole, der dritte ein Sachse. Es geht ruckzuck, obwohl das Blut in Gefäßen aufgefangen wird, um im -52-
Bedarfsfall Verwundete zu retten. Die Gehilfen packen den Mann, werfen ihn auf das Brett. Der Henker betätigt den Knopf. Sowie der Kopf in die blutigen Sägespäne fällt, knallen die Holzpantinen mit großem Krach von den Füßen des Enthaupteten, und der Nächste weiß, daß jetzt er an der Reihe ist. Gregor Obermüller aus Münche n. Keine Henkersmahlzeit. Nur noch ein schnelles Vaterunser. Auch keine letzte Zigarette. Zigaretten erhalten als Sonderzuteilung nur die Gefängniswärter, damit sie ihr schweres Amt durchstehen können. Wieder heulen die Sirenen in München. Voralarm. Vielleicht greifen die fliegenden Festungen auch heute noch an. Die Amerikaner kommen immer am Tag, die Engländer bei der Nacht. Es ist kein Zufall: Die Yankees greifen Punktziele an, Ölraffinerien und Hydrierwerke: Ziele kann man nur treffen, wenn man sie sieht. Bomber-Harris, der Gegenspieler des USGenerals Eaker, von seinen Besatzungen auch ›the butcher‹, der Schlächter, genannt, ist anderer Auffassung: Wenn seine Pulks bei Nachtangriffen die Werkshallen der Fabriken nicht treffen, sollen sie wenigstens ihre Arbeiter und deren Familien – töten. Flächenbombardement nennt sich diese Version der Massenvernichtung, Coventrierung in Germany. Auf der Erde mahlen die KZ-Todesmühlen, vom Himmel rauscht der Bombentod – das christliche Abendland ist auf den Mord gekommen. Das Telefon reißt den alten Wamsler aus düsteren Überlegungen. »Besuch für Sie, Herr Postrat«, meldet der Portier. »Wer?« fragt der Beamte. »Lassen Sie sich überraschen, Herr Postrat«, entgegnet der Mann, und das ist in jedem Fall eine unkorrekte Antwort, die der Karrierebeamte bei Gelegenheit rügen muß – doch soweit wird es niemals kommen, denn der Eintretende ist Sepp. -53-
Sein Ältester, in Uniform, direkt von der Ostfront. Auch Freude kann töten. Beide Hände des Postrats fahren mechanisch an die Brust, wo das Herz sitzt. Eine Bewegung, keine Krise, auch wenn Vater Wamsler keine Luft bekommt und sich aus der Umarmung nicht löst, damit der Bub seine Tränen nicht sieht. Er will das Weinen unterdrücken, aber es wird nur schlimmer. Der Einbeinige keucht, schluc hzt, lacht, fährt sich mit dem Taschenbuch über das nasse Gesicht, versucht zu sprechen, zu fragen, schafft es nicht, bis Sepp ihn fragt: »Wo ist Mutter? Wie geht es ihr?« »Bei ihrer Kusine Anna, am Land. Deine Mutter nimmt sich unheimlich zusammen«, beric htet der Mann, der sich wieder gefangen hat. »Sie ist ... ja, richtig tapfer ist sie.« »Totalschaden«, erwidert Sepp: »Mutter hing doch so an jedem Stück.« »Kein Wort der Klage«, erklärt der Vater. »Nicht eines. Du wirst es nicht glauben, Sepp, Mutter sagt, daß sie auf den Plunder gerne verzichtet, wenn nur ihre Kinder wieder nach Hause kommen.« Der Offizier nickt. Kein schlechter Handel. Sein Lächeln gerinnt zur Grimasse. »Du bist älter geworden, Bub«, stellt der Vater fest. »Mußt viel mitgemacht haben. Hast du Urlaub?« »Nein, nur eine Fahrtunterbrechung.« »Wie lange?« fragt der Alte ängstlich. »Zwei, drei Tage höchstens.« Jetzt erst sieht der Postrat, daß sein Ältester die Schulterstücke eines Majors trägt: »Du bist befördert worden«, sagt er. »Gratuliere.« »Das kannst du dir sparen, Vater. Der Krieg wird bald aus sein.« »Die Wunderwaffen?« -54-
»Der Zusammenbruch«, erwidert Major Wamsler hart. Der Postrat sieht, daß sich sein Primus verändert hat: das eingefallene Gesicht, Augen, die in Abgründe gesehen haben müssen. »Mein Gott«, sagt der alte Mann, »warum kämpft ihr denn dann noch?« »Weil niemand diesen Schweinehund umlegt«, antwortet der Major bitter. »Wen meinst du damit?« fragt der Postrat erschrocken. »Den Führer«, entgegnet sein Ältester, ohne die Stimme zu dämpfen, »wen denn sonst?« »Das sagst ausgerechnet du? Warst du nicht noch am 20. Juli empört über das Attentat in der Wolfsschanze?« »Zwischen dem 20. Juli und heute liegen Welten«, erwidert der 28jährige, »... und Einsichten – aber laß uns von etwas anderem sprechen, Vater«, bittet er und zündet sich eine Zigarette an. Der Alte bemerkt erstmals, daß Sepps Hand zittert. »Wie geht es Eva?« fragt der Sohn. »Eva? Hat sie dir nicht geschrieben?« »Ich hab’ seit sechs Wochen außer deinem Telegramm keine Feldpost erhalten«, antwortet der Major. »Ich war in einem Spezialeinsatz und ...« »Du wirst dich wundern«, entgegnet der Postrat und greift nach dem Hörer, um die Laborärztin im Luftwaffenlazarett München-Oberföhring anzurufen. »Nein, nein, Vater«, stoppt ihn der Major. »Wir fahren zu ihr hinaus. Du kannst dich doch freimachen?« Der Offizier hat einen Wagen mit Fahrer. »Für Kriegshelden gibt’s wohl noch alles?« fragt der Postrat mit deutlichem Stolz. Sepp nickt zerstreut. »Paß auf, Vater«, sagt er. »Wir haben wenig Zeit, wir fahren jetzt zu Eva und nehmen sie mit zu Mutter. Dort bleiben wir über Nacht, und bis morgen früh -55-
müssen wir uns einig sein.« Der Alte will ihn unterbrechen, aber der Primus spricht rasch weiter: »Ich hab’ immer auf dich gehört. Ich war dir doch ein guter Sohn.« »Der Beste von allen«, bestätigt der Vater und setzt hastig hinzu: »Das spricht aber nicht gegen Florian oder Michael ...« »Ich weiß«, versetzt der Major, und diesmal ist sein Lächeln nicht unterschleifig. »Ich verlange von dir, daß du jetzt einmal – ein einziges Mal – auf mich hörst.« Der Postrat nickt ohne Nachdruck, er weiß schon, was kommen wird. »Ich möchte, daß du unverzüglich einen Antrag auf sofortige Pensionierung wegen Krankheit unterschreibst. Ich werde die Genehmigung in Rekordzeit durchpauken. Du wirst aus deinem Ruinenkeller ausziehen und Mutter nicht nur am Wochenende besuchen. Du wirst künftig nichts anderes tun, als dich um unsere Mutter zu kümmern, sie abzuschirmen das ist eine gewaltige Aufgabe ... und«, sagt er und sieht an dem Alten vorbei, »eine wunderschöne dazu.« »Das will aber überlegt sein«, weicht ihm der Postrat aus. »Sicher, bis morgen früh.« Der Major, der Panzer für die Schlacht um Berlin organisieren soll, weiß, daß es nicht leicht sein wird, Vater herumzukriegen, aber mit Mutters und Evas Hilfe muß er es schaffen. Eva ist Jugendfreundin, Nachbarskind, Schulkameradin, Tanzstundenpartnerin und seine Verlobte. Sepp liebt sie und sie liebt ihn. Da gibt es keinen Zweifel. Fraglos passen sie auch ausgezeichnet zueinander. Trotzdem können die Königskinder nicht zueinander kommen; der Strom, der sie trennt, ist der Krieg. Solange der Major nicht weiß, ob und in welchem Zustand er ihn überleben wird, möchte er die junge Medizinerin nicht an sich und sein Schicksal binden. Eva stimmte ihm im letzten Urlaub Weihnachten 44 sogar zu, wenn auch ohne Überzeugung; Frauen werden eben mehr vom Gefühl beherrscht -56-
als Männer, aber Männer müssen einfach weiterdenken. Der junge Offizier mit der pergamentfarbenen faltigen Haut ist noch gar nicht richtig hier, irgendwie noch immer der Ostfront näher als seiner Heimatstadt. Der Vater hat es längst erfaßt, doch beruhigt denkt er: Eva wird es schon schaffen. Sie ist prächtig und tüchtig, lebensfroh und wunderschön, die ideale Schwiegertochter. In einem Luftwaffenlazarett öffnen sich auch für einen Heeres-Major mit dem Ritterkreuz alle Türen. Zwei knappe Telefongespräche, ein kurzer Höflichkeitsbesuch beim Chefarzt: Wünsche werden machbar und sofort erfüllt. Eva stürmt heran im weißen Ärztekittel, und als sie sich an Sepp schmiegt, ist dem Offizier die Isar auf einmal doch sehr viel näher als die Oder. »Mein Gott, freue ich mich«, sagt Eva, sie trägt die Haare halblang, hat große, grüngraue Augen. Wenn sie lächelt, zeigt sie ebenmäßige Zähne und niedliche Grübchen. »Du bist noch hübscher geworden, Fräulein Doktor«, stellt der Dauerverlobte fest und hält sie so weit von sich, daß er sie genau betrachten kann. »Vielleicht etwas fülliger, aber das steht dir wirklich ausgezeichnet.« »Meinst du?« fragt Eva. Es sind ein paar Leute im Raum, aber die junge Ärztin sieht nur Sepp und er nur sie. »Hast du meinen Brief nicht erhalten?« fragt sie. Der Offizier schüttelt den Kopf. »Dann«, fährt Eva fort und lächelt auf eine bestimmte Art, die er zunächst nicht zu deuten versteht, »muß ich dir sagen, was in meinem Brief steht: Ich, wir«, sagt sie, »na, zunächst einmal ich – ich erwarte ein Kind.« Im ersten Moment wirkt Sepp eher bestürzt als erfreut, aber das hat die junge Ärztin vorausgesehen. »Und du wirst ein verführtes Mädchen doch nicht sitzen -57-
lassen«, sagt sie vor allen Leuten. »Oder?« »Blitztrauung«, erwidert er. »Wenn’s geht heute noch.« Viel mehr Zeit hat der Major auch nicht dafür, aber das sagt er nicht, ohnedies zieht sein Vater die Aufmerksamkeit aller auf sich: Der Postrat lacht, daß ihm die Tränen über das Gesicht laufen, zum ersten Mal seit langer Zeit. Eingehüllt in einen schmutzfarbenen Rauchvorhang ächzt und zittert die Eisenbahnbrücke von Remagen, doch sie steht noch. Es ist jetzt 15 Uhr 31. Die Vorhut der 9. US-Panzerspitze, geführt von Leutnant Timmermann, feuert aus allen Rohren aus kürzester Distanz. Das Abwehrfeuer der Verteidigerwirkt dünn, unkonzentriert. Die Sprengköpfe von zwei Panzerfäusten knallen im hohen Bogen ins Wasser und krepieren, ohne Schaden anzurichten. Am gefährlichsten ist noch das MG-Feuer aus den Brückentürmen. Die ›Shermans‹ nehmen sie unter Beschuß: Das vordere SMG fällt sofort aus. Aus der zweiten Stellung kommen die Infanteristen mit erhobenen Händen. Orangefarbene Aufschlagblitze verwandeln sich in pechschwarze Rauchpilze, hinter denen die Erpeler Ley verschwindet. Eine letzte MG-Stellung auf dem rechten Rheinufer bestreicht die Brücke mit Leuchtspurmunition. Der Tod illuminiert sich. Einige Versprengte, die nic ht mehr rechtzeitig über die Brücke kamen, liegen im Schnittpunkt des Feuers auf dem Stahlkoloß zwischen den Linien. Sie ergeben sich mit gestreckten Händen, gehen zuerst pomadig, dann, als sie sehen, daß sich die Amis um sie nicht kümmern, so schnell sie laufen können, auf das Remagener Ufer zurück. Ob sie es erreichen oder nicht, für sie ist der Krieg aus – so oder so. Für die ›Shermans‹ muß die Eisenbahnbrücke erst passierbar gemacht werden, aber die Jeeps und der Schützenpanzerwagen schaffen es vielleicht, wenn auch ein wenig langsamer als die -58-
Infanteristen. »Let’s go, boys«, treibt Leutnant Timmermann seine Leute an. Sie hetzen so schnell es geht, und doch erleben sie das Geschehen wie in Zeitlupe. Durch Sprechfunk werden zwei weitere Züge auf die Brücke beordert, aber das Gros liegt noch weit zurück und kann frühestens in einer halben Stunde an der vorgezogenen Kampflinie auftauchen. Und diese dreißig Minuten müssen die Angreifer erst einmal überleben. Sie sind genauso unvorbereitet auf den Kampf um den Rheinübergang an dieser Stelle wie die Verteidiger. Es stand auf beiden Seiten fest: Wenn die Alliierten über den Strom, das letzte natürliche Hindernis, nach Germany gehen, dann mit Sicherheit an anderer Stelle, dort, wo der Fluß breiter und das Ufer flacher ist, wo man nicht erst Höhenzüge und Steilufer nehmen muß und jeder Meter Boden bar mit Blut zu bezahlen ist – aber General Zufall verfolgt an diesem Tag eine andere Strategie. Der erste auf der Brücke ist der Gefreite Alex Drabik, der kräftige Schlächtergeselle aus Ohio; er läuft wie eine Maschine. Knapp hinter ihm der Gefreite Artus Massie, dann der Sergeant Anthony Samele, gefolgt vom Sergeanten Mike Chinar und dem Sergeant Joseph Delisio. Einer hinter dem anderen, gedeckt von den abwartenden Sherma ns am Westufer. Aus der Entfernung sieht die Vorhut der 9. US Army aus wie eine mächtige Mahalla, aber noch ist die Einheit ganz auf sich gestellt und weiß nicht, daß die Deutschen am anderen Ufer noch schwächer auf der Brust sind, da der Oberbefehlshaber im Westen, Gerd v. Rundstedt, im Raum von Köln-Düsseldorf den alliierten Rheinübergang erwartet und dort seine – minimalen – Reserven bereit hält. Einer der Amerikaner wird verwundet, bleibt liegen. Die Nachfolgenden kümmern sich um ihn. Bis auf die Fahrer sind alle Soldaten von den Schützenpanzerwagen abgesprungen. Der Kampf um die unversehrte Rheinbrücke ist einer der seltenen -59-
Momente, in denen selbst amerikanische Infanteristen zu Fuß gehen. Sie haben abgeschaltet, sind wie losgelöst von ihrem persönlichen Schicksal. Ihr Denken und Fühlen, Hoffen und Bangen konzentriert sich auf den Uferstreifen. Sie keuchen mit stechenden Lungen vorwärts, ihre Körper drücken schwer auf die Kniekehlen, der Puls wird laut, eine Stoppuhr, die ihnen die vermutlich letzten Sekunden ihres Lebens vorrechnet. Das deutsche MG-Feuer ist auf einmal verstummt. Die Angreifer müssen nachladen. Einen Moment lang ist es still, unheimlich still. Eine Hauptkampflinie wird zum Friedhof. Nur in weiter Ferne hört man dumpfe Granateinschläge. Auf dem rechten Ufer hasten ein paar deutsche Soldaten durcheinander. Sie schießen nicht und werden nicht beschossen. Weder Angreifer noch Verteidiger wollen Zeit verlieren. Zehn, fünfzehn GIs jagen auf das andere Ufer zu. Noch 150 Meter, vielleicht noch 100. Die Panzerfahrzeuge feuern über ihre Köpfe hinweg. Jetzt greifen von der Erpeler Ley herunter leichte deutsche Geschütze ein. Die Aufschläge sitzen vor und hinter den Yankees. Die GIs taumeln, hetzen, keuchen vorwärts. Keine Luft mehr in den Lungen. Seitenstechen, und das Ziel ganz knapp vor Augen. Daß sie den Slalomlauf mit dem Tod noch immer überlebt haben, können sie nicht begreifen. Die Krauts am anderen Ufer müssen unheimlich gute Nerven haben, wenn sie die Brücke auch jetzt noch stehen lassen. Aber jetzt, in der nächsten Sekunde, in der übernächsten vielleicht, oder bei den letzten zehn Metern muß das Scheißding hochgehen, mit den GIs im Battledress, die sich von Omaha Beach in der Normandie bis hierher durchgekämpft haben, um am deutschen Vater Rhein zu sterben. Hauptmann Friesenhahn zündet vom Erpeler Tunnel aus das elektrische Kabel. Er zählt: 70, 71, 73, 75. Noch immer keine Detonation. Und die Amerikaner schon ganz nahe am anderen Ufer! Der Reserveoffizier muß begreifen, daß die Zündung der -60-
Sprengung – warum auch immer – versagt hat. Friesenhahn versucht den Gefechtslärm zu überschreien. Er schafft es nicht, aber Major Scheller hat längst die Panne erfaßt. »Schnellsprengung!« befiehlt er seinen Männern. »Los! Höchste Eisenbahn! Die Amis sind schon auf der Brücke!« Eine Panzergranate muß die Zündschnur durchschlagen haben, aber es gibt noch ein Reservekabel. Als Freiwilliger versucht Unterfeldwebel Faust, das Verhängnis abzuwenden. Er muß durch das aufkommende massive Feuer der Angreifer hetzen. Sie feuern aus allen Rohren, als wüßten sie, welche Gefahr von dem Unterfeldwebel für sie ausgeht. Der Mann schafft es, kommt sogar heil zurück, meldet, daß das Reservekabel gezündet hat. Die Männer um Major Scheller heben den Kopf knapp aus der Deckung, um die Explosion zu verfolgen. Die Brücke schwankt deutlich. Die Träger heben sich ein wenig von den Stützpfeilern, wie ein halbflügger Vogel, der noch nicht von der Erde wegkommt, auch wenn er heftig mit den Flügeln schlägt. Auch die Schnellsprengung hat versagt, aber der Kampfkommandant gibt noch nicht auf. Er versucht, mit geballten Ladungen die Brückenpfeiler wegzusprengen, aber die Amis sind bereits am anderen Ufer und vermehren sich unheimlich schnell. Spezialisten kümmern sich um die Sprengladungen, reißen sie heraus. Andere drängen gegen den Tunneleingang vor. Sie begreifen, daß sie überlebt haben und sind nicht mehr aufzuhalten. Auf der Brücke schuftet bereits ein Kommando, um sie für die ›Shermans‹ passierbar zu machen. Schon tastet sich der erste Kampfwagen mit dem weißen Stern vorsichtig auf das östliche Ufer zu, dessen Verteidiger nur noch aus Versprengten bestehen. Die Pioniere haben keine Chance mehr. Sie türmen, nach -61-
einem letzten Gegenangriff, ziehen sich in die 380 Meter lange Unterführung zurück, wo Hauptmann Bratge neben dem lecken Benzinwagen die Geheimpapiere verbrennen läßt. Das Feuer züngelt auf die Benzinlache zu. Die Zivilisten protestieren und brüllen wild durcheinander. »Sie haben doch nicht alle Tassen im Schrank!« ruft ein Eisenbahner und packt den Hauptmann am Arm, schüttelt ihn: »Sie sind wahnsinnig, räuchern uns hier aus wie ein Wespennest!« Die anderen treten drohend näher; es sieht aus, als wollten sie Bratge durch die Mangel drehen. Der Hauptmann zuckt die Schultern, verfolgt, wie die Flammen breit und gefräßig die Geheimen Kommandosachen verbrennen; er hat seinen Befehl ausgeführt. Der Gefreite Wamsler beugt sich über den geretteten Elias. Zusammen mit Uscha Baldauf hat er ihn von der Brücke bis zum Ostausgang des Tunnels geschleppt. Hier ist er wenigstens vor den Jabos sicher. »Gleich wirst du versorgt, Prophet«, tröstet der Münchener den Geborgenen und sucht unter den Zivilisten einen Samariter. »Ist denn hier kein Arzt?« fragt Wamsler. »Da ist ein Verwundeter, der dringend Hilfe braucht.« Fehlanzeige. Und jeder muß schließlich sehen, wie er selber weiterkommt. Die ersten Zivilisten flüchten aus dem Tunnel. Gleich werden die Amerikaner hier sein, aber so schnell können sie vermutlich nicht laufen, wie die ›Shermans‹ rollen. Das Gedränge im Unterstand lichtet sich. Man kommt wenigstens wieder durch. Die Frage ist nur: Soll man den linken Ausgang wählen oder den rechten? Links stehen die Amis und rechts vielleicht die Feldgendamerie auf der Suche nach Abschreckungsopfern. Hauptmann Bratge und Hauptmann Friesenhahn entscheiden sich für das Ende des Tunnels, auf das die Amis zustürmen. Vom plötzlichen Licht geblendet, sehen sie benommen um sich, -62-
erkennen die Eroberer und heben die Hände. Leutnant Timmermann deutet nur mit dem Daumen über die Schulter, und das heißt, daß die beiden Offiziere, die die Brücke nicht sprengen konnten, Prisoners of war sind, PoWs, Kriegsgefangene. Es wird ihnen das Leben retten. Die US-Vorhut hält jetzt schon ein paar hundert Meter Uferstreifen besetzt, fast widerstandslos errungen. Die Amerikaner stießen weder auf eine ausgebaute Stellung noch auf eine systematische Defensive. Noch immer ist ihnen nicht klargeworden, daß ihnen rechts des Rheins an diesem und den nächsten Tagen nichts gegenüberstehen wird als Verwundete, Versprengte, flüchtende Zivilisten, umherirrende Kühe und ein General ohne Truppe und weiter hinten Truppen ohne Führung. Jedes Haus, jeder Stein, jedes Loch, jeder Fußbreit Boden muß ›bis zum letzten Blutstropfen‹ verteidigt werden, aber als Ergebnis von Hitlers ›Korporals-Strategie‹ aus dem Ersten Weltkrieg (F. W. v. Mellenthin) steht das Tor nach Germany weit offen, einladend, ungesichert. Zwar harren auch im Westen Soldaten noch in der Stellung aus, bis sie fallen, aber noch mehr Verteidiger treten rechtzeitig den Rückzug an oder begeben sich in Gefangenschaft. Sie kämpfen auch nicht mehr auf gegnerischem Gebiet, wo sie weniger Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen müssen, sondern im eigenen Land. Die Menschen bestürmen sie in ihrer Mut tersprache, sich zurückzuziehen und nicht durch sinnlose Verteidigung den totalen Untergang herauszufordern. Endlich hat der Gefreite Wamsler einen Helfer aufgetrieben, keinen Arzt, aber immerhin einen Sanitätsfeldwebel. »Was gibt’s?« fragt der Portepeeträger wenig erfreut, weil er sich gerade in Sicherheit bringen will. Wamsler führt ihn zu dem Verwundeten. Der Samariter kniet neben dem Propheten nieder, betrachtet das Gesicht, hebt die -63-
Augenlider von Elias. »Die Mühe hätt’ste dir sparen können, Kumpel«, brummelt der Mann und steht wieder auf, »der ist doch längst hinüber.« Er holt die Erkennungsmarke an der Schnur um den Hals des Propheten heraus, bricht sie auseinander. »Der hat’s überstanden«, sagt der kalte Samariter. »Scheiße«, erwidert Baldauf. »Komm!« erwidert Wamsler, »tragen wir Elias wenigstens hinaus.« Als sie den Propheten aufheben, fällt etwas zu Boden: der Überlebenskalender. Wamsler hält ihn unschlüssig in der Hand. Ein einziges Fenster ist aufgestoßen. Er will das Seelenspielzeug seines Kumpels zuerst wegwerfen, besinnt sich dann anders und klemmt sich den Kalender unter den Arm. Die Idee war ja nicht schlecht, nur nützen Ideen wenig, wenn man von einer ganzen MG-Garbe erfaßt wird. Sie setzen den Toten neben vier anderen ab. Wamsler steht einen Moment unschlüssig herum, als überlege er, ob er ein ›stilles Vaterunser‹ sprechen oder gleich flitzen soll. »Seht bloß, daß ihr wegkommt«, fordert sie eine couragierte Ortsbewohnerin auf. »Die kriegen schon ein christliches Begräbnis, verlaßt euch drauf – aber wenn ihr noch lange ’rumsteht, könnt ihr euch gleich danebenlegen.« »Und jetzt?« fragt Baldauf den Leithammel. Sie waren als Sammeltransport in Remagen in Marsch gesetzt worden – ein Oberfeldwebel und 35 Mann. 27 sind angekommen, der Oberfeldwebel und elf andere aber inzwischen gefallen. Die Überlebenden, ausnahmslos Verwundete und in einer Verfassung, die sie für das Lazarett geeigneter macht als für eine zerbrochene Front, haben keinerlei Marschpapiere, und das kann tödlicher sein als der Feind. »Klar«, sagt der Gefreite Wamsler aufatmend und tippt sich -64-
an die Stirn. »Wir gehen nach Linz – das nächste Städtchen. Das schaffen wir zu Fuß, und da muß es ein Lazarett oder ein Krankenhaus geben. Dort melden wir uns als versprengte Verwundete – sollen die sich doch den Kopf zerbrechen, was aus uns wird.« »Wamsler befiehl, wir folgen dir«, sagt der sture Adamsky grinsend. »Wo er recht hat, hat er recht«, erwidert Raschke hüstelnd, und so folgen sie dem Ex-Leutnant. Hunderte sind unterwegs, beinahe ziellos, grobe Fluchtrichtung Westen. Einer von ihnen ist der gescheiterte Kampfkommandant von Remagen, Major Scheller. Er muß schnellstens seinen General v. Hitzfeld finden, um ihm Bericht zu erstatten und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Die Brücke darf nicht stehenb leiben, das ist klar. Unklar aber ist, wo sich der Kommandierende des 67. Korps aufhält, das vielleicht schon gar nicht mehr existiert. Wer fragt, geht fehl, wer nicht fragt, auch. Jede Stunde ist kostbar. Aber der Major aus Landshut wird noch lange brauchen, bis er seinen Chef eher zufällig wiederfindet. Die überfüllten Straßen sind verstopft. Bauern fangen ihr Vieh, Feldgendarmen die Versprengten ein. Sie greifen sich einfach aus dem Menschenbrei Uniformierte heraus für Alarmeinheiten der ersten Stunde, die den Brückenkopf bereinigen sollen und auseinanderlaufen, sowie die Kettenhunde wieder außer Sicht sind. »Was meint ihr, wie oft die noch eingesammelt werden wie Fallobst?« fragt der Gefreite Wamsler. »Das ist doch völlig idiotisch.« »Lieb Vaterland, magst ruhig sein«, blödelt Adamsky. »Fest steht und treu die Wacht am Rhein.« Raschke, der Gefreite mit dem Lungensteckschuß, betrachtet fassungslos das militärische Narrentreiben. »Der Führer wird -65-
sich kratzen«, stellt er fest. »Da hat er seine Edelgermanen«, sagt Uscha Baldauf. »Die letzten Goten, bloß viel schlapper.« Alle vier haben ein paar Jahre Krieg auf dem Buckel und stammen aus Eliteeinheiten, und dieses Elend kotzt sie noch immer an: Daß der Krieg in den Graben geht, damit rechnen sie mindestens seit Monaten, aber doch nicht wie ein Leichenbegängnis fünfter Klasse! Sie werden wieder kontrolliert und auch dieses Mal durchgelassen. Kurz vor Linz nimmt sie ein Holzvergaser mit, aber vor dem idyllischen Städtchen steht das nächste Auffangkommando der Feldgendarmerie, geführt von einem Offizier. »Ihr habt wohl schon demobilisiert, ihr Kriegerverein«, empfängt er sie breitbeinig und mit umgehängter MP. »Sie sehen doch, Herr Oberleutnant, daß ich den Arm in der Schlinge habe«, erwidert Jung-Siegfried bockig. »Ich bin verwundet, Schußbruch.« »Wenn das der Truppenarzt nicht bestätigt, dann haben Sie den Kopf in der Schlinge«, kontert der Offizier zynisch. Er gibt zwei Kettenhunden einen Wink. Sie führen die Heldenspätlese ins Schulhaus ab, wo eine Sanitätseinheit ein provisorisches Quartier aufgeschlagen hat. Sie müssen Schlange stehen; dann werden ihnen die Verbände abgenommen. Ein Stabsarzt mit einem jungen Gesicht und grauen Haaren wirft nur einen flüchtigen Blick auf Wamsler, Raschke, Adamsky und den Uscha Baldauf: »Schon in Ordnung, Oberfeldwebel«, sagt er zu dem Anführer der Kettenhunde. »Das sind Verwundete und keine Drückeberger.« Wamslers Wunde am rechten Oberarm sieht schlimm aus; sie wird gesäubert. Der Arzt betrachtet die eiternde Schußbruchverletzung, schüttelt den Kopf. »Wie das ausschaut«, fährt ihn der Mediziner an. »Mit sowas läuft man -66-
doch nicht durch die Geographie«, schimpft er. »Wenn Sie weiter so unvernünftig sind, verlieren Sie noch Ihren Arm, und wenn wir die Infektion nicht abfangen können, noch viel mehr. Wo kommen Sie denn her, Mann?« »Von der Brücke von Remagen. Die Amerikaner haben sie gerade überschritten und werden sicher bald hier sein.« »Mit so einem Arm legt man sich ins Bett und betet, daß alles gutgeht, statt hier herumzuturnen. Verstanden?« Wamsler möchte die Klappe halten, aber er schafft es nicht. »Das sollten Sie dem Oberfeldarzt Dr. Schlamm vom HeeresReservelazarett in Bonn sagen«, erwidert er dann. »Der hat uns an die Front geschickt. Mich und noch ein paar Dutzend andere.« »Blödian«, entgegnet der Stabsarzt und läßt offen, ob er den Gefreiten Wamsler oder den Oberfeldarzt Dr. Schlamm meint. Bei den anderen drei sieht es nicht ganz so schlimm aus, aber doch noch schlimm genug, und Raschke müßte operiert werden, aber dazu braucht man eine Tiefdruckkammer. Längst hat das braune Regime auch die Militärmedizin durcheinandergebracht. Am beliebtesten sind beim OKW Ärzte, die bedenkenlos die Patienten hinausschicken. KV-Maschinen, der Mann im weißen Kittel als Heldenklau. So kämpft eine Division Magenkranker gleichzeitig gegen den Feind wie gegen die Krankheit ihrer Soldaten. Weißbrot nebst Heldentod. Noch übler ergeht es den GehörgeschädigtenBataillonen im Einsatz: Wenn Granaten einschlagen oder Bomben explodieren, stehen sie herum wie vergessen, statt sich in Deckung zu hauen, weil sie den Gefechtslärm nicht vernehmen. Die schlimmste Narretei ist die geplante Aufstellung einer Tripperdivision, in der Patienten mit Geschlechtskrankheiten als neue Geheimwaffe für Führer, Volk und Vaterland kämpfen sollten. Nach dem deutschen Sieg im Westen hatten die -67-
Gonokokken und Spirochäten gegen die feldgrauen Besatzer als eine Art Partisanen weitergekämpft. Lues-Erkrankungen waren um 170 und Gonorrhoe-Infektionen um über hundert Prozent angestiegen. Die Geschlechtskrankheiten waren kein typisch deutsches Problem; sie bedrohten alle anderen Armeen des Zweiten Weltkriegs, aber auf deutscher Seite wurden die Soldaten knapp, und einer dieser Scharfmacher mit dem Äskulapstab hatte nachgerechnet, daß ständig Soldaten in der Stärke von 17 Bataillonen wegen ihrer ›verbogenen Gießkanne‹ in Lazarettbehandlung sind. Er will aus ihnen eine kämpfende Division machen und sie gegen den Feind führen. Dr. Goebbels verhinderte den Wahnwitz bisher, weil er den schlechten Eindruck im Ausland fürchtete. »Ihr bleibt vorläufig hier«, entscheidet der silbergraue Stabsarzt. »Zumindest bis morgen – wir werden euch versorgen, und dann sehen wir –« Der Gefechtslärm unterbricht seine Worte. Der Geschützdonner am Brückenkopf hat sich verstärkt, und selbst das Rumpeln amerikanischer Panzermotoren ist bereits zu hören. Der erste alliierte Brückenkopf auf dem Ostufer des Rheins schwillt an wie ein Zeckenbauch. Die Amerikaner sind schon bis zum Erpeler Bahnhof vorgedrungen. Pioniere haben es geschafft, die Brücke wieder für Panzer befahrbar zu machen, und jetzt rollen die Kampfwagen zügig vorwärts, einer hinter dem anderen. Generalmajor William A. Hoge schlägt im Stationsgebäude seinen Gefechtsstand auf. Am Abend des ereignisreichen Tages kann er einen unerwarteten Landgewinn von drei Quadratkilometern – fast ohne Verluste verbuchen. Ein amerikanischer Rundfunkreporter spricht begeistert in sein Mikrophon: »Dieser Handstreich auf die Ludendorffbrücke hat -68-
der amerikanischen Nation den Verlust von mindestens 5000 Toten und 10000 Verwundeten erspart.« So denken nicht alle Amerikaner. Einige Generalstabsoffiziere neigen dazu, die Zufallsgabe für ein Danaergeschenk zu halten. Der rheinische Karneval ist längst vorüber, aber es ist, als zöge sich der eine oder andere Befehlshaber noch eine Narrenkappe über den Stahlhelm. General Courtney H. Hodges meldet seinem Oberbefehlshaber Bradley: »We’ve gotten a bridge, Brad.« »What did you say?« fragt der General überrumpelt. »A Rhinebridge, undestroyed«, erwidert Hodges. »Wonderful«, sagt der Kommandeur hocherfreut, »congratulations.« Er gibt die Meldung an sein Hauptquartier in Reims weiter. Dort ist Dinner-Time. General Eisenhower hat die Korpsund Divisionskommandeure seiner Luftlandetruppen zum Abendessen eingeladen. Er wird ans Telefon gerufen und geht in den Nebenraum. Bradley meldet mit Stolz, daß seine Truppen fast unblutig eine intakte Rheinbrücke erobert hätten und als erste Amerikaner Deutschland rechts des Rheins betraten. Auch Eisenhower läßt sich die Meldung wiederholen. Er hatte mit Omar Bradley längst die Möglichkeit erörtert, daß sie in den Besitz einer unzerstörten Rheinbrücke gelangen könnten, sich jedoch gehütet, auf diesem Wunschdenken strategische Pläne aufzubauen. »Brad«, fragt Ike erregt, »wie viele Leute haben Sie zur Hand?« »Vier Divisionen«, erwidert Bradley. »Aber ich wollte mich vergewissern, ob ich Ihre Pläne nicht durcheinanderbringe, wenn ich meine Soldaten über den Rhein werfe.« »Bringen Sie auch noch den letzten Mann auf das Ostufer«, -69-
befiehlt der Fünf-Sterne-General auf dem Kreuzzug gegen Europa. Er geht zu seinen Offizieren in das Speisezimmer zurück. Seine Tischgäste werden von seiner Begeisterung mitgerissen. Einstimmig gratulieren sie einander zum baldigen Kriegsend e. »Das war einer der Augenblicke des Krieges«, schreibt Eisenhower in seinen Memoiren, »in denen ich wirklich von Herzen froh war. Im Krieg lassen sich Erfolge größeren Maßstabes gewöhnlich schon tage- oder wochenlang vorhersagen. Dieses Ereignis kam aber völlig unerwartet. Wir waren über den Rhein, wir hatten eine Brücke, der traditionelle Verteidigungsriegel des deutschen Mutterlandes war durchbrochen. Wir hatten schon seit langem damit gerechnet, daß der endgültige Zusammenbruch des Feindes während der Frühjahrs- und Sommerfeldzüge des Jahres 1945 erfolgen würde. Aber plötzlich sah es nun so aus, als stünde der Sieg unmittelbar vor der Tür.« Die Sensation verbreitet sich auf der Alliiertenseite wie ein Lauffeuer, aber der Chef der Operationsabteilung, Harold M. Bull, der sich gerade in Badleys Hauptquartier der 1. Armee aufhält, protestiert heftig gegen die Rheinüberschreitung. Generalstabsoffiziere arbeiten mit Methode und halten wenig von Improvisation, von der wiederum Frontoffiziere häufig leben müssen. »Don’t drive me crazy«, fährt Bradley ihn an. »The plan, hell!« – zum Teufel mit dem Plan – »A bridge is a bridge.« Er hat Eisenhowers Rückendeckung und fährt den Generalstabsoffizier an: »Soll ich vielleicht meine Leute zurückbeordern und die Brücke selber sprengen?« Nördlich vom Schauplatz Remagen haben die Amerikaner inzwischen mit den Ruinenfeldern von Köln ihre bisher größte deutsche Stadt genommen. Vorher hatten sich die Kämpfe in der Grenzstadt Aachen monatelang hingezogen, und so waren die -70-
US-Generäle in Sorge gewesen, daß Köln genauso erbittert verteidigt würde, und sie hatten deshalb die Rhein-Metropole mit massierter Truppenstärke angegriffen. Die einst so lebensfrohe Stadt hatte am 14. Mai 42 den ersten Tausend-Bomber-Angriff hinnehmen müssen, und seitdem waren ihm viele gefolgt. Schon bevor die Amerikaner anrückten, kam es zu einem erbitterten Zusammenstoß zwischen General Köchling und dem Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Florian, weil der WehrmachtsGeneral darauf hingewiesen hatte, daß seine Truppen viel zu schwach seien, um Köln zu halten. Er wurde abgesetzt und verhaftet; aber der Volkssturm grüner Jungen und alter Männer konnte den Feind keine 24 Stunden halten. US-Panzer durchbrechen die Verteidigungsstellung am Ring, und kurze Zeit später ist die ganze linksrheinische Metropole in ihrem Besitz. Auf dem Platz vor der Oper bringen die Eroberer in der Geisterstadt ein zweisprachiges Schild mit der Inschrift an: GEBT MIR FÜNF JAHRE ZEIT, UND IHR WERDET DEUTSCHLAND NICHT WIEDERERKENNEN. ADOLF HITLER. Gelegentlich fallen noch Schüsse vom anderen Ufer, aber die alte Römerstadt ist eine Steinwüste, auch wenn die Domtürme noch stehen, weil sich der zuständige US-General geweigert hatte, sie als Einschießziele anzusehen. Wasser gibt es nic ht, dafür aber reichlich Wein- und Sektvorräte, die in den tiefen Gewölben Bombenangriffe, Artilleriefeuer und Häuserkampf überstanden haben. Zivilisten sind kaum zu sehen, und am Westportal des berühmten Doms haben selbst die Heiligen das Gesicht verloren. General William H. Simpson läßt seinen Soldaten nicht viel Zeit zu feuchtfröhlichen Siegesfeiern. Der rasche Fall der Stadt macht wie auf Bestellung Truppen für den Brückenkopf Remagen frei. Bevor man auf deutscher Seite, wo die Nachrichtenverbindungen weitgehend unterbrochen sind, -71-
überhaupt von dem rechtsrheinischen Verhängnis weiß, bauen die Eroberer in Rekordzeit ihren Brückenkopf aus. Und bevor eine einzige deutsche Einheit zu einem Gegenangriff zur Verfügung steht, haben bereits 8000 Amerikaner den Rhein überschritten, mit schweren Waffen und ihrer gesamten Ausrüstung, wohlgenährt und wohlgelaunt. General Eisenhower ist entschlossen, den Brückenkopf zu halten, auszubauen und mit allen Mitteln zu verteidigen. Er könnte jetzt viele Wochen früher als geplant nach Deutschland vorstoßen, das Ruhrgebiet nehmen und den Wettlauf mit den Russen nach Berlin gewinnen, aber er ist ein Militär und kein Politiker, und so bleibt er bei seinem ursprünglichen – jetzt aber beschleunigten – Plan, der zwar Zeit kostet, jedoch Blut spart. Der ihm unterstellte britische Oberkommandierende, Bernard Montgomery, soll mit den 25 Divisionen seiner 21. Heeresgruppe den von deutschen Fallschirmjägern gehaltenen Brückenkopf bei Wesel eindrücken und dann, unterstützt von einer Luftla ndeoperation großen Stils im Rücken der Deutschen, in voraussichtlich 14 Tagen den nördlichen Rhein überschreiten, das Ruhrgebiet abriegeln, den Russen entgegenziehen und Deutschland zweiteilen. Die erste Meldung über das Debakel bei Remagen erreicht Berlin nicht über die gestörte Militärleitung, sondern über den Promi-Abhördienst. In den Abendstunden schmettern die alliierten Siegesfanfaren die Blitzmeldung über den Handstreich auf die Ludendorffbrücke in alle Welt hinaus. Als der Referent im Propagandaministerium seinem Chef Dr. Goebbels die Hiobsnachricht vorlegt, ist er wie viele andere der Meinung, es handele sich um keine Panne, sondern um ein auf höchster Ebene abgekartetes Spiel, damit die Amerikaner so rasch wie möglich vor den Sowjets ins Land kommen. Das muß heimlich arrangiert worden sein, denn noch immer läuft die deutsche Siegespropaganda auf vollen Touren. -72-
Lautstark werden neben den neuen Wunderwaffen der unmittelbar bevorstehende Bruch zwischen Amerikanern und Russen, zwischen Kapitalisten und Kommunisten, beschworen, und viele glauben noch so lange daran, bis sie selbst daran glauben müssen. Dr. Goebbels wird von der Hiobsnachricht überrumpelt; er kann von einem Arrangement nichts gewußt haben. Auch Hitler ist verblüfft und erzürnt. In seiner Geister-Katakombe, vier Betontreppen unter der Erde, erleidet er einen seiner berüchtigten Tobsuchtsanfälle. Vor kurzem hatte er bei einer Auseinandersetzung mit Rundstedts Generalstabschef, Siegfried Westphal, den Truppen im Westen mangelnden Kampfgeist und Anzeichen von Defätismus vorgeworfen. Längst wittert er überall Verrat, Sabotage und Feigheit. Er gibt den Befehl, den alliierten Brückenkopf unverzüglich und mit allen Mitteln zu beseitigen und die Amerikaner in den Rhein zurückzuwerfen. Die für Remage n verantwortlichen Offiziere sollen vor ein Standgericht gestellt werden. Der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht weiß nicht, wie es links und rechts des Rheins aussieht. Er weiß auch nicht, wie es im Osten aussieht. Er spielt mit Verbänden, die nur auf dem Papier bestehen oder nicht einmal die halbe Kampfstärke aufweisen. Er wirft sie nach Belieben hin und her, von Osten nach Westen und dann wieder in umgekehrter Richtung: Zum Beispiel zog er sechs kampfstarke SS-Divisionen von der Verteidigung Berlins ab – er nimmt an, die Russen würden die Reichshauptstadt nicht angreifen – und schickt sie in das entlegene Ungarn. Das OKW-Kriegstagebuch stellt unter dem Datum des 8. März fest, daß sich im Stettiner Haff keine eigenen Streitkräfte mehr befinden und die Sowjets südlich der Stadt weiter vordringen. Erstmals treten sie mit starken, zum Teil aus Ostpreußen abgezogenen Kräften gegen den Ortsverteidigungsring von Danzig an. In Breslau schießen sowjetische Panzer das Südviertel in -73-
Brand, schieben sich bis zur Augus tenstraße vor. In der belagerten Stadt befinden sich noch 100000 Zivilisten: Frauen und Kinder ab zehn Jahren müssen im Artilleriebeschuß in der Kaiserstraße mit Schaufeln und Hacken einen Landeplatz in der Innenstadt anlegen, da der Flugplatz Gandau, über den die längst knappe Munition eingeflogen werden muß, schon gefährdet ist. Um Raum zu schaffen, muß man die Gebäude links und rechts der zu engen Straße sprengen. Die eingeebnete Lutherkirche wird zur Landerampe. 1813 erließ König Friedrich Wilhelm III. von Preußen aus der schlesischen Hauptstadt den ›Aufruf an mein Volk‹: Jetzt ließ Gauleiter Karl Hanke vor dem Standbild Friedrichs des Großen den zweiten Bürgermeister der sterbenden Barockstadt und andere Prominente wegen ›Feigheit vor dem Feind‹ erschießen. In Kurland steht eine ganze Heeresgruppe im Abseits: 180000 Mann, die man dringend zur Verteidigung der Danziger Bucht – wo Hunderttausende von Flüchtlingen auf den Abtransport über See warten – benötigen würde. Horror im Osten, Panik im Westen. In Ho lland wird die Armee Blaskowitz praktisch eingeschlossen, Hitler rechnet mit einer alliierten Luftlandung im Raum von Arnheim. Zwischen Emmerich und Wesel nebelt sich der Feind ein. An dieser Stelle kommen 500 deutsche Verteidiger und sieben SturmgeschützEinheiten – mit minimalen Munitionsbeständen – auf zwanzig Kilometer Raum. Weiter südlich nähern sich die Amerikaner Koblenz bis auf fünf Kilometer. Und der rechtsrheinische US-Landekopf von Remagen steht noch immer und wächst und wächst. Hitlers Befehl, hier die Lage unverzüglich zu bereinigen, hat Generalfeldmarschall Model längst und wiederholt erreicht, aber der Heerführer mit dem Monokel, ein bewährter Praktiker, weiß nicht, auf welche Truppen er zurückgreifen soll. Während die 1. US Army das III., V. und XII. Korps mit acht Divisionen -74-
einsetzen kann, vergehen neun Stunden, bis die 11. PanzerDivision – sie war gerade an der Verteidigung Kölns beteiligt gewesen und hatte den Rhein gleich wieder hinter sich bringen müssen – sich bereitstellt. Noch immer fehlt der Sprit, und die Panzersoldaten können ihre Kampfwagen nicht ins Gefecht schieben. Models Heeresgruppe hat ihre beiden Säulen, die 5. PanzerArmee und 15. Armee, zwar zum größten Teil über den Rhein zurückgebracht, aber dabei fast alle schweren Waffen verloren. Nach Meinung des Generals Wagener, des IA der Heeresgruppe B, ist sie jetzt nur noch »der Schatten ihrer selbst und entspricht nicht mehr einem neuzeitlichen Kampfverband«. Seit der Januar-Offensive der Sowjets hat der Oberbefehlshaber im Westen zehn Panzer- und sechs InfanterieDivisionen, zehn Artillerie-Korps und acht Werfer-Brigaden an die Ostfront abgeben müssen. Die Verteidigung im Westen ist wie ein zu kurz geratenes Hemd, das dem Feind die Blößen zeigt. 85 kampfstarke Divisionen der West-Alliierten stehen 55 dezimierten und abgekämpften deutschen Divisionen gegenüber, wobei vor allem die Infanterie-Einheiten meistens nur die Hälfte der Soll-Stärke aufweisen. Während sich der Angriff auf den von Stunde zu Stunde stärker ausgebauten Brückenkopf Remagen immer wieder verzögert, versuchen Stuka-Piloten in Selbstmord- Einsätzen die Ludendorff- Brücke zu vernichten. Die ersten vier JU 87 verfehlen das Ziel und werden sofort abgeschossen. Die nächsten sollen, bevor die Flak sie erfaßte, Treffer erzielt haben – aber die Brücke steht noch immer. Kampfschwimmer, die sich mit Sprengminen an die Pfeiler heranpirschen, werden vorzeitig abgeschossen. Die Brücke selbst ist gar nicht mehr so wichtig, denn USPioniere beginnen, zwei zusätzliche Pontonübergänge über den Rhein zu bauen. Die erste Brücke, 300 Meter lang, steht nach zehn Stunden und elf Minuten. General Eisenhower schickt aus -75-
seinem Hauptquartier in Reims seinen Pionieren ein paar Kisten Schampus als Anerkennung für ihre Leistung. In dieser Situa tion erreicht den Oberbefehlshaber Südwest der Befehl aus dem 15. und letzten Führerhauptquartier, sich sofort nach Berlin zu begeben. Generalfeldmarschall Albert Kesselring kommt die Order denkbar ungelegen. Zwar ist Italien seit der Invasion zu einem Neben-Kriegsschauplatz geworden und seine Front steht in einer Art Stellungskrieg zwischen Ravenna an der Adria und Livorno am Ligurischen Meer auf der Westseite, aber die Anglo-Amerikaner stellen sich zu einer Groß-Offensive von Küste zu Küste bereit, die praktisch jeden Tag losbrechen kann. Zunächst fragt Kesselring zurück, warum er zum Rapport befohlen ist. Er erhält keine Auskunft, nur die dringende Aufforderung, so rasch wie möglich zu kommen. Am 9. März trifft er in der schwer angeschlagenen Reichshauptstadt ein. Am gleichen Tag wird in das OKW-Kriegstagebuch eingetragen, daß der Brückenkopf von Remagen unabsehbare Folgen haben kann und sich die Lage am Oder-Brückenkopf Küstrin verschärft hat; die Russen dringen in die Stadt ein. Weitere Sowjet- Einbrüche bei Greifenberg. Im Ruhrgebiet ist die Kohlenanlieferung von 8000 auf 700 Tonnen abgesunken. Und die 1. Fallschirmjäger-Armee, die wahrscheinlich kampfstärkste deutsche Truppe im Westen, muß den Brückenkopf bei Wesel räumen. Generalfeldmarschall Model erscheint auf dem KorpsGefechtsstand des Generalleutnants Fritz Bayerlein und gibt ihm den Befehl, sich mit der Panzerlehrdivision sowie der 9. und der 11. PD bereitzustellen, um den Brückenkopf von Remagen einzudrücken. Für die Vorbereitung des massierten Angriffs gibt Model den drei Divisionen 24 Stunden Zeit. Im ›Völkischen Beobachter‹, dem amtlichen Blatt der NSDAP, steht an diesem Tag der Leitartikel eines Leutnants Karl-Heinz Stockhausen: »Ihr jungen Soldaten wißt, daß ihr nichts zu verlieren habt. Oder meint einer, dieses Leben da unter -76-
Bombenregen und in panischer Angst vor den Grausamkeiten des Feindes sei lebenswert, um es sich um jeden Preis zu erhalten? Der Feind führt unbarmherzig seinen Krieg! Auch drüben stehen junge Soldaten in den Armeen. Aber die von Jugend auf im Bolschewismus Abgestumpften und wie eine Herde Aufgewachsenen können nicht besser und tapferer sein als ihr, die ihr in der Hitlerjugend schneidige Jungen wart!« Am Nachmittag empfängt Hitler den Gast aus Italien. Kesselring findet ihn – wie er in seinen Memoiren behauptet – in einer besseren Verfassung vor, als er erwartet hatte. Vielleicht haben die Medikamente seines Leibarztes Dr. Morell – von Göring als ›Reichsspritzenmeister‹ verspottet wieder einmal gewirkt. Der Diktator erklärt einem seiner ergebensten Generalfeldmarschälle, daß die Lage im Westen, insbesondere der Fall Remagen, einen erfahreneren und jüngeren Oberbefehlshaber erfordere, der die Situation wieder in den Griff bekommen könne. Das bedeutet, daß Hitler Generalfeldmarschall v. Rundstedt zum drittenmal nach Hause schicken wird. »Die Entscheidung fällt im Osten«, ermuntert der Diktator seinen neuernannten OB-West. »Und in dieser Situation handelt es sich einzig und allein darum, die Zeit zu überbrücken, bis die 12. Armee, die neuen Düsen-Jagdflugzeuge und andere neuartige Waffen in größter Zahl eingesetzt werden können. Großadmiral Dönitz wird sich außerdem bald mit neuen UBooten bemerkbar machen und eine wesentliche Erleichterung bringen.« Weiterhin erhält Kesselring den Befehl, vorläufig anonym als OB-West zu führen und seine Ernennung noch geheimzuhalten, um keine Beunruhigung auf dem italienischen Kriegsschauplatz eintreten zu lassen. Der Generalfeldmarschall fliegt sofort zur Frontbesichtigung ab. Er ist kein Illusionist wie Hitler, jedoch ein Optimist, allerdings nur so lange, bis er die bevorstehende Katastrophe voll übersieht und begreift, daß ihm die Frontlage -77-
viel zu rosig geschildert worden ist. Der drohende Zusammenbruch spiegelt sich nicht nur in der verzweifelten Kampfsituation im Osten wie im Westen wider, sondern auch in dem Verhalten führender NS-Satrapen, die feurige Durchhalteparolen verbreiten und insgeheim aber längst an ihre persönliche Zukunft denken. Das Reichssicherheitshauptamt in Berlin gibt an seine Mitarbeiter Selbstmordkapseln, falsche Pässe und Fluchtdevisen aus. Während Hitler und Kesselring über die Lage im Westen miteinander sprechen, verhandelt ironischerweise der Höhere SS- und Polizeiführer in Italien, Karl Wolff – ein Günstling Hitlers und Himmlers –, hinter dem Rücken des Führers wie des Reichsführers über Mittelsmänner in Zürich mit dem amerikanischen Geheimdienstchef Allen Dulles über einen Sonder-Waffenstillstand. Als Vorleistung läßt er auf Wunsch seiner Gegenspieler zwei italienische Partisanenführer frei, darunter den späteren italienischen Ministerpräsidenten Ferruccio Parri. ›Operation Sunrise‹, Unternehmen Morgenröte, nennt der Exponent der Runengarde mit dem Wappenspruch: UNSERE EHRE HEISST TREUE seinen geheimen Abfall, bei dem er sich auf Humanität beruft, fraglos aber auch als Opportunist seinen Kopf retten will. Schließlich war Wolff auch an der Judenvernichtung maßgeblich beteiligt gewesen. Drei Tage nach der Eroberung der Eisenbahnbrücke – der Wehrmachtsbericht verschweigt es noch immer, daß die Amerikaner längst auf dem Ostufer kämpfen, und die Propaganda tönt weiterhin von der unüberwindlichen RheinBarriere – hat General Eisenhower bereits 20000 Soldaten über den Fluß geworfen, und an diesem 10. März trifft Kampfkommandant Scheller nach dreitägigem Herumirren im Dorfgasthaus von Altwied endlich seinen Korpskommandeur. General v. Hitzfeld hört sich in Ruhe an, warum die Sprengung der Brücke mißlungen ist, reicht dem Major die Hand: »Ich -78-
weiß, daß Sie Ihr Möglichstes getan haben, Scheller«, stellt er fest. »Jetzt ruhen Sie sich erst einmal aus.« In diesem Moment betritt der Chef der Heeresgruppe B, Generalfeldmarschall Model, die Wirtsstube. Scheller erstattet auch ihm sofort Bericht. Der ›Terrorflieger‹ hört ihm unbewegten Gesichts zu. Er nickt ein paarmal. Mitunter sieht es aus, als höre Model gar nicht richtig hin. Er ist von kleiner Statur und überraschender Beweglichkeit. Er trägt die höchste Tapferkeitsauszeichnung, die Brillanten zum Ritterkreuz nebst Eichenlaub, und er hat sich in aussichtslosen Abwehrschlachten im Osten wiederholt bewährt. Er schweigt, bis Scheller mit seiner Meldung fertig ist. Der Major weiß nicht, ob er nunmehr abtreten soll; er steht wie vergessen herum, während Model und Hitzfeld andere Fragen besprechen. Sie gehen schließlich auseinander, der Generalfeldmarschall ist schon an der Tür, da dreht er sich noch einmal um und deutet auf Major Scheller: »Da haben wir ja einen Schuldigen für Remagen«, sagt er lächelnd. Weder Scheller noch Hitzfeld wissen in diesem Augenblick, ob die Drohung ernstgemeint ist. Die beiden Offiziere rechnen damit, daß der Oberbefehlshaber pro forma eine Disziplinaruntersuchung einleiten wird, die nur erhärten kann, was Major Scheller vorgebracht hat. Mittlerweile aber ist von Berlin aus das Sonderstandgericht des Führers in Marsch gesetzt worden. Generalleutnant und Gruppenführer der SS, Rudolf Hübner – eigens aus Rußland abberufen –, Altparteigenosse und Zahnarzt im Zivilberuf, ist ein bornierter Durchhaltefanatiker, dem es nicht darum geht, Gerechtigkeit zu üben, sondern ein Exempel zu statuieren. Er läßt den Major aus Landshut festnehmen und in die Ortschaft Rimbach im Westerwald schaffen, wo das Standgericht in einem Bauernhof gegenüber dem Hauptquartier des Generalfeldmarschalls Model liegt. Der Vorsitzende ist zugleich der Anführer der Henker, denn er hat in einem -79-
Omnibus sein eigenes Hinrichtungskommando gleich mitgebracht. 11. März, 16 Uhr. Eben hat der Wehrmachtsbericht, versteckt im allgemeinen Text, gemeldet: »Im Raum Remagen setzten die Amerikaner, nachdem sie aus mehreren Ortschaften am Ostufer des Rheins geworfen worden waren, am Nachmittag ihre Angriffe zur Gewinnung der Uferhöhen und zur Verbreiterung ihres Brückenkopfes fort. Zwischen Sinzig und Andernach werden noch mehrere Brückenköpfe auf dem Westufer des Rheins gegen heftige amerikanische Angriffe gehalten.« In der guten Stube des Bauern Eschemann rollt das Schnellverfahren gegen Major Scheller an. Die drei Standrichter haben auf dem Sofa Platz genommen; in der Mitte General Hübner, rechts von ihm Oberstleutnant Penth, links Oberstleutnant Ernsberger. »Ich eröffne die Sitzung des Sonderstandgerichts des Führers«, sagt der General mit harter Stimme und wirft zum erstenmal einen Blick auf den in gerader Haltung vor ihm stehenden Offizier, der nach einem Erlaß des Reichsjustizministers Thierack vom 15. Februar 1945 abgeurteilt werden soll. Begründet wird diese unsaubere Standgerichtsdrohung mit der Härte des Ringens um den Bestand des Reiches, die von jedem Deutschen Kampfentschlossenheit und Hingabe bis zum Äußersten erfordere. Wörtlich heißt es: I. In feindbedrohten Reichsverteidigungsbezirken werden Standgerichte gebildet. II. 1. Das Standgericht besteht aus einem Strafrichter als Vorsitzer sowie einem Politischen Leiter oder Gliederungsführer der NSDAP und einem Offizier der Wehrmacht, der Waffen-SS oder der Polizei als Beisitzer. 2. Der Reichsverteidigungskommissar ernennt die Mitglieder des Gerichts und bestimmt einen Staatsanwalt als -80-
Anklagevertreter. III. 1. Die Standgerichte sind für alle Straftaten zuständig, durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet sind. 2. Auf das Verfahren finden die Vorschriften der Reichsstrafprozeßordnung sinngemäße Anwendung. IV. 1. Das Urteil des Standgerichts lautet auf Todesstrafe, Freisprechung oder Überweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit. Es bedarf der Bestätigung durch den Reichsverteidigungskommissar, der Ort, Zeit und Art der Vollstreckung bestimmt. 2. Ist der Reichsverteidigungskommissar nicht erreichbar und sofortige Vollstreckung unumgänglich, so übt der Anklagevertreter diese Befugnis aus. »Wir können uns kurz fassen«, stellt der Generalleutnant mit den Siegesrunen am Kragenspiegel fest. »Die Ludendorffbrücke bei Remagen wurde nicht gesprengt. Das wissen Sie.« »Jawohl«, erwidert Major Scheller. »Warum nicht?« »Die Sprengung hat versagt, vermutlich wurde die Zündschnur von einem Zufallstreffer zerfetzt.« »Versagt«, schreit General Hübner. »Das wagen Sie hier noch zu sagen! Versagt haben Sie. Und Sie wissen, daß Versager den Tod verdienen. Ihre Feigheit ist daran schuld, daß die Amerikaner über den Rhein gekommen sind.« Der Vorsitzende – er ist auch Oberster NS-Führungsoffizier – ballt die Hände zu Fäusten. Er benimmt sich, als wäre er bei Roland Freisler, dem Ankläger des Volksgerichtshofs, in die Schule gegangen, der beim Luftangriff vom 3. Februar in Berlin von einem herabstürzenden Balken erschlagen worden ist. »Ich bin kein Feigling«, erwidert Scheller fest. Das Benehmen des Generals kotzt ihn an. Viel Hoffnung hat er nicht. Man -81-
vernimmt keine Zeugen, keine Sachverständigen, es gibt keinen Verteidiger. Er steht hier nicht wie ein dekorierter Offizier vor Richtern, sondern wie ein Strauchdieb vor Scharfmachern. Die Standgerichtsverordnung ist kein Mittel der Rechtssprechung, sondern des Terrors und der Abschreckung. Wer angeklagt wird, ist eigentlich schon zum Tod verurteilt. In ganz seltenen Fällen kommt es zu einem Freispruch, wenn der Schein gewahrt werden soll oder der Angeklagte einen einflußreichen Fürsprecher hat. Auch der Beisitzer zur Rechten, Oberstleutnant Penth, trägt das Goldene Parteiabzeichen auf seinem Waffenrock. »Nur zuverlässige Nationalsozialisten kommen als Standrichter in Frage«, hatte Hitler zum Leiter des Heerespersona lamts bemerkt. Ein zuverlässiger Nazi, das ist Paul Penth. Als früherer Bürgermeister von Bad Hönningen hatte er alles getan, um aus dem verträumten Rheinstädtchen eine braune Hochburg zu machen. Noch im letzten Urlaub hielt er Haßreden gegen die Anglo-Amerikaner und empfahl den Bürgern, hinter der Tür die Axt versteckt zu halten, um damit die Alliierten zu empfangen. »Warum sind Sie davongelaufen, nachdem durch Ihr Versagen die Brücke in Feindeshand gefallen ist?" fragt dieser Freisler in Feldgrau den Angeklagten. »Ich bin nicht davongelaufen. Ich habe mich zu meinem Stab durchgeschlagen, um Verstärkung herbeizuholen. Unterwegs wurde ich aufgehalten, um den Bau von Panzersperren zu überwachen. Ich bin drei Tage umhergeirrt, um General Hitzfeld zu finden. Er wechselte beinahe stündlich seinen Befehlsstand. Es ging drunter und drüber, das braucht Ihnen doch niemand zu erzählen, das hat doch jeder hier erlebt.« »Ausreden«, erwidert General Hübner. »Nichts wie Ausreden. Ich lasse sie Ihnen nicht durchgehen. Wir werden Ihnen unverzüglich die Antwort auf Ihr Verhalten erteilen. Wir haben noch mehr Feiglinge abzuurteilen.« -82-
Die drei Standrichter beraten das Urteil. Major Scheller wird so lange hinausgeführt. Er begreift, daß er keine Chance hat, den zu erwartenden Blutspruch zu überleben. Er denkt an seine Frau Hexe und seine Kinder, und an die Erniedrigungen, die ihnen bevorstehen werden. Halblinks über dem Kopf des Vorsitzenden hängt ein Schild mit der Aufschrift: IST GOTT FÜR UNS – WER MAG WIDER UNS SEIN? Auf der Kommode in der Ecke der bescheiden eingerichteten, sauberen Stube stehen Fotos gefallener Angehöriger. Da sie nebeneinander keinen Platz mehr haben, müssen sie gestaffelt werden: sieben Fotos, hinter Glasrahmen. Gesichter mit einem endgültigen Lächeln, Gesichter von Gefallenen in Gräben, irgendwo, in Rußland, Frankreich oder Afrika. »... ist der frühere Major Scheller aus der Wehrmacht auszustoßen«, verliest General Hübner mit schnarrender Stimme: »und wird wegen Feigheit vor dem Feind zum Tod verurteilt.« Er wirft keinen Blick mehr auf Scheller. »Leutnant«, ruft er seinem Ordonnanzoffizier zu: »Führen Sie den Mann ab!« Der Major geht wie geschoben. Er war zu oft im Feuer gestanden, um Angst zu haben, aber es ist etwas anderes, ob man im Kampf fällt oder von einem Peloton eigener Soldaten erschossen wird – aber selbst dabei unterschätzt er noch die Gemeinheit seiner Mörder. Der nächste Angeklagte ist der junge Oberleutnant Peters. »Sie waren also der Führer der Raketen-Flakbatterie im Raum Remagen?« fragt Standrichter Hübner. »Jawohl, Herr General.« »Und zwei Ihrer neuartigen Geschütze sind dem Feind in die Hände gefallen, obwohl Sie wissen mußten, daß sie unter Geheimschutz stehen«, schnarrt der Vorsitzende, der zugleich Ankläger ist. -83-
»Jawohl, Herr General.« »Dann haben Sie den Tod verdient«, stellt der Fanatiker fest. Ein Blick auf die Beisitzer; sie nicken ihm zu. Der Oberleutnant müßte jetzt sprechen, sich verteidigen, aber er bringt kein Wort heraus. In letzter Minute hatte er von Flakgeneral Pickert den Befehl erhalten, auf das rechte Rheinufer hinüberzuwechseln, aber während seine Männer noch schufteten, wurden sie bereits von US-Panzern überrollt. Peters konnte nur noch mehrere tausend Schuß Munition hochjagen, bevor er sich aufs andere Ufer zurückzog. »Das Sondergericht des Führers verurteilt Sie zum Tode wegen Feigheit vor dem Feind«, sagt der Standrichter. »Wer den Tod in Ehren fürchtet, stirbt in Schande.« Die Verhandlung hat zwei Minuten gedauert. Die Bestätigung der Urteile durch den zuständigen Reic hsverteidigungskommissar braucht nicht abgewartet zu werden Hübner hat sich mit Blankounterschriften eingedeckt. Peters wird abgeführt. Er wankt wie ein Schlafwandler aus der Stube. Bleiben ihm noch Stunden oder Tage zum Leben? Warum vernimmt man nicht seinen Stellvertreter, der bestätigen muß, daß der Befehl zur Verlegung der im Nahkampf untauglichen Raketengeschütze erst im letzten Moment gegeben wurde? Die drei Standrichter bleiben noch bis zum Abendessen. Im Haus 33 wird der verurteilte Major Scheller verwahrt. Es riecht appetitlich: Kartoffeln, etwas Fleisch, für diese Zeit ein Festschmaus. Die Hausfrau Bitzer, an die 40, ein warmer, menschlicher Typ, weiß nicht – nur ein paar Häuser vom Tagungsort des Standgerichts entfernt –, welches Drama hier abrollt. Der in ihrem Haus festgehaltene Offizier muß etwas angestellt haben, aber das interessiert sie nicht weiter. Sie bietet den einquartierten Soldaten im Haus von ihrem Essen an, auch dem Verhafteten schiebt sie einen Teller hin. Die Bewacher lassen es zögernd zu, nehmen aber Messer und Gabel -84-
weg. »Was meinen Sie«, sagt einer zu Frau Bitzer. »Am Ende bringt der sich noch damit um.« »So schlimm wird’s ja wohl nicht sein«, erwidert die Quartiergeberin. Kurz vor Torschluß noch so ein Theater, denkt sie. Jetzt wo bald alles überstanden sein wird, müssen die einander noch so quälen. Frau Bitzer weiß nicht, daß sie Major Scheller die Henkersmahlzeit verabreicht hat. Mit seinem Ausschluß aus der Wehrmacht wurde er zugleich von der Verpflegungsliste gestrichen. Seine Richter meinen, es wäre, angesichts der prekären Versorgungslage, Verschwendung, mit vollem Bauch in den Tod zu gehen. Eine Stube wird zur Todeszelle. Für den einsamsten Menschen von Rimbach ist die letzte Nacht seines Lebens lang und doch zu kurz. Er geht ruhelos auf und ab, legt sich aufs Bett, steht sofort wieder auf. Er nimmt Fotos aus der Tasche, legt sie vor sich hin, starrt sie an, den Kopf in die Hände gestützt. Flackernd spiegelt sich das Kerzenlicht in seinem blassen, hageren Gesicht, das der Krieg geformt hat: die Jahre an der Front, in denen Scheller stets seinen Mann stellte, in Polen, in Frankreich, in Rußland, verwundet, ausgezeichnet, mit einer unausgeheilten Rippenfellentzündung freiwillig wieder an die Front. Er schreibt an seine Mutter, dann an Hexe, seine Frau, die eigentlich Liesel heißt, und seine beiden kleinen Kinder, Vita und Gerd – und in diesen Tagen muß das dritte zur Welt kommen. Er wird es niemals sehen. Kann das ein Mensch begreifen? Muß er nicht den Verstand verlieren in so einer Lage? Muß er nicht zerbrechen, an Gott verzweifeln, seine Henker um Gnade anflehen? Major Scheller steht trostlose Stunden durch. Draußen graut der letzte Morgen. Der Brückenkopf von Erpel hat sich bis nach Bad Honnef verlängert. Um Linz, Waldbreitbach, Hartgarten und Königswinter wird bereits gekämpft. Die Front braucht jeden Mann, und hier wird am 13. März 45 ein vorbildlicher, -85-
noch immer überzeugter Offizier erschossen. »Halten Sie mal so lange Wache«, befiehlt ein Leutnant dem Posten vor der Tür. »Ich geh’ mich nur rasch rasieren.« Eine halbe Stunde später bringen sie den Verurteilten weg. Niemand weiß, wohin. Zu dieser Stunde stapft der Bauer Schumacher aus Rimbach über seine Felder. Regenschauer und Schneeschmelze haben auf dem schlammigen Boden Pfützen hinterlassen, und so bleiben die Stiefel des Bauern immer wieder im Dreck stecken. Es herrscht eine ungute Morgenstimmung. Schon wieder hört man an diesem Dienstagmorgen Geschützdonner, ganz in der Nähe, aber der Krieg wird ja jetzt bald aus sein, denkt Schumacher, ob diese Wahnsinnigen ihn noch verlängern wollen oder nicht. Auf dem linken Rheinufer hat der Gauleiter angeordnet, daß die Zivilbevölkerung ihre Häuser sofort zu verlassen hat. Es gilt zunächst für die Städte Düsseldorf, Ratingen, Hilden, Opladen, Leverkusen, Leichlingen, Bergisch Neukirchen und Hitdorf; für die Gemeinden Angermund, Wittlaer, Lintorf, Eggerscheidt, Hubbelraht, Schwarzbach, Erkrath, Baumberg, Monheim und Langenfeld. Aus den Bewohnern sollen Flüchtlinge werden. »Die Weiterleitung nach Osten in innerdeutsche Gaue erfolgt in Trecks unter Führung der Partei und der Behörden«, heißt es in dem Befehl wörtlich. »Die Wehrmacht, für die die Räumung durchgeführt wird, wird größtmögliche Hilfe leisten. Die näheren Anweisungen erfolgen durch die zuständigen Parteistellen.« Die Deutschen im Osten laufen um ihr Leben. Im Westen klammern sie sich an ihre zerstörten Häuser, an ihren letzten Besitz. Sie verstecken sich im Keller oder in der Umgebung. Sie wissen nicht, wie es ihnen ergehen wird, wenn der Feind ihre Heimatorte erobert hat, aber trotz aller Greuelpropaganda, die sie zum Durchhalten zwingen soll, nehmen sie an, daß die Amerikaner auch nicht schlimmer sein können als die Goldfasane. Und nach ihrem Einmarsch wird dann wenigstens -86-
diese wahnsinnige Ballerei und Bomberei aufhören. Ein merkwürdiger Tag heute. Frühaufsteher Schumacher spürt, daß etwas in der Luft liegt. In aller Frühe sind die Stäbe abgereist, unter ihnen auch ein General, der in der Nacht erfahren hat, daß sein dritter Sohn gefallen ist. »Er hat überhaupt nicht auf die Nachricht reagiert«, erzählte ihm Frau Katzmann, die Augenzeugin. »Ich glaub’, der hat die Nachricht überhaupt nicht verstanden.« Plötzlich hört Bauer Schumacher einen Schuß. Die Soldaten am Waldrand haben ihn abgegeben. Nur einen. Er geht langsam auf sie zu, sieht, daß die Soldaten einen Kameraden eingraben, schnell, nicht sehr tief. Sie werfen Erde und Spreu über ihn. Dann gehen sie weg, ohne ihn zu beachten. Einer von ihnen trägt dabei einen Ledermantel über dem Arm. Ein zweiter Schuß. Aus anderer Richtung: Auch Oberleutnant Peters wurde per Genickschuß liquidiert. Im Nachbarort Oberirsen, wohin sich das Standgericht des Führers nunmehr abgesetzt hat, um bei der Zivilbevölkerung nicht zu viel Aufsehen zu erregen, beginnen die Verhandlungen gegen die Majore Kraft und Strobel und den Hauptmann Bratge. Die Urteile liegen fest. Der Richterspruch ist eine Formsache. Die Blankogenehmigungen für die Exekutionen sind auch hier vorhanden. Und die Urteile werden ebenfalls umgehend vollstreckt. Nur was den Chef der Pionierkompanie betrifft, stößt die Macht eines selbstherrlichen Standrichters an ihre Grenze: Hauptmann Bratge ist längst in USKriegsgefangenschaft. Während das fliegende Standgericht auf seinen Kreuzund Querfahrten weitere Todesurteile verhängt, fleddern die Exekutionssoldaten die Leichen der hingerichteten Offiziere: Ehering, Mantel, Uhr, Brieftasche verschwinden. Die verzweifelten Abschiedsbriefe Major Schellers an seine Frau und seine Mutter werden verbrannt. -87-
Die Dienststelle unter der Feldpost-Nummer 65350 teilt unter dem Datum des 13. März der Witwe Liesel Scheller mit, daß das Todesurteil gegen ihren Mann bereits vollstreckt wurde: »Die Bestattung ist am gleichen Tag im Wald, einen Kilometer westlich Rimbachs, erfolgt. Todesanzeige und Nachruf sind verboten.« Erst lange nach dem Kriegsende wird die Erste Strafkammer des Landgerichts Landshut das Todesurteil gegen Major Scheller aufheben. Im letzten Moment verlegt das fahrbare Feldlazarett des Stabsarzts Dr. Waske von Linz nach Limburg an der Lahn. Es ist ein Transport dritter Klasse: Schwerverwundete auf offenen Holzvergasern, stets bedroht von Jabos. Alle sind froh, daß sie Limburg lebend erreichen, weithin erkennbar am spätromanischen Sankt-Georgs-Dom auf dem steilabfallenden Kalkhügel. Aber das Sanitätspersonal wie die Verwundeten halten mehr nach schützenden Kellermauern und einer Feldküche Ausschau als nach historischen Kostbarkeiten aus dem Jahre 1235. Trotz aller Versuche der Feldgendarmerie, die Verwundeten wieder an die Front zu schicken, hält dieser Ausnahmemediziner seine Patienten zusammen wie eine Glucke ihre Küken, und so wird dem Gefreiten Wamsler und seinen Kumpels weiterhin eine medizinische Betreuung zuteil, wie sie eigentlich selbstverständlich wäre. Das Lazarett, auch hier nur behelfsmäßig untergebracht, wird auch nicht lange Quartier beziehen, denn die Amerikaner aus dem Brückenkopf Remagen haben bereits am 16. März die Autobahn Frankfurt-Köln erreicht, an der das hübsche Städtchen liegt, aber solange sich ihr Dr. Waske hier aufhalten kann, steht ihm wenigstens eine Röntgenstation zur Verfügung. »Tut mir leid«, sagt der Stabsarzt zu Wamsler. »Das ist mir zu -88-
riskant. Sie müssen unters Messer, eine Fistel.« Während er die Röntgenaufnahme betrachtet, fährt er fort: »Die Amerikaner haben ein wunderbares Medikament, genannt Penicillin. Wenn wir das hätten, würde ich auf die Nachoperation verzichten.« Er legt die Röntgenaufnahme beiseite, sieht einen Moment ins Leere: »Aber wir haben nun ma l keine Wunderdrogen, sondern nur Wunderwaffen.« Er sagt es beiläufig, ohne Betonung, aber der zweitjüngste Wamsler weiß genau, wie der Arzt es meint. Vor kurzem noch wäre er, auch einem ranghöheren Offizier, für so eine Bemerkung an den Kragen gefahren, doch jetzt, und vor allem seit seiner Ausquartierung aus dem Bonner Lazarett, hat er seine Orientierung verloren: Er weiß nicht mehr, was richtig ist oder falsch. Daß der Krieg nicht mehr gewonnen werden kann, sofern nicht doch noch die Wunderwaffen eingesetzt werden, und zwar unverzüglich, weiß der Gefreite spätestens seit der Weihnachtsoffensive in den Ardennen. Er hält den Zusammenbruch für eine schlimme, unvermeidliche Katastrophe, aber das war für ihn noch lange kein Grund, dem Führer, an den er so lange geglaubt hat, in den Rücken zu fallen. Die Schlacht bei den Thermopylen, die letzten Goten am Vesuv, sogar die alten Israeliten in ihrer Festung Massada, in der sie sich nach dem verlorenen Kampf gegen die Römer geschlossen den Tod gaben, sind für Jung-Siegfried leuchtende Taten der Geschichte, auch wenn sie, militärisch gesehen, ohne Nutzen geblieben waren. Aber am Brückenkopf von Remagen hat sich für ihn die Zeit demaskiert: Vier Tage sind die Amerikaner bereits über dem Rhein – und noch immer, von früh bis spät, Propagandaschwall vom unüberwindbaren Westwall auf der anderen Seite und von der großen Rheinbarriere, an der die Amerikaner verbluten werden. Dann Marschmusik. Durchhalteparolen. Zwischendurch ›Heimat deine Sterne‹. Dann haut die Zeit wieder auf die Pauke: -89-
Sondermeldung ›Deutsche Störangriffe auf England.‹ Der 22jährige, der seine Ideale verlor, zwingt sich von morgens bis abends, diesen akustischen Lügensalat hinunterzuwürgen und spürt dabei den Zorn in sich hochkommen, daß er so lange ein solcher Idiot gewesen war. »Hier siehste mal, was dieser Klumpfuß alles zusammenflunkert«, sagt Raschke nicht unlogisch. »Und genauso ist es mit den Wunderwaffen«, wirft Adamsky ein, der von allen den Kanal am meisten voll hat. »Was meinst du, Florian?« »Ich weiß auch nicht mehr, was ich davon halten soll«, weicht der Gefreite aus; er schämt sich, daß er erst durch Schaden klug geworden ist. Der letzte Schlag macht ihn endgültig fertig: Durch Tagesbefehl teilt die Heeresgruppe B ihren Soldaten mit, daß der Kamp fkommandant Scheller von Remagen und drei weitere Offiziere wegen Feigheit vor dem Feind hingerichtet wurden. Wamsler hat mit dem Major im Feuer gelegen, hat seine verzweifelten Versuche, die Brücke hochzujagen, erlebt, und auch diese idiotischen, einander widersprechenden Befehle mitangehört. Er spürt die Galle in seinem Speichel: Aus. Vorbei. Er denkt an seinen gefallenen Kumpel Elias. Durchkommen, heißt die Parole, überleben ist alles. Vielleicht trägt zu diesem Schnellkurs auch eine Krankenschwester mit rötlichen Haaren und braunen Augen bei, die zu allen Verwundeten freundlich ist, aber zu dem Jungen aus München ganz besonders. Sie mag ihn – und er mag sie, das war schon von der ersten Begegnung an zu spüren. Zwischen beiden kommt es zu einem Vorgang, der im Drehbuch als ›stummes Spiel‹ bezeichnet wird. Florian wundert sich, daß sich Wilma nicht einen Arzt oder einen schicken Offizier aussuchte, sondern ihm zeigt, daß er ihr nicht unsympathisch ist. »Ich war schon mal Leutnant«, sagt er ihr, um sich in ihren -90-
Augen aufzuwerten. »Damit kannst du mir nicht imponieren«, versetzte die Schwester. »Aber daß du so ein offener, netter Bursche bist und aus München kommst, das spricht für dich.« »Mensch, Wilma, wenn wir durchkommen, dann ..« »Dann ...« greift sie das Wort auf, ohne den Satz zu vollenden, »du wirst heute noch operiert«, kommt sie zum Nächstliegenden. »Du bist in besten Händen, hab’ keine Angst.« »Angst hab’ ich höchstens, daß du dich in einen anderen verliebst«, erwidert er. »Dummkopf«, sagt sie zärtlich. Eine halbe Stunde später fahren sie den Gefreiten in den OPRaum, verpassen ihm eine Narkose, und das letzte, was Florian sieht, bevor er geistig wegtritt, ist Wilmas aufmunterndes Lächeln. Generalfeldmarschall Kesselring, der neue OB-West, führt nicht mehr anonym, aber er führt seine Soldaten in das Feuer, in die Hölle, in den Untergang - und in den Rückzug. Seine ersten Befehle: »Der Brückenkopf von Remagen ist zu beseitigen und das Gebiet links des Rheins zu halten!« Den Gegenangriff des Generals Bayerlein mit drei Divisionen wehren die Amerikaner gelassen ab, denn es sind nur Kompanien und Bataillone, die gegen den Brückenkopf eingesetzt werden, da Hitlers Drängen ihm keine Zeit zu einem massierten Ansturm läßt. Und jeder haftet mit seinem Kopf dafür, daß auch die unsinnigsten Befehle befolgt werden. Die verzettelten Panzersoldaten kämpfen chancenlos weiter gegen den US-Bridgehead. Eine aufgeriebene Einheit wird durch die nächste ersetzt und ebenfalls dezimiert. Man klotzt nicht, man kleckert. Ohne jede Vorwarnung stürzt am 17. 3. – zehn Tage nach -91-
ihrer Eroberung – die Ludendorffbrücke wegen Überlastung zusammen. Es ist unerheblich, weil die Amerikaner längst genügend Soldaten auf das andere Ufer geschafft haben und ihnen zwei Ponton-Brücken zur Verfügung stehen. Sie sind in der Lage, die zersplitterten Angriffe der Heeresgruppe B ziemlich mühelos abzuschlagen und das eroberte Gebiet bis auf einen Radius von 50 Kilometern auszudehnen. Noch hoffnungsloser ist die Situation links des Rheins: Zivilisten und Soldaten, die vom anderen Ufer herüberkommen, berichten, daß der Westwall an allen Stellen von Flammenwerfern und Sturmartillerie bereits im ersten Anlauf überrannt wurde. Es ist nur eine Frage von Tagen, bis das Saarland und die Pfalz und das gesamte linksrheinische Gebiet von den Anglo-Amerikanern erobert werden. Kilometerlange Züge deutscher Kriegsgefangener ziehen ohne einen einzigen Bewacher nach hinten, vorbei am Troß einer Siegerarmee, die alles im Überfluß hat. Die Masse deutscher PoWs stellt die Stiftenköpfe aus Übersee vor kein Bewachungs-, doch vor ein Versorgungsproblem. Zunächst werden die Kriegsgefangenen zu Tausenden auf freien Feldern, abgesichert nur durch Stacheldraht, zusammengetrieben; sie erhalten eine Mindestzuteilung amerikanischer Kampfverpflegung, der C-Rations. Der wasserdicht verpackte Kaltproviant – feinste Delikatessen, dazu noch Zigaretten, Zahnstocher und Klopapier – der Olivgrünen ist eine letzte Erklärung für die Feldgrauen, warum sie gegen den Gegner keine Chance hatten. Der SS-General Paul Hausser, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe G, eingesetzt zur Verteidigung der SaarKohlegruben und der Chemiewerke in der Pfalz, steht nicht in dem Ruf, feige oder ungehorsam zu sein. Er gerät in die Zange der 3. US-Armee des Generals Patton und der 7. des Generals Patch, die ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihm veranstalten. General Patton, der ›Lucky Forward‹, fegt, von der Mosel -92-
kommend, durch die Pfalz. Ihm geht das alles noch viel zu langsam. Wenn er an Eisenhowers Stelle stünde, wären die GIs vom Brückenkopf aus bereits viel tiefer nach Deutschland eingedrungen, stünden vielleicht jetzt schon in Wetzlar und in Frankfurt. Dem General ›Blut und Gedärm‹ fehlt die abwägende Art seines Oberkommandierenden. Patton hat, wie seine Soldaten sagen, Hornissen in den Hosen. Beim Vormarsch auf Trier erhält er von seinem Oberkommando den Befehl, die Stadt liegenzulassen und an ihr vorbeizustoßen, weil zu ihrer Eroberung vier Divisionen benötigt würden. »Sony«, funkt Patton zurück, »was soll ich jetzt tun? Muß ich den Krauts Trier zurückgeben? Ich hab’ die Stadt längst genommen – mit zwei Divisionen.« Auf dem Papier besteht die deutsche Heeresgruppe G noch aus zwei Armeen. In Wirklichkeit besitzt sie noch 200 Panzerfahrzeuge. Auf einen Frontkilometer kommen lediglich 26 Infanteristen und eineinhalb Geschütze. In den Korb der Sieger werden Städte wie Saarbrücken, Landau, Ludwigshafen, Koblenz und Mainz wie reife Früchte fallen. Aber damit begnügt sich der General mit dem Goldhelm nicht. Wegen seiner Ungeduld erscheint er seinen Oberkommandierenden oft nicht weniger gefährlich als den Krauts. Bei der Eroberung Siziliens war Patton seinem alten Rivalen Montgomery auf und davon gefahren und noch immer so in Rage, daß er bei der Besetzung Palermos in einem Lazarett zwei GIs, die er für Drückeberger hielt, geohrfeigt hatte. Der Aufschrei der US-Mütter rief Amerikas aggressivsten General vom Kriegsschauplatz ab. Während der Invasion saß er auf der britischen Insel und kommandierte – um die Deutschen zu bluffen – einen Schattengefechtsstand. Es war keine Aufgabe für ihn. Patton sah ungeduldig auf den Kontinent; als die Invasion steckengeblieben war, gab ihm Eisenhower wieder ein Frontkommando unter der Bedingung, daß er vor jedem Zornesausbruch erst bis zehn zählte. Lucky -93-
Forward schaffte mit seiner 3. Armee den Durchbruch von Avranches, stets an der Spitze, auch beim Abfangen der deutschen Ardennen-Offensive. Als ihn Journalisten einmal fragten, warum seine Panzer stehenblieben, antwortete der General in seiner drastischen Ausdrucksweise: »Meine Männer können ihre Koppel und auch ihre Stiefel fressen, aber sie können nicht den Treibstoff pissen, den sie brauchen, damit ihre Panzer fahren.« Trotz seiner Lorbeeren an der Mosel und in der Pfalz ist Patton verärgert, daß seinem Erzrivalen Monty die offizielle Rheinüberquerung bei Wesel zufällt, die der Brite in seiner bedächtigen, beinahe behäbigen Art vorbereitet: Eine sechzig Kilometer lange Nebelwand, 27 Divisionen auf einer Frontbreite von siebzig Kilometern, 48 Stunden vorbereitendes Trommelfeuer aus 3480 Geschützen – und mit Premierminister Winston Churchill und dem Oberkommandierenden Eisenhower als Zuschauer. Mit diesem Aufwand, meint Patton, könnte das jeder, und er geht allen Ernstes daran, Monty die Schau zu stehlen, um bei Oppenheim ohne Artillerie, ohne Flugzeuge, ohne Nebelwand und auch ohne Befehl über den Rhein zu setzen aber zunächst einmal muß er die Reste der Heeresgruppe G vernichten. Um sie zu retten, wendet sich SS-General Hausser an seinen Oberbefehls haber und verlangt unter Hinweis auf seine hoffnungslos unterlegenen Truppen die Genehmigung zum Rückzug über den Rhein. Kesselring verweigert sie ihm abermals, setzt jedoch hinzu: »Aber lassen Sie sich nicht umklammern.« General Hausser hält sich an den zweiten Teil dieser Gummianweisung und zieht sich unter hinhaltendem Widerstand über den Rhein zurück. Der OB-West fliegt in die Reichshauptstadt, um Hitler über die hoffnungslose Situation im Westen zu unterrichten. Sein Wagen kommt nur langsam voran. Berlin ist eine Trümmerwüste, doch keine Geisterstadt; 600000 Menschen -94-
gehen täglich in die Fabriken – nur jede dritte ist ausgefallen – und in die Büros, als stünden die Russen nicht an der Oder. Von den 4,3 Millionen Vorkriegsbewohnern sind nach Schätzung der Militärbehörden höchstens noch 2,7 Millionen – darunter mehr als zwei Millionen Frauen – in der Ruinenstadt, die allein in den letzten elf Wochen 85 Luftangriffe über sich ergehen lassen mußte. Auf 25 Quadratkilometern liegen hundert Millionen Kubikmeter Schutt, zehnmal mehr als in London nach dem ›Blitz‹. An den geschwärzten Fassaden zwischen den Kraterlöchern mit Kreide geschriebene Wandzeitungen des Schicksals: HOFFMANN: PAPA LEBT – ELVIRA VERMISST Daneben: WIR WOLLEN LIEBER STERBEN ALS KAPITULIEREN! Im nächsten Haus: FAMILIE MEIER – ALLE TOT Die Berliner leben von einem Tag auf den anderen, wie nach dem Überlebenskalender des Obergefreiten Elias. Sie hoffen, daß die Anglo-Amerikaner vor den Russen die Stadt nehmen werden. Und daß sie ihren Humor noch nicht verloren haben, beweist der Slogan dieser Tage: ›Führer befiehl – wir tragen die Folgen.‹ Gerüchte, Angst und Hoffnung auf engstem Raum: Beim stundenlangen Schlangestehen vor dem Fleischerladen, das dann doch zu nichts führt, weil ein Luftangriff dazwischenkommt oder das Sonderangebot auf halbe Lebensmittelmarken schon ausverkauft ist. Wenn man abends im Keller nebeneinander sitzt und das Haus unter den Druckwellen explodierender Bomben zittert, gibt es häufig ein gräßliches Thema: Wie bringt man sich am schnellsten um, falls die Russen tatsächlich kommen? Woher nimmt man das Gift? Kesselring hat das Regierungsviertel erreicht. Es ist bis zu zwei Dritteln zerstört, das Palais des Reichspräsidenten -95-
ausgebrannt. Zwischen den geborstenen Eingangssäulen liegen zerbrochene Nymphen aus Stein, und die beiden MädchenStatuen unter dem Dach wurden von Bombensplittern geköpft. Aber Speers angeschlagene neue Reichskanzlei steht noch – wie militärisch sinnlos blinde Terrorangriffe sind, zeigt sich darin, daß das Ind ustrieviertel im nördlichen Westen am wenigsten beschädigt ist. Hier heißt ein weiterer schwarzer Witz: ›Spandauer Zwerge kommen als Letzte in die Särge.‹ So ernst gemeint ist das nicht, schon weil es für die meisten Luftkriegsopfer keine Särge mehr gibt, und für viele auch keinen Pfarrer, denn die Partei will das Endprodukt der nationalen Erneuerung so schnell wie möglich unter der Erde verschwinden lassen. Kesselring ist am Ziel; er steht vor Hitlers unterirdischem Hauptquartier, einem Gewirr von Gängen und Räumen, das 600 bis 700 Menschen aufnehmen kann: Die Küche, den Generatorenraum, Personalunterkünfte für die Wachen und den Leibarzt. Vom Vorbunker aus führt eine kurze Treppe zu Hitlers letztem Quartier hinunter. Vor Wochen noch war an der – unvollendeten – Katakombe gearbeitet worden. Die Bunkerwände sind teils feucht, teils staubig. 18 Räume, zweieinhalb mal drei Meter groß, Zuchthausformat, unter einer 3,5 Meter dicken Stahlbetondecke und einer etwa zwei Meter hohen Erdaufschüttung. Die Räume des Mittelgangs sind etwas größer, zweieinhalb mal sechs Meter, Kapoformat. Von hier aus kommt man in Hitlers Arbeits- und Schlafräume. Der Diktator ist seit dem 15. Januar in der Reichshauptstadt, aber das wissen die Berliner nicht. Er wird ihre Stadt nur noch einmal zu einem kurzen Besuch der Front vor seiner Haustür verlassen. Die letzten 105 Tage seines Lebens verbringt er als Höhlenbewohner, bar jeder Realität, bei künstlichem Licht und gefilterter Luft und gefilzten Besuchern. Ab und zu steigt er, begleitet von seiner Schäferhündin Blondi, die 50 Stufen zur -96-
Oberwelt hoch. Generalfeldmarschall Kesselring muß sich einer Leibesvisitation unterziehen wie jeder andere Besucher. Der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht empfängt ihn freundlich, doch zerstreut. Ganz auf die Oderlinie fixiert, scheint ihn das Geschehen am Rhein nur wenig zu interessieren. »Aufgrund meiner italienischen Erfahrungen«, schließt Kesselring seinen Rapport, »hätte ich nie gedacht, daß Amerikaner so verwegen sein können.« Noch immer ist der Dik tator nicht bei der Sache. Aber, wenn er die große Entscheidungsschlacht an der Oder gewonnen habe, erwidert er schließlich, würde er unverzüglich die freiwerdenden Eliteverbände an die Westfront abgeben und dadurch alle Probleme lösen. Hinter ihm steht Keitel und nickt – der Generalfeldmarschall, der nachweisbar während des ganzen Zweiten Weltkriegs nicht ein einziges Mal die Front besucht hat. Mit Hitlers unverbindlichem Versprechen läßt sich Kesselring nicht abspeisen. Er malt die Frontlage jetzt in noch düstereren Farben aus und weist – wie Albert Speer berichtet – darauf hin, »daß die Bevölkerung beim Kampf gegen die vordringenden amerikanischen Streitkräfte überaus hinderlich in Erscheinung trete. Immer öfter käme es vor, daß sie die eigenen Truppen nicht in die Dörfer lassen. Die Offiziere sähen sich beschworen, die Ortschaften nicht durch Kampfhandlungen zu zerstören. In vielen Fällen habe die Truppe dem verzweifelten Verlangen stattgegeben.« Ohne auch nur einen Augenblick über die Folgen nachzudenken, wandte Hitler sich an Keitel, einen Befehl an den Oberbefehlshaber West und die Gauleiter zur Zwangsevakuierung der gesamten Bevölkerung aufzusetzen. Beflissen setzte Keitel sich sofort selbst an einen Tisch in der Ecke, um den Befehl zu formulieren. Einer der anwesenden Generäle redete auf Hitler ein, es sei -97-
unmöglich, die Evakuierung von Hunderttausenden durchzuführen. Züge stünden doch gar nicht mehr zur Verfügung. Der Verkehr sei längst vollständig zusammengebrochen. Hitler blieb ungerührt. »Dann sollen sie zu Fuß marschieren!« erwiderte er. Hitlers körperlicher Verfall ist unübersehbar, aber die Menschen, die er am liebsten um sich hat – Fahrer, Sekretärinnen, Adjutanten, Diener, Piloten, Funktionäre, Leibwächter und Diätköchinnen, die ›Chauffeureska‹ (Putzi Hanfstaengl), zu der mittlerweile auch höchste Militärs gehören –, sind von ihm noch immer fasziniert und folgen ihm blind. Wie sehr Hitler noch in der Lage ist, seine Satrapen zu infizieren, zu hypnotisieren, zeigt das Beispiel des Danziger Gauleiters Albert Forster, der in diesen Tagen als gebrochener Mann im Führerbunker vorspricht. Er bittet um klare Entscheidung, weil 1100 Sowjetpanzer auf die Stadt zurollen, denen er nur vier Tiger entgegensetzen kann. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Diktator ist der Reichsverteidigungskommissar wie verwandelt – sein Führer will mit neun Divisionen die Danziger Bucht retten. Besucher von außen beobachten solche Szenen immer wieder und spüren selbst wenig von Hitlers Suggestionskraft. Der hochdekorierte Rittmeister Gerhard Boldt wird als Ordonnanzoffizier des Generalobersten Guderian zu Hitler abgestellt. »Langsam, stark vornübergeneigt kommt er schlurfenden Schrittes auf mich zu«, beschreibt er seine erste Begegnung mit dem Diktator. »Er streckt mir die rechte Hand entgegen und sieht mich mit einem seltsam durchdringenden Blick an. Sein Händedruck ist schlaff und weich, ohne jede Kraft und ohne jeden Ausdruck. Sein Kopf wackelt leicht, was mir später noch stärker auffallen sollte. Sein linker Arm hängt schlaff herunter, die linke Hand zittert stark. In seinen Augen liegt ein unbeschreiblich flackernder Glanz, der geradezu erschreckend und vollkommen unnatürlich wirkt. Sein Gesicht -98-
und die Partie um die Augen machen einen völlig abgespannten und verbrauchten Eindruck. Alle seine Bewegungen sind die eines kranken, senilen Mannes. Er wirkt auf mich wie ein ausgeglühtes Stück Eisen ...« Der Generalstabschef Guderian ist keine Hofschranze. Seine ständigen Hinweise auf den bevorstehenden sowjetischen Angriff auf Berlin werden Hitler und seiner Umgebung immer lästiger. Vor der Sturzflut aus dem Osten im Januar hatte Hitler die Warnung des Generalobersten als »größten Bluff seit Dschingis-Khan« bezeichnet. »Die ganze Ostfront wird zusammenstürzen wie ein Kartenhaus«, war ihm von Guderian – gestützt auf Unterlagen der Abteilung ›Fremde-Heere-Ost‹ - geantwortet worden. »Welcher Narr hat das zusammengestellt?« tobte Hitler gegen General Gehlen, »der gehört ins Irrenhaus!« Keiner der Ja-Sager in Hitlers Umgebung wagt es, auf die längst bestätigten Kassandrarufe hinzuweisen. Und wenn Guderian so weitermacht, sind seine Tage als Generalstabschef gezählt. Der Diktator triumphiert, weil er mit seiner Vorhersage, die Russen würden Berlin nicht angreifen, bis jetzt rechtbehalten hat. An der Oder-Front herrscht die Ruhe vor dem Sturm; es ist nur ein Zeitaufschub vor dem Todesstoß gegen die Reichshauptstadt. In der Danziger Bucht sind die dezimierten Verteidiger in äußerster Bedrängnis. Täglich unhaltbarer wird die Lage in Königsberg. In Schlesien verblutet Breslau allmählich. Und als letzte Stadt in Pommern ist Kolberg am Ende. Die Januar-Offensive hat dem Ostheer 660000 Ausfälle gebracht. Zahlenmäßig wurde nicht einmal die Hälfte ersetzt. Für Soldaten, die an die Front geschickt werden, gibt es keine Handfeuerwaffen mehr. Munition ist längst unter die Mindestgrenze abgesunken. Selbst die Produktion von -99-
Schießpulver klappt nicht mehr; statt 1,5 Millionen Panzer- und Artilleriegranaten wurden nur noch 367000 angeliefert. Seit dem 9. März lag Kolberg, die Festung, die Goebbels ausersehen hatte, den Geist von 1806 vorzuführen, im russischen Feuer, verteidigt von 3300 Ersatzsoldaten und Volkssturmmännern. Die Stadt ist von Flüchtlingen überfüllt. Wegen des hohen Grundwasserspiegels fällt die Trinkwasserversorgung aus. Die Ruhr rafft als erstes alle Säuglinge dahin. Der Seuche folgt eine Selbstmordwelle. Während die T 34 und Stalin-Panzer Haus für Haus in Brand schießen, bringen sich ganze Familien geschlossen um. Auf den rauchgeschwärzten Fassaden der Wohnblöcke hängen Spruchbänder mit der Aufschrift: JEDES HAUS EINE FESTUNG. Unter den Trümmern fressen sich die Ratten an den Leichen satt. Noch immer hält sich Kolberg – die Angst vor den sowjetischen Greueln zwingt die Verteidiger zum Äußersten, und so müssen die Sowjets jeden Meter Boden mit blutigen Verlusten erobern. Der Heldentod nimmt alles in Zahlung: Greise und Hitlerjungen, Frauen und Kinder, soweit sie nicht die allerletzte Chance nutzen, der verdammten Mausefalle zu entkommen. Viele weigern sich, bereit zu sterben, wo sie gelebt haben; die Heimat ist ihnen wichtiger als das Leben. Oberst Fritz Fullriede, der Festungskommandant, schafft es in einer Gewaltleistung bis zum 17. März 70000 Flüchtlinge und Verwundete über See wegzuschaffen, obwohl die Russen schon am Ufer der Persanthe stehen und mit ihren MGs auf die desperate Rettungsaktion einhämmern. 2200 Verteidiger kämpfen zuletzt schutzlos auf einem nicht einmal zwei Kilometer langen und einige hundert Meter breiten Sandstrand. Hier sollen sie für Goebbels gewissermaßen in Großaufnahme sterben, als Beispiel für alle. Aber Oberst Fullriede wagt es, den -100-
Wahnsinnsbefehl zu ignorieren, und er schafft noch einmal 2000 Geistersoldaten aus einer Stadt, in der es nur noch Ruinen, Leichen und Ratten gibt. Das geschieht am 18. März, dem gleichen Tag, an dem der Rüstungsminister Albert Speer seinem Führer eine 22 Seiten lange Denkschrift überreichen will, in der er zusammenfaßt, daß der Krieg militärisch nicht fortgesetzt werden könne, da die Rüstungsindustrie in spätestens vier bis acht Wochen am Ende sein wird. Speer - anderen Vasallen des braunen Systems intelligenzmäßig weit überlegen und Hitler nicht nur politisch, sondern auch persönlich auf eine unterschwellige Art verbunden hat ein gespaltenes Verhältnis zu seinem Förderer. In den letzten Wochen vor dem Zusammenbruch erreicht es seinen Höhepunkt, wird geradezu schizophren: Während Albert Speer versucht, Hitler und seine Kamarilla über den Entlüftungsschacht mit dem Giftgas Tabun zu töten, erbittet er sich gleichzeitig vom Diktator als Geschenk für seinen 40. Geburtstag ein Foto mit eigenhändiger Führerwidmung. Umgekehrt hat es auch Hitler mit seinem Rüstungstechnokraten schwerer als mit den anderen bis hinauf zum Generalfeldmarschall, denen er Wunderwaffen verspricht, die so geheim sind, daß er sich nicht konkret über sie äußern kann. Speer kennt den Stand der Waffenentwicklung nur zu genau. Ihm kann der Diktator mit geheimnisvollen Andeutungen und unverbindlichen Versprechungen nicht kommen, deshalb wendet er bei ihm eine andere Taktik an und spricht von Geheimverhandlungen mit den westlichen Alliierten. Tatsächlich hat vor Tagen Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop über Stockholm einen – sofort gescheiterten dilettantischen Versuch unternommen, vielleicht sogar mit Wissen seines Führers, jedoch mit Sicherheit ohne seinen Auftrag. Zunächst einmal bringt der Rüstungsminister seine Denkschrift nicht an, weil sich die Lagebesprechung endlos -101-
hinzieht. Erst gegen Mitternacht gelingt ihm die Überreichung. »Hitler nahm sie wortlos entgegen«, berichtet Albert Speer. »Um die Verlegenheit des Augenblicks zu überbrücken, unterrichtete ich ihn davon, daß ich noch in dieser Nacht in den Westen fahren würde. Dann verabschiedete ich mich. Noch während ich vom Bunker aus telefonisch Wagen und Fahrer anforderte, wurde ich erneut zu Hitler gerufen: ›Ich habe mir überlegt, es ist besser, wenn Sie einen meiner Wagen nehmen und mein Fahrer Kempka Sie fährt.‹ Ich widersprach mit Vorwänden. Endlich willigte Hitler ein, daß ich zwar meinen Wagen benutzen könne, Kempka jedoch mich fahren müsse. Mir war etwas unheimlich zumute, denn die Wärme, mit der Hitler mich bei der Übergabe seines Bildes fast bezaubert hatte, war inzwischen wieder verschwunden. Spürbar verstimmt entließ er mich. Ich war schon zur Tür, als er mir, wie, um keine Antwort mehr zuzulassen, sagte: ›Diesmal bekommen Sie auf Ihre Denkschrift eine schriftliche Antwort!‹ In eisigem Ton fügte er nach kurzem Innehalten hinzu: ›Wenn der Krieg verlorengeht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf diese Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen!‹« Die schriftliche Antwort, die Hitler seinem fähigsten Paradin in Aussicht gestellt hat, ergeht am nächsten Tag und ist furchtbar. Der Diktator erläßt am 19. März den Nero-Befehl mit dem Ziel: VERBRANNTE ERDE IN DEUTSCHLAND. Wörtlich heißt es: »Der Kampf um die Existenz unseres Volkes zwingt auch innerhalb des Reichsgebietes zur Ausnutzung aller Mittel, die die Kampfkraft unseres Feindes schwächen und sein weiteres -102-
Vordringen behindern. Alle Möglichkeiten, der Schlagkraft des Feindes unmittelbar oder mittelbar den nachhaltigsten Schaden zuzufügen, müssen ausgenutzt werden. Es ist ein Irrtum zu glauben, nicht zerstörte oder nur kurzfristig gelähmte Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen bei der Rückgewinnung verlorener Gebiete für eigene Zwecke wieder in Betrieb nehmen zu können. Der Feind wird bei seinem Rückzug uns nur eine verbrannte Erde zurücklassen und jede Rücksichtnahme auf die Bevölkerung fallenlassen. Ich befehle daher: 1. Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören. 2. Verantwortlich für die Durchführung dieser Zerstörung sind die militärischen Kommandobehörden für alle militärischen Objekte einschl. der Verkehrsund Nachrichtenanlagen; die Gauleiter und Reichsverteidigungskommissare für alle Industrie- und Versorgungsanlagen sowie sonstigen Sachwerte. Den Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren ist. bei der Durchführung ihrer Aufgabe durch die Truppe die notwendige Hilfe zu leisten. 3. Dieser Befehl ist schnellstens allen Truppenführern bekanntzugeben, entgegenstehende Weisungen sind ungültig.« Nach dem ersten Entsetzen überlegt der Rüstungsminister, wie er verhindern kann, daß die überlebenden Deutschen künftig ohne Strom, ohne Gas, ohne Wasser, ohne Kohle vegetieren müssen und daß im letzten Moment noch die Bahnanlagen, Kanäle, Schleusen, Docks, Schiffe und Lokomotiven vernichtet werden. Dieser Zustand würde den von den Alliierten längst -103-
aufgegebenen Morgenthau-Plan noch bei weitem übertreffen. Die drei rheinischen Reichsverteidigungskommissare Florian, Hoffmann und Schlessmann, deren Gaue gerade von AngloAmerikanern überrannt werden, stellen sich einmütig und total hinter den Nero-Befehl. Wer sich ihm widersetzt, soll erschossen oder gehängt werden. Die Order, das Vaterland zu vernichten – dessen Macht der Papier-Deutsche Adolf Hitler unter dem Motto DEUTSCHLAND ERWACHE einst angetreten hatte –, kommt drei Tage vor der angloamerikanischen und 27 Tage vor der sowjetischen Schlußoffensive, die zum totalen Untergang des Dritten Reiches führen werden. Als Florian Wamsler nach der Operation aus der Narkose zu sich kommt, sieht er benommen in die rehbraunen Augen der hübschen Schwester Wilma, fängt ihr Lächeln auf und versucht, es zurückzugeben. Die junge Samariterin hat alle Hände voll zu tun, aber sie steht an seinem Bett und wartet, bis sein Bewußtsein ganz zurückkehrt. Der Junge wird von einer Welle des Glücks überflutet. »Mein Gott, bist du lieb!« Die Zwanzigjährige stammt aus Franken, der Bocksbeutelgegend, die zu Bayern gehört. Auf dem Weg in die Heimat hätten sie zunächst die gleiche Strecke, und so etwas verbindet, auch wenn es nur eine theoretische Überlegung ist. »Wie fühlst du dich, Florian?« fragt Wilma. Unter ihrer weißen Haube quellen sanftrote Locken hervor. »Prächtig«, erwidert er. »Zum Bäumeausreißen – wenn ich dich so ansehe.« »Reiß sie aus«, entgegnet das Mädchen lachend. »Aber nur mit dem linken Arm.« »Was ist mit meinen Kumpels los?« fragt der frisch Operierte. »Die sind alle noch hier«, entgegnet Wilma. »Stabsarzt -104-
Waske ist ein toller Arzt, ein Mensch, und keine ...« »Keine Lobreden, Schwester«, sagt der eintretende Mediziner. »Gehen Sie bitte in die Aufnahme, wir haben Neuzugänge en masse.« Der Arzt mit Herz beugt sich über den Patienten: »Schmerzen?« fragt er. »Kaum«, erwidert der Gefreite. »Sie werden noch kommen«, entgegnet der Stabsarzt. »Aber ich kann nicht viel dagegen tun. Wenn nicht bald die versprochenen Medikamente eintreffen, muß ich den Laden hier dichtmachen.« Übergangslos setzt er hinzu: »Wir haben den Knochen etwas verkürzen müssen. Sie werden sich künftig schwertun, ihn zum deutschen Gruß hochzuheben.« Waske verzieht keine Miene dabei, und sofern es sich um eine Anspielung handelte, ist sie gut getarnt. »Zunächst also können Sie mit Ihrem Arm noch nicht viel anfangen, aber mit der Zeit werden Sie sich schon besser damit arrangieren.« Mehr als der Arm macht Florian Wamsler die Sorge um zu Hause zu schaffen. Er hat noch erfahren, daß seine Eltern ausgebombt wurden und seine Mutter zu ihrer Kusine aufs Land nach Iffeldorf gezogen ist, aber in dem kleinen oberbayerischen Ort gibt es nur eine öffentliche Sprechzelle. Kurz vor seiner Nachoperation hatte sich der Gefreite daran erinnert, daß er der Sohn eines Postrats ist und diese Beziehung mobilisiert; er wurde tatsächlich mit der Oberpostdirektion in München verbunden, aber Florian erfuhr nur, daß sein Vater beurlaubt sei, und dann war die Verbindung schon wie der unterbrochen. Seitdem versucht er Mutter zu erreichen, aber davon abgesehen, daß es in diesen Tagen fast unmöglich ist, vom Rheinland aus mit einem Privatgespräch nach Süddeutschland durchzukommen, ist die einzige Zelle in Iffeldorf ständig belegt. Er schafft es nicht; dabei sollen die Eltern erfahren, daß er Stupsi, das Nesthäkchen, an der Brücke von Remagen getroffen hat und, sie wohlauf war. -105-
Außerdem will er wissen, wie Mutter den Totalschaden erträgt und ob Nachricht von seinen beiden Brüdern vorliegt. Schwester Wilma schaut noch einmal herein: »Paß’ auf, Flori«, sagt sie. »Ich bin gerade auf der Militärleitung nach Iffeldorf durchgekommen: Voranmeldung für ein Gespräch, morgen früh um acht Uhr. Vielleicht klappt’s.« »Du hast eine Genehmigung bekommen?« fragt der Münchener überrascht. »Ich hab’ vergessen, danach zu fragen«, erwidert Wilma und verschwindet so schnell, wie sie gekommen ist. In der Tür stößt sie auf die drei anderen Verwundeten von Bonn, die sie verlegen angrinsen. »Florian geht es gut«, sagt die Schwester rasch. »Er ist bald wieder auf den Beinen.« »Kunststück«, entgegnet Adamsky, und tritt an JungSiegfrieds Bett, »bei so einer Pflegerin«, sagt er. »Du hast vielleicht ’n Schwein, Junge, bist wirklich ein Glückspilz! So ’n pfundiges Mädchen und dann noch so ’nen tüchtigen Arzt dazu.« »In fünf Jahren habe ich keinen solchen Doktor in Uniform erlebt«, hüstelt Raschke. »Du hast ’ne Chance eins zu neun wahrgenommen.« »Das ist noch viel zu hoch gegriffen«, stellt Adamsky fest. Dann spielt er wieder auf die Krankenschwester an: »Der Herr gibt’s den Seinen wohl im Narkoseschlaf.« »Jeder will ma«, blödelt Raschke in Namensanspielung auf Florians Flamme. »Jeder kann mich mal«, kontert der Münchener, und da merken sie, daß es ihm schon wieder viel besser gehen muß. Unheimlich schnell verbreitet sich im Lazarett zu Limburg an der Lahn, daß wieder einmal eine Heldenklau-Kommission eingetroffen ist, eine SS-Streife diesmal, geführt von Sturmbannführer Grosse. Schon auf den ersten Blick -106-
unterscheidet sic h dieser Offizier durch seine guten Manieren wohltuend von den anderen Feldgendarmen. Und seine ordensgeschmückte Heldenbrust zeigt auch an, daß er sich nicht einen Krieg lang in der Etappe herumgetrieben hat. »Tut mir leid, Dr. Waske«, begrüßt er den Stabsarzt. »Sie wären ein verdammt schlechter Doktor, wenn Sie sich nicht vor Ihre Verwundeten stellen würden, aber ich brauche dringend jeden Mann. Wir stehen auf verschiedenen Seiten, aber vielleicht läßt sich das Problem mit Vernunft und Anstand lösen.« Es sind neue Töne, doch Dr. Waske bleibt auf der Hut: Lupus in fabula, denkt er – entweder hat der Wolf wie im Märchen Kreide gefressen, oder der SS-Major Grosse bereitet sich bereits auf seine bescheidenere Rolle in der Zukunft vor. Der Mediziner weiß, daß er diesmal Federn lassen – und das heißt, Verwundete abgeben – muß. »Ich will Ihnen nicht zumuten, was gegen Ihr berufliches Gewissen geht«, behauptet Grosse. »Sehen Sie sich die Leute doch selbst an, Sturmbannführer«, erwidert der Mediziner. Sie gingen gemeinsam durch die Stuben. »Sieh an«, sagt Grosse zu Uscha Baldauf: »Hier ist ja einer von meinem Verein. Wie geht’s dir, Unterscharführer?« »Halbwegs, Sturmbannführer.« »Woher kommst du denn?« »Aus Aachen.« »Richtig dort geboren und aufgewachsen?« »Ja, Stur mbannführer.« »Und nun möchtest du nach Hause zu Muttern?« fährt Grosse fort, »Mutter lebt noch?« »Mutter und Schwester«, antwortet der Uscha. »Soweit ich weiß«, schränkt er ein. -107-
»Komm mal mit, Junge«, sagt Grosse und zieht Baldauf beiseite. »Hören Sie, Sturmbannführer«, protestiert Dr. Waske. »Der Mann muß noch mindestens 14 Tage hierbleiben.« Einen Moment lang wirkt der Weißkittel unschlüssig. »Ich gebe ihn nur frei, wenn Uscha Baldauf selbst damit einverstanden ist« wirft er dem 25jährigen ein Rettungsseil zu. »Soweit sind wir noch lange nicht«, versetzt der Heldensammler und geht mit Uscha Baldauf in den Garten, offensichtlich ein Hexenmeister des freiwilligen Zwangs. Am nächsten Tag steht der Gefreite Wamsler schon um sieben Uhr morgens im Ärztezimmer, wo er nichts zu suchen hat. Der Stabsarzt war längst vor ihm da – er hat in dieser Nacht höchsten zwei Stunden auf dem Feldbett im Gang geschlafen –, er durchschaut Wilmas und Florians Dreh, die Militärleitung widerrechtlich zu benutzen, und läßt ihn durchgehen. Zwar sind die Gerüchte schneller als die US-Panzer, aber daß Limburg in nächster Zeit überrollt wird, ist dem Mediziner klar – und Limburg ist überall in Deutschland, in Hessen und in Franken, in der Lüneburger Heide, in Thüringen und sogar in der sogenannten Festung Alpenland in Oberbayern, von der jetzt alle schwafeln. Es ist nur eine Frage der Zeit, und auch diese wird inzwischen so knapp wie die Munition. Die Verbindung nach Iffeldorf bei Penzberg kommt bereits 20 Minuten vor der Voranmeldung zus tande, aber das macht nichts, denn Mutter Wamsler wartet auch schon seit einer Stunde aufgeregt auf der Poststelle. Sowie der Junge beglückt ihre Stimme hört, spürt er auch ihre Hände. Hände, die ihn liebkosen, an sich ziehen, wie eh und je. Während er sic h früher steif machte, weil sich ein echter Hitlerjunge hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie ein Windhund – keine Sentimentalität anmerken lassen darf, wird Florian diesmal von einer Woge heißer Zärtlichkeit erfaßt. -108-
»Mutter«, sagt er außer Atem, »Mutter, stell’ dir vor, ich hab’ Stupsi getroffen und –« »Das weiß ich schon seit Tagen, Florian – und ich hab’ mir solche Sorgen um dich gemacht, da, an dieser Brücke und –« »Alles vorbei, Mutter. Ich bin wieder im Lazarett. Wie geht’s Vater?« »Zur Zeit etwas besser«, sagt die stille Frau beredt. »Ihr tragt mir die Sache mit den Nebelkerzen nicht nach ihr seid mir nicht mehr böse, daß ich kein Leutnant mehr bin?« »Ganz im Gegenteil, Bub«, entgegnet Barbara Wamsler. »Vielleicht hast du so eine größere Chance, wieder nach Hause zu kommen. Jetzt brauchst du doch nicht immer vornweg, und –« »Ich paß’ schon auf mich auf, Mutter«, verspricht Florian, und es ist, als spüre er ihre Wärme durch die lange Leitung. Einen Moment lang ist er zornig auf sich, daß man erst in eine schlimme Lage kommen muß, um zu wissen, was eine Mutter ist. »Stell’ dir vor, Flori«, packt Frau Wamsler wie eine sparsame Hausfrau das beste Bonbon zuletzt aus der Verpackung: »Sepp war da, und er kommt noch einmal hierher – er und Eva werden heiraten, die kriegen ein Kind, und –« Knacks. Die Verbindung bricht mitten im Satz ab. Eine zweite kommt nicht mehr zustande. Der Junge wendet das Gesicht von Wilma ab, damit sie nicht sieht, daß er feuchte Augen hat, doch sie hat es längst bemerkt, geht auf ihn zu, dreht seinen Kopf herum. »Brauchst nicht wegzusehen, Flori«, sagt sie und fährt ihm mit der Hand über die Stirn, »deswegen mag ich dich so sehr, weil du nicht so ein kaltschnäuziger Teufel bist.« Er geht wie ein Traumwandler in die provisorische Krankenstube, ein hastig umgeräumtes Schulzimmer, zurück. -109-
Seine Kumpane warten schon auf ihn. Raschke hat eine Überweisung in das Heimatlazarett nach Berlin und ist darüber ebenso beglückt wie verwirrt. Soll er oder soll er nicht? »Sehen Sie, Raschke«, hat Stabsarzt Waske ihm mit einem Blick auf das Röntgenbild erläutert: »Das Geschoß sitzt am Rande der Lunge fest, und solange die Kugel stillsitzt, passiert nichts. Wenn sie aber wandert, von selbst oder durch eine heftige Bewegung zum Beispiel, dann klappt Ihr Lungenlappen zusammen, und der Ofen geht aus. Bis das Geschoß nicht entfernt ist, schweben Sie aber in einer Art Lebensgefahr – und darum muß sie heraus, und zwar in einer Spezialklinik.« »Aber die Iwans werden dich nicht gesundpflegen«, sagt Wamsler. »Ach, weeste, wenn ’wa jar keene Hoffnung mehr haben, könn’wa ja jleich den Löffel abgeben«, spricht, hustet und keucht der Berliner gleichzeitig. »Und die Amis sind doch schneller als der Iwan. Det ham’wa ja erlebt.« »Wenn sie wollen schon«, stellt der Skeptiker Adamsky fest. »Aber die Russen sind schon viel näher an Berlin.« »Ich will’s riskieren«, hüstelt Raschke. »Ich muß mich auch gleich verabschieden«, sagt Uscha Baldauf. »Ich hab’ mich freiwillig zur kämpfenden Truppe zurückgemeldet.« »Hat dich der Sturmbannführer herumgekriegt, du Arschloch«, giftet Adamsky. »Nein«, erwidert der Aachener. »Aber ich werde in meine Heimatstadt entlassen.« »Du hast doch wohl ’ne Meise«, sagt Wamsler. »Glaubst du eigentlich noch an den Klapperstorch und an den Weihnachtsmann?« »Ich kann’s euch nicht erklären«, erwidert Baldauf. »Es ist streng geheim – und so genau weiß ich’s selbst nicht, aber ich -110-
sag’ euch, dieser Sturmbannführer Grosse, das ist ein ganz toller Hecht.« »Weeßte denn ooch schon, wie du nach Aachen kommst?« höhnt Raschke. »Auch das«, versetzt der Uscha. »Aber das geht euch nichts an.« »Du hast sie wirklich nicht alle«, erwidert Adamsky. »Der Major ist aus meiner Gegend, und er hat halt ein Herz für einen Landsmann –« »Faul«, versichert Adamsky. »Oberfaul.« »Würdest du denn die Chance, nach Hause zu kommen, nicht wahrnehmen, Adamsky?« fragt er den aufsässigen Obergefreiten aus Pommern. »Das Problem stellt sich für mich nicht«, erwidert der Kumpel wie mit vollem Mund. »In meiner Heimat sind die Russen.« »Macht’s gut«, sagte Baldauf und überreichte jedem einen vorbereiteten Zettel mit seiner Heimatanschrift. »Ihr seid prima Burschen gewesen und ich hoffe, daß ihr diese Scheiße alle heil übersteht und wir uns nach dem Krieg einmal wiedersehen.« »Das ist ’n Wort«, entgegnet Raschke keuchend. Baldauf gibt jedem die Hand, er sieht nicht links, nicht rechts, läuft wie mit Scheuklappen, er ist auf Heimatkurs. Er hat einen Marschbefehl zum Fliegerhorst Hildesheim, wo eine Einheit des geheimnisvollen KG 200, des Spionage-Geschwaders, stationiert ist. Dieser E-Hafen ist nicht zufällig gewählt, denn das Sonderkommando, bei dem sich der Uscha melden muß, wird bei Nacht und Nebel mit einer erbeuteten Boeing B 17, einer viermotorigen ›Fliegenden Festung‹, an den Einsatzort gebracht werden, in das von den Amerikanern besetzte Hinterland. Das weiß Baldauf nicht, aber ein wenig wird ihm doch mulmig, als ihn sein Gönner von seinem Fahrer mit dem eigenen -111-
Wagen nach Niedersachsen karren läßt, weil sein letzter Einsatz so eilig ist. Es handele sich, so hatte man ihm erklärt, um Geheimakten, die unbedingt aus einem Keller in Aachen geborgen werden müssen, bevor sie den olivgrünen Kameraden in die Hände fallen. Dafür brauche man einen ortskundigen Lotsen, da der vorgesehene unvermittelt ausgefallen sei. Wenn Baldauf seine Begleiter eingewiesen hat, wäre für ihn die Sache und der Krieg erledigt sein. Dieser Sturmbannführer Grosse muß eine ganz große Nummer sein, aber so genau will das der Junge auf Heimatkurs gar nicht wissen: Nichts hören, nichts sehen, nichts reden: Die Rezeptur des Überlebens. Zu dumm, daß man ihn so kurz vor Torschluß noch zu einem Verein versetzt hat, der so auf den Führer eingeschworen ist. Es gab kein Entrinnen, und die Luftwaffe hat ihn einfach zwangsversetzt, ihn und viele andere, und das muß sich doch beweisen lassen. Der Unterscharführer, vormals Unteroffizier, erinnert sich, daß seine Remagen-Kumpels seiner Uniform wegen zunächst ziemlich reserviert waren, aber dann hat es sich gegeben. Prima Kerle übrigens. Einen Moment lang überlegt Baldauf zwecklos, ob es nicht doch besser gewesen wäre, bei ihnen zu bleiben! Auch keine Lösung. Sicher stehen die USPanzer jetzt schon vor Limburg, und wenn die Verwundeten nicht schleunigst türmen, so schnell und so weit sie die Be ine tragen, geraten sie in amerikanische Kriegsgefangenschaft, und das kann dann Jahre dauern, bis man sie wieder laufen läßt. Tatsächlich sind die olivgrünen Eroberer aus dem rechtsrheinischen Brückenkopf ausgebrochen und stoßen in alle Richtungen vor. Im Norden setzen sie sich auf den Höhenzügen fest, von denen aus sie die schmale Ebene beherrschen. Der höchste Punkt ist der 324 Meter hohe Drachenfels, aus dessen Steinen einst der Kölner Dom erbaut worden ist. Um Rhöndorf, dem Alterssitz des früheren Kölner Oberbürgermeisters Adenauer, wird heftig gekämpft. Im Süden kämpft sich die 309. US-Infanteriedivision in -112-
Richtung Limburg durch. Volkssturmleute erwarten sie in selbst ausgehobenen Gräben, Verlegenheitssoldaten, über deren Kampfwert Generalfeldmarschall Model sagt: »Diesen Leuten Waffen in die Hand zu geben, bedeutet nur, sie indirekt an die USA zu liefern.« Der Widerstand, der die Amerikaner empfängt, ist eher lächerlich als gefährlich, aber das Städtchen Limburg soll wie alle anderen – verteidigt werden. Nur weiß niemand, wie und von wem. Und ein Lazarett unter dem Rotkreuzzeichen ist schon gar keine Bastion. Stabsarzt Dr. Waske durchsteht eine endlose Nacht. Fünf Schwerverwundete sterben ihm unter den Händen, zwei davon im provisorischen OP-Raum während des Eingriffs. Der Arzt ist am Ende, mit seinen Medikamenten und mit den Nerven. Ein Teil des auf dem Rückzug ziemlich zufällig aufgelesenen Sanitätspersonals hat sich in den letzten Stunden verkrümelt. Und ein lächerlicher Volkssturmführer läßt gerade die Panzersperren am Ortseingang schließen – bis alles in Scherben fällt. »Warum verduften Sie nicht auch, Schwester Wilma?« fragt der erschöpfte Mediziner seine Helferin. »Ich bleibe bei Ihnen, Herr Stabsarzt.« »Und warum nehmen Sie nicht Ihren verletzten Freund und verschwinden mit ihm Richtung Heimat?« »Weil hier noch Verwundete liegen, die sich nicht in die Büsche schlagen können, Herr Stabsarzt«, erwidert die Zwanzigjährige schlicht. Sie ringt ihrem Chef ein knappes Lächeln ab. »Für alle Fälle«, beendet Dr. Waske das kurze Gespräch, »liegen auf meinem Schreibtisch Blanko-Marschbefehle bedienen Sie sich rechtzeitig.« »Zeit, uns abzusetzen«, sagt Adamsky in diesem Moment zu -113-
den anderen. »Höchste Eisenbahn. Ich spür’s im Urin.« »Da hast du schon recht«, erwidert Wamsler ohne Überzeugung. »Weiß schon, was dich hier festhält, Jung-Siegfried«, hüstelt Raschke. »Aber wie ick det sehe, wirste nicht in Wilmas Arme fallen, sondern ’nem Stiftenkopf vor die Gewehrmündung.« Adamsky zieht einen Flachmann mit Cognac aus der Tasche und grinst, daß seine Ohren Besuch bekommen. »Moment mal«, sagt Florian Wamsler und nimmt den Überlebensfahrplan des Propheten zur Hand: »Wir haben vergessen, das Fenster von gestern zu öffnen.« Er reißt es feierlich auf, zählt nach: »15 Tage haben wir schon geschafft«, stellt er fest: »Immerhin.« »Und das arme Schwein von Erfinder schaut sich schon 14 Tage die Radieschen von unten an«, entgegnet Adamsky, nimmt einen großen Gedächtnisschluck auf Elias, den Propheten, und reicht den Flachmann weiter. »Wenigstens hat er fest daran geglaubt, daß er durchkommt«, erwidert der Münchener. »Und der Glaube versetzt ja Berge.« »Vielleicht«, unkt Adamsky. »Aber er macht keinen mehr lebendig.« Er sieht zur Tür. Dr. Waske betritt die Krankenstuben. Ein paar Minuten lang herrscht trügerische Gefechtsruhe. »Warum liegen Sie denn noch hier herum?« fragt der Stabsarzt den Pommern. »Zeit, zu verduften.« »Jawohl, Herr Stabsarzt.« »Welche Richtung hätten Sie denn gern?« fragt der silberhaarige Mediziner mit dem straffen Gesicht und den hellen Augen. »Wollen Sie in den Norden, oder möchten Sie in den Süden?« Der Arzt hält Marschbefehle in der Hand wie einen Fächer. »Hört mal«, wendet er sich an alle: »Die Amerikaner stehen vor dem Ortseingang, aber wir können noch immer nicht -114-
verlegen, weil wir keine Fahrzeuge und keinen Sprit haben. Wer versuchen will, sich auf eigene Faust durchzuschlagen, erhält von mir Marschpapiere. Wer die Kriegsgefangenschaft vorzieht, geht in den Keller, und zwar mit Beeilung.« Er sieht die Männer an, zuckt mit den Schultern. »Die Entscheidung muß jeder selbst treffen.« »Besser ich bleib’ bei dir«, sagt Adamsky zu seinem Kumpel Raschke, der ihm erfreut zunickt. »Was hältst du davon, wenn wir uns zusammen auf die Achse machen, sagen wir einmal grobe Marschrichtung Berlin?« »Prima Idee«, erwidert Raschke. »Wir können ja dann unterwegs immer noch entscheiden, irgendwo liegenzubleiben.« »Genauso hab’ ich mir das vorgestellt«, entgegnet der Pommer. Der Stabsarzt überreicht ihnen die Marschbefehle: »Setzt eure Namen ein«, fordert er die Männer auf: »In Blockbuchstaben. Ihr seid in das Heimatlazarett nach Berlin verlegt mit dem Auftrag, euch durchzuschlagen. In der Reichshauptstadt sucht ihr euch ein passendes Krankenhaus und seht zu, daß man euch aufnimmt. Aber wahrscheinlich kommt ihr gar nicht mehr bis dorthin. Geld kann ich euch nicht geben. Lebensmittelkarten auch nicht. Aber ihr werdet schon durchkommen, organisieren habt ihr doch gelernt, oder?« »Jawohl, Herr Stabsarzt.« Einer der Schwerverwundeten will sich anschließen. »Sie nicht, Sie Wahnsinnsapostel«, fährt ihn der Mediziner an: »Sie gehen gefälligst nach unten. Die Amis werden Sie schon nicht fressen, Mann. Und ich bleib’ ja bei euch und versorge euch auch künftig.« Er geht in den nächsten Krankenraum. Ein Sanitätsfeldwebel stürmt auf ihn zu: »Einen fahrbaren Holzvergaser hab’ ich jetzt aufgetrieben, Herr Stabsarzt.« -115-
»Los!« befiehlt Dr. Waske. »Einladen! Die müssen am südlichen Ortsausgang die Panzersperren für uns noch einmal öffnen.« 22 Verwundete, die nicht gehen können, aber doch transportfähig sind, hat der Stabsarzt längst ausgewählt. »Los!« brüllt der Feldwebel. »Wer kann, faßt mit an!« Die Umstehenden lassen sich nicht lumpen. Auch der Gefreite Wamsler greift wenigstens mit einer Hand zu. Die ersten fünf Verwundeten sind schon aufgeladen, da setzt mit einem Donnerschlag vom Ortseingang her der Beschuß wieder ein. Im grauen Morgendunst flammen die Mündungsblitze der Panzerkanonen auf. Eine einsame deutsche Pak erwidert das Feuer und beschäftigt die ›Sherman‹-Besatzungen wenigstens einen Moment lang. Die Samariter nutzen es. Dr. Waske und der Feldwebel tragen den vorletzten Verwundeten aus dem Behelfslazarett. Fünf Meter noch bis zum Lastwagen. Noch drei. Die ›Shermans‹ haben die Pak erledigt und nehmen einen Zielwechsel vor. Direktbeschuß aus nächster Nähe. Eine Granate fährt in den Lkw-Kühler, setzt den Motor in Flammen. Die nächste reißt die Bordwand herunter. Die dritte erfaßt den Stabsarzt, den Verwundeten und den Feldwebel. Volltreffer. Tot. Alle drei. Das aschgraue Haar des Mediziners färbt sich rot, von seinem Gesicht ist nicht mehr viel zu erkennen. »Komm«, sagt Florian zu der bestürzten Wilma, nimmt sie an der Hand und reißt sie mit. Raschke und Adamsky schließen sich dem Ausbruchsversuch an. Sie hasten quer durch das Feuer, von Haus zu Haus, erreichen die Wiese, werfen sich ins Gras. Auf einmal sind auch die verdammten Jabos wieder da. »Wir müssen in den Wald«, schnauft Florian. »Der gibt uns Deckung. -116-
Kannst du wieder?« Wilma nickte. In langen Sätzen rennen sie auf die Bäume zu. Sie schaffen es. Adamsky ist der Nächste. Am schwersten tut sich Raschke, aber er hält durch. Florian sagt etwas, aber das Mädchen schüttelt den Kopf. Wilmas Ohren sind taub vom Gefechtslärm. Florian sieht noch einmal nach Limburg zurück. Aus vielen Fenstern hängen jetzt weiße Fahnen, meistens Bettücher, über die Straße zieht ein endloser Lindwurm von Panzern, Halbkettenfahrzeugen, Jeeps und Sattelschleppern. Über ihnen Hinflug über Einflug. Ein Pulk hinter dem anderen, im gestaffelten Formationsflug, umkreist von Jägern, die um die Bomber herumtollen. Es sieht aus, als umkreisten übermütige Hunde eine Schafherde. »Das haste davon, wenn du gegen Plutokraten Krieg führst«, sagt Rasche. »Schlimmer als bei der Invasion in der Normandie«, überschreit Adamsky den Gefechtslärm. Sie laufen wie Maschinen, solange sie sich auf den Beinen halten können. Gegen Mittag haben sie Blasen an den Füßen und humpeln weiter, mit dem Instinkt des Frontsoldaten in die richtige Richtung. Kurz vor der Ortschaft Aumenau hauen sie sich in Deckung und verschnaufen. Adamsky pirscht sich an ein etwas abstehendes Gehöft heran, um zu sondieren, ob die Amerikaner sie nicht doch schon überrundet haben. Er betritt vorsichtig das Haus, kommt wieder zurück und winkt den anderen. Ein Bauer mit einem pfiffigen Gesicht und krummen Beinen begrüßt sie mit einem Kopfnicken, ohne sie richtig anzusehen: Eigentlich hat er mit ganz anderen Soldaten gerechnet. »Ihnen wär’n wohl die Amis lieber gewesen«, trifft Raschke den Nagel auf den Kopf. »Ich bin froh, wenn alles überstanden ist«, antwortet der Bauer. -117-
»Ich hab’ Kohldampf, daß mir ganz schwindlig ist«, tastet Wamsler Barmherzigkeit ab. »Hunger wie ’n arbeitsloser Schauspieler«, hilft Raschke nach. »Kommt 'rein in die gute Stube«, sagt der Bauer mit verdrossener Großmut: »Aber ihr müßt mir versprechen, daß ihr schleunigst wieder abhaut – will keine Scherereien haben.« »Einverstanden«, erwidert Adamsky. »Wir wollen doch auch bloß auf Nummer Sicher – oder meinst du, daß wir etwas anderes vorhaben?« Sie setzen sich an den hölzernen Tisch in der Wohnstube. An der Wand, gegenüber dem Kruzifix, ist ein großer rechteckiger Fleck, der Platz, den vermutlich das Hitlerbild bisher eingenommen hat. Der Hausherr bringt Brot, etwas Butter, Preßkopf und dazu sogar einen Krug Dünnbier. Adamsky geht zwischendurch nach draußen, um sich umzusehen und kann dabei beobachten, wie die Bäuerin Hakenkreuzfahne, Braunhemden und Ausweise in ein Paket verschnürt, mit einem Stein beschwert und das Bündel in die offene Jauchegrube wirft. »Da ist das Zeug gut aufgehoben«, grinst der Pommer. Es ist der übliche deutsche Hausputz in den Gebieten, denen sich der Feind nähert, und viele, die einen engagierten Nazi als Nachbarn haben, nutzen die politische Entrümpelung als Barometer für die Schlechtwetterlage. Sie wissen, wenn der Mann seinen Führer vom Nagel hängt, ist es höchste Zeit – und ungefährlich –, seinem Beispiel zu folgen. Die meisten trennen sich von dem braunen Plunder mit großer Erleichterung. Es gibt aber auch noch genügend Narren, die mit Tränen in den Augen dem Zwang zur Vernunft folgen. Der unfreiwillige Gastgeber schaltet den Volksempfänger ein: Dr. Robert Ley, der Reichsorganisationsleiter mit fettiger Stimme und dem weithin bekannten Durst, verkündet, daß der -118-
Führer in seiner Genialität den Feind nur deswegen so weit nach Deutschland hereinläßt, weil er ihn hier vernichtender schlagen kann. »Wenn das stimmt«, sagt Adamsky und klopft dem pfiffigen Landwirt auf die Schulter, »dann riecht dein Braunhemd künftig ganz schön nach Pisse.« Er wechselt das Thema. »Haste mal ’nen Füller für uns, Mann«, bittet er. Der Bauer kramt in einer Schublade herum. »Vielleicht tut’s auch ein Tintenblei«, erwidert er. Jetzt erst füllen die vier auf der Flucht ihre Marschpapiere aus, in Blockbuchstaben, wie es Stabsarzt Dr. Waske befohlen hat. »Scheiße, daß es den noch erwischen mußte«, schimpft Adamsky kurz und macht sich dann ans Werk. Er trägt für sich und Raschke zweimal Berlin als Ziel ein. »Und wir?« fragt Wamsler und betrachtet Wilma. »Schreib mal Würzburg, das ist eine Lazarettstadt, und von da ist es nicht mehr weit nach Rödelsee bei Iphofen, und da«, sagt das Mädchen mit den rötlichen Haaren und dem frischen Gesicht, »bei meinen Eltern, da gibt’s selbst jetzt noch einen herrlichen Steinwein.« »Prost, Glückspilz«, erwidert Adamsky. Florian nickt zerstreut und sieht auf die Straßenkarte: Ein verdammt weiter Weg noch zu dem Barockjuwel im MainDreieck, dem Universitäts- wie Bischofsitz mit den urigen Weinkneipen. Im Radio kommen Nachrichten. Am Ende der Wehrmachtsbericht: Feindlicher Terrorangriff auf Würzburg am 16. März, gestern schon. »Die Zivilbevölkerung hatte Verluste.« So lautet die Sprachregelung, wenn eine bisher blühende Stadt in einem einzigen Angriff kurz vor Torschluß bis auf die Fundamente niedergebrannt wird. »Jetzt hab’ ich aber schon Würzburg eingetragen«, sagt der -119-
Münchener. »Laß’ mal«, versetzt Wilma: »Von da aus ist’s nicht mehr weit nach Hause.« Sie bedanken sich bei dem Bauern und ziehen zügig weiter. Die Amerikaner sind in der Luft und auf den Hauptstraßen, aber man kann ihnen ausweichen. »Versteh’ nur nicht, warum die das Gelände nicht durchkämmen«, keucht Raschke. »Klarer Fall«, spottet Adamsky. »Die haben eben bei der Hitlerjugend keinen Geländedienst geleistet und verstehen nichts davon.« »Quatsch keine Opern«, entgegnet Wamsler. »Die führen doch nur auf den Straßen Krieg. Wer wird denn latschen, wenn er fahren kann!« Sie versorgen sich mit Wasser und etwas Proviant, bevor sie über freies Feld bis Usingen weiterziehen. Hier trennen sie sich: Adamsky und Raschke wollen sich nach Norden, Richtung Wetzlar, durchschlagen, Wamsler und Wilma tippeln via Bad Nauheim weiter. Der Abschied ist kurz und wortlos. Der Pommer boxt JungSiegfried burschikos in die Rippen. »Vielen Dank, Schwester Wilma«, sagt er dann zu dem Mädchen. Raschke will hüstelnd eine Rede halten, aber Adamsky zieht ihn weg. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen der Gefreite und die Krankenschwester wieder ein dichtes Waldstück. Sie gehen, Arm in Arm nebeneinander her wie Hansel und Gretel auf der Flucht vor der bösen Hexe. Rückschläge an allen Fronten. Der tägliche Wehrmachtsbericht verpackt sie in Watte, aber die meisten Leser haben längst gelernt, die Verharmlosungen zu -120-
entschlüsseln. Einen richtigen Rückzug hat es ja eigentlich in den OKW-Verlautbarungen nie gegeben, höchstens »örtliche Einbrüche des Gegners« oder »Frontbegradigungen«, allerdings von der Wolga in Stalingrad bis zur Oder in Küstrin, von der nordafrikanischen Wüste bis zum italienischen Apennin, von der Atlantikküste bis an den Rhein und über ihn hinweg. Die abgeschwächten Hiobsnachrichten aus dem Westen wie aus dem Osten, aus dem Norden und dem Süden erfahren die Volksgenossen meistens erst mit tagelanger Verspätung. Schon am 13. März waren die Sowjets in Ostpreußen zu einem Großangriff gegen die eingeschlossene 4. Armee angetreten und hatten die Front eingedrückt. Am gleichen Tag beendete USGeneral Patton die Einschließung des Hunsrücks, des Schiefergebirges zwischen Mosel und Nahe, und in Ungarn kam der unter miserablen Wetterbedingungen gestartete Angriff ›Frühlingserwachen‹ an der Dräu zum Stehen, weil die Panzer im Schlamm liegenblieben. Die Sowjets, längst zum Gegenangriff bereitgestellt, warteten nur noch bessere Witterung ab. Drei Tage später war es soweit. Als erster Eroberer Ungarns erwies sich im März der Frühling. Am 16. März stand die Sonne schon am frühen Morgen am Himmel, so mächtig, daß sie den weglosen Morast in Rekordzeit in panzerbegehbares Angriffsgelände verwandelte. Die 6. SS-Panzerarmee fängt den ersten Stoß unter schweren Verlusten ab, aber sie wird von den Sowjets auf den Flügeln umgangen und muß aus der Umklammerung ausbrechen. Das Industriegebiet von Tata und der Brückenkopf von Miholjac gehen verloren, dem von Valpovo wird es nicht anders ergehen. Die Rote Armee bedroht Stuhlweißenburg. Das ungarische Ölgebiet, dessen Produktion genausogroß ist wie die Benzinherstellung im deutschen Reichsgebiet, geht im ersten Anlauf schon zu siebzig Prozent verloren. Immer mehr grassiert in der Truppe – auch in den SS-Verbänden die Gewißheit, daß der Krieg verloren ist und die deutschen Soldaten auf -121-
verlorenem Posten verheizt werden. Generalfeldmarschall Keitel schickt einen Funkspruch an Oberstgruppenführer Sepp Dietrich: »Der Führer glaubt, daß die Truppe nicht gekämpft hat, wie es die Lage erforderte, und befiehlt daher, daß die SS-Divisionen ›Adolf Hitler‹, ›Das Reich‹, ›Totenkopf‹ und ›Hohenstaufen‹ ihre Ärmelstreifen ablegen.« Die Kommandeure geben den Befehl an ihre Soldaten nicht weiter. Sie wollen sie nicht noch mehr verbittern, zudem haben die meisten ohnedies – um sich für die Russen unkenntlich zu machen – ihre Ärmelstreifen abgetrennt. Ein Korpskommandeur stellt vor seinen Offizieren fest: »Wir nehmen einen Nachttopf, werfen alle unsere Orden hinein und binden einen Ärmelstreifen der Division ›Götz von Berlichingen‹ herum.« Dr. Goebbels, der in Berlin den Weltuntergang wie Richard Wagners ›Götterdämmerung‹ inszeniert, befiehlt, daß die Reichshauptstadt bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone verteidigt wird. In einer Massenversammlung versteigt er sich zu den blasphemischen Worten: »Wir werden in die Schlacht ziehen wie in einen Gottesdienst.« Als Sprungbrett nach Berlin hält die Rote Armee westlich der Oder einen 25 Kilometer langen und fünf Kilometer tiefen Brückenkopf. Die Sowjets ziehen in Ostpreußen und in Pommern frei werdende Truppen ab und führen sie in Gewaltmärschen – an die 40 Kilometer täglich – an die Oder heran. Den Hauptstoß ihrer Offensive wird die Heeresgruppe Weichsel abfangen müssen, geführt von einem Mann, den Generalstabschef Guderian für eine militärische Null hält: Heinrich Himmler. Zwar hätte auch ein Moltke Pommern nicht halten können, aber der chaotische Führungsstil des Reichsführers SS – er ist gleichzeitig Chef der deutschen Polizei, Reichskommissar für die Festigung des deutschen -122-
Volksrums, Chef des Kriegsgefangenenwesens und seit dem 20. Juli 1944 zugleich Chef des Ersatzheeres gewesen – hat den Zusammenbruch erheblich beschleunigt und Zehntausende rettbarer Flüchtlinge den sowjetischen Panzern ausgeliefert. Generaloberst Guderian schreibt in seinen Erinnerungen: »Himmler hatte bei der Offensive aus dem Raum um Answalde vollständig versagt. Die Zustände in seinem Oberkommando wurden immer schlimmer. Ich erhielt keine zutreffenden Meldungen von seiner Front und hatte nie die Gewähr, daß die Befehle des Oberkommandos des Heeres ausgeführt würden.« Der Generaloberst fuhr in der zweiten Märzhälfte nach Prenzlau, um Himmler zur freiwilligen Übergabe seiner Heeresgruppe an einen bewährten Militär zu überreden. Er trifft den Reichsführer SS, der kein Blut sehen, kein Pulver riechen und offensichtlich keine Schnupfen-Viren ertragen konnte, nicht an, aber sein Stabschef Heinz Lammerding empfängt den Besucher mit der überraschenden Frage: »Können Sie uns nicht von unserem Oberbefehlshaber erlösen?« Im Sanatorium Hohenlychen unterläuft Guderian die wenig diplomatische Bemerkung: »Ein Schnupfen hätte mich nicht veranlaßt, meine Truppe in so gespannter Lage zu verlassen.« Im Laufe des Gesprächs weist der Besucher auf Himmlers Ämterhäufung hin und machte überdeutlich, daß die zu erwartende Offensive einen Mann erfordere, der nicht überlastet sei und sich ausschließlich mit der Abwehr des russischen Generalangriffs befassen könne. Himmler wirkt fast erleichtert, aus den viel zu großen Schuhen schlüpfen zu können. »Aber das kann ich dem Führer nicht sagen«, erwidert er dann. »Er wird es nicht genehmigen.« Guderian verspricht, die Wachablösung der Heeresgruppe Weichsel im Führerhauptquartier zu regeln; er schlägt Hitler vor, anstelle Himmlers den Generalobersten Gotthard Heinrici mit der Führung zu beauftragen. Der Diktator ist wenig geneigt, -123-
er macht Guderian Gegenvorschläge, die wiederum der Generalstabschef nicht akzeptiert. Es entwickelt sich zwischen den beiden – ihr Verhältnis wird von Tag zu Tag gespannter – eine Art Personalschacher, den der Generalstabschef schließlich mit dem Hinweis gewinnt, an einem Frontabschnitt Heinricis seien die Russen bisher noch nie durchgebrochen. Der Funkspruch erreicht den Neuernannten in den Karpaten, wo er die 1. Panzerarmee am rechten Flügel der Heeresgruppe Schörner kommandiert. Der untersetzte, wendige Generaloberst, ein Pfarrerssohn, kann sich die unerwartete Beförderung nicht erklären. Er ist ein unscheinbarer, unauffälliger Könner, der bisher nie mit Hitler oder Himmler zu tun gehabt hatte, ein alter Reichswehr-Offizier, den Idealen des alten Preußen verhaftet. Von seinem Oberkommand ierenden scheidet er ohne Bedauern; es ist ein offenes Geheimnis, daß sich der noble Heinrici und der oft vulgäre Ferdinand Schörner – bei seinem früheren Einsatz hat er sich den Beinamen ›Gendarm von Kurland‹ verdient – nicht ausstehen können. Erst am 22. trifft Heinrici in Prenzlau ein, um Himmler abzulösen. Ein stundenlanges Gespräch zwischen Vorgänger und Nachfolger endet wie das Hornberger Schießen: Statt Auskünfte über Kampfstärke, Reserven und taktische Situation seiner Heeresgruppe zu erteilen – wozu Himmler gar nicht in der Lage ist-, setzt er zu weitschweifigen Entschuldigungen und Schuldzuweisungen an. Mitten in das endlose Gespräch platzt ein Alarmruf des Befehlshabers der 9. Armee, General Theodor Busse. Er teilt seinem neuen Oberbefehlshaber mit, daß durch einen plötzlichen Durchbruch der Russen die Verbindung zur Festung Küstrin abgerissen ist. »Wir müssen sie unverzüglich durch einen Gegenangriff wiederherstellen«, stellt der Anrufer fest. Generaloberst Heinrici stimmt Busse zu und befiehlt ihm, den Angriff vorzubereiten. Der neue Oberkommandierende ist kein Wunschdenker, er weiß, was ihm bevorsteht; er hat an der Front -124-
erlebt, daß die Sowjets bei ihrer Januar-Offensive in 18 Tagen 500 Kilometer weit vorangekommen sind. Und bis Berlin sind es höchstens noch 70 Kilometer, und die Isolierung der auf dem Ostufer der Oder liegenden Festung Küstrin ist mit Sicherheit eine Vorbereitung des russischen Sturms auf die deutsche Reichshauptstadt. General Wassilij J. Tschuikow, der den Angriff auf Küstrin leitet, ist davon überzeugt, daß die Rote Armee bereits im Februar in der Lage gewesen wäre, Berlin zu überrennen. Der Mann, der 1942 das letzte Zehntel von Stalingrad unter beispiellosen Umständen bis zu seiner Befreiung gehalten hatte, ist ein für die Rote Armee höchst untypischer Truppenführer. Einer, der den Mund nicht hält, sogar Stalin zu widersprechen wagt, und in den Kampfpausen mit seinen Soldaten lacht und trinkt. Warum sich die Sowjets mit dem Sturm auf Berlin so lange Zeit lassen, erklärt er in seinen Erinnerungen: »Je weiter wir nach Westen vordrangen, desto größere Schwierigkeiten traten bei uns auf. Es klappte einfach nicht mit dem Nachschub. Vor allem fehlte es an Kraftfahrzeugen, denn der Eisenbahnverkehr war vorerst noch gelähmt, die westeuropäische Normalspur mußte erst auf Breitspur umgestellt werden. Die Transportmittel waren mit der Beförderung der Truppen derart angespannt, daß sie außerstande waren, genügend für den Nachschub von Munition und Lebensmitteln von den zurückliegenden Depots zu sorgen. Außerdem hatten wir eine weitere Schwierigkeit zu bewältigen, nämlich die Sicherstellung des in den Kämpfen erbeuteten Kriegsmaterials. Die Deutschen ließen große Mengen ihres eigenen und des aus der Sowjetunion mitgenommenen Gutes auf dem Rückzug liegen. Die habgierigen Augen unserer Etappenhengste glitzerten beim Anblick der erbeuteten Depots von Lebensmitteln, Marketenderware, Uniformen und Ausrüstungsgegenständen. Still und leise füllten sich die Stabsfahrzeuge, Panzer, Tausende von Pferdefuhrwerken, -125-
Planwagen, Werkstattwagen und Zugmaschinen mit allerhand Sachen, die durchaus nicht zu den im Kampf unentbehrlichen Gegenständen gehörten.« Die immensen deutschen Vorräte an Proviant und Ausrüstung, die den Russen unversehrt zufielen, sind auch eine Folge von Hitlers Korporal-Strategie, die nicht nur die bewegliche Kriegsführung unmöglich macht, sondern auch die rechtzeitige Auslagerung von Wehrmachtsgut verhindert. Für die Rote Armee ist die Beuteware eine willkommene Zugabe. Ihre Rüstungsindustrie hat ein enormes Wachstum erreicht, und unter welchen Bedingungen der sowjetische Arbeiter noch schuften kann, hat die Schlacht in Stalingrad bewiesen: Von den umkämpften Werkshallen waren die T 34 direkt vom Fließband in den Kampf gerollt. Zu den erarbeiteten und erbeuteten Rüstungsgütern kommen noch riesige amerikanische Hilfslieferungen. Allein bis zum 3. Februar 1945 übergaben die USA ihren roten Bundesgenossen: 331000 Fahrzeuge, darunter 45000 Jeeps und 29000 Motorräder, über 1000 Lokomotiven und über 7000 Güterwagen, über 700000 Tonnen Leichtmetalle, über zwei Millionen Tonnen Stahl, 60 fahrbare Kraftwerke, über 12000 Flugzeuge, 135000 Maschinengewehre, fast 300000 Tonnen Dynamit, 6000 Panzer, 1800 Geschütze, 1200 Schlepper, 13000 Revolver, 3300 gepanzerte Fahrzeuge, 5500 Traktoren, 11 Millionen Paar Stiefel, über 90 Millionen Meter Baumwolltuch, 50 Millionen Meter Wolle und vieles mehr. Die US-Anlieferungen gehen weiter, wiewohl in Washington jetzt gelegentlich der Verdacht geäußert wird, der rote Zar verzögere den Sturm auf Berlin, um von den Amerikanern zusätzliches Kriegsmaterial zu kassieren. Roosevelts Vertrauen zu Stalin ist noch immer ungebrochen. Der US-Präsident betrachtet es als sein Lebenswerk, die Vereinten Nationen zu gründen und erkauft sich gewissermaßen den zögernden Generalissimus als Partner durch besonderes Entgegenkommen -126-
auch in politischen Fragen. In seiner Umgebung mehren sich jetzt die kritischen Stimmen. Es ist abzusehen, daß – wie die Nationalsozialisten dauernd behaupten – das unnatürliche Bündnis zwischen den USA und den Sowjets zerbrechen wird – freilich erst nach dem totalen Sieg über Hitler, dann aber sofort. Auch persönlich ist Stalin kein angenehmer Bundesgenosse. Der Beschenkte zeigt wenig Dankbarkeit: Als die US-Air-Force im Rahmen des ›Shuttle-Bombing‹ - die Pulks starten zum Beispiel in Foggia in Unteritalien, fliegen Ziele in Deutschland an und landen dann auf englischen oder französischen Häfen, werden dort betankt und munitioniert und fliegen beim nächsten Einsatz wieder zurück – den Süd-Nord-Kurs jetzt auch auf die West-Ost-Richtung ausdehnen will, machen die Sowjets zunächst kleinliche Schwierigkeiten. Schließlich erlauben sie den Amerikanern- mißtrauisch, unfreundlich, schikanös – in ihrem Aufmarschgebiet die Land ung nur auf den Basen Poltawa, Mirogorod und Pirjatin. Die West-Alliierten beherrschen den Luftraum über Deutschland total. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 1944 verloren die deutschen Jagdflieger monatlich 500 Maschinen. Zwar gingen die reinen Terrorangriffe weiter und löschten bisher unversehrte Städte wie Dresden und Würzburg aus - über zwei Drittel aller Bomben fallen erst in den letzten zehn Monaten des Krieges –, aber die Strangulierung der deutschen Verteidigung gelingt erst mit den konzentrierten alliierten Luftangriffen auf strategische Ziele. Die deutschen Panzer und Flugzeuge, die immer noch in Rekordzahl hergestellt werden, können kaum mehr betankt werden, seitdem die Viermots systematisch Hydrierwerke und Raffinerien vernichten. In 54 Produktionsstätten werden 90 Prozent des Flugbenzins hergestellt, und jede von ihnen liegt in einem fast ununterbrochenen Bombenhagel. 900000 Menschen beiderlei Geschlechts – junge Mädchen und Baby-Kanoniere – stehen jetzt an den Geschützen der Luftabwehr. Sie sollen mit -127-
elektronisch gesteuerten 8,8, der 10,5 und 12,8 die Ölziele in Hydrier-Festungen verwandeln und verbluten dabei. 350000 Zwangsarbeiter fahren als ›Sonderstab Geilenberg‹ hinter den Schäden her, um im Schnellgang des Katastropheneinsatzes die schlimmsten Zerstörungen auszubessern. Die Produktion von Flugbenzin sinkt auf 7000 Tonnen monatlich. Häufig können die Abfangjäger nicht starten, weil die Tanks ihrer Me 109 oder FW 190 leer sind. Fast jeden Sprit-Transport, der trotz allem noch über die Straßen zum Einsatzhafen rollt, verwandeln die ›Mustangs‹, ›Lightnings‹ und ›Thunderbolts‹ in eine Feuerbestattung. Daß der Nachschub überall liegenbleibt und die Straßen für den Vormarsch wie für den Rückzug unpassierbar werden, dafür sorgt eine zusätzliche Luftoffensive, die von den Amerikanern als ›Operation Clarion‹ am 22. Februar – dem Geburtstag George Washingtons – gestartet wurde und seitdem permanent weiterläuft: 9000 alliierte Flugzeuge zerstören systematisch Straßen- und Schienenstränge und verwandeln die deutsche Landschaft in eine Verkehrswüste. Auch hier soll ein Sonderkommando Schnellreparaturen übernehmen. Der Verkehrsstab beim OKW hat zunächst von zwei Millionen Schadenshelfern gesprochen, begnügt sich aber nunmehr mit einer Million Kriegsgefangener, die mit ihren Bewachern in Fußmärschen, unterstützt von 180000 Reichsbahnern und Männern der technischen Nothilfe, hinter den Zerstörungen herlaufen, um die Straßen auszubessern und Schienen zu flicken. Während sie erschöpft irgendwo rasten, werden nacheinander Hamburg, Chemnitz, Dortmund, Bielefeld, Castrop-Rauxel, Soest, Gießen, Dessau, wieder Hamburg, Kassel, wieder Dortmund, Nürnberg, Würzburg und immer wieder Berlin angegriffen. Einen
großen
Teil
seiner -128-
Hamsterfahrt
in
Sachen
Kampfwagen zugunsten der östlich von Berlin liegenden 9. Armee verbringt Major Sepp Wamsler im Luftschutzkeller. Er erlebt in fraglicher Deckung, daß womöglich die Bomben der Anglo-Amerikaner die für ihn bereitgestellten Tiger und Panther vernichten. Der moderne Krieg hat eine schweinische Dimension erreicht: Er macht die Heimat zur Front, nur, daß sich die Frauen und die Alten nicht wehren können. Am 11. März war der Major in Essen in einen Angriff von 1055 R. A.F.-Bombern geraten. Er fuhr nach Dortmund weiter und lag wiederum im Hagel von 4851 Tonnen Todeslast. Man kann nur abwarten und hoffen und sich dafür schämen, daß 16jährige Mädchen und 14jährige Jungen auf den Flaktürmen im Bombenhagel stehen. Die Reichsverteidigung muß den Reichsbankrott erklären. Hermann Göring, der eitle Luftpopanz, steht schon vor Kriegsende als korrupter Versager vor seinen Männern. Der hochgewachsene, erschreckend hagere Panzer-Major, in dessen Gesicht sich die Muskeln hart über die Backenknochen spannen, führt einen im Grunde absurden Befehl aus. Offensichtlich gilt jetzt auch für die Waffenbeschaffung, was die Bevölkerung in dieser Zeit ›Vitamin B‹(eziehung) nennt. Weil General Busse den Rüstungsminister Speer gut kennt, sollen seine Divisionen bevorzugt mit Kampfwagen ausgestattet werden. Aber auch andere Generäle haben offensichtlich blendende Beziehungen zu dem Rüstungstechnokraten, der im Ruhrgebiet verzweifelt um einen Aufschub von Hüters Nero-Befehl kämpft. Er hat zwei der drei aufsässigen Gauleiter auf seine Seite gebracht und von dem Diktator die Zusicherung erhalten, daß nur mit seiner Zustimmung die Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur erfolgen darf. Über dem Ruhrgebiet tobt eine permanente Luftschlacht. Trotzdem sind nur drei Prozent der Kohle- (nicht des Transports), aber doch 25 bis 30 Prozent der Stahlproduktion -129-
ausgefallen. Noch immer kommt jeder zehnte Panzer aus der traditionellen deutschen Waffenschmiede, aber als der Münchener in Dortmund 20 Tiger – die ihm zugesagt worden waren - übernehmen will, sind es nur noch sieben, und sechs davon soll er sich mit einem anderen Beschaffer teilen. Um den siebten knobeln die beiden Offiziere bei einer Flasche Schnaps: Sepp Wamsler gewinnt. Auch in München hat er gewonnen. Seine Mutter ist, an den Umständen gemessen, in ausgezeichneter Verfassung. Sie hatte ihm nach der Ausbombung die meiste Sorge gemacht und bürdet ihm nun die kleinste auf. Zusammen mit ihr und Eva hat er in einer Blitzaktion die vorzeitige Pensionierung seines Vaters durchgepaukt. Bis sie auch formell in Kraft tritt, ist der Postrat suspendiert: Er wohnt jetzt bei seiner Frau in Iffeldorf bei Penzberg und nicht in einem bedrohten Münchener Ruinenkeller. Florian hat sich inzwischen gemeldet, und auch von Michael liegt aus Italien Nachricht vor. Stupsi, das Küken, schreibt beinahe täglich aus Stendal Briefe voller Zärtlichkeit und Heimweh. Ihr Standort liegt bei Magdeburg, und Sepp, der nach seiner Hochzeit über Berlin an die Ostfront zurückreisen wird – es ist nur noch eine Autostunde von der Reichshauptstadt in die Hauptkampflinie –, plant einen kurzen Abstecher zum WamslerNesthäkchen. Vielleicht kann er veranlassen, daß Stupsi weiter nach Süden versetzt wird. Nicht nur seine Erscheinung, seine Auszeichnungen und sein Auftreten verleihen ihm bei Militärbehörden Durchsetzungskraft; seine Marschpapiere sind von Heinrich Himmler persönlich unterschrieben. Auch wenn der Reichsführer SS jetzt nicht mehr der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel ist, verbreitet sein Name an der Heimatfront noch Horror genug. Der 28jährige, dessen Gesicht viel älter wirkt, hat keine Hemmungen, den Gruseleffekt auszunutzen, wenn es ihm nötig erscheint. -130-
In Dortmund läuft nach der Entwarnung die Panzerproduktion wieder an, wenn auch mit geringem Ausstoß, weil die Zulieferung wegen der Luftangriffe nicht klappt und inzwischen auch viele Zwangsarbeiter nicht mehr am Arbeitsplatz erscheinen und in einem der zahllosen Ruinenkeller untertauchen. Darauf steht zwar der Tod, aber wer in ständiger Lebensgefahr schwebt, stumpft gegen die Drohung ab. Leutnant Schneiderbang kommt von der Panzerschule in Wünsdorf bei Berlin nach Dortmund. »Gute Nachricht«, begrüßt er seinen alten Chef: »Wir können mindestens zwei Kompanien ausgebildeter Panzersoldaten haben. Die Waffen-, Kriegsschulen und KOB-Lehrgänge werden geschlossen aufgelöst und müssen auch noch den letzten Mann an die Front schicken.« »Endlich mal etwas Vernünftiges«, erwidert der Major zynisch. »Ich denke, dieser Krieg braucht keinen Nachwuchs mehr.« Er lacht ungut. »Und wann können wir die Leute übernehmen?« fragt er dann. »Sie sind teilweise schon in Marsch gesetzt«, entgegnet Schneiderbang, der Verläßliche. »Aber wenn unsere Panzer nicht eintreffen, werden sie im Infanterieeinsatz verheizt.« Der Major gibt ein Fernschreiben an Oberst Steinert, den IA der 9. Armee, auf: »Angeforderte Zahl der Kampfwagen höchstens zur Hälfte erreichbar. Derzeitiger Stand: neun Tiger, zwei Königstiger, fünf Sturmgeschütze und drei Panther. Ich fahre morgen zu Henschel nach Kassel. Bitte um weitere Weisung.« Wamsler läßt seinen Leutnant in Dortmund als Stallwache zurück; Schneiderbang soll kontrollieren, daß die zugesicherte Lieferung auch wirklich verladen wird; auch seine Marschpapiere und Vollmachten Sind von Himmler unterschrieben. -131-
Auf der Fahrt nach Kassel übersteht Major Wamsler zwei Jabo-Angriffe. Bei der Ankunft wird er von Sirenengeheul empfangen. Den Panzern, die in Kassel gefertigt werden, verdankt es die nordhessische Stadt, daß sie die relativ schwersten Zerstörungen in Deutschland erleidet: Jeder zwanzigste Einwohner wird von Bomben erschlagen, verbrannt oder erstickt. Vor fünf Monaten war es den Engländern gelungen, auch in Kassel einen Feuersturm zu zünden: 12000 Tote in einer Nacht. Die Massengräber auf den sechs Friedhöfen, die von Baggern ausgehoben wurden, reichten nicht aus. Man mußte die Opfer der Barbarei übereinanderschichten: 45 Lastwagen mit den hochgestapelten Toten rollten zur letzten Ruhestätte. Ein Vaterunser, ein paar Schaufeln voll Löschkalk; Eile tat not wegen der Seuchengefahr. Nach dem Angriff fährt Major Wamsler zu den vorwiegend unterirdischen Fertigungsanlagen, versucht es unter Berufung auf Speer, zückt dann seine Himmler-Papiere. Ausbeute nach längerer Verhandlung: fünf Tiger. Er überwacht ihre Verladung gleich selbst, um sie nicht in die Hände anderer Interessenten fallen zu lassen. An der Westfront geht es drunter und drüber: Die Amerikaner haben Worms besetzt und Mainz eingeschlossen, aber ihre wichtigeren Zielen liegen jenseits des Rheins. Auf dem Balkan muß die Heeresgruppe E den Frontbogen von Sarajewo räumen. Tito, vom Partisanenhäuptling zum offiziellen Regierungschef aufgestiegen, startet eine Offensive in Dalmatien. Der sowjetische Durchbruch nach Österreich ist nicht mehr aufzuhalten. Tagesangriffe der Amerikaner auf Berlin, Nachtangriffe der Engländer auf Hamburg. Für Major Wamsler liegt eine telefonische Voranmeldung aus Zossen vor. Eine halbe Stunde später ist Oberst Steinert in der Leitung: »Bin gerade beim OKW – ist ja nur noch ’n kleiner Autoausflug von der Front aus.« Er schna uft heftig: »Bin genauso auf Betteltour wie Sie, nur diesmal offiziell.« Er lacht -132-
trocken: »Aber Sie sind vermutlich der Erfolgreichere.« »Ich hab’ noch einmal fünf Tiger aufgetrieben, Herr Oberst«, meldet der Beschaffer: »Insgesamt sind es jetzt: 14 Tiger, zwei Königstiger, drei Panther und fünf Sturmgeschütze.« »Gut gemacht, Wamsler«, antwortet der I A: »Besser wenig als nichts.« »Wie viele davon bei diesen ständigen Luftangriffen unbeschädigt den Oderbruch erreichen, weiß freilich der Teufel«, dämpft der hagere Offizier zu große Erwartungen. »Natürlich rechne ich mit Ausfällen«, entgegnet Steinert. »Und ausgebildete Panzersoldaten aus Wünsdorf sind schon in Marsch gesetzt«, sagt Major Wamsler. »Prima«, erwidert der Oberst. »Und Ihre Heiratsgenehmigung ist längst telegrafisch nach Iffeldorf abgegangen. Drei Tage Sonderurlaub. Dienstlicher Befehl!« »Danke gehorsamst, Herr Oberst.« »Die Lage hier ist ziemlich unverändert.« In seiner schnodderigerfrischenden Ausdrucksweise setzt Steinert hinzu: »Die Scheiße is t stabil. Aber wenigstens haben wir einen neuen Oberbefehlshaber.« »Ich weiß, Herr Oberst«, erwidert der Münchener. »Wenn Sie auf die Amerikaner stoßen sollten, richten Sie ihnen bitte aus, sie möchten sich beeilen, damit die Russen nicht vor ihnen in Berlin sind.« »Ich will’s versuchen«, geht der Münchener auf seinen Ton ein. »Hals- und Beinbruch, Wamsler!« verabschiedet sich der Oberst und legt auf. Während des Fliegeralarms erreicht der Major den Bahnhof. Für die Zivilbevölkerung sind Eil- und D-Züge abgeschafft; Wehrmachtstransporte haben Vorfahrt. Aber sie rollen nur noch nachts im Schutz der Dunkelheit. -133-
Es geht zu Ende mit diesem verdammten Krieg, in den Wamsler einst so taufrisch gezogen war. Irgendwann muß doch auch der Dümmste merken, überlegt der Major auf der langen Fahrt mit den häufigen Unterbrechungen, daß dieser Krieg längst verloren ist und alle Opfer nur noch dazu dienen, das Leben um Wochen, vielleicht nur noch um Tage zu verlängern. Aber irgendwann muß doch auch der Wahnwitz den Heldentod erleiden, sagt sich der hochdekorierte Stabsoffizier und irrt dabei gründlich. Millionen deutscher Soldaten möchten nach Hause, und viele von ihnen sind jetzt bereit, gegebenenfalls die Rückreise auch in unreiner Gangart anzutreten, aber als Uscha Baldauf, der Junge aus Aachen, jetzt erfährt, wie er in seine Heimatstadt geschafft werden soll, wird ihm klar, daß er von dem Sturmbannführer hereingelegt worden ist. Ein Fahrer karrt ihn durch Hildesheim. Auch diese schmucke Kreisstadt mit den schönen Fachwerkbauten, dem Dom aus dem 11. Jahrhundert, den berühmten Bronzetüren des Bischofs Bernward und dem tausendjährigen Rosenstrauch‹steht schon auf dem Vernichtungsplan von Bomber-Harris und wird bei günstigem Flugwetter heimgesucht werden. Das Städtchen bleibt Baldauf verwehrt, er wird in einem isolierten Flügel des E-Hafens untergebracht wie auf einer Quarantänestation. »Wessler«, stellt sich der Leiter des Kommandounternehmens ›Karneval‹ vor. »Willkommen in unserem Club – mit dir sind wir jetzt vier und komplett. Wir werden starten, sowie es das Wetter erlaubt.« Wessler ist ein sprachkundiger Auslandsdeutscher, ein verwegener Typ mit einem ziemlich ramponierten Gesicht; ein früherer Oberleutnant der Gespenstereinheit Brandenburg, der Haustruppe des Abwehrchefs Wilhelm Canaris. Der grauhaarige Admiral wurde vor Monaten abgesetzt, verhaftet und wartet zur -134-
Zeit im oberpfälzischen KZ Flossenbürg auf den Henker. Seine Geistereinheit wurde geschlossen vom Reichssicherheitshauptamt der SS kassiert. Solcherlei Zwangsversetzungen kennt der ehemalige LuftwaffenUnteroffizier Baldauf aus eigenem Erleben, denn auch er ist als sogenannte ›Hermann-Göring-Spende‹ an die Runen-Garde abgeliefert worden. »Du humpelst ja wie ’n Invalide aus dem 70er-Krieg nach der Attacke von Luneville«, stellt Wessler lachend fest. »Prima für unseren –« »Prima vielleicht für euch«, fährt ihn der Uscha an. »Weniger für mich.« »Klar, Junge«, beschwichtigt Wessler: »Und ein steifes Bein ist besser als ’n kalter Arsch.« »Wie und mit was starten wir eigentlich?« fragt der Neue. »Erster Klasse«, erwidert der Einsatzleiter und grinst. »Viermotorig.« Er bietet Baldauf eine Zigarette an: »Übrigens, Fragen stelle ich. Du erfährst schon noch alles früh genug.« Die anderen beiden Teilnehmer des Himmelfahrtskommandos kommen vom Fotografen zurück. »Das ist Leipold«, stellt Wessler einen 30jährigen mit schütteren Haaren und fiebrigen Augen vor. »Und das ist Martha Fromm.« Baldauf reicht der einzigen Frau des Quartetts die Hand und betrachtet sie: fettiges Gesicht, fa hlblonde Haare, zu einem Zopf geflochten. Na ja, denkt der Junge aus Aachen, wenigstens keine Gefahr, daß man sich an dieser frommen Martha vergreift. »Wir müssen auch dich umtaufen«, sagt der Einsatzleiter. »Du heißt ab sofort nicht mehr Hans Baldauf, sondern Hans Meister, und bist OT-Vorarbeiter.« Er gibt ihm einen aufmunternden Klaps. »Guck nicht so dumm aus der Wäsche, unsere Namen sind alle so echt wie Hurengestöhn.« -135-
»Ach so ist das«, erwidert Baldauf mit langen Zähnen. »Du machst nur einen Spaziergang und baldowerst dabei unser Objekt aus«, erklärt Wessler: »Da du für einen OTVorarbeiter noch ziemlich jung bist, haben wir für diese Besetzung ein Hinkebein gesucht. Wer dich sieht, muß annehmen, daß du wegen Wehrunfähigkeit zur OT versetzt worden bist – jedenfalls fällst du nicht auf, kapito?« Baldauf nickt mit steifem Nacken. Die Unterkunft ist erstklassig, die Verpflegung noch besser. Marketenderwaren gibt es genügend und Zigaretten praktisch unbegrenzt. Mit solcherlei Raritäten wäre der Unterscharführer vor kurzem noch – gleich seinen Kameraden ziemlich nahe am Ziel seiner Träume gewesen, aber jetzt begreift er, daß ihm eine faule Sache bevorsteht. Wessler ist zwar ein Landsknechtstyp, nicht einmal unsympathisch, wenn auch inzwischen aus der Mode; aber die anderen beiden sind ihm gründlich zuwider. Kein Vergleich mit den Kumpels aus dem Bonner Lazarett, mit denen man nach Belieben blödeln und schimpfen konnte. Baldauf hält vorsichtshalber die Klappe und bedauert zwecklos und gründlich, nicht bei Wamsler, Adamsky und Raschke geblieben zu sein, die vermutlich jetzt in einem amerikanischen PoWCamp ihre Verwundungen in Ruhe auskurieren können. Aber es gehört nun einmal zum Wesen der Reue, daß sie meistens zu spät kommt. Leipold sitzt bei den Nachrichten so dicht vor dem Gerät als wolle er hineinschlüpfen, ein richtiger Polit-Spanner. »Brauchst nicht so nah’ ranzugehen«, spottet der Mann, der sich jetzt Meister nennen muß: »So gut sind die Meldungen wirklich nicht.« »Ich erwarte stündlich den Einsatz der neue n Wunderwaffen«, erwidert der Schüttere mit den Fieberaugen. »Die Wende steht schon vor der Tür.« -136-
»Herein!« ruft Baldauf. »Und bis sie eintritt«, verspottet Wessler diese Dauerprophezeiung, die ihm längst auf den Wecker fällt, »gehst du mit unserem Neuling zum Fotografen.« Er nickt Baldauf zu. »Wir brauchen deine köstliche Visage für deinen Ausweis.« Die provisorische Fotostelle ist im gleichen Haus untergebracht. Beim Zurückgehen fragt Leipold: »Du weißt, um was es bei unserem Auftrag geht?« »Keine Ahnung.« »Um so besser«, erwidert Wesslers Vertreter. »Einstweilen will ich dir nur sagen, daß du stolz auf dich sein kannst.« »Bin ich schon lange«, brummelt der Karnevalstatist. »Berlin wartet auf unsere Vollzugsmeldung«, sagt der Wichtigtuer mit den zusammenge wachsenen Augenbrauen: »Der Führer persönlich und der Reichsführer SS, Bormann und Dr. Goebbels und –« »Du hast doch wohl ’nen Furz gefrühstückt«, gibt es ihm Baldauf heraus. »Meinst du nicht, daß die momentan andere Sorgen haben?« »Bei dir fehlt’s gewaltig an der Gesinnung«, kontert Leipold. »Das hab’ ich gleich gemerkt.« Sinnlos, sich mit dem Kerl herumzustreiten. Was der Uscha als Baldauf dem Sturmbannführer Grosse versprochen hat, wird er auch als Meister halten: Den Trupp nach Aachen zu lotsen. Dann ist die Sache für ihn gelaufen, dann wird er sich an die Worte des letzten sächsischen Königs bei seiner Abdankung halten: »Macht euren Dreck alleene!« »Sieht so aus, als könnten wir heute nacht starten«, sagt Wessler am nächsten Tag. »Der Wetterbericht ist günstig.« Eine Stunde später muß Baldauf seine Uniform abgeben und erhält dafür getragene Klamotten der Organisation Todt (OT) und eine Windbluse. »Räuberzivil«, erläutert Wessler. »Nun sag -137-
mir mal schnell, wie wir in Aachen am unauffälligsten in die Eupener Straße kommen.« »Das ist ganz einfach«, erklärt Baldauf: »Sie liegt am Südrand der Stadt und führt nach Belgien. Eupen-Malmedy, hast du doch schon mal gehört.« »Man braucht also nicht viel in Aachen herumzulaufen?« »Natürlich.« »Und weißt du auch in der Nähe ein Gehöft oder eine Feldscheune oder sonst irgendein geeignetes Versteck?« fragt der Einsatzleiter. »Viele«, entgegnet der Lotse, »falls es sie noch gibt. Außerdem läuft parallel ein großer Friedhof, dort –« »Könntest du uns mal die Situation aufzeichnen?« »Ja«, versetzt Baldauf und nimmt ein Stück Papier. »Ich weiß natürlich nicht«, kann er es doch nicht ganz lassen, »ob die Amis die Adolf-Hitler-Straße nicht umgetauft haben.« »Dann wird sie bald wieder Adolf-Hitler-Straße heißen«, weist ihn die zopfige Zicke zurecht. »Müssen wir die GEKADOS-Sachen aus der Eupener Straße holen?« fragt Baldauf und überreicht Wessler seine Skizze. »So ungefähr«, entgegnet der Kommandoführer und lächelt giftig. »Das wird von uns erledigt. Wir sind auf diese Sache speziell trainiert«, erläutert er. »Du brauchst eigentlich nur aufzupassen, daß du dir beim Aufkommen nach dem Fallschirmabsprung nicht dein kaputtes Bein in den Bauch rammst.« »Fallschirmabsprung?« fragt Baldauf mit zu hoher Stimme. »Der Sturmbannführer hat mir gesagt, daß uns ein Frontläufer durch unterirdische Gänge an die Stadt heranführen wird.« »Das wäre mir auch lieber«, erwidert Wessler. »Leider sind die Querverbindungen unter der Erde alle abgesoffen.« »Nimm dir ein Beispiel an Martha«, wirft Leipold ein: »Sie ist -138-
auch noch nie abgesprungen. Automatischer Fallschirm, öffnet sich von selbst. Kinderspiel.« Der frühere Brandenburger macht eine Flasche Cognac auf, vom feinsten, französischen. Er schenkt vier Gläser voll: »Prost!« sagt er dann. »Wer Sorgen hat, hat auch Likör.« Als Wessler den Rest der Flasche schnell wieder wegsteckt, feixt der Außenseiter des Kommandounternehmens breitbackig und denkt: Wer politisch benebelt ist, soll im Einsatz wohl nicht auch noch besoffen sein. 21. März, 22 Uhr. Sie schlüpfen in die OT-Klamotten, ziehen den Knochensack darüber, schwärzen sich die Gesichter, überzeugen sich, daß sie die Ausweise der Organisation Todt bei sich haben, stecken Geld ein, Markscheine wie Besatzungssold, und etwas Proviant; Wessler nimmt eine russische Maschinenpistole mit auf die Reise in den Untergrund, Leipold steckt sich eine 0,8 ein, Martha Fromm eine Walther 7,65. »Was ist mit dir?« fragt der Kommandoführer seinen Lotsen: »Willst du keine Waffe haben?« »Danke für Obst und Südfrüchte«, knurrt Baldauf. »Da kann ich mir gleich einen Strick einstecken, damit mich die Amis noch schneller am nächsten Baum aufknüpfen.« »Schlappschwanz!« schilt Leipold verächtlich: »Defätist, Weichmann.« »Ruhe«, beendet Wessler die Schimpfkanonade; sie gehen aus dem Haus und stapfen auf die viermotorige B17 zu, eine Beutemaschine, die gerade aus dem Hangar gezogen wird. Die Motoren sind vorgewärmt. Das Großdeutsche Reich, im Norden auf den Raum zwischen Rhein und Oder zusammengeschrumpft, läßt sich den Einsatz etwas kosten: 10500 Liter Sprit sind in den Tanks der Viermotorigen. Damit könnte man eine ganze Jagdstaffel starten lassen. Der Flugzeugführer und sein Copilot begrüßen ihre Fluggäste stumm mit einem Kopfnicken. Sie nutzen die ›Flying Fortress‹ -139-
nicht zum erstenmal zu einem Ausflug in den Untergrund und haben sich Fragen längst abgewöhnt. Ohnedies müssen sie sich darauf konzentrieren, nicht von der eigenen Flak abgeknallt zu werden. Sie haben den Befehl, drei Männer und eine Frau über einem belgischen Waldstück bei Gemmenich abzusetzen und so schnell wie möglich wieder zurückzufliegen. Aufträge dieser Art in erbeuteten Maschinen erledigt das Spionagegeschwader schon seit langem, allerdings mehr im Osten als im Westen. Ein Scheißspiel: Wenn die deutsche Flak die Beutemaschine nicht herunterholt, sitzt ihnen womöglich noch ein Nachtjäger im Nacken. Die Reichsverteidigung ist zwar schon fast am Ende, aber zum Abschuß einer einzelnen B 17 reicht es wohl noch immer. Die B 17 hebt sich vom Boden, ihre Schnauze bohrt sich steil in die Nacht, sie zieht eine enge Schleife und geht auf Kurs. Der Sondereinsatz läuft. Baldauf hat Sodbrennen und spürt, daß ihm beim Unternehmen Karneval der Krieg am Ende doch noch eine lange Nase zeigen wird. Die eigene Bodenabwehr wurde nicht verständigt, damit der Feind es nicht mithören kann. In diesem Fall würde das Himmelfahrtskommando im Auftrag des Generalinspekteurs der Klein-Krieg-Verbände, des SS-Obergruppenführers Hans-Adolf Prützmann, schon beim Start abstürzen. Hinter dieser pseudoseriösen Bezeichnung versteckt sich ein Wahnsinnsunternehmen: der Werwolf. Schon am 18. Oktober ’44 hatte Heinrich Himmler den Befehl gegeben, die Untergrundorganisation aufzubauen. Deutsche Partisanen auf heimatlichem Boden, eine Hakenkreuz-Guerilla: »Aus der Feindpresse ist zu entnehmen, daß in manchen von den Anglo-Amerikanern besetzten Ortschaften sich die Bevölkerung würdelos benimmt«, heißt es in dem Gründungsbefehl: »Ich ordne heute schon an: 1. daß bei einer Wiedereroberung dieser Ortschaften die -140-
Schuldigen sofort zur Verantwortung zu ziehen sind. 2. Schon jetzt hat unsere Organisation hinter der amerikanischen Front durch Vollstreckung der Todesstrafe an Verrätern energisch zu wirken.« Der Reichsführer SS beauftragte seinen Günstling Prützmann, nach geeigneten Selbstmördern Ausschau zu halten und vorsorglich Waffen- und Versorgungsdepots für sie anzulegen. Die SS-Leitstellen meldeten vorwiegend blutjunge Hitlerjungen und wehruntaugliche SS-Invaliden als Kandidaten. Sie wurden in geheimen Speziallehrgängen auf Schloß Hülchrath bei Grevenbroich für Einsätze hinter den feindlichen Linien gedrillt. Der Chef der SS-Jagdkommandos, Otto Skorzeny, stellte die Ausbilder, Spezialisten, die in Rußland und bei der ArdennenOffensive in feindlicher Uniform operiert hatten, Überlebende. Was mit den anderen geschehen ist, die sich vom Gegner schnappen hatten lassen, berichtete man den künftigen Werwölfen nicht. Himmler drängte immer energischer, durch einen Sensationsanschlag ein Fanal zum ›Volkskrieg‹ zu zünden. Auch Bormann und Goebbels gehörten zu den WerwolfBefürwortern. Hitlers oberster Sekretär spannte die Parteidienststellen ein, und Goebbels plante eine großangelegte Propagandaaktion mit eigenem Werwolf-Sender. An die Presse ergeht vorsorglich – schon vor dem Einsatz des ersten WerwolfKommandos – folgende Sprachregelung: »Es ist mit sofortiger Wirkung jede Mißkreditierung von Zivilkämpfern im feindlichen Ausland verboten. Ausdrücke wie ›Heckenschützen‹, ›Partisanen‹, ›Banditen‹ und so fort haben aus den Darstellungen zu verschwinden.« Als erstes Opfer bei der Werwolf-Ouvertüre ist der von den Amerikanern in der Grenzstadt Aachen eingesetzte deutsche Oberbürgermeister ausersehen. Die Stadt Karls des Großen, von den Nazis als Gründungsstätte des Deutschen Reiches in Anspruch genommen, bildet neben dem Horror auch noch -141-
zusätzlich symbolischen Wert. Man gibt der KommandoOperation den Decknamen ›Karneval‹. Sein Start ist schon mehrmals verschoben worden, aber Obergruppenführer Prützmann hat seinem Chef nunmehr ›umgehende Erledigung‹ zugesichert. Der Copilot klettert nach hinten. »Fertigmachen!« sagt er zu Wessler. »Wir haben den Absprungraum erreicht.« Die Viermotorige, längst im Sinkflug, geht mit der Höhe so weit wie nur möglich herunter. Die vier stellen sich am Luk nebeneinander auf. Der Copilot ist zugleich der Absetzer. Wessler und Leipold springen als erste aus 200 Meter Höhe, hinter ihnen Martha Fromm. Als letzter, mehr gestoßen als freiwillig, Hans Baldauf. Er sackt wie ein Stein durch. Sieben, acht Sekunden lang. Auf einmal öffnet sich der schwarze Schirm mit einem Ruck über ihm, bremst flatternd die Fallgeschwindigkeit ab, während er hilflos an den Leinen hin und her pendelt. Der Ungeübte fürchtet, in einer Baumkrone zu landen, kommt aber dann auf einer Wiese auf und wird vom Schirm noch ein paar Meter mitgeschleift, bis es ihm endlich gelingt, sich zu befreien. Baldauf erhebt sich, sieht sich benommen um, keucht vor Aufregung. Seine Augen, jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, suchen die anderen. Plötzlich sieht er Konturen, hört Schüsse. Helle Mündungsblitze blenden ihn. Der Kommandotrupp ist auf einen belgischen Grenzposten gestoßen und hat nach Anruf sofort das Feuer eröffnet und dabei einen Uniformierten niedergestreckt. »Los, Meister!« befiehlt Wessler: »Nichts wie weg hier.« Während sich die Grenzbeamten um ihren Kameraden kümmern, der nicht mehr zu retten ist, hetzen die Gelandeten querfeldein. Baldauf tut sich schwer, ihnen zu folgen. Sein lahmes Knie macht ihm zu schaffen. Er würde sich am liebsten ins Gebüsch hauen und einfach liegenbleiben, aber sie würden -142-
ihn schnappen und aufhängen. Er keucht weiter, 30 Meter noch, er fürchtet, Wessler und die beiden anderen aus den Augen zu verlieren. Er bleibt einen Moment stehen, sieht sich um – und gerät dabei voll in ein MPVisier. Der Verfolger drückt den Abzug durch. Baldauf fällt kopfüber zur Erde, rudert noch mit den Armen und bleibt dann regungslos liegen. Wessler, Leipold und Fromm flüchten weiter, ohne sich um ihn zu kümmern. Sie brauchen es auch nicht, denn der Junge, der unbedingt nach Hause wollte, hat den vollen Preis für seine Rückfahrkarte bezahlt. In der gleichen Nacht – sie ist weder zu hell noch zu dunkel nistet sich die Vorhut der 3. US-Armee am Rhein, südlich Mainz, wo der letzte Widerstand erlischt, ein. Der Feldzug in der Pfalz ist zu Ende. General Patton erscheint unangemeldet bei seinen Männern in Oppenheim. Wenn der Heerführer mit dem Goldhelm, den ledernen Reithosen und den handziselierten Pistolen ganz vorne auftaucht, gibt es immer Zunder, aber die GIs mögen ihn. Es gehört zu den Unbegreiflichkeiten des Krieges, daß Heerführer, die ihre Truppen am verwegensten ins Feuer hetzen, nicht selten auch die beliebtesten sind. Der General mit dem zerklüfteten Gesicht und den schlauen Augen tigert am linken Rheinufer unruhig auf und ab, bleibt stehen, starrt durch das Glas auf die andere Seite. Sein Gesicht wirkt gespannt und süchtig. Für einen Tigersprung ist das Flußhindernis von 300 Metern viel zu breit. Außerdem müßte ›Lucky Forward‹ die rechtsrheinischen deutschen Stellungen erst erkunden und ihre Kampfstärke ausloten, aber das kostet ihn zuviel Zeit, und die nimmt sich der Panzergeneral nicht, denn sein alter Konkurrent Montgomery steht 250 Kilometer nördlich nach langwieriger Vorbereitung vor einem Rheinübergang, den -143-
er ›spektakulär wie Ludwig der XIV.‹ (Raymond Cartier) zelebrieren wird. Es ist still. Ein paar Hunde bellen. In weiter Entfernung ballert die deutsche Flak Löcher in die Nacht. Hildesheim ist an der Reihe. Am Ostufer rührt sich nichts. Jedenfalls ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Der Rhein ist lang und die deutsche Abwehrfront dünn, aber vielleicht schlafen die Krauts da drüben nur! »Well«, sagt General Patton: »Let’s go.« Es ist das Signal an die Soldaten in den Amphibienfahrzeugen und Sturmbooten. Zwei Bataillone des II. Regimental Combat Team sollen den Versuch wagen. Wenn er klappt, wird der Kommandeur der 3. US-Armee auf das andere Ufer werfen, was er hat. Die Soldaten machen sich in den Wasserfahrzeugen so flach wie nur möglich. Viele von ihnen waren schon bei der Invasion in der Normandie dabei und wissen, was es heißt, direkt in feindliche Geschützmündungen hineinzufahren. Noch immer rührt sich nichts. Auf dem jenseitigen Ufer bleibt es still und dunkel. Die ersten haben schon die Mitte des Stroms passiert und werden noch immer nicht von den Greifarmen der Scheinwerfer erfaßt. Erst als die Boote das Ostufer erreichen und die Gelandeten herausspringen und an Land gehen, fallen einzelne Gewehrschüsse. Die Fahrer der Boote wenden und jagen mit Vollgas zurück, um im Transitverkehr die nächsten Infanteristen herüberzuholen. Patton gelingt es, im Laufe der Nacht noch vier weitere Bataillone über den Rhein zu werfen und seinen ›Bridgehead‹ in Rekordzeit auszubauen und zu verstärken. Am Morgen steht schon eine ganze Division, und der General zählt nur 34 Verluste. Die deutsche Abwehr ist mehr als schwach. Ganze fünf Panzerjägersowie gerade zusammengeraffte Alarmeinheiten stellen sich dem Ansturm der -144-
3. US-Armee und werden überrannt. General Patton überrumpelt auch seinen Oberkommandierenden Bradley, als er aufgeregt in das Telefon ruft: »Brad, sagen Sie um Gottes willen der Welt, daß die 3. Armee vor Montgomery den Rhein überschritten hat.« Es war ein Bravourstück und ein schlimmer Streich, den der General ›Blood and Guts‹ seinem sorgfältig und methodisch planenden Rivalen gespielt hat. Während Montgomery am Niederrhein eine Million Soldaten zusammenzieht, Unmengen von Artillerie und eine Armada von Flugzeugen, hat Patton es ohne Vorbereitung, ohne Trommelfeuer und ohne Luftunterstützung geschafft, und seine Panzer rollen unaufhaltsam auf Darmstadt-Frankfurt zu. Nicht alle applaudieren seinem Handstreich. Es kommt im alliierten Lager zu heftigen Diskussionen: Hat Lucky Forward tatsächlich Monty blamiert – oder seinen pathologischen Ehrgeiz entlarvt? Knapp 24 Stunden später, am 23. März, leitet Generalfeldmarschall Montgomery seine Rhein-Offensive mit einem vernichtenden Trommelfeuer ein und beweist, daß die lange Vorbereitung und der ungeheure Aufwand notwendig waren, denn auf dem deutschen Ufer stehen ihm keine verschlafenen Etappenstäbe, sondern sieben Elite-Divisionen der 1. Fallschirmjäger-Armee gegenüber, allerdings verteilt auf eine Frontbreite von 70 Kilometern. Die ersten Salven sind wieder Nebelgeschosse, dann folgen Sprenggranaten, eine ganze Nacht lang, abgefeuert von 40000 US-Artilleristen. »Seit Tagen hatte ein 120 Kilometer breiter Abschnitt am Fluß unter einer künstlichen Nebeldecke gelegen«, schreibt John Toland: »Den Männern war davon so über, daß viele meinten, es wäre ihnen lieber, wenn die Deutschen sie sehen würden. Aber unter der Tarnkappe aus Nebel hatte man eine riesige Menge -145-
von Soldaten, Sturmbooten, Buffalos (Amphibienfahrzeugen), Brückenmaterial und Artillerie sicher und unbemerkt in die Bereitstellungsräume gebracht.« Montgomerys Granatenhagel hält die deutsche Artillerie nieder, während die ersten Landungen der ›Operation Plunder‹ anlaufen. Die Verteidiger kauern, blind vom Nebel, taub von den Detonationen, in ihren Löchern und, soweit sie den Überschuß an Vernichtung – von den Alliierten ›Overkilling‹ genannt – überleben, wundern sie sich von Salve zu Salve, daß es sie noch nicht erwischt hat. Einweiser zeigen mit Leuchtspur-Munition den Landungsbooten den Weg über den Rhein. Die ersten Invasoren der 21. Heeresgruppe tasten sich an Land, fassen Fuß und wundern sich, wie glatt es geht. »Es gab eigentlich gar keinen richtigen Kampf«, erklärt einer der Offiziere der ersten Welle: »Die Artillerie hatte die Sache für uns erledigt.« Nunmehr greifen auch noch die Luftstreitkräfte ein: 101 viermotorige britische Bomber werfen in einem Präzisionsangriff über 1000 Tonnen Sprengbomben auf die Stellungen der Verteidiger, die höchstens einen Kilometer von den Angreifern entfernt sind. Das Trommelfeuer geht bis 9 Uhr 45 weiter. Dann bereiten die Alliierten die nächste Überraschung: Zwei Luftlandedivisionen, die eine in Frankreich, die andere in England gestartet, landen direkt im Rücken der deutschen Verteidiger. Aus 1700 Maschinen und 1300 Lastenseglern werden 14000 Elite-Soldaten abgesetzt, bei nicht einmal hundert Flugzeug-Verlusten. Die deutschen Soldaten in den vorderen Rheinstellungen werden wie von den Klingen einer Schere zerschnitten. Der erste Angriff gilt der Stadt Rees. Panzer werden über den Rhein gebracht und weitere Landetruppen übergesetzt. Es klappt -146-
mustergültig, genau nach Plan. Die Sturmdivisionen – je zwei britische und zwei amerikanische – hatten auf der Maas zwischen Roermond und Nimwegen den Rheinübergang bis zum Überdruß geprobt. Zu Montgomerys Aufgebot gehören auch fünf US-Divisionen, die aus Italien abgezogen worden sind. Die Engländer stoßen gegen den Ort Wesel vor, der seit 1241 die Stadtrechte besitzt und 1407 Mitglied der Hanse geworden war. Wesel wurde zwar als altes preußisches Festungswerk ausgebaut, aber nicht gegen Flammen-Panzer, die jetzt die Häuser in Brand setzen. Die Angreifer stoßen auf einen Widerstand, wie sie ihn schon lange nicht mehr erlebt haben. Die 600 deutschen Fallschirmjäger, meist junger, gut ausgebildeter Ersatz, kämpfen mit der gleichen Verve wie die grünen Teufel am Monte Cassino, aber in Wesel fehlen die natürlichen Hindernisse: Berge, die Angreifer durch ein schmales Tal zwingen. Die Verteidiger stehen auf verlorenem Posten, doch sie halten ihre Stellungen weiter. Fallschirmjäger sind in allen Armeen der Welt Elitetruppen mit einem besonderen Kampfgeist und einer eigenen Moral, die sie mehr an ihre Waffengattung als an politische Ziele bindet, von denen sie mißbraucht werden. Letzter Akt in Wesels Flutgrabenstraße: Generalmajor Deutsch steht mit einer MP im Nahkampf; er wird schwer verwundet und stirbt zwei Stunden später. »Ich habe noch niemals zuvor einen General gesehen«, stellt sein Gegner Leutnant O’Coole fest, »der uns als Einzelkämpfer gegenübergetreten wäre.« Am Abend des ersten Kampftages verfügen Montgomerys Truppen über einen Brückenkopf von 48 Kilometern Breite. Die 9. US-Armee hat Dinslaken genommen; die 3. britische Infanteriedivision Rees. Die erste Phase der letzten -147-
Entscheidungsschlacht im Westen ist wie im Sandkasten verlaufen, mit weit weniger Verlusten als erwartet. Der Mann, der sie geleitet hat, Generalfeldmarschall Montgomery, empfängt seinen Premierminister Winston Churchill in seinem Hauptquartier in Cordhose und Pullover. Der englische Regierungschef beobachtet, zusammen mit General Eisenhower, von einem Kirchturm aus den Sturm über den Rhein. Die Truppen können jetzt schon im Fährenverkehr über den Fluß gebracht werden. Gegen Mittag fahren Churchill und Eisenhower direkt an das Rheinufer heran. Churchill möchte auf die andere Seite; Eisenhower schlägt ihm den Wunsch ab, weil es zu gefährlich sei. Ike wird abgerufen; Montgomery ist mit Churchills Frontinspektion einverstanden. Nur von einem halben Dutzend Soldaten begleitet, fährt er mit seinem Regierungschef über den Rhein. »Im hellen, hellsten Sonnenschein und absoluten Frieden landeten wir am deutschen Ufer und gingen dort eine halbe Stunde unbelästigt spazieren«, stellt Churchill fest. Schon während der La ndungsoperation war ihm klar geworden: Der Krieg geht zu Ende, und zwar etliche Wochen früher als geplant und erwartet. Zeit spart Blut, und das auf beiden Seiten. Für die Deutschen wird es noch ein paar Monate dauern, bis sie erfahren, vor welcher Apokalypse sie der rasche alliierte Vormarsch bewahrt: Die ersten Atombomben fallen nicht auf Hamburg oder München, sondern auf Hiroshima und Nagasaki. »Die Operation vom 24. März besiegelte das Schicksal Deutschlands«, stellt General Eisenhower fest: »Wir hatten zwar schon weiter im Süden zwei Brückenköpfe gebildet, doch war uns in beiden Fällen das Überraschungsmoment zustatten gekommen. Und Glück hatten wir auch gehabt. Die Operation im Norden dagegen wurde gegen den stärksten Widerstand geführt, dessen der Feind entlang des ganzen Stroms noch fähig war. Überdies wurde sie genau am Rand des Ruhrgebiets -148-
angesetzt, und als die Landung am Ostufer des Rheins gelang, konnten wir den Feind bereits mit starken Kräften von bedeutenden Teilen dieses Industriegebiets abha lten.« 25. März, Palmsonntag. Rechts des Niederrheins geht der alliierte Vormarsch stürmisch weiter. An der Ostfront zerteilt der Sowjetangriff die 4. Armee des Generals v. Saucken in drei Teile: In Ostpreußen und in der Danziger Bucht halten sich jetzt nur noch – schwerstens bedroht und ganz auf sich gestellt – Heia, Gotenhafen und Königsberg. US-Truppen erreichen Ludwigshafen und Germersheim. Mit der Räumung des letzten deutschen Brückenkopfs bei Karlsruhe ist jetzt ganz Deutschland links des Rheins von den Alliierten besetzt; 293000 deutsche Soldaten sind in Gefangenschaft geraten. Zu Beginn der Karwoche erläßt der britische Oberkommandierende Montgomery eine wenig österliche Botschaft: Er verbietet seinen Soldaten jegliche Fraternisation mit den Deutschen. Daß es eine ziemlich aussichtslose Order ist, weiß man in den besetzten Gebieten längst, zum Beispiel in Aachen, wo heute die Kirchenglocken zum sonntäglichen Gottesdienst in der vorösterlichen Woche rufen. In der frommen Stadt der heißen Quellen betet man zum Karlsfest am 28. Januar: »Sing dem Himmelskönig Lieder Festes Freuden füllet wieder Karls des Großen Heiligtum.« In 75 Luftangriffen und zwei Schlachten sind in der Grenzstadt 25 Kirchen und Kapellen völlig zerstört und 45 beschädigt und notdürftig geflickt worden. Nach der Zwangsevakuierung im September 44 lebten von vormals 162000 Aachenern nur noch 6000 in ihrer Heimatstadt. Wie viele es jetzt sind, läßt sich nicht genau sagen, weil sich ihre Zahl täglich verändert. Immer mehr Einwohner kehren aus der -149-
Umgebung zurück und sickern in die Stadt ein, die ihren Untergang überlebt hat. Die Not ist groß, und die Lebensverhältnisse sind schlimm, aber es gibt wieder Wasser und Strom, eine deutschsprachige Zeitung, die nicht von Goebbels kontrolliert wird, und sogar Gewerkschaften. Sattgrün sprießt das Gras aus den Schuttbergen, unter denen noch viele Tote liegen. Schüchtern blüht der erste Flieder und zeigt den Frühling an. Wenn die Frauen nachts nicht schlafen können, dann nicht, weil sie die Einschläge von Bomben und Granaten fürchten, sondern weil sie sich um ihre Söhne und Männer sorgen, die irgendwo im Osten oder auf dem Balkan oder in Italien einen verlorenen Krieg durchstehen müssen. Natürlich enthalten die deutschsprachigen Sender von Radio Luxemburg auch viel Zweckpropaganda, aber es ist kein Vergleich mit der Promi-Hetze, und so weiß man in Aachen ziemlich genau, wie es an den Fronten steht. Das zunächst gespannte Verhältnis zwischen den Besatzungssoldaten und der deutschen Zivilbevölkerung ist dabei, sich zu normalisieren. Die erste Bresche schlugen Kinder in die Wand; sie rufen schon ›okay‹ und halten ›chocolate‹ für ein deutsches Wort, weil ihnen Schokolade bisher fremd war. Schon gibt es auch deutschamerikanische Liebespaare, ärgerliche, doch auch liebenswerte. Der Frühling fordert seinen Tribut, die meisten zwischenmenschlichen Beziehungen spielen sich auf der grünen Wiese ab. Am Tag, denn am frühen Abend gilt für die Zivilbevölkerung ›curfew‹, die Sperrstunde. Wenn die Dämmerung kommt, stehen die Deutschen in den besetzten Gebieten unter Hausarrest. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme der US Army, die sich im übrigen wundert, wie wenig feindselig die Besetzten sich benehmen. Der braune Spuk ist wie weggeblasen. Die Hoheitsträger sind getürmt, und Hitlers kleinere Gefolgsleute und Mitläufer beginnen bereits bei den vor kurzem noch als weltanschaulich -150-
›unzuverlässig‹ Beurteilten, Alibis zu sammeln, ›Persilscheine‹, nach dem Woolworth-Prinzip: Die Masse macht’s. Es gibt auch schon wieder so etwas wie eine deutsche Verwaltung, auch wenn sie nicht sehr viel zu sagen hat und Dr. Franz Oppenhoff, das von den Amerikanern auf deutschen Vorschlag eingesetzte Stadtoberhaupt, statt der Bürgermeisterkette eine weiße Armbinde mit der Aufschrift ›Town Mayor‹ trägt. Er ist ein schlanker Mann in mittleren Jahren, mit einer hohen Stirn. Einer der im Aussehen wie im Auftreten angenehm wirkt. Er wohnt am Südrand der Stadt, in der Eupener Straße 251, ganz in der Nähe des US-StandortKommandanten, mit dem er sich recht gut versteht. Martha Fromm hat als Späherin am Mittag das Haus beobachtet. Dann geht sie zum Treffpunkt, einer Feldscheune, zurück. »Die Luft ist rein«, meldet sie. »Nichts Verdächtiges festzustellen.« »Gut«, erwidert Wessler. »Wir treffen uns dann in Hornbusch.« Das Räuberzivil der Werwölfe fällt auch an einem festlichen Sonntag nicht auf. Fast alle laufen so herum: Zivilisten in schlechtgeänderten Wehrmachtsuniformen, sogar in umgefärbten SA-Hosen. Wessler und Leipold erreichen ihr Ziel, passieren Dr. Oppenho ffs Haus. »Paß auf«, sagt der Einsatzleiter: »Wir steigen durch das Kellerfenster ein. Ich zuerst. Du sicherst und schneidest dann die Telefonschnur durch.« Er ist erregt, er weiß, was auf dem Spiel steht, nicht nur was sein persönliches Schicksal anbelangt, Wessler sieht das große Ganze, den Paukenschlag, auf den Dr. Goebbels wartet. Der Propagandaminister hat unter dem Motto: »Haß ist unser Gebot und Rache unser Feldgeschrei!« die Proklamation bereits auf Platte sprechen lassen. Sowie Berlin erfährt, daß der Anschlag in Aachen geglückt ist, wird im Radio verlesen und in -151-
allen Zeitungen gedruckt werden: »Der ›Werwolf‹ hält selbst Gericht und entscheidet über Leben und Tod unserer Feinde, aber auch von Verrätern an unserer Nation, und er besitzt auch die nötige Gewalt, um seine Urteile zu vollstrecken. Für die Bewegung sind jeder Bolschewist, jeder Brite und jeder Amerikaner auf deutschem Boden Freiwild. Wo immer wir eine Gelegenheit haben, ihr Leben auszulöschen, werden wir das mit Vergnügen und ohne Rücksicht auf unser eigenes Leben tun. Jeder Deutsche, in welchem Amt und in welcher Tätigkeit auch immer er sich befindet, der sich zur Zusammenarbeit mit dem Feinde erbietet, wird unsere Rache zu spüren bekommen ... Unser Auftrag stammt aus dem Freiheitswillen unseres Volkes und aus der unveräußerlichen Ehre der deutschen Nation, als deren Hüter wir uns berufen fühlen. Wenn der Feind glaubt, daß er mit uns leichtes Spiel haben werde und das deutsche Volk genauso wie das rumänische oder bulgarische oder finnische zu Sklavenherden zusammentreiben könne, um es in die sibirischen Tundren oder in die englischen oder französischen Bergwerke zwangszudeportieren, so soll er wissen, daß ihm auch da, wo die deutsche Wehrmacht nach hartem und schwerem Kampf deutsche Gebiete hat preisgeben müssen, ein Gegner erwächst, mit dessen Vorhandensein er nicht mehr gerechnet hat, der ihm aber um so gefährlicher werden wird, je weniger er Rücksicht zu nehmen braucht auf veraltete Vorstellungen einer sogenannten bürgerlichen Kampfführung, die der Landesfeind nur da anwendet, wo sie ihm zum Vorteil gereicht, aber zynisch auf Geltung setzt, wo sie ihm Nachteile bringen könnte.« Wessler sieht sich noch einmal um; dann drückt er die Scheibe ein. Er schwingt sich in den Keller, sieht, daß ihm Leipold folgt. Das Haus wirkt ruhig. Nichts zu hören. An diesem Palmsonntagnachmittag ist Dr. Oppenhoff mit seiner Frau und seinen drei Kindern bei der Nachbarsfamilie Faust zum Kaffee -152-
eingeladen. Nur Elisabeth, das Mädchen, hält sich zu dieser Stunde im Haus auf. Sie hört ein Geräusch. Plötzlich stehen der Erschrockenen zwei Männer im Räuberzivil gegenüber. »Where is Mr. Oppenhoff?« fragt der Vordere mit dem wüsten Gesicht. »Dr. Oppenhoff ist nicht da«, erwidert das Hausmädchen. »Er muß uns weiterhelfen. Holen Sie ihn bitte her.« Der Eindringling redet in amerikanischem Deutsch auf Elisabeth ein. Sie geht zögernd in das Nachbarhaus, um den Oberbürgermeister zu verständigen, daß zwei Amerikaner ihn dringend sprechen wollen. »Bin gleich wieder da«, entschuldigt sich der Mann mit der weißen Bürgermeisterbinde bei seinen Nachbarn, geht in sein Haus zurück – und läuft in sein Schicksal. Anführer Wessler hat sich von Leipold die 0,8 geben lassen, den Schalldämpfer darauf geschraubt und die Pistole unter der Windjacke versteckt. »What can I do for you?« fragt ihn der Hausherr. »Wir sind keine Amerikaner«, erwidert Wessler. »Wir sind abgeschossene deutsche Piloten. Wir wollen uns zu unseren Linien durchschlagen. Können Sie uns Papiere besorgen, Herr Bürgermeister?« »Nein, das geht nicht«, erwidert Dr. Oppenhoff. »Gebt doch auf, der Krieg ist doch aus.« Er sieht Elisabeth in der Tür: »Machen Sie den Männern ein paar Butterbrote zurecht«, ruft er ihr zu. Inzwischen hat Wessler die Waffe aus der Windbluse genommen. Er hält sie hinter dem Rücken in der Hand; er müßte jetzt zielen und schießen. Das schafft er nicht, er hat Hemmungen. Wessler ist ein Kämpfer, doch kein Meuchelmörder. Leipold nimmt ihm zornig die 0,8 aus der Hand, tritt dicht an -153-
Dr. Oppenhoff heran. »Heil Hitler!« sagt er und sieht in ein verstörtes Gesicht. Da reißt der Mann mit den fiebrigen Augen die Waffe hoch, drückt ab. Schuß in die linke Schläfe. Der Überfallene fällt zu Boden. Draußen hört man den Nachbarn Faust, der ins Haus kommt, um nachzusehen, wo Dr. Oppenhoff so lange bleibt. Die beiden Werwölfe jagen aus dem Haus, genau in die Arme einiger US-Soldaten, die als Störtrupp untersuchen sollen, warum das Telefon nicht funktioniert. Bis die GIs begreifen, was vorgefallen ist, sind die beiden Täter im Durcheinander entkommen, flüchten über Trampelpfade und durch Kellerruinen weiter, schlagen sich bis zu dem Gut Hombusch durch, wo Leipold als erster ankommt. »Ein feiges Schwein, unser Anführer«, sagt er. »Wenn ich ihm nicht die Waffe aus der Hand gerissen hätte, würde dieser Schweinehund von Oppenhoff jetzt noch leben.« Der Kommandoführer Wessler muß aufgefallen sein; er zieht Verfolger hinter sich her. Dann sehen sie alle drei die Soldaten, die von ihren Jeeps springen und in weit auseinandergezogener Schützenkette sich dem Haus nähern, wie Jäger auf der Treibjagd. Die Werwölfe hetzen los in Richtung Kallbachtalsperre. Immer schneller, durch vermintes Gelände, auf das sie in der Eile nicht mehr achten können. Leipold erwischt es als ersten; kurz danach auch Martha Fromm, beide werden bei der Explosion zerfetzt. Wessler ist vorsichtiger, aber dadurch auch langsamer. Die Verfolger kommen ihm immer näher. Sie rufen ihm zu, stehenzubleiben, aber er hetzt weiter, in die Feuerstöße mehrerer Maschinenpistolen hinein, die ihn durchlöchern. Noch immer herrscht in Aachen über die Tat und die Vorgeschichte große Verwirrung, obwohl den US-Fahndern -154-
sofort klar ist, daß es sich bei dem Palmsonntagmord um einen politischen Anschlag handeln muß. Als erste Zeitung meldet die ›New York Times‹, daß der ›Non-Nazi- Town-Major of Aachen‹ Dr. Oppenhoff in GangsterManier von Killern in Fallschirmjägeruniform ermordet worden sei. Die englische Agentur Reuter greift die Meldung auf. Der ›Völkische Beobachter‹, das amtliche Parteibla tt der NSDAP, übernimmt sie und meldet, daß der von der alliierten Militärbehörde als Oberbürgermeister eingesetzte Franz O. von deutschen Freiheitskämpfern getötet wurde, nachdem ihn ein Gericht zur Wahrung der deutschen Ehre nach Antritt seines Amts im Solde des verhaßten Feindes zum Tode verurteilt hatte. Die braune Propaganda überschlägt sich bei der Premiere der neuen Geheimwaffe Werwolf, und Alliierte wie Deutsche fürchten die Tollwut, die Dr. Goebbels auslöst. Als Major Sepp Wamsler am Dienstag, dem 27. März, auf abenteuerlichen Wegen mit tagelanger Verspätung eintrifft, verfügen die Anglo-Amerikaner bereits über zwölf Rheinübergänge. Jetzt setzt auch die 7. US-Armee bei Worms über den Fluß und stellt, nach Norden rollend, bei Darmstadt die Verbindung mit der 3. US-Armee her. General Pattons Panzerspitzen erreichen Aschaffenburg und nehmen die unversehrten Mainbrücken im Sturm. Ungestüm kommen die Anglo-Amerikaner im Westen voran, an allen Frontabschnitten, vom Niederrhein bis zum Spessart. An der Ostfront ist der erste Versuch der 9. Armee, den sowjetischen Belagerungsring um Küstrin an der Oder zu sprengen, gescheitert. Hitler befiehlt einen zweiten Angriff, aber die erschöpften Soldaten haben keine Chance, weiterzukommen. Die Russen sind zu stark, die Deutschen zu schwach an Panzern, an Artillerie, an Infanteristen, es ist ein miserables Omen für -155-
Berlin. Major Wamsler, der morgen heiraten wird – Eva ist schon nach Iffeldorf vorausgefahren, um die bescheidene Hochzeit vorzubereiten –, stapft durch die verwüstete Innenstadt, um seinen Freund beim Wehrkreiskommando abzuholen. Oberleutnant Andreas Bereiter, von Bekannten und Freunden ortsüblich nur Anderl genannt, arbeitet auf einer WK-VIIAußenstelle in der Nähe des Marienplatzes, seitdem ihm der rechte Unterschenkel zerschossen worden ist. Der Oberleutnant ist ein passionierter Bergsteiger und Naturfreund, aber das wird er sich abgewöhnen müssen. Die genagelten Knochen waren falsch zusammengewachsen und mußten noch einmal gebrochen werden. Anderl, ein untersetzter Typ, der sich nicht so leicht unterkriegen läßt, telefoniert gerade, als der Freund eintritt. Er legt sofort auf und sagt: »Wir können gleich losfahren, Sepp.« »Gibt’s was Neues?« fragt der Besucher. »Ja, die Engländer haben aus Versehen heute nacht das befreite Den Haag angegriffen, an die 800 Tote, peinlich und heute morgen«, fährt er fort, »wurde die letzte V-2-Rakete gegen die Insel abgefeuert.« Seine dunklen Augen lichtern. »Damit ist die Vergeltung zusammengebrochen.« »Sie ist ja ohnedies recht bescheiden ausgefallen«, erwidert Wamsler. »1050 V-1- und V-2-Raketen zwischen dem Juni 44 und heute«, erklärt Anderl, der es genau weiß. »Aber wir haben eine neue Wunderwaffe«, verkündet er, und der Spott kräuselt seine Lippen: »Der Führer hat soeben ein Tiefflieger-Abzeichen für Einzelkämpfer gestiftet.« »Sollen sie die Jabos mit der Panzerfaust abschießen?« fragt, der Major. »Mit Handfeuerwaffen.« Über das Nußknackergesicht Oberleutnant Bereiters fließt der Hohn wie Sirup: »Mit dem Karabiner 98 K oder der Pistole 0,8.« -156-
»Hoffentlich wird der Orden noch fertig, bevor der Krieg aus ist.« »Das ist bald soweit«, entgegnet der Offizier, der durch seine Dienststelle blendend informiert ist: »Aus dem Brückenkopf von Issels heraus stoßen die Tommies schnell nach Norden und Nordosten vor, und die Amis haben bei Dorsten bereits die Lippe erreicht. Die Anglo-Amerikaner sind dabei, in einer riesigen Zangenbewegung das ganze Ruhrgebiet einzukesseln. Und bei Berlin wird es nun auch bald losgehen.« Er zündet sich eine Zigarette an. »Oder meinst du, daß wir die Russen halten können?« »Sieht schlecht aus«, erwiderte Wamsler. »Ich hab’ das nachgerechnet: Bei der Januaroffensive sind sie in jeder Stunde über einen Kilometer vorangekommen, so an die 30 pro Tag – und da waren wir noch viel stärker auf der Brust.« »Wenn sie angreifen, werden sie bei gleichem Tempo also in zwei Tagen in Berlin sein«, entgegnet Anderl. »Das steht zu befürchten.« Sie gehen nach unten, warten auf der Straße, bis der Wagen vorgefahren wird, den ma n dem Major zur Verfügung stellt. Andauernd muß er die Grüße vorbeiziehender Soldaten erwidern; es ist ihm lästig. Sepp würde gerne Zivil tragen, aber der Totalschaden in seinem Elternhaus ließ ihm nicht einmal mehr ein Taschentuch. Müde Menschen schieben sich an bizarren Ruinen vorbei. Es sieht aus, als müßten die Fassaden beim nächsten Windstoß einstürzen. Die Schulen sind seit 14. Februar geschlossen, die Gotteshäuser fast alle zerstört, der Alte Peter, Münchens älteste Pfarrkirche, bereits anno 1169 urkundlich erwähnt, die barocke Theatinerkirche, einst als Dankesstiftung für die Geburt des Thronerben Max-Emanuel erbaut, die Michaelskirche, der Dom. Ausgebrannt die Geschäfte in der Residenz-, der Kaufinger-, Neuhauser- und Theatinerstraße. Von Bomben getroffen die -157-
Residenz und die Universität, das neue Rathaus und der Hauptbahnhof- und der Krieg ist noch nicht zu Ende. Wamsler hält einen Moment an und betrachtet die Schäden an der Feldherrnhalle. »Mensch, Anderl«, bemerkt er, »wenn die bayerische Landespolizei 1923 genauer gezielt hätte, wär’ die Weltgeschichte anders verlaufen.« »Wenn der Hund net g’schiss'n hätt’«, erwidert Bereiter giftigordinär: »wären wir auch net die ›Hauptstadt der Bewegung‹ g’worden.« Die Partei hat die Isarstadt nicht gefragt, als sie ihr den Ehrentitel zuwarf wie ein Kleiderbulle einem Rekruten die Klamotten. In der ›Grüß-Gott-Metropole‹ war der unbekannte Gefreite des Ersten Weltkriegs in seinen Anfängen aus den Schatten der Bierkeller getreten und zunächst von den Münchenern als ›spinnerter Adi‹ verspottet worden. Seine Auftritte hielten die Stadtbewohner fälschlich für eine Hofbräuhausgaudi, seine Weltanschauung für eine der bajuwarischen Vergnügungen wie Starkbierausschank, Fasching und Oktoberfest. Die feinen Salondamen der na tionalen Erneuerung, des Braunauers mütterliche Freundinnen, hatten dann dem redegewaltigen Kleinbürger beigebracht, daß ein Herr keine süßen Liköre trinkt und auch Fisch nicht mit dem Messer ißt. In der frühen Kampfzeit war der ›Trommler‹ noch kein Abstinenzler gewesen. Damals konnte man ihn noch in der ›kurzen Wichs‹, der Lederhose, sehen, oder auch im Frack und in beiden Monturen wirkte er gleich komisch. Niemand hatte damals befürchtet, daß die ›Hauptstadt der Bewegung‹ mit ihren Trümmer- und Geröll- Bergen zu einer Hauptstadt der Schuttbewegung werden würde. »Und hier, an der Feldherrnhalle«, erklärt Bereiter: »will Gauleiter Giesler allen Ernstes mit der Blutfahne in der Hand das letzte Bataillon auf dem Schlachtfeld gegen die Amis -158-
führen.« Anderl lacht trocken. »Lächerlicher Kitschfilm«, setzt er hinzu. »Aber wir werden schon dafür sorgen, daß er nicht gedreht wird.« »Wer sind wir?«, fragt Sepp. »Ein paar befreundete Offiziere und auch Unteroffiziere, Handwerksmeister und Studenten«, erklärt Bereiter: »Wenn sich die Amerikaner unserer Stadt nähern, werden wir den Sender, das Rathaus und die Zeitungsredaktionen besetzen, diesen Giesler ausheben und den Anrückenden die Stadt München kampflos übergeben.« »Viel Glück«, versetzt Wamsler. »Erstaunlich, daß es in Deutschland auch noch Vernunft gibt.« »Wenn die Amerikaner München haben, ist der Krieg zu Ende«, erklärt Anderl. »Und die Festung Alpenland?« fragt der Major. »Reiner Bluff«, versetzt der Freund. »Oder meinst du, die Fluchtburgen der Nazigrößen am Tegernsee, dem Lago di Bonzo, oder Hitlers Obersalzberg halten die Amis auf?« Er beobachtet Sepp, sieht, daß er ihm zustimmt. »Wir brauchten einen Mann wie dich, wenn wir unsere ›Aktion Goldfasan‹ auslösen. Wir haben Leute der Dolmetscherkompanie, Halbkrüppel wie ich, und auch Reserveoffiziere ohne große Fronterfahrung. Biedere Bürger, anständige Menschen, die verhindern wollen, daß diese braune Pest noch Hunderttausende dahinrafft, aber es ist nicht der richtige Druck dahinter. Keine Erfahrung, keiner, der die Männer mitreißen könnte, wie du das schaffst, und die dann auch den Abzug durchdrücken, wenn’s sein muß.« Er wertet Sepps Schweigen als Einverständnis; er brauchte sich bei ihm, selbst wenn er noch zu den Nazis stünde, nicht vorzusehen. Einer wie er denunziert keinen Menschen bei der Gestapo. »Ich muß das ja wissen«, fährt Anderl fort. »Ich hab’ doch in -159-
der Schule schon immer von dir abgeschrieben. Du warst stets der Erste, und du wärst auch bei einem Putsch der Primus.« »Schön wär’s –« erwidert der Major: »Ich hätte auch gar keine Hemmungen, aber –« Der Kübelwagen hat den südlichen Stadtrand erreicht, fährt durch Grünwald, Richtung Isartal. »An deiner Stelle, Sepp«, drängt Anderl Bereiter weiter, »würde ich nicht an die Ostfront zurückfahren. Eva kann als Ärztin doch irgendeine Krankheit erfinden – außerdem sind die Amerikaner, wenn sie in dem Tempo weitermachen, noch vor den Russen in Berlin.« »Gerade deswegen muß ich an die Oder zurück«, erwidert der Älteste des Postrats Wamsler. »Die Front muß halten, bis die Flüchtlinge durch sind. Du kannst dir dieses Elend nicht vorstellen –« Der invalide Oberleutnant stimmt ihm stumm zu – die Russen kennt er aus eigener Erfahrung aus der Zeit, in der er noch zwei gesunde Beine hatte. Sie fahren durch Eurasburg, dann durch Beuerberg. Dann kommt schon Penzberg, das Industriestädtchen im Voralpengelände; sie rollen in Richtung Osterseen weiter und biegen kurz vorher nach Iffeldorf ab. Mutter steht in der Tür. Sie kann es nicht erwarten, bis Sepp kommt. Sie umarmt ihren Ältesten, und Sepp weiß, daß sie nach der ersten Ankunftsfreude schon wieder traurig sein wird, weil er wieder wegfahren muß. So ist es ihm noch in jedem Urlaub ergangen; aber heute hat die stille Frau des Postrats ein Gesicht wie eine Verschwörerin. Postrat Wamsler kommt seinem Ältesten im Flur entgegen. »Wie fühlst du dich als Pensionist, Vater?« fragt Sepp. »Ich weiß nicht recht, Bub«, erwidert der Alte. »Ich hab’ kein so gutes Gefühl – alle schuften bis zum Umfallen, und ich sitz’ -160-
hier so unnütz herum.« »Und dein Herz?« »Dem tun die frische Luft, die Natur und die Ruhe schon gut.« »Na also«, sagt Sepp. »Und was meint Fräulein Dr. Eva Ritter zu deinem Befinden?« »Sie ist zufrieden mit mir.« Der Alte stahlt jetzt förmlich: »Sowohl als Ärztin wie auch als Schwiegertochter.« Sepp öffnet die Küchentür. Die junge Frau mit den schönen, grüngrauen Augen und dem Grübchenlächeln hat ihn längst kommen hören, doch sie steht am Herd und rührt eifrig in einem Topf – sie will sich überraschen lassen. »Magst du mich noch?« fragt Sepp und zieht sie an sich. »Ich hab’ dich lieb«, erwidert sie. »Und zwar immer. Du brauchst mich nie danach zu fragen. Du darfst ganz sicher sein.« Sie küßt ihn. »Ich bin’s ja auch«, setzt sie hinzu. Er ist zu verlegen über die Worte, die ihn beglücken, als daß er sie erwidern könnte. »Wo ist denn eigentlich Anderl?« fragt er dann und sieht sich nach dem Freund um. »Taktvoll wie immer, treibt er sich wahrscheinlich draußen herum«, entgegnet Eva. Sepp holt aus seiner Aktentasche zwei Flaschen Wein, für je dreißig Reichsmark auf dem Schwarzmarkt erstanden, und ein Päckchen Zigaretten. »Das ist alles, was ich du mitbringen kann, Eva«, sagt er, »und dabei würde ich dir so gerne ein besonderes Hochzeitsgeschenk machen.« »Das kannst du«, erwidert sie: »Komm’ heil zurück.« »Ich tu’ was ich kann«, erwidert Sepp. »Und außerdem bin ich ja noch da.« »Zwei Tage«, versetzt Eva. »Drei«, verbessert er. »Sonderurlaub. Ein Geschenk meiner -161-
Einheit. Was meinst du, was andere für drei Tage geben würden.« »Was meinst du, wie schnell 72 Stunden enden werden«, kontert Eva. Sie weiß, daß er noch eine Dienstreise herausschinden könnte, aber das ist nicht seine Art. »Stirb bloß nicht an deiner Rechtschaffenheit«, sagt die junge Frau und wischt den Vorwurf gleich wieder weg: »Du bist der geradlinigste Mann, den ich kenne. Dich könnte man mit einem Sack Gold und einer Jungfrau um die Erde schicken, du brächtest beides wieder unversehrt zurück –« »Eine Jungfrau hab’ ich schon geschafft«, versetzt Sepp: »Und wie geht’s euch beiden?« »Um uns brauchst du dich nicht zu sorgen; wir sorgen uns um dich.« Die junge Ärztin steckt ihre Hand in seinen Arm und zieht ihn in die gute Stube der Kusine Anna – sie bewirtschaftet mit zwei französischen Kriegsgefangenen den Hof. Die alleinstehende Bäuerin bringt das Kunststück fertig, zugleich freundlich und geizig zu sein. »Schau mal, Sepp, schon alles hergerichtet für unser Familienfest.« Er wundert sich über das viele Geschirr und das schöne Besteck. Sogar Kerzen in silbernen Leuchtern stehen am Tisch. »Wir werden also Weniges mit sehr viel Stil verzehren«, sagt Sepp lachend: »Wo habt ihr denn die Requisiten her?« »Zusammengeborgt im ganzen Dorf«, erklärt Eva. Jetzt fällt ihm auf, daß auch sie so subversiv lächelt, wie eine Komplizin seiner Mutter. »Was ist denn eigentlich los?« fragt er: »Ihr habt alle so hinterlistige Gesichter.« »Wir haben eine Überraschung für dich«, entgegnet Eva. Es ist das Stichwort für Michael, den jüngsten Bruder. »Und das bin ich«, sagt der KOB-Unteroffizier und tritt aus -162-
dem Nebenzimmer. »Servus, Großer! Oder hast du gedacht, daß ich dich bei deiner Hochzeit im Stich lasse?« »Du hast Urlaub bekommen?« wundert sich der Major. »Schließlich haben wir ja Bombenschaden –« »Aber doch schon im Februar –« »Militärbürokratie«, erwidert der Benjamin. »Und solang hab’ ich auch gebraucht, bis ich die vielen Zigaretten beieinander g’habt hab’. Der Spieß raucht, der Kompaniechef raucht – und in diesem Fall ist Zigarettenrauch kein blauer Dunst.« Er grinst. »Daß es so lange gedauert hat, paßt zeitlich doch jetzt prima.« Michael ist 20, ein netter Junge mit einem strahlenden Lächeln, ein wenig leichtfertig, sehr großzügig und trotz allem verläßlich. »Damit du es gleich weißt: Ich richte dir die Hochzeit aus.« Er lächelt den Verständnislosen an: »Betrachte mich als deinen Hoflieferanten.« »Michael hat für mindestens drei Wochen Proviant mitgebracht«, erklärt Eva. »Einen Rucksack und zwei Koffer voll - Parmaschinken, Butter, Salami, Grappa, Chianti, feinste Konserven. Nicht zu glauben, daß ein Mann das alles schleppen kann. Na, laß’ dich überraschen.« »Wie schaffst du das bloß?« fragt Sepp. »Weißt du, Bruderherz«, erwidert der Kleine. »In unserer Familie gibt es verschiedene Begabungen: Du hast das Zeug zum General und ich zum Millionär.« Sie lachen alle. »Aber«, schränkt Michael ein, »du bist bloß Major und ich nur ein halber Schieber, aber das zu deinen Gunsten. Übrigens keine Wehrmachtsware«, versichert der glänzende Organisator. »Nichts unterschlagen, nichts gestohlen, alles im ehrlichen Tauschhandel erworben.« Eine Stunde später sitzen sie an der festlich gedeckten Tafel, und Kusine Anna ist doppelt glücklich, weil der berühmte Verwandte im Dorf großes Aufsehen erregt und weil sie nun -163-
doch nicht für die Hochzeit in den Schmalztiegel greifen muß. Aber ein paar frische Eier wird sie morgen früh für das Brautpaar schon herausrücken, da läßt sie sich nichts nachsagen. »Um acht Uhr kommen die Blumen«, sagt Michael, der heute erst eingetroffene Hochzeitsmanager: »Ein großer Frühlingsstrauß – und er riecht nicht nach Nikotin. Um neun Uhr Trauung in der Gemeinde, um zehn Uhr Hochamt im Kloster Schäftlarn. Ihr habt einen Wagen, und uns nimmt das Milchauto mit.« »Wenn’s ein Junge wird, wirst du unser Taufpate, Michael«, verspricht Eva. Sie essen feierlich. Sie spielen Frieden. Sie versuchen voreinander zu verbergen, daß sie mit den Gedanken bei den zwei Wamslers sind, die am Tisch fehlen. Aber Stupsi hat viel zu früh schon vorgestern ein Glückwunschtelegramm geschickt, und Florian hat sich gestern aus dem Spessart gemeldet und gesagt, daß es hier vorläufig noch mehr Wildsäue gäbe als ›Sherman‹-Panzer. »So«, sagt Sepp, »und jetzt trinken wir auf Stupsi und Florian und darauf, daß sie heil nach Hause kommen.« Sie stoßen mit den Gläsern an, nicht mit dem Wein, den der Major am Schwarzmarkt besorgt hat, sondern mit einem besseren Tropfen, mit dem Chianti Michaels. Nach Tisch nimmt Sepp den Benjamin auf die Seite: »Vielen Dank«, sagt er. »Es ist mir wirklich peinlich –« »Ein Schmarr’n«, erwidert der Kleine. »Ich freue mich richtig über dich und Eva –« »Sag’ mal, wo kriegst du denn nur die Sachen her?« »Geschäftsgeheimnis«, entgegnet Michael und grinst. »Und morgen mach’ ich Eva noch ein tolles Hochzeitsgeschenk.« Der Wein lockert die Zungen. Es wird gelacht und vergessen. Die Gesichter sind geglättet; man grübelt nicht mehr. Die -164-
Stimmung wird fröhlich, aber es bleibt eine Stimmung in Moll, schon weil man wegen der Luftlage immer wieder in das Radio hineinhören muß. Anderl Bereiter nimmt die junge Ärztin beiseite: »Sag’ mal, Eva, du willst doch sicher nicht tatenlos zusehen, wie Sepp in dieses Berliner Schlamassel –« »Du kennst ihn doch«, erwidert sie. »Und was könnte ich tun, um ihn aufzuhalten?« »Können wir ihn nicht krank machen?« »Mit oder gegen seinen Willen?« »Das ist doch egal«, erwidert der Oberleutnant vom WK VII: »Hauptsache, er fährt nicht mehr hinaus.« Er sieht sie an und dämpft die Stimme noch einmal: »Könntest du ihm nicht ein Medikament geben, daß er zum Beispiel, sagen wir mal, die Gelbsucht bekommt?« »Heimlich soll ich ihm das einflößen?« »Wenn’s sein muß –« »Das geht nicht«, entgegnet Eva gequält: »Ich kann ihn nicht so hintergehen. Außerdem sind Ärzte dafür da, Krankheiten zu heilen und nicht, um sie herbeizuführen.« »Na, ihr beiden«, sagt Sepp und tritt an sie heran: »Flirtet ihr schon hinter meinem Rücken?« »Wir unterhalten uns gerade über dich«, packt Anderl den Stier bei den Hörnern: »Wir fragen uns, ob wir zusehen dürfen, wie du für eine verlorene Sache ins Verderben rennst.« »Ich hab’ es dir doch schon auf der Fahrt erklärt«, erwidert der Major eine Spur ungehalten. »Ich weiß, du willst diese armen Flüchtlinge schützen - das ist großartig und hirnverbrannt. Die NS-Volksgemeinschaft ist längst zum Teufel gegangen, hat sich in Menschen, in Individuen aufgelöst, die nicht mit dieser verdammten braunen Bande vor die Hunde gehen wollen. Jeder hat die Pflicht sich -165-
selbst gegenüber, irgendwie durchzukommen.« Anderl spürt, daß er gegen eine Wand redet, aber Wände brechen in dieser Zeit auseinander wie Eierschalen: »Und bilde dir nichts auf deinen Edelmut ein«, setzt er hart hinzu: »Letztlich verreckst du doch nur für Hitler.« Sepp sucht Evas Augen; sie sehen einander an. Keiner sagt ein Wort. In diesem Moment wird Sepps Gesicht, in das sich die Zeit hineingemeißelt hat, zum Spiegel: Er zeigt ihr, was er erlebt haben muß: Den Dammbruch, den Versuch vieler, auf Kosten anderer zu überleben. Den Selbsterhaltungstrieb, der wie ein Hurrikan wütet, Frauen, Kinder, Greise, Männer, Verwundete, Halbwüchsige, die in wilder Horde die Schiffe berennen. Männer, die an ihren Frauen vorbeikeuchen, Frauen, die ihre Kinder liegenlassen. Eva sieht die aufgelösten Fluchtkolonnen der Verzweiflung. Fußgänger, Radfahrer, Reiter, Kranke im Rollstuhl, Babys im Kinderwagen, Menschen als dichte Trauben auf den Lastern mit dem Holzvergaser. Lieferwagen, Wehrmachtsgespanne, besetzt mit Stabshelferinnen, Feuerwehrmännern, Fußkranken, Fahnenflüchtigen, Versprengten, Versehrten und Verdammten, mit Volkssturmmännern, OT-Leuten, Eisenbahnern, Schwangeren. Dazwischen greinende Kinder und brüllende Kühe, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene. Und immer wieder Frauen, Mädchen und Großmütter mit angstverzerrten Gesichtern, zweibeinige Kriegsbeute der Sieger, die kein Erbarmen kennen, weil sie selbst keines erfahren haben. Männerhorden, die über sie herfallen und sie zerbrechen, im Schneefeld, in der Scheune, im Keller, das Kind neben der Großmutter, zu fünft, zu zehnt, die ganze Nacht lang. Sie flüchten weiter, und im endlosen Strom der Verzweiflung, der Erschöpfung, gefoltert von Visionen, die schlimmer sind als Hunger und Kälte, der Alte aus Pommern, der seinen Radio 70 Kilometer lang mitschleppte, bis er ihm aus den erfrorenen Händen fällt. Der Doppelamputierte, der nach der Operation im -166-
Behelfslazarett feststellt, daß man seine Hose mit dem letzten Geld und dem einzigen Foto seiner Frau geklaut hat. In diesem Moment erfaßt Eva, daß sie verloren hat. »Trink’, Sepp«, sagt sie leise. »Es ist Medizin.« Der Sender des Gauleiters gibt die erste Luftwarnung durch. Die Festtagsgäste sehen auf die Uhr, leeren das letzte Glas. Den Anna-Hof werden die Bomber schon nicht angreifen, auch wenn er in der Festung Alpenland liegt. 28. März, Sepp Wamslers Hochzeitstag: Die US-Panzer stehen schon vor Wiesbaden und Frank furt am Main. Gotenhafen fällt. Die Sowjets treten zum letzten Sturm auf Danzig an, während die schöne Rokokoklosterkirche von Schäftlarn, eine Schöpfung des Frangois Cuvillies, den Gläubigen einen Weg aus dem Tal der Tränen weist. »Denn die Herrlichkeit Gottes des Herrn«, dröhnt die Orgel, und Handels mächtige Akkorde lassen den Offizier am Altar die Stalinorgel vergessen. Eva lehnt sich an ihn. Hinter dem Brautpaar weint Mutter Wamsler. Die Kusine Anna füllt mit Schluchzen die Pausen der Predigt. Dem Postrat ist die Dankbarkeit in das Gesicht gestempelt, daß er diesen Tag erleben darf. Eva hat keine Eltern mehr, sie steht allein, aber bei den Wamslers ist sie schon lange zu Hause. Sehr religiös ist Sepp nie gewesen, eigentlich ist er nur seinen Eltern zuliebe gelegentlich in die Kirche gegangen, aber jetzt spürt er auf einmal eine Kraft und eine Herrlichkeit wie noch nie. Zum erstenmal seit seiner Kindheit kommt er in ein Zwiegespräch mit dem großen Unbekannten. Weit öffnen sich die Flügeltüren, als er nach der Trauung mit Eva durch das große Kirchenschiff schreitet, vorbei an dem Weiß und Gold der Stuckdekorationen und bunten Fresken. Und das Tedeum, zu dem der Organist anhebt, ist wie ein Aufschrei gegen die Zeit und ihren Wahnsinn: -167-
»Großer Gott, wir loben dich Herr, wir preisen deine Stärke«, dröhnt die Orgel, »vor dir beugt die Erde sich und bewundert deine Werke Wie es war vor aller Zeit –« Sie haben das Portal durchschritten; nahtlos gehen die Orgelklänge in mehrhundertfaches Motorengebrumm über: Amerikanische Kampfflugzeuge überfliegen Schäftlarn in großer Höhe, sauber ausgerichtet, als probten sie den Formationsflug, Tonnen von Tod an Bord, die sie vielleicht über München oder Nürnberg oder Leipzig ausklinken werden. »So bleibt es in Ewigkeit –« Die nächste Formation überfliegt das letzte Refugium, die Festung Alpenland. Unter den US-Geschwadern, die in breiter Front einfliegen, liegen Schloß Fuschl, der Sitz des Außenministers v. Ribbentrop. Hall, der Sitz des Gauleiters Hofer, eines wildgewordenen Radiohändlers, der als erster die Alpenfestung propagierte. In Bayrischzell unterhält General Reinhard Gehlen eine Außenstelle des militärischen Nachrichtendienstes. In Altaussee hat sich der Chef des Reichssicherheitshauptamts, Ernst Kaltenbrunner, ein Rückzugsasyl geschaffen. Am Königssee sitzt das OKW Süd. In Maishofen bei Zell am See ebenso wie in Klagenfurt ein Werwolf-Stab. In Bad Tölz ist eine Offiziersschule für die Waffen-SS und eine Trainingsstätte für Kampfschwimmer der SS-Jagdverbände. In Gmunden am Traunsee eine V-2-Abschußbasis, in Feldafing eine SSJunkerschule und in Garmisch-Partenkirchen eine V-2Forschungsstätte des Wernher v. Braun. In Schloß Labers bei Meran hat sich die Falschgeldvertriebsstelle des ›Unternehmens Bernhard‹ eingenistet. Die kleine Gesellschaft fährt zum Anna-Hof zurück. Der Luftalarm im Alpenvorland wird aufgehoben, die Leberknödelsuppe aufgetragen. Michael schenkt seiner -168-
Schwägerin Eva eine besondere Rarität: Penicillin aus USArmy-Beständen, eingekauft am italienischen Schwarzmarkt. »Und garantiert echt«, versichert er. »Das Wundermedikament gibt es nämlich auch schon als Fälschung.« Auch Anderl Bereiter bietet ein ganz besonderes Präsent: Er hat durchgepaukt, daß Stupsi, das Nesthäkchen, vom WK VII dringend als Stabshelferin angefordert wird. »Der Oberst hat es schon genehmigt – in spätestens einer Woche wird Bärbel von Stendal nach München versetzt.« Während man in Iffeldorf bei einer Familienfeier den Krieg vorübergehend vergißt, kommt es im Führerhauptquartier wie im Headquarter Eisenhowers zu heftigen Zusammenstößen. Als Generaloberst Guderian, der gestern schon eine harte Kontroverse mit Hitler hatte – weil auch der zweite Angriff der 9. Armee auf den Belagerungsring von Küstrin gescheitert war –, aus der Wirklichkeit der Front die vielen Stufen zu Hitlers irrealer Tauchstation hinabsteigt und im langen Gang über ausgelegte Bretter Wasserpfützen überquert, bemerkt er zu seinem Adjutanten, daß er sich von Hitler künftig nichts mehr gefallen lassen werde. General Busses Bericht über die Frontlage bei Küstrin und die Operationen der 9. Armee wird vom Obersten Befehlshaber schon beim dritten Satz unterbrochen: Hitler erhebt heftige Vorwürfe gegen die Truppe und ihren General. Die uniformierten Hofschranzen Keitel, Jodl und der Chef des Heerespersonalamtes, Wilhelm Burgdorf, schweigen betreten, längst gewohnt, sich aus Differenzen herauszuhalten. Guderian unterbricht Hitler und weist mit lauter Stimme die Vorwürfe zurück. Es ist das erste Mal, daß ein Militär wagt, dem Diktator schreiend zu widersprechen. Der Generaloberst mit dem hohen Blutdruck und der Mann, der ihn seit Monaten mit dilettantischen Befehlen traktierte, werfen sich alles an den Kopf, was sich in langer Zeit aufgestaut hat. Hitler tobt, verliert -169-
jedes Maß, spuckt seine ganze Verachtung für die Generalität aus: »Aber Guderian überschrie ihn noch«, schildert Jürgen Thorwald die Szene: »Es gab keine Hemmungen mehr zwischen beiden Männern. Die Entladung des Hasses, der tief in Hitler kochte und aus der Ahnung seines nahenden Untergangs gespeist wurde, war so heftig, daß sein zitternder Arm in krampfhaften Zuckungen auf und ab schlug. Er brauche keinen Generalstab mehr, rief er. Der Generalstab sei der Hort des Defätismus. Im Generalstab sitze der ganze 20. Juli. Er begann vor Erregung zu schwanken. Da erwachte Burgdorf aus seiner Erstarrung. Er trat hinter ihn und versuchte, ihn in den Stuhl zurückzuziehen. ›Mein Führer‹, rief er, ›beruhigen Sie sich doch! Setzen Sie sich doch wieder hin!‹ Und Hitler war so erschöpft, daß er plötzlich in den Stuhl fiel und wie abwesend dasaß. Es war, als sei das jähe Ende eines Sturmes gekommen.« Jodl und Winter packen den aus der Selbstkontrolle geratenen Generalstabschef am Arm und zerren ihn aus Hitlers Nähe weg. Sie versuchen den Wütenden zu beruhigen, aber bei Guderian sind die letzten Sicherungen durchgebrannt. »Er«, sagt er und meint damit den ›Führer‹: »Er ist an allem schuld. Er redet Unfug. Kurland ist ein Verhängnis, und seine ganzen Ausführungen über Pommern sind falsch.« Guderians polternde Stimme dringt noch durch die Außenwände des Raums. Sein Adjutant rechnet damit, daß der Generaloberst jeden Moment verhaftet wird. Er und andere Offiziere versuchen, Guderian zu überreden, mit General Krebs in Zossen zu telefonieren. Sie müssen mehrere Anläufe nehmen. Dann spricht der ›schnelle Heinz‹, wie ihn seine Soldaten nennen, oder auch ›Heinz Brausewetter‹, 20 Minuten lang mit dem früheren Militärattache in Moskau. Krebs gilt in der Wehrmachts-Führungsschicht als Bonvivant, Anpasser und Opportunist. Guderian kühlt sich bei dem Gespräch so weit ab, daß man -170-
ihn wieder in Hitlers Kartenraum lassen kann. Die Lagebesprechung wird fortgesetzt. Dann bittet der Diktator alle Anwesenden bis auf Generalfeldmarschall Keitel und den Generalstabschef, den Raum zu verlassen. »Guderian, Ihre Gesundheit erfordert jetzt Ihre sofortige Beurlaubung«, stellt Hitler fest! »Ich glaube, Ihr Herz macht Ihnen wieder zu schaffen. In sechs Wochen können Sie wiederhergestellt sein.« »Ich melde mich beurlaubt«, kontert Guderian. »Wohin werden Sie sich begeben?« fragt Hitler. »Das weiß ich noch nicht, mein Führer.« Keitel will die Situation entschärfen und schlägt Bad Liebenstein vor. »Unmöglich«, entgegnet Guderian, »da sind bereits die Amerikaner.« »Wie wär’s mit Walkenried?« fragt Keitel weiter. »Dort werden die Amerikaner morgen sein«, stellt der Generalstabschef fest. Er fährt zum OKW nach Zossen, zu seinem Nachfolger – er heißt: Hans Krebs. Dann meldet sich Guderian in das Sanatorium Ebenhausen bei München ab in die sogenannte Alpenfestung. Der Zusammenstoß im alliierten Headquarter bei Reims verläuft in der Form sachlicher, in der Sache aber nicht minder heftig. Der Oberkommandierende, Dwight D. Eisenhower, ein Diplomat in Uniform, hat zwar nie einen Zweifel darüber gelassen, daß er die letzte Entscheidung treffen wird, aber doch erst nach eingehender Beratung mit den Stabschefs und den Frontgenerälen. Jetzt, in einer militärisch – vor allem aber politisch – beispiellosen Situation verzichtet er auf seine Berater-Crew und faßt einen einsamen Entschluß, dessen Auswirkungen sich weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts hineinziehen werden: Es geht um Berlin. Die Panzer der West-Alliierten sind der Kalkulation am -171-
grünen Generalstabstisch längst davongefahren. Die sorgfältig ausgearbeiteten Pläne werden zu Makulatur. Der Zweite Weltkrieg endet – das steht jetzt schon fest – mit Sicherheit ein paar Wochen früher, als es geplant war. Die vorzeitige Überquerung des Rheins mit erstaunlich wenig Verlusten macht ein Umdenken nötig. Für Eisenhower selbst war die deutsche Reichshauptstadt der›Hauptpreis des Sieges‹gewesen. Noch am 27. März, gestern, hatte Montgomery seinem Premierminister gesagt: »Ich werde mit meinen Truppen zur Elbe und dann über die Autobahn nach Berlin vorstoßen.« Ike, sein Oberbefehlshaber, läßt durch nichts erkennen, daß er längst andere Pläne erwägt. Er hält den geschlagenen Gegner immer noch für stärker als er ist. Er sieht nicht, daß die Wehrmacht zwar im Osten erbittert kämpfen, im Westen aber höchstens hinhaltenden Widerstand leisten wird. Besonders aber fürchtet der Fünf-Sterne-General die von der GoebbelsPropaganda hochgespielten ›Wunderwaffen‹ Werwolf und Alpenfestung. Die Furcht vor einer deutschen Guerilla geht bei Eisenhower nicht nur auf das Attentat von Aachen zurück. Zwar gelingt Prützmanns Desperados kein einziger Anschlag hinter den amerikanischen Linien mehr, aber in vielen Orten stoßen die anstürmenden GIs auf Tote der letzten Stunde, die durch ein umgehängtes Schild oder eine stilisierte Wolfsklaue als Opfer der Werwölfe ausgewiesen werden. Dazu Flugblätter, Rundfunksendungen und Plakate, die heißgelaufene Haßkampagne muß zu einer Flutwelle von Blut und Mord führen. Noch mehr bedrängt Eisenhower eine Warnung vor der Festung Alpenla nd, die ihm sein Geheimdienst zugespielt hat. Sie kommt aus der Schweiz, einem Umschlagplatz der Spionage, und sie enthält detaillierte Angaben über Bauarbeiten, unterirdische Fabriken und Munitionsdepots. Die Eidgenossen hatten geplant, sich bei einem deutschen -172-
Angriff in das Refugium der Berge, das sie ›Reduit‹ nennen, zurückzuziehen. Sie sind überzeugt, daß diese Planung Hitler von einem Einmarsch in ihr Land abgehalten hat. Der Beweis ist ihnen zum Glück erspart geblieben, und so neigen sie dazu, den militärischen Wert der Bergbarriere zu überschätzen. In der angesehenen ›Neuen Zürcher Zeitung‹ kann Eisenhower nachlesen: »Schon seit mehreren Jahren befinden sich umfangreiche Verbände der halbmilitärischen Organisation Todt im deutschen Reduit, wo sie Vorarbeiten durchführen und bombensichere Unterkünfte anlegen ... Ferner wurden die Straßen verbessert und die Bahnlinien nach Möglichkeit ausgebaut und leistungsfähiger gemacht. Diese Arbeiten der Organisation Todt vollzogen sich in größter Heimlichkeit und vom Ausland fast völlig unbemerkt. Die Arbeiten sind durch Luftangriffe kaum je gestört worden, ausgenommen der große Verkehrsknotenpunkt von Innsbruck. Innerhalb der Reduitzone, die einen Teil des Allgäus, Vorarlberg, Tirol, Salzburg und der Tauerngebirgsgegend umfaßt, sind ferner industrielle Vorbereitungen getroffen worden. In geeigneten Tälern sind, ebenfalls nach schweizerischem Vorbild, in die Felsen eingesprengte und sowohl gegen Luftangriffe als auch gegen Artilleriebeschuß sichere Magazin- und Fabrikanlagen gebaut worden. Bereits 1944 standen 50 Gebirgsfabriken betriebsbereit und teilweise im Betrieb; seither dürfte sich ihre Zahl vermehrt haben. Es handelt sich durchweg um Fabriken zur Herstellung von Kriegsmaterial, deren Kapazität so bemessen ist, daß sie den Bedarf der Reduitgruppen auf längere Zeit zu decken vermögen. Diese Gebirgsfabriken verfügen über die erforderlichen Reserven an Brennstoffen, Rohstoffen und Betriebsmitteln ...«
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Eisenhower erwartet einen harten Schlußkampf in den Bergen – mit Ausnahme eines französischen Kontingents verfugt er über keine Gebirgstruppen – und ebenso blutige Kleinkämpfe mit deutschen Partisanen, und so fällt er auf einen doppelten Bluff herein. Immer neigt der Oberbefehlshaber zur Vorsicht, für ihn wird der Krieg erst gewonnen sein, wenn der letzte Schuß gefallen ist. Er ist ein Militär, kein Politiker, aber er beurteilt auch die militärische Lage falsch, als er sich entscheidet, einen raschen Vormarsch auf Berlin zu unterlassen, um die dafür nötigen Streitkräfte als Reserve für den Schlußkampf in Süddeutschland bereitzuhalten. Nur mit einem General spricht er darüber: Mit Omar Bradley, der seit der Ardennen-Offensive ein Erzfeind des britischen Oberbefehlshabers Montgomery ist. Ike schildert seinem Vertrauten die Situation aus seiner Sicht und läßt durchblicken, daß er, statt nach Berlin zu gehen, lieber erst das Ruhrgebiet ganz erobern und säubern möchte. In diesem Fall würde die 9. US-Armee von Montys 21. Heeresgruppe abgezogen und wieder dem Kommando des Generals Bradley unterstellt werden. »Was meinen Sie, Brad«, fragt Eisenhower zum Schluß: »Wie viele Verluste würde uns ein Angriff auf Berlin kosten?« »Hunderttausend Mann«, erwidert der General ohne Zögern. Es ist eine absurde Rechnung – aber dem alliierten Oberbefehlshaber gibt sie ein Alibi. Den Weg in die deutsche Reichshauptstadt verlegt keine geschlossene deutsche Abwehrfront mehr. Der vergleichsweise weit schwierigere Rheinübergang bei Wesel – wo sie bestanden hatte – hat 7000 Verluste gefordert, 4000 Engländer und 3000 Amerikaner. Bradleys übertriebene Schätzung gibt Eisenhower Rückendeckung, als er dem sowjetischen Generalissimus Stalin immer noch ohne Wissen aller anderen – unter der CodeNummer SCAF 252 die Offerte macht, auf Berlin zu verzichten und über die Linie Erfurt – Leipzig – Dresden seine Streitkräfte den russischen entgegenzuführen. -174-
Am 28. März erfahren die Generäle des Oberbefehlshabers den Inhalt dieses Angebotes; es löst einen offenen Zusammenstoß mit Montgomery aus. »Form und Inhalt dieses Schreibens wirkten für die Engländer schockierend«, schreibt Raymond Cartier. »So hoch sein Rang auch war, Eisenhower blieb ein ausführendes Organ. Die Leiter der Strategie waren die Combined Chiefs of Staff, bestehend aus den amerikanischen und britischen Generalstabschefs. Sie waren nicht gefragt worden, und selbst der Stellvertreter Eisenhowers, der englische Luftmarschall Arthur Tedder, war nicht informiert worden. Aus dem Diplomaten Ike war plötzlich ein Autokrat geworden, der sich mit dem anderen Autokraten, Josef Stalin, zusammentat und die Organisation der alliierten Führung verwirrte, wobei es sich um eine so wichtige Frage handelte wie den Einmarsch in die feindliche Hauptstadt. Seiner neuen Strategie folgend, entzog Eisenhower Montgomery die 9. USArmee und unterstellte sie Bradley. Der 21. Armeegruppe wurde die Rolle der Flankendeckung der 12. Heeresgruppe zugewiesen. Ike, der zuerst Montys ›concentrated thrust‹ bekämpft hatte, nahm ihn jetzt selbst auf, verlegte ihn jedoch, geographisch gesehen, indem er aus der Stoßrichtung Düsseldorf-Berlin einen Vormarsch Mainz-Dresden machte.« Der Gewitterdonner verlagert sich von Reims nach London, von London nach Washington. Selbst der sieche Präsident im Rollstuhl ist jetzt vom Uncle Joe, der zum Beispiel die polnische Exilregierung nicht ins Land und auf dem Balkan die Führer der Opposition und der besitzenden Klassen enteignen, deportieren oder ermorden läßt, enttäuscht. Besonders erbittert ist Präsident Roosevelt über den Ton, den Stalin anschlug, als ihm die Geheimverhandlungen zwischen dem SS-Obergruppenführer Wolff und dem US-Geheimdienst über einen vorzeitigen Waffenstillstand in Italien bekannt wurden. Der Herrscher des Kremls fürchtet, daß dadurch deutsche Truppen für den Kampf gegen die Sowjets freiwürden. Außerdem stehen in Oberitalien -175-
200000, vorwiegend kommunistische Partisanen bereit, die nicht nur gegen die Deutschen zu kämpfen, sondern auch das Land für ihre Partei zu erobern haben. Der rote Diktator bezeichnet die Geheimtreffen als einen Handel zwischen dem Faschismus und Imperialismus: »Die Verhandlungen in Bern«, schreibt er an Roosevelt, »gestatten den Anglo-Amerikanern fast ohne jeden Widerstand, bis ins Herz Deutschlands vorzustoßen. Die Nazis haben praktisch aufgehört, gegen Amerika und England zu kämpfen, während sie gegen uns weiterkämpfen.« Roosevelt kontert energisch: »Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß ich überaus empört bin, wie verächtlich meine und meiner Untergebenen Handlungen entstellt werden.« Wäre Hitler tot, würde die unheilige Allianz vermutlich jetzt schon auseinanderbrechen. General Eisenhower räumt ein: »Wenn die Chefs des gemeinsamen Generalstabs entscheiden, daß die Einnahme Berlins notwendig ist, dann werde ich sofort meine Pläne ändern.« Noch ist die weltpolitisch vielleicht wichtigste Entscheidung des Zweiten Weltkriegs in der Schwebe. Massen-Odyssee zwischen den Fronten: Jetzt sind auch im Westen Hunderttausende auf der Flucht, auf dem Weg nach Hause oder nirgendwohin. In den Dörfern und Städten, durch die sie ziehen, sind sie unwillkommen. Eine Landplage. Sie hören unterwegs keine Nachrichten. Ihre Zeitungen sind Gerüchte. Und wenn sie nicht verhungern wollen, müssen sie sich das Mindeste zusammenbetteln oder stehlen, und das macht sie nicht beliebter. Adamsky hat sich auf Hühnerställe spezialisiert und versucht, jeweils schon vor den Bauern die Eier aus dem Nest zu nehmen. Begleitet von Raschke will er nach Berlin, aber der Weg ist -176-
verdammt weit, auch wenn man gültige Papiere vorweisen kann. Und dann haben die beiden Glück: Eine motorisierte Werkstattkolonne nimmt sie mit auf dem Weg nach Norden, wenn auch viel zu weit nach Westen. Doch wer in dieser Zeit die Chance hat, auf einem Lkw erster Klasse zu reisen, ist nicht wählerisch: »Außerdem«, sagt Adamsky, während sie durch Lüdenscheid rollen, »wollen wir ja auch nicht vor den Amis in Berlin sein.« Wilma und Florian Wamsler sind auf dem Weg nach Süden. Keineswegs ziellos, in Gemünden am Main lebt eine verheiratete Schulfreundin Wilmas, wenn sie noch lebt. Aber Susanne hat zwei kleine Kinder, und da wird man sie doch nicht eingezogen haben. Die junge Krankenschwester schüttelt die Erschöpfung ab, als die Ruine Scherenburg in Sicht kommt. Die beiden gehen an der spätgotischen Pfarrkirche vorbei, an schönen Bürgerhäusern, und die Zwanzigjährige fühlt sich auf einmal wie zu Hause, schließlich hatte ja Gemünden einmal zum Hochstift Würzburg gehört. Wilma fragt sich durch; ihre Freundin heißt jetzt nicht mehr Balk, sondern Pflaum. Sie klingelt und muß lange warten, bis geöffnet wird. Susanne steht endlich in der Tür, verärgert, mit abweisendem Gesicht. »Du?« sagt sie dann, als sie Wilma erkennt. »Mein Gott, wie siehst du denn aus?« »Wie eine, die sich seit fünfeinhalb Tagen auf Feldwegen und Landstraßen herumgetrieben hat.« »Kommt rein«, sagt die Freundin. »Und wer ist das?« fragt sie und deutet auf Florian. »Mein Künftiger«, erwidert Wilma burschikos. »Wahrscheinlich wenigstens –« Sie lachen alle drei, die adrette junge Frau und Mutter und die beiden Kanalarbeiter der Flucht. -177-
»Seid ihr getürmt?« fragt Susanne. »Ja, schon«, entgegnet die Freundin gedehnt: »Aber wir haben gültige Marschpapiere. Florian ist verwundet, und ich bin ins Heimatlazarett Würzburg kommandiert – unser Lazarett wurde überrannt – und begleite ihn. Könne n wir eine Nacht bei dir bleiben?« »Ja, natürlich«, versichert Susanne. »Ich hätte euch auch so aufgenommen, aber jetzt ist mir wohler. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was diese Verrückten noch alles anstellen, wenn sie einen schnappen, der sich verkrümelt hat.« Sie sieht die beiden noch einmal an und schüttelt den Kopf: »Aber eine Bedingung hab’ ich zu stellen«, sagt sie lächelnd: »Ihr müßt zuerst in die Badewanne steigen.« Wilma tut das sofort. Susanne sieht nebenan nach ihren Kindern; das Mädchen ist zwei, der Junge ein halbes Jahr alt. Die beiden schlafen noch, und von ihrem Vater hat die junge Frau schon seit drei Wochen keinen Feldpostbrief mehr erhalten. »Das letzte Mal hat er mir aus der Nähe von Trier geschrieben«, sagt Susanne. »Er ist bei einer Nachrichteneinheit.« »Dann ist er vermutlich jetzt in Gefangenschaft«, entgegnet Florian vorsichtig. »Hoffentlich«, erwidert Susanne. »Hunderttausende sind geschnappt worden – und er wird ja wohl nicht so verrückt gewesen sein –« »Das glaub’ ich nicht«, sagt sie und lächelt wissend. »Ihr seid sicher hungrig«, wechselt Susanne das Thema. »Hungrig, durstig und dreckig«, sagt Florian. »Tut mir leid, daß wir Sie überfallen –« »Du kannst du zu mir sagen«, versetzt die Gastgeberin und reicht ihm die Hand: »Ich heiße Susanne.« Ihr Mann ist Lehrer und Leutnant der Reserve. -178-
Verrückte Welt: Da kommt nunmehr eine Frau aus dem Badezimmer, schön und jung und appetitlich. Ihre roten Locken ringeln sich duftigweich um das frische Gesicht. Das ist kein Kumpel mehr, der alles mitmacht, sondern ein Mädchen, das umworben sein will. Dann sitzt Florian in der Wanne und merkt, daß er wieder Mensch wird, um es genauer zu sagen: Mann. Und jetzt befürchtet der Münchener, daß nur die Flucht Wilma an ihn bindet, die gemeinsamen Strapaze n. Sie sind ja bisher nur nebeneinander hergelaufen, über Stock und Stein, einfach von dem Willen getrieben, zu überleben, nach Hause zu kommen und diese verdammte Zeit so wegzuschwemmen, wie sie sich jetzt den Dreck aus den Poren schrubben. Florian und Wilma lagen in Scheunen nebeneinander, stets getrieben von der Angst, zu lange zu rasten. Er schlief immer rechts von ihr, damit das Mädchen den Kopf in die Beuge seines gesunden Arms kuscheln konnte. Sie spürten trotz aller Erschöpfung die Sehnsucht aufeinander, aber sie war so fern wie der Friede oder die Sterne am Himmel oder die Zeit, in der es noch Orangen gegeben hat. Und dann auf, weiter! Die Gemeinsamkeit reichte nicht einmal zu einem richtigen Kuß. Sie wollten einander lieben und sich nicht voreinander ekeln. Die Tür des Badezimmers steht einen Spalt offen, die Zeit kommt zurück: Das Radio spuckt Nachrichten aus. Die Amis haben Frankfurt am Main erobert. Verdammt nahe sind sie schon, und sicher sind die Nachrichten schon wieder überholt. Heute nachmittag war es eigentlich schon aus gewesen. Florian glaubte, weiße Mäuse zu sehen, aber es waren weiße Sterne an den Türmen der ›Sherman‹-Panzer. »Mach’ keine Dummheiten«, hatte Wilma gesagt. Aber Florian war in Deckung gegangen und hatte Wilma mitgerissen. Sie konnten den Amis noch einmal von der Schippe -179-
springen und beglückwünschten sich dazu, als die Panzer weiterrollten und keine neuen Soldaten mehr nachkamen. Was Florian für die amerikanische Vorhut gehalten hatte, war ein wahnwitziges Kommando-Unternehmen des Generals Patton. Seine ›Task-Force-Baum‹ hatte von ihm den Befehl erhalten, mit 307 Mann, sechs Panzern, drei 10,5cmGeschützen, 27 Halbketten-Fahrzeugen, sieben Jeeps und einem Sanitätswagen hundert Kilometer weit durch das deutsche Hinterland zu rollen und aus dem OFLAG XIIIB in Hammelburg 900 amerikanische Kriegsgefangene aus den Händen der Deutschen zu befreien. Zwar halten sie sich noch weitgehend an die Genfer Konvention, aber die Goebbels-Hetze gegen die ›Mordbrenner‹ und ›Luftgangster‹ steigert die Emotionen bei den Fanatikern immer mehr: So kommt es gelegentlich vor, daß verhetzte Bauern notgelandete US-Piloten mit der Mistgabel erstechen oder Aufgeputschte eine Treibjagd auf sie veranstalten. Nach dem Vernichtungsangriff auf Dresden hatte Hitler als Vergeltung die Erschießung von 10000 alliierten Kriegsgefangenen gefordert. Es war unterblieben wie Churchills Kurzschlußweisung, nach Einsetzen des V-Waffen-Beschusses Giftgasbomben auf Berlin zu werfen. Ausschreitungen sind Ausnahmen, aber das macht keinen mehr lebendig, der gelyncht worden ist. Rüsselsheim war gerade mit Bomben belegt worden, als eine abgesprungene ›Liberator‹Besatzung von zehn Mann durch die Stadt geführt wurde. Fanatische Weiber hetzten Männer auf, die Kriegsgefangenen zusammenzuschlagen. Die beiden Bewacher wurden abgedrängt und flüchteten. In der Grabenstraße kam es zum Exzeß: »Mit Steinen, Knüppeln und einem schweren Hammer schlugen die Zivilisten blindwütig auf die wehrlosen Gefangenen ein«, berichtet der überlebende Sidney Brown: »Dann wurden wir auf einen Bauernwagen geworfen und weggefahren. Als der Karren -180-
anhielt, nahm ein Bursche ein Stück Kantholz oder so etwas ähnliches und schlug auf jeden ein, der noch ein Lebenszeichen von sich gab. Mich konnte er nicht richtig treffen, denn als man mich auf den Wagen geworfen hatte, war ich gegen das Seitenbrett gerollt. Aber der Kamerad neben mir, er hatte seine Hand auf meiner Schulter, erhielt Schlag auf Schlag. Ich fühlte, wie sich seine Hand verkrampfte und dann schlaff wurde. Wir wußten nicht, wo wir waren. Es war so gegen Mittag. Dann ging eine Sirene los, und unsere Verfolger gingen offenbar weg, denn ihre Stimmen wurden leiser. Wir hörten nichts mehr. Darauf schaute ich über das Seitenbrett und stellte fest, daß wir auf einem Friedhof waren. Wie ein Wurm wand ich mich heraus und kroch unter dem Kameraden, der auf mir lag, hervor. Als ich mich zu bewegen anfing, rief mein guter Freund, der anders herum lag: ›Bist du’s, Browny?‹ Nur zwei von zehn Männern haben überlebt.« Inzwischen wurde die Hetze noch weiter gesteigert, und Patton befürchtet Massaker in letzter Stunde. Außerdem hat er noch einen persönlichen Grund, in Hammelburg das Unmögliche zu riskieren: Unter den Gefangenen des OFLAG XIIIB – über 150 mehr, als der Geheimdienst gemeldet hatte ist Captain John Waters, der Ehemann seiner Tochter Little-B., sein Schwiegersohn. In Ausnutzung der Überraschung kommt der CommandoRaid tatsächlich bis Hammelburg, befreit die Gefangenen, verlädt sie auf die Halbketten-Fahrzeuge. Da für alle kein Platz ist, bleiben viele freiwillig zurück. Aber die 7. deutsche Armee ist jetzt alarmiert. Es kommt zu einer gnadenlosen Verfolgungsjagd, bei der die Kolonne eingeholt und zusammengeschossen wird. Das bereits gelungene Unternehmen scheitert auf dem Rückweg. Wer nicht fällt, gerät wieder in Gefangenschaft. In einem deutschen Lazarett landet auch der schwerverwundete Captain Waters – er wird überleben. Florian kommt aus dem Badezimmer. Die beiden -181-
Schulfreundinnen im Wohnraum unterbrechen ihren Schwatz über vergangene Zeiten. »Das ist ja ein ganz anderer Mann«, sagt Susanne lachend. »Du hast dir ja einen richtigen Adonis angelacht, Wilma.« »G’waschen, g’kampelt und rasiert«, entgegnet der Münchener. »Ich würde am liebsten Vor lauter Hochachtung ›Sie‹ zu mir sagen.« »Ist das schlimm mit dem Arm?« fragt die Gastgeberin. »Ein Schußbruch mit herausoperierter Fistel«, antwortet die junge Lazarettschwester. »Bevor wir morgen weiterziehen, möchte ich unbedingt, daß sich ein Arzt die Wunde ansieht.« »Schräg gegenüber hat Dr. Mühlberger seine Praxis«, erklärt Susanne. »Ein recht guter Arzt, aber seid vorsichtig: Er ist noch immer ein Hundertprozentiger.« »Zwei oder höchstens drei Tage«, versetzt Florian, »dann wird er verdünnt oder sich verdünnisieren.« »Und du hältst morgen die Klappe und läßt dich verarzten«, entgegnet Wilma. Die Kinder erwachen und beschäftigen die Mutter. »Nehmt euch schon mal zu essen«, ruft sie den Besuchern zu. »Ihr braucht keine Hemmungen zu haben. Gemünden ist auch noch im Krieg eine ziemlich nahrhafte Gegend.« Sie verschwindet und kommt bald wieder, auf jedem Arm ein Kind. Wilma geht der Freundin entgegen und nimmt ihr den Jungen ab. Der Halbjährige sieht sie mit großen Augen an, dann lächelt er ihr zu. »Typisch«, sagt Florian: »So hat sie es auch bei mir geschafft.« »Aber wenigstens hast du dir dabei die Hose nicht naß gemacht«, versetzt Wilma lachend: »Wo kann ich denn Mamas Liebling trockenlegen?« Während sich die Mädchen um die Kinder kümmern, dreht -182-
Florian das Radio lauter; er ge rät dabei in den Werwolf-Aufruf: »Unsere durch einen grausamen Luftterror zerstörten Städte im Westen, die hungernden Frauen und Kinder längs des Rheins haben uns den Feind hassen gelehrt. Das Blut und die Tränen unserer erschlagenen Männer, unserer geschändeten Frauen und gemordeten Kinder in den besetzten Ostgebieten schreien nach Rache. Die im ›Werwolf‹ Zusammengefaßten bekennen in der Proklamation ihren festen, unverrückbaren, durch feierlichen Eid bekräftigten Entschluß, sich niemals dem Feind zu beugen, ihm, wenn auch unter schwierigsten Umständen und mit beschränkten Mitteln, Widerstand über Widerstand entgegenzusetzen, ihm unter Verachtung bürgerlicher Bequemlichkeiten und eines möglichen Todes stolz und beharrlich entgegenzutreten und jede Untat, die er einem Angehörigen unseres Volkes zufügt, mit seinem Tod zu rächen ...« »Wenn ich einen solchen Quatsch schon höre«, sagt Florian, als die Frauen mit den Kindern zurückkommen. »Ich hab’s euch ja gesagt, daß es noch Verrückte gibt«, entgegnet Susanne. Sie machen das Radio aus und trinken eine Flasche Wein, essen herrliches Brot dazu, Speck, Käse, Eier. Die Besucher haben ein schlechtes Gewissen, aber sie können nicht widerstehen. Dann spülen sie das Geschirr ab, bringen die Kinder zu Bett, öffnen noch einen Bocksbeutel, aber sie sind müde. Die Kinder schlafen bei der Mutter, in ihrem Zimmer wird Wilma einquartiert, für Florian auf der Wohnzimmercouch ein Bett hergerichtet. -183-
Ein komfortables Lager, Jung-Siegfried fühlt sich himmlisch – aber für den Himmel ist es doch ein bißchen einsam. Er spürt, wie ihn die Sehnsucht nach Wilma überwältigt: Er überlegt, ob er aufstehen und zu ihr gehen soll, aber er möchte Susannes Gastfreundschaft nicht mißbrauchen. Er dreht sich auf die linke Seite, dann auf die rechte. »Pst«, sagt die Eintretende. »Schläfst du schon, Florian?« »Wie könnte ich?« erwidert er. »Mir geht’s auch so.« Wilma legt sich neben ihn, zum ersten Mal nicht in die Armbeuge, denn den gesunden Arm braucht er jetzt, um sie zu streicheln. »Wirst du bei mir bleiben?« fragt er sie. »Wenn du das willst«, erwidert sie, und er spürt ihre Wärme, ihre Nähe. Florian streichelt sie bewußter und gefährlicher. Und Wilma läßt ihn gewähren. Sie stellt fest, daß der Junge zärtlich sein kann – aber auch wild. Er vergißt seinen kaputten Arm und seine guten Vorsätze und die Amerikaner mit ihren Scheißpanzern und den WerwolfAufruf und die beschissene Festung Alpenland und die Schmach seiner Degradierung. Wilma wird sein Untergang und seine Auferstehung – sie finden sich, sie halten sich, als brauchten sie einander nie mehr loszulassen. »Wir haben uns verlobt«, sagt Jung-Siegfried am nächsten Morgen am Frühstückstisch, während Wilma seinen verdreckten Waffenrock mit den vielen Orden für den Arztbesuch saubermacht, so gut es geht. Bevor Florian ihn aufsucht, bringt er den Überlebenskalender auf den neuesten Stand und öffnet das Fenster von gestern. 27 Tage hat er überstanden, aber viele sind noch geschlossen. Am Gründonnerstag weht das Stern-und-Streifen-Banner über -184-
Mannheim, Wiesbaden und Frankfurt. Am Karfreitag, dem 30. März, hissen die Engländer den Union-Jack auf den Rathäusern von Emmerich und Bocholt. Dann legen die West-Alliierten im Ruhrgebiet einen Blitzkrieg hin, der alle Wehrmachtsrekorde aus ihren Glanzzeiten bricht. Gleichzeitig erstürmen im Osten die Sowjets Danzig. Sie verwandeln den Tag der Trauer und der Grabesruhe Christi in eine Flammenhölle des Weltuntergangs. Die Russen hatten auf Flugblättern angekündigt, die Stadt zu pulverisieren, falls sie sich nicht ergeben würde. Für den Fall einer Kapitulation garantiert Marschall Konstantin K. Rokossowskij Leben und persönlichen Besitz. Deutsche Überläufer des ›Nationalkomitees Freies Deutschland‹ geben mit Lautsprechern Zusagen, die von den Sowjets in Ostpreußen, Westpreußen und in Pommern häufig gegeben und stets gebrochen wurden, weiter. »Wer nicht aufgibt, wird im Kampf sterben«, dröhnt es Soldaten und Zivilisten entgegen. Im Feuerschutz einer Volksgrenadierdivision und der MarineFlak – sie kämpfen buchstäblich bis zur letzten Patrone und bis zur letzten Granate – ziehen sich Flüchtlinge, die noch laufen können und sich nicht ergeben, auf die untere Weichsel in den Raum von Nickelswalde-Schievenhorst zurück. Russische Geschütze hämmern im Trommelfeuer auf die Ruinen ein. Pausenlose Bombenangriffe bringen sie zum Einsturz. Szenen des Grauens verschwinden hinter einer fünf Kilometer hohen Wand aus Rauch und Feuer. Gauleiter Forster und der Regierungspräsident Huth ziehen sich noch rechtzeitig mit ihrem Stab auf dem Dampfer Zoppot auf die weit vorspringende Halbinsel Heia zurück. Es ist typisch: Kleine Parteifunktionäre stellen sich nicht selten den Russen tapfer und konsequent. Die Reichsverteidigungskommissare aber springen dem Tod, den sie den anderen aufzwingen, vo n der Schippe, und zwar mit reichlichem Fluchtgepäck. Das übelste Beispiel gibt einer der -185-
meistberüchtigten Hitler-Satrappen, Gauleiter Erich Koch: Während er Königsberg zu einem tagelangen Todeskampf zwingt, läßt er in zwei Waggons seine zusammengeraubte Habe nach Westen schaffen. Für seine Flucht stehen ein gepanzertes Auto, ein Fieseler Storch und zwei Eisbrecher bereit. Keiner der Reichsverteidigungskommissare fällt im Kampf gegen den Feind, und nur ein Teil von ihnen entleibt sich später selbst. Verzweiflung, Hunger und Tod bleiben den Volksgenossen überlassen. Das Inferno, das sich im sterbenden Danzig und überall im deutschen Osten abspielt, können die Verursacher in ihren bombensicheren Unterkünften nicht sehen, und Berichte über das Grauen überhören sie. Zwei Frauen, Mutter und Tochter, springen – als sie das gräßliche ›Urräh‹ schon ganz in der Nähe hören – in die Mottlau, um sich beim Ansturm der Russen zu ertränken. An einem Ruineneingang liegt ein 80jähriger und betet laut: »Liebes Gottche, laß’ mir doch sterben.« »Ein anderer hatte eine schwere Wunde am Kopf«, schreibt Egbert Kieser, »die den von ihm ausgehenden Geruch fast unerträglich machte. Kleidung zum Wechseln besaß er nicht. Niemand wollte ihn in seiner Nähe dulden.« Einer Selbstlosen gelingt es schließlich, eine Schwester in einem Lazarett zu erweichen. »Vier Hitlerjungen luden den Alten auf eine Bahre und trugen ihn durch den Schnee nach Danzig. Sie rutschten mehrmals und ließen den alten Mann fallen. Nach anderthalb Stunden erreichten sie schwitzend ihr Ziel. Kurz darauf rief die Krankenhausschwester im Flüchtlingslager an: ›Können Sie uns seinen Namen sagen? Er hatte keine Papiere bei sich und ist schon in der Badewanne gestorben.‹« Während im Hinterland des sowjetischen Aufmarschgebietes gegen Berlin eine riesige Rauchwand wie ein dreckiges Leichentuch Entsetzen, Not und Tod einhüllt, vollzieht sich im Westen die Einkesselung des Ruhrgebiets so schnell, daß sie nicht nur die meisten Zivilisten, sondern selbst Militärs -186-
verschlafen. Der Krieg im Westen trägt ein anderes Gesicht als im Osten. Der Krieg im Westen ist unglaublich schnell, im Osten rollt er langsamer. Im Westen kann man sich ergeben, im Osten ist es halber Selbstmord, und alles ist Beute, was den Russen in die Hände fällt. Auch die GIs und Tommies lassen gelegentlich Uhren und Wertgegenstände mitgehen – die Siegerarmee, die nicht plündert, muß erst noch erfunden werden –, aber es ist die Ausnahme, nicht die Regel. Generalfeldmarschall Model, der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B, wirkt wie paralysiert. Der ›Terror-Flieger‹ ist in einer schwierigen Lage, aber gerade in solchen hat sich der dynamische Abwehrspezialist immer wieder bewährt. Diesmal ist er unschlüssig, lethargisch. Seine Befehle kommen verspätet, schleppend, aber er übersieht in diesen stürmischen Tagen im Ruß-Revier schon die Lage. Der amerikanische Brückenkopf von Remagen reicht jetzt – nach der Vereinigung mit Pattons 3. Armee – von der Sieg im Norden bis zum Main im Süden. Durch das Lahntal dringen die ›Shermans‹bereits in Richtung Kassel vor – in zwei Tagen 72 Kilometer. Von der Mainfront her drängt die 3. US-Armee nach Gießen; vom Süden wie vom Norden gerät das Ruhrgebiet in die Zange, aber die vorwärtsstürmenden Soldaten betrachten es nur als Zugabe des Sieges, ihr Hauptgewinn ist Berlin. Und nichts kann sie dabei aufhalten – es sei denn ein Befehl ihres Oberkommandierenden. Es sieht nicht danach aus, als Oberstleutnant Richardson von der Vorhut der 3. US-Panzerdivision zu Colonel Howze in Gießen gerufen wird. »Richardson«, sagt der Chef der Angriffsreserve, »sie stoßen in nordnordöstlicher Richtung vor und nehmen die Stadt Paderborn.« Er zeigt ihm auf der Karte den Marschweg. »Das sind ja 160 Kilometer, Sir.« -187-
»Sie starten morgen früh und stoßen ohne Anhalt durch. Sie nehmen in Paderborn zuerst das etwas höher gelegene Gelände des Flugplatzes.« Bis zum Karsamstag hat die kampfstarke Truppe – Panzer, Schützenpanzerwagen, Halbkettenfahrzeuge mit aufgesessener Infanterie – die ersten 120 Kilometer ohne nennenswerten Widerstand zurückgelegt, und Oberstleutnant Richardson erhält Befehl, den kleinen Kurort Brilon zu nehmen. Hier stoßen die GIs auf ein größeres Hindernis: Ein riesiges Champagnerlager. Gleich an Ort und Stelle nehmen sie die erste Kostprobe, dann laden sie auf die Fahrzeuge, soviel sie in der Eile grapschen können. Den Rest der 174 Kilometer langen Strecke schaffen sie bis Mitternacht – und die einzigen Ausfälle erleiden sie durch Kopfschmerzen. Für sie war es ein Spaß, für ihre Gegner böser Ernst. General Gustav v. Zangen versucht, sich über das Vorrücken der 3. USPanzerdivision zu informieren, die ihn plötzlich von seinem Korps abgeschnitten hat. Er versteckt sich mit seinen Fahrzeugen im Wald, bis die erste US-Kolonne an ihm vorbeigezogen ist. Dann hängt er sich einfach an, fährt hinter den Schlußlichtern der Amerikaner her. Hinter ihm die nächste US-Kolonne. Es geht stundenlang gut, auch noch, als er bei Brilon auf eine Nebenstraße einschert, wo er Generalfeldmarschall Model sucht. »Sie sind da?« begrüßt ihn sein Oberbefehlshaber verblüfft. Niemand im Ruhrkessel weiß mehr wo vorne und hinten, wo links und rechts ist. Der Feind steht überall und nirgends. Kurz vor Lüdenscheid war für Adamsky und Raschke Feierabend. Die Troßkolonne blieb liegen, weil sie keinen Sprit mehr hatte. Mit dem Instinkt des Frontsoldaten merkten beide rasch, daß sie mitten in ein Schlamassel hineingefahren waren. Sie versuchten, in nordwestlicher Richtung wieder herauszukommen. Der kräftigere Adamsky trieb seinen Kumpel erbarmungslos -188-
an. Sie wurden kontrolliert und durften passieren. Sie kamen durch Werdohl. Ein Bierfahrer nahm sie auf seinem Holzvergaser bis Menden im Sauerland mit. Mit dem Zug schafften die beiden Verwundeten noch Werl. Dann war Sense. Jetzt tippeln sie auf der Landstraße als Anhalter per pedes apostolorum weiter. Wenn ein Fahrzeug kommt, wissen sie nicht, ob es ein deutsches oder ein amerikanisches ist. Wenn sie Zivilisten fragen, wo der Feind eigentlich steht, erhalten sie gleich zwei, wenn nicht drei Auskünfte. »Geben wir’s doch auf«, sagt Raschke. »Nachts kommen wir noch überall durch«, erwidert der Pommer, der noch nicht ganz soweit ist. »Nur am Tag wird’s brenzlig. Das ist ’ne Front wie ’n Emmentaler.« »Aber mehr Löcher als Käse«, entgegnet der Berliner. Bei ›Emmentaler‹ läuft ihm das Wasser im Mund zusammen. Er kann sich vor Kohldampf kaum weiterschleppen – gelegentlich ein gestohlenes Trinkei ist auf die Dauer keine Ernährung. Die Überlebenden von Remagen nähern sich dem nächsten Dorf. Schon von weitem ist ein wilder Radau zu hören; er klingt angenehm, nicht nach Schießerei, eher nach Sauferei. Die feldgrauen Vagabunden haben den gleichen Gedanken: Da ist etwas los, da gibt es vielleicht etwas zu organisieren. Aber die Radaubrüder können ja auch Amis sein. Deutsche Laute. Keine Frage: Stiftenköpfe besingen ja wohl nicht den Westerwald. Der Krawall kommt aus dem Tanzsaal eines stillgelegten Dorfgasthofs. Davor lehnt, mit dem Rücken zu ihnen, an der Mauer ein Obergefreiter. »Was ist denn hier los, Kumpel?« fragt Adamsky. »Nicht einmal pinkeln kann man mehr in Ruhe«, motzt der Angetrunkene und dreht sich langsam um, »laßt mir doch wenigstens meinen Schlingel wieder wegstecken.« Er sieht, daß Adamsky humpelt, und er hört, daß Raschke -189-
hüstelt. »Was ist mit euch, seid ihr krank, seid ihr tot?« fragt er. »Verwundet«, erwidert der Pommer. »Und was macht ihr?« »Abgeschnitten von unserer Einheit«, entgegnet der Obergefreite und rülpst. »Und bis die Verbindung wiederhergestellt ist«, sagt er und entrollt eine ungeheure Alkoholfahne, »halten wir hier die Stellung.« »Wo habt ihr den Schnaps her?« »Wir haben ’n Verpflegungslager ausgeräumt«, versetzt er und rülpst wieder, »das darf doch dem Feind nicht in die Hand fallen.« Er bekommt einen Schluckauf: »Habt ihr Durst?« »Hunger vor allem«, erwidert Raschke. »Wollt ihr Weiber?« fragt der Angetrunkene in der Manier des großen Zauberers. »Nein, nein«, versetzt Adamsky. »Die lassen wir euch schon, aber wenn ihr was zu fressen oder zu saufen habt.« »Na, hicks, dann kommt mal rein, in die gute Stube, hicks«, sagt der Obergefreite. Er torkelt auf die Tür zu, reißt sie auf – »Gäste!« ruft er. Keiner achtet auf ihn und seine Mitbringsel. Das Bild ist überwältigend, und im ersten Moment meinen die beiden Eintretenden, sie seien noch betrunkener als ihr Gastgeber: Ein gutes Dutzend Schluckspechte und Schnapsdrosseln und mindestens so viele Frauen und Mädchen unterschiedlicher Qualität verlustieren sich. Den Kapellmeister spielt ein bulliger Bursche in Unterhemd und Hosenträgern, mit Hilfe eines handaufgezogenen Grammolas. »Kann denn Liebe Sünde sein«, kommt es im Fortissimo aus dem Trichter. Oder: »Von acht bis um acht, war das eine Nacht.« Männer und Mädchen grölen mit. In der linken Ecke, wo am wenigsten Licht hinkommt, ersetzt ein aufgeschichtetes Strohlager die Liegewiese. Was sich hier -190-
abspielt, ist schwer zu sehen, doch leicht zu erraten. Soldaten und Frauen wälzen sich auf der Lotterliege wie ein vielköpfiges, kopfloses Ungeheuer. »Genießt den Krieg«, kreischt eine wildgewordene Vierzigerin. »Der Friede wird furchtbar.« In der Mitte des Saales dreht sich ein Tanzpaar unentwegt: Eine üppige Platinblonde, deren Partner nur einen Waffenrock mit dem Rangabzeichen eines Oberfeldwebels anhat; unten ist er nackt, und das paßt zu seiner Eroberung, die nur ›Soir de Paris‹ und eine imitierte Perlenkette trägt. »Mensch«, sagt Adamsky anerkennend. »Der hat ’nen Ständer wie ’ne Luftpumpe. Da kannste den Stahlhelm, die Volksgasmaske und die eiserne Verpflegung zusammen hinhängen.« »Oberfeldwebel Benzinge r«, sagt der Obergefreite stolz: »Unser Chef.« Der tanzende Pavian muß Adamskys Luftpumpen-Vergleich gehört haben. Er unterbricht die Drehung und geht auf die Neuen zu. »Obergefreiter Adamsky«, schafft der Pommer eine Art Ehrenbezeigung, »und Gefreiter Raschke melden sich bei Herrn Oberfeldwebel als versprengte Verwundete.« »Habt ihr Marschpapiere?« fragt der Portepee-Träger streng. »Jawohl, Herr Oberfeld.«, entgegnet der Pommer. »So«, sagt der Mann ohne Hose, »dann seid ihr besser dran als wir.« Sein Grins en zieht Spinnwebfäden in sein Gesicht. Er nickt den beiden gönnerhaft zu: »Ihr könnt bei meiner Einheit bleiben. Versorg’ die Hungerleider, Otto«, wendet er sich an den Obergefreiten. »Und dann will ich hier nur fröhliche Gesichter sehen, verstanden?« »Jawohl, Herr Oberfeld.«, grölen sie, und auch die Damen fallen ein. -191-
Benzinger geht wieder zu seiner Platinblonden zurück, die sicher gleich sein Maskulinum wieder aufrichten wird. »Ich bin der Otto«, stellt sich der Oberschnäpser vor. »Da hinten in der Ecke ...«, er deutet auf ein paar Mauerblümchen, »da hockt unsere Eingreif-Reserve. Die haben schon lange keinen Mann mehr gehabt, manche sind scharf wie Holzessig.« Er boxt Adamsky in die Hüfte: »Freie Bahn dem Tüchtigen!« »Die muß ich mir erst schönsaufen«, stellt Adamsky mit Kennerblick fest. »Damit ich nicht schlapp mache, muß ich aber vorher etwas zum Schnabulieren haben.« »Kriegste, kriegste, Mann.« Otto bietet Schätze aus dem Verpflegungsmagazin an: Schmalz, Schweinefleisch in der Dose, Zwieback, Käse, Ölsardinen. Er sieht, wie seine beiden Gäste schlingen: »Eßt langsam, Sportsfreunde«, mahnt er, »sonst bekommt’s euch nicht.« Eine schwarzhaarige Fünfzigerin, die nur einen Slip trägt, tritt an die Neuankömmlinge heran, betrachtet sie wohlgefällig und unterfängt mit den Händen ihren Busen: »Das ist Max«, stellt sie vor und deutet mit dem Kinn auf die linke Seite, »und das ist Moritz. Ihr könnt euch mit ihnen anfreunden. Guckt doch nicht so doof, kennt ihr nicht Max und Moritz vom Märchen her?« »Schon seit meiner Kindheit«, entgegnet Adamsky. »Aber in dieser Zeit haben Max und Moritz lange Gesichter gekriegt.« Die Anbieterin ist nicht beleidigt. Einen von beiden wird sie ganz sicher schnappen, wahrscheinlich den frechen Verwöhnten. »Wie kommt denn diese vorösterliche Fete zusammen?« fragt Raschke. »Wir sind schon zwei Tage hier«, erklärt Otto. »Wir sind eine motorisierte Infanterie-Einheit, liegengeblieben, weil wir keinen Sprit mehr haben. Auch keine Munition. Unsere Kumpels schlafen in den Scheunen und bewachen dort auch unsere Fahrzeuge mit der Beute. Na ja, dann haben wir das erste Faß aufgemacht, und das ging wie ein Lauffeuer durch die Gegend. -192-
Jetzt rennen uns die Weiber die Bude ein.« »Wo kommen die denn her?« fragt Raschke naiv. »Teils aus dem Dorf, aber auch aus der ganzen Umgebung. Witwen, Kriegerfrauen, ihre Töchter, was weiß ich - Mensch«, grinst er und zieht den Kopf ein, »Offengestanden, ich bring’ ihn schon gar nicht mehr richtig hoch.« »Du säufst zu viel«, erwidert Adamsky sachlich und greift nach der Flasche. Er nimmt ein paar kräftige Schlucke. »Calvados«, sagt er. »Toll, hab’ ich in der Normandie gesoffen bis zum Gehtnichtmehr.« Er reicht die Flasche an Raschke weiter. »Habt ihr eigentlich bei der Invasion auch noch etwas anderes mitgekriegt als Calvados?« fragt der Pommer, leicht hämisch. »Cidre«, «rwidert Otto. »Und 47 Gefallene und 23 Schwerverwundete in unserer Kompanie. Reicht’s?« »Dann habt ihr ja fast noch mehr Ausfälle gehabt als wir Avranches«, erklärt der Pommer. »Schöne Scheiße.« »Da waren wir auch«, entgegnet Otto. »Dann könnten wir ja ’nen gemeinsamen Heldenfriedhof anlegen.« Adamskys Laune, die schon im Steigen war, sinkt, aber er fängt sie mit Vierzigprozentigem wieder auf, spült kräftig und zügig nach, kommt langsam wieder in Fahrt, nimmt mit den Augen Maß. Raschke, sein Begleiter, ist so fix und fertig, daß er schon im Stehen pennt. »Hau’ dich doch hin«, rät ihm der Pommer. »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei«, spielt das Grammola den Schlager der Untergangssaison, und Adamsky konzentriert sich auf eine schwarzhaarige Hexe, die sich im Spiegel rasch die Lippen nachzieht. Er geht an sie heran, umfaßt ihre Hüften: »Mädchen, die die Wimpern pinseln, meistens dann beim Pimpern winseln«, blödelt er. -193-
»Du Witzbold.« »Gib mir Zeit, Mädchen, dann entfalt’ ich mich.« Sie betrachtet ihn abschätzend, aber Adamsky kommt nicht mehr dazu, in die Trickkiste männlicher Erfahrung zu greifen. Plötzlich steht das Grammola still. Gleichzeitig wird das Licht grell, aber die Balzenden und Gierenden merken in der ersten Verwirrung noch nicht, daß das Dorf-Bacchanal zu Ende ist. Angeführt von einem Major dringen schwerbewaffnete Soldaten in den Raum. »Schluß der Vorstellung!« brüllt der Offizier. »Wer ist hier der Ranghöchste?« »Ich, Herr Major«, meldet sich Oberfeldwebel Benzinger in seinem Pavian-Aufzug. »Sie stehen mit Ihrer Einheit in zehn Minuten feldmarschmäßig gepackt vor dem Haus! Sie sind ab sofort meiner Alarmeinheit zugeteilt, Kampfgruppe Wiesner. Wie viele Leute haben Sie?« »Einunddreißig, Herr Major«, antwortet der Portepee-Träger; sein Schlingel steht inzwischen auf halbmast; »aber nicht einen Schuß Munition.« »Werden Sie bekommen«, verspricht der fahlblonde Zackige. »Und wenn nicht, dann kämpft ihr eben mit Pfeil und Bogen.« »Wir gehören nicht zu diesem Verein, Herr Major«, meldet sich Adamsky. »Wir sind Verwundete«, erklärt er und weist die Marschbefehle vor. Der Offizier wirft nur einen kurzen Blick darauf, dann reißt er sie entzwei. »Ich brauch’ jeden Mann«, sagt er. »Wenn ihr vögeln könnt, dann könnt ihr auch kämpfen.« »Wir haben nicht gevögelt, Herr Major«, gibt’s ihm Raschke zurück. »Aber kämpfen könnt ihr trotzdem«, beendet der Offizier den Dialog. -194-
Die beiden Verwundeten werden zum zweiten Mal für die Schlacht rekrutiert. Sie sind wieder an der Front, aber eine Front wie den Ruhrkessel haben sie noch nie erlebt. Das Gerangel um Berlin geht zwischen Reims, London und Washington weiter. Ohne ihren Premier zu konsultieren, wenden sich die britischen Stabschefs an ihre amerikanischen Kollegen und monieren, daß der Oberkommandierende Eisenhower mit seinem Direktkontakt zu Stalin seine Befugnisse überschritten habe. Der Verzicht auf Berlin sei ein schwerer militärischer wie politischer Fehler. Der Secret-Service, der effiziente britische Geheimdienst, weist alle Behauptungen über eine deutsche Festung Alpenland als lächerliche Gerüchte zurück. Winston Churchill teilt die Meinung seiner Militärs, Ike sei dabei, eine unrevidierbare politische Fehlentscheidung zu treffen. »Seit Jalta war er überzeugt«, schreibt John Toland: »daß die aktuellen Probleme im Osten nur die Vorboten künftiger Gefahren waren und daß die politischen Probleme um so gewichtiger wurden, je näher der Sieg kam. Er glaubte, daß Rußland für die freie Welt eine tödliche Gefahr geworden war, daß sofort ein neuer Damm gegen die anbrandende russische Flut errichtet werden mußte, daß diese Front in Europa so weit wie möglich im Osten liegen mußte und daß die Eroberung Berlins das wichtigste und eigentliche Ziel der britischamerikanischen Armeen war.« Der amerikanische Generalstabschef Georg L. Marshall trägt die Proteste, Einwände und Richtigstellungen der Nummer eins im Weißen Haus vor. Der US-Präsident, körperlich täglich weiter verfallend, ist nicht mehr in der Lage, den Meinungsstreit zu überdenken. Er überläßt dem Vortragenden Antwort und Entscheidung. Der loyale Marschall stellt sich – wie immer – hinter Dwight D. Eisenhower und läßt dem Oberkommandierenden freie Hand. Zwei gewaltige Panzerspitzen rollen im Norden wie im Süden am Rande des Ruhrgebiets vorbei. Noch ist es auch die -195-
Stoßrichtung nach Berlin, die Reichshauptstadt liegt nur noch 300 Kilometer entfernt, und die Anglo-Amerikaner sind dabei, die Sowjets zu überrunden. Stalin hat versprochen, Eisenhower innerhalb von 24 Stunden Antwort zukommen zu lassen. Er befiehlt seine beiden Oberbefehlshaber Schukow und Konjew nach Moskau, legt mit ihnen Termin sowie Planung des Sturmangriffs auf Berlin fest. Dann telegrafiert er an Eisenhower: »... Ihr Plan, durch Vereinigung der West-Alliierten mit den sowjetischen Streitkräften die deutschen Truppen zu spalten, entspricht völlig meiner Vorstellung ... Berlin hat seine frühere strategische Bedeutung verloren. Das sowjetische Oberkommando wird deshalb zum Angriff auf Berlin nur Truppen der zweiten Linie einsetzen. Der Zeitpunkt des sowjetischen Hauptangriffs wird wahrscheinlich in der zweiten Maihälfte liegen.« Der Empfänger fällt auf die doppelte Lüge herein. Montgomery interveniert wiederum bei Churchill, aber der Premierminister is t nach 58 Monaten kampferfüllter Regierungszeit auch ziemlich am Ende seiner Kräfte. Er beschwichtigt Monty und telegrafiert Roosevelt: »Meine persönliche Beziehung zu General Eisenhower ist die denkbar freundschaftlichste. Ich betrachte diese Angelegenheit als erledigt.« Am Karsamstag befiehlt Eisenhower dem ihm unterstellten Montgomery, den Vorstoß nach Berlin abzubrechen und zunächst den Kessel um das Ruhrgebiet zu schließen. Generalfeldmarschall Model hatte erwartet, daß er zwischen Rhein und Ruhr, Lippe und Sieg eingeschlossen wird, aber nicht angenommen, daß es so schnell vor sich gehen würde. Am Ostersonntag hat sich der Ring geschlossen, und er sitzt mit mehr als 300000 Soldaten in der Falle. Während in der Region Ruhrkessel und Berlin die erwarteten angloamerikanischen Erdtruppen vorläufig noch ausbleiben, -196-
vereinnahmen ihre Geschwader den Luftraum, als seien sie hier zu Hause. Die Alarmsirenen heulen in Braunschweig, in Magdeburg, in Dessau. Sie heulen den ganzen Tag, und ganz besonders im Großraum Berlin, wo die E-Häfen der deutschen Luftwaffe so eng beieinanderliegen wie Sommersprossen in einem Gesicht. Mehr verdrossen als eilig suchen Fliegersoldaten und Blitzmädchen in Stendal den Luftschutzkeller auf. Sie sind verbittert, daß sie im Unterstand das Überleben proben müssen, statt den eingeflogenen Feind – es sind Jagdflieger einer ganz besonderen Kategorie – in der Luft zu stellen, aber das soll sich bald ändern. »Frohes Fest«, sagt der junge Oberfähnrich Bramshuber aus München. »Die Ostereier werden gleich gelegt. Angst?« fragt er Stupsi Wamsler, seine Landsmännin. »Natürlich hab’ ich Angst«, fährt sie ihn an. »Wer keine Angst hat, ist ein Idiot.« »Ha, ha, ha«, erwidert der Junge, der sich kurz vor Torschluß noch die Blechkrawatte verdienen will. In den nächsten Sekunden rauschen Bomben vom Himmel. Jetzt flackern die Augen des Jungen wie die Notbeleuchtung. »Noch weit weg«, sagt Oberleutnant Ondruschka zu Stupsi. Er setzt sich neben sie, legt den Arm um ihre Schultern. Es ist eine Schutzgeste, kein Annäherungsversuch, denn die Männer, die in diesem Sonderverband eine ›Operation Werwolf‹ vorbereiten, wissen: Die kleine Wamsler ist zwar ein Blitzmädchen, doch keine Offiziersmatratze. Stupsi ist etwas Besonderes und unterscheidet sich von den anderen Mädchen in Uniform wie Dunja, dem fleißigen Lieschen, oder Doris, dem Wanderpokal. Das ›Sonderkommando Elbe‹ ist sogar noch innerhalb des Flugplatzes isoliert. Nur die Blitzmädchen kommen mit den Männern zusammen, und das ist sicher kein Zufall, wenngleich -197-
sie zu nichts verpflichtet sind. Offiziell erfahren sie nicht, um was es geht, aber sie machen sich längst ihre Gedanken über diesen sonderbaren Verein, der Anno diaboli 45 noch wie im Schlaraffenland lebt: Bohnenkaffee, Schampus, Cognac, Zigaretten, Schokolade, Sonderverpflegung. Und das jetzt, da die Luftwaffe, einst das Glanzstück der deutschen Wehrmacht, ihren Tiefpunkt erreicht hat. Die blaue Waffengattung war auch die privilegierte gewesen; ihr standen die schicksten Uniformen, die besten Unterkünfte und die meisten Auszeichnungen zu. »Die Flugzeugführer hatten bestes Essen und schliefen in Offiziersbetten«, stellt Valentin Mikula, ein Ju-87-Pilot fest. »Die Flieger hatten es wirklich gut, so lange sie lebten, aber meistens lebten sie nicht lange.« Die Lehrgangsteilnehmer von Stendal haben die allerkürzeste Lebenserwartung, denn sie sollen gemeinsam in einen S.O.Einsatz gehen – das steht für Selbstaufopferung. Die Piloten von Stendal sollen deutsche Kamikazes werden. Im Großraum Berlin liegt östlich auch Karinhall, Görmgs prunkvoller Landsitz, bewacht von einer ganzen Division. Der Reichsmarschall hadert mit seinen Jägern, er hat alle Orden abgelegt und sucht Sündenböcke dafür, daß von hundert eingeflogenen Feindmaschinen von Jägern und Flak zusammen höchstens noch eine abgeschossen wird – früher waren es fast fünf gewesen. Vor versammelter Mannschaft hatte er den Kommodores der Jagdgeschwader vorgeworfen, sie seien »alte, fette Kakadus, müde Hengste, mit und ohne Eichenlaub ... Der ganze Abschußrummel war doch eine einzige Lüge. Kein Mensch glaubt euch diese astronomischen Abschußzahlen – erstunken und erlogen. Wir haben uns bei den Engländern unsterblich blamiert.« Entwarnung. Ein paar Minuten später kommt der nächste Alarm. »Aus der Jagdwaffe«, so stellt ihr General Adolf Galland -198-
fest; »ist die Gejagtwaffe geworden.« Ganz besonders gründlich nehmen sich die Amis und Tommies E-Häfen mit extrem langen Startpisten vor. Sie wissen, daß nur von hier aus die neuen Strahljäger starten können; die legendäre Me 262, die tatsächlich eine Wunderwaffe hätte werden können, so sie nicht durch Führerbefehl verplant worden wäre. Der Turbojäger übertrifft in der Geschwindigkeit um annährend 200 Kilometer das schnellste konventionelle Flugzeug, er erreicht eine Geschwindigk eit von fast 900 Kilometern. »Die Me 262 stellt einen großen Wurf dar, der uns einen unvorstellbaren Vorsprung sichert«, hatte Generalluftzeugmeister Eberhard Milch nach der Vorführung versichert. »Fliegerisch macht die Zelle einen guten Eindruck. Die Triebwerke überzeugen restlos, außer bei Start und Landung. Das Flugzeug eröffnet völlig neue taktische Möglichkeiten.« Hitler, der von Defensiv-Waffen nichts hielt, zerstörte diese Hoffnung durch seine Entscheidung: »Das ist unser neuer Blitzbomber!« Es wurde ein Befehl, über den nicht einmal diskutiert werden durfte. Der Strahljäger ist kein Turbobomber: Wenn man ihn befrachtet, verliert er seinen Vorteil, die Geschwindigkeit. Das weiß zwar jeder, nicht zuletzt der Konstrukteur Willi Messerschmitt selbst, aber Hitler mußte es erst bewiesen werden, und dabei verstrich wertvolle Zeit. Die Piloten, die den Strahljäger fliegen wollten, wußten, daß er am Ausgang des Krieges – selbst bei rechtzeitigem Einsatz – nichts ändern, wohl aber den Luftkrieg ganz erheblich entschärfen würde. Der Heimatfront bliebe viel Leid und Blut erspart. Als während der Invasion General Patton den Durchbruch bei Avranches erkämpfte, wurden die ersten neun ›Schnellbomber‹ -199-
in den Kampf geworfen: Zwei gingen bereits beim Start durch Bedienungsfehler zu Bruch, weil keine Zeit geblieben war, die Flugzeugführer umzuschulen. Die dritte Maschine fiel bei einer Zwischenlandung aus. Die vierte erlitt bei einer Notlandung einen Totalschaden. Die übrigen fünf Strahlbomber sollten Hitlers ›furchtbare Vergeltung‹ gegen eine fünfzigfache Übermacht herbeiführen. Als Ende 44 die alliierte Luftüberlegenheit unerträglich geworden war, steckte sich Göring hinter Himmler, der schließlich bewirkte, daß wenigstens ein Jagdgeschwader mit dem Strahljäger ausgerüstet werden durfte. Die Hitler abgerungene Zustimmung mußte der Reichsmarschall teuer bezahlen: Der Reichsführer SS gewann zunehmend Einfluß auf die Luftwaffe und damit Wahnsinnsprojekte am laufenden Band. Wo der Reichsführer SS das Sagen hat, wird immer verschärft, verkürzt, gedroht und fantasiert. Anfänger der Jagdfliegerei mit einem knappen Dutzend Platzrunden – zu mehr reichen weder Sprit noch Zeit – sollen gegen einen Feind bestehen, der in mindestens 250 bis 300 Flugstunden bis zur Frontreife ausgebildet worden ist. Als der mit 352 Luftsiegen erfolgreichste Jagdflieger der Welt, Erich Hartmann, bei einer Zwischenlandung in Jütterbog in einen Luftangriff gerät, verfolgt er zornig, wie zehn in den Einsatz startende Jungpiloten hintereinander abgeschossen werden. Früher wackelten die Piloten nach erfolgreichem Feindflug bei der Landung mit den Tragflächen – jetzt wackeln ihnen aber nur noch die Knie. Die Erfolge, die der ›Erprobungsverband Nowotny‹ mit den Strahljägern auf Anhieb errang, ließen den Reichsmarschall darüber nachdenken, welche Chance er durch seine Feigheit gegenüber Hitler vertan hatte. Schon in den ersten Einsätzen erweist sich, daß die Turbinenflugzeuge »... immer wieder mit Leichtigkeit den amerikanischen Jagdschutz durchbrechen und trotz hundertfacher Unterlegenheit einen Bomber nach dem -200-
anderen aus den dichtaufgeschlossenen Verbänden herausschießen.« (Adolf Galland). Es erwies sich aber auch, daß die Me 262, deren Produktion viel Aufwand an Material und Arbeitskraft erforderte – bis Kriegsende wurden ganze 564 gebaut –, noch Kinderkrankheiten hatte und schwer zu fliegen war. Es erging an die Rüstung die Weisung, unter der Typenbezeichnung He 162 einen einstrahligen ›Volksjäger‹ zu produzieren, der leicht herzustellen war und auch von Umschülern in kürzester Zeit geflogen werden konnte. Konstruktionszeit: Zweieinhalb Monate. »Der Volksjäger sollte eine Art ›Levee en masse‹ zur Luft darstellen«, schreibt Adolf Galland. »Unglaubliche Termine wurden festgelegt, astronomische Ausbringungszahlen geplant. Göring selbst wurde das Opfer der nationalen Raserei, in welche die Volksjäger-Planung fast alle an der Luftverteidigung Beteiligten versetzen sollte. ›Hunderte! Tausende! Zigtausende!‹ rief er. ›Bis der Feind über die Grenzen Deutschlands zurückgejagt sein wird!‹« Premiere, 6. Dezember 44: Der Flugzeugführer Peter, ein erfahrener Testpilot, startete, zog den Vogel hoch, montierte die rechte Tragfläche ab. Totalschaden. Ende März sind dann 200 Volksjäger fertig, und Göring und Himmler wissen, wer ein unfertiges Flugzeug auch unausgebildet steuern kann: zunächst einmal 15- bis 16jährige Mitglieder der Flieger-HJ, dann Lebensmüde, Krebskranke, Ehegescheiterte, Freiwillige aller Art, selbst – diesen Begriff steuerte Himmler bei – »ehrbewußte Verbrecher«. Not machte nicht erfinderisch; das Projekt scheitert so schnell, wie es entwickelt wurde. Keine He 162 kommt in den Einsatz. Das Fiasko beendet nicht die Zeit der tödlichen Träumer, der Hasardeure des Hasses und der fliegenden Fantasten; sie verdrängen die Lufthelden von gestern. Einer von ihnen, der -201-
29jährige Kampffliegergeneral Dietrich Peltz, hat durch seinen dilettantisch vorbereiteten großen Schlag ›Operation Bodenplatte‹ - nach dem Zusammenbruch der deutschen Ardennenoffensive – den kollektiven Selbstmord der Jägerwaffe herbeigeführt. Die meisten Flugzeugführer holte in den VWaffen-Sperrfeldern die eigene Flak herunter. 300 Piloten fielen an diesem Tag, unter ihnen 59 Verbandsführer. Oberst Hajo Herrmann ist der andere ›Nothelfer‹ der letzten Stunde, Kommandeur der 9. Fliegerdivision, zu der das ›Sonderkommando Elbe‹ gehört. Göring hält ihn für ein Genie; die meisten Luftwaffen-Kommodore bewerten ihn als halb verrückt. Er war der Erfinder der ›Wilden Sau‹ gewesen. Der ehemalige Kampfflieger, Lehrer an der Luftakademie in Berlin, hatte nach Feierabend Privateinsätze auf eigene Faust geflogen und dann gefordert, daß die Meigo- und FWigo-Piloten, Sichtjäger, auch bei einem Wetter starteten, bei dem selbst die Vögel zu Fuß gehen. Auf einem aus Scheinwerfern gebildeten Lichttablett – von den englischen Besatzungen ›Leichentuch‹ genannt –, für Freund und Feind weithin sichtbar, veranstalteten sie ein blutiges Massaker. Die ›Wilde Sau‹ mußte, ihrer hohen Verluste wegen, schnell wieder in den Stall zurück. Aber nunmehr haben Oberst Herrmann und General Peltz ein neues Projekt durchgepaukt: Den Selbstopfereinsatz der Rammjäger. Aus ihren Maschinen werden die Waffen ausgebaut, damit sie schneller steigen können. Ihre Kanzeln sind mit Sprengstoff gefüllt. Da die Selbstmord-Piloten wehrlos sind, müssen sie, in dicken Jagdschutz eingepackt, an den Feind herangeführt werden. Der Massenstart wurde schon ein paarmal verschoben, weil es an Sprit oder Begleitjäger fehlte oder weil des schlechten Wetters wegen zu wenig Feindeinflüge gemeldet worden waren. Aber jetzt kann die ›Operation Werwolf‹ - unter diesem Decknamen wird der große Schlag der Rammjäger vorbereitet – jeden Tag erfolgen. -202-
Die Freiwilligen – Männer, die dem Kriegsgericht ausweichen wollen, Psychopathen oder grüne Jungen mit ›Halsschmerzen‹ durch Vorträge nach dem Beispiel japanischer Todesflieger aufgerüstet und durch Sonderzuteilungen verwöhnt – müssen ihr Testament machen. In einer eigenen Lehrstunde wird ihnen beigebracht, in welcher Form es abzufassen ist. Sie haben sich schriftlich verpflichtet, den Gegner zu rammen, und ihre Wertsachen für ihre Angehörigen abgeliefert. Aber bis es soweit ist, sitzen sie entweder im Luftschutzkeller oder im Kasino. Schnaps gibt es auch, eine Flasche pro Kopf täglich. Endlich kommt die Entwarnung. Oberfähnrich Bramshuber stapft neben Stubsi die Treppen wieder zur Oberwelt hoch. Ein Mädchen wie ein Traum, großartig und unberührbar, das klare Gesicht, die sprechenden Augen, dieses von innen herauskommende, herzliche Lächeln, das kennt der Junge schon lange auswendig. Sie ist nett zu ihm und lieb, aber nicht mehr. Vielleicht wird er besser bei ihr ankommen, wenn er nach dem Rammeinsatz das Ritterkreuz erhält wenn ... »Du kommst doch heute abend?« fragt der Oberfähnrich. »Ich muß noch meinen Eltern schreiben«, erwidert das Wamsler-Nesthäkchen, »und auch meinen Brüdern. Ich weiß es noch nicht, wenn ich rechtzeitig fertig werde –« Eigentlich möchte sie sich drücken, aber die anderen Blitzmädchen nehmen sie mit. Stupsi ist eine ausgezeichnete Klavierspielerin mit einem großen Repertoire, aber für die Kandidaten auf Abruf muß sie immer das gleiche spielen: ›Für eine Nacht voller Seligkeit‹, ›Heimat, deine Sterne‹, ›Gute Nacht, Mutter, gute Nacht‹ und auch ›Träume kann man nicht verbieten‹. Ein wenig träumen sie alle von der kleinen Wamsler, bei der keiner landen kann, so daß mehr oder weniger alle auf sie aufpassen. Stupsi hat es längst gemerkt und lacht darüber. -203-
Sie braucht keinen Aufpasser, und schon gar keinen, der sein Leben wegwirft. Sie weiß genau, was sie will: Nach Hause will sie, nach München, und zwar bevor es zu spät ist. Oberleutnant Ondruschka, den Stupsi, die unfreiwillige Truppenbetreuerin, für den nettesten von allen hält – er ist bei diesem Haufen, weil er eine Affäre mit der Frau seines Horstkommandanten hatte –, bringt ihr Appetitshappen und ein Glas Sekt: »Aber dafür bitte noch einmal mein Lieblingslied.« Sie nickt lächelnd. Schade um den weichen Anschlag, um die melodischen Akkorde, denn die Männer und die Luftwaffenhelferinnen grölen laut mit: »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei ...« Mitten im Schlager bricht Stupsi ab: Aus dem Zigarettenrauch haben sich die Konturen eines unverwechselbaren, geliebten Gesichts geschält – es ist Sepp, der große Bruder. Stupsi springt auf, rennt ihm entgegen und fällt ihn um den Hals, schmiegt sich an ihn, lacht und weint gleichzeitig. Auf die musikalischen Genüsse muß die gemischte Gesellschaft heute abend verzichten, aber der Major, auf dem Weg zur Ostfront, gefällt ihnen, besonders den Blitzmädchen. Zunächst einmal nehmen alle Rücksicht darauf, daß sich Bruder und Schwester viel zu erzählen haben. »Du bist also endlich richtig mit Eva verheiratet?« »Und wie«, erwidert Sepp. »Wenn Eva im September ein Mädchen zur Welt bringt, wirst du seine Taufpatin. Falls es ein Junge wird, Michael; es ist schon alles ausgemacht.« »Was wär’ dir denn lieber, ein Bub oder ein Mädchen?« »Weiß ich nicht«, entgegnet Sepp. »Ich bin noch nicht lange werdender Vater.« Er lacht, obwohl ihm nicht danach ist, denn er überlegt, ob es ihm beschieden sein wird, sein Kind, ob Junge oder Mädchen, jemals zu sehen. »Und auf den September folgt wieder ein Mai –«, singen -204-
lauthals die Umsitzenden. »Wer ist eigentlich dein Chef?« fragt Sepp. »Ein Hauptmann Wanderer«, erwidert Stupsi, »ein Reservist.« »Was ist das für ein Mann?« »Ein bißchen pedantisch«, entgegnet des Postrats Jüngste, »aber sonst nicht übel.« »Ich will dich nämlich nach München in Marsch setzen lassen«, zieht Sepp den Hauptgewinn aus der Wundertüte und sieht Stupsi in die großen Augen. Die Todespiloten laden den Major zum Trinken ein. Es gibt kein Entrinnen, und das will der Gast auch gar nicht: In dieser Zeit muß man die Feste feiern, wie sie fallen, so lange man noch Zeit dafür hat. Er sieht zu eine m Mann um die vierzig mit einer Stirnglatze hin, der sich mit verzerrtem Gesicht im Abseits hält. »Ein Einzelgänger«, erklärt Stupsi, die seiner Blickrichtung folgt, »ein Psychopath.« Sie weiß nicht, daß der Feldwebel Mahlein, sowie er etwas getrunken hat, durch die Hölle geht, durch die Feuerhölle von Hamburg. Daß er dann seine junge Frau sieht, der der Feuersturm die Kinder aus der Hand reißt und sie in die Flammen wirbelt, zuerst Klaus, dann Maria und zuletzt sie selbst. Er hört die furchtbaren Todesschr eie. Und immer wieder muß er mitansehen, wie sie in Sekunden zu winzigen Stummeln zusammenschmoren, möchte sie retten und kann nichts tun. Etwas an ihm ist mitgestorben bei der Operation ›Gomorrha‹ und doch nicht tot, denn das Bild des Grauens quält ihn weiter. Und so steigert er sich in den einen, den gräßlichen Wahn hinein, daß er sich an diesen Schweinen rächen muß, die ihm das angetan haben, die schuld sind an dem Tod seiner Frau, seiner Kinder. »Bitte laß’ dir nichts anmerken, Sepp«, flüstert Stupsi ihrem großen Bruder zu, »aber das sind alles Selbstaufopferer, die -205-
gehen demnächst in den Todeseinsatz.« Einen Moment lang schüttelt sich der Major, und dann fragt er sich, ob einer, der nach Küstrin fährt, nicht auch ein deutscher Kamikaze ist. Am nächsten Morgen sucht er Hauptmann Wanderer mit einem bösen Brummschädel auf. Er weist Stupsis Anforderungspapiere zum Wehrkreiskommando VII vor. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir behilflich sein könnten, Hauptmann Wanderer«, sagt er. »Versteh’ ja alles«, erwidert der Reserveoffizier, »Ihr Vater ist krank, Ihre Eltern stehen allein, und sie wollen die Tochter in der Nähe haben. Die Anforderung des Oberleutnants Bereiter ist sicher formal in Ordnung, aber einen Haken hat die Sache trotzdem, Herr Major.« Er bietet seinem Gast eine Zigarette an: »Ihre Schwester ist Angehörige der Luftwaffe, und das Wehrbezirkskommando gehört zum Heer. Als Luftwaffenhelferin müßte sie also formal zunächst von ihrer bisherigen Waffengattung freigegeben werden. Das ist sicher zu machen, aber es geht nicht so schnell.« Er betrachtet den Major, sein eingefallenes Gesicht, die hohen Auszeichnungen: »Sie müssen gleich weiter?« »Ich fahre heute noch an die Ostfront«, entgegnet Wamsler. »Vielleicht gibt es einen Ausweg«, kommt ihm der Reservist entgegen. »Unser Gefechtsstand ist in Neubiberg bei München. Wir kommandieren Ihre Schwester dorthin, dann kann sie in Ruhe abwarten, ob die Versetzung zum WK VII genehmigt wird. Sowie eine Kuriermaschine nach Oberbayern abgeht, schicke ich sie mit.« »Verbindlichen Dank, Hauptmann Wanderer«, verabschiedet sich der Major. Er hat es geschafft, aber jetzt kommt etwas Schlimmes: schon wieder ein Abschied! In Iffeldorf hatte er ihn seinen Eltern durch die Notlüge erspart, er käme vor seiner Rückreise noch -206-
einmal vorbei. Er wollte sich auch nicht von Eva zum Hauptbahnhof begleiten lassen, aber sie sagte: »Du brauchst keine Angst zu haben, ich weine nicht. Ich will’s wenigstens versuchen«, verbesserte sie sich. Eva weinte dann doch, aber er machte ihr keine n Vorwurf, wohl damit beschäftigt, nicht selbst weich zu werden. Von Stendal aus ist es nicht weit in das Hauptquartier an der Ostfront, aber der Major braucht eineinhalb Tage und kommt erst am zweiten Osterfeiertag spät abends an und gerät in einen Hexenkessel. Jeden Tag rechnet man jetzt mit der Schlußoffensive der Sowjets auf Berlin, aber von der bedrängten Front wurden heute drei Panzerdivisionen abgezogen, weil Hitler überzeugt ist, daß die Russen über Dresden nach Prag vordringen wollen. Am Dienstag nach Ostern – es ist der 3. April – erläßt Himmler den Flaggenbefehl: In jedem Haus, das die weiße Fahne zeigt, sind unverzüglich alle männlichen Bewohner zu erschießen. Die Exekution ist ohne vorherige Verhandlung vorzunehmen. Am gleichen Tag erobern die Anglo-Amerikaner Münster, am nächsten Kassel. Die Franzosen dringen in Karlsruhe ein; die Sowjets in Preßburg und in Baden bei Wien, und damit beginnt der Angriff auf die Donaumetropole. An der Oder bedrängen und nehmen die Sowjets Küstrin und haben dadurch einen durchgehenden Bereitstellungsraum gegen Berlin. Der als Durchhalteapostel in die Festung entsandte SSGruppenführer Heinz Reinefarth bricht mit 800 Mann aus und wird deswegen sofort verhaftet. Viele Anzeichen deuten auf den baldigen Generalangriff hin, und das OKW fragt sich, ob die Russen bei Berlin oder die Anglo-Amerikaner in Italien früher mit ihrer Schlußoffensive beginnen werden. Auf der Apenninenhalbinsel hält die Heeresgruppe C immer -207-
noch die Gotenlinie mit 800000 Soldaten – die Heimat vieler ist schon vom Feind besetzt – von Küste zu Küste. Seitdem Kesselring zum Oberbefehlshaber im Westen ernannt wurde, führt Generaloberst Heinrich v. Vietinghoff. Nach der Abberufung von sieben alliierten Divisionen ist Italien zwar zu einem Nebenkriegsscha uplatz geworden, aber die Situation gleicht jetzt einem Pulverfaß. Hitlers kriegsmüde Bundesgenossen hatten versucht, sich aus dem Krieg herauszumogeln. Nach dem Badoglio-Putsch fegten die Straßenkehrer in Rom Tausende faschistischer Parteiabzeichen zusammen. In Salo am Gardasee führt Benito Mussolini als Satellit Hitlers eine faschistische Schattenregierung, aber mindestens 200000 im ›Comitato nazionale di liberazione‹ organisierte Partisanen – Kommunisten, Konservative und Konvertiten – kontrollieren in Norditalien trotz deutscher Besatzung bereits 43 Regionen, und sie kämpfen untereinander um die Macht im Italien von morgen. Die Resistenza zeigt kein einheitliches Bild. Es gibt wilde Rebellengruppen von Mafiosi – die Amerikaner hatten sich vor der Landung in Sizilien ihrer Hilfe versichert – und Halsabschneider aller Art, die ihre private Giftsuppe kochen. Viele Freischärler sind nur Freibeuter, und so kommt es, daß sich in Italien zwischen den Partigiani und den Feldgrauen nicht nur blutige Kämpfe abspielen, sondern gelegentlich auch florierende Geschäfte abgewickelt werden. Die Tedeschi haben den Krieg verloren, aber dem Land droht eine Zukunft, die sich im Blut gewaschen hat. Millionen Italiener fragen sich bereits: Wird das Pulverfaß Norditalien am Schluß noch in die Luft fliegen? Die Geheimverhandlungen zwischen SS-General Wolff und dem US-Geheimdienst ziehen sich in der Schweiz in die Länge und werden erschwert, weil dem Innsbrucker Gauleiter Hofer Gerüchte darüber zugetragen wurden; er gehört zu den braunen Satrapen, die sich heftig gegen einen vorzeitigen -208-
Waffenstillstand wehren. »Der Krieg dauerte schon zu lange, und es hatte schon zu viele echte und papierene Siege gegeben«, schreiben Bradley F. Smith und Elena Agarossi, »als daß Nazifunktionäre sich ohne weiteres an die Vorstellung gewöhnen konnten, daß alles verloren war, daß ihre Träume, ihre Titel, ihre Ämter bald nichts mehr wert sein würden. Sie griffen nach jedem Strohhalm... Es waren ihnen noch immer ein paar echte Machtfaktoren im Nazisystem verblieben. Zwar abgekämpft, aber standhaft wehrten sich Fronteinheiten verzweifelt weiter, in Italien und anderswo. Der Terrorapparat von SS und Gestapo war auch noch intakt und ließ weiterhin die Herzen der Zivilbevölkerung und der Soldaten gleichermaßen erstarren. In ganz Westdeutschland wurden Soldaten, die allzu begeistert den Rückzug antraten, standrechtlich erschossen, ihre Leichen wurden an Bäumen und Telefonmasten aufgeknüpft als Warnung für Leute, die glaubten, der Nazismus habe keinen Biß mehr. Es war ja recht und gut, wenn Karl Wolff behauptete, seine SS- und SD-Untergebenen würden gehorsam eine begrenzte Kapitulationsinitiative unterstützen, aber andere Deutsche wußten, daß Wolff beseitigt oder ausgeschaltet werden konnte. Dann würden dieselben SS- und SD-Einheiten nicht zögern, den Befehl auszuführen, all diejenigen, die für die Kapitulation waren, als Verräter am Dritten Reich niederzuschießen.« KOB-Unteroffizier Michael Wamsler unterbricht seine Rückreise und verläßt in Mailand den Fronturlauberzug. Seiner Meinung nach kommt er immer noch zu früh zurück in einen verlorenen Krieg, und daß er kein Drückeberger ist, beweisen die Auszeichnungen auf seinem Waffenrock. Seine Einheit, die 29. Panzergrenadierdivision, hält sich zur Zeit im Ruheraum Bologna-Budrio auf. Sie liegt im Bombenhagel, der die langgefürchtete Offensive von Meer zu Meer einleitet. Auf dem linken Flügel stehen die Engländer, auf dem rechten die -209-
Amerikaner. Zusammen haben die Alliierten eine Luftüberlegenheit von mindestens zehn zu eins. Der Jüngste der drei Wamsler-Brüder hat als erster begriffen, daß die große Zeit im Graben landen wird. Jetzt sind die beiden anderen auch so schlau, sogar der große, der Major. Milano, wo sich Michael eine kurze Fahrtunterbrechung gestattet, ist einmal der Tummelplatz seiner Geschäfte, zum anderen wohnt in der lombardischen Metropole ein für diese Zeit recht schillernder Freund: Ernesto, mit dem er schon die Schulbank des Reger-Gymnasiums in München gedrückt hatte, als er sich noch Ernst nannte. Jetzt unterhält er eine Wohnung in Mailand und arbeitet als Kurier für eine deutsche Geheimdienststelle in Schloß Labers bei Meran, die mit Devisen zu tun hat. Jedenfalls geht es ihm verdammt gut; er lebt wie die Made im Speck – jeder wie er kann. Im übrigen äußert sich Ernesto Fabiani nicht weiter über seine Tätigkeit. Vielleicht ist es ihm bereits peinlich, daß er für die Deutschen arbeitet. Eigentlich ist er Italiener und doch auch wiederum nicht, denn seine Familie – groß im Weinimport – hat von jeher in Deutschland mit italienischem Paß gelebt. Sein Großvater war nach München eingewandert; sein Vater wurde schon in der Isarstadt geboren, und als Ernst mit Michael zur Schule ging – die beiden galten als die Schlitzohren der Klasse –, hatte er besser Deutsch als Italienisch gesprochen. Jetzt lebt er im Land seiner Väter wie Gott in Frankreich. Viel Freiheit, Geld und Freizügigkeit. Eigener Wagen. Er muß einen Posten innehaben, um den ihn noch ein Generalzahlmeister beneiden könnte. Aber er ist der alte nette Kerl geblieben, liebenswürdig und spendabel. Jedenfalls ist Ernesto Fabiani die Quelle von Michaels Mercatonero-Reichtum, des Schwarzmarktgewinns. Der zweitjüngste Wamsler hat dabei kein schlechtes Gewissen, denn er teilt die Beute mit seinen Kompaniekameraden und mit seiner Familie. Natürlich kommt er selbst auch nicht zu kurz, aber dem Ochsen, der da drischt, soll man das Maul nicht -210-
verbinden. Außerdem trägt er ja auch das Risiko. Er hat Glück, Ernesto ist zu Hause. »Du bist spät dran, Micha«, begrüßt ihn dieser, ein mittelgroßer Bursche, schlank, brünett; man würde ihn nicht ohne weiteres für einen Italiener halten. Heute wirkt Ernesto nervös, fahrig. »Wenn du dich nicht beeilst, zu deiner Truppe zu kommen, wirst du die alliierte Offensive versäumen. Oder willst du das?« »Nein«, erwidert Michael. »Meinst du, ihr könnt die Anglo-Amerikaner noch aufhalten?« »Sieht nicht danach aus«, entgegnet der KOB-Unteroffizier. »Warum fährst du dann an die Front?« Er lächelt bloß mit einer Gesichtshälfte. »Typisch deutsch«, setzt er dann hinzu. »Im Vertrauen: Ich verschwinde hier. Ich hab’ nur noch auf dich gewartet. Ich werde heute noch untertauchen. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Ich hab’ ein todsicheres Versteck in den Bergen.« »Danke«, sagt Michael. »Hast du Angst vor deinen Landsleuten?« »Nein, warum sollte ich?« »Du hast für uns gearbeitet.« »Aber doch auch für die Italiener«, erwidert er mit einem ganz bestimmten Lächeln. »Ich war jedem gegenüber ein reeller Partner.« »Zu mir warst du jedenfalls immer ein großartiger Amigo«, versetzt Michael. »Ich werde dir das nie vergessen. Vielleicht kann ich dir auch mal einen Stein in den Garten werfen.« »Vielleicht«, erwidert Ernesto und schiebt ihm ein Kuvert zu: »Mach’s auf.« Ein Bündel Geldscheine. Englische Fünfpfundnoten. »So viel?« fragt Michael. »Das letzte Mal«, erwidert Ernesto. »Ein Geschenk – und -211-
dazu noch ein Ratschlag: Sieh zu, daß du die Scheine schleunigst los wirst. Auch unter dem Kurs.« »Aber nach dem Krieg –« »Das ist Himmler-Geld«, erklärt der Kurier. »Was heißt das?« »Blüten«, versetzt Ernesto. »Falsch wie Goldzähne. Eine Geheimwaffe, meisterlich gefälscht, zuerst im KZ Oranienburg bei Berlin und jetzt in der Festung Alpenland. Von echten Scheinen nicht zu unterscheiden. Die Schweizer Banken akzeptieren jedenfalls die Blüten. Erst wenn zwei Scheine mit gleicher Nummer auftauchen, gibt’s Stunk. Aber kein Fachmann kann in einem solchen Fall mit Bestimmtheit sagen, welcher der Scheine falsch ist.« »Das gibt’s doch nicht«, erwidert Michael erschlagen. »Sie wollten die Blüten über England abwerfen, aber dazu fehlten ihnen die Flugzeuge«, erklärt Ernesto. »Jetzt finanzieren sie damit ihre Spionage und machen dabei auch noch vor allem in Italien ganz tolle Geschäfte. Ich muß es ja wissen«, sagt er ohne Selbstank lage. »Mit diesen Scheinchen kannst du hier feinste US-PX-Ware aus Napoli kaufen.« »Und du hast sie in Umlauf gebracht?« »Du doch auch«, erwidert Ernesto grinsend. »Aber ich hab’ doch nicht gewußt, daß es Falschgeld ist.« »Ich doch auch nicht«, entgegnet der ehemalige Schulfreund. »Erst jetzt habe ich es erfahren.« »Mensch, Ernesto«, sagt der Unteroffizier, »wir sind ja Falschmünzer.« »Frei durch Ablösung Reich«, erwidert der Italiener. »Schloß Labers hat sogar Waffen mit den Blüten gekauft aber ich konnte meinen italienischen Freunden entsprechende Tips geben. Verstehst du? Bestimmte Partisanengruppen fordern von den Anglo-Amerikanern Waffen an. Die werfen sie mit Fallschirmen -212-
ab – und die dreckige Bande verscheuert das Zeug an die Deutschen gegen falsche Pfundnoten. Kofferweise. So hat alles seine Ordnung. Also, Micha«, sagt er und streckt ihm die Hand hin: »Arivederci – und komm nicht auf die Idee, die Blüten für die Nachkriegszeit zu sparen. Die Engländer ziehen die Banknoten mit Sicherheit schon am ersten Friedenstag aus dem Verkehr.« Michael sucht Schwarzmarktplätze auf. Heute feilscht er nicht, er läßt sich richtig über das Ohr hauen und ist froh, die heiße Ware loszuwerden. Er kauft, soviel er schleppen kann, für die Kompanie ein: Zigaretten und andere Schätze. Den Rest der Pfundnoten tauscht er – ganz Kaufmann von morgen – in USScript-Dollars um. Besatzungsgeld. Die höchste Währung in Italien und sicher bald auch in Deutschland. »Mensch, Junge«, empfängt ihn der Hauptfeldwebel. »Diesmal war ich vielleicht auf glühenden Kohlen gestanden. Wir müssen in die Bereitstellung. Heute noch. Es geht los.« »Hier«, sagt Michael und übergibt ihm zwei Koffer: »Für alle.« Zunächst einmal flitzen sie in den Keller. Bombeneinschläge. Granatwerfer. Feuer. Jabo-Angriffe. Schwere Artillerie. Rabbatz wie noch nie. »Richtig gemütlich hier«, bemerkt Michael. »Diesmal werden sie uns wie die Hasen jagen«, entgegnet der Hauptfeldwebel. »Aber wenigstens in Richtung Heimat«, erwidert Michael. »Blödmann«, sagt der Spieß und muß selbst feixen. Beide Vorhersagen – die Hasenjagd wie die Heimatannäherung – werden in drei Tagen eintreten. Hauptmann Wanderer hält Wort, aber das Kurierflugzeug nach Neubiberg kann nur bei schlechtem Wetter starten, wenn es ankommen soll. Stupsi wartet geduldig auf ihren gepackten -213-
Habseligkeiten. Am Donnerstag, den 5. April, hat sich die militärische Lage weiter verschlechtert. Es geht mit Riesenschritten auf den Weltuntergang zu. Die amerikanischen Truppen stehen schon in Thüringen; die Russen greifen Wien an. Die letzten V-Waffen werden auf Ziele in Antwerpen, Brüssel und Lüttich abgefeuert und krepieren irgendwo. Schlußverkauf der Wunderwaffen. Die Männer der ›Operation Werwolf‹ auf dem E-Hafen in Stendal werden schriftlich darüber informiert, wie schlecht es an den Fronten steht. Ohne jede Beschönigung. In schwärzesten Farben. Vielleicht will man ihnen dadurch suggerieren, daß sie Deutschland durch ihren S.O.-Einsatz retten müssen. Obwohl es in der Nacht zu keinem Fliegerangriff kommt, ist Stupsi Wamsler unruhig. Als sie um vier Uhr morgens geweckt wird, weil die Kuriermaschine bereits in der Dämmerung starten soll, stellt sie überrascht fest, daß die Männer der ›Operation Werwolf‹ schon auf den Beinen sind. Schneller Abschied, dann klettert sie in die Maschine. In kleinen Gruppen werden die Piloten auf die umliegenden E-Häfen verteilt, wo ihre Rammaschinen und ihre Begleitjäger sie erwarten: in Reinsehlen, Kohlenbissen, Gardelegen, Wesendorf, Kaltenkirchen, Parchim und anderen versteckten Einsatzbasen. »Bei einem Flug ohne Wiederkehr erschien das Brennstoffproblem plötzlich in einem anderen Licht«, schreibt Arno Rose, »einen Rückflug würde es nicht geben. Infolgedessen stand der gesamte Kraftstoffvorrat für Hinflug, Wartezeit und Angriff zur Verfügung. Wegen der Zeitplanung war es angebracht, den Rammschwärmen zermürbendes Warten auf den Liegeplätzen zu ersparen. Deshalb sollten sie starten, sobald Feindeinflüge mit Sicherheit feststanden. Durch diese flexible Gefechtsführung konnte die Kerngruppe des bevorstehenden deutschen Angriffs, nämlich die Rammjäger, in möglichst optimale Ausgangspositionen manövriert werden. Der Plan sah vor, daß sich die Rammschwärme in zugewiesene -214-
Warteräume über dem Gebiet der Elbe begaben, um dort in einer Höhe von 11000 Metern den endgültigen Einsatzbefehl abzuwarten.« Solange sie sich in der Sondereinheit befanden, wirkte der Wahnsinn wie eine Infektion, gegen die keiner immun war. Jetzt mußte jeder an der Ansteckung seinen eigenen Tod sterben. Am 7. April ist es soweit. Die ›Operation Werwolf‹ startet. Oberleutnant Ondruschka wirkt konzentriert, doch gelassen. Der junge Oberfähnrich Bramshuber schwitzt trotz der Morgenfrische. Er hat fahrige Hände und nervöse Augen. Feldwebel Mahlein, der dritte, der von Parchim aus starten wird, bewegt unentwegt seine Kiefermuskeln. Er sagt kein Wort dabei, es ist, als knirschte er mit den Zähnen. Kamikaze heißt im Japanischen ›Götterwind‹, und sicher verwünscht jetzt mancher der Piloten die Teufelsidee dieses Todeseinsatzes. Endlich kommt der Startbefehl. 120 S.O.-Piloten klettern in die Maschinen und steigen, von Strahljägern geleitet, rasch in die Höhe: 9000 Meter, 10000, 11000 Meter. Sie sammeln und fliegen dem Untergang entgegen, dem eigenen, wie der Vernichtung, mit der sie die eingeflogenen Amerikaner treffen wollen. Die Turbojäger stürzen sich auf die ›Mustangs‹. Bramshuber fliegt seitlich an den ersten Bomberpulk heran. Er holt das Letzte aus der Maschine, schließt die Augen. Zwölf Meter vor dem Zusammenprall wird er vom Abwehrfeuer einer B 17 erfaßt und zerplatzt in einem riesigen Knall. Sekunden später fegt von der anderen Seite Feldwebel Mahlein in den Pulk und vernichtet sich und zwei Fliegende Festungen auf einmal. Oberleutnant Ondruschka, der virtuose Pilot, macht noch das Beste aus dem Wahnsinnseinsatz. Er zielt mit der Schnauze den Verband an, wirft das Kabinendach ab und steigt aus. Sein Fallschirm öffnet sich. Links und rechts von ihm knallen brennende Wrackteile zur Erde. -215-
Die Strahljäger haben abgedreht. Die dezimierten Viermotorigen ziehen weiter, werden erneut angegriffen. »Zwischen Uelzen und Celle, in 11000 Meter Höhe«, schreibt Janusz Piekalkiewicz, »stürzen sich die deutschen Kamikazes mit solcher Wucht auf die Führungsverbände der US-Bomber, daß die Begleitjäger machtlos sind. Es soll nach deutschen Berichten etwa 50 Jägern und einigen Me 262 gelungen sein, dicht an die Bomberpulks heranzukommen. In der 45 Minuten dauernden Luftschlacht – der letzten größeren dieses Krieges über Europa – werden nach deutschen Quellen 51 USMaschinen zerstört – bei 131 eigenen Verlusten. Die amerikanischen Berichte dagegen sprechen von nur acht verlorenen Bombern und dem Abschuß von 100 deutschen Jägern, davon 59 durch Mustangs. Was wirklich stimmt: Von diesem Einsatz, Tarnname Unternehmen ›Werwolf‹, kehren nur 15 Jäger des ›Sonderkommandos Elbe‹ zurück. 77 Flugzeugführer sind gefallen, die anderen haben sich mit dem Fallschirm retten können.« Der Pilot der Kuriermaschine, mit der Stupsi fliegt, muß zwischenlanden und abwarten, bis es dunkel wird. Als sie am späten Abend den Gefechtsstand der 9. Fliegerdivision in Neubiberg erreichen, kennt man dort schon den Ausgang des Kamikazeeinsatzes über dem Steinhuder Meer. Er hat geklappt, aber die Stimmung ist gedrückt: Soll und Haben ergeben eine Falschrechnung. Der Feind erlitt Verluste, aber um welchen Preis! Der Feind kann die Verluste verkraften, aber 77 hochkarätige deutsche Piloten sind nicht mehr zu ersetzen. Stupsi versteht nichts vom Krieg, und auch Politik interessiert sie nicht besonders. Wichtig ist für sie, daß es ihren Eltern gutgeht. Sie erreicht sie am nächsten Morgen am Telefon und überzeugt sich davon, ohne überzeugt zu sein; aber sie lächelt, als sie den Hörer auflegt. Doch gleich wirkt ihr Gesicht gespannt, gepreßt. »Wie bereits im Wehr machtsbericht gemeldet«, verliest der -216-
Nachrichtensprecher im Radio, »zeichneten sich deutsche Jagdverbände bei der Abwehr amerikanischer Terrorangriffe gegen den norddeutschen Raum am 7. April durch hervorragenden Kampfgeist aus. Die Jäger durchbrachen in erbitterten Luftkämpfen die starke feindliche Jagdsperre und stürzten sich ungeachtet des heftigen Abwehrfeuers, das ihnen aus zahlreichen Bordwaffen entgegenschlug, in todesmutiger Selbstaufopferung auf die viermotorigen Kampfflugzeuge. Die amerikanischen Verbände erlitten in den auch für die deutschen Jäger opferreichen Kämpfen schwere Verluste. Über 60 viermotorige Bomber wurden allein durch Rammstoß vernichtet. Ein Teil der Jäger konnte sich durch Fallschirmabsprung retten.« Oberst Herrmann gibt nicht auf; er verlegt die Überlebenden für weitere Einsätze auf den E-Hafen Klagenfurt innerhalb der Festung Alpenland, doch sie werden nicht mehr zum Einsatz kommen. Am 12. April ist Florian Wamsler schon fast am Ziel, doch sein langer Marsch endet anders als erwartet. Als die amerikanischen Panzerspitzen gestern die Ruinenstadt Würzburg genommen hatten, waren Wilma und er in Kitzingen, aber Panzer kommen schneller voran, als Füße laufen können. Wären die beiden nicht so nahe am Weinort Rödelsee, würden sie sich überrollen lassen und versuchen, sich in Zivil durchzuschlagen. Aber mit jedem Schritt, mit, dem sich Wilma dem Elternhaus nähert, wird ihre Sehnsucht größer, und Florian will ihr die Freude nicht verderben und macht wider besseres Wissen mit. Mainbernheim, vorletzte Ortschaft vor Rödelsee. Die beiden schieben gräßlichen Kohldampf, Susannes Vorräte sind aufgebraucht. In der Ortschaft entdecken sie eine Bäckerei, der Meister steht selbst im Laden. Auf dem langen Fußmarsch von Limburg bis hierher haben die Liebenden ein Rezept erstellt: Ist eine Verkäuferin im Laden, muß Florian sie angehen; handelt es -217-
sich um einen Mann, versucht Wilma, etwas ohne Brotmarken zu ergattern. »Vielleicht klappt’s«, sagt sie und verschwindet in der Bäckerei. Florian tritt vom Fenster weg, damit Wilma eine größere Chance hat. Es scheint ein schwieriger Fall zu sein, die Verhandlung zieht sich hin. Um sich die Zeit zu vertreiben, bringt er den ererbten Überlebenskalender auf den neuesten Stand: 36 Fenster stehen offen – damit ist wo hl weit mehr als die Hälfte geschafft. Es geschieht ganz plötzlich. Ein Panzerspähwagen, dann ein paar Jeeps, herunterspringende Infanteristen MP im Anschlag – Florian streckt die linke Hand in die Höhe. Zwei, drei GIs umringen ihn und tasten ihn ab. »No weapons«, versucht ihnen Florian im Schulenglisch klarzumachen, daß er keine Waffe bei sich hat. »You’re crazy«, fährt ihn der Schlaksige mit der Knollennase an. »No weapon. Have you got a watch?« In diesem Moment kommt Wilma aus dem Laden, bemerkt die Amerikaner und bleibt wie angewachsen stehen, wissend, was die Uhr geschlagen hat. Florian fängt ihren Blick auf. Sie sieht ihn an, als wolle sie sagen: Ich warte auf dich. Wenigstens Wilma kommt durch, und das ist großartig, denkt er, denn sie kann in Iffeldorf anrufen und den Eltern mitteilen, daß sie sich um ihn nicht mehr zu sorgen brauchen. Die Amerikaner kümmern sich nicht um das Mädchen, während Florian abgeführt und auf einen Sattelschlepper verladen wird. Der erste der drei Wamsler-Brüder ist in Sicherheit. Michael, der zweite, versucht nach dem Durchbruch der Alliierten dem Schlamassel zu entkommen, und Sepp, der Älteste, hält sich zu dieser Stunde bei einer -218-
Offiziersbesprechung auf dem Gefechtsstand des LVI. Panzerkorps auf. Dieser 12. April ist ein geschichtsträchtiges Datum – es wird eine Weltsensation zünden, aber zunächst einmal sehen die Besprechungsteilnehmer dem Besucher aus Berlin mit gemischten Gefühlen entgegen: In seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar macht Dr. Goebbels der Front eine Ermunterungsvisite. Die Offiziere überragen den ›kleinen Doktor‹ fast alle um einen Kopf. Der gehbehinderte Propagandist – wegen seiner zahlreichen Affären mit Filmschaffenden früher als ›Bock von Babelsberg‹ tituliert – kann diesen Zuhörern nicht mit Wunderwaffen kommen. Sie wissen vermutlich über den tatsächlichen Ausrüstungsstand der Truppe besser Bescheid als der Gauleiter von Berlin. Sie erlauben sich auch kein Wunschdenken. Da Goebbels nichts anzubieten hat, beschwört er wie so häufig das ›Mirakel des Hauses Brandenburg‹ aus dem Siebenjährigen Krieg: 1762 war Friedrich der Große praktisch der Übermacht der Russen und Österreicher erlegen, hatte aber nicht aufgegeben. Unerwartet starb die Zarin Elisabeth, und ihr Nachfolger, Peter III., schloß einen Sonderfrieden, weil er ein glühender Verehrer des Preußenkönigs war. »Und welche Zarin stirbt diesmal?« ruft einer der Offiziere aus der hinteren Reihe. Alle lachen, bis auf Goebbels, der zornig abfährt. »Kommen Sie, Wamsler«, sagt der I A, Oberst Steinert, zu dem Major, »einmal möchte ich nicht aus der Feldküche essen.« Sie fahren nach Müncheberg und machen in dem gepflegten ›Gasthof Berlin‹ Station. Das propere Städtchen zwischen der Front und der Reichshauptstadt spielt Frieden. Die Kellnerinnen tragen weiße Häubchen und gestärkte Schürzen. Es wird nicht gespeist, sondern getafelt, auf schönem Geschirr und mit eigentlich sogar ganz ansehnlichen Portionen. Das Entsetzen des -219-
Februar – als die Rote Armee unerwartet vor Berlin stand – ist zur Gleichgültigkeit geronnen. Die Sowjets sind ausgeblieben, also hat man sich an ihre Nähe gewöhnt, ohne sich von ihr in Horror versetzen zu lassen. Wer nicht weg kann, nimmt an der allgemeinen Übung teil, die Russen zu ignorieren. Die Frage aber ist, ob die Russen Berlin ignorieren werden. »Kompliment, Wamsler«, sagt Oberst Steinert und hebt das Glas, da man höheren Offizieren hier auch noch eine Flasche Wein serviert, »sieben Tiger und zwei Sturmgeschütze sind durchgekommen. Vier weitere hat uns die Konkurrenz vor dem Gefechtsstand abgefangen, aber ich wollte, wir hätten mehr Kampfgruppen, Wamsler.« Der Major gehört jetzt zu der neuaufgestellten Division Müncheberg, die noch am besten ausgerüstet ist, obwohl sie, wie man in Wamslers Heimat sagt, ein richtiger ›Fleckerlteppich‹ ist: Sie setzt sich aus dem Wachregiment Berlin, dem Stab der Panzerbrigade 103, den Kradschützen der SS-Leibstandarte, der Panzerabteilung des Schießplatzes Kummersdorf, dem Heeresartilleriekorps 411, PanzerAufklärern und dem Kraftfahrzeugpark des Inspekteurs der Panzertruppe zusammen. »Damit sind Sie noch bestens bedient, Wamsler«, sagt der I A. »Was meinen Sie, wie es bei den anderen Divisionen aussieht. Alarmeinheiten«, erklärt er mit angewidertem Gesicht, »das sind OT-Männer, Versprengte, Feuerwehrleute, Schreibstubenhengste, Volkssturmkrüppel, unausgebildete Marinesoldaten, Bodenpersonal der Luftwaffe – und fast alle ohne Waffen.« Er schüttelt den Kopf. »Haben sie aber welche, dann können sie nicht damit umgehen.« »Sie machen mir richtig Mut, Herr Oberst.« »Mensch, Wamsler, Sie haben Mut doch gar nicht nötig«, erwidert Steinert. »Es beruhigt mich außerordentlich, wenn ich weiß, daß ich eine Kampfgruppe wie die Ihre als Feuerwehr der -220-
Front einsetzen kann.« »Fragt sich nur, wie lange«, antwortet der Major. Sie fahren zu ihrem Befehlsstand zurück und bleiben bis kurz vor Mitternacht zusammen. Als die Offiziere auseinandergehen, hat der Frontbesucher Goebbels das Propagandaministerium erreicht und erfährt vor dem Gebäude bei seiner Ankunft, daß die Zarin gestorben ist: Franklin Delano Roosevelt erlitt in Warm Springs im USStaat Georgia einen Gehirnschlag, als er von einer Malerin porträtiert werden sollte. »Ist das auch wahr?« fragt Goebbels aufgeregt seinen Auslandsreferenten. »Die US-Agenturen haben es soeben gemeldet.« Zuerst öffnet der Gauleiter von Berlin eine Flasche Champagner. Dann ruft er Hitler in der Befehlskatakombe an: »Mein Führer«, sagt er mit kippender Stimme, »ich beglückwünsche Sie. Die Vorsehung hat unseren größten Feind hinweggenommen. Das Haupt der feindlichen Verschwörung ist vom Schicksal zerschmettert worden.« Das Mirakel, das Wunder. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich in den weitverzweigten unterirdischen Anlagen, daß Deutschland gerettet sei: Jetzt, wo Roosevelt tot ist, werden die Russen und Amerikaner unverzüglich aufeinander schießen. Die Euphorie zieht sich in die Lagebesprechung hinein. »Die weißen Fahnen werden nur von Fremdländern ausgehängt«, ruft Hitler. »Die Deutschen zeigen keine weißen Fahnen. Sie tun es nicht. Das ganze deutsche Volk hat nur ein einziges, gemeinsames Denken: Kampf gegen die Vernichtung durch den Feind bis zum Letzten!« Karl Koller, der Generalstabschef der Luftwaffe, erlebt die Freudentänze in dieser Betonhöhle der Unwirklichkeit und trägt in sein Tagebuch ein: »Die Anschauung Hitlers ist völlig -221-
unfaßbar. Er bildet sich ein, das ganze Volk denkt, wie er es haben will. Er ist über die wahre Stimmung entweder nicht unterrichtet oder er will es nicht sein. Das ist um so unverständlicher, als über die weißen Fahnen und ähnliche Vorgänge im Westen sogar die Gauleiter richtig gemeldet haben.« Die Veitszuckungen der Illusionen sterben kalt in den Armen der Hiobsnachricht des 13. April: Die Russen haben Wien erobert, und am nächsten Tag spalten die Alliierten das eingekesselte Ruhrgebiet und dividieren Models Heeresgruppe B in zwei Teile. Die Nacht vom 15. auf 16. April ist lau, lind. Es wird Frühling. Meteorologisch steht ein wunderschöner Tag bevor. Gestern war in Berlin um 19.19 Uhr zu verdunkeln. Am Morgen des 16. darf ab 5.29 Uhr Licht gemacht werden. Licht machten die Sowjets schon vor dieser Stunde mit Tausenden von Scheinwerfern. Aber diese Überraschung geht gewissermaßen in das Auge des Marschalls Schukow: Die Lichtarme können die Morgennebel und die Rauchwände kaum durchdringen. Schlagen aber die Tausende von Watts durch, dann blenden sie die Angreifer, die nach dem Trommelfeuer zunächst ins Leere rennen. Punkt vier Uhr früh setzte der Angriff ein: Aus den Feuerschlünden von 41600 Geschützen rotzte der Tod. Zweieinhalb Millionen Rotarmisten, verteilt auf 150 Divisionen, ausgestattet mit 6300 Panzern und unterstützt von 7500 Flugzeugen, stürmen vorwärts. »Sowjetsoldat«, heißt es im Aufruf des Marschalls Schukow, »räche dich! Verhalte dich so, daß der Einbruch unserer Armeen nicht nur den heutigen Deutschen, sondern auch ihren fernen Enkeln in Erinnerung bleibt. Denke daran, daß alles, was die deutschen Untermenschen besitzen, dir gehört, Sowjetsoldat. -222-
Hab kein Mitleid im Herzen!« Die Maßnahme des Generalobersten Heinrici, seine Truppen aus den vordersten Linien rechtzeitig zurückzunehmen, hat mit Sicherheit Tausenden seiner Soldaten das Leben gerettet und ihm auch noch Zeit für Gegenmaßnahmen gebracht, denn die in die Gräben, Panzerdeckungslöcher und Stellungssysteme eindringenden Rotarmisten sind irritiert, weil sie weder tote noch lebende Verteidiger vorfinden. Sie glauben an eine Falle und zögern mit dem weiteren Vormarsch. Aber hinter ihnen kommen Panzer, ganze Rudel, Hunderte rollen auf die Seelower Höhen zu, von wo aus die Chaussee nach Berlin führt. Junge Fallschirmjäger, viele im ersten Einsatz, starren auf die heranbrummende Armada. Plötzlich greift die dichtgestaffelte Flak ein und schießt einen Kampfwagen nach dem anderen in Brand. Der Angriff kommt ins Stocken. Das ist der Moment, den die Kampfgruppe Wamsler abgewartet hat: Sie fährt den zurückweichenden Tanks mit dem roten Stern in die Flanke. Allein der Führungspanzer erledigt vier T 34. An die 60, 70 sowjetische Kampfwagen brennen aus: ein ungeheures Bild und doch nur ein winziger Aderlaß bei einem Aufmarsch von 6300 Stahlungetümen. Auch wenn der erste Tag für die Verteidiger verhältnismäßig glimpflich verläuft, sind sich die meisten Kommandeure darüber im klaren, daß sie auf verlorenem Posten stehen. »Heinrici konnte die Russen weder auf lange Sicht aufhalten noch einen Gegenangriff unternehmen«, schreibt Cornelius Ryan, »denn seine wenigen Panzer und Geschütze hatte er zum Einsatz am Nordflügel der 9. Armee vorgesehen. Alles, was er tun konnte, war, etwas Zeit zu gewinnen. Bitter dachte er an die Panzereinheiten, die man ihm entzogen und der Heeresgruppe -223-
Schörner zur Abwehr eines nach Ansicht Hitlers und Schörners bevorstehenden Angriffs auf Prag übergeben hatte. Zusammen mit diesen Einheiten hätte Heinrici über insgesamt sieben Panzerdivisionen verfügt. ›Wenn ich die hätte‹, sagte er mürrisch zu Eismann, ›dann ginge es den Russen jetzt schlecht.‹« Was sich in 60 Kilometer Entfernung abspielt, erkennen die Berliner noch immer nicht richtig. Die Kinos zeigen die Filme ›Kolberg‹, ›Kameraden‹, ›Kollege kommt gleich‹, ›Es fing so harmlos an‹ und den ›Mustergatten‹. Unter dem Dirigenten Robert Heger spielen die Berliner Philharmoniker – des zu erwartenden Fliegerangriffs wegen bereits um 17 Uhr – die Egmont-Ouvertüre, das Brahmssche Doppelkonzert für Violine und Violoncello und natürlich von Richard Strauss ›Tod und Verklärung‹. Zu diesem Zeitpunkt haben vor Berlin schon Hekatomben deutscher Soldaten auf einer Frontbreite von 400 Kilometern einen ›unverklärten‹ Tod erlitten. Es ist zeitweilig, als überließen die Deutschen den Beschuß ausschließlich den Sowjets. Jeweils nach dem Trommelfeuer herrscht gespenstische Stille. Seltsam wattiert hören die Angegriffenen mit den betäubten Trommelfellen das gefürchtete ›Urräh‹ der Russen. Jetzt wird über alle deutschen Sender der Aufruf des Führers an die Soldaten der deutschen Ostfront verlesen: »Zum letztenmal ist der jüdisch-bolschewistische Todfeind mit seinen Massen zum Angriff angetreten. Er versucht, Deutschland zu zertrümmern und unser Volk auszurotten. Ihr Soldaten aus dem Osten wißt zu einem hohen Teil heute bereits selbst, welches Schicksal vor allem den deutschen Frauen, Mädchen und Kindern droht. Während die alten Männer und Kinder ermordet werden, werden Frauen und Mädchen zu Kasernenhuren erniedrigt. Der Rest marschiert nach Sibirien ... -224-
Wenn in diesen kommenden Tagen und Wochen jeder Soldat an der Ostfront seine Pflicht erfüllt, wird der letzte Ansturm Asiens zerbrechen, genauso wie am Ende auch der Einbruch unserer Gegner im Westen trotz allem scheitern wird. Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch, und Europa wird niemals russisch ... In dieser Stunde blickt das ganze deutsche Volk auf Euch, meine Ostkämpfer, und hofft nur darauf, daß durch Eure Standhaftigkeit, Euren Fanatismus, durch Eure Waffen und unter Eurer Führung der bolschewistische Ansturm in einem Blutbad erstickt. Im Augenblick, in dem das Schicksal den größten Kriegsverbrecher aller Zeiten (Roosevelt. Der Verfasser) von dieser Erde genommen hat, wird sich die Wende dieses Kriegs entscheiden. gez. Adolf Hitler« Am ersten Tag erreichen die Sowjets viele Einbrüche, schaffen jedoch noch nicht den entscheidenden Durchbruch aber sie wollen und werden pünktlich zu Hitlers 56. Geburtstag, am 20. April, die deutsche Reichshauptstadt erreichen. »Das ist das Ende«, sagt Generalfeldmarschall Model, als er erfährt, daß die Russen zum Sturm auf Berlin angetreten sind. »Jetzt kommt der Todesstoß.« Aber auch seine Heeresgruppe B ist am Ende, wenn auch nicht so blutig. Im Ruhrgebiet stehen etwa doppelt so viele deutsche Soldaten wie einst in Stalingrad, aufgeteilt in viele kleine Verteidigungsinseln, die von jedem Nachschub abgeschnitten sind. Viele führen Krieg auf eigene Faust, so die Kampfgruppe Wiesner, von der sich Adamsky und Raschke einkassieren ließen. Der fahlblonde, hagere Major, der aussieht wie ein Magenkranker, wird von den Männern so gehaßt, daß sie nur darauf warten, bis ihn einer von hinten umlegt. Er hetzt die schlecht Ausgerüsteten erbarmungslos ins Feuer – Infanteristen gegen massierte Panzerkolonnen. Ohne getroffen zu sein, fällt -225-
Raschke um. Blut schießt dem Berliner aus dem Mund, seine Augen sind verdreht. »Mensch, was ist denn?« fragt Adamsky und beugt sich über seinen Kumpel. Dann begreift er, daß das Geschoß in Raschkes Lunge gewandert sein muß. Er richtet sich auf. »Weiter!« schreit der Major. »Das ist Ihre Schuld!« schreit ihn der Pommer an. »Sie haben ihn auf dem Gewissen. Sie Schweinehund, er ist tot wegen ...« »Volle Deckung!« brüllt Oberfeldwebel Benzinger. Sie wetzen auseinander, und Adamsky liegt auch noch mit dem Scheiß-Major im gleichen Loch; er zielt mit der Panzerfaust auf den heranrollenden Vernichtungskasten. »Drücken Sie schon endlich ab, Sie Flasche!« befiehlt Wiesner. Adamsky schießt. Das Geschoß knallt gegen den Turm und explodiert. Der Panzer brennt. Die Besatzung bootet aus. Es sind SS-Leute – es war ein Königstiger, der letzte der Einheit. Ein Hauptscharführer tritt an das Panzer-Deckungsloch heran, feuert und zersiebt mit einem Feuerstoß den Major und Adamsky. »Prima, daß diese Sau hin ist«, sagt Oberfeldwebel Benzinger und übernimmt wieder die Führung. »Aber ein Jammer, daß es den armen Hund auch erwischen mußte.« Die SS-Männer ziehen weiter, als wäre nichts geschehen. Keiner hält sie auf. Kampfkraft und Lebenswille sind gleichermaßen gebrochen. In Wuppertal führt ein GI 68 deutsche Gefangene zu seinem Regiment zurück, als er es erreicht hat, sind es 1200. Ein paar Kilometer weiter werden 16000 feldgraue Kapitulanten von zwei US-Soldaten eskortiert, von denen einer mit einem Karabiner, der andere mit einer Maschinenpistole bewaffnet ist. Die 8. US-Infanteriedivision, die sich von Süden nach Norden -226-
durch den Kessel kämpft, macht an einem Tag über 50000 Gefangene. Generalfeldmarschall Model sieht nicht zu, wie seine Heeresgruppe verblutet. Er entwickelt einen privaten Demobilisierungsplan und stellt seinen Soldaten drei Möglichkeiten zur Wahl: Sie können Zivil anlegen und nach Hause gehen; es wird ihnen ausdrücklich erlaubt, die Hände zu heben und sich zu ergeben, und als drittes wird der Versuch vorgeschlagen, sich durch die amerikanischen Linien bis zu deutschen Auffangstellungen durchzuschlagen. Am 17. April ergeben sich 29 deutsche Generäle und ein Admiral den Amerikanern, dazu 317000 Soldaten. Fieberhaft suchen die Alliierten nach dem Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B. Walter Model bleibt verschollen. General Bradley setzt einen hohen Orden für den GI aus, der ihn auffinden wird. Man findet seinen Stabswagen, aber nach vier Tagen der Kapitulation im Ruhrkessel irrt der Generalfeldmarschall – er steht, zu Recht oder zu Unrecht, auf der Liste der an die Sowjetunion auszuliefernden deutschen Offiziere – mit ein paar Begleitern noch immer im Ruhrkessel umher. Den Vorschlag, sich ebenfalls zu ergeben, lehnt Model ab. Es verträgt sich nicht mit seiner Auffassung, seinen Soldaten jahrelang das Sterben abzuverlangen und – nachdem alles verloren ist – sein eigenes Leben zu retten. Auf Generalfeldmarschall Paulus anspielend, sagt er: »Ein Feldmarschall geht nicht in Gefangenschaft. Das ist einfach unmöglich.« Am Morgen des 21. April hat er alle Begleiter bis auf seinen Nachrichtenoffizier weggeschickt. »Meine Stunde ist gekommen«, sagt er. »Folgen Sie mir.« Der IC glaubt, Model wolle sich jetzt doch den Amerikanern stellen, aber in einem kleinen Wäldchen bei Duisburg deutet der Marschall auf eine Eiche und sagt: »Sie werden mich hier begraben.« Er zieht die Pistole, setzt sie an die Schläfe und drückt ab. -227-
»Was man auch über Models Selbstmord denken mag«, stellt in seinem Buch ›Die Schlacht um den Ruhrkessel‹ der britische Autor Charles Whiting fest, »dieser tapfere und verwegene Soldat war der einzige der höheren deutschen Generäle, der die Konsequenzen aus der blinden Loyalität des deutschen Generalstabs Hitler und den Nazizielen gegenüber auf sich nahm ... Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Kesselring, Rundstedt und Busch war er nicht bereit, die Jahre der Internierung und die Erniedrigung eines Kriegsverbrecherprozesses auf sich zu nehmen. Er zahlte seine Schuld und verschwand an diesem Tag aus der Geschichte, ohne daß auch nur ein Kreuz die Stelle seines Abgangs bezeichnete ... Zurück ließ er eine Szene unfaßbaren Grauens. In den Städten des Ruhrgebietes blockierten riesige Schutthaufen die Straßen. Verbogene Lampenständer ragten wie groteske Standbilder gegen den noch immer rauchverhangenen Himmel. Die Einwohner waren apathisch und gebrochen, eine leichte Beute für die Tausende von ehemaligen Verschleppten und Kriegsgefangenen aus dem Osten, die nun Rache nahmen für Jahre der Erniedrigung. Kämpfe, Plünderungen und Morde waren an der Tagesordnung, und die wenigen verbliebenen, zudem noch unbewaffneten Polizisten konnten nichts tun, um ihre Landsleute zu schützen. Trotz des herrlichen Sonnenscheins in dieser letzten Aprilwoche 1945 bot das Ruhrgebiet den Anblick des völligen Zusammenbruchs, wie es ihn in Westeuropa in fünfeinhalb Jahren des totalen Krieges noch nicht gegeben hatte. Es war vorbei. Die ›Waffenschmiede des Reiches‹ lag in Trümmern.« Noch bevor der Ruhrkessel ausgeräumt ist, geht der alliierte Vormarsch weiter, mit einer Rekordgeschwindigkeit von 65 Kilometern pro Tag. General Patton nimmt Weimar und befreit das KZ Buchenwald. Zwischen den Leichenbergen der Häftlinge wird ihm so übel, daß er sich übergeben muß. -228-
In einem Gespräch unter vier Augen teilt Eisenhower dem enttäuschten Patton mit, daß er entschlossen sei, endgültig auf Berlin zu verzichten. »Ich verstehe nicht, wie Sie so etwas sagen können, Ike«, protestiert der General mit dem Goldhelm. »Meiner Ansicht nach sollten wir Berlin nehmen, möglichst schnell – und dann weitermarschieren bis zur Oder.« Die 9. US-Armee hat längst die Elbe erreicht. General Simpson stellt sich bereit, um mit der 2. Panzer- und 83. Infanterie-Division entlang der Autobahn nach Berlin vorzustoßen. Er ist überzeugt, daß er die deutsche Reichshauptstadt in 24 Stunden erreichen wird, noch vor den Russen. Er wird aufgefordert, sich im Hauptquartier der 12. Armeegruppe in Wiesbaden zu melden. Als Simpson aus der Maschine klettert, empfängt ihn sein Oberbefehlshaber Bradley mit einer Hiobsnachricht, die er an seinen General weitergeben muß: »Sie müssen an der Elbe stehenbleiben, Simpson. Sie dürfen nicht weiter in Richtung Berlin vorstoßen. Es tut mir leid, Simp, aber es ist nun einmal so ...« »Von wem, zum Teufel, kommt denn dieser Befehl?« fragt Simpson außer sich. »Von Ike persönlich«, entgegnet Bradley. »Und wie soll ich das meinen Divisions-Kommandeuren klarmachen?« Der General fliegt zu seinem Gefechtsstand an die Elbe zurück. Als er seinen Offizieren die Order mitteilt, starren sie ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Sony, Gentlemen«, sagt Simpson mit einer entsagenden Geste, »für uns ist hier der Krieg zu Ende.« Sie müssen verbittert und tatenlos zusehen, wie die Sowjets Berlin nehmen. -229-
Pünktlich zu Hitlers Geburtstag feuert schwere russische Artillerie erstmals einen blutigen Salut auf Berlin. Die Sowjetspitzen erreichen im Norden der Reichshauptstadt Bernau, im Süden Baruth und nähern sich bereits dem OKWHauptquartier in Zossen, das den übermächtigen Rotarmisten des Feldmarschalls Konjew eine (eine) Reiterschwadron entgegenstellt. Im Arbeiterviertel Moabit erscheint an der Wand eine neue Parole: WIR ZIEHEN ALLE AN EIN EM STRANG – HOCH D. FÜHRER. Zu Ehren Hitlers kommen zwei neue Briefmarken heraus: Eine zeigt einen SA-, die zweite einen SS-Mann aber die Post senden die Russen aus allen Kalibern ab. Und wie symbolisch erobern an diesem Tag die Amerikaner Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage. Der ›Alarmfall Clausewitz‹ stellt die Reichshauptstadt unter Ausnahmerecht. Die bisher zurückgestellten Zivilisten mit der roten Karte A müssen sofort einrücken, nebeneinander 15- und 60jährige. An den Ruinenmauern hängen Plakate des Kampfkommandanten: »Alle Wehrmachtsangehörigen, die sich in Berlin außerhalb ihrer Truppenteile befinden, alle Beurlaubten, Abkommandierten, durch Berlin Reisenden, Genesenden und Verwundeten, sind verpflichtet, unverzüglich mit Proviant für 24 Stunden in Potsdam in der Von-SeecktKaserne zu erscheinen.« Im Raum Müncheberg erleidet das LVI. Panzerkorps schwere Verluste: Der Stabschef, Oberstleutnant Theodor v. Dufving, muß innerhalb von vier Stunden dreißigmal volle Deckung nehmen. Der Reichsjugendführer Arthur Axmann bietet General Helmuth Weidling für die Auffangstellung hinter den Linien 14jährige Hitlerjungen an. »Sie können doch diese Kinder nicht für eine Sache opfern, die bereits verloren ist«, fährt der General – seine Soldaten -230-
nennen ihn ›Knoche nkarl‹ - den Einarmigen an und verlangt, daß die Halbwüchsigen abrücken. Axmann gibt nach und setzt sie an anderer Stelle ein. Angehörige des Jahrgangs 29 bitten, aus Anlaß des Führergeburtstags vorzeitig in die SS aufgenommen zu werden, während – entnervt von dem Kampf um die Seelower Höhen – die Rekruten der 9. Fallschirmjäger-Division in hellen Scharen vor den Sowjetpanzern in die Arme der Auffangstäbe im Hinterland laufen - aber so viele können die Greifkommandos nicht aufhängen. Sie sammeln die Anfänger des Heldentods ein, um sie wieder nach vorne zu schicken. »Ich muß Ihnen berichten«, sagt Generaloberst Heinrici zu Göring, den er nicht leiden kann: »Ihre Montecassino-Truppe, diese berühmten Fallschirmjäger, haben das Schlachtfeld verlassen.« Die Kampfgruppe Wamsler verliert zwei Tiger; ein Sturmgeschütz ist beschädigt und muß gesprengt werden. Stellungswechsel. Auf einmal taucht der Divisionskommandeur auf. Generalmajor Hans Mummert ist nur ein Reserveoffizier, aber an Mut, Können und Menschlichkeit übertrifft er viele aktive Militärs. Er fährt mit seinem Kübelwagen an der Spitze, kommt an eine Lichtung. Als er hier Himmlers ›Baumschmuck‹, drei erhängte Hitlerjungen, sieht, hält er an und wartet, bis die Panzer aufgeschlossen haben. »Hören Sie, Major«, sagt er zu Wamsler, »unsere Division hat die meisten Ritterkreuz- und Eichenlaubträger der ganzen Wehrmacht. Wir brauchen unsere Tapferkeit nicht zu beweisen. Ich dulde keine solchen Schweinereien in meinem Bereich. Wenn mein Befehl übertreten wird, machen Sie rücksichtslos von der Waffe Gebrauch, Major Wamsler. Sie haben jede Rückendeckung.« »Jawohl, Herr General«, erwidert der Münchener. Er hat schon lange keinen Befehl mehr erhalten, der ihn so befriedigt. -231-
Aber der Triumph währt nicht lange. Die alten Ho rrorszenen stehen wieder auf: Flüchtlinge in endlosen Kolonnen, Menschen, die – der Wehrmacht den Weg versperrend – um ihr Leben laufen. Pferde so gehetzt wie die Menschen; auch die Tiere haben den Krieg verloren. Wer nicht mehr kann, bleibt liegen. Wer liegen bleibt, wird von den anderen überfahren. Keiner hat mehr Zeit und Kraft, die Toten aus dem Weg zu räumen. Ein endloser Lindwurm zieht nach Berlin. Den Flüchtlingen ist das Betreten der Reichshauptstadt verboten, aber wenn die Dämme brechen, ist auch die Polizei machtlos. Goebbels spricht in einem Studioraum in der Nähe des Brandenburger Tors die Geburtstagsrede auf Platte. Immer wieder vom Lärm krepierender Granaten unterbrochen, muß er ein paarmal von vorne beginnen. Seine Laudatio schließt mit den Worten: »Höret es, ihr Deutschen! Auf diesen Mann schauen heute schon in allen Ländern der Erde Millionen Menschen, noch zweifelnd und fragend, ob er einen Ausweg aus dem großen Unglück wisse, das die Welt betroffen hat. Er wird ihn den Völkern zeigen. Wir aber schauen auf ihn voll Hoffnung in einer tiefen, unerschütterlichen Gläubigkeit; trotzig und kampfesmutig stehen wir hinter ihm.« Hitlers Hofschranzen, die ›Chauffeureska‹, stellt sich schon geschlossen zur Gratulationscour bereit, als ihr Führer noch schläft. Dann finden sich in Hitlers letztem Lebensraum von gut 20 Quadratmetern die braunen Paladine ein: Himmler, der ›treue Heinrich‹ (SS-Jargon), Speer, der noch immer faszinierte Renegat, Großadmiral Karl Dönitz, der sich, laut eigener Bekundung, ›beim Führer immer vorkommt wie ein ganz kleines Würstchen‹, Ribbentrop, ›Hitlers Papagei‹ (Harold C. Deutsch), ›Lakeitel‹, Jodl, Krebs, Burgdorf und Goebbels, Hitlers Einpeitscher. Göring fehlt noch; er ist einstweilen auf seinem 80 Kilometer entfernten Feudalsitz anderweitig -232-
beschäftigt. »Auch Reichsmarschall Hermann Göring machte sich auf den Weg zur Geburtstagsfeier«, berichtet Cornelius Ryan. »Er wollte sich nur kurz zeigen, damit man sah, daß er Hitler immer noch treu ergeben war ... Der Reichsmarschall ha tte in den vergangenen Wochen mehrmals die Front inspiziert und einem General nach dem anderen vorgeworfen, ›infolge der Herumlungerei sei nichts vorbereitet‹. Die Russen würden sich durch die deutschen Linien einfach ›hindurchlachen‹. Göring selbst hatte sich auf diesen Moment gut vorbereitet. Auf der Straße vor den Toren seines Landsitzes standen vierundzwanzig mit Antiquitäten, Gemälden, Silber und Möbeln beladene Lastwagen der Luftwaffe. Dieser Konvoi sollte sofort nach Süden aufbrechen ... Göring blickte noch einmal auf das prächtige Schloß. Ein Offizier der Luftwaffe trat zu ihm und meldete, daß alles bereit sei. Göring ging auf die andere Seite der Straße, beugte sich über eine Zündmaschine und drückte den Kolben hinein. Mit einer ungeheuren Detonation flog Karinhall in die Luft. Ohne zu warten, daß der Staub sich legte, ging Göring zu seinem Wagen. Er wandte sich zu einem der Offiziere und sagte gelassen: ›So etwas muß man eben manchmal tun, wenn man Kronprinz ist.‹ Dann bestieg der den Wagen und fuhr nach Berlin zur Geburtstagsfeier des Führers.« Der schwarze Humor der Berliner hat den Witz gezeitigt: »Der Krieg geht erst zu Ende, wenn Göring in die Hose von Goebbels paßt.« Aber je näher es auf das Finale zugeht, desto dicker und aufgeschwemmter wirkt der Reichsmarschall. Verspätet begreifen die Frontgenerale in aussichtsloser Situation jetzt, daß der Krieg nicht aus sein wird, bevor der Führer in die Grube gefahren ist. Um 11 Uhr erscheint Hitler, und wird sofort von Gratulanten umringt. Verlegene Gesten, gedrechselte Glückwünsche. Sektpfropfen knallen diesmal nicht. Die Gesichter der ehrenwerten Gesellschaft sind von Angst und Notlicht patiniert, -233-
Grünspangesichter, die richtige Schminke für diese Elendsschmiere von Lüge, Blut und Tod. Fast einstimmig bestürmen die würdelosen Hoheitsträger ihren Führer, Berlin zu verlassen. Es ist noch das Ehrlichste, was sie vorbringen, denn wenn Hitler sich nach Süden zurückzieht, sind sie mit von der Reise. Während der Diktator noch schwankt, sind seine Günstlinge längst entschlossen, in jedem Fall – mit und ohne Erlaubnis – die Russenfalle zu verlassen. Hitler ist besserer Laune als zuvor; er hat – wie er sagt gute Nachrichten von der Front erhalten. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die 9. Armee ist mit Zehntausenden von Flüchtlingen von den Russen eingekesselt. Wenn General Busse nicht umgehend die Erlaubnis zum Ausbruch erhält, sind Soldaten und Zivilisten zum Untergang verdammt. Vorgestern bereits haben die Amerikaner Magdeburg genommen und die Truppen des Generals Patton die tschechische Grenze überschritten. Gestern war es zum Schlußkampf in Leipzig vor dem Völkerschlachts-Denkmal gekommen der Bürgermeister und seine Frau haben sich anschließend im Rathaus vergiftet, aber ›solche Sachen‹ will Hitler nicht hören –, und heute stehen die Russen vor Cottbus und im Vorfeld Berlins. Die Feldherrenkunst des ›böhmischen Gefreiten‹ (Paul v. Hindenburg) hat zu der grotesken Situation geführt, daß, kurz vor dem Zusammenbruch, die deutschen Truppen überall stärker vertreten sind als in Deutschland selbst: »Die Heersgruppe Hilpert hielt sich in Kurland«, resümiert Raymond Cartier. »Norwegen und Dänemark waren noch vollständig besetzt. Die Heeresgruppe Blaskowitz hielt noch den größten Teil von Holland, einschließlich Amsterdams und Rotterdams. In Frankreich hatten die Alliierten den Zugang zur Gironde geöffnet (und dabei Royan zerstört), aber Dünkirchen, Calais, Boulogne, Lorient, Saint Nazaire, La Rochelle sowie die -234-
Kanalinseln wurden immer noch von starken Garnisonen gehalten. Im Mittelmeer hielt Deutschland so entfernt liegende Inseln wie Rhodos und Kreta besetzt. In Mitteleuropa hielt die Heeresgruppe Löhr den Norden des Balkans, die Heeresgruppe Rendulic verteidigte den Westen Österreichs, die Heeresgruppe Schörner hatte noch das gesamte Gebiet des Protektorats in der Hand. Vom Nordkap bis zum Ägäischen Meer standen immer noch drei Millionen deutsche Soldaten unter Waffen, während das Reich selbst verloren war!« Im Garten der Reichskanzlei sind Kinder-Soldaten angetreten, um von Hitler ausgezeichnet zu werden. Der gebeugte, auffällig gealterte Diktator tätschelt die Wangen der 13- bis 14jährigen, die ihr Leben wegwerfen, um sein Leben um wenige Tage zu verlängern. In Wandlitz veranstaltet der Ortsgruppenleiter, nur wenige Kilometer von den russischen Panzerspitzen entfernt, unter freiem Himmel eine Großkundgebung zu Hitlers Geburtstag. Plötzlich fallen zwei sowjetische Tiefflieger im Sturzflug aus dem Gewölk und behämmern die dichtgedrängte Versammlung mit MG-Feuer. Verwundete brüllen. Viele Tote bleiben liegen. Die unnatürliche Ruhe in Berlin endet, aber immer noch hoffen die meisten, daß die Amerikaner und Engländer noch vor den Russen kommen werden. Sie waren ja vor der sowjetischen Offensive der Regierungsstadt schon näher gewesen als die Russen. Die ersten Geschäfte beginnen ohne Erlaubnis, Lebensmittel markenfrei abzugeben. In den Ruinen und Kellern explodiert wild die Torschlußpanik und treibt Fremde zu Paaren und Massenorgien. Die Greifstäbe fangen immer mehr ›Drückeberger‹ und hängen sie an Ort und Stelle auf. Die Bevölkerung schaut dabei ohne Erregung zu, teilnahmslos gegen die Henker wie ihre Opfer. Berlin ist in acht Verteidigungsbezirke eingeteilt. Die Zitadelle, in der sich Hitler aufhält, soll von dem SS-235-
Brigadeführer Wilhelm Mohnke mit etwa tausend SS-Leuten, darunter viele ausländische Freiwillige, verteidigt werden. Der Kampfkommandant läßt die ersten Brücken sprengen, obwohl er damit die Versorgungsstränge hochjagt. Am 21. April tritt auch Marschall Rokossowskij mit der 2. Weißrussischen Armee zum Angriff an; das Granatfeuer liegt jetzt schon auf der Berliner Innenstadt. Die Panzereinheiten der Roten Armee erreichen Zossen, Erkner, Hoppegarten, Lichtenberg, Niederschönhausen, Frohnau. Im Süden fällt Kongew die Nachrichtenzentrale des OKW unzerstört in die Hände. Dr. Goebbels spielt die selbstgeschriebene Rolle bei seinem Weltuntergangsdrama perfekt. Er ist konsequent und macht auf eine schreckliche Weise unter den Verlorenen von Berlin eine bessere Figur. Bei der Besprechung am 21. im Propagandaministerium behauptet er, die Frontlücken im Osten seien inzwischen geschlossen worden. Aber er wird von Stunde zu Stunde sichtlich nervöser. Auf Wunsch Hitlers hat er sich entschlossen, mit seiner Frau Magda in die Katakombe zu übersiedeln und dabei die sechs Kinder Helga, Holde, Hilde, Heide, Hedda und Helmut mitzunehmen. Am Abend dreht er durch: »Das deutsche Volk hat versagt!« schreit er seine Mitarbeiter an. »Im Osten läuft es davon, im Westen empfängt es den Feind mit weißen Fahnen. Es hat das Schicksal, das es jetzt erwartet, verdient. Ich habe niemanden gezwungen, mein Mitarbeiter zu sein. Warum haben Sie mit mir gearbeitet? Jetzt wird Ihnen das Hälschen durchgeschnitten! Aber wenn wir abtreten, dann soll der Erdkreis erzittern!« Einen Tag später dringt der Feind bis zum Teltowkanal bei Klein-Machow vor. Im Osten erreicht er Weißensee und Pankow; im Westen kommen die Russen über die Havel bis Spandau. Bezeichnend für die chaotische Kriegsführung ist die Ernennung des ne uen Stadtkommandanten: Eigentlich war General Weidling in Hitlers unterirdisches Hauptquartier -236-
befohlen worden, um dort zum Tod verurteilt zu werden, weil sein LVI. Armeekorps angeblich seine Stellung aufgegeben hat. ›Knochenkarl‹ sagt unverblümt seine Meinung und macht dabei auf Hitler einen so guten Eindruck, daß er ihn nicht exekutieren läßt, sondern auf der Stelle zum Nachfolger des in Ungnade gefallenen Vorgängers ernennt. Langsam bröckeln Hitlers Illusionen ab, aber er spielt noch weiter mit Fiktionen, mit Stecknadelköpfen, mit Fähnchen auf der Generalstabskarte – mit Divisionen, die nicht mehr existieren ... Im Norden Berlins wird die Lage gefährlich, aber der Diktator hat schon einen Retter parat: den SSObergruppenführer Felix Steiner, einen bewährten General, der so gut wie keine Truppen und vor allem keine Kampfwagen hat. Hitler befiehlt, jeden verfügbaren Soldaten der Kampfgruppe Steiner zuzuführen. Aber der Entlastungsstoß bleibt aus, weil die Verstärkung weder über Waffen verfügt noch für den Infanteriekampf ausgebildet wurde. »Ich habe soeben von der Luftwaffe 5000 Flugzeugführer bekommen, jeder mindestens mit einem Eisernen Kreuz«, sagt Steiner zu Generaloberst Hasso v. Manteuffel, dem Kommandeur der 3. Panzerarmee: »Können Sie mir vielleicht sagen, was ich mit denen anfangen soll?« General Busse hat immer noch keine Ausbruch-Erlaubnis. Er ist jetzt eingeschlossen und so bedrängt, daß selbst BDMFührerinnen und RAD-Maiden in vorderster Linie kämpfen. Die Verluste sind entsetzlich. Der Kessel wird zu einem Massengrab für 20000 Menschen. Hitler aber gibt der 12. Armee des Generals Walther Wenck den Befehl, von der Elbe aus zum längst verlorenen Ruhrkessel durchzubrechen. Er hat jede Übersicht verloren und drängt die Heeresgruppe Weichsel, den Entlastungsangriff auf Berlin voranzutreiben. »Warum greifen Sie nicht an, Steiner?« fragt Generaloberst Heinrici, der den SS-Gruppenführer auf seinem Gefechtsstand aufsucht. -237-
»Ich will Ihnen sagen, was ich habe«, erwidert einer der fähigsten SS-Generale: »Ich habe einen lächerlich bunten Haufen, der nie bis Spandau durchkommen wird.« »Steiner«, entgegnet Heinrici mit undurchdringlichem Gesicht, »Sie müssen angreifen – Ihrem Führer zuliebe.« Einen Moment lang starrt der SS-Offizier seinen Oberkommandierenden stumm an. »Es ist doch auch Ihr Führer«, brüllt er dann. Einen Tag später, am 22. April, erleidet auch Hitler bei der Lagebesprechung einen Tobsuchtsanfall, verfällt in Raserei, erhebt schäumend und schreiend wilde Vorwürfe gegen die Wehrmacht, gegen die Generäle, die er als ›würdelose Verräter‹ tituliert. Lethargisch bricht er zusammen. Dann verkündet er seinen Entschluß, Berlin nicht zu verlassen. Einigen Vertrauten eröffnet er, daß er sich noch am gleichen Tag töten wolle. Es gelingt ihnen, Hitler davon abzuhalten. Am nächsten Tag hören die überraschten Berliner: »Die Verteidigung der Reichshauptstadt leitet der Führer, der sich entschlossen hat, inmitten der Bevölkerung Berlins die Aufgabe der Rettung der Reichshauptstadt zu bewältigen. Von allen Seiten werden zur Stunde Verbände in Berlin herangeführt ...« Man füttert die betrogenen Einwohner mit Lügen und Illusionen bis zum unausweichlichen Ende. Uwe Bahnsen und James P. O’Donnell schildern eine symbolische Szene: »Der Anfang vom Ende. In dem von Bomben verwüsteten Garten hinter der schwerbeschädigten Reichskanzlei stand der besiegte, zur menschlichen Ruine gewordene Diktator, die Hände in den Taschen des dunkelgrauen Uniformmantels vergraben, den Kragen hochgeschlagen, die Mütze mit dem übergroßen Schirm zum Schutz gegen die Frühlingshelle dieses 23. April 1945 tief in die Stirn gedrückt, schweigend vor der langgestreckten Terrasse des Mitteltraktes. Die Schäferhündin ›Blondi‹ neben sich, ließ Hitler den Blick -238-
minutenlang über die wuchtige Säulenfront schweifen, hinter der sich sein riesiges, nun verlassenes Arbeitszimmer befand. Das dumpfe Grollen der sowjetischen Artillerie schien er nicht zu hören; das aufgedunsene Gesicht wirkte starr, maskenhaft. Dann wandte er sich brüsk um und ging mit gebeugtem Rumpf und kurzen, schleifenden Schritten, gefolgt von einem Diener, einem Adjutanten und drei Offizieren des Begleitkommandos.« Wer elektrisch kocht, wird in der Festung Berlin mit Todesstrafe bedroht. Eine junge Frau fährt auf einem Handwagen ihren toten Verlobten zum Standesamt und wird mit ihm getraut. Die Engländer stoßen nach Hamburg-Harburg vor. Göring, der nach Berchtesgaden geflüchtet ist, fragt in einem Telegramm an, ob er – nach eventueller Handlungsunfähigkeit Hitlers – die Führung übernehmen soll. Er wird abgesetzt und von der SS unter Hausarrest gehalten. Eine Witwe bietet im Tausch 20 Glas Bienenhonig gegen einen Sarg für ihren toten Mann. Die Franzosen dringen gegen Ulm vor. Die Amerikaner nehmen La Spezia. Die Sowjets erobern Pillau. In Berlin kommt unter den verängstigten und verzweifelten Frauen die Redensart auf: »Lieber einen Russen auf dem Bauch als eine Granate im Kopf.« Und der ›treue Heinrich‹ verhandelt hinter Hitlers Rücken zwecklos über einen Sonderfrieden mit den westlichen Alliierten. Zehn Tage hatte die Heeresgruppe C in Italien dem alliierten Ansturm standgehalten, aber am 19. April war sie auseinandergebrochen. Die Engländer und Amerikaner schafften den Durchbruch, auf den sie so lange hatten warten müssen. Sie nahmen Bologna und trieben die dezimierten, zum Teil aufgelösten deutschen Verbände zum Po zurück. Generaloberst Vietinghoff wollte die Kampflinie über den Fluß zurückverlegen, aber der in Berlin eingeschlossene Hitler -239-
erteilte den Befehl, keinen Meter weiter zurückzuweichen. An Führers Geburtstag hatte das IV. US-Korps die Straße nach Modena erreicht und überschritten. Bei Bondeno trafen die britischen und amerikanischen Stoßkeile zusammen und machten 25000 Gefangene. Der deutsche Gegenangriff wurde abgeschlagen. Es gab kein Halten mehr, aber noch immer versuchten Deutsche und Amerikaner durch die ›Operation Sunrise‹ das Schlimmste zu verhindern. Während der Stadtkommandant von Mailand den Italienern für den Fall eines Aufstands androht, die lombardische Metropole in ein Warscha u zu verwandeln, traf sich der SS-General Wolff in Ascona mit seinen Verhandlungspartnern. Man war sich einig und kam doch noch immer zu keinem Ergebnis, weil nicht Wolff, sondern der Oberkommandierende Vietinghoff für die Kapitulation zuständig war. Am 26. wird der KOB-Unteroffizier Michael Wamsler verwundet. Es ist nicht schlimm; ein paar Splitter im rechten Oberarm, ein Streifschuß am linken Oberschenkel. Er wird zum Hauptverbandsplatz zurückgeschafft und betreut. Ein paar Tage Schonzeit, dann wieder ab zur Front. Die Front kommt ihnen entgegen, und als wüßten die ItalienKrieger, daß in ihrem Abschnitt der Krieg ein paar Tage früher enden wird, übernehmen sie sich nicht mehr im Kampf. »Nun paß mal auf, Sportsfreund«, sagt der jüngste Wamsler zu dem Sanitäter, der ihn verbindet. »Ich möchte’ nach Hause, nach München. Verstehst du?« »Nach Hause möchten wir alle, aber bei mir ist’s Scheiße, Breslau ...« »Willst du dir hundert Zigaretten verdienen?« lockt Wamsler, »aktive?« »Wer will das nicht?« »Dann mach’ mir mal an meinem lädierten Bein einen schönen Gipsverband von oben bis unten, mit Gehbügel und -240-
allen Schikanen.« »Und was hast du davon?« fragt der Sani. »Hundert Zigaretten?« versichert er sich dann. »Du mußt nur daraufschreiben, daß der Gips erst sagen wir mal am 20. Mai abgenommen werden darf«, erklärt ihm Michael seinen Geistesblitz. »Kapiert? Stempel, Unterschrift, und ich geh’ auf die Walz.« Das Geschäft kommt zustande. Unter den Soldaten, die mit oder ohne Berechtigung sich in Richtung Heimat dahinschleppen, ist einer, um den sich keiner kümmert, der nicht erst beweisen muß, daß man mit einem komplizierten Beinbruch kampfunfähig ist. Michael Wamsler stützt sich auf einen Stock, zieht das Gipsbein nach; ab und zu findet er einen, der ihn ein Stück mit einem Wagen mitnimmt, Kleinvieh macht auch Mist. Daß der Krieg zu Ende geht, merkt das Schlitzohr, als er am Gardasee der Kolonne des Duce begegnet. Mussolini ist auf der Flucht von Salö in Richtung Mailand. Mit Hilfe des bauernschlauen, schafsgesichtigen Kardinals Ildefonso Schuster versucht er, zu einem Arrangement mit den Partisanen und womöglich auch mit den Alliierten zu kommen. Der Duce blitzt ab und zieht in Richtung Corner See: »Es ist mein Schicksal, das mich kreuzigt«, sagt er; er ist unschlüssig, ob er sich in die Schweiz durchschlagen, oder im Valtelina mit seinen Getreuen einigeln und bis zum letzten Schuß kämpfen soll. Die Entscheidung wird ihm schon dadurch abgenommen, daß er keine letzten Getreuen mehr hat. Als er am 27. in Dongo am Corner See mit seiner Geliebten Clara Petacci kommunistischen Partisanen in die Hände fällt, rühren weder die faschistischen Funktionäre noch die ihn begleitende SSKompanie eine Hand. Sie sehen zu, wie die Männer Mussolini und seine Geliebte abschleppen. Was ihnen am nächsten Tag bevorstehen wird, zeigt der kurze Prozeß, den die Partigiani an der niederen Mauer von Dongo mit den 16 Ministern und -241-
Faschistenführern machen: »In Reih’ und Glied aufgestellt, das Gesicht dem See zugewendet«, schildert Erich Kuby die Exekution, »bittet Kriegsheld Barracu, den Waffen entgegensehen zu dürfen, die ihn töten werden, dem Begehren wird nicht stattgegeben. Als Marcello Petacci, der zunächst für Mussolinis Sohn Vittorio gehalten worden ist, zu ihnen auf die Hafenbrüstung gestellt werden soll, brüllen sie: Den nicht mit uns, dieses Schwein! Aus den Straßen, die auf den Marktplatz münden, strömen die Bewohner von Dongo heraus, halten sich aber in großer Entfernung von der sich formierenden Schützenreihe. Einzurichtende, Achtung!‹ ›Exekutionskommando, Achtung! ‹ Totenstille über dem Platz. ›Exekutionskommando, durchladen! – Anlegen! Feuer!‹ Der Lärm der Schüsse hallt nur Sekunden über den Platz und den See. Dann herrscht wieder Stille, und während sich der bläuliche Rauch der Mündungsfeuer in der Luft auflöst, stürzen die Körper der getöteten aufeinander und nebeneinander zu Boden. Blut fließt über die Mauerstufe herab. Die Stille hält an, eine Stimme durchschneidet sie: ›Bringt den Petacci!‹ Oben am Fenster, im ersten Stock des kleinen Hotels, das am Rand des Marktplatzes liegt, stehen Marcellos Frau und Kinder. Er versucht, sich den Partisanen, die ihn heranführen, zu entreißen, es gelingt ihm, und er springt in den See. Beschreibungen, die ihn auf den See hinausschwimmen lassen, sind Fantasieprodukte. Er kommt nicht zwei Meter weit, dann geht er, von zahlreichen Schüssen getroffen, unter und wird herausgezogen.« Die Hölle heißt Berlin. Wer aus der Deckung geht, wird von Granaten erfaßt oder von Mauern erschlagen. Wer im Keller bleibt, wird erhängt oder erschossen. Wenigstens 6000 -242-
Menschen begehen in den letzten Tagen der russischen Belagerung Selbstmord. Es kommt zu den ersten Plünderungen. Neben Betrunkenen kauern Verdurstende. Der Wahnsinn treibt sie so weit, daß sie in den Wohnungen das rostige Wasser der Zentralheizung ablassen und gierig schlürfen. Das LVI. Panzerkorps wird zur Verteidigung Berlins herangezogen. Im ›Panzerbär‹, dem Notblatt, das unentwegt deutsche Siege verkündet, liest sich das gewichtig, aber der Haufen des Generalmajors Mummert verfügt noch über drei Fahrzeuge und wenige Panzer, und die Kampfstärke der Division ist auf etwa 100 Mann zusammengeschrumpft. Einer von ihnen ist Sepp Wamsler, der vielleicht gar nicht registriert, daß er seinen Tod schon ein halbes dutzendmal überlebt haben muß. Er ist erschöpft, aber er steht den Wahnwitz durch, weil seine Männer zu ihm aufsehen. Er hat nicht einmal Zeit, an zu Hause zu denken, und wenn seine Gedanken doch nach Oberbayern abgleiten, kommt sofort der nächste Feuerüberfall, und der Major ist den Russen dafür fast dankbar. Noch immer ergehen aus der Katakombe Hitlers wahnsinnige Befehle an Heinrici, Steiner und Wenck, aber die Heerführer denken nicht mehr daran, ihre Soldaten einem Verrückten zu opfern. Die 9. Armee versucht, in einer ungeheuren Gewaltanstrengung zur Armee Wenck südlich von Berlin zu gelangen und sich mit ihr dann in den Westen durchzuschlagen. Das gleiche beabsichtigten im Norden v. Manteuffel und Steiner. Hitler entsendet Keitel, der durch das Rückzugsgebiet irrt wie ein feldgrauer Ahasver. Auf der Straße zwischen Neustrelitz und Neubrandenburg stößt er auf den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel. »Was Sie betreiben«, brüllt Keitel, purpurrot im Gesicht, Heinrici an, »ist Gehorsamsverweigerung. Verrat am Führer, -243-
Feigheit! Sabotage! Sie hätten Tausende von Fahnenflüchtigen erschießen oder an den Bäumen aufhängen müssen«, schreit er weiter, während sich an ihnen pausenlos abgerissene Soldaten, desperate Zivilisten, Halbwüchsige, Fremdarbeiter, Infanteristen ohne Munition, Motorisierte ohne Fahrzeuge, vorbeischleppen. »Bitte, Herr Generalfeldmarschall«, erwidert Heinrici kalt, »fangen Sie an. Hier, erschießen Sie die Leute!« »Keitel blickte sich verwirrt um«, schreibt Jürgen Thorwald: »Dann trat er plötzlich den Rückzug an und fuhr davon. Alle, die den Auftritt miterlebt hatten, verharrten einen Augenblick in ratloserbittertem Schweigen. Dann fragten sie Heinrici, weshalb er Keitel nicht einfach verhaftet habe. Der schmale Mann sah über den Augenblick hinaus und fragte: »Wozu?« Einer fehlt plötzlich unter den Hofschranzen der Katakombe: der Mann von Eva Brauns Schwester Gretl, die im Mai ein Kind erwartete, SS-Obergruppenführer Hermann Fegelein. Einer der Satrapen weiß, daß der Verbindungsmann Himmlers im Führerhauptquartier in der Bleibtreustraße 4 eine Absteige hat. Der Verdacht, daß er nicht treu bleiben, sondern sich heimlich in Berlin aus dem Staub machen wird, mobilisiert Hitlers Greiftrupp. Sie findet Fegelein total betrunken im Bett einer Dame aus dem diplomatischen Milieu. Die Durchsuchung seines Fluchtgepäcks ergibt, daß er mit 105725 Mark, 3186 Schweizer Franken und einer Uhr flüchten wollte, die Eva Braun gehört und in München repariert werden sollte. Der Verhaftete wird in die Katakombe geschleppt und soll vernommen werden. »Ihr Arschlöcher!« fährt er wütend die Fahnder an. »Ich gehöre zu Himmler und ich sage nur vor Himmler aus.« Da er von Hitler zum gewöhnlichen SS-Mann degradiert wird, reißt sich Fegelein die Schulterstücke ab und wirft sie zu Boden. Er ist so betrunken, daß er beim Hinausgehen gestützt werden muß. Damit wäre für Hitler der Fall vielleicht erledigt gewesen, -244-
aber genau in dieser Situation enthüllt eine britische Nachrichtenagentur die Geheimverhandlungen Himmlers wegen eines Sonderfriedens. Jetzt will der Diktator ein Exempel statuieren: Fegelein – wegen seiner zahlreichen Affären in SSKreisen nur ›Vögelein‹ genannt - wird als Sündenbock für Himmler, der sich inzwischen aus Berlin abgesetzt hat, sterben müssen. Eva Braun verwendet sich nicht für ihn. Er wird im Ehrenhof der Reichskanzlei erschossen, wenige Stunden bevor Hitler sie heiratet. Das Leben im Bunker wird immer unerträglicher. Es kommt vor, daß sich die Hofschranzen nicht mehr erheben, wenn ihr Chef eintritt. Die meisten folgen jetzt mehr der Alkoholfahne als der Hakenkreuzflagge. Besonders Burgdorf und Krebs sprechen dem Alkohol reichlich zu und sind dann so erschlafft, daß sie nicht selten während der Lagebesprechung einschlafen. Ganz in der Nähe der Zitadelle tauchen jetzt neben weißen auch rote Fahnen auf, viele mit einem kreisrunden Loch in der Mitte, weil das schwarze Hakenkreuz auf weißem Grund herausgeschnitten werden mußte. Münchens Frühaufsteher erleben an diesem 28. April eine ungeheure Überraschung. »Achtung, Achtung«, meldet sich die nie gehörte Stimme des Hauptmanns Rupprecht Gerngroß, als sie das Radio einschalten, um angewidert die üblichen Propagandalügen über sich ergehen zu lassen. »Sie hören den Sender der Freiheits-Aktion Bayern! Sie hören unsere Sendungen auch über den Wellenbereich des Senders Laibach. Achtung, Achtung! Hier spricht die Freiheits-Aktion Bayern. Das Stichwort ›Fasanenjagd‹ ist durchgegeben. Arbeiter, schützt Eure Betriebe gegen Sabotage durch die Nazis! Sichert Arbeit und Brot für die Zukunft ... Verwehrt den Funktionären den Zugang zu Euren Anlagen. Beamte, Achtung, geht Eurem Dienst gewissenhaft nach. -245-
Achtung! Hier spricht der Sender der Freiheits-Aktion Bayern. Achtung, Achtung! Sie hören weiter unsere Sendungen.« Man hört die Sendungen sogar in Dänemark und Oberitalien. In Oberbayern treiben die Menschen einander aus den Betten. »Horch!« sagen sie und wittern die Freiheit, und sie begreifen, daß endlich Schlüssige diesen elenden Krieg beenden wollen. Dafür sind sie – fast – alle. Aber die, die dagegen sind, haben die Waffen und sitzen in der SS-Kaserne Freimann. Die Münchener strömen auf die Straßen. Am Marienplatz hissen sie eine weißblaue Fahne. Es kommt zu ersten Demonstrationen, zu verhaltenem Jubel, auch zu Drohungen gegenüber den Unverbesserlichen. In Dachau verliest Hauptmann Gerngroß, der Chef der DOLKO VII, weiter: »... hat die Bevölkerung die Barrikaden gegen die feindlichen Panzer niedergerissen. In den Kasernen sind zu allen Zeiten die Magazine geöffnet. Die Bevölkerung greift zu ihrem Eigentum und verschafft sich Bekleidung und Lebensmittel. Achtung, Achtung! Deutsche, sichert und schützt Eure Ernährung! Verhindert, daß durch ausländische Plünderer Eure Lebensmittelvorräte zerstört werden!« Die Münchener Goldfasane, die gejagt werden sollen, sind in den bombensicheren Bunker des Gauleiters im Zentralministerium an der Ludwigstraße geflüchtet; sie tragen nicht mehr die braune Parteiuniform, sondern das Grau des Volkssturms oder der Wehrmacht. Die Stimmung ist nervös, gereizt. Die Konturen der erhitzten Gesichter verlieren sich in dichten Rauchschwaden. Gauleiter Paul Giesler, auf dessen mächtigem Körper ein kleiner Kopf sitzt und der den Mann, der in Hitlers Testament als Innenminister vorgesehen war, wie einen neuzeitlichen Dinosaurier aussehen läßt, hat keine Verbindung mehr zu den Wehrmachtsstäben. Große Teile des Wachbataillons sind mit -246-
ihren Waffen einfach davongelaufen. Der Volkssturm leistet nur noch zögernd den Parteiaufrufen Folge. Giesler tobt und zürnt, aber hinter seinen starken Worten steckt das große Zittern. Die Vertreter des untergehenden Reiches tanken Mut aus der Flasche. Flemisch, Gieslers Adjutant, ist zu früher Morgenstunde schon sturzbetrunken, wie meistens. Gerdes, der Gauleiter-Stellvertreter, kauert in einer Ecke, brütet stumpfsinnig vor sich hin und schluchzt auf einmal wie ein Kind. Giesler gibt nach außen den Befehl, alle Träger von weißen Armbinden sofort standrechtlich zu erschießen. Sein Adjutant, der Trunkenbold, will alle Häuser, die die weiße Fahne hissen, von der Flak zusammenknallen lassen. Keiner weiß, ob einer dieser Befehle je weitergegeben, geschweige denn befolgt wird. »Achtung, Achtung! Es spricht der Sender der FreiheitsAktion Bayern. Beseitigt die Funktionäre der nationalsozialistischen Partei. Die FAB hat heute nacht die Regierungsgewalt erstritten. Reichsstatthalter Ritter von Epp befindet sich auf dem Gefechtsstand der FAB. Achtung, Achtung! Die Alliierten stehen vor den Toren unserer Sperren. Die Panzerspitzen stehen am Ufer des Ammersees. Achtung, Achtung! Der Feind ist weit über Augsburg in Richtung auf unsere Stadt vorgegangen. Holzhausen gestern vom Feind genommen. Achtung, Achtung! Die FAB hat das Joch der Nazis in München abgeschüttelt.« (Pause) Die Stoßtrupps des Hauptmanns Gerngroß sind ausgeschwärmt, um den Gauleiterbunker auszuheben, die Zeitungsredaktionen und Radiostationen zu besetzen und im Rathaus die Macht zu übernehmen. Der städtische Inspektor Scharrer gibt dem Anführer Ziegelmeier den Tip, daß Christian Weber im Haus ist, ein ehemaliger Pferdeknecht, jetzt Präsident vornehmer Reitervereinigungen, eines der übelsten Fettaugen auf der braunen Suppe. Zuerst will der korrupte Nutznießer fliehen, dann bietet er -247-
einen Scheck über 5000, dann über 10000 Reichsmark an, und dann einen dritten, in den Ziegelmeier die Summe einsetzen dürfte, so er wollte. Der beleibte Christian Weber wird abgeführt und mit vielen anderen aufgelesenen Nazis in Halbschuhen bei schlechtem Wetter auf Erding zugetrieben. Er macht schlapp, aber einer der Soldaten von den Neunzehnern fährt ihn an: »Aufschließen! Nur immer Kopf hoch und Brust raus, Christian.« Es macht den Bewachern Spaß, den Präsidenten beim Vornamen zu nennen. »... Und ein echter Giesinger«, so schildert Dieter Wagner, »gibt seinen Senf dazu: ›Schaug, daß d’ nachkommst, du Loas, du fette, hättst net so vui gfressn und gsoffn – glei laß i dir dei Fettn aus! Eahm schaug o! A schö’s Roß is er. Jetzt hot si’s austrabt! D’ Hosn hebt er sich a no in d’ Höh’, damit er net deckig werd, der feine Herr! Glei wer i di ei’nehma, vastehst (einnehmen war sein Leibspruch). Mir renna schon sechs Jahr so umanand, an uns is koa Bröckerl Fett mehr dro. Schaug, daß d’ füra kommst!‹ Weber wagte einen Einwand: ›I kann net so schnell gehn, weil i mi mit ’m Schnaufn so hart tu.‹ Die Antwort: ›Laß dir nur Zeit, bald hast ausgschnauft. ‹ Sie zogen weiter. In den Dörfern, durch die sie kamen, standen die Leute neugierig an der Straße. Als sie Weber sahen, frotzelten sie: ›Ja, Christian, was ist denn mit dir los? Ham’s di do endlich erwischt?‹ Die Fahrzeuge, die entgegenkamen oder den Zug überholen wollten, wurden angehalten und requiriert. Der Weg führte die Isarauen entlang nach Unterföhring, wo der Zug die Straße nach Erding erreichtem Hauptmann Gerngroß beginnt, sein Programm zu verlesen: 1. Ausrottung der Blutherrschaft des Nationalsozialismus. 2. Beseitigung des Militarismus. 3. Wiederherstellung des Friedens ...« Oberleutnant Anderl Bereiter, der Freund des Majors Sepp -248-
Wamsler, leitet von seinem Außenbüro aus die Koordination und erfährt so als erster, was geklappt hat und was schiefgegangen ist. Die Besetzung der Sendestationen und der Zeihingen ist gelungen, ebenso die Entfernung des Sprengmaterials in den Münchener Brücken. Der Gauleiterbunker müßte längst ausgehoben sein. Dr. Gerngroß ist zum betagten Reichsstatthalter von Bayern, General Ritter v. Epp, auf den Schornhof bei München gefahren. Sein Adjutant, Major Caracciola, steht schon lange auf Seite der Verschwörer. Von Epp, der das Kunststück fertigbringt, Nationalsozialist und gläubiger Katholik zugleich zu sein – er wird deshalb in der Münchener Gauleitung als ›MuttergottesGeneral‹ verspottet –, hat bei der Bevölkerung Rückhalt und soll als Aushängeschild für die FAB gewonnen werden. Im Übereifer schneidet Hauptmann Gerngroß mit dem Telefonkabel auch die Lichtleitungen durch, und im Stockwerk über der Fernsprechzentrale flucht einer: »Schweinerei, wer macht denn da das Licht aus?« Die Wache, beim Kartenspielen gestört, sitzt im Dunklen. Gerngroß und der Sonderführer Leiling wetzen nach draußen und geben ihrem Fahrer den Auftrag: »Du mußt mit der Wache fertig werden, wir gehen ins Herrenhaus.« Dann stehen sie vor Ritter v. Epp. Gerngroß ist kein Diplomat, aber sein Begleiter macht dem General den Vorschlag, nach Freising zu Major Braun, dem Kommandeur der Freisinger Panzerersatzabteilung, zu fahren. Halb freiwillig, halb gezwungen kommt v. Epp mit. Es sieht aus, als gelänge es Braun auf seiner Befehlsstelle in Heidhof, den alten Herrn auf die Seite der Aufständischen zu ziehen, aber dann hört v. Epp, daß der Militarismus abgeschafft werden soll, und dagegen ist er als Berufsmilitär. Die Nazis würden ihn in einem solchen Fall erschießen. Die Rebellen jedoch sind nicht bei ihnen in die Schule gegangen. -249-
Die Initialzündung ist geglückt. Tausende von Soldaten werfen die Waffen weg und gehen nach Hause. Örtliche Widerstandskreise, die zum Teil gar keine Verbindung zu Hauptmann Gerngroß gehabt hatten, schlagen zu: in Starnberg, in Grünwald, in Altötting. Am energischsten in Penzberg/Iffeldorf, wo der frühere sozialdemokratische Bürgermeister Hans Rummer mit politischen Freunden das Rathaus stürmt und seinen NS-Nachfolger Vonwerden absetzt – und entkommen läßt. In Iffeldorf will die Besitzerin auf dem Anna-Hof die weiße Fahne hissen. »Würde ich nicht tun«, rät ihr Postrat Wamsler. Aber er ist nun mal Beamter und nimmt es mit der Obrigkeit genau. Die Kusine unterläßt die sichtbare Kapitulation, und Josef Wamsler rettet ihr das Leben, am gleichen Tag, an dem er seines verlieren wird. Die Hauptstadt der Bewegung ist in freudige Bewegung geraten. Es kommt vereinzelt am Vormittag des 28. April auf den Straßen zu Freudentänzen. »Meine Generale haben mich verkauft und verraten«, sagt Adolf Hitler zu seinem Flugkapitän Hans Baur. »Meine Soldaten wollen nicht mehr, und ich kann nicht mehr.« Es ist die Begründung für seinen Selbstmord, für den umfangreiche Vorkehrungen getroffen werden. »Man müßte auf meinen Grabstein setzen: ›Er war das Opfer seiner Generale‹.« Er schreibt sein Testament, enthebt darin Göring und Himmler aller Ämter und stößt sie aus der Partei aus; er ernennt Dönitz zu seinem Nachfolger, dann bestellt er einen Standesbeamten, um Eva Braun zu heiraten. Nach dem Flugplatz Gatow haben die Sowjets auch Tempelhof erobert. Die Geschütze, die die Berliner vor den Russen schützen sollen, werden umgedreht und gegen die -250-
Bevölkerung eingesetzt. Das Schlimmste an den Sowjets ist ihre Unberechenbarkeit. Die Kampftruppen sind meistens korrekt, aber ihnen folgt die rote Pest. Die Russen streicheln Kinder und schänden deren Mütter. Sie stürmen ins Wohnzimmer mit »Frau komm’«, doch die couragierte Berlinerin bringt ihnen bei, wie man mit der Kindereisenbahn spielt! Sie machen stundenlang mit, ohne ihr ein Haar zu krümmen. Sie jagen eine Frau, und der vordere greift sie und sagt grinsend: »Mit 30 Soldaten du kaputt, mit mir du nicht kaputt.« Die Oberin Kunigunde im Haus Dahlem berichtet von einer Mutter dreier Kinder, die die Rotarmisten weggeschleppt und ihr eine Nacht lang Gewalt angetan haben. Sie kam in ihre Wohnung zurück, erhängte sich; ihre drei Kinder, ihr Bruder und ihre Mutter folgten ihrem Beispiel. Eine andere Gejagte wendet sich in ihrer Not an einen SowjetOffizier. Er mustert sie verächtlich und sagt: »Die Deutschen haben in Rußland viel Schlimmeres getan – es ist nichts als Rache.« Häßlichkeit wird für Frauen und Mädchen Mode und die gleichen Russen, die sie jagen, stellen in den eroberten Berliner Stadtteilen Feldküchen auf, um die deutsche Zivilbevölkerung nicht verhungern zu lassen. Mitten im Gefecht sagt ein russischer Panzerhauptmann zu Deutschen, die sich ihm ergeben: »Woyna, kapuut, Gitler kapuut ... Ihr gehen nach Hause zu Babuschka.« Ein unverdächtiger Zeuge, der amerikanische ArmeeGeistliche Francis Sameson, schildert, was sich beim Einmarsch der Russen in Neubrandenburg am 28. April abspielt: »Der deutsche Kommandant hatte sich erschossen, und die deutsche Garnison leistete keine Gegenwehr. Die russische Infanterie, die zu je fünfzehn oder zwanzig Mann auf den Tanks saß, machte den Eindruck von Wilden und schoß mit ihren Gewehren und Maschinenpistolen nach allen Seiten. Die meisten Infanteristen -251-
hatten asiatische Gesichter. Binnen einer Stunde war Neubrandenburg ein Meer von Flammen, das im Laufe der Nacht höher und höher hinaufschlug. Die Stadt brannte den ganzen folgenden Tag lang, und es blieb kaum ein Haus, das nicht bis auf den Grund ausbrannte ... Unser deutscher Lagerkommandant wurde auf einen Hügel geschleppt. Er wurde gezwungen, ein Loch zu graben, wurde erschossen und hineingeworfen. Fast alle Geräte, die wir bei den Russen sahen, stammten aus Amerika. Auch die russischen Flugzeuge, die herumflogen, waren Bell-Airacobras. Danach besuchte uns ein Kommissar und sagte uns unseren baldigen Transport zu den amerikanischen Truppen zu. Aber die russischen Soldaten erhielten täglich eine Ration Wodka und hatten auch noch deutschen Schnaps gefunden, so daß die meisten ständig betrunken waren. In diesem Zustand raubten einige von ihnen den Amerikanern ihre Wertgege nstände, vor allem die Armbanduhren, und zwangen sie, ihnen Latrinen zu graben ... Wenige Meter von unserem Lager entfernt, im Wald, stießen wir schon auf einen Anblick, den ich bis an das Ende meiner Tage nicht vergessen würde. Mehrere deutsche Mädchen waren hier geschändet und dann getötet worden. Einige hatte man an den Füßen aufgehängt und ihre Leiber aufgeschlitzt. Kameraden hatten mir vorher schon ähnliches berichtet, aber ich hatte es nicht glauben wollen. Wir hielten an und sprachen ein Gebet.« Daß am Nachmittag des 28. März, kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner, die Freiheitsaktion niedergeschlagen wird, ist schon daran ersichtlich, daß Gauleiter Giesler wieder seine Parteiuniform trägt. Seine Stimme dröhnt aus dem Lautsprecher: »Heute nacht gegen zwei Uhr versuchte eine Abteilung von Drückebergern, die sich leider noch Soldaten nennen und die einer Dolmetscher-Kompanie angehören, mich als den Gauleiter des Traditionsgaus München-Oberbayern festzunehmen. Sie bauten zu diesem Zweck zwei Maschinengewehre auf. Dabei -252-
wurden sie von einem meiner Volkssturmmänner angerufen, der eine Handgranate zwischen sie warf ...« Noch einmal kommt der braune Terror in die Stadt, die aufgeatmet hatte, zurück. Aus der Versenkung erscheint einer, der es vom Zahnarzt zum Henker im Generalsrang gebracht hat: Hübner, der Standrichter von Remagen. Mit SS-Trupps führt er den Gegenschlag an: Caracciola wird verhaftet und erschossen. Christian Weber läßt den Inspektor Scharrer festnehmen, Genickschuß. Hauptmann Gerngroß entkommt, aber der Major Braun aus Freising, so droht Giesler, soll gevierteilt der Bevölkerung am Münchener Marienplatz gezeigt werden. Er schickt seinen Stellvertreter Gerdes nach Freising, doch dieser tut, was der Gauleiter und auch Hübner am nächsten Tag tun werden: Er taucht unter. Oberleutnant Bereiter ist erledigt. Er kann nicht fliehen, seine Dienststelle ist bereits umstellt. Er legt die Walther 7,65 auf seine Schreibtischplatte. Bitter denkt er an die Worte des früheren italienischen Botschafters Bernardo Attolico: »Die Deutschen sind keine Verschwörer. Zum Verschwörer gehört alles, was sie nicht haben, Geduld, Menschenkenntnis, Psychologie, Takt. Nein, sie werden alle abgeschossen werden und in Lagern verschwinden: Gegen Gewaltregierungen, welche zur vollen Anwendung ihrer Gewaltmittel jederzeit bereit sind, gibt es keine Aufstände. Um gegen solche Verhältnisse anzukämpfen wie die hiesigen, braucht es eine Ausdauer, eine Verstellungsgabe, ein Geschick, wie es Talleyrand und Fouche besaßen. Wo finden Sie zw ischen Rosenheim und Eydtkuhnen einen Talleyrand?« Anderl Bereiter hört Hübners Häscher im Treppenhaus. Einen Major Sepp Wamsler hätte er gebraucht. Mit Einarmigen, Einäugigen und Einbeinigen läßt sich wenig Revolution machen. Der Oberleutnant überlegt, ob er noch zwei oder drei der Schergen auf die große Reise mitnehmen soll, aber er hat nur sieben Schuß – und Fanatiker gibt es noch so viele. -253-
Bereiter setzt die Pistole an die Schläfe. Als sie die Türe aufreißen, drückt er ab. Die Eltern des Hauptmann Gerngroß kommen, ebenso wie seine schwangere Schwägerin, in Sippenhaft. Gauleiter Giesler unterschreibt 150 Todesurteile im Schnellverfahren: Formblatt. Unterschrift. Er ist in Eile. Er muß schleunigst aus München weg. Diesmal wieder in Zivil. In Altötting sterben der Monsignore Adalbert Vogl und vier weitere Bürger. Noch schlimmer ist die Rache in Penzberg. Hier kommt die Werwolf-Gruppe Hans. Hans steht für Hans Zöberlein, einen Maurer, Altparteigenossen und BluboScribenten. Er führt ein Werwolf- Bataillon, das saufend und mordend eine Blutspur von den Vogesen bis München hinter sich herzieht. Zöberleins Hauptquartier ist in einem Gasthof in München-Großhadern. Er erhält von Giesler den Auftrag, in Penzberg die braune Ordnung wiederherzustellen. Als die Werwölfe dort ankommen, hat ein zehnköpfiges Exekutionskommando der Wehrmacht ohne Verfahren den Aufstandsführer Hans Rummer und sechs seiner Helfer bereits vor der Stadt erschossen. Aber am Abend sitzen Zöberlein, ein fliegender Standrichter namens Bauernfeind und der geflüchtete NS-Bürgermeister Vonwerden beieinander und beratschlagen, wer noch zu liquidieren sei. Schnaps macht großzügig: Sie setzen immer wieder einen neuen Namen auf ihre Proscriptionsliste. »Gegen 22 Uhr knüpften sie Franz Biersack und Gottlieb Behlolawek am Balkon des Hauses Reithofer neben dem Rathaus sowie Johann Summerdinger an einem Baum gegenüber auf«, schreibt Arno Rose. »Bäume in der Gustavstraße, beim Staltacherhof sowie in der Karlstraße dienten als weitere Galgen. Frau Agathe Fleißner ließ sich, obwohl sie gar nicht auf der Verhaftungsliste stand, freiwillig mit ihrem Mann festnehmen; sie starb wie er – am Strang. Ein -254-
Verhafteter kam, als der Strick riß, unverhofft in der Dunkelheit davon. Einem anderen, Franz Schwab, gelang die Flucht aus dem Rathaus, allerdings verwundeten ihn nachgesandte Schüsse schwer. Allen Getöteten war ein Schild ›SS-Werwolf Oberbayern‹ umgehängt worden. Als Wehrmachtoffiziere ihr Mißfallen an diesen Aktionen ausdrückten, entgegnete Zöberlein: »Die Wehrmacht erschießt, der Werwolf hängt.« Dem Postrat Wamsler macht sein marodes Herz zu schaffen. Er sucht nach der Mordnacht von Penzberg einen Internisten auf und geht durch einen Ort, der vom Entsetzen gelähmt ist. Die Ermordeten hängen zur Abschreckung noch an den Bäumen und schaukeln im Wind, die Männer, die Frauen. Anständige Bürger, von betrunkenen, unverbesserlichen Nazis denunziert. Es ist dem alten Wamsler, als hätte man ihn selbst erhängt. Einer der Burschen kommt aus dem Wirtshaus, 17 Jahre, lachend, angetrunken, stolz auf sein Wirken in der Mordnacht. Der Postrat, bei dem immer alles seine Ordnung haben muß, spürt eine Übelkeit, die von unten langsam hochsteigt. Er denkt an sein Bein, das er verloren, an die drei Söhne, die er an den Staat abgeben mußte, und an seine Tochter – damit solche Dinge geschehen können. Der Mann, der noch nie Gewalt angewendet hat, greift sich den Feixenden. Seine Hände nehmen seinen Hals in den Schraubstock. Die ganze Kraft und Verzweiflung, und der volle Haß seines Lebens, und die Not und die Tränen und die Angst und der Hunger und der Wahnsinn – es ist, als könnte er das alles erwürgen. Der alte Wamsler stürzt mit dem Jungen zu Boden. Der Junge steht auf, aber der Postrat erhebt sich nicht mehr. Er röchelt. Die Luft bleibt weg. Das Herz, denkt er noch, dann verdunkelt sich in seinen Pupillen die Welt, und er braucht nicht mehr die Gehängten zu sehen, die Frauen, die Männer. -255-
Hitler nimmt Abschied von seiner Chauffeureska; er übergibt seinen Sekretärinnen Zyankali und sagt, daß er bedauere, ihnen kein besseres Geschenk überreichen zu können. Nicht alle erhalten die Giftkapsel, und so ist sie eigentlich die letzte Auszeichnung, die der Führer verleiht. Schon am Vortag hatte der Zitadelle-Kommandant Mohnke Hitler mitgeteilt, daß er die Katakombe höchstens noch 24 Stunden halten könne. Am 30. April erfährt Hitler bei der Mittagsbesprechung, daß die Russen bereits am Potsdamer Platz und an der Weidendammer Brücke stehen. Er hat auch erfahren, daß Mussolini und seine Geliebte Clara Petacci von Partisanen gefangengenommen und erschossen worden waren und daß ihre Leichen mit den Köpfen nach unten wie Schlachtvieh an einer Mailänder Tankstelle aufgehängt wurden, wo der Mob sie mit Steinen bewarf und mit Fäusten traktierte. Die Guillotinenweiber des Aufstands der letzten Stunde verrichteten in des Duces zerschmettertem Gesicht ihre Notdurft. Hitler läßt seine Lieblingshündin ›Blondi‹ vergiften. Dann verabschiedet sich der Diktator von den anderen Insassen der Befehlskatakombe unter der Reichskanzlei ... »In der Kantine, wo Soldaten und Ordonnanzen ihre Mahlzeiten einnehmen, ist eine Tanzunterhaltung im Gange«, ermittelte in seinem Buch ›The last days of Hitler‹der britische Autor Hugh Redwald Trevor-Roper. Eine Botschaft aus dem Führerbunker befiehlt den Lärmenden, sich ruhiger zu verhalten, aber der Tanz auf dem Vulkan geht weiter. Am nächsten Tag zieht sich Hitler mit Eva Braun in seine Privaträume zurück. »Kurz darauf fällt ein einzelner Schuß. Hitler liegt auf dem Sofa, das mit Blut getränkt ist. Er hatte sich in den Mund geschossen. Auch Eva Braun liegt auf dem Sofa, ebenfalls tot. Ein Revolver liegt neben ihr, aber sie hat ihn nicht benützt. Sie hat Gift genommen. Es ist Montag, der 30. April 1945, 15.30 Uhr. -256-
Draußen, oberhalb der Privatgemächer des Führers, wird eine andere Zeremonie vorbereitet: das Wikingerbegräbnis. Nachdem er das Benzin in den Garten hat schaffen lassen, ist Kempka, Hitlers Chauffeur, durch den unterirdischen Gang, der sein Büro in der Hermann-Göring-Straße mit dem Reichskanzleigebäude verbindet, zum Bunker hinübergegangen. Er wird von Günsche, einem der Adjutanten Hitlers, mit den Worten begrüßt: ›Der Chef ist tot...‹« Der Sender Hamburg verbreitet am Abend des 1. Mai die Blitznachricht: »Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, daß unser Führer Adolf Hitler heute nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend für Deutschland gefallen ist.« Der in Hitlers Testament zum Reichskanzler ernannte Dr. Goebbels überlebt seinen Führer nur um 24 Stunden. Er läßt seine sechs Kinder vergiften und wankt mit seiner Frau, die kaum mehr aufrecht gehen kann, nach oben in den Garten der Reichskanzlei. Magda Goebbels nimmt die Zyankalikapsel; ihr Mann erschießt sich. Nach einer anderen Darstellung soll er einem Wachposten befohlen haben, ihn zu töten. Die hoffnungslose Schlacht tobt weiter. In der Zitadelle stellen sich drei Gruppen zu einem Ausbruch bereit. Einigen gelingt es, aus der Reichshauptstadt herauszukommen, die meisten fallen oder geraten in Gefangenschaft. Das LVI. Panzerkorps stellt eine Funkverbindung zu den Russen her. General Krebs verhandelt mit ihnen; sie bestehen auf bedingungsloser Kapitulation. Es verlängert das sinnlose Ringen um einen weiteren Tag. Dann unterschreibt General Weidling die Kapitulation. Lautsprecher verkünden seinen letzten Befehl: »... am 30. April hat der Führer uns, die wir ihm Treue geschworen hatten, im Stich gelassen ... Jede Stunde, die ihr weiterkämpft, -257-
verlängert die entsetzlichen Le iden der Zivilbevölkerung Berlins und unserer Verwundeten. Im Einvernehmen mit dem Oberkommando der sowjetischen Truppen fordere ich euch daher auf, sofort den Kampf einzustellen.« Die schaurige Inszenierung des Dr. Goebbels, die Götterdämmerung, wird zur Götzendämmerung. Der Weltuntergang findet nicht statt, nicht einmal in Berlin, wo mindestens 100000 Zivilisten und eine nicht erfaßbare Zahl von Soldaten gestorben sind. Während sich einzelne Verteidigungsinseln noch wehren, weil sie die Durchsage für eine Finte halten, dringen die Russen in die Katakombe ein. Sie stoßen nur noch auf Tote. Im Vorraum finden sie die Generale Krebs und Burgdorf; sie haben sich erschossen. Dann stehen sowjetische Militärärzte betroffen vor den friedlich in ihren Betten liegenden Goebbels-Kindern. Die 13jährige Helga, die Älteste, scheint sich gegen ihren Tod gewehrt zu haben; sie weist Kratzspuren am Hals auf. Die Division Müncheberg zieht in das letzte Gefecht. Der in den vergangenen Tagen dreimal verwundete General Mummert fällt beim Flugplatz Staaken. Schlußkampf an der Havelbrücke, die nach Spandau-West führt. Sie liegt unter schwerem Granatfeuer. Hinter dem Führungspanzer von Major Wamsler stauen sich die Heerscharen der Verzweiflung, die Flüchtlinge. Hunderte versuchen, dem Tiger-Panzer zu folgen. Feuernd rollt der Major auf die Brücke. Die ihm folgenden Zivilisten werden von MG-Garben reihenweise umgemäht, aber einige kommen durch. Die Kampfwagen rollen über Leichen weiter vorwärts. Die Brücke schwimmt im Blut. Der Führungspanzer erreicht die andere Seite, hinter ihm ein Sturmgeschütz, dahinter Flüchtlinge. Die Konturen der Kampfwagen werden von einem dicken Rauchvorhang verschluckt. Der Führungspanzer des Majors Wamsler bleibt bewegungslos liegen; seine Ketten wurden -258-
zerschossen. Der Tiger feuert die letzten Granaten wider die anstürmenden Russen. Dann steigt die Besatzung aus, wirft sich zur Erde, den Rauchvorhang als Deckung nutzend. Hier, an der Havel-Brücke werden der Offizier und seine Besatzung zum letztenmal von Augenzeugen gesehen; ihr Schicksal verliert sich in Qualm und Feuer. Sepp Wamsler gehört zu dem Millionenheer der Vermißten, auf die ihre Angehörigen warten werden – Monate und Jahre – und meistens vergeblich. Am 30. April hat die Rainbow-Division München genommen, praktisch kampflos. Die Franzosen sind in Friedrichshafen, die Engländer in Lauenburg an der Elbe. In Plön in SchleswigHolstein bildet Karl Dönitz eine Regierung der 23 Tage. Der Adressat Adolf Hitler ist bereits tot, als ihm sein Großadmiral telegrafiert: »Mein Führer! Meine Treue zu Ihnen wird unabdingbar sein.« Generaloberst Heinrici denkt nicht in Phrasen, sondern in Menschlichkeit. Nach einer 40jährigen makellosen Offizierskarriere auf der Schiene von Unterordnung und Gehorsam entschloß er sich vor Berlin zu einer Yorckschen Tat und handelt entgegen ausdrücklicher Order: »Ich weigere mich, solch selbstmörderische Befehle weiterhin auszuführen«, erklärt er seinen Offizieren. »Sie können in der Lage, in welcher sich die Heeresgruppe befindet, weder Hitler noch der Bevölkerung Berlins nutzen oder am Ausgang des Krieges etwas ändern. Ich bin es meinen Truppen schuldig, mich solchen Befehlen zu widersetzen, denn ich habe vor dem deutschen Volk und vor Gott die Verantwortung für meine Soldaten zu trage n.« Der General im schlichten Schaffellmantel rettet durch sein Verhalten mindestens hunderttausend seiner Soldaten das Leben. -259-
Die abgekämpfte, ausgeblutete 9. Armee des Generals Busse faßt wieder Mut und versucht in einer letzten Gewaltanstrengung zu den Auffangstellungen des Generals Wenck durchzustoßen, mit denen sie in Funkverbindung steht. Zuletzt schießt die 12. Armee Leuchtsignale ab. 40000 – von 200000 – Soldaten, begleitet von Strömen von Zivilisten, schaffen den Durchbruch. Sie kommen an »... so ausgepumpt, in einer so schrecklichen Verfassung, daß es sich kaum schildern läßt«, berichtet General Wenck. Aus der Kolonne tritt ein verhärmter, verdreckter Mann auf ihn zu. Erst als er vor ihm steht, erkennt ihn der Oberbefehlshaber der 12. Armee: Es ist General Busse. Die Amerikaner besetzen Turin. Tito, unmittelbar vor der 8. britischen Armee, Istrien, Görz und Triest. Die Truppen der Festung Alpenland lösen sich in Tausende von Soldaten auf, die auf eigene Faust nach Hause ziehen. Vom Brenner her strömen die Heimkehrer der Heeresgruppe C nach Norden, abgerissene, erschöpfte Soldaten mit glücklichen Gesichtern, weil sie sowohl dem Krieg wie der Gefangenschaft entkommen. Unter ihnen ist einer mit einem Gipsbein, Michael Wamsler. Er freut sich schon jetzt auf die Gesichter seiner Eltern, wenn er überraschend vor ihnen stehen wird; er humpelt unverdrossen voran – nach Iffeldorf ist es nicht so weit wie nach München. Am Donnerstag, dem 3. Mai, greifen englische Bomber zum letztenmal Kiel an. Montgomerys Truppen stehen vor Hamburg. Die Amerikaner nehmen Salzburg. Einen Tag später kommt es zu einer vorgezogenen Kapitulation in Holland, Nordwestdeutschland und Dänemark. Auch die Heeresgruppe G folgt in Oberbayern diesem Beispiel. Der Postrat wird mit den Opfern der Penzberger Mordnacht beerdigt; in gewisser Hinsicht gehört er ja auch zu ihnen. Barbara Wamsler, gestützt auf Stupsi und Eva, hält sich sehr -260-
tapfer. Sie ist nicht nur Witwe, sie ist auch Mutter. Ihre Söhne werden sie brauchen, wenn sie nach Hause kommen. Sie weiß, daß Florian in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten ist, und Wilma, deren Brief noch durchgekommen war, muß ein liebes Mädchen sein. Seit dem 2. Mai sind die Amerikaner in Penzberg. Der Werwolf hat sich wie ein Spuk aufgelöst; aber zurückgeblieben sind die Särge. Es werden Predigten gehalten und Reden. Nichts kann die Erschütterung ausdrücken, die über dem VoralpenStädtchen liegt. Hier, und auch anderswo, beginnt das Überleben mit furchtbarem Leid. Es wird inbrünstig gebetet. Und in dem Kirchenschiff liegt etwas von der Stimmung, die der Theologe Bernhard Weite so ausdrückt: »Und wir spürten ganz neu und mehr als alles die große dunkle Hand Gottes über uns und über unserer Welt.« Die Nazis entnazifizieren sich selbst. Schuldige beteuern ihre Unschuld; Unschuldige schweigen beschämt. Unterhalb des Führers handelten – nach Eigenbekundung – alle Gefolgsleute unter Zwang; schuld am Verhängnis des braunen Systems sind allenfalls tote Nationalsozialisten, keine lebenden. »Die Unschuld grassiert wie die Pest«, schreibt Erich Kästner in sein Tagebuch. Während im deutschen Süden und Westen ein starker Frühling einen schwächlichen Frieden einleitet, steigert sich die Hölle von Berlin in den letzten Horror. Im Katakomben-Lazarett unter der Reichskanzlei reißen die Sanitäter den Toten die durchbluteten und verdreckten Mullbinden ab, um damit die Lebenden zu versorgen. Bei der Flakbatterie des 17jährigen Dieter Borkowski werden ohne Begründung die russischen Hiwi-Kanoniere erschossen. Der Junge nimmt am 2. Mai 45 gegen 14 Uhr 30 auf Befehl an einem Ausbruchsversuch an der Buchholzer Straße teil: -261-
„Hinter uns marschierten SS-Offiziere mit hochgehaltener Maschinenpistole in unserem Rücken ...«, schreibt Borkowski: »Ein baumlanger Grenadier vom Regiment Großdeutschland (er trägt noch den Ärmelstreifen mit dem Namenszug) brüllt: ›Es lebe der Führer, es lebe Großdeutschland!‹. Seine Worte gehen im Donnern russischer Geschütze unter, er wird getroffen, gurgelt, während er zusammenbricht, Unverständliches. Ein höllisches Konzert beginnt, nachdem die Russen die Panzer haben durchfahren lassen, Maschinengewehre, Packanonen, berstende Einschläge, dazu die Schreie der Verwundeten und Sterbenden ... An der Stargarder Straße bilden SS-Offiziere zusammen mit braununiformierten Parteigenossen eine lose Kette, sie bedrohen die Zurückgehenden mit den Maschinenpistolen. ›Vorwärts, Kameraden, keine Angst vor dem bolschewistischen Gesindel! Großadmiral Dönitz kommt uns entgegen!‹ stottert ein betrunkener Offizier mit der SS-Rune auf dem Kragenspiegel. Keiner muckt auf, als ein Obergefreiter den SS-Offizier mit einem Pistolenschuß niederstreckt ...« Das letzte Kabel im Telegrafenamt kommt aus Tokio: »Viel Glück für Euch alle«, lautet der Text. Die Verteidiger wissen längst nicht mehr, wo die Russen genau stehen. Groteskerweise funktioniert das Telefonnetz selbst noch in den eroberten Stadtteilen. Mitten im Trommelfeuer kann man sich mit Bekannten unterhalten, wieweit die russische Drangsal geht. Frauen bekleiden sich, als wären sie keine Frauen; sie ziehen mehrere Hosen übereinander, machen sich unförmig, verkriechen sich auf Dachböden, in Kellerverschlägen, Baikonen und in Schränken. »Eine wehrte sich; der Russe haute ihr die Maschinenpistole auf den Kopf«, berichtet der Journalist Karl-Heinz Krüger als damals 15jähriger Augenzeuge: »Nebenan war eine Kirche. Ihre Glocken läuteten wild und blödsinnig die ganze Nacht. Am nächsten Morgen sah man deutsche Männer mit Schubkarren und Handwagen von der Kirche kommen: Ihre geschundenen -262-
Frauen lagen wie Knochenhaufen darauf. Das geschah vollkommen stumm.« Im Märchenwald der Ramsau werden Gauleiter Giesler, seine Frau und seine Schwiegermutter vergiftet aufgefunden. General Dönitz verbietet Werwolf- Aktionen. SS-Obergruppenführer Pfrützmann erschießt sich. Am 5. Mai fällt Innsbruck, am 6. ergibt sich Breslau den Russen. Am 7. Mai unterschreibt Keitel in Reims die Kapitulation; einen Tag später muß die Zeremonie auf Wunsch der Russen in Berlin wiederholt werden. In der Ostsee endet die Rettungsaktion der Kriegsmarine. Sie hat zuletzt insgesamt 2022702 Flüchtlinge und Verwundete nach Westen geschafft; 14300 Menschen sind dabei umgekommen. Am 7. Mai setzen die Überlebenden der 9. und 12. Armee im Raum Stendal über die Elbe. Die Amerikaner nehmen sie in Gefangenschaft, schicken aber die Zivilisten zurück und lösen dadurch Tragödien aus. Weiter nördlich entkommen die Soldaten der 3. Panzerarmee und die Kampfgruppe Steiner einer russischen Kriegsgefangenschaft. Auch die Engländer berufen sich auf Abmachungen mit den Sowjets, die eine Aufnahme von Flüchtlingen verbietet, aber sie sehen meistens weg, wenn die Verzweifelten über die Elbe kommen. Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner will die Kapitulation nicht annehmen und in der Tschechoslowakei weiterkämpfen. Kurze Zeit später setzt er sich im Trachtenanzug in einen Fieseler Storch und flüchtet als ranghöchster Deserteur der deutschen Wehrmacht in das bayerisch-österreichische Alpengebiet. Es nutzt ihm nichts, die Amerikaner liefern ihn an die Russen aus. Schörner nimmt wieder am Schicksal seiner 200000 Soldaten teil, die den Sowjets in die Hände gefallen sind. Am ersten Friedenstag stoppt der neue US-Präsident Harry S. Truman die Hilfslieferungen an die Sowjets; er versucht, die -263-
Fehler seines Vorgängers rückgängig zu machen. Nahtlos ist der Übergang vom Zweiten Weltkrieg in den Kalten Krieg. Der Wahnsinn geht zu Ende; die Wunden bluten weiter. Üppig sprießt das Grün aus der Trümmerlandschaft. Deutschland erlebt einen wunderschönen Frühling, und wie der Lenz strahlt Michael Wamsler bei seiner Ankunft in Iffeldorf. Heute noch will er den lästigen Gipsverband loswerden und dann mit beiden Beinen in eine nützliche Zukunft ziehen. Er steht vor dem Annahof, sieht seine Schwester bei der Gartenarbeit. Sie trägt schwarz. Michael schluckt. Stupsi dreht sich um, sieht den Bruder, kommt auf ihn zu. »Vater?« fragt Michael mit gewürgter Stimme. Sie nickt. »Komm«, sagt Stupsi und sieht nach oben, wo Mutter noch schläft. Sie gehen Hand in Hand auf den kleinen Dorffriedho f, wo der Postrat liegt. Auf den toten Blumen summen die Bienen. »Er hat viel Sonne«, sagt Michael. Auf einmal steht Mutter hinter ihnen, und sie fallen einander weinend in die Arme. »Ich bin undankbar«, sagt Barbara Wamsler: »Wir haben ein Lebenszeichen von Flori, Stupsi ist schon 14 Tage bei mir, und jetzt bist auch du da, Michael. Und Sepp«, sagt sie, »Sepp wird doch kommen.« »Ganz bestimmt, Mutter«, erwidert Michael mit abgewandtem Gesicht. Deutschland, Mai 1945: Einem erbarmungslosen Krieg folgt zögernd ein erbärmlicher Friede. Den Nachruf auf ein Völkermorden, das 55 Millionen Menschenleben gefordert hat, sprach der Dichter Gerhart Hauptmann: »Ich bin nahezu 83 Jahre alt und stehe mit einem Vermächtnis vor Gott, das leider machtlos ist und nur aus dem Herzen kommt. Es ist die Bitte, Gott möge die Menschen mehr lieben, -264-
läutern und klären zu ihrem Heil als bisher.« Am 6. August erfolgt ein schreckliches Amen: Die Atombombe von Hiroshima. Sie ist durch den raschen Vormarsch der Anglo-Amerikaner den Deutschen erspart geblieben.
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KALENDARIUM DES ZUSAMMENBRUCHS Dienstag, 6. März Die Anglo-Amerikaner durchbrechen den Westwall zwischen Aachen und der Pfalz und dringen gegen Köln vor. Beginn der letzten deutschen Offensive in Ungarn zur Sicherung von Ölquellen. Mittwoch, 7. März Eine Vorhut der 9. US-Armee erobert durch ein Versagen der Sprengung die unzerstörte Eisenbahnbrücke bei Remagen und bildet im ersten Anlauf einen Brückenkopf mit einem Durchmesser von drei Kilometern. Donnerstag, 8. März Die Amerikaner bringen 10000 Soldaten über den Rhein zu ihrem Brückenkopf auf dem Ostufer. Der von Hitler befohlene deutsche Gegenangriff muß verschoben werden, da keine Truppen zur Verfügung stehen. Bonn kapituliert. SS-Obergruppenführer Karl Wolff führt hinter dem Rücken Hitlers über Mittelsleute in Zürich Geheimverhandlungen mit dem US-Nachrichtendienst-Chef Allen Dulles mit dem Ziel einer vorgezogenen Kapitulation in Italien. Als Vorleistung entläßt Wolff Ferruccio Parri – den späteren Ministerpräsidenten Italiens – und einen weiteren PartisanenFührer heimlich aus der Haft. Freitag, 9. März Kesselring wird anstelle von v. Rundstedt Oberbefehlshaber im Westen. Samstag, 10. März Die Amerikaner haben bei Remagen bis jetzt 20000 Soldaten über den Rhein gebracht. Sonntag, 11. März Das fliegende Standgericht des Führers verhängt wegen der unzerstörten Brücke von Remagen Todesurteile gegen den Kampfkommandanten Scheller und vier weitere Offiziere. 1055 R. A.F.-Bomber werfen 4700 t Bomben -266-
auf Essen. Montag, 12. März Reichsführer-SS Himmler und sein Masseur Kersten vereinbaren, daß – entgegen Hitlers Befehl – beim Herannahen der Alliierten die Konzentrationslager nicht gesprengt und die Häftlinge nicht getötet werden. Tausend britische Flugzeuge werfen über 4851 t Bomben auf Dortmund. Dienstag, 13. März Sowjetischer Großangriff auf die 4. deutsche Armee in Ostpreußen. General Patton schließt mit der 3. US-Armee den Hunsrück ein. Mittwoch, 14. März Die neue polnische Regierung errichtet als Ersatz für das von den Sowjets abgetrennte Ost-Polen auf deutschem Boden die Wojwodschaften Masuren, Oberschlesien, Niederschlesien und Pommern. Donnerstag, 15. März Ribbentrop versucht über Schweden in Geheimverhandlungen zu den Anglo-Amerikanern zu kommen. Freitag, 16. März Die Amerikaner erreichen aus dem Brückenkopf Remagen die Autobahn Frankfurt-Köln. Beginn der sowjetischen Durchbruchs-Offensive in Ungarn. Samstag, 17. März Die beschädigte Brücke von Remagen stürzt wegen Überlastung ein. Die Amerikaner hatten bereits zuvor zwei Ponton-Übergänge errichtet. Die Festung Koblenz wird geräumt. Sonntag, 18. März Beginn der sechsten Kurland-Schlacht. Rüstungsminister Speer stellt in einer Denkschrift an Hitler fest, daß der Krieg nicht weitergeführt werden kann, weil die Rüstungsindustrie in spätestens vier bis acht Wochen zusammenbrechen wird. Montag, 19. März Hitlers Nero-Befehl: Verbrannte Erde in Deutschland! -267-
Dienstag, 20. März Die Heeresgruppe E räumt den Frontbogen Sarajewo. Tito startet Offensive in Dalmatien. Mittwoch, 21. März Die Amerikaner besetzen Worms. Donnerstag, 22. März General Patton überquert überraschend bei Oppenheim den Rhein und stößt auf minimalen deutschen Widerstand. Generaloberst Heinrici übernimmt anstelle Himmlers den Oberbefehl über die Heeresgruppe Weichsel. Freitag, 23. März Die Sowjets dividieren die 2. deutsche Armee des Generals v. Saucken zwischen Heia, Gotenhafen und Danzig in drei Teile auseinander. Samstag, 24. März Montgomery geht mit der 21. Heeresgruppe im Schutz einer 60 Kilometer langen Nebelwand nach stundenlangem Trommelfeuer bei Rees und Wesel über den Niederrhein. Zwei Luftlande-Divisionen mit 1700 Flugzeugen und 1300 Lastenseglern setzen im Rücken der deutschen Truppen 14000 Mann ab und erobern die Brücke über die Issel und die Stadt Dinslaken. Sonntag, 25. März Der britische Premierminister Churchill läßt sich begleitet von Montgomery und einigen US-Generälen von einem Infanterie-Landeboot auf das ›deutsche‹ Rheinufer übersetzen und ergeht sich dort ungestört. US-Truppen erreichen Ludwigshafen und Germersheim. Mit der Räumung des letzten deutschen Brückenkopfs bei Karlsruhe halten die Alliierten ganz Deutschland links des Rheins besetzt. 293000 deutsche Soldaten sind in Gefangenschaft geraten. General Montgomery erläßt für seine Soldaten ein Fraternisierungsverbot mit der deutschen Zivilbevölkerung. Der von den Amerikanern eingesetzte Bürgermeister von -268-
Aachen, Dr. Franz Oppenhoff, wird von einem WerwolfKommando ermordet. Montag, 26. März Die Anglo-Amerikaner haben zwölf Brücken über den Rhein geschlagen. Sie erobern Darmstadt, Hanau und Aschaffenburg. Die R.A.F. bombardiert irrtümlich Den Haag; 800 Menschen kommen um. Dienstag, 27. März Die letzte von 1050 V-Waffen detoniert in England. Die Anglo-Amerikaner erreichen den Dortmund- Ems-Kanal bei Holten. Mittwoch, 28. März General Eisenhower schlägt Stalin in einer Botschaft vor, bis Ende April die deutschen Truppen im Ruhrkessel zu zerschlagen und den Vormarsch auf der Linie Erfurt-Leipzig-Dresden fortzusetzen. Stalin ist damit einverstanden und nennt – bewußt falsch – die zweite MaiHälfte als sowjetischen Angriffstermin auf Berlin. Nach einer Auseinandersetzung mit Hitler wird Generalstabschef Guderian ›zur Wiederherstellung seiner Gesundheit‹ abberufen und – vertretungsweise durch General Hans Krebs ersetzt. Sowjetmarschall Tolbuchin marschiert in Österreich ein. Gedingen fällt. Goebbels startet eine hysterische Guerilla-Kampagne unter dem Motto: »Haß ist unser Gebot, Rache unser Feldgeschrei!« Donnerstag, 29. März Die Amerikaner nehmen Mannheim, Wiesbaden und Frankfurt a. Main. Freitag, 30. März Die Russen nehmen Danzig. Die Anglo-Amerikaner nehmen Emmerich und Bocholt. Samstag, 31. März Eisenhower befiehlt Montgomery, den geplanten Vorstoß nach Berlin zu unterlassen. US-Truppen erreichen den Raum von Kitzingen. -269-
Sonntag, 1. April Generalfeldmarschall Models Heeresgruppe B ist im Ruhrgebiet eingekesselt. Montag, 2. April Die Sowjets erobern das ungarische Ölgebiet. Dienstag, 3. April Reichsführer SS Himmler erläßt den Flaggenbefehl: Wenn in einem Haus die weiße Flagge gehißt wird, sind alle männlichen Bewohner unverzüglich zu erschießen. Die AngloAmerikaner erobern Münster. Mittwoch, 4. April Die Anglo-Amerikaner nehmen Kassel. Die Streitkräfte des freien Frankreich nehmen Karlsruhe. Die Sowjets nehmen Preßburg und Baden bei Wien. Donnerstag, 5. April Russischer Angriff auf Wien. Die deutschen Truppen räumen Sarajewo. US-Truppen erreichen Thüringen. Die letzten V-2-Waffen werden auf Ziele in Antwerpen, Brüssel und Lüttich abgeschossen. Freitag, 6. April Die Amerikaner erreichen Hamm. Bomber-Harris stellt fest, daß es für strategische Luftangriffe in Deutschland keine lohnenden Ziele mehr gibt. Samstag, 7. April Selbstmord-Einsatz der Rammjäger des ›Sonderkommandos Elbe‹ über dem Steinhuder Meer. Die deutschen Kamikazes vernichten durch Rammstoß 60 viermotorige Bomber vorwiegend durch Selbstaufopferung. Sonntag, 8. April Häuserkampf auf Wiener Bahnhöfen mit den eindringenden Sowjets. Montag, 9. April Königsberg kapituliert; der Verteidiger General Lasch wird deshalb in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Beginn der alliierten Generaloffensive von Meer zu Meer in Italien. Panzerdurchbruch zerteilt die durchgehende deutsche -270-
Abwehr. Dienstag, 10. April Essen und Hannover werden von den Amerikanern besetzt. Mittwoch, 11. April Würzburg fällt. Die 3. US-Armee befreit das KZ Buchenwald bei Weimar. Donnerstag, 12. April Der überraschende Tod Roosevelts führt in Hitlers Katakombe zu einem Freudentaumel. Freitag, 13. April Wien wird von den Sowjets erobert. Samstag, 14. April Die 9. US-Armee – Generalleutnant Simpson – und die 1. US-Armee – Generalleutnant Hodges – spalten den Ruhrkessel. Sonntag, 15. April Vernichtender britischer Luftangriff auf Potsdam. Schwere Zerstörungen, 5000 Tote. Montag, 16. April Beginn des sowjetischen Schlußangriffs auf Berlin: 2,5 Millionen Rotarmisten treten mit 51600 Geschützen, 6300 Panzern und 7496 Flugzeugen zum Sturm auf die Reichshauptstadt an. Hitler stellt in einem Aufruf an die Wehrmacht fest: »Berlin bleibt deutsch. Wien wird wieder deutsch! ...« Marokkanische Streitkräfte der französischen Armee beschießen das unversehrte Freudenstadt mit Brandgranaten. Das große Lazarett-Quartier im Schwarzwald steht in Flammen. Colonel Christian de Castries verbietet das Löschen und gibt seinen Moros Freudenstadt vier Tage lang zum Plündern frei: 660 Häuser brennen bis auf die Grundmauern nieder. Freudenstadt wird für die Eroberer zum Freudenhaus: 500 bei Vergewaltigungen verletzte Frauen und Mädchen müssen in ärztliche Behandlung. Dienstag, 17. April Generalfeldmarschall Model kapituliert im Ruhrkes sei; 325000 feldgraue Soldaten gehen in Gefangenschaft. Ein sowjetisches U-Boot torpediert die ›Goya‹. Von 6385 Menschen – vorwiegend Flüchtlingen – werden nur 165 gerettet. -271-
Mittwoch, 18. April Die Amerikaner nehmen Magdeburg. General Pattons Truppen überschreiten die tschechische Grenze. Donnerstag, 19. April Die Amerikaner erreichen Leipzig. Freitag, 20. April An seinem Geburtstag löst der 56jährige Hitler den ›Alarmfall Clausewitz‹ aus, der den Ausnahmezustand über Berlin verhängt. Das OKW-Hauptquartier in Zossen, südlich von Berlin, muß vor den heranstürmenden Russen geräumt werden. Die Nachrichtenzentrale fällt unversehrt in ihre Hände. Goebbels stellt in seinem Gratulationsaufruf fest: »Die perverse Koalition zwischen Plutokratie und Bolschewismus ist am zerbrechen ... Nicht die Unterwelt wird diesen Erdteil beherrschen, sondern Ordnung, Frieden und Wohlstand.« Die Amerikaner erreichen Nürnberg. Samstag, 21. April Die Sowjets nehmen Cottbus und dringen in Berliner Vororte ein. Sonntag, 22. April Die Franzosen besetzen Stuttgart und Konstanz. Montag, 23. April Die Engländer stoßen auf HamburgHarburg vor. In einer dramatischen Nachtsitzung entschließt sich Hitler, in Berlin zu bleiben. Göring wird abgesetzt und von der SS unter Hausarrest gehalten. Dienstag, 24. April Himmler bietet hinter dem Rücken Hitlers den West-Alliierten die Kapitulation an. Beim letzten großen Luftangriff des Zweiten Weltkriegs werfen 318 ›Lancaster‹ 1181 t Bomben auf Hitlers Berghof bei Berchtesgaden. Amerikaner und Franzosen marschieren in Ulm ein. In Italien nehmen die Anglo-Amerikaner La Spezia. Mittwoch, 25. April Die Sowjets erobern Pillau. -272-
Die Reste der deutschen Truppen ziehen sich über die Frische Nehrung nach Westen zurück. Die Halbinsel Hela kann sich bis Kriegsende halten. Die Sowjets schließen den Ring um Berlin und vereinigen sich mit den Amerikanern bei Torgau. Alliierte überschreiten den Po und besetzen Mantua, Reggio Emilia und Parma. Donnerstag, 26. April Die Sowjets nehmen Stettin und Brunn. Teile der 9. Armee des Generals Busse brechen aus dem Kessel bei Wendisch-Buchholz- Halbe aus und schlagen sich zur 12. Armee des Generals Wenck durch. Die Sowjets beginnen in Berlin mit dem Trommelfeuer auf den Regierungssitz und die Reichskanzlei. Verona und Genua fallen. Hitler läßt SS-Gruppenführer Hermann Fegelein- den Verbindungsmann zu Himmler und Schwager Eva Brauns – wegen Fahnenflucht erschießen. Freitag, 27. April Die Sowjets erobern die Flugplätze Tempelhof und Gatow und unterbinden weitere Versorgung aus der Luft. Wien bildet eine provisorische österreichische Regierung. Unter Führung des Hauptmanns Gerngroß versucht die ›Freiheitsaktion Bayern‹ (FAB) den Krieg in München und Oberbayern zu beenden. Angehörige der Dolmetscherkompanie besetzen das Rathaus, den Sender und Zeitungsredaktionen und erlassen einen Aufruf. Tausende Soldaten werfen die Waffen weg. Gauleiter Paul Giesler schlägt mit letzten Kräften den Aufstand nieder. General Hübner, der Standrichter von Remagen, veranstaltet in letzter Stunde ein Blutbad. Samstag, 28. April Admiral Voss telegrafiert aus dem Führerhauptquartier: »Wir halten bis zum Letzten.« Die Entsetzung Berlins scheitert endgültig. Die 7. US-Armee -273-
erreicht Augsburg. Partisanen stellen Mussolini in Dongo am Corner See. Generaloberst v. Vietinghoff unterzeichnet im alliierten Hauptquartier von Casserta einen vorzeitigen Waffenstillstand, gültig ab 2. Mai. Sonntag, 29. April Kapitulation der Heeresgruppe C in Italien. Mussolini und seine Geliebte, Clara Petacci, werden von kommunistischen Partisanen erschossen, die nackten Leichen vor johlendem Pöbel an einer Tankstelle in Mailand mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Die Amerikaner nehmen München. Die Franzosen nehmen Friedrichshafen. Die Engländer nehmen Lauenburg an der Elbe. Funkspruch an Großadmiral Dönitz: »Der Führer lebt und leitet Abwehr Berlins.« Montag, 30. April Selbstmord Hitlers und Eva Brauns in der Katakombe. Dienstag, 1. Mai In Plön bildet Großadmiral Dönitz die letzte Reichsregierung der 23 Tage. Josef und Magda Goebbels begehen nach der Tötung ihrer sechs Kinder Selbstmord. Tito besetzt Triest, Görz und Istrien vor der 8. britischen Armee. Die Amerikaner nehmen Turin. Sender Hamburg meldet, daß Hitler ›bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend‹ gefallen ist. Mittwoch, 2. Mai Berlin kapituliert. Die Sowjets dringen in Rostock ein. Donnerstag, 3. Mai Letzter R.A.F.-Angriff auf Kiel. Die Engländer sind in Hamburg. Die Amerikaner sind in Salzburg. Freitag, 4. Mai Vorgezogene Kapitulation in Holland, Nordwest-Deutschland und Dänemark und Kapitulation der -274-
Heeresgruppe G in Oberbayern. Samstag, 5. Mai Die Amerikaner an der Elbe erklären sich bereit, Soldaten in Gefangenschaft zu nehmen, weisen aber unter Berufung auf die Abmachung mit den Russen die Zivilflüchtlinge zurück. Die Engländer weiter nördlich nehmen die gleiche Haltung ein, handhaben sie aber großzügiger: Trotz Verbot werden noch Tausende von Zivilisten auf das rettende Ufer geschmuggelt. Sonntag, 6. Mai Breslau ergibt sich den Russen. Montag, 7. Mai Generalfeldmarschall Keitel unterschreibt – im Auftrag von Großadmiral Dönitz – die bedingungslose Kapitulation in Reims – mit Wirkung vom 9. Mai. Dienstag, 8. Mai Die Rettungsaktion über die Ostsee ist zu Ende. Die Kriegsmarine hat 2022702 Flüchtlinge und Verwundete nach Westen geschafft. 14300 Menschen sind bei den Seetransporten umgekommen. Generalfeldmarschall Keitel unterschreibt in Berlin für die Russen zum zweiten Mal die bedingungslose Kapitulation.
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QUELLENNACHWEIS HANS VON AHLFEN : Der Kampf um Schlesien 1944/1945. Motorbuchverlag Stuttgart MARK ARNOLDFORSTER: Die Welt im Krieg. Edition Sven Erik Bergh UWE BAHNSEN, JAMES P. O'DONNELL: Die Katakombe. Bastei-Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach WILL BERTHOLD: Die 42 Attentate auf Adolf Hitler. Goldmann-Verlag München WILL BERTHOLD: Inferno I, II + III. Goldmann-Verlag München GERHARD BOLDT: Hitler – Die letzten zehn Tage in der Reichskanzlei, ›Der authentische Bericht‹. Wilhelm Heyne Verlag, München DIETER BORKOWSKI: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen. Fischer Verlag, Frankfurt RAYMOND CARTIER: Der Zweite Weltkrieg. Piper-Verlag, München HELLMUTH GÜNTHER DARMS: Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Herbig- Verlag, München ADOLF GALLAND: Die Ersten und die Letzten. Wilhelm Heyne Verlag, München LIDDELL HART: Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Fourier Verlag, Wiesbaden HELMUT HEIBER: Goebbels’ Reden 1939-1945, Band 2. Wilhelm Heyne Verlag, München ANDREAS HILLGRUBER, GERHARD HÜMMELCHEN: Chronik des Zweiten Weltkrieges. Athenä um/Droste Verlag HEINZ HÖHNE: Der Orden unter dem Totenkopf- die Geschichte der SS. C. Bertelsmann Verlag, München -276-
DAVID IRVING: Rommel. Wilhelm Heyne Verlag, München ERICH KÄSTNER: Notabene 45. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt EGBERT KIESER: Danziger Bucht 1945. Wilhelm Heyne Verlag, München ERICH KUBY: Die Russen in Berlin 1945. Moewig- Verlag, Rastatt ERICH KUBY: Verrat auf deutsch. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg FRANZ KUROWSKI: Der Luftkrieg über Deutschland. Wilhelm Heyne Verlag, München FRANZ KUROWSKI: Die Schlacht um Deutschland. Wilhelm Heyne Verlag, München F. W. VON MELLENTHIN : Deutschlands Generale des Zweiten Weltkriegs. Bastei-Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach HERBERT MICHAELIS: Der Zweite Weltkrieg. VMAVerlag, Wiesbaden WOLFGANG PAUL: Der Endkampf um Deutschland. Wilhelm Heyne Verlag, München JANUSZ PIEKALKIEWICZ: Luftkrieg 1939-1945. SüdwestVerlag, München HANS RAUSCHNING (Hrsg.): Das Jahr ’45 in Dichtung und Bericht. Wilhelm Heyne Verlag, München ARNO ROSE: Radikaler Luftkampf. Motorbuchverlag, Stuttgart ARNO ROSE: Werwolf. Motorbuchverlag, Stuttgart CORNELIUS RYAN: Der letzte Kampf. Verlag Buch und Welt, Klagenfurt BRADLEY F. SMITH/ELENE AGAROSSI: Unternehmen Sonnenaufgang. Ullstein-Verlag, Berlin LEO SILLNER: Als alles in Scherben fiel. Süddeutscher -277-
Verlag, München ALBERT SPEER: Erinnerungen. Propyläen Verlag, Berlin FABIAN VON SCHLABRENDORFF: Begegnungen in fünf Jahrzehnten. Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen PERCY ERNST SCHRAMM: Die Niederlage 1945. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München P. W. STAHL: ›Geheimgeschwader‹ KG 200. Motorbuchverlag, Stuttgart MARLIS G. STEINERT: Die 23 Tage der Regierung Dönitz. Wilhelm Heyne Verlag, München JÜRGEN THORWALD: Die große Flucht. Droemer-Verlag, München JOHN TOLAND: Das Finale. Bastei-Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach TOLIVER/CONSTABLE: Holt Hartmann vom Himmel! Motorbuchverlag, Stuttgart HUGH REDWALD TREVOR-ROPER: The last days of Hitler. Mac Millan Press, London DIETER WAGNER: München 45 zwischen Ende und Anfang. Süddeutscher Verlag, München EARL F. ZIEMKE: Die Schlacht um Berlin. Moewig- Verlag, Rastatt
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