KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
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LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HANS
HEFTE
STEEN
RETTUNGSTATEN UND RUH...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HANS
HEFTE
STEEN
RETTUNGSTATEN UND RUHM DER „HUNDE GOTTES"
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ö N C H E N . I N N S B R U C K • BASEL
Sturmumtost, vom Nebel umzogen, erhebt sich auf der Paßhöhe des Großen Sankt Bernhard das einsame Gebäude eines Hospizes, das Bernhard von Aosta um das Jahr 1000 zum Schutze der Alpenreisenden und Rompilger erbaut hat. Seit dieser Zeit leben dort oben in der Bergivelt einige ivenige Mönche. Niemand kann mit Gewißheit sagen, wann sie sich die berühmten Bernhardinerhunde zu Freunden und Gefährten gemacht haben. Geheimnisumivittert treiben die Bernhardiner im Klosterbereich und in der Welt der Lawinen und des eivigen Schnees in fast zweieinhalbtausend Meter Höhe ihr Wesen, und noch heute sind sie die berühmtesten Hunde der Welt. Der Verfasser, der das Leben und die Geschichte dieser Hunde an Ort und Stelle studierte, fand am Großen SanUt Bernhard die Nachkommen jenes Barry, dessen Taten vor 150 Jahren in der ganzen Welt Aufsehen erregt haben. Barry ist nur einer aus der großen Zahl der vierbeinigen Lebensretter, die in der Chronik des Hospizes verzeichnet sind. Wenn auf den folgenden Lesebogenseiten von ihm und seinen Gefährten erzählt ivird, so mögen sie stellvertretend stehen für die große Zahl der treuen Helfer in Bergnot, die am Sankt Bernhard tätig waren — der „Hundes Gottes", wie man sie auch genannt hat.
Im Grab des weißen Todes Im Gasthaus „Zur Tausendsten Meile" sitzt an einem Maimorgen des Jahres 1800 General Napoleon, der Erste Konsul der französischen Republik. Der General ist mit einem gewaltigen Aufgebot an Truppen und Kriegsmaterial auf dem Weg zum Großen Sankt Bernhard. Mißmutig hat der Wirt, Nicolas AnselmeMoret, den erbetenen Imbiß vor dem Gast auf den Holztisch gesetzt. Mißmutig stehen Murat und Duroc, die Vertrauten Napoleons, um ihren Chef. „Es ist völlig unmöglich, um diese Jahreszeit den Paß zu bezwingen", meint einer der Generäle. „Unsere Korps liegen jetzt zwischen Martigny und der ,Cantine de Proz' fest. Wir sind in einem Höllental wie festgeklemmt. Das scharfe Geröll zerreißt den Soldaten die Schuhe. Wie wollen Sie 40 000 Mann, 5000 Pferde, 50 Geschütze und acht Mörser durch den Schnee über die Höhe führen?" „Meine Herren", erwidert Napoleon gelassen, „kennen Sie den Namen dieses Hauses? Es heißt Zur Tausendsten Meile? Der römische Kaiser Konstantin hat hier diesen Meilenstein gesetzt. Seit tausend Jahren überschreitet man den Paß zu jeder Jahreszeit. In 2
Italien bereiten die Österreicher einen Einfall nach Frankreich vor. Wir haben vierzehn Tage Zeit, ihnen in den Rücken zu fallen. Davon stehen Ihnen zehn Tage zur Verfügung, um die Korps über den Großen Sankt Bernhard zu bringen. Wie, das ist Ihre Sache. Ich selbst reite um zwei Uhr mittags los. Besorgen Sie sich Maultiere, besorgen Sie sich, was Sie für richtig halten! Mein Plan steht fest." Als der Korse eine Stunde nach der Unterredung langsam im Schritt jene Straße hinaufreitet, über die vor tausend Jahren römische Legionen marschiert sind, findet er am Rande der schmalen Fahrbahn biwakierend seine Truppen. Vor ihm ragt im Glanz der Frühlingssonne die Bergwelt auf, die ihm den Weg ins Aosta-Tal versperrt. Die Spitzen der Giganten aus Stein liegen tief unter der weißen Schneedecke, die das ganze Jahr nicht schmilzt. Vier Meter, so haben die ersten Meldereiter erkundet, liegen noch auf dem Paß! Kann man ihn bezwingen? — das ist "die Frage, die Offiziere und Mannschaften bewegt. Aber der Erste Konsul hat den Befehl zum Aufbruch gegeben, wer wollte ihm widersprechen! Die Kanoniere haben die wenigen Geschütze auseinandergenommen. Ein Mann rollt ein Rad, ein zweiter zerrt die Lafette hinter sich her. Je ein Kanonier hat das Kommando über dreißig Kameraden, die in ausgehöhlten Baumstämmen wie in Kähnen die Geschützrohre durch den Schnee schleifen. Meter für Meter rückt die dunkle schmale Schlange die Kehren des Passes hinauf. Die ausgemergelten Körper, die seit Tagen von trockenem Zwieback genährt werden, schwanken krumm und gebückt in die eisige Höhe, wo jetzt graue Wolken heranziehen und den Gipfel des Sankt Bernhard umhüllen. Der Weg wird zu einer einzigen Eisfläche. Die vorwärtsschreitenden Infantristen sehen zu ihrer Linken bald nur noch milchigen Nebel, der die gähnende Tiefe verbirgt. Wer vom Weg abirrt, der gleitet in die düsteren Schrunde. Sein Rufen verhallt in der weißen Einöde. Niemand wird sich um ihn kümmern können, denn jeder hat mit sich selbst genügend zu tun. Schon läuft man auf zerschlissenen Sohlen, durch die der Schnee an die Haut dringt. Als zwanzig Kanoniere des zweiten Korps bei einer Kehre der Straße mit ihrem Geschützrohr einem Wagen ausweichen wollen, rutscht plötzlich der Baumstamm mit der Last auf einem Schneebrett fort. Ehe General Chamberlhac einen warnenden Befehl hervorstoßen kann, zieht die abwärtsrutschende Kanone mehr als zehn der Soldaten mit sich, da sie sich die Taue um die froststarren Hände gewickelt haben. Lautlos verschwinden sie in der weißen Tiefe. Die Kameraden starren hinunter in die verhängnisvolle Schlucht. Nie3
mand kann jetzt versuchen, den Abgeglittenen Rettung zu bringen. Die Kräfte reichen nicht mehr aus. Langsam kriecht die dunkle Schlange weiter. Den Rockkragen hochgeschlagen, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, so marschiert man Schritt für Schritt die Paßstraße entlang. Der General ist einen Augenblick vor dem Abgrund stehengeblieben, in dem eines seiner kostbaren Geschütze versunken ist; dann ist auch er der Truppe gefolgt. Fast sind zwei Stunden vergangen, als General Chamberlhac das flache Dach des Hospizes in der Paß-Senke vor sich sieht. Seine Soldaten werfen sich — oben angekommmen — neben die rasch aufflammenden Lagerfeuer. Für je zwölf Mann gibt es einen Liter Wein und ein einziges Pfund hartes Brot. Drinnen im Hospiz brennt im großen Saal ein helles Kaminfeuer, doch der General beachtet es nicht. Er hat auf dem Weg bis zum Paß wenigstens hundert Mann verloren. Hundert Mann sind zu ersetzen, aber die verlorenen Geschütze gibt ihm niemand wieder. Man hat sie von Genf her die Straßen hinaufgezogen, nun sind sie in der weißen Unendlichkeit, im grauen Nebel verloren. Als der Erste Konsul eine Stunde später am Hospiz eintrifft, hat er nur wenig Sinn für die Klagen seiner Soldaten. Ernst verneigt sich der Prior Ludwig Luder vor dem fremden Heerführer. Hinter ihm stehen zwei Mönche in ihrer schwarzen Tracht. „Leben Sie drei hier allein im Winter?" erkundigt sich der Korse, während er die nassen Stiefel am Kamin von den Füßen streift. „Oh nein", erwidert der Prior, „wir sind fast zwanzig Brüder, die sich bemühen, jahrüber den Reisenden beizustehen." „Und wo sind sie nun — jetzt da meine Soldaten im Schnee versinken?" „Eine Gruppe meiner Mitbrüder ist bereits unterwegs mit den Hunden, mon general", entgegnete der Priester. „Es ist wahrlich kein Wetter, einen Hund ins Freie zu jagen . . ." „Unsere Hunde lieben dieses Wetter. Schon vor zwei Stunden sind die Brüder mit ihnen aufgebrochen. Die ersten Ihrer Soldaten haben uns gemeldet, daß bei der Alm La Pierre zahlreiche Soldaten in den Abgrund gestürzt sind." „Besteht eine Hoffnung für sie?" fragt der General gespannt. „Unsere Hunde kennen jeden Fußbreit Boden hier", erklärt der Prior, „wenn Barry nicht die Vermißten findet, so findet sie niemand von uns, er ist unser bester Hund seit anderthalb Jahren." Draußen im eisigen Nebel der Bergwelt heult der Schneewind an den weißen Hängen des Mont Telliers. Vereinsamt ist jetzt die schmale Straße, auf der noch vor gut einer Stunde die frierenden 4
Korps aufwärts keuchten. Die verunglückten Kanoniere sind Savoyarden aus der Gegend von Annecy und Chambeery. Hagere kurz gewachsene wachsgelbe Burschen. Sie kennen die Berge, sie kennen den weißen Tod. Oft genug haben sie selbst in den Bergen ihrer Heimat Wanderer erfroren aufgefunden, wenn im Frühling der Schnee abtaute.
* „Man wird uns finden", flüstert ein junger Bursche, den der Husten quält, „man wird uns finden. Aber darüber wird eine gute Zeit vergehen. Dann sind wir hart gefroren wie ein Brett, und unser Geschütz braucht nicht mehr in Italien zu feuern. Mon dieu, mon dieu, wären wir doch daheim geblieben . . ." Niemand von den zehn todgeweihten Männern sagt etwas dagegen. Wozu noch sprechen, wenn die Beine bis zu den Knien gefühllos werden, wenn die hohlen Wangen kalt wie Eis sind und auf den Augenbrauen der eisige Reif sitzt. Kein Laut ist zu hören. Nur das feine Summen der fallenden Schneeflocken, die über das Eis gleiten, ehe sie sich um die langsam erstarrenden Körper der Menschen legen. Der Tod deckt sein weißes Tuch mitleidig über diese Menschen, die zueinander kriechen wie hilflose Tiere. „Da! Habt Ihr gehört? Hundegebell!" — einer der Soldaten richtet sich auf. „Hunde hier im Schnee? Du träumst! Laß mich schlafen!" murmelt ein Kamerad. „Doch es war ein Hund, ich hörte das Bellen. Weit von hierl Der Wind hat es hergetragen. Wir sollten ihm entgegengehen. Los, steht auf! Hier dürfen wir nicht bleiben. Wo Hunde sind, da sind auch Menschen!" Drei Soldaten reißen sich hoch. Sie stehen wie graue Schatten in der weißen Einöde. Langsam, Schritt für Schritt, stapfen sie durch den Schnee, der ihnen bis an die Rockschöße geht. Sie lassen Kameraden zurück, die nur noch als ein dunkler Hügel zu erkennen sind. Langsam, Schritt für Schritt. .. Schritt für Schritt. .. Als der an der Spitze gehende kleine Savoyarde aufschreit, heben die beiden anderen schlaftrunken die Köpfe: Da vorn, sie haben es für einen Augenblick ganz deutlich gesehen, hat sich ein großes Tier bewegt. Es stand für eine Sekunde auf einer mächtig geschwungenen Schneewehe, dann war es verschwunden. „Ein Bär", ruft einer der Männer. „Ein Bär, und wir haben unsere Gewehre nicht mehr. Wir sind verloren .. ." „Das war kein Bär", ruft der Mann vorne, „muß ein großer Hund sein! Bären bellen nicht!" 5
Plötzlich wühlt sich seitwärts von den Soldaten ein fast rundes, kugeliges, schneebedecktes Wesen den Hang herab. Der Schnee staubt auf. Jetzt hören die Drei ein dumpfes, heiseres Jaulen. Zwei weitere Knäuel wälzen sich schnaufend durch den watteweichen Schnee. Sie springen durch die weißen Massen, ihre buschigen Schwänze schlagen hin und her. Große dunkle Augen sehen aus dem vereisten Fell. Die Hunde scheinen sich auf die einsamen Wanderer stürzen zu wollen. Sie reißen die vordersten Soldaten zu Boden. Woher kommen die Tiere? Was tragen sie am Halsband? Man erkennt einen hölzernen Klumpen, der hin und her pendelt. Die Tiere umbellen die Soldaten. Sie wühlen sich durch den fast mannshohen Schnee. Immer lauter klingt ihre Stimme. „Sie haben ein Fäßchen am Hals, Gaston", ruft einer der Männer, „sie haben etwas für uns zu trinken!*' Es ist, als ob die Hunde darauf gewartet hätten, daß man ihre Last am Halsband entdecke. Sie sind plötzlich aus ihrem Freudentanz aufgeschreckt und lassen den Soldaten Zeit, die kleinen Holzfässer vom Halsband abzuschnallen. Ein kleiner Zapfen läßt sich unschwer herausdrehen, und der Branntwein aus den Fäßchen rinnt wie Feuer in die Kehlen der Männer, die plötzlich wieder Blut in ihren Adern fühlen. Mon dieu, man ist ja noch nicht verloren. Man hat plötzlich Kameraden gefunden. Diese drei Hunde, die mit hängender Zunge neben ihnen stehen und mit ihren vereisten Lefzen zu lachen scheinen, sind vielleicht ihre Retter! Und dort hinten tauchen bereits zwei dunkle hohe Schatten auf. Es sind Menschen! Sicher die Herren dieser Hunde! „Barry, hierher!" tönt ein lauter Ruf, den der Schnee nicht mehr verschlucken kann. Zwei Männer in schwarzen Kutten stehen vor den drei Kanonieren. „Seid ihr allein?" ist die erste Frage. Oh nein, man hat sieben Kameraden zurückgelassen. Nur ein paar hundert Schritt mögen es bis dorthin sein, wo sie sich hingelegt haben. Die Mönche schicken ihre Hunde los. „Barry such! Barry such!" Und der Hund, stürzt sich mit dem Eifer eines Berserkers in die weiße Unendlichkeit. Der Schnee sitzt ihm wie ein Wattepolster über dem Rücken. Er heult, er keucht, er jafft und springt, als gelte es, einen besonderen Leckerbissen von seinem Herrn zu erwischen. Plötzlich verharrt das Tier bei einem kleinen Hügel. Die stumpfe, schwarze Schnauze bohrt sich in den Schnee. Die weißen großen Flocken wirbeln nach hinten. Der Hund 6
gräbt sich ein, man sieht nur noch seinen wild wedelnden Schweif und die scharrenden Hinterläufe. Die beiden Mönche eilen herzu, wühlen mit ihren langen Stöcken im Schnee und stoßen auf Widerstand. Und die drei Soldaten fühlen plötzlich, daß sie wieder auf fast wunderbare Weise Kraft haben. Alle Lebensgeister sind geweckt. und sie helfen ihren sieben Gefährten aus dem weißen Grab heraus. Man reibt die Glieder der fast Erfrorenen und flößt ihnen Branntwein ein. Man stützt sie. Die Hunde kläffen fröhlich. Sie weisen den zwölf Menschen den Weg durch den finsteren Nebel. Immer lauter, immer freudiger wird ihr Gebell. Eines der Tiere ist weit vorausgeeilt und entschwindet bald den Blicken. „Barry holt Hilfe", sagt einer der Mönche den Männern. „Bald seid ihr gerettet, nur noch eine halbe Meile ist es bis zum Hospiz . . ."
* „Also Barry hat die zehn Kanoniere gerettet?" fragt wenig später der Erste Konsul den Prior, der ihm die Nachricht überbringt, daß die Vermißten im Hospiz eingetroffen sind. „Nun, mon general, ohne die Mithilfe unserer beiden Brüder wäre auch Barry nicht imstande gewesen, seine Rettungstat zum guten Ende zu führen. Ich will ihn hereinbringen, wenn Sie ihn sehen wollen." Die alte hohe Holztür des Saales öffnet sich, und einer der Brüder führt einen Hund an der Leine herein, dessen Fell mit einer glitzernden Eiskruste überzogen ist. Der dunkle Kopf und der tiefbraune Sattel über dem Rücken tragen abtauende Schneeperlen. Ein handgroßer brauner Fleck an beiden Seiten schält sich unter der eisigen Nässe hervor. „Voilä Barry", lächelt der Erste Konsul, und Barry kommt schnuppernd näher. Vorsichtig wandert seine pechschwarze glänzende Nase an den Lackstiefeln und der hellgrauen Hose des Generals entlang. Dann blickt er zu General Desaix auf, der neben Napoleon steht. „Woher stammt dieser Barry?" fragt General Napoleon und fährt mit seiner schmalen Hand dem Bernhardiner über den Rücken. „Woher er kommt? Er ist hier am Großen Sankt Bernhard geboren wie alle unsere Hunde. Er ist ebenso wie die Menschen hier oben nur einer von vielen. Er ist kein Held, mon general. Nur ein treues Tier, das nach seinem Instikt handelt . . ." Der Korse erhebt sich nachdenklich, dann drückt er dem Prior Ludwig Anton Luder die Hand. Noch ein Blick für Barry, und der General läßt nach seinem Pferd rufen. Er reitet vom Sankt Bern-
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hard nach Marengo, jenem Dorf tief unten in der Po-Ebene, wo er zwei Wochen später die Österreicher schlagen wird, weil ihr Befehlshaber Herr Melas etwas zu früh zu Bett gegangen ist und zu rasch die Siegesdepesche nach Wien gesandt hat.
* Als seine Generäle am Abend des blutigen Siegestages von Marengo zu ihm kommen, um zu gratulieren, winkt der Korse müde ab: „Es wäre ein schöner Tag, wenn nicht Desaix gefallen wäre!" Und er geht hinaus, um Abschied von seinem Waffengefährten zu nehmen. Als die Offiziere ihn fragen, wo man den Toten bestatten soll, sinnt der Erste Konsul eine Weile nach, dann meint er: „Ich wüßte keine bessere Ruhestätte für diesen Braven, als oben auf dem Sankt Bernhard bei den wackeren Mönchen. Und bei Barry! Der getreue Barry wird sein Grab zu schützen wissen . . ." Und so ist es gekommen, daß heute noch in der Kirche des Hospizes am Großen Sankt Bernhard hinter einer Marmortafel jener junge General ruht, der bei Marengo gefallen ist, nachdem er auf demSanktBernhard eine derRettungstatenBarrys miterlebt hat.
Barry rettet die Schmuggler Jahre sind seitdem vergangen . . . In Bourg Saint Pierre, dem kleinen Städtchen im Talgrund, spricht man abends unter den flachen alten Holzdächern am Rande der engen Ortsstraße noch oft über die Ereignisse von damals. Aber auch andere Dinge beschäftigten in jenen Tagen die Talbewohner. Da macht seit langem ein gewisser Jean Praz von sich reden, dessen abenteuerliche Geschichte man nirgends so recht glauben will. Behauptet dieser Jean Praz doch, daß er damals Nanoleon beim Paßübergang der Franzosen das Leben gerettet und daß der Korse ihm dankerfüllt einen Beutel mit Golddukaten geschenkt habe. Nun ja, niemand war dabei gewesen, als der Jean seine Heldentat verrichtet haben will. Sicher aber ist, daß Jean seitdem sehr viel Geld in den Taschen hat. Sicher ist außerdem, daß man den Burschen in den dunklen Nächten nicht daheim findet. Und die Leute wollen allerlei wissen, wo er sich herumtreibt, wenn anständige Menschen im Bett liegen. Dicht hinter Bourg Saint Pierre bei der alten Sankt-Karlsbrücke steht am schmalen Pfad ein verwittertes Holzhaus. Da treffen sich nach Dunkelwerden sehr verdächtige Burschen aus dem Entremonttale. 8
Der Jean Praz und seine Gefährten sind gewiß Schmuggler, die ihr Leben ums Geld riskieren. „Paß auf", sagt ein alter Bauer im Tal zum Jean, als er sein Maultier mit Heu zum Schober führt, „paß auf, daß du nicht eines Tages oben auf dem Sankt Bernhard ins Beinhaus gestellt wirst!" Der Jean lacht etwas gequält über diese Warnung. Er kennt das kleine Häuschen rechts neben dem Hospiz oben auf der Paßhöhe recht gut. Dort stehen seit mehr als hundert Jahren grau und ausgedörrt die Mumien der Toten in einem Gewölbe an den kahlen Wänden. Fast zweihundert Tote blicken den Besucher an, wenn einer der Chorherren die morsche Tür öffnet, hinter der so viele ihre letzte Ruhe gefunden haben. Man hat die Leichen an Pfähle oder Bretter gebunden. Beerdigen kann man keinen Menschen auf dem Sankt Bernhard, denn die Erde ist das ganze Jahr bis an die Oberfläche gefroren. Langsam trocknen die Toten aus und zerfallen nach Jahrzehnten zu Staub. Es sind namenlose, arme, vergessene Wanderer, die der Tod am Großen Sankt Bernhard erteilt hat. Wird auch Jean Praz eines Tages zu dieser stummen Gesellschaft getragen werden? Niemand liebt den verwegenen Burschen. Niemand will etwas mit dem Prahlhans zu tun haben, der gewiß auf geheimen Pfaden über die nahe Grenze schleicht und bei Wind und Sturm draußen sein gesetzwidriges Wesen treibt. An sein Dukatenmärchen glaubt niemand mehr im Tal. Drei Tage vor der Weihnacht 1803 hebt in der abseitigen Holzhütte an der Sankt-Karlsbrücke ein heimliches Treiben an. Wieder einmal hat Jean Praz eine Tour nach Italien vor. Wieder einmal sammeln sich die Burschen des Ortes bei ihm, um gemeinsam an der „Cantine de Proz" vorbei den Hang des Mont Velan zu gewinnen. Von dort führt ein schmaler Pfad hinunter ins Tal von Aosta, wo man mit der Ware auf die Schmuggler wartet. Der Wirt der „Cantine" ist ein alter, ehrsamer Mann, der schon manchen einsamen Wanderer gut beraten hat, wenn er den Weg zum Hospiz einschlug. Als er die Schmuggler im Stall ihre Gesichter bleichen und die Wegzehrung in die Beutel packen sieht, schüttelt er mißmutig den grauen Kopf. „Ich warne dich, Jean Praz", sagt er grollend. „Die Luft ist so mild, daß sich die Schneebretter lösen. Der feine Regen hat sie losgewaschen. Die erste Lawine ist am Tournelon zu Tal gegangen. Jetzt ist der Wind aufgekommen und bläst von Süden her über den Kamm. Weißt du, was das bedeutet?" „Das bedeutet", meint der Jean spottend, „daß die Zöllner heut nacht nicht aus den Federn kriechen werden!" 9
Der Alte schweigt. Es ist ganz unnütz, diese tollkühnen Burschen zu warnen. Mögen sie tun und lassen, was sie wollen. Eine Stunde später ist der einsame Berggasthof leer. Die letzten Lichter erlöschen. Doch südwärts ziehen in der gleichen Zeit fünf Männer, die sich weiße Hemden über die Röcke gestreift haben und scheu durch den Nebel lugen, ob nicht irgendwo in der unendlichen Schneeweite ein Grenzwächter auftaucht und ihnen den Weg verstellt. Gegen Mitternacht wirft der fahle Mond sein bleiches Licht über die Berge, doch sein Schein dringt nicht bis an die Schneewehen, in die die Schritte der einsamen Wanderer tief einsinken. Die Luft ist warm und dick. Und wenn Jean Praz auch nur ein klein wenig die Vorsicht walten ließe, die jedermann im Tal seit Kindesbeinen beachtet, so würde er mit seinen sauberen Gefährten umkehren. „Die Lawinen drücken auf das Herz", so sagen die Alten, die seit fünfzig Jahren ihre Berge kennen . . . Oben im Hospiz des Großen Sankt Bernhard hat Bruder Luigi, der Hundepfleger, den man seit alter Zeit den „Maronnier" nennt, noch eine Weile in seinem Gebetbuch gelesen. Draußen saust hohl der Wind und klagt unheimlich unter den Dachrinnen des alten Klosters. Bruder Luigi kennt diese Laute. Sie gefallen ihm nicht. Er klappt das Buch zu und geht zu seinen Hunden, die wintertags auf dem alten Kornboden des Hospizes schlafen. Als er auf den Steinfliesen den langen Gang entlang schreitet, tönt ihm vom Speicher her wildes Gebell entgegen. Sonst sind die Hunde um diese Zeit still, sie wissen, daß sie kein Futter mehr zu erwarten haben. Aus dem Gebell der Meute klingt deutlich der scharfe Laut Barrys heraus. Das Toben des Windes, die Unruhe der Hunde — dem Bruder Luigi ist nicht wohl in seiner Haut. Es liegt etwas in der Luft, die Tiere scheinen es zu spüren. Schon mehrmals haben sie sich als unbestechliche Warner erwiesen. Wenn der Lawinenwind heult, sind sie nicht in ihrem Zwinger zu halten, man weiß das im Kloster. Luigi hastet die Treppen hoch zur Zelle des Priors. „Die Hunde geben keine Ruhe", meldet er und weiß, welche Anordnung nun folgen wird. „Nehmt Barry und zwei andere Hunde!" sagt der Prior ohne Überlegen. Dann kleidet er sich an, denn keiner der Mönche im Hospiz verläßt am Tage oder in der Nacht zu einem Kontrollgang das Haus, ohne daß der Pater Prior ihm seinen Segen mit auf den Weg gibt. Drei Brüder haben ihre warmen Kutten angezogen, dicke Bergstiefel über die Socken gestreift und sich mit langen Stöcken aus10
gerüstet. Die Hunde, allen voran Barry, reißen an den eisernen Halsbändern, deren Stacheln bei starkem Zug ins Fell eindringen und das Temperament bremsen. „Geht mit Gott, meine Brüder!" sagt der greise Prior zum Abschied. Als sie vor das Hospiz treten, zerrt der Sturm an den Gewändern. Er droht die flackernden Laternen auszublasen, die den Männern um den Hals hängen, damit sie die Hände frei haben. Wird er, der daheim bleiben muß, weil es die Regel vorschreibt, seine Getreuen wiedersehen? Jeder Gang in die Gefahr kann ein Abschied fürs Leben sein. Kleiner und immer kleiner wird der Lichterschein, der hie und da aufblinkt, wenn die Kolonne mit den Hunden ein wenig die Richtung wechselt. Dann ist die Schar der tapferen Männer von der Nacht verschluckt. Es soll heller Morgen werden, ehe die drei Brüder zurückkehren. Was sie zn melden haben, alamiert die Klostergemeinde. „Wir hatten", so berichtet Bruder Luigi, „unweit der kleinen Schutzhütte am Mont Velan tiefe Fußspuren gefunden. Barry nahm laut bellend die Fährte auf. Er riß seine beiden Gefährten mit sich, als gelte es, einen Wettlauf zu gewinnen. Ehe wir's uns versahen, waren die Hunde in dem dämmrigen Licht verschwunden. Während wir noch suchten, es mag gegen 3 Uhr früh gewesen sein, gab es plötzlich in der Höhe ein Donnern, als sei ein Gewitter aus dem Aostatal aufgezogen. Wir warfen uns nieder, doch die Lawine erreichte uns nicht. Sie ging fernab in Richtung der Hunde nieder. Die Spur der Mensehen ist seitdem verwischt und Barry . . ." Bruder Luigi wagt seine Befürchtung nicht auszusprechen. Barry ist der beste Spürhund unter den Klosterhunden. Immer gibt es bei den Tieren des Sankt Bernhard einen Rüden, der die übrigen beherrscht, der sie führt, der sie ermuntert. Wenn Barry verschwunden ist, sind die übrigen Hunde ein Haufen ohne Disziplin. Aber das allein ist es nicht: Die Brüder vom Sankt Bernhard bangen um mehr als nur um den Leithund des Hospizes. Wer kann sich nachts bei diesem Wetter draußen am Mont Velan herumgetrieben haben? Gesetzlose, Schmuggler, vielleicht auch Wegelagerer! Sie sind die einzigen, die es wagen, bei Nacht und Lawinengefahr dem Tod zu trotzen, der sie nun doch ereilt zu haben scheint. Doch es sind Menschen! Man muß helfen, wenn sie in Not sind. Wenig später verlassen andere Brüder das Hospiz, ihnen folgen vier frische Hunde. Ein nebliger Tag ist angebrochen: der Weihnachtstag des Jahres 1803. Am Abend werden die Kerzen in der 11
alten Hospizkirche brennen. Die Glocke wird ins Tal klingen. Doch für das Kloster und seine Männer gibt es keine Feierstunde, ehe sie nicht die Gewißheit haben, was geschehen ist/Während man drunten im Tal in Bourg Saint Pierre und auch im fernen Martigny die Christmesse feiert, arbeiten sich am Berghang schweigend vier Männer ihren Weg. Sie suchen die letzten Fußspuren der unbekannten Menschen, die vielleicht längst den Bergtod gestorben sind. Doch der Weihnachtstag vergeht, ohne daß man auf ein Spur von Mensch oder Tier gestoßen ist. Abgekämpft kommen die Brüder mit ihren Hunden zum Hospiz zurück. Barry ist verschollen. Noch niemals ist er länger als ein paar Stunden fortgeblieben. Nur ein Wunder kann hier noch die Rettung bringen. Ein Wunder, um das die Brüder still in der Kapelle des Hospizes beten. Als Bruder Luigi wieder bei Kräften ist, begibt er sich abermals auf den Weg. Schon sind achtundvierzig Stunden seit dem ersten Aufbruch vergangen. Nach einer halben Stunde quälenden Marsches durch die Schneewüste verharren die Männer plötzlich im Wind. Sie haben einen Laut in der Weite gehört! Es war wie ein heiserer Schrei, den der Wind hergetragen hat. Hundebellen war es nicht, vielleicht hat ein Mensch gerufen in seiner Not. Schon stürzen sich die Hunde in die Richtung, aus der der Ruf gehört wurde. Die Männer folgen fast überstürzt. Der Hilfeschrei schien aus südlicher Richtung zu kommen. Wenige Minuten später entdeckt Bruder Luigi hinter einer Schneewehe ein dunkles Etwas, das sich nicht zu rühren scheint. Ein Hund keucht ihm entgegen. Er hat einen Menschen* zurückgelassen und umwedelt nun froh mit weit geöffnetem Maul die heraneilenden Retter. Dann dreht er sich um und führt die Männer zu der Gestalt, die in den Schnee gesunken ist. Es ist ein abgerissener Bursche, den Luigi sogleich als einen Talbewohner aus Bourg Saint Pierre erkennt.- Sein Mund stammelt unverständliche Worte. Drei Brüder tragen den fast Bewußtlosen in das Hospiz, wo er stockend erzählt, was draußen geschehen ist. „Ich bin nicht allein gewesen", bekennt der Bursch und wirft seinen Kopf unruhig hin und her, „vier meiner Männer sind in die Lawine gekommen und in einen Spalt gerissen worden. Längst wären sie tot, wenn nicht der Hund gekommen wäre . . ." „Welcher Hund? Ist es dieser, der dich hergeführt hat?" „Ich weiß es nicht", murmelte der Erschöpfte. „Es waren mehrere Hunde da!" „Und wo sind sie geblieben?" „Bei den anderen . . . " 12
Diese Mitteilung elektrisiert die Männer des Hospizes. Noch ist eine Möglichkeit, Barry und seine beiden Gefährten zu retten. Barry hat also die Lawinenopfer nicht verlassen. Man kann sie vielleicht finden, wenn man der Fährte nachgeht. Als die Brüder unter Führung Luigis nach zwei langen, qualvollen Stunden an der Stelle stehen, wo die Lawine ausgelaufen ist, entdecken sie einen fast zehn Meter tiefer Spalt im felsigen Untergrund. Tief unten wühlt ein Hund, und einige Männer sind zu erkennen, die teilnahmslos daliegen. Da — es ist Barrys Stimme. Sie klingt rauh, aber dennoch froh. Man hat ihn gefunden. Mit den Pfoten versucht der Bernhardiner, an der glatten kahlgefegten Felswandung hochzuklimmen. Immer wieder rutscht er in die Tiefe auf die dunklen Gestalten herab, die noch einiges Leben verraten. An einem Seil läßt sich Luigi in die Tiefe. Barry reißt seinen Herrn fast vor Freude um. Sein Holzfäßchen klappert leer am Halsband. Den letzten Tropfen haben die Verunglückten ausgetrunken. Ihre Kleider sind zerrissen. Als man Jean Praz und seine Gefährten auf Tragbahren ins Hospiz bringt — es ist der zweite Weihnachtsfeiertag — kann er vor Freude kaum noch sprechen. „Keiner von uns", sagt er, „wäre noch am Leben, wenn nicht die Hunde gewesen wären. Wir hatten uns aufgegeben. Aber immer, wenn einer von uns einschlafen wollte, riß uns der Hund hoch. Er biß uns in die Arme, er zerrte an unseren Beinen. Der Schmerz machte uns wieder wach, bis Ihr kamt!" „Deine vierzehnte Rettung, Barry", sagt der Prior in ergriffener Freude und krault dem Bernhardiner den breiten Kopf. Barry liegt bewegungslos am lodernden Kamin, nur seine klugen Augen wandern zwischen seinem Herrn und den Geretteten hin und her. Die vierzehnte Rettungstat! Aber es sollte nicht die letzte sein, wie wir noch sehen werden . . .
Anna Maria Vincenti Selbst die ältesten Brüder des Hospizes können sich nicht erinnern, so schwere Schneestürme erlebt zu haben, wie sie im März 1806 über den Großen Sankt Bernhard hingehen. Die Schneemassen liegen fast bis zum Dach des Klosters .. . Seit fast vier Wochen wartet in Bourg Saint Pierre eine einsame Frau mit ihrem dreijährigen Kind auf eine günstige Gelegenheit, den verschneiten Paß zu überqueren. 13
Anna Maria Vincenti, deren Eltern drüben in Sankt Oyen an der Paß-Straße nach Aosta wohnen, ist vor zwei Jahren mit ihrem Mann und einem Säugling von knapp sechs Monaten in die Schweiz eingewandert. Man wollte sich in Lausanne eine bescheidene Existenz gründen. Martino Vincenti ist ein fleißiger Bauhandwerker gewesen, hat Franken auf Franken beiseite gelegt, um vielleicht eines Tages mit einem bescheidenen Vermögen in die sonnige Heimat zurückzukehren zu können. Doch das Schicksal hat es anders gewollt. Anfang Oktober begann den arbeitsamen Mann ein schwerer Husten zu quälen. Eine Lungenentzündung kam hinzu. Immer wieder hatte der Kranke seine Frau aufgefordert, in die Heimat zurückzukehren, ehe die Schneestürme den Paß am Sankt Bernhard unpassierbar machten. Anna Maria Vincenti hatte am Krankenlager ausgeharrt. Aber all ihre Aufopferung sollte vergebens sein. Vincenti starb nach schwerer Leidenszeit und ließ Weib und Kind hilflos zurück. Das ersparte Geld ist für Ärzte, Arzneien und Hospitalkosten ausgegeben. Mutter und Kind müssen zu Fuß den beschwerlichen Weg gen Süden antreten. Als Anna Maria Vincenti in Marigny ankommt, warnt man die entkräftete Frau, den Weg zum Paß fortzusetzen. Aber die einsame Frau hat genug vor fremden Türen gebettelt. Eines Morgens ist sie verschwunden. Niemand kann sagen, ob sie bergan oder ins Tal gewandert ist. Auf dem Sankt Bernhard ahnt man nichts von dem Verzweiflungsschritt der jungen Mutter. Man macht allabendlich die gewohnte Runde mit den Hunden. Eine halbe Wegstunde gen Italien, dieselbe Strecke nach der Schweiz zu. Bruder Luigi, der sich nicht von seinen Bernhardinern trennen will, fällt der Weg durch den mannshohen Schnee schon recht schwer. Doch er verläßt Barry nicht, wie auch der treue Hund seinen Herrn nicht verläßt. Am 20. März geht man wie stets auf Erkundigung aus, ob irgendwo ein Wanderer die Hilfe der frommen Brüder braucht. Barry ist an der Leine, als die kleine Gruppe die große Wegschlinge oberhalb der „Cantine de Proz" bewältigt. Plötzlich — mitten auf dem Wege — steht der Leithund stocksteif wie gefroren, und kein Wort seines Herrn kann ihn dazu bewegen, auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu machen. Bruder Luigi ist unwillig. Doch Barry beginnt seinen Herrn rückwärts zu ziehen. Die übrigen Tiere umstehen scheu mit eingekniffenen Ruten den Anführer des Rudels. Noch quälen Mensch und Tier sich gegenseitig ab, als plötzlich von der Felsengruppe der Becs Noris ein Knistern zu hören ist. Es ist ein Geräusch, das jeder erfahrene Bergwanderer kennt 14
und fürchtet. Das feine Knistern geht in knatternden Donner über. Bruder Luigi wirft sich auf den Boden. Die Bernhardiner drücken sich in den losen Schnee. Von der Höhe rast eine Staublawine ins Tal. Steinbrocken wirbeln hinterher. Der Sog preßt gegen die Leiber, dann rollt der Donner aus. Unmittelbar vor den am Boden Liegenden dehnt sich das Schneefeld, das die Lawine zu Tal gerissen hat. Fünfzig Schritt weiter, und Mensch und Tier wären wohl für immer begraben worden. Auch als das Toben zu Ende ist, rührt sich Barry noch immer nicht vom Fleck. Sein Kopf wittert wie suchend in die Runde. Es ist, als horche er zu der weißen Staubwolke hinüber, die über der niedergegangenen Lawine steht und nur langsam vom Winde verweht wird. Im Hospiz hat man die Lawine gehört. Der Prior sendet sofort drei der Brüder mit weiteren Hunden aus, um Luigi und Barry Hilfe zu bringen. Es ist gegen Mittag, als die nachgesandten Brüder mit Luigi und den Hunden zurückkommen, doch die Gesichter der Menschen sind nicht froh. „Wo ist Barry?" ist die erste bange Frage des Priors, als er den treuen Hund bei der Kolonne vermißt. Pater Luigi hebt wie entschuldigend die Hände. „Ich habe alle Hunde nach dem Niederbruch der Lawine an die Leine genommen. Doch ehe ich Barry festmachen konnte, war er mit einem mächtigen Satz in Richtung auf die heruntergestürzten Schneemassen davongestürmt. Die anderen Hunde wollten hinterher. Ich mußte meine ganze Kraft aufbieten, um sie zu halten. Kein Rufen und kein Pfeifen half: Barry sah sich nicht einmal um und war plötzlich, ehe ich mich versah, hinter den Felsen verschwunden." Der Prior überlegt: Wenn Barry sich losreißt, wenn er keinem Befehl mehr Folge leistet, so muß das seinen Grund haben. „Könnte Barry nicht einen Verunglückten gewittert haben?" fragt der Prior die Brüder. „Unmöglich! Wer sollte wohl bei diesem Wetter in den Bergen unterwegs sein?" Draußen hat der Schneesturm wieder eingesetzt. Er pfeift um die alten Mauern. Er rüttelt an den Türen und Fensterläden. Unmutig wandert der Prior auf dem Flur hin und her. Es hilft nichts: Man kann Barry in diesem Unwetter nicht draußen allein lassen. Vielleicht hat er doch einen Verirrten ausfindig gemacht. Gegen drei Uhr nachmittags, als sich die ersten Schatten der Dämmerung in den Winkeln der Klosterzellen bemerkbar machen, 15
gehen vier Brüder mit ebensovielen Hunden erneut auf die Suche. Man ist übereingekommen, daß man nur bis zur Lawine vorstoßen wird. Ist bis zur Nacht Barry nicht gefunden oder zurückgekehrt, so muß schweren Herzens die Suche abgebrochen werden, um nicht auch Menschenleben zu gefährden. Die kleine Kolonne hält sich nicht ganz an die Anweisungen des Obern. Als man die Absturzstelle der Lawine erreicht, wo alle Spuren längst verschneit sind, schlägt einer der Brüder vor, doch noch bis zur „Cantine de Proz" weiterzugehen. Hier kann man vielleicht erfahren, ob sich irgend jemand in den Mordenstunden auf den Weg gemacht hat. Hat das Unwetter dann nicht nachgelassen, so kann man bei dem Wirt die Nacht verbringen und morgen die Suche fortsetzen. „Seid ihr durch den Schneesturm gekommen?" staunt der Wirt, als die Brüder mit den Hunden bei ihm auftauchen. Als man ihn nach Wanderern fragt, die vielleicht unterwegs gewesen sind, als oben am Paß die Lawine niederging, sieht er die Ankömmlinge entsetzt an: „Die Frau mit dem Kind ist also nicht bei Euch gewesen? Sie wollte hinüber ins Aostatal. Gegen zehn Uhr früh ist sie aufgebrochen, obwohl ich sie dringend gewarnt habe." Eine Frau mit einem Kind? Die Brüder sehen sich voller Bestürzung an. Im Hospiz hat den ganzen Tag über niemand vorgesprochen. Wenn man nachrechnet, müßte sich die Fremde gerade an der Stelle befunden haben, wo die Lawine niederstürzte. Jetzt plötzlich wird den Männern vom Hospiz vieles klar. Barry hat die beiden Menschen gewittert! Er ist ihnen zu Hilfe geeilt, als die Schneemassen niedergingen. Fast zehn Stunden sind seitdem vergangen. Gewiß kann ein Mensch so lange die Kälte ertragen, aber die arme Frau ist nicht allein. Sie hat ein Kind bei sich. Beide Menschen sind vom Hunger geschwächt. Sie sind in der weißen Einsamkeit verloren, wenn man sie nicht findet und stärkt. Barry allein kann da nicht helfen. Er kann nur gesunden, kräftigen Menschen den Weg zeigen. Die Männer, die selbst schon einen schwierigen Weg hinter sich gebracht haben, verweilen keine Minute mehr in der einsamen Wirtschaft. Sie lassen sich Fackeln geben, um den Weg zu erleuchten, der schwarz und gefährlich vor ihnen liegt. Keiner der tapferen Brüder, die so rasch es geht den Paß wieder hinaufsteigen, ahnt, daß inzwischen oben im Hospiz etwas geschehen ist, das man ein Wunder nennen könnte. Noch 150 Jahre später ist jene Szene nicht vergessen, die nachts gegen elf Uhr der Prior
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erlebt, als er, von einer ungewissen Ahnung getrieben, seine Zelle verläßt, um noch einmal vor die Klosterpforte zu treten. „Ich kann nicht sagen", so hat er später berichtet, „was mich veranlaßte, mein Lager zu verlassen, auf das ich mich angekleidet gelegt hatte, um etwas auszuruhen. War es ein Geräusch draußen? War es- ein heiseres Bellen, das durch den Sturm an mein Ohr drang! Ich weiß es nicht! Als ich den Flur entlangging, wußte ich aus einem unbestimmten Gefühl heraus, daß irgendetwas auf mich wartete. Ich schloß die Pforte auf. Im ersten Augenblick sahen meine Augen in der Dunkelheit nichts, obwohl der fahle Schnee die Nacht ein wenig erhellte. Doch plötzlich erkannte ich Barry. Er saß schneeüberweht seitwärts der Tür und hatte seinen Körper zum Schutz gegen den Wind an die Mauer gepreßt. Ich rief. Der Hund rührte sich kaum. Er winselte leise, als klage er. Der Wind riß mich fast um, als ich einige Schritte auf ihn zuging. Doch als ich mich zu Barry hinabbeugte, fuhr ich zurück. Was für ein seltsames Bündel hatte der Hund auf dem Rücken? Es war wie eine verschneite Traglast. Mit zagen Händen wickelte ich die Decke ab, die eine unbekannte Hand an den Riemen geknotet hatte; den Riemen tragen alle Hunde des Hospizes, damit man daran einen halben Laib Brot und etwas Käse in einem Päckchen befestigen kann. Ein zweiter Riemen läuft vom Rücken nach vorn unter den Hals der Tiere, damit die Last auf dem Rücken nicht verrutscht. Doch die Last, die Barry trägt, ist viel schwerer als gewöhnlich. Ich schlage die verschneite Decke auseinander, und ich blicke auf ein schlafendes Kind. Mit der Last auf den Armen eile ich ins Haus. Ich nehme an, daß Barry mir folgen wird, damit man sich auch um ihn kümmern kann; aber er bleibt zurück, ich höre sein unruhiges Bellen hinter mir, so als ob er mich noch auf etwas aufmerksam machen wolle. Aber all meine Sorge gilt dem kleinen Wesen. Die herbeieilenden Brüder wissen, was ihre Pflicht ist. Sie haben schon oft Erfrierenden geholfen. Man reibt 'den Körper des bewegungslosen Kindes. Man frottiert die Hände, die Herzgegend. Kommt die Hilfe zu spät? Das Feuer im Kamin lodert wieder hell auf. In seinem Schein sehen wir plötzlich, wie sich die Fingerchen des Kindes bewegen. Es schlägt die geschlossenen Augen auf, um sie gleich wieder geblendet zu schließen. „Es lebt, es lebt!" jubelt es in uns. Vorsichtig flößt einer der Brüder dem Kleinen etwas heiße Milch ein. Aber plötzlich durchfährt uns ein Schreck. 17
Kein Zweifel: irgend jemand muß das Kind in die Decke gewikkelt, irgend jemand die Knoten geschlungen haben. Wer ist dieser Jemand? Er ist nicht mit Barry gekommen. Also muß er noch draußen sein. Wird Barry noch die Kraft haben, die Stelle zu zeigen, wo man ihm die Last aufgebürdet hat? Einige Brüder werden ausgesandt; an der Pforte begegnen ihnen die Mitbrüder, die von der „Cantine de Proz" zurückkommen. Jetzt erfahren wir mit Sicherheit, daß noch ein Mensch zu suchen ist: die Mutter des Kindes. Und wir erfassen mit einem Male auch, was sich zugetragen hat. Vor unsere Augen tritt jene Szene, die nur Barry und eine verzweifelte Mutter miterlebt haben. Unfähig, ihr Kind noch zu tragen, hat die zu Tode erschöpfte Frau draußen im Schneesturm ihr schützendes Tuch fortgegeben, es ihrem Kinde umgeschlungen und den Knaben dem geduldigen Bernhardiner auf den Rücken gebunden; der Hund wußte, daß er etwas Kostbares zu schützen hatte und war eilends heimgekehrt. Stumm stehen wir beieinander. Barry sieht herauf, als wolle er uns von dem selbstlosen Opfer der Mutter berichten, die im Eiswind zurückgeblieben ist." Die Leiche von Anna Maria Vincenti wird erst vier Tage später an der Stelle gefunden, an der Barry die Sterbende verlassen hat. Die junge Italienerin liegt wie schlafend in dem Schneelager, das der Sturm mit weißen Massen überdeckt hat.
Der Tod des Bruders Luigi In den ersten Märztagen des Jahres 1809 dröhnt vom Hospiz an jedem Morgen ein Schuß ins Tal. Die Brüder haben sich eine alte Schrotflinte besorgt, deren Knall sich hundertfach an den weißen Wänden der Bergriesen bricht und als Echo zurückgeworfen wird. Der Schuß vom Hospiz löst an den Hängen die lauernden Staublawinen aus, die manchmal schon durch ein gesprochenes Wort, durch ein Bellen der Hunde, durch einen plötzlichen Windstoß in Bewegung geraten können. Der Prior hat seine Brüder ermahnt, in dieser Zeit besonders aufmerksam die tägliche Runde mit den Hunden zu machen; denn kaum ist die schärfste Kälte am Paß vorüber, da wagen sich schon tollkühne Bergsteiger aus den Tälern zum Paß hinauf. Wochenlang haben italienische Maurer im Aostatal gewartet, um bei den ersten Zeichen des nahenden Frühlings den Marsch anzutreten. Jeder Tag, den sie versäumen, bringt sie vielleicht in der nahen Schweiz um 18
eine Arbeitsstelle, da man dort bald beginnt, neue Häuser zu errichten. In kleinen Kolonnen machen sie sich auf den Weg. Verlassen sie bei Etroubles das Tal der Artavana, so gibt es Richtpfade zum Hospiz. Man braucht die vielen Kehren der eigentlichen Straße nicht zu gehen. Es genügt, wenn man die hohen schwarzen Pfähle beachtet, die zu Beginn des Winters in die Schneemassen gesteckt worden sind. Oft bleiben sie auch den ganzen Sommer über an der Paßstraße. „Wenn Ihr den Richtweg über den Plan de Raye gehen wollt", warnt der Wirt im ,Suizzera', „dann denkt an die Markierungen. Verliert sie nicht aus den Augen. Sonst irrt Ihr zum Toten Berg ab und seid verloren!" Die vier Maurer von Saint Rhemy haben das erste Stück ihres Weges rasch hinter sich gebracht. Sie erkennen den schwarzen, mannshohen Stangen in der Ferne genau. Nach ihnen müssen sie sich richten, um oben am Berg die alte Paßfährte wiederzufinden. Doch plötzlich sind die Wegweiser weggewischt. Der graue Nebel ist über sie hinwegekrochen. Der Blick findet keinen Halt mehr in den Schwaden, die, vom weichen Wind getrieben, wie Rauchwolken herüberwehen. Eine Weile bleiben die Männer unschlüssig stehen. Es gibt nur einen einzigen Wegweiser, der untrüglich ist: die eigenen Spuren zurück in das rettende Tal. Doch die Vier wollen nicht aufgeben, sie haben den Berg ja schon halb geschafft. Noch eine gute Stunde, und sie sind am Hospiz! Auch auf der Paßhöhe hat sich inzwischen der Nebel wie schweres Gewölk um die Gebäude gelegt. Die Hunde verhalten aufmerkend in der Nähe des Portals. Ihr Bellen ist kaum zu hören, die grauen Nebelwände dämpfen alle Laute. „Der Kontrollgang wird heute gefährlich sein", mahnt der Prior, „man darf keinen Mann allein fortschicken, Luigi soll sich zwei der Brüder mitnehmen und so bald als möglich umkehren, wenn er draußen alles in Ordnung findet." Ungern entläßt der Prior an diesem Vormittag die kleine Gruppe. Rasch verliert sich die kläffende Meute in Südrichtung. Ruhe zieht wieder ins Hospiz ein. Doch der streichende Wind kündet nichts Gutes sobald er dichte Nebelpackungen um die Mauern des Hospizes treibt. Es wird von Stunde zu Stunde kälter. Ein feiner Reif beschlägt die Fensterscheiben. Die «drei Brüder, die gegen Mittag fast 500 Meter abwärts gestiegen sind, ohne Fußspuren gefunden zu haben, fühlen die Kälte, die durch die nassen Kleider dringt. Den Hunden hängt bereits ein Eismantel ums Fell. Um die Augen haben sich harte Perlen gelegt. 19
Bruder Luigi ist erschöpft. Eine seltsame Müdigkeit hat ihn erfaßt, doch er weiß, daß er nicht rasten darf. Müdigkeit ist Vorbote des Schlafes. Und wer hier am Berg einschläft, den weckt bald kein Rütteln mehr auf. Schon will die kleine Gruppe umkehren, denn auch die Hunde stapfen nur langsam durch den brüchigen, verharschten Schnee, als plötzlich Barry regungslos in die Nebelwolken starrt. Seine Nase glänzt schwarz und feucht. Er zieht den feuchten Dunst saugend ein. Irgend etwas, einige hundert Meter entfernt, muß seine Aufmerksamkeit erregen. Auch die anderen Hunde stehen mit hocherhobenem Kopf bewegungslos. Die Brüder legen die Hände wie Muscheln an den Mund und rufen in die graue Unendlichkeit. Doch es ist, als erstickten die Rufe in der triefenden Nässe. Plötzlich beginnt Barry an der Leine zu zerren. Er zieht Bruder Luigi mit sich. Sein Weg geht seltsamerweise nicht talwärts, sondern schräg aufwärts zum Toten Berg hin. Niemand sieht die Bergflanken, man kann sie nur hinter dem dunklen Vorhang ahnen. Tier und Mensch hasten weiter. Kein Wort wird gesprochen, man hört nur das Keuchen der ausgepumpten Lungen. „Ich werde Barry loslassen", sagt sich Bruder Luigi, „meine Kräfte sind am Ende. Sollten sich Menschen hier befinden, so wird der Hund sie eher entdecken, wenn er sich frei bewegen kann." Ehe die beiden anderen Mönche es verhindern können, hat Luigi die schmale Kette vom Halsband seines Begleiters gelöst. Barry arbeitet sich nun in großen Sprüngen voran. Die übrigen Hunde folgen an der Leine. „Wir können dich nicht zurücklassen", ruft einer der Mönche Bruder Luigi zu. Er blickt sich besorgt nach dem Bruder um, der erschöpft zurückgeblieben ist. „Kommt in euren Spuren zurück", gibt Luigi zur Antwort, „ich warte hier!" Schon hat der Nebel die beiden Gefährten verschluckt. Das Gebell der Hunde wird leiser und ist plötzlich verstummt. Zurück bleibt ein einsamer Mensch, der müde, auf seinen Stock gelehnt, in tiefe Gedanken versunken ist. Die Hunde haben eine gute Witterung gehabt. Kaum dreihundert Meter entfernt umstehen sie bellend zwei Männer, die zusammengekrümmt im Schnee hocken. Die braunen Gesichter sind stumpf geworden, die Augen sind von weißen Reifkrusten umgeben. Erst nach einem kräftigen Schluck aus den Feldflaschen beleben sich die Erschöpften. Sie zeigen hinter sich und sagen, daß noch zwei andere Wanderer 20
am Berg sind. Vor einer halben Stunde haben sie sich von ihnen getrennt. Sie wollten die alte Paßstraße erreichen, sind quer gegangen. Die Ordensbrüder wissen sich keinen Rat. Für vier völlig hilflose Menschen braucht man Bahren, man braucht kräftige Arme. Zwei Retter stehen vor einer schweren Entscheidung. Doch nicht nur die Wanderer aus dem Aostatal befinden sich in Gefahr. Auch an Bruder Luigi muß man denken, den man ermattet zurückgelassen hat. „Wir müssen versuchen, erst einmal diese beiden zum Hospiz zurückzubringen." „Unmöglich! Ehe wir mit ihnen auf dem Paß sind, erfrieren die Zurückgelassenen. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: Einer von uns eilt zum Kloster, während der andere versucht, die Vermißten aufzufinden und so lange aufrechtzuhalten, bis Hilfe gekommen ist." „Und Bruder Luigi?" Nach einer Weile kommen die beiden Mönche überein, daß der zum Hospiz Eilende Barry mitnehmen und unterwegs nach dem zurückgelassenen Bruder suchen soll. Noch immer liegt die Nebelwand dicht über den Bergflanken. Mühsam, Schritt für Schritt, stapft Barry mit seinem neuen Herrn den Weg zurück. Als die Stelle erreicht ist, an der man sich von Bruder Luigi getrennt hat, findet man den Vermißten nicht. Eine breite schleifende Spur deutet darauf hin, daß der Einsame versucht hat, das Hospiz zu erreichen. „Barry such deinen Herrn!" befiehlt der Bruder in höchster Sorge. Er selbst darf jetzt die Tretspur, die zum Hospiz führt, nicht aus dem Auge lassen. Man wartet auf ihn. Barry hat inzwischen mit heiserem Gebell die Fährte seines alten Herrn aufgenommen. In kurzen hohen Sätzen arbeitet er sich durch den fast meterhohen Schnee, 'dessen gefrorene Kruste immer wieder einbricht. Der Nebel hüllt den Hang in ein dickes Tuch ein. Schweigen herrscht in dem Hochtal, wo sich in den nächsten Stunden das Schicksal vieler Menschen entscheiden soll. Als der Bruder nach gut einer Stunde vor dem Hospiz angekommen ist, macht sich gerade eine andere Gruppe von Brüdern fertig, um die bereits Vermißten zu suchen. Rasch teilt der Ankommende mit, was sich am Berg abgespielt hat. „Wenn Barry seinen Herrn gefunden hat", meint der Prior nach einiger Überlegung, „so brauchen wir uns um Luigi nicht zu bangen!" Aber einen Umstand übersehen alle: Barrys Vorräte an Branntwein und Speise hat man den beiden zuerst gefundenen 21
Italienern gegeben. Das kleine Fläschchen am Hals des Tieres und das Bündel auf dem Rücken sind leer! Der Hund bringt seinem erschöpften Herrn keine Stärkung . . . Während sich vom Hospiz aus fünf ausgeruhte Männer auf den Weg machen, hat Barry nach etwa 500 Metern seinen Herrn aufgespürt. Barry war vor ein Schneeloch geraten, wo sich Luigis Spur plötzlich verlor. Der Ermüdete war in eine der tiefen Spalten gestürzt. Aus der Tiefe kommt kein Lebenszeichen. Der Hund zögert eine Weile, dann setzt er sich auf die Hinterläufe und gleitet hinab. Der schwere Hundekörper prallt auf den Daliegenden. Barry zerrt an den Kleidern des Schlafenden. Er rüttelt die schlaffen Arme, verbeißt sich in den Schuhen und reißt an der Jacke des Bewußtlosen. Als alles nichts hilft, setzt sich der Hund neben den Kopf seines Herrn und bellt an seinem Ohr. Bruder Luigi, den schon der todbringende Schlaf umfangen hielt, rührt sich endlich. Als er die Augen aufschlägt, sieht er im grauen Halbdunkel vor sich seinen vierbeinigen Gefährten. Barry hat seinen Kopf auf die Brust des Herrn gelegt. Sein dampfender Atem überweht das Gesicht des müden, alten Mannes, der mit einer letzten Kraftanstrengung nach dem Fäßchen tastet, das am Hals des Tieres hängt. Die starren Finger ziehen den metallenen Spundpfropfen heraus, doch das Fäßchen ist leer. Auch der halbe Brotlaib ist verschwunden. Barry ha.t seinem Herrn nichts zu geben, was ihn beleben könnte. Langsam legt der Bruder die erkaltende Hand um Barrys Schultern; dann sinkt sein Kopf wieder in den Schnee. Niemand ist Zeuge, als die beiden treuen Gefährten in dieser Stunde von einander Abschied nehmen. Als Barry spät in der Nacht an der Tür des Hospizes kratzt und winselt, sind die vier Italiener bereits geborgen. Mönche stehen schon bereit, die Bruder Luigi bergen wollen. Sie rufen den Hund, der sich auf den kalten Steinboden des Flurs gelegt hat und mit seinen großen dunklen Augen zum Prior hinübersieht. „Barry, komm deinen Herrn suchen!" Der Hund rührt sich nicht. Sein Ausdruck ist ohne jede Spannung. Eher scheint er demütig eine Strafe zu erwarten. Er liegt flaeh auf den Boden geduckt und sein trauriger Blick wandert von einem zum anderen. Ein Tier scheint zu klagen. Als man Barry gewaltsam aufrichtet, als man ihm hart befiehlt, sich vor die Tür zu scheren^ geht er zögernd in die winterliche Kälte. Ohne zu bellen, ohne sich nach der folgenden Schar der Männer umzusehen, verfolgt Barry 22
seinen Weg wie ein Traumwandler. Er blickt nicht nach links und nicht nach rechts. Mechanisch setzt er die Beine voreinander. Den Brüdern hinter ihm kommt eine traurige Ahnung. So benimmt sich kein Hund, der seinen Herrn retten will. Barry weiß schon mehr als die Männer, die ihm nachgehen. Als man den Spalt im Fels erreicht hat, auf dessen Grund Bruder Luigi seinen letzten Schlaf schläft, legt sich Barry in den tiefen Schnee und steckt den Kopf zwischen die Pfoten. Erst jetzt sehen die Retter, daß das treue Tier an den Tatzen blutet. Er hat sie aufgerissen, als er versuchte, aus dem tiefen Spalt hochzukommen. Während die Brüder des Hospizes schweigend ihren toten Kameraden umstehen, dessen Gesicht tiefen Frieden verrät, hören sie erschüttert, wie oben auf der Schneekante ein einsamer Hund laut in die nebelverhangene Welt hinein den Tod seines Herrn beklagt.
Barrys letzte Rettungstat Düster und unheilschwer beginnt für die Brüder des Großen Sankt Bernhard das Jahr 1812. Nur unsichere Nachrichten kommen aus dem Tal zu den einsamen Männern, die nur gelegentlich von Reisenden hören, daß der französische Kaiser Napoleon, den man einst als Konsul auf den Paß bewirtet hatte, zur Zeit einen gigantischen Feldzug gegen den russischen Zaren vorbereitet. Doch je mehr die Aushebungen in den großen Schweizer Städten fortschreiten, je mehr der Kaiser darauf drängt, daß zum Frühjahr seine Große Armee unter Waffen steht, um so häufiger gilt es, in den Schneewehen des Passes verirrte Männer zu bergen, die sich der Wehrpflicht unter einem landfremden Diktator entziehen wollen. Von heute auf morgen vom elterlichen Herd verjagt, versuchen die jungen Burschen bei Nacht und Nebel die nahe Grenze zu überschreiten und den Wächtern zu entgehen, die unweit des Hospizes in einer windschiefen Grenzhütte hausen und auf jeden anlegen, der sich hier verdächtig macht. Fast alle diese Burschen tragen versteckt unter ihrem Rock die Pistole. Man unterscheidet kaum Schmuggler von harmlosen Menschen, denen die Not eine Waffe in die Faust gedrückt hat. Eines Tages, Anfang Februar 1812, erscheinen die französischen Werber auch in Martigny und heften ihre Einberufungsbefehle an die Mauern der uralten Stadt. Von Martigny reisen sie das Alpental südlich hinauf. Unter den Burschen, die als freie Bauernsöhne keine Lust ver23
spüren, Kanonenfutter auf den Eroberungszügen Napoleons zu werden, befindet sich auch ein Häuslerssohn, dessen Eltern zwischen Orsieres und Somlaproz an den Hängen des steilen Weges nach Champey etwas Weideland für das Vieh besitzen. „In der nächsten Volhnondnacht", so sagt der Martin zu seinen alten Eltern, „mach ich mich über die Grenze. Ich kenn' jeden Weg und Steg, mich faßt kein Büttel der Kaiserlichen!" Die Eltern, die voller Angst von den Aushebungen der Franzosen gehört haben, wissen auch keinen anderen Ausweg. Wenn Martin von Champex nicht die viel begangene Straße über Bourg Saint Pierre wählt, sondern westlicher das unwirtliche, verschneite Tal entlangwandert, schließlich bei den zugefrorenen Fensterseen auf auf das Hospiz des Großen Sankt Bernhard zuhält, kann ihm nichts geschehen. Mitten in einer eiskalten Februarnacht, als die Sterne im Frost über den schneeigen Spitzen der Berge glitzern und funkeln, macht sich der Bauernsohn Martin auf den beschwerlichen Weg in die Freiheit, die jenseits der Alpenkette winkt. Am ersten Tag kommt er gut voran. Ein Bauer von La Fouly, der schon manchem Flüchtling Unterschlupf gewährt hat, verbirgt ihn im Heustadel. Doch der schwerste Teil des Weges liegt noch vor dem blutjungen Burschen, der stets nur in klarer Nacht weiterwandert, um den Häschern und Zöllnern aus dem Wege zu gehen. Je höher Martin steigt, um so wärmer wird es; man braucht einem Mann, der in diesen Bergen aufgewachsen ist, nicht zu verraten, was das bedeutet. Ein Wettersturz kündigt sich an. Der klare Sternenhimmel zieht sich zu. Der aufkommende Wind saust und faucht durch die Felsschründe. Längst liegen die abseitigen Hütten hinter dem Flüchtling, der mit scheuem Blick zu den Hängen des Mont Perce hinaufsieht. Noch etwa hundert Meter, dann hat er ein kleines Plateau erreicht, das von den Bauern ,Les Retours' genannt wird. Hier sammelt man in den Sommermonaten das Vieh, ehe es nach der Weidezeit wieder ins Tal in die Ställe getrieben wird. ,Les Retours' — die Wiederkehr —, das ist ein schöner Name! Wann wird dieser Einsame wiederkehren, wann wird er wieder daheim sein, er, der aus seinem Vaterhaus geht, weil man ihn nicht ruhig und in Frieden dort leben lassen will? Der Bauernsohn Martin hat keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen. Fast lautlos hat sich im westlichen Tauwind oben an der Bergkante ein Schneebrett gelöst und gleitet heimtückisch — immer mehr weiße Massen mit sich reißend — zur Alm der Wiederkehr hinunter. Die Lawine schnellt an, sie löst den weichen Pappschnee von den Stein24
hängen, urplötzlich brüllt die herniederbrechende Masse auf. Der Mensch unten in der Felsscharte zuckt zusammen. Er wirft sich in den Schnee, verdeckt die Hände vor dem Gesicht. Ohnmächtig, wehrlos und stumm muß das winzige Menschlein das Toben der Naturgewalten über sich ergeben lassen. Keine Flucht, kein verzweifelter Schrei kann helfen. Ein paar Sekunden später ist die Felsklamm in weißen, aufquellenden Schneewolken verschwunden. Und als sich der abwärts dröhnende Donner verzieht, hat sich das Schweigen des weißen Todes über die Einsamkeit gebreitet. Zur gleichen Minute wird droben im Hospiz der Bruder Maronnier, der Hundehalter also, durch das wütende Gebell seiner Meute aufgeweckt. Das feine Ohr der Hunde hat das dumpfe Rollen aufgefangen. Wild tobt die Meute nun an den Gittern. Barry reißt seinen Herrn fast um, als dieser vorsichtig die Tür zum Zwinger öffnet. Noch berät man im Hospiz, wer den Hunden folgen soll, als Barry bereits mit einem großen Satz aus der Tür ist und bellend in der Dämmerung der Schneenacht verschwindet. Zwei andere Hunde schließen sich folgsam den beiden Brüdern an, die mit ihren langen Bergstöcken vorsichtig der Fährte des Leithundes nachgehen. Die Spur von Barry ist eine Zeitlang im Schnee zu verfolgen, doch nach einer guten Stunde reißt sie plötzlich ab. Die beiden Männer sehen vor sich den Abbruch einer geringen Staublawine, die erst vor einigen Minuten niedergegangen sein muß. Der Schnee hat sich flach auf einer schräg abfallenden Mulde ausgebreitet. Sollte Barry in den weißen Strom hineingekommen sein, so kann er sich leicht wieder herausarbeiten. Man wartet, man ruft, kein Gebell antwortet. In welcher Richtung soll man weitergehen? Unschlüssig bleiben die beiden mit ihren Hunden stehen. Man muß wohl den Tag abwarten, ehe man sich weiter vorwagen kann. Die beiden Mönche, die langsam in ihren eigenen Spuren umkehren, ahnen nicht, daß kaum tausend Meter von ihnen entfernt ein furchtbares Geschehen vor sich geht. Barry hat weit vorauseilend die niedergehende zweite Lawine instinktmäßig vermieden. Ehe sie ins Tal staubte, ist der Hund im großen Bogen um den Abbruch gelaufen, der ihm den Weg versperrt. In großen Sätzen hat er endlich die Höhe bei den Fensterseen erreicht und ist dann schnurgerade dorthin gerannt, wo vor fast drei Viertelstunden die große Lawine ins Tal donnerte und den Bauernsohn Martin verschüttete. Immer wieder stößt Barry seine stumpfe Nase in den Schnee. Hier gräbt er etwas, dort verharrt er lauschend und schnüffelnd. Liegt der Verschüttete nicht 25
tiefer als zwei Meter, so bekommt die feine Nase des vierbeinigen Retters seine Witterung. Plötzlich umkreist Barry mehrmals schnaubend eine Stelle. Wütend beginnt er mit den Vorderfüßen zu graben. Eine Wolke von Schnee staubt hinter dem Tier auf. Langsam verschwindet der massige Körper des Hundes in einem Loch, das schräg nach unten führt. Plötzlich lockert sich die Schneedecke und bricht zu einem länglichen Spalt auf, aus dem ein wilder Schrei des Entsetzens dringt. Barry fährt zurück und duckt sich. Warum schreit der Mensch in dem Schneespalt auf? Langsam, den Kopf schief gelegt, rutscht Barry in die Tiefe. Jaulend wirft er vor sich den losen Schnee auf. Doch der Mensch, der da unten bis zur Brust im Schnee vergraben liegt, wirft von Entsetzen gepackt die Hände hoch. Seine Augen weiten sich vor Schreck. Wirkt der Schock noch in ihm nach, der ihn traf, als die Lawine ihn davontrug und in den Felsengrund schleuderte? Martin glaubt einen Bären über sich zu sehen. Ist es ein Phantasiebild der Angst, ist es Wirklichkeit? Der Bauernsohn schreit, was die Lungen hergeben. Der Hilferuf ist wie das Notgebrüll eines gehetzten Tieres. „Der Bär, der Bär! Hilfe, Hilfe!" Der vor Schreck halb wahnsinnige, gefesselte Mann bäumt sich auf. Da vorn steht ein großes Tier in der Höhle. Nein, es ist kein Traumspuk, es rührt sich. Es kommt näher, immer näher. Schon kann der Verschüttete deutlich den großen behaarten Kopf erkennen. Der massige Körper schiebt sich Stück für Stück heran. Gott im Himmel, schon fühlt er den heißen Atem des Tieres an seinen eiskalten Wangen! Die Bestie pustet ihn an. Jetzt hat sie die Tatzen auf seine bewegungslosen Schenkel gesetzt. Jetzt wird der Bär zubeißen! Da plötzlich durchfährt den Verzweifelten wie der Blitz ein Gedanke: er hat doch ein Messer! Die halb erstarrten Finger tasten die Kleidung ab, und die Hände fassen die kalte Klinge. Der Mann schließt die Augen, reißt das Messer zurück und zielt in seiner Todesnot dorthin, woher der heiße Atem kommt. Und das Messer zuckt wieder und wieder wie eine wild gewordene Sense in das Halbdunkel. „Ich muß mich wehren!" Die Verzweiflung gibt den Stößen Riesenwucht. Schon scheint es Martin, als laufe eine heiße, feuchte Flüssigkeit über seine Hände. Hat er das Ungheuer getroffen? Irgendetwas Klebriges ist an der Klinge. Warum wehrt sich der Bär nicht? Er könnte doch zubeißen,
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könnte mit seinen Tatzen zuschlagen! Der Mensch in seinen wirren Phantasien sinkt wie leblos zurück Die Anstrengung hat ihn wieder in die tiefe Ohnmacht sinken lassen. Wie aus weiter Ferne hört er ein klagendes Geheul. Es ist, als käme es irgendwo von einem Berg . . .
* Die beiden Mönche, die sich auf den Rückweg gemacht hatten, als sie Barrys Spur nicht mehr im Schnee fanden, sind wieder vor dem Hospiz angelangt, als plötzlich die beiden Bernhardiner an ihrer Seite in die Ferne lauschen. Die Menschen hören nichts, doch die Tiere sind aufs höchste erregt. „Es ist etwas geschehen", ruft einer der beiden Männer. „Die Hunde müssen etwas gewittert haben." „Es ist, als antworteten sie auf einen fernen Ruf . . . " Doch die weiße Stille wirft keinen anderen Laut herüber als das jammervolle Klagen der Hunde. „Pluton, Leon, sucht, sucht!" Einer der beiden Brüder hat es, gerufen. Es ist, als hätten die Hunde nur auf diesen Befehl gewartet, wild zerren sie an ihren Leinen vorwärts. Sie eilen auf der Piste zurück, die sie selber in den Schnee gegraben haben. Schon stehen die beiden atemlos folgenden Brüder wieder an dem Abbruch der der Lawine, der sie vor Stunden zur Umkehr veranlaßt hat; aber die Hunde geben noch immer keine Ruhe. Erst am Rande der Alm „Les Retours" bleiben sie stehen, als gelte es, ein Wild anzuzeigen, das sich in die Schneemassen verkrochen hat. Die Tiere zittern, und es ist nicht allein die Kälte, die sie erschauern läßt. „Halt! Hier eine Blutspur!" Einer der Mönche hat im Schnee eine Fährte entdeckt. Ein großes Tier hat sie getreten, unverkennbar ein Hund! Um des Himmels Willen: Was ist mit Barry geschehen? Kein anderer kann es sein! Die Fährte die sich leicht verfolgen läßt, wird mehr und mehr zur Blutbahn. Plötzlich verschwindet die Spur in einem schmalen Schneespalt, der schräg nach unten in die Dunkelheit zu münden scheint. „Barry, Barry!" Es ist der Ruf eines angstvoll bangenden Menschen. Kommt keine Antwort? — Da — es ist wie das Wimmern eines verängstigten Tieres. Ein Kind könnte so klagen in seiner letzten Not. „Barry, so komm doch her, komm doch her, Barry!" Doch kein Barry kriecht aus dem Spalt. Nur wieder dies Wimmern, das langsam zu ersterben scheint. Einer der Mönche steigt
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vorsichtig hinab Schritt für Schritt dringt er in die Dämmerung, an die sich sein Auge erst langsam gewöhnen muß. Sein Fuß stößt an einen liegenden Körper. Die Hände fassen zu. Die Finger gleiten durch Fell. Das ist Barry! Und der Hund blutet. . . Und wie sich das Auge mehr und mehr an das Halbdunkel unten gewöhnt, erfaßt der Mönch die Tragödie, die sich hier abgespielt hat. Der heranbrechende Morgen wirft sein ungewisses Licht in den Schneegrund, und der Bruder vom Hospiz erkennt vor sich liegend seinen treuen Barry und einen Unbekannten. Mensch und Hund rühren sich nicht. Doch der Boden der Höhle läßt erkennen, was hier in den letzten Stunden vor sich gegangen ist. Blutverschmiert ist der Schnee. Blutbedeckt ist der brave Hund, kaum eine Armlänge von dem verirrten Wanderer entfernt. Der verwundete Bernhardiner hat offenbar versucht, Hilfe zu holen, daher die Blutfährte in der Umgebung, und ist doch pflichterfüllt wieder zu dem Hilflosen zurückgeeilt. Der Mönch beugt sich über den bewußtlosen Fremden, faßt ihn an den Schultern, flößt ihm ein wenig Branntwein ein, was nicht schwer fällt, denn der Mund des Mannes ist wie im Schrei halb geöffnet. „Sieh nach Barry!" ruft der Mönch seinem Begleiter zu, der jetzt vorsichtig in den Spalt einsteigt. Während der eine der Retter noch um den ohnmächtigen Bergsteiger bemüht ist, hat sein Kamerad sich neben Barry in den Schnee geworfen. Vorsichtig versucht er, das massige Tier umzubetten. Barry liegt in einer großen Blutlache. Wo auch die tastenden Hände des Klosterbruders das verklebte Fell berühren, überall finden sie Stichwunden! „Ein Messer! Sieh her!" Die Spitze der Waffe ist dem Hund von unten in die Höhlung unter dem linken Vorderlauf gedrungen. Als der Bruder sich vorsichtig bemüht, das Messer aus dem Fell zu ziehen, dringt ein Winseln an sein Ohr. Barry hat für einen kurzen Augenblick die Augen geöffnet. Es ist der Schmerz, der das treue Tier aus seiner Ohnmacht gerüttelt hat. „Mein Gott, wie konnte dieser Mensch seinen Retter so verwunden?" Die hellen Tränen stehen in den Augen des Mönches, der seinen vierbeinigen Gefährten wie ein leidendes Kind in die Arme genommen hat. Von den Lippen des Verirrten kommt ein Stöhnen. „Helft mir, helft mir dodi", hört man den Unbekannten klagen, „der Bär will mich zerreißenl" 28
„Hier ist kein Bär gewesen", sagt der Mönch begütigend. „Es war nur einer unserer Hunde, mein Freund!" Nur ein Hund! Die beiden Helfer sehen sich stumm an, Ja, es ist nur ein Hund, dessen Blut hier vergossen worden ist. Ein treues Tier, das einen Verunglückten hat retten wollen. Im Wahn. der Erschöpfung hat dieser Mensch seinen Retter niedergestochen . . . Aber das ist es nicht allein, was den beiden Mönchen die Tränen in die Augen getrieben hat. Barry, immer wieder von dem Messer des Mannes verletzt, hat sich nicht gegen die erhobene Waffe gewehrt! Mit einem einzigen Biß hätte das Tier den Arm seines Peinigers bewegungslos machen können. Barry hat fast wie ein demütiges Opfer alle Angriffe widerstandslos über sich ergehen lassen. Und fast noch erschütternder: Mit einem einzigen Satz hätte sich Barry aus dem Bereich der Messerhiebe zurückziehen können! Das Tier, von dem mit dem Tode ringenden Menschen sinnlos verletzt, ist stattdessen ungeachtet der Wunden immer wieder zu ihm gekrochen, hat seinen Peiniger mit der eigenen, langsam schwindenden Lebenswärme zu retten versucht. Fast ist es den beiden Brüdern, als habe das treue Tier die Mission seiner Herren vom Hospiz erfüllt, nämlich auch denen zu helfen, die so oft Übles tun. Martin ist unverletzt. Gewiß hat die Kälte dem Flüchtling zugesetzt. Doch das wärmende Getränk bringt ihn bald wieder zu sich. Man wird ihn vorsichtig zum Hospiz tragen. Man wird seine erfrorenen Glieder versorgen. Nach gut einer Woche wird er weiterwandern können. Das gefährlichste Abenteuer seines Lebens liegt dann wie ein Alptraum hinter ihm. Aber hier neben ihm liegt Barry. Hat das treue Tier noch eine winzige Chance, mit dem Leben davonzukommen? Längst ist einer der Brüder zum nahen Hospiz zurückgeeilt. Man kommt mit zwei Bahren zurück. Mensch und Hund werden vorsichtig in die Wärme getragen. Auf den Fluren des Hospizes, in den Zimmern, in denen man sich um Martin und den guten Barry bemüht, wird kaum ein Wort gesprochen. Niemand denkt daran, dem Bauernjungen auch nur den leisesten Vorwurf zu machen. Selbst Martin muß mit seinen Tränen kämpfen, als ihm klar wird, welchem Irrtum er zum Opfer gefallen ist. „Werden Sie ihn retten?" flüstert er einem der Mönche zu, die ihn umsorgen. Doch der Bruder zuckt mit den Schultern. Barry hat zehn Stiche davongetragen. Manche Wunde geht tief in den halb ausgebluteten Körper. Man wagt nicht einmal, sie zu sondieren. Seltsamerweise 29
dringt aus dem Hundezwinger in den nächsten Tagen kaum ein Laut. Es ist, als wüßten die Tiere, daß ihr bester Kamerad nicht weit von ihnen mit dem Tode ringt. „Wäre es nicht das Beste", sagt etwa eine Woche später der Prior zu den Seinen, „wenn man versuchte, Barry ins Tal zu schaffen? Wir haben nicht die Mittel, ihn richtig zu pflegen. Sie haben wirksamere Medikamente . . ." Die Brüder geben keine Antwort. Auch ihnen ist bereits der gleiche Gedanke gekommen. Aber sie wissen: Wenn sie Barry ins Tal bringen, so ist es ein Abschied für immer. Barry ist nicht mehr jung. Es wird lange dauern, ehe er wieder gesund ist, wenn es überhaupt jemals gelingt, ihn wieder ganz herzustellen. Sollte man das treue Tier nicht dort lassen, wo es sein ganzes Leben zugebracht hat? Hier am Hang der Berge hat er yierzig Menschen gerettet, hier ist seine Welt. Unter im Tal wird er seine letzten Tage wie ein Fremder zubringen. Doch dann verstummen diese Einwände: Man muß alles tun, um Barry zu retten. Vielleicht kehrt er eines Tages dann doch zurück . . . Eine leichte Hoffnung, die jedermann für trügerisch hält, sobald sie ausgesprochen ist. Auf einer Bahre bringen sechs der Brüder ihren besten Gefährten in stundenlanger Wanderung vorsichtig ins Tal. Barry hat seinen Kopf schräg zwischen die Tatzen gelegt. Seine klugen, dunklen Augen verfolgen den Weg seiner Träger. Unten an der großen Kehre bei der „Cantine de Proz" setzt man die Trage für eine Weile hin. Die Sicht ist seltsam klar, man kann oben auf dem Paß-Scheitel den feinen Rauch sehen, der vom Hospiz in die kalte Luft steigt. Der Hund nimmt Abschied, sie fühlen es alle.
* Barry hat seine Verwundungen überlebt. Man hat ihn in langer Fahrt bis nach Bern gebracht. Hier haben ihn geschickte Ärzte gesund gepflegt. Zwei lange Jahre noch hat Barry in Bern gelebt. „Er war der König aller Hunde der Stadt", heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. „Kein Tier kam ihm zu nahe, bis er eines Morgens tot auf seinem Lager aufgefunden wurde. Nach den Bekundungen der Stadtbehörden will man dem treuesten Hund, den man kennt, ein bleibendes Denkmal setzen. Es ist beschlossen, daß man seinen Körper ausstopft und an einem hervorragenden Platz in einem Museum ausstellt." So ist es auch geschehen. Barry steht heute noch vor uns, wenn wir in Bern das Naturhistorische Museum aufsuchen. Als lebe er 30
heute noch, so blickt er die Menschen an, die ihn dort besuchen. Und es ist zu einer Gewohnheit geworden, die niemand diktiert, daß man vor ihm den Hut zieht. Ohne Geste, ohne Zwang: Es ist wie ein Gruß an einen alten treuen Freund . . . Oben auf dem Hospiz ist die Zeit weitergegangen. Nach Barrys tragischem Tod beschließen die Mönche, daß — solange das Hospiz steht — immer der beste Hund ihrer Rudel den Namen Barry tragen soll. Viele Barrys haben seitdem diesem Namen Ehre gemacht. Barry II ist bei einer Lebensrettung am Mont Cubit in eine Lawine geraten und erst ein halbes Jahr später tot geborgen worden. Barry III stürzte auf einem gefährlichen Suchgang fast zweihundert Meter tief in einen Abgrund. Manches Unglück ist selbst noch in den letzten zwanzig Jahren über die Menschen und Hunde am Großen Sankt Bernhard hereingebrochen. 1926 verloren sechs Brüder ihr Leben bei einer Rettung. Zehn Jahre später kamen drei Touristen in einer Lawine um. Ein Jahr später war es ein italienischer Schmuggler, der den Wettlauf mit dem eisigen Tode verlor. Vor wenigen Jahren retteten Barrys Nachkommen eine deutsche Krankenschwester am Paß, als sie sich im Nebel verirrt hatte. Andere Hunde gingen mit ihren Herren ins ferne Tibet, um auch hier Menschen in Bergnot beizustehen; sie kehrten, da die politischen Verhältnisse ihre Hilfeleistung nicht mehr zuließen, nach Jahren in die alte Bergheimat zurück.
* Heute führen die Hunde auf dem Sankt Bernhard wohl noch das alte Leben, das einst Barry liebte. Doch der Paß ist laut geworden. Autos fahren die Paßstraße hinauf, eine Seilbahn verbindet das Hospiz mit den nahen Gipfeln. Gewiß, die heroische Zeit der Bernhardinerhunde scheint beendet zu sein. Doch lebt auch heute noch jener Hund in den Geschichten weiter, und sie verstummen nicht, solange die weißen Berge von Aosta aufragen. Barrys und seiner Gefährten Namen sind unvergessen, und sie werden nicht verblassen, solange der Mensch überall in der Welt den Hund als seinen treuen Freund ansieht. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 2 4 8 (Tierkunde) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnnu, Oberbayern. Seidl-Park. — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth 31