Besessen Version: v1.0
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Besessen Version: v1.0
Der Sonnenschein beschönigte nichts. Es war und blieb der schlimmste Montag seit mindestens tausend Jahren. Ein Tag, der besser nie in den Kalendern aufgetaucht wäre. Police-Detective Jeff Warner hatte Aberglauben stets abgelehnt. Er hatte mit beiden Beinen fest im Leben gestanden, bis … ja, bis sein glattes, berechenbares Weltbild binnen eines einzigen Tages von einem Sturm der Unmöglichkeiten hinweggefegt worden war! Needles war tot. Sein Assistent lag vermutlich schon unter Hen driks Messer. Warner hatte den Polizei-Pathologen selbst darum gebeten. Schlimmer aber noch wog die Vorstellung, nie zu erfah ren, woran Needles zugrunde gegangen war. Er und ein Dutzend anderer, die dem Höllenhaus zu nahe ge standen hatten, als es losging! Als was losging …?
Was bisher geschah Eine junge Frau ohne Gedächtnis erwacht auf einem Friedhof – und wird von einem verletzten Mann angegriffen. Die aufgehende Sonne läßt ihn jedoch zu Staub zerfallen. Die Frau verläßt den Friedhof. Von einem Taxifahrer erfährt sie, daß sie in Sydney, Australien, ist. Plötzlich verspürt sie bohrenden Hunger und beißt den Driver in den Hals. Das ernüchtert sie auf einen Schlag; sie rennt davon, bis sie vor einem uralten Haus steht – das seltsamste Haus, das man sich vorstellen kann, denn Türen und Fenster sind bloße Attrappen. Trotzdem gelangt sie hinein. Visionen greifen nach ihr, bringen die verlorene Erinnerung Stück um Stück zurück. Schließlich gelangt sie zu einer uralten Frau, die sie mit dem Na men Lilith Eden anspricht. Sie berichtet, daß Lilith nach dem »Erwa chen« zu früh das Haus verlassen hätte. Die Häscher würden nur darauf warten, sie endlich in ihre Hände zu bekommen. Und es gebe eine Nachricht ihrer Mutter, die alles erklären würde. Die Frau stirbt. Im Keller entdeckt Lilith einen Sarg mit ihrem Na men, darin ein rotes Kleid. Und sie findet das Grab ihrer Mutter. Dort überfällt sie eine weitere Vision. Lilith erfährt, daß sie die Toch ter einer Vampirin und eines sterblichen Mannes ist, im Jahre 1896 geboren. Wie vorherbestimmt, starb ihre Mutter bei der Geburt des lebenden Kindes, und ihr Vater nahm Lilith mit sich in ein Haus, das mittels Magie zur uneinnehmbaren Festung gemacht worden war. Von Zeit zu Zeit jedoch mußte er es verlassen, um Nahrung für Lilith zu besorgen: frisches Blut! Er nahm eine Waise als Spielkame radin für sie auf: Marsha, die im Gegensatz zu Lilith normal alterte. Um die Zeit im Haus erträglich zu machen, wurden die Mädchen immer wieder in magischen Schlaf versetzt, während dem sie ein »normales Leben« träumten.
Eines Tages wurde Liliths Vater von Vampiren getötet. Lilith lag zu dieser Zeit im Schlaf. Marsha öffnete einen hinterlegten Brief und richtete sich nach den Anweisungen. Sie ließ Lilith schlafen, führte ihr durch Infusionen Blut zu und wachte über sie. Nun, am Ende ihres Lebens, weckt Marsha Lilith. Diese flieht ver wirrt und wird von einem seit fast einem Jchrhundert wartenden Vampir überfallen – der Mann auf dem Friedhof. Nun ist sie zurück im Haus, doch die Erklärungen der Mutter geben ihr keine klaren Hinweise auf ihre Bestimmung. Irgend etwas soll wohl zu ihrem 100. Geburtstag geschehen, also in zwei Jahren. Als letztes fordert die Mutter Lilith auf, das Kleid anzuziehen. Es beißt sich wie mit Widerhaken in Liliths Haut, als sie es überzieht. Noch einmal meldet sich die Stimme der Mutter. Sie warnt vor ei ner feindlichen Vampirsippe und insbesondere vor deren Führer Landru. Lilith müsse gegen die Vampire kämpfen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt würde. Als Lilith in die Halle hinaufsteigt, wartet draußen schon eine Menschenmenge, angeführt von dem Taxifahrer. Lilith verläßt das Haus durch einen Hinterausgang. Das Kleid hilft ihr, indem es die Form eines unauffälligen Kleidungsstücks annimmt. Lilith läßt sich von einem Porno-Produzenten abschleppen. Er glaubt, den Fang seines Lebens gemacht zu haben, doch am Ende fühlt sich Mr. Porno mehr als ausgepowert und Lilith mehr als ge sättigt. Dem Parapsychologen Brian Secada gelingt es unterdessen, in das verlassene Haus einzudringen. Was er in dessen Räumen erlebt, kostet ihn am Ende den Verstand. Als er schließlich dem Moloch entfliehen kann, ist er um Jahrzehnte gealtert. Das Haus versinkt in einer Erdspalte, nachdem es auch noch den Menschen in seiner un mittelbaren Umgebung die Lebensenergie geraubt hat.
Detective Warner soll auf Befehl seines Chefs in Sachen »ver schwundenes Haus« ermitteln, obgleich er viel lieber seiner Lieb lingstheorie von einem Serienmörder nachginge, der seit langer Zeit in Sydney sein Unwesen treibt und seine Opfer stets mit gebroche nem Genick zurückläßt. Kurz nachdem Lilith ihren »Wirt« verlassen hat, taucht Hora, das Oberhaupt der Vampirsippe von Sydney, bei dem Produzenten auf. Er versucht Informationen aus ihm herauszupressen und verwan delt ihn in eine Dienerkreatur. Dann heftet er sich weiter an Liliths Fersen. Sein Sohn kann Lilith stellen – und wird von ihrem Kleid getötet. Als die ganze Sippe sich zusammenrottet, bringt Liliths Kleid auch noch Hora um, bevor sie mit Mühe in eine Kirche entkommt, deren Atmosphäre sie dank des menschlichen Anteils in ihren Genen nicht vernichtet …
»Wenn wir das wüßten!« knirschte Warner und fuhr sich durch das widerspenstige, weil ungekämmte Haar. »Bitte?« fragte einer der Wissenschaftler, die in seiner Nähe arbei teten. Er sah von seinem Meßgerät hoch und erinnerte Warner von Statur und Gehabe her unwillkürlich an Brian Secada, den ver schwundenen Parapsychologen, der das von Bäumen und Sträu chern umgebene Gebäude im Auftrag des Polizeichefs untersucht hatte – und seither vermißt wurde. Niemand wußte wirklich, was aus ihm geworden war. Es gab Zeugenaussagen, wonach eine uralte Gestalt aus dem Haus getaumelt war, ehe die Leute im Umkreis sterbend zu Boden gesunken waren. Möglicherweise hatte es sich bei dem Greis um Secada gehandelt, der einem ähnlichen Phänomen zum Opfer gefallen war wie die Leute draußen. Aber das war Spe kulation. Warner hielt sich lieber an die Fakten. Fakt eins war, daß sie, inklusive Secada, etwa fünfzehn Todesopfer zu beklagen hatten. Die meisten waren – so verrückt es sich anhörte – an Altersschwäche gestorben. Junge, gesunde Polizisten mit einem Durchschnittsalter von fünfunddreißig Jahren waren an Vergreisung gestorben und sahen jetzt aus wie Mumien! Fakt zwei betraf das Gelände, auf dem Warner das Haus samt wu cherndem Garten mit eigenen Augen gesehen hatte – vielleicht hätte er sonst an dessen Existenz gezweifelt, wie viele es taten, die jetzt erst zur Spurensicherung angerückt waren. Die Erde hatte sich ge öffnet und das tür- und fensterlose Gebäude verschlungen. Auch al les Grün innerhalb der Gartenmauer war von der Erde getilgt wor den. Aber weder das eine, noch das andere hatte Spuren hinterlas sen. Kein Krater, keine Verwerfung, keine Narbe war zurückgeblie ben, nur ebener, kahler Grund, auf dem nicht einmal mehr ein Gras halm wuchs! Fakt drei ging Warner (nach Needles Tod) am meisten an die Nie
ren, betraf es ihn doch am persönlichsten. Jemand hatte versucht, ihn umzubringen. Ungefähr zur selben Zeit, als hier das Höllenspek takel losging. Drei Männer, die es so nicht hätte geben dürfen, hat ten ihm in der Tiefgarage aufgelauert. Drei Kerle, deren Gesichter sich wie Knetmasse nach Belieben verformten und denen die Kugeln aus Warners Dienstrevolver, obwohl ausnahmslos Volltreffer, nichts anzuhaben vermochten. Nicht das geringste. Sie hatten versucht, Warners Genick zu brechen, waren aber im letzten Moment gestört worden und geflohen. Ich könnte tot sein, dachte Warner ohne Pathos. Ein Wimpernschlag länger, und ich wäre jetzt reif für Hendriks. Wie Needles. »Nichts«, antwortete Warner mit Verspätung. »Ich rede nur mit mir selbst …« Der Wissenschaftler nickte, als verstünde er das. »Schon was herausgefunden?« fragte Warner und begriff, daß er dieses Grundstück, das nun leer war, von Anfang an nicht gemocht hatte. Und der Boden unter seinen Füßen schien ihn ebenfalls nicht zu mögen. Vielleicht war es Einbildung – vielleicht aber auch eine schlichte Tatsache, die sich nahtlos in die anderen Unmöglichkeiten einfügte.
* Statt einer Antwort stöhnte der Wissenschaftler plötzlich auf. »Vorsicht!« Er brüllte es seinen Kollegen und Warner zu. »Irgend etwas – tut sich da unten …! Aufpassen!« Hastig schnappte er seine koffergroße, kompliziert wirkende Ap paratur, die nach dem Prinzip eines Tiefseesonars arbeitete, und
rannte damit Richtung Tor. Weder Warner noch die anderen begriffen sofort den Ernst der La ge. »Heh!« rief der Detective dem Mann, der Fersengeld gab, hinter her. »Was, zum Henker, haben Sie denn festgestellt?« Der Wissenschaftler blieb stehen. Sein Gesicht, das sich Warner zudrehte, wirkte ratlos. Er rief: »Ich weiß es nicht. Himmel, ich habe so einen Ausschlag noch nicht erlebt! Aber etwas scheint … zu kom men!« »Zu kommen?« echote Warner. Jemand lachte respektlos. Aber dann fühlten es alle. Der Boden unter ihnen begann kurze tektonische Erschütterungen in ihre Beine zu stoßen. Die Erde innerhalb der mannshohen Mauern schien sich wie die Oberfläche eines Teichs im Wind zu kräuseln. Nur daß es nicht windig war. Nur daß dies kein See war. Nur daß … »Oh, verdammt …!« Wer es rief, war nicht auszumachen, aber plötzlich rannten alle – Warner eingeschlossen. Sie hatten geglaubt, die Gefahr sei mit dem unbegreiflichen Haus verschwunden. Wer befürchtet hatte, daß der Wahnsinn noch nicht vorbei war, hatte es verschwiegen. Warner hatte überhaupt keine Meinung zu dieser Frage besessen. Er war seit sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf und hätte vermut lich im Auge eines Hurrikans wegnicken können. Aber nun wurde er wieder hellwach. Nach dem Wissenschaftler, der den Warnruf ausgestoßen hatte, war er der zweite, der durch das eiserne Gartentor flüchtete. Hinter ihm folgten die anderen. Manche zitterten noch, als sie längst wie
der sicheren Boden unter den Füßen hatten. Warner war stehengeblieben, als er merkte, daß die Mauer die Grenze war. Dahinter – also außerhalb des Grundstücks, das in allen Akten der Baubehörde verleugnet wurde – herrschte eine beinahe gespenstische Stille. Von allen Seiten drangen Stimmen. Auch von denjenigen, die dafür sorgten, daß der über diesen Teil der Paddington Street ausgerufene Ausnahmezustand eingehalten wurde. Der Riegel um die Hausnummer 333 war inzwischen so großräumig, daß die Absperrungen von Warners Standort aus nicht zu sehen waren. Er ging ans Tor. Durch die Vergitterung hatte er uneingeschränkte Sicht auf das komplette Areal. Als sich neben und hinter ihm andere Personen drängten, die gemerkt hatten, daß der Vorgang, der sie in die Flucht geschlagen hatte, hier draußen keine Macht besaß, drehte er sich nicht nach ihnen um. Er starrte nur auf das Grundstück. Auf die kahle, sandige Erde, wo bis eben kein einziges Kraut mehr gewach sen war. Bis eben … Niemand verstand, was sich innerhalb der Mauern tat. Niemand hatte auch nur annähernd eine Erklärung dafür parat. Aber jeder konnte es sehen: Der Garten, der so radikal verschwunden gewesen war, als hätte etwas von unten kräftig an jeder Wurzel gezogen – kehrte auf ge spenstische Weise zurück! Zaghaft bohrten sich die ersten Keimlinge den Weg aus der versteppten Erdschicht. Überall, wohin man den Blick wandte, erwachte die verschwunden geglaubte Vegetation neu! Binnen Sekunden war die ödnis begrünt. Und wucherte weiter.
Nahm erste klare Formen an. Büsche, Bäume, Sträucher legten ein unheimliches Wachstum an den Tag …
* »Darf’s ein bißchen mehr sein?« fragte Abigail Jones. Ihr Rehblick grub sich in Duncan Luthers Augen, während ihr Dekollete sich so ausladend auf die niedrige Metzgerei-Theke stützte, daß dem Be trachter Zweifel kommen mußten, ob die rosenwangige Verkäuferin wirklich nur das saftige Stück Fleisch auf der Waage meinte. Der junge Priester-Aspirant allerdings schien über solche Anfech tungen erhaben. Schade eigentlich, fand Abigail. Sein Lachen war es, das sie sofort für ihn eingenommen hatte, als er den kleinen Laden zum ersten Mal betreten hatte. Schnell hatte Abigail seinen Namen in Erfahrung gebracht – nicht von ihm selbst, sondern von Charlotte, die hinten im Kühlhaus als Ausbeinerin arbeitete. Charlotte war – wenn sie nicht gerade das erlauchte Hackebeil schwang – eine eifri ge Kirchgängerin. Duncan Luther hatte bei Lorrimer »angeheuert« – zumindest hatte sich Charlotte so despektierlich ausgedrückt. Sie schien selbst ein Auge auf den süßen, blauäugigen Jungen geworfen zu haben. Abigail rechnete der fleischigen Charlotte allerdings keine Chancen ein. Charlotte mochte mit Muskeln gesegnet sein – eine Figur konnte man dem, was sie durch die Gegend schob, beim besten Willen nicht nachsagen. Sie hatte eine beachtliche Oberweite, nur drückte die sich nicht in Busen aus, sondern in gleichmäßig verteiltem Speck. Wären Abigail und Charlotte keine Freundinnen gewesen, hätte Abi sich irgendwann die Bemerkung bestimmt nicht mehr verkneifen können, ob Charlotte schon mal aus Versehen an der falschen Schwarte herumgesäbelt habe …
Aber sie waren Freundinnen. Gute Freundinnen, die sich – fast – alle Geheimnisse anvertrauten. »Noch mehr«, grinste Luther, »und die Theke bräche vermutlich zusammen …« Abigail stutzte, schielte an sich herab, begriff, was er meinte, und begann so lauthals loszuprusten, daß es nur Sekunden dauerte, bis Charlottes Kopf in der Verbindungstür auftauchte, puterrot anlief und sofort wieder verschwand. Abigail prustete noch einmal kurz ihrem eigenen Lachen hinterher und packte das Fleisch in eine Tüte. Luther zahlte wie immer in klei nen Scheinen und ein paar eilig abgezählten Münzen. Abigail brauchte keinen Cent herauszugeben. »Kommenden Sonntag werde ich meine erste Predigt halten dür fen«, sagte der Sonnyboy von einem Priesteranwärter, ehe er die glöckchenüberfrachtete Tür öffnete. »Ich würde mich freuen, wenn Sie mir hinterher Ihre ehrliche Meinung dazu sagen würden …« Abigail nickte eifrig. Sie hatte, als sie zu Hause ausgezogen war, auch der Kirche ade gesagt. Seit sie jedoch wußte, wen sie dort an treffen konnte, begleitete sie Charlotte jeden Sonntag, den der liebe Gott werden ließ. »Natürlich! Gern!« Er nickte lachend, rief: »Schön!« und brachte nach Abigail nun auch das Glockenspiel durcheinander. Kaum war er weg, schlüpfte Charlotte in den Verkaufsraum, wo sich zur Zeit keine weitere Kundschaft aufhielt. »Was für ein Lachen!« schwärmte sie, senkte sogleich den Blick und hauchte: »Ob er mich meinte?« »Natürlich«, log Abigail und stimmte ein: »Daß sich so ein Mann wegwerfen will …« Kopfschüttelnd versuchte sie, noch etwas von ihm an der Schaufensterauslage vorbei zu erhaschen. Charlotte schüttelte ebenfalls den Kopf.
In dieser Sache waren sie sich einig. Es war, als hätten sie sich unausgesprochen vorgenommen, den jungen Novizen vor dem »letzten Schritt« zu bewahren, den er ir gendwann bitter bereuen würde … »Ich kann es kaum noch erwarten«, seufzte Charlotte, »daß es Sonntag wird … Schließen wir ab? Ich glaube nicht, daß noch eine hungrige Seele vorbeikommt. Die meisten haben sich bereits mit ih rer Pro-Kopf-Wochenration eingedeckt. Mutig, mutig. Außerdem …« Wenn sie unter sich waren, mokierten sie sich offen über die Ver trauensseligkeit, mit der die Leute das pharmazeutisch gemästete Fleisch kauften. Der tägliche Umgang damit hatte bei Abigail und Charlotte einen gesunden Ekel erzeugt, und sie wußten seit langem wieder die Vor züge eines – nicht minder giftbelasteten – Salates oder Gemüses zu schätzen. Momentan nahmen sie es mit der Arbeitsmoral aber beide nicht so genau. Ihr Chef hatte sich für zwei Wochen in die Ferien verabschie det, was er sich einmal im Jahr leistete, und ihnen das Geschäft an vertraut. Im großen und ganzen konnte er sich auch auf sie verlas sen. Das wußte er, sonst wäre er vermutlich nicht gefahren. »Außerdem?« fragte Abigail. »Außerdem haben alle den Polizeiaufmarsch weiter oben in der Straße im Kopf«, meinte Charlotte in gesenktem Ton. »Du meinst die Sache, von der alle, die hereinkommen, reden – aber keiner weiß etwas Genaues?« »Genau!« Charlotte nickte. »Was meinst du, was es wirklich ist? Es soll ganz fürchterlich gerummst haben. Vielleicht war irgendwo eine Gasleitung leck, oder –« »Hier hat doch niemand Gas!«
»Dann eben was anderes. Heutzutage gibt’s doch genug, was in die Luft fliegen kann. Vielleicht ein Hobby-Bombenbastler bei einem Praxistest mit ungeahntem ›Erfolg‹ …« »Dein Humor wird von Tag zu Tag schwärzer. Du solltest etwas weniger ins Schlachtvieh, und etwas tiefer in dich gehen!« Charlotte grinste zweideutig und kam auf ihr ursprüngliches The ma zurück. »Einige Anwohner wurden sogar aus ihren Häusern evakuiert. Ob sie wollten oder nicht.« »Mit welcher Begründung?« »Keine Begründung.« »Polizeistaatmethoden!« fluchte Abigail, die politisch eigentlich gänzlich unbeleckt war. Nachdem sie die Wurstwaren eingepackt hatte, schloß Abigail den Laden ab und machte Kasse, während Charlotte hinten aufräumte, und schon eine halbe Stunde später verließen sie gemeinsam die Metzgerei, um sich an der üblichen Straßenkreuzung zu trennen. Sie wohnten beide im Stadtteil Paddington. Wenn auch nicht in seiner nobelsten Kante. Die Polizei zeigte überall ungewohnt viel Präsenz. »Bis morgen, und grüß mir Clark …!« Charlotte wandte sich win kend Richtung Victoria Barracks. »Ja, bis morgen«, murmelte Abigail. Die Erwähnung Clarks verlei dete ihr augenblicklich die Stimmung, aber sie ließ es sich nicht an merken. »Und träum’ schön vom lieben Duncan! Wer weiß, viel leicht fällt dir dabei endlich eine Masche ein, wie du ihn von seinem Priester-Trip herunterkriegst …« Abigail wandte sich Richtung Trumper Park und bemühte sich, an nichts anderes als an Duncan Luther zu denken. Das war vorbei, als sie wenig später die von Bierdünsten ge
schwängerte Dachwohnung betrat, wo ein typisches Stöhnen aus dem Fernseher bis in den dunklen Gang drang. Clark erwartete sie offenbar und »wärmte« sich auf seine Weise »auf«. »Scheiße!« fluchte Abigail erneut wenig ladylike. Seit Clark seinen Job geradezu fahrlässig in den Wind geschossen hatte, hing er den ganzen Tag nur noch faul auf der Couch herum. Er hatte nur noch fressen, saufen und vögeln im Kopf. Dabei war letzteres einer seiner größten Vorzüge gewesen, als Abigail ihn kennengelernt hatte. »Wahre Liebe hält eben nicht ewig«, seufzte sie wehmütig. Der Traum von ihrem Prinzen in dunkler Robe zerplatzte endgültig. Nicht Duncan Luther, sondern Clark Emmerson war da. Und dieser Hundesohn konnte verdammt mies werden, wenn man sich seinen Alkohol- und Videophantasien widersetzte. Viel mieser, als Abigail es ihrer Freundin jemals erzählt hatte …
* Er war müde und durstig und fühlte sich ausgezehrt bis auf die Knochen. Seit Stunden hielt er sich aus Angst vor der Sonne in die sem Keller versteckt, halb von Sinnen, weil das Reißen in seinen Ein geweiden ihm auch das Hirn zermalmte. Blut! dachte er in morbider Verzückung. Ich brauche diesen Saft! Ich bin süchtig danach! Der Keller war finster wie ein Kohlensack. Und feucht, kalt, mod rig. Der Mann, der seinen Namen vergessen hatte, lief unruhig auf und ab. Er sah die Wände und Hindernisse nicht, gegen die er prall te. Er fühlte den Schmerz nicht, der damit einherging. Aber er hörte
die Geräusche vorbeifahrender Autos und die Schritte der ahnungs losen Passanten, die nahe an den vergitterten Fenstern vorbeiliefen. Die bodennahen Kelleröffnungen waren mit alten Tüchern zuge hängt, die in einem Korb gelegen hatten. Kein Lichtstrahl fand mehr den Weg herein. Der Tod blieb draußen. Der Mann wimmerte vor Schmerz, als sich etwas wie glühende Nadeln in seinen Magen senkte. Noch schneller, noch planloser ging er auf und ab. Bald gab es nichts mehr außer dem Schmerz. Selbst die Fetzen Vernunft, die er sich bis dahin bewahrt hatte und die ihn veranlaßt hatten, sich hier zu verkriechen, wurden von der dunklen Gier überlagert, die ihn zu einem Gefangenen machte; nicht nur in diesem Keller, sondern in seinem Körper! Als es nicht mehr auszuhalten war, riß er die Tür auf und taumelte in den halbdunklen Gang. Die Treppe hatte Feuchtigkeit gezogen wie alles hier unten. Sie war so glitschig, daß er nach den ersten has tigen Schritten ausrutschte und so hart auf die Stufen schlug, daß Feuer sein Rückgrat hochzuzüngeln schien. Sekundenlang war sein Verstand klar wie Luft im Hochgebirge. Er erinnerte sich. Er schloß die Augen vor Qual. Er sehnte sich nach dem Vergessen zurück. Er klammerte sich an seine Begierde. An den Hunger in den Gedärmen. Die Lust nach fremdem Blut! Mühsam rappelte er sich wieder auf. Das Licht nahm zu, aber er war nun überzeugt, daß es ihm nichts anhaben konnte. Er war STARK. Er nahm es mit der Helle auf. Der Keller lag hinter ihm. Kein Blick zurück. Kein Zögern. Die Treppe fand ihre Fortsetzung. Er hörte Stimmen hinter geschlossenen Türen. Laute Streitereien. Kindergeschrei.
Kindergeschrei. »Aaaaaahhh …!« rann es über seine Lippen. Aber er stieg höher. So hoch, bis es nicht mehr weiter ging. Bis er vor einer Tür ankam, hinter der andere Töne zu hören waren. Laute, die ihn noch stärker aufputschten: Gestöhne, quietschende Stahlfe dern, schwüle Musik, heiser-rauhe Stimmen. Er drehte den Knauf. Die Tür gab nach. Er drang in die fremde Wohnung ein. Folgte den Geräuschen. Kam an eine andere, nur angelehnte Tür. Sah durch den Spalt. Schauderte vor Verlangen. Öffnete die Tür. Trennte die Körper. Re dete wirr. Biß zu …
* Abigail tat, was sie oft tat, um blaue Flecken zu vermeiden: Sie ließ es über sich ergehen. Clark war in einem verläßlich – er brauchte nicht lange. »Du liegst da wie ein Brett!« lallte er tumb. Er hatte recht, aber es hinderte ihn nicht daran, weiterzumachen. Er verströmte einen Ge ruch wie eine frühmorgendliche Kneipe. Abigail dachte sich fünfzig hübsche Todesarten für ihn aus, während sie, um ihn nicht ganz zu vergrätzen, ab und zu etwas von sich gab, das dem ähnelte, was er für Wollust hielt. Als sein Atem heftiger ging, wußte sie, daß es nicht mehr lange dauern würde. Aber dann passierte etwas, das zur gewohnten Abscheu nackte Angst in ihr wachrüttelte. An Clarks linkem Ohr vorbei sah sie den
»Lustgreis«, zwischen Fernseher und Couch auftauchen. Die Tür, dachte Abigail vage. Ich habe nicht abgeschlossen … Diese Nachlässigkeit hatte sich im Laufe der Jahre eingebürgert. Es gab nichts zu stehlen bei ihnen, und Clark war fast immer da. Als menschlicher Wachhund. Diesmal versagte er in seiner Funktion. Abigail stieß ihn zurück. Er grunzte verblüfft, hörte aber auf, hin und her zu rutschen, und stemmte sich auf die Ellbogen. »Spinnst –? « setzte er an. Weiter kam er nicht. Abigail begriff ihren eigenen Irrtum auch erst, als der Eindringling sich mit einer Hand in Clarks Haarschopf krallte und die andere um die heruntergelassene Hose ihres Freundes schloß, die ungefähr in Kniehöhe hing. In einem unbändigen, nie erwarteten Kraftakt wur de Clark von Abigail weggerissen und brutal durch den Raum ge schleudert. Er krachte mit Schulter und Hinterkopf gegen eine Kom mode und blieb – noch ehe er überhaupt begriff, wie ihm geschah – besinnungslos liegen. Abigail lag wie eingeklemmt zwischen der Sitzfläche und Rücken lehne des Sofas. Ihre Bluse war offen, der BH einfach unter die großen Brüste gerollt, so daß sie auch im Liegen noch erstaunliches Stehvermögen vorgaukelten. Clark hatte sich nicht die Mühe ge macht, ihr den Rock auszuziehen. Nur das Höschen hatte er herun tergezerrt und hinter die Couch geworfen. Da er Schuhfetischist war, trug Abigail auch jetzt noch ihre knöchelhohen Lederstiefel mit den spitzen Stöckelabsätzen. In dem Moment, als der unheimlich starrende Fremde auf sie zu ging, wußte sie sich nicht anders zu helfen, als genau diese Absätze zu Waffen umzufunktionieren. Blitzschnell zog sie die Knie an und hob die Schuhsohlen!
Der Alte blieb stehen. Lüstern leckte er sich die rissigen Lippen, die den Mund wie eine ausgefranste Krateröffnung erscheinen ließen. Obwohl er innehielt, schien er das, was Abigail versuchte, nicht ernstzunehmen. Kurz schielte er zu dem Bewußtlosen, der sich immer noch nicht rührte. »Wovor fürchtest du dich?« wandte er sich dann an Abigail. Sein Blick saugte sich an ihren Brüsten fest und glitzerte stärker als zu vor. Abigail versuchte, die Bluse zu schließen, aber sie lag mit ihrem ganzen Gewicht darauf. Es ging nicht. »Wer – sind Sie?« keuchte sie. »Wie kommen Sie dazu …?« Er machte einen Schritt auf Abigail zu, und gedankenschnell um schlossen seine Hände ihre Fußgelenke. Abigail schrie krampfhaft auf. Mit einer fast beiläufigen Bewegung schälte ihr der Alte die Stiefel von den Füßen. Sie fielen polternd auf den Parkettboden. Abigails Augen weiteten sich, und sie setzte zu einem Endlos schrei an. Der Alte ließ sich einfach nach vorn kippen. Seine rechte Hand preßte sich wie ein Zentnergewicht auf Abigails Mund und Nase. Sie erstarrte, spürte Panik in sich auflodern und versuchte dann, sich zappelnd von dem Greis zu befreien. Unbeholfen betatschte er ihre Blöße. »Hübsches Mädchen!« geiferte er. »Hübsches, hübsches Mädchen …!« Dann riß er den Mund auf. Abigails Gesicht verzerrte sich, weil sie dachte, er wollte sie küs sen. Gegen seinen Atem waren die Gärprozesse einer Müllhalde das
reine Duftwässerchen. Als seine Kiefer wie eine Bärenfalle auseinanderklafften, wurde Abigail endgültig übel. Sie mobilisierte alle Kraft, um sich aus der Umklammerrung des Alten zu lösen. Umsonst. Er war stark wie ein Bulle. Und dann schnappte sein offener Rachen an ihren Lippen vorbei nach ihrer Kehle. Der Schmerz grellte bis unter Abigails Schädeldecke. Sie hörte das wohlige Grunzen des Alten wie durch Wände aus Watte. Verrück terweise galt einer der letzten Gedanken, ehe Finsternis ihren Geist umhüllte, Duncan Luther. Die herausgebrüllte Enttäuschung des Alten hörte sie nicht mehr …
* Duncan Luther legte das Fleisch ins Dreisterne-Kühlfach und warf einen abschätzigen Blick auf das bunte Sortiment an Eissorten. Er schmunzelte über diese kleine menschliche Schwäche des Paters. Als die Stimme hinter ihm erklang, fuhr er herum. »Alles in Ordnung zu Hause, Dun?« fragte Pater Lorrimer. Schweißtropfen glänzten auf seiner Stirn. Sein breiter Rücken lehnte gegen den Rahmen der Küchentür. Die Hände hatte er in die Ta schen seiner Soutane vergraben. Lorrimer war Anfang Sechzig. Daß in seinen von buschigen Brau en umwölkten, stahlgrauen Augen ein fanatisches Feuer leuchtete, war Luther bekannt. Er wußte den Priester der anglikanischen Kir che inzwischen einzuschätzen. Die scharfe Ablehnung des Papst tums – ein traditionelles Merkmal der ansonsten dem Katholizismus
verpflichteten anglikanischen Kirche – hatte in Lorrimer einen ihrer streitbarsten und eigenwilligsten Verfechter gefunden. »Alles bestens, Pater, danke.« Luther lächelte sein Lächeln, das Frauenherzen höherschlagen ließ. Bei Lorrimer rief es glücklicher weise keine besondere Reaktion hervor. »Ich habe Fleisch für einen Braten mitgebracht.« Er nickte zum Kühlfach. Am Sonntagabend, nach der letzten Messe, hatte er von Lorrimer die Erlaubnis erhalten, zu seinen Eltern nach Leichhardt, einem Vorort Sydneys, zu fahren und dort die Nacht zu verbringen. Er hatte versprochen, bis zum Abend des folgenden Tages wieder zurück zu sein, und Wort gehal ten. Sein Blick war offen, als er Lorrimer fragte: »Ich habe im Radio von einem mysteriösen Vorfall hier in der Nähe gehört. Wissen Sie etwas darüber? Man hielt sich sehr vage …« Lorrimer schüttelte den Kopf. Er sah etwas blasser aus als sonst. Unter seinen Augen lagen Schatten. »Leider –« er zuckte die Ach seln, »– weiß ich auch nicht viel mehr. In der Paddington Street soll eines der alten Häuser eingestürzt sein – erzählt man. Polizei und Feuerwehr haben großräumig abgesperrt. Über die Ursache gibt es nur Gerüchte.« »Die Paddington Street«, echote Luther. Er musterte den Pater. »Sie leben seit vierzig Jahren hier, sagten Sie mir einmal. Kannten Sie die Betroffenen?« Lorrimer schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht einmal an das Haus erinnern, obwohl ich oft dort spazieren gehe. Merkwürdig … Nein, ob und wer zu Schaden gekommen ist, weiß ich nicht.« Er zitterte. Luther sah genau, daß der Pater dort, wo sich seine Hände unter dem schwarzen Stoff verbargen, zitterte. »Geht es Ihnen nicht gut?« fragte er. Er wußte, daß Lorrimer Ta bletten wegen seines angegriffenen Herzens nehmen mußte. »Heute
ist es wieder schwül. Sie sollten sich nicht zuviel zumuten …« Lorrimer sah ihn eine ganze Weile seltsam an. »Nein«, entgegnete er schließlich. »Das werde ich nicht.« Er drehte sich um, sagte aber noch, ehe er die Küche verließ: »Ich bin froh, daß du wieder da bist, Dun. Gott allein weiß, wie froh ich darüber bin. Vielleicht mußt du mir helfen. Ich weiß noch nicht, ob ich es alleine schaffe. Ich werde es probieren. Es ist nicht gut, andere da hineinzuziehen. Aber wenn es meine Kraft übersteigt, Dun, mein Junge, mußt du mir helfen …« Er wartete die Antwort des Novizen gar nicht erst ab, sondern ent fernte sich schlurfend. Duncan Luther stand wie vom Donner gerührt in der Küche der Pfarrei. Er war unfähig, dem Pater zu folgen, oder ihm nur nachzu rufen, was, um Himmels willen, er mit seinen Andeutungen meinte. Es war, als hätte ihm eine völlig fremde Person den Rücken zuge wandt und ihn für etwas verpflichtet, was ihm jetzt – noch bevor er wußte, um was es sich dabei handelte – nun auch den Schweiß aus den Poren trieb! Was, im Namen aller Heiligen, war in den wenigen Stunden seiner Abwesenheit mit dem Pater passiert …?
* Sie schreckte aus bleiernem Schlaf hoch und fröstelte, als sie sich schlagartig wieder an die Vision des untergehenden Hauses an der Paddington Street 333 erinnerte – und an das, was dem Untergang in ihrem Traum gefolgt war. Lilith versuchte sich zu bewegen, aber erst als sie mühsam die Li der öffnete, sah sie, warum es ihr nicht möglich war. Sie lag ausge streckt auf einer derben Holzbank. Ihre Arme und Beine waren mit
Eisenbändern gefesselt, und selbst um ihren Hals schloß sich ein Ring, der mit einer Gliederkette an der Holzunterlage befestigt war. Lilith blinzelte ungläubig. Sie erinnerte sich noch gut an die Vampire, deren Oberhaupt sie getötet hatte. Danach war sie in eine – sie schluckte – Kirche geflüch tet. Von da ab verwischten die Eindrücke. Soweit sie es wahrgenom men hatte, waren die Vampire ihr nicht in das Gebäude gefolgt. Selbst Lilith, die neben dem vampirischen Erbe ihrer Mutter auch menschliche Gene in sich trug, hatte nur mit Mühe die Schwelle überwinden können. Zwischen leeren Bänken war sie zusammenge brochen. Ein Priester in schwarzer Soutane hatte sich über sie ge beugt. Sie war ohnmächtig geworden. Während ihrer Ohnmacht mußte sie jemand in ihre jetzige Lage gezwungen haben. Der Priester? Absurd. Also doch die Vampire? War es ihnen gelungen, das geweihte Gebäude zu betreten und Li lith in ihre Gewalt zu bekommen? Wenn ja, was hatten sie mit ihr vor? Hielten sie sie hier fest, um beizeiten mit einem unbekannten Ritus Rache an ihr zu üben? Dem Raum, in dem Lilith sich wiederfand, war nicht anzusehen, wohin er gehörte. Schwarze Tücher verhüllten die fensterlosen Wände, und nur dort, wo sich die solide Tür befand, gab es eine Lücke. An der Decke brannte eine schwache Lampe, deren Licht Li lith – wie gewohnt – als nicht sehr angenehm empfand, obwohl es sie ebensowenig gefährdete wie greller Sonnenschein. Probeweise rüttelte sie an ihren Fesseln. Normalerweise verfügte sie über Körperkräfte, die kein Mensch in ihrem anmutig-weiblichen Körper vermutete. Aber um die Stahlbänder zu überwinden, erwie
sen auch sie sich als ungenügend. Überhaupt fühlte sie sich ausgesprochen … schlapp. Lilith betrachtete das Kleid, das sie trug. Ihre Mutter hatte es ihr hinterlassen, und während der Auseinandersetzungen mit Horrus und Hora, den beiden Vampiren, hatte es ein weiteres seiner unbe rechenbaren Talente enthüllt. Nicht genug, daß es Aussehen und Ei genschaften jedes denkbaren Kleidungsstückes anzunehmen ver mochte – nun hatte es sich auch noch als unwiderstehliche Waffe ent puppt! In einem immer noch unbegreiflichen Akt hatte es sogar Hora nicht den Hauch einer Chance gelassen. Und das vielhundertjährige Oberhaupt der hiesigen Vampirsippe war mächtig gewesen. Daß es trotz starker magischer Gaben am Ende nichts gegen die Umschlin gung des Kleids hatte ausrichten können, gab Anlaß zur Hoffnung, daß Lilith nicht ganz so hilflos in die reale Welt gesetzt worden war, wie zunächst von ihr befürchtet. Aber es gab auch Anlaß zu Ängsten. Das Mimikrykleid verhielt sich nicht in allem und jederzeit loyal. Lilith hatte versucht, es nicht nur in seiner Beschaffenheit zu verän dern, sondern es abzulegen. Dieser Versuch war nicht nur gescheitert, er war auch mit Torturen verbunden gewesen, wie Lilith sie bis da hin noch nicht erlebt hatte. Das Kleid hatte sich offensichtlich dagegen gewehrt, ausgezogen zu werden! Schon als Lilith es anzog, hatte sie ein Gefühl überkommen, als hätten sich tausend winzige, scharfe, widerborstige Zähne in ihre Haut gebissen und festgehakt, überall dort, wo das Kleid den Kör per bedeckte. Zunächst hatte sie diese Wahrnehmung unterschätzt. Mittlerweile dachte sie anders darüber. Beim ersten Überstreifen – davon war sie inzwischen überzeugt – hatte sie offenbar die Weichen dazu gestellt,
dieses zweischneidige Erbe nie wieder loszuwerden. Wie es aussah, war sie dazu verdammt, es bis in die Ewigkeit zu tragen. Vielleicht würde es sogar über den Tod hinaus ihren Körper zieren. Falls es den Tod überhaupt für Lilith gab. Sie war zur Hälfte eine Vampirin. Die Vorstellung des Todes war jedoch etwas zutiefst Menschliches. Lilith wußte nicht, worin ihr Le ben eines Tages (vielleicht schon bald) enden würde. Wenn sie Glück hatte, würde sie nur aufhören zu existieren. Ihr Bewußtsein würde erlöschen wie eine Kerzenflamme. Was hingegen sein würde, wenn sie Pech hatte, vermochte sie sich nicht annähernd auszumalen … Geräusche lenkten sie ab. Die Tür schwang knarrend auf. Lilith zuckte zusammen, als sie den Priester erkannte, den sie schon kurz vor ihrer Ohnmacht gesehen hatte. Er trat wortlos auf sie zu. Sein zerfurchtes Gesicht war verkniffen. Interessiert beobachtete er, welche Reaktionen das Kruzifix in seiner Hand bei seiner Gefan genen auslöste. Lilith bäumte sich in ihren Fesseln auf. Durch ihren Körper schien etwas zu rinnen, das kein Bestandteil von ihr selbst war. Etwas Ab stoßendes und zugleich höchst Agiles. Ein Gefühl, als würden Wür mer durch ihre Adern kriechen … »Aufhören!« schrie sie. »Warum tun Sie mir das an?« Der Priester war so verdutzt, daß er die Hand mit dem Kruzifix senkte und unter seiner Soutane verschwinden ließ. »Du kannst sprechen?« Lilith wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Warum sollte ich es nicht können?« Verblüffend schnell fing er sich. »Weil ich gesehen habe, welche
Fratze sich wirklich unter deinem hübschen Gesicht verbirgt!« zisch te er aggressiv. Lilith brauchte Sekunden, um zu begreifen, was er meinte. Sie erinnerte sich an die unkontrollierte Metamorphose, die der ge weihte Kirchenbau bei ihr bewirkt hatte. Möglich, daß der Priester verräterische Züge an ihr bemerkt hatte. Es mußten sehr verräte rische Merkmale gewesen sein, wenn er dermaßen kraß reagierte. Lilith stellte sich dennoch arglos. »Ich verstehe nicht …« »Du verstehst sehr gut, Satansweib!« fauchte der Priester. »Ich habe deine Vampirfratze geschaut!« In Ordnung, dachte Lilith, dann eben auf die ganz Freundliche. Sie sammelte ihre hypnotische Kraft für die nächsten Worte: »Sie wer den mir jetzt ganz vorsichtig die Fesseln abnehmen und mich nicht weiter behelligen! Ich werde möglicherweise noch etwas hierblieben müssen, bis ich die Situation besser überblicken kann. Denn ich fürchte, draußen warten diejenigen, denen Sie Ihr Engagement wirk lich widmen sollten …!« Der Pater hatte interessiert zugehört, machte aber keinerlei Anstal ten, sie zu befreien. »Ich sagte, binden – Sie – mich – los –!« Liliths Augen glommen un geduldig. Der Mund über ihr lachte rauh. Dann tat er etwas, was nicht hätte geschehen dürfen. Er fragte zielgerichtet: »Wer wartet draußen?« Lilith blieb die Luft weg. Es gab keinen Zweifel mehr, daß der Priester nicht auf ihre Sugge stivworte ansprach. Es war das erste Mal, daß sie bei einem Men schen versagten; bei Vampiren wußte sie, daß sie mit Worten nichts auszurichten vermochte. Daß es aber auch Normalsterbliche gab, die sich unempfänglich für die feine Magie des Gesprochenen zeigten, war neu. Und bestürzend. Zeigte es doch, daß die Lage, in der sie
sich wiedergefunden hatte, ernster war als vor Sekunden noch ge hofft. »Binden Sie mich los, dann zeige ich sie Ihnen!« verlangte Lilith eindringlich. Lag sein Widerstand an der besonderen Atmosphäre innerhalb dieses Gebäudes? Versagten deshalb ihre Kräfte? »Wen? Gibt es noch mehr von deiner Sorte?« »Nicht von meiner Sorte«, korrigierte Lilith. »Schlimmere …« Diese Auskunft schien dem Pater nicht zu genügen. Er zog das Kruzifix unter der Soutane hervor, streckte es Lilith entgegen und bremste erst wenige Zentimeter vor ihrer Stirn. »Keine Ausflüchte mehr! Die Wahrheit jetzt!« rief er. Lilith hatte das Gefühl, die Kreuzstruktur würde sich in ihre Haut fressen. Sie versuchte das Gesicht beiseite zu drehen, aber es war unmöglich. Das Kruzifix bannte sie. Ihre Lippen schienen sich unter der kalten Hitze zu schälen. Statt eines Wortes brachte sie nur unar tikulierte Laute hervor. Der Priester studierte ihre Qualen genau. Als Lilith glaubte, ihre Netzhäute würden langsam Feuer fangen und in den Augenhöhlen verschmoren, zog er endlich das Kruzifix zurück. »Nun?« fragte er beinahe sanft. Lilith versuchte, die verwirrten Gedanken zu sammeln. Sie kam sich vor, als hätte jemand ihren Geist in eine Million Scherben zer schlagen, die nur mühsam wieder zusammenfanden. Ein Röcheln löste sich aus ihrer Kehle. Sie versuchte, die Geduld des Priesters nicht überzustrapazieren, weil sie eine erneute Konfrontation mit dem Kreuz und der kleinen, geschnitzten Jesusfigur fürchtete – mehr fürchtete als alles andere im Moment! »Ich warte«, sagte der Pater.
»Was – wollen – Sie – hören?« »Was wolltest du Unselige hier in meiner Kirche? Hattest du den Auftrag, sie zu brandschatzen? Sind die dunklen Mächte schon so weit, daß sie nicht einmal mehr vor den Pforten der Gotteshäuser zurückschrecken? Wenn du einmal ein Mensch und nicht schon im mer ein Ungeheuer warst – welcher Dämon hat dann Besitz von dir ergriffen …?« »Ich … bin kein … Ungeheuer!« »Dann rede ohne Furcht!« Lilith suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Das Kleid, dachte sie. Warum hilft es mir nicht gegen diesen Blindeifrigen? Es muß ihn ja nicht töten, aber es könnte doch wenigstens … »Ich warte!« Die Stimme des Priesters zerschnitt ihre Gedanken kette. »Sie würden – mir nicht glauben …« »Das laß mich entscheiden!« »Woher nehmen Sie die Überzeugung, daß ich – besessen bin?« »Die Fratze«, erinnerte der Pater. »Ich sah dein wölfisches Antlitz. Deine Zähne. Deine Augen.« »Meine Augen?« »Kein Mensch hat solche Augen!« Näher schien er es nicht be schreiben zu können oder zu wollen. »Vielleicht bin ich weder Mensch noch Ungeheuer …« Es war ein Reflex, daß Lilith ihre Worte mit unschuldigem Augen aufschlag begleitete. Aber dieser Reflex hatte fatale Folgen. Der Priester wich von ihr zurück. »Du bist eine Blenderin!« rief er. »Vielleicht bist du der Satan selbst, der mich versuchen will!« Seine Augen quollen hervor, als er den Blick über Liliths Körper schwei fen ließ. Über ihre Brüste. Ihren flachen Bauch. Er ließ sich Zeit. Ein
dünner Speichelfaden rann aus einem seiner Mundwinkel. »In nomi no padre est!« keuchte er. Lilith krümmte sich. Der Priester wich weiter zurück. Bis zur Wand. Dort schlug er ei nes der vorhangähnlichen Tücher zurück, die offenbar in aller Eile mit Nägeln an die Mauern geheftet worden waren. Darunter prangte ein mit weißer Kreide gemaltes Tetragramm. In seiner Mitte waren vier Buchstaben von unglaublicher Macht zu le sen: JHWH Lilith schrie auf. Das Wechselspiel des Kleids an ihrem Kör per bekam sie nicht mit, weil sie den Blick nicht von der Schrift wen den konnte. Der Priester indes schien sich dadurch, daß Lilith von Sekunde zu Sekunde in ein anderes Gewand gehüllt war – vom sündhaftesten Bikini bis hin zum knöchellangen Hosenrock – in seiner Überzeu gung bestätigt zu fühlen, es mit einer in Hexerei kundigen Besesse nen zu tun zu haben. Erbarmungslos enthüllte er ein weiteres Wandstück. Dort stand: ADONAI Und noch eines: ELOHIM Und das nächste: EL ELIJON Zuletzt: SCHADDAI Lilith kam sich vor wie im Focus mehrerer Brenngläser. Sie bäum te sich noch einmal in ihren Fesseln auf, vermochte sie aber auch diesmal nicht zu sprengen. Sie meinte zu verbrennen. Das Feuer floß über die Augen in ihren Körper und wütete darin. Verheerte ihn
systematisch. Dann schlug eine Tür, und Lilith sank in gnädige Ohnmacht. Das Wissen, noch einmal davongekommen zu sein, hinterließ kei ne Erleichterung. Sie ahnte, daß die Qualen ihre Fortsetzung finden würden. Was sie durchlitten hatte, war erst der Anfang …
* Warner stoppte den Wagen vor dem roten Backsteinhaus in der Hargrave Street, nahe Trumper Park, und schaltete die Sirene ab, mit der er sich Respekt in der abendlichen Rush Hour verschafft hat te. Als er ausstieg, wartete Stiller vor der Tür auf ihn. Ausgerechnet Stiller. »Codd sagte, daß Sie auch kämen …« Stiller sah aus wie eine schlechte Michael-Jackson-Imitation. Er trug einen hellen Trench coat, einen breitkrempigen Hut und eine verspiegelte Sonnenbrille, in der Warner nur sich selbst, nicht aber die Augen seines Kollegen sehen konnte. Es war ihre erste Begegnung, seit Stiller sich der Therapie unterzo gen hatte. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern, daß er Probleme mit Alkohol und/oder Drogen gehabt hatte. Angeblich war das be hoben. Warners Antipathien beruhten auch nicht auf irgendwelchen Süchten, die Stiller nachgesagt wurden. Er verachtete einfach das ar rogante, selbstgefällige Gehabe dieses Mannes, der keine kriminalis tischen Geniestreiche vorzuweisen hatte, aber dennoch wie Crocodi le Dundee persönlich durch das Hauptquartier zu promenieren pflegte und jedem den Nerv tötete. Stiller war schlicht und ergrei
fend ein Kotzbrocken, nicht mehr und nicht weniger, und Warner bezweifelte, daß irgendeine Therapie der Welt ihn davon hätte heilen können. »Wo sind die anderen?« fragte Warner. Er sah sich vergeblich nach einem Streifenwagen um. Auch Stiller war »zivil« erschienen. »Wir scheinen die Ersten zu sein …« Stiller sah nicht gesund aus. Der Himmel mochte wissen, was man mit ihm veranstaltet hatte. Ein absurder Verdacht keimte in Warner: Konnte es sein, daß sich alle Gerüchte irrten und Stiller sich in Wahrheit einem Schönheits chirurgen anvertraut hatte, der das Fiese aus seinen Zügen entfer nen sollte, damit Stiller sich seinen Opfern künftig frei von der Angst, frühzeitig entlarvt zu werden, nähern konnte? Warner war mittlerweile seit achtunddreißig Stunden ohne Schlaf. Zwei Stunden hatte er vor den Gartenmauern des Anwesens 333, Paddington Street ausgeharrt und zugeschaut, wie etwas wucherte, dicht und dichter wurde, das dem gesunden Menschenverstand Hohn sprach. Dann hatte ihn Codds Ruf erreicht. Der Polizeichef hatte nichts von dem rasanten, eigentlich unmöglichen und unerklärlichen Pflanzenwachstum hören wollen, sondern ihm in aller Schärfe be fohlen, sich sofort zu dieser Adresse in der Hargrave Street aufzu machen. »Sie haben doch ein Faible für haarsträubende Fälle«, hatte Codd, charmant wie immer, geschnarrt. »Es scheint sich um eine Seuche zu handeln. Nach diesem Taxifahrer, der uns auf das Haus in der Pad dington Street gestoßen hat, nachdem ihn angeblich eine Vampirin vernaschte, spinnt sich nun schon wieder jemand etwas von einem Kerl zusammen, der im Blutrausch Amok läuft …« Das hatte genügt, um Warners Interesse tatsächlich zu wecken. Bisher hatte er weder Codd noch sonst jemandem von seinem un
heimlichen Erlebnis in der Tiefgarage erzählt. Auch jetzt war kein günstiger Zeitpunkt, es nachzuholen. Weder bei Codd noch bei Stil ler, der ihn für alle Zeiten zum Gespött der Kollegen gemacht hätte. »Oberster Stock, gleich unter dem Dach …« Stillers Daumen hack te nach oben. Warner schob sich an dem hageren Detective vorbei, und Stiller folgte wortlos. Warner kannte diese Art Häuser. Sie hatten alle irgendwo densel ben Geruch, dieselbe Atmosphäre. Häuser, in denen Menschen wohnten, die nichts miteinander zu schaffen haben wollten. Etagen wohnungen, hinter deren Türen Seelen verkümmerten, Frauen, Kin der und Tiere mißhandelt wurden, und kein Nachbar etwas davon wissen wollte. Zwei, drei Türen klappten leise in die Schlösser zurück, als er und Stiller die Treppe hochstiegen. Ein Gesicht zeigte sich nicht, bis sie vor der Mansarde ankamen. Warner wollte gerade sicherheitshalber fragen, ob Stillers Revolver einsatzbereit war (sein eigener lag noch leergeschossen zu Hause), als eine harsche Stimme »Endlich!« rief und hinzufügte: »Ihr Scheiß bullen hättet euch ruhig etwas beeilen können! Wozu zahlt man ei gentlich seine Steuern?« Warner unterdrückte die Frage, ob es ihnen auf den Nasenspitzen geschrieben stand, zu welchem Verein sie gehörten, weil er hoffte, Stiller würde die passende Antwort geben. Der unrasierte Charme bolzen in Unterhemd und nachlässig hochgezogener Hose hätte sein Bruder sein können. Aber Stiller schwieg. »Was ist passiert?« sah Warner sich, genötigt zu fragen. »Was passiert ist …? Folgen Sie mir, und wenn Sie Augen im Kopf haben, schauen Sie es sich an! Ich hoffe, Sie nehmen diesen alten Ba stard gleich mit und bringen ihn in die Klapsmühle zurück, aus der er ausgebüchst ist.«
Warner stellte keine weiteren Fragen, sondern folgte dem Mann ins Wohnzimmer der Mansarde. Dort sah er zuerst die weinende Frau, die abseits in einem Sessel kauerte und tränennaß zu ihnen herüberblickte, als sie eintraten. Sie hielt ein Handtuch gegen den Hals gepreßt. »Sind Sie verletzt?« fragte Warner. »Brauchen Sie einen Arzt?« »Wenn sie einen brauchte, hätte ich einen gerufen! Die verträgt schon was …« Der Kerl im Unterhemd wurde immer sympathi scher. Er lenkte Warner hinter die giftgrüne Couch, die frei im Raum vor dem Fernseher stand. Dahinter lag ein mindestens achtzigjähriger, vielleicht sogar älte rer Mann, mit einem Strick verschnürt wie ein Weihnachtspaket! »Wie heißen Sie eigentlich?« wandte Warner sich in verändertem Ton an den Sydneysider, der sie empfangen hatte. »Emmerson. Clark Emmerson.« »Prima, Mister Emmerson, dann denken Sie sich schon mal eine gute Geschichte aus, weshalb Sie diesen alten Mann mißhandelt ha ben!« Warner bückte sich zu dem auf dem Bauch liegenden Greis hinunter und schloß nicht aus, daß der Mann tot war. Er rührte sich jedenfalls nicht. »Vorsicht!« mahnte Emmerson. »Sie wissen ja nicht –« Zu spät. Warner zuckte so heftig zurück, daß er die Balance verlor und auf dem Hosenboden landete. Ungläubig starrte er in das verzerrte Ge sicht des Greises, der versucht hatte, ihm in die Hand zu beißen. »Ich habe Sie gewarnt …«, hörte Warner Emmersons Stimme, die nicht ganz frei von Schadenfreude war. Warner blickte immer noch sprachlos zu dem Alten, der wieder in Reglosigkeit verharrte, mittlerweile aber auf der Seite lag, so daß
sein grimassenschneidendes Gesicht zu erkennen war. Warner stand auf. Er blickte zu Stiller, der neben der weinenden Frau stand und leise mit ihr sprach. Stiller schien den Vorfall nicht bemerkt zu haben. »Erzählen Sie!« raunzte Warner Emmerson zu, der nur feixend da stand und sich die Handknöchel massierte. »Was ist hier passiert?« »So wie Sie jetzt glotzen, hab ich auch geglotzt«, sagte Emmerson, »als der Typ mich von meiner Alten holte … Im Ernst! Der hat Bä renkräfte! Abi und ich waren gerade voll dabei, als er hier auftauch te. Die Schlampe vergißt meistens, die Haustür abzuschließen. Ei gentlich ist sie an allem schuld …« Er kochte sekundenlang mit hochrotem Kopf vor sich hin, ehe er fortfuhr: »Jedenfalls schleuderte er mich gegen die Dreckskommode da drüben, und ich verlor die Besinnung. Wahrscheinlich nur ein paar Sekunden. Als ich wieder zu mir kam, hatte er sich auf Abi geworfen … Können Sie sich das vorstellen? Dieses alte Wrack …!« Emmerson zog angewidert den Mund nach unten. »Weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich den Anblick überwunden habe. Jedenfalls –« er wischte sich über das Kinn, »– konnte ich ihn gerade noch mit meinem Kricketschläger von Abi herunterhauen, als er … als er …« »Als er?« Emmerson schüttelte den Kopf. »Das glauben Sie nicht! – Jetzt, wo ich drüber reden soll, glaub’ ich’s ja selbst nicht mehr …« »Was war?« drängte Warner, den Blick wieder auf den Greis ge richtet, der ihm irgendwie entfernt bekannt vorkam. Er wußte nur nicht, in welche Schublade er ihn stecken sollte. »Er versuchte, mir in den Hals zu beißen!« Das war – wie hatte Emmerson sie genannt? Abi? – Abigails Stim me. Warners Blicke wanderten zu ihr. Sie schien immer noch unter
Schock zu stehen. Aber vielleicht hatte Stillers Penetranz sie soweit ernüchtert, daß sie mitbekommen hatte, was Warner wissen wollte. Emmerson warf ihr einen bösen Blick zu und wurde konkreter: »Der alte Perverse hat losgelegt, als wollte er ihr die Kehle durchbei ßen! Der wollte sie killen!« Ein Zwischenblick auf den Gefesselten dämpfte die Zweifel an Emmersons Aussage. Warner seufzte. »Noch ein paar Jahre, und wir haben hier amerikanische Verhältnisse.« Er nickte Stiller zu. »Neh men Sie die Aussagen bitte zu Protokoll und stellen Sie die Persona lien dieses –« Er stockte. In diesem Moment, da sein Blick erneut auf dem alten Mann ruhte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Secada …«, rann es über seine Lippen. »Was?« fragte Stiller. Warner hörte nicht auf ihn, sondern beugte sich in geziemendem Abstand über den Gefesselten. Betroffen suchte er nach Hinweisen, die seine vorschnelle Bemerkung bestätigten. Er fand sie. Er war Brian Secada nur einmal begegnet. Es war erst einen Tag her, und bei seinem Verschwinden war er kein alter Mann gewesen, aber die genaue Betrachtung hinterließ nicht den geringsten Zweifel. »Brian Secada!« Der Greis stierte ihn an. Dann kicherte er boshaft und schüttelte den Kopf. »Der war ich mal! Jetzt bin ich ein – Vampir!« »Er ist verrückt«, sagte Stiller. »Kennen Sie ihn etwa?« Warner brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Alles paßte. Auch andere Menschen, die dem versunkenen Haus zu nahe gestan den hatten – Needles zum Beispiel –, waren einer rätselhaften Ver greisung zum Opfer gefallen. Vielleicht hatte Secada nur überlebt,
weil er sich im entscheidenden Moment im Haus aufgehalten hatte … Aber was faselte er von Vampirismus? Wie Nick Parker, der Taxifahrer, an den Codd mich erinnert hat! durch zuckte es Warners Verstand. Zugleich fiel ihm aus irgendeinem Grund seine immer noch ungeklärte Begegnung mit den drei »ku gelsicheren« Angreifern in der Tiefgarage ein. »Secada«, sagte er eindringlich. »Erzählen Sie mir, was passiert ist! Was war in dem Haus? Was hat Sie zu dem gemacht, was Sie sind – oder wofür Sie sich halten?« Der Greis antwortete nicht. Er kicherte nur. »Sie kennen Ihn wohl wirklich«, mischte sich Emmerson ein. Sein Ton war zunächst mißtrauisch, dann wütend: »Also doch ein alter Bekannter, den unsere saubere Polizei frei rumlaufen läßt, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist! Wenn meiner armen Kleinen et was passiert wäre …!« »Sie haben ihn ja glücklicherweise«, fauchte Warner zurück, »wie Sie es ausdrückten, von ihrer Freundin ›heruntergehauen‹ und Schlimmeres verhütet!« Abigail schluchzte auf, und Emmerson schüttelte den Kopf. »Ich wäre in jedem Fall zu spät gekommen. Dieses Schwein hatte ja schon zugeschnappt!« Abigail nahm das Handtuch vom Hals weg, und Warner sah einen blaugelb schillernden Bluterguß. Der Hals war im Bereich der Schlagader extrem verfärbt. »Es ging nur so glimpflich ab«, pflichtete die Frau mit zitternder Stimme bei, »weil …« »Weil?« »Weil der Alte keine Zähne mehr hat!« knurrte Emmerson. »Nicht
einen einzigen! Was Sie dort sehen, hat das Aas nur mit dem Zahn fleisch angerichtet!« Wie auf Stichwort schob Brian Secada die Lippen zurück. Er riß den zahnlosen Mund sperrangelweit auf und bestätigte dabei – ab sichtlich oder zufällig – Emmersons Beobachtung …
* Duncan Luther frühstückte an diesem Morgen allein. Das war ungewöhnlich. Normalerweise gesellte sich Pater Lorrimer zu ihm. Der Priester hatte feste Prinzipien und richtete sein Leben danach aus. An Sonn tagen und wenn Abendmessen, Hochzeiten oder Taufen anstanden, ohnehin. Aber auch sonst konnte er als Vorbild in Sachen Pflichter füllung gelten. Lorrimer war Frühaufsteher. Ganz ohne Wecker. Den brauchte er nicht, weil er sich auf seine innere Uhr verlassen konnte. Duncan Luther schaffte es nicht einmal immer mit Wecker, das ge mütliche Bett pünktlich zu verlassen. Pünktlichkeit und Keuschheit waren zwei Dinge, an denen er noch arbeiten mußte. Wenn er Frauen vom Schlage Abigail Jones begegnete, geriet er schon mal ins Grübeln, ob er den für ihn in voller Konsequenz rich tigen Weg eingeschlagen hatte. Das Zölibat ließ in dieser Hinsicht wenig Freiraum für Phantasie. Er war siebenundzwanzig. Das eine oder andere Liebeserlebnis lag hinter ihm, aber insgesamt waren seine »Annäherungen an die Weiblichkeit« immer sehr viel enttäuschender verlaufen, als er es sich in seinen stürmischen Vorstellungen ausgemalt hatte. Vielleicht lag es an diesem Fruststau, daß er sich absoluten Verzicht auf Flei
scheslust vorstellen konnte. Vielleicht, dachte er unbehaglich, war ihm aber auch nur nie die richtige Frau begegnet. Abigail Jones, so sympathisch sie auf ihn wirkte, wäre es auch nicht gewesen. Das wußte er, ohne es ausprobieren zu müssen … Über dieses und jenes – auch über Pater Lorrimers merkwürdige Reden – dachte er bei der dritten Tasse Kaffee nach, die eigentlich für den Priester bestimmt gewesen war. Luther zögerte, nachzusehen, wo Lorrimer blieb. Natürlich konnte etwas passiert sein – es konnte immer irgend etwas passieren. Beson ders nach dem fahrigen Eindruck, den die gestrige Begegnung hin terlassen hatte. Luther hatte Lorrimer den ganzen Abend nicht mehr gesehen. Insgeheim war er fast froh darüber gewesen. Die Zeit, die sonst der Unterhaltung mit dem Pater vorbehalten war, hatte Luther für seine privaten Bibelstudien genutzt, die nichts mit seinen Vorberei tungen auf das Priesteramt zu tun hatten. Die Heilige Schrift hatte ihn schon in jungen Jahren zu faszinieren begonnen. Insbesondere das Alte Testament, das er für das »wahrere« hielt. Das Neue Testa ment war ihm zu … glatt. Darin wurde der Schöpfer seiner Meinung nach zu sehr verharmlost. In den Schriften des Alten Testaments hingegen kam noch gut herüber, daß Gott alles andere als der gütige alte Herr mit Rauschebart und Lachfältchen war. So hatte Luther ihn sich nie vorgestellt. Der zürnende Gott paßte viel besser zu all dem Leid, das sich auf der Welt ereignete und für das die Kirche (egal welche) in den allerseltensten Fällen die passenden Antworten be reithielt! Als der sportliche, blonde Priesteranwärter auch die dritte Dosis Koffein in sich hineingeschüttet hatte, erhob er sich vom Frühstücks tisch, räumte nachdenklich das Geschirr und die benutzten Utensili
en weg und entschloß sich dann doch mit Bauchgrimmen, bei Lorri mer nach dem Rechten zu sehen. Der Pater bewohnte einen Anbau, den man durch eine Tür im lin ken Kirchenflügel erreichte. Ein zweiter, viel kleinerer Anbau beher bergte Luthers Unterkunft auf der gegenüberliegenden Seite. Die Küche, die auch für die zu Erntedank, Ostern und Pfingsten stattfin denden Pfarrfeste Nutzung fand, lag so zentral, daß man sie von drei Seiten aus direkt betreten konnte: von Lorrimers Wohnung aus, durch eine Außentür, die zum Hof führte, wo den ganzen Sommer über Bänke aufgestellt waren, und von dem Gang aus, der hinter dem Kirchenschiff zur anderen Seite direkt in Luthers Unterkunft führte. Dieser Korridor war erst kürzlich freigeräumt worden, als feststand, daß Lorrimer von der Kirchenleitung einen Novizen zuge wiesen bekommen würde. Die Tür zur Privatwohnung des Paters war nie verschlossen; nur jene zum Hof. Duncan Luther klopfte trotzdem, ehe er durch die mit Ornamenten geschmückte Sprossentür trat. Zu seiner Überraschung erhielt er Antwort. Kurz darauf öffnete Lorrimer ihm persönlich die Tür. »Dun …?« Luther räusperte sich etwas verlegen. »Guten Morgen, Pater. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Sie –« »Ich bin nicht zum Frühstück gekommen – ich weiß.« Der grau haarige Geistliche machte einen noch verstörteren Eindruck als ges tern. »Ich hatte etwas zu erledigen.« Er verschwieg, was er zu dieser frühen Stunde Dringliches hatte tun müssen. Luther nickte. Er forschte in Lorrimers Gesicht nach einem ge sundheitlichen Handicap. Aber außer kaltem Schweiß und einer bei dem Pater nicht ungewöhnlichen Röte konnte er nichts entdecken.
Die Nervosität war ungewöhnlich für Lorrimer. Aber Luther hütete sich, ihm deshalb einen Arztbesuch anzuraten. Er kam leidlich gut mit Lorrimer aus – dicke Freunde waren sie nicht und würden es vermutlich nie werden. Er war schon froh, daß der Priester die anfänglichen Vorbehalte gegen ihn weitestgehend zurückgestellt hatte. Luther hatte schnell begriffen, daß Lorrimer ihn nicht freiwillig bei sich aufgenommen hatte. Offenbar spekulierte man an höherer Stelle bereits mit seiner Nachfolge. Vielleicht – ob wohl Luther es sich nicht vorstellen konnte – würde man ihm eines Tages dieses Amt anbieten, weil er bis dahin die hiesigen »Schäf chen« vermutlich zu nehmen wußte, wie sie waren. Aber bis dahin würde noch viel Treibgut an Sydneys Strände an geschwemmt werden … »Könntest du mir einen Gefallen tun?« fragte der Pater, als das Schweigen zwischen ihnen bereits eine unangenehme Qualität an nahm. »Ich benötige einige Dinge aus der Stadt.« »Natürlich. Worum handelt es sich?« »Ich habe es aufgeschrieben …« Er zog einen Zettel hervor, in den mehrere Geldscheine eingewickelt waren, und reichte ihn Luther. »Hier steht alles drauf. Wenn du zurückkommst und ich sollte nicht da sein, leg mir alles auf den Küchentisch.« »Sie wollen auch noch weg?« »Vielleicht.« Wieder hatte Luther den Eindruck, daß der Pater ihm auswich und nicht mehr preisgeben wollte. »Okay. Ist es eilig?« »Es wäre mir lieb, wenn du gleich aufbrechen könntest. Einige Ge schäfte, die auf der Liste stehen, haben schon geöffnet.« Obwohl Luther neugierig war, unterdrückte er das Verlangen, den
Zettel zu lesen, solange Lorrimer vor ihm stand. Später, als er endlich dazu kam, wußte er selbst nicht, warum ihm beim Durchgehen der einzelnen Positionen eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken lief. Es war zwar eine etwas ungewöhnli che Mischung, die Lorrimers merkwürdiges Gehabe noch unter strich, aber im Grunde nichts Erschreckendes: Ein Strauß Heckenrosen, mehrere Stränge Knoblauch, Kreide, eine Schie fertafel, Räucherstäbchen …
* Secada, der sich einbildete, ein Vampir zu sein, war von zwei Mus kelprotzen in eine Zwangsjacke gesteckt und weggebracht worden, nachdem feststand, daß er weniger schwerwiegende körperliche Verletzungen davongetragen hatte als Abigail Jones im seelischen Bereich. Die junge Lebensgefährtin von Clark Emmerson stand un ter nachhaltigem Schock. Warner wartete, bis sich auch das Ambulanzfahrzeug mit ihr in Bewegung gesetzt hatte. Dann sagte er zu Stiller: »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben – ich jedenfalls werde endlich meinen wohlver dienten Schlaf nachholen. Mit oder ohne Codds gnädige Erlaubnis!« »Sie sind ja ein richtiger Rebell«, spottete Stiller. Und du ein richtiges Arschloch, dachte Warner. Seine Gedanken wanderten kurz zu Needles ab. Er seufzte leise. »Wenn Sie wollen«, bot er an, »können Sie den Wagen behalten und zur Paddington Street zurückfahren. Mich dürfen Sie unterwegs absetzen.« Stiller willigte ein. »Und was sage ich Codd, wenn er fragt, wo Sie sind?« »Eine schwierige Frage. Eine wirklich beschissen schwere Frage
…« Warner beließ es dabei. Kurz darauf schmiß Stiller ihn im Stadtteil Newtown gegenüber dem Toucan Tango hinaus. »Eine heiße Adresse«, sagte er, ehe War ner die Tür hinter sich zuwarf. »Soll ich Sie zu einer bestimmten Zeit wieder abholen?« Warner schüttelte den Kopf. »Kümmern Sie sich nicht um mich. Ich komme zurecht …« Er schlenderte über den Gehsteig auf den Eingang des Apartment hauses zu und hörte, wie Stiller hinter ihm Gas gab. Minuten später öffnete sich die Lifttür vor Warner, und als er die enge, graffitibeschmierte Kabine betrat, um sich in den neunten Stock tragen zu lassen, dachte er an Nelly Shumway. Nelly und das krasse Erlebnis in der Tiefgarage gehörten zusammen. Ihr unver hofftes Auftauchen hatte die Unheimlichen verjagt. Ich schulde ihr einen Gefallen, dachte er. Und wenn es nur die neueste Scheibe ihrer bevorzugten Lärm-Kombo ist … Über Geschmack ließ sich bekanntlich nicht oder trefflich streiten. Nelly schwor auf Tekkno-Sound. Ob sie auch etwas mit Drogen am Hut hatte, wußte Warner nicht. Er hatte Beatniks, Rock’n’Roller, Mods, Punks und Gott weiß was alles an sich vorbeiziehen sehen. Stets hatte es selbsternannte Apostel gegeben, die der Jugend, die solchen »Exzessen« frönte, zugleich auch Drogenmißbrauch nachge sagt hatten. Dabei wurde gern übersehen, daß die Musik allein oft schon genügte, um sich auszuleben und in einen Rauschzustand hineinzusteigern. Ausnahmen gab es immer – auch außerhalb der Randgruppen, auf die man so gern mit dem Finger zeigte. Die meisten »Steinewerfer« saßen selbst im Glashaus und frönten ihren legalisierten Drogen, an denen der Staat kräftig mitverdiente. Warner haßte solche Heuchelei.
Aber im Moment war er viel zu müde, um sich darüber aufzure gen. Die Liftkabine fuhr gemächlich nach oben. Manchmal ging ein kleiner, vertrauter Ruck durch das Gehäuse und erinnerte den Be nutzer daran, daß Treppenlaufen zwar anstrengender, manchmal aber auch weniger nervenaufreibend war. Warner hatte schon im mer eine kleine Phobie gegen Aufzüge gehabt. Aber diese Angst ließ sich für die kurze Dauer einer Fahrt verdrängen. Sie loderte nur auf, wenn man sich im Detail ausmalte, daß eine Kabine auch mal zwi schen zwei Stockwerken hängenbleiben konnte … Wie jetzt! Dieser Ruck gehörte nicht zu den üblichen »Zugaben« einer Fahrt. Er war hart, bebenartig und wurde von wenig harmlosen Effekten wie Lichtausfall, häßlichen Kurzschlußgeräuschen hinter der Elek tronikverkleidung und einem Knirschen, als würden alle tragenden Stahlseile auf einmal zerreißen, begleitet …! »Verdammt!« fluchte Warner und hielt sich unwillkürlich an der in Bauchhöhe umlaufenden Haltestange fest. Es war stockfinster in der Kabine. Nicht einmal die Knopfbeleuch tung funktionierte noch. Eine zähe Sekunde lang mußte Warner an Needles denken, der bald in einer ahnlich finsteren und noch beengteren Kiste begraben werden würde. Der Gedanke hinterließ Leere. Warner stieß sich von der Wand ab und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Lifttür. Dazu schrie er: »Hallo …! Hört mich je mand …?« Der Alarmknopf, über den jeder Aufzug verfügte, fiel ihm ein. Das Naheliegendste eigentlich. Er kramte in der Hosentasche und fand sein Feuerzeug, das er als Gelegenheitsraucher immer bei sich trug.
Die Flamme leckte einen Zentimeter hoch in die Dunkelheit. Sie genügte, um Schummerlicht zu erzeugen und den kleinen Hebel un terhalb der Etagenknöpfe ausfindig zu machen. Warner legte ihn um. Eine Vollzugsmeldung blieb aus. Es war zweifelhaft, ob der Schal ter irgendwo einen Alarm ausgelöst hatte. Akustisch trat jedenfalls keine Veränderung ein. Aber Warner schien auch nicht in unmittel barer Gefahr zu schweben. Die Kabine hing irgendwo zwischen fünfter und sechster Etage fest. Es war früher Nachmittag, und über kurz oder lang würde jemand den Ausfall bemerken und die nöti gen Maßnahmen auslösen, um Warner zu befreien. Über kurz oder lang … Warner schloß das Feuerzeug, als es zu heiß wurde. Er wiederhol te seine Hilferufe und trommelte weiter mit Fäusten und Handflä chen gegen die Tür. Als Antworten ausblieben, zog er auch seine Schuhe hinzu und trat so heftig gegen die Zelle, daß sie zu schwin gen begann und irgendwann einen kleinen, unkontrollierten Satz abwärts ausführte. Warner gefror und wagte fortan kaum noch etwas zu tun. Er be schränkte sich auf vereinzelte Rufe. Plötzlich durchschnitt ein häßliches Geräusch die Stille. Es kam von irgendwo über der Kabinendecke, und es hörte sich an, als würde jemand mit rostiger Säge einen nassen Stamm bearbeiten. »Hallo!« rief Warner gezielt. »Ist da oben jemand? Ich sitze hier fest! Helfen Sie mir!« Eine Weile trat wieder völlige Stille ein. Dann brach jemand in ge hässiges, stoßartiges Lachen aus, ohne Antwort zu geben. Warner legte den Kopf schief. Er lauschte, verwarf aber den Ver dacht, der ihm gekommen war, weil er das Lachen zu kennen glaub te. Als das Lachen aber verstummte und das durchdringende Ge
räusch sich fortsetzte, durchzuckte es ihn siedend heiß. »Stiller!« rief er. »Stiller, sind Sie das da oben?« »Stiller, sind Sie das da oben?« äffte ihn jemand nach, bei dem es sich – darüber gab es nun kaum noch einen Zweifel – nur um Stiller selbst handeln konnte! »Was tun Sie, zum Teufel? Kümmern Sie sich lieber darum, daß ich hier rauskomme! Organisieren Sie einen Fachmann – schnell!« »Nur nicht drängeln, Jeff, alter Freund …« Stillers Stimme war eine einzige Anhäufung von Disharmonien. Schrill, ätzend und von einem noch nie so offen zur Schau getragenen, dumpfen Haß be seelt. »Du bekommst die Freifahrt, die schon lange fällig war! Dich zu einem von uns zu machen, wäre ein Vorzug, den du nicht ver dient hättest … Fahr zur Hölle!« Das Sägen wurde lauter, zwingender. Etwas, das unter höchster Spannung gestanden hatte, zerriß. Die Kabine begann leicht zu kippen – und dann zu fallen.
* Kot schwamm vorbei. »Menschen!« murmelte Hafiz abfällig. Er hatte nicht nur unver kennbare Ähnlichkeit mit einem verwilderten Dingo; er jagte auch vorzugsweise in dieser Gestalt. Er war klein und besaß, obwohl sonst wie ein Halbwüchsiger aussehend, bereits einen Altersbuckel. Wenn ihm wirklich daran gelegen gewesen wäre, hätte er diesen Makel leicht ändern können. Aber Hafiz war für seinen Hang zur Spleenigkeit bekannt. »Außerdem«, frotzelte er bei jeder sich bieten den Gelegenheit, »bin ich nach menschlichen Maßstäben ein alter Mann …«
Die Gelegenheiten, damit zu kokettieren, wurden jedoch immer seltener. Es gab kaum noch jemanden, der diese Antwort nicht kann te. Hafiz war mit 253 Jahren einer der Letztgeborenen. »Haben sie nicht eine seltsame Art, wieder herzugeben, was sie sich erst mühsam einverleiben?« fügte er hinzu. »Eine stinkende Art!« Habakuk, mit 261 Jahren nur unwesentlich älter, auf keinen Fall aber reifer als sein Bruder, lachte im gleichen abfälligen Ton, mit dem Hafiz gesprochen hatte. Der dritte im Bunde derer, die hinab in die Tiefen der Kanalisation gestiegen waren, schwieg. Hammur hatte schon immer als der Ver schlossenste von ihnen gegolten. Und selbst wenn er einmal den Mund auf tat, war es nicht so, daß die anderen die Schärfe seines Wortes zu fürchten hatten. Seine Gesprächsbeiträge besaßen unge fähr denselben Reiz und Gehalt wie das Blut einer achtzigjährigen Jungfer, an die sich auch kein vernünftiger Vampir mehr herange macht hätte – mit Ausnahme vielleicht von Haopa, dem Eigenbröd lerischsten der Sippe, dem ein Hang zum Nekrophilen nachgesagt wurde. Hammur war 258 Jahre alt, aber als er jetzt nach langem Überlegen die Lippen unmerklich bewegte, klang er wie ein schwelgender Tee nager: »Hat sich schon jemand Gedanken darüber gemacht, was passiert, wenn wir sie in die Krallen kriegen?« Ein paar Sekunden herrschte – bis auf das Geräusch des strömen den Abwassers innerhalb der Rinne – beinahe greifbare Stille. Hafiz war es, der schließlich grinsend behauptete: »Natürlich! Sie ist … nun, ihr habt es selbst gesehen, sie besitzt ihre Reize … Man müßte sie ja nicht sofort eliminieren. Man könnte ja zuallerst einmal …« Sei ne Zunge fuhr über die Lippen, ohne Feuchtigkeit zu hinterlassen. Gerade was er unausgesprochen ließ, schien die Phantasie seiner Brüder tüchtig aufzuheizen.
Eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Das Zwitterwesen, das dem unzugänglichen Haus in der Padding ton Street nach fast einem Jahrhundert des Wartens entschlüpft war, hatte binnen nicht einmal zwei Tagen kurz und heftig unter der in Sydney ansässigen Vampirsippe gewütet. Auf ihr Konto gingen eine Dienerkreatur, der eitle, edle Horrus und – was am schwersten wog – Hora. Hora war nicht nur das Oberhaupt, sondern auch der Begründer der hiesigen Sippe gewesen. Auf einem der ersten Schiffe der briti schen Krone war er damals hierher gelangt. Auf ihn gingen alle Mit glieder der Familie zurück. Seine Magie war jedem anderen Sippen mitglied überlegen gewesen. Und doch hatte das Zwitterwesen in der Gestalt dieser wunderschönen, blutjungen Frau ihn scheinbar mühelos besiegt! Über das Wie war noch nicht viel bekannt, außer daß es stärkere Magie vollbracht haben mußte als jene, über die Hora gebot. Dies hätte den drei »jungen« Vampiren, die hier scheinbar sorglos mitein ander spotteten, eigentlich Warnung genug sein müssen. Daß es nicht so war, verriet nur ihre Unreife. Und etwas von den abwegiga benteuerlichen Gedanken, die sich in ihren Hirnen zu formen be gonnen hatten, seit die Nachfolgefrage ungeklärt war. Sie wußten, daß die Familie einen neuen Führer brauchte – und wie hätte man sich für diesen Posten besser empfehlen können, als indem man den Mörder des Vorgängers auf dem Tablett servierte …? Der Abwasserkanal, den sie nun vorsichtig entlangschritten und sich von der Dunkelheit nicht stören ließen, weil es Dunkelheit für sie nicht gab, führte unter der Kirche hindurch, in die das Zwitter wesen sich nach seiner Untat zurückgezogen hatte. Kein Vampir und keine Dienerkreatur vermochte ihr dorthin zu folgen. Und selbst unterirdisch erreichten sie in kürzester Zeit die unsichtbare
Grenze, die zu überschreiten ihnen übel bekommen wäre. »Verstecken wir uns hier«, sagte Habakuk. »Unsere Geschwister haben alle vakanten Plätze rings um das Gebäude besetzt. Auch der gegenüberliegende Verlauf der Kanalisation steht unter Bewachung. Wenn sie herauskommt, wird es ihr nicht gelingen, unbemerkt zu verschwinden!« »Zweifelst du etwa daran, daß es sie heraustreibt?« fragte Hafiz ungläubig. »Ich begreife nicht, wie sie auf die selbstzerstörerische Idee kommen konnte, hinein zu gehen!« »Du vergißt, daß sie keine reinblütige Vampirin ist«, meldete sich Hammur lakonisch zu Wort. »Sie ist …« »Ja?« fauchte Hafiz aggressiv. Er liebte es nicht, wenn ihn jemand belehren wollte. Hammur schüttelte nur den Kopf und senkte den Blick. »Streiten wir nicht«, versuchte Habakuk zu schlichten. »Wappnen wir uns mit Geduld …« Er setzte sich mit dem Rücken gegen einen der feuchtkalten Bogenpfeiler, schnappte blitzschnell mit den ge krümmten Nägeln seiner Hand nach einer arglos vorbeihuschenden Ratte und biß ihr das Genick durch. Während die anderen nach ähn lichen Delikatessen Ausschau hielten, gab sich Habakuk naschend seinen ganz eigenen Träumen von Macht und Herrschaft hin.
* Der nächste Ruck schleuderte Jeff Warner auf den Boden der Kabine und verschaffte ihm eine unerwartete Galgenfrist. Er hatte keine Ahnung, wie viele Seile die Kapsel, in der er steckte, noch hielten. Aber offenbar war erst eines davon gerissen. In spürba rer Schieflage war die Kabine aufgefangen worden – diesmal sogar
fast in richtiger Höhe, um an eine Austrittstür zu gelangen. Fast. Es fehlten … Zentimeter. Warner rappelte sich fluchend auf und wuchtete mit der Schulter gegen die Tür, die zwar schepperte, aber nicht nachgab. Panische Furcht trieb den Detective zu weiteren Versuchen. Furcht und das neuerliche Einsetzen der nervzerfetzenden Geräusche, die anzeig ten, daß Stiller oben das nächste Halteseil aufs Korn genommen hat te! »Du Scheißkerl!« schrie Warner. Und dann, noch lauter: »Ist da niemand, der diesem Wahnsinnigen das Handwerk legt …?« Der Wohnturm schien wie ausgestorben. Es mußte an der Tages zeit liegen. Oder an der Dröhnung, die sich Typen wie Nelly bereits zu dieser Stunde reingezogen hatten. »Ich wußte, daß ich dich eines Tages am Arsch kriegen würde!« rief Stiller den Schacht herunter. Es war nicht auszumachen, wo ge nau er sich aufhielt und an der teuflischen Todesart für Warner bas telte. »Ich hätte nur nie geahnt, unter welchen Umständen … Es ist ein bißchen wie Sterben. Aber nicht dasselbe. Die Erfahrung, was der wahre Tod ist, wirst du mir voraushaben – gleich …« Warner spürte neben aller Angst nun auch dumpfe Wut, als er be griff, daß es selbst in dieser Lage noch etwas Widerlicheres als Stiller gab. Einen geschwätzigen Stiller! Er starrte auf das viel zu schmale Glasrechteck innerhalb der Me talltür, die auf die Etage hinausführte und sich nicht aufstemmen ließ, weil die Kabine eben noch nicht ihre ordnungsgemäße Position eingenommen hatte. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die Doppel verglasung irgendwie zu zerschlagen, hätte er damit höchstens den ausgestreckten Arm vor dem Absturz bewahren können. Es hätte
ihm wenig gebracht, da ein Arm allein Warners Persönlichkeit kaum hätte weiterleben lassen, während der restliche Rumpf irgendwo am Ende des Schachts zerschellte … Als das Sägegeräusch kurz aufhörte und anzeigte, daß Stiller auch dieses Werk gleich vollendet haben würde, begriff Warner, daß es nur noch eine einzige Minimalchance gab, zu überleben. Er schätzte die Wahrscheinlichkeit, daß es ihm gelingen könnte, auf eins zu hundert – großzügig bemessen. In den nächsten Sekunden, nachdem das Sägen wieder einsetzte, wartete er auf die winzigste Erschütterung, die ihm anzeigte, daß es nun endgültig bergab ging. Noch bevor die zweite Minute anbrach, war es soweit.
* »Hör auf, dich dagegen zu wehren!« sagte der Mann in der Soutane. Er hielt respektvollen Abstand. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Angst war zu riechen, und sein Haar schien seit der letzten Begeg nung mit einem Bleichmittel gewaschen worden zu sein, das ihm auch die letzte Tönung entzogen hatte. »Es schadet dir nur. Würdest du deine Verfehlungen einsehen, wäre alles leichter. Dann müßte ich vielleicht nicht zum Äußersten greifen …« Das klang verlockend – obwohl Lilith nicht wußte, was ein Mann wie er unter dem »Äußersten« verstand. Sie lag mit halboffenen Lidern vor ihm. Das Kleid, das sie trug, war für einen Priester Provokation pur. Es lenkte alle Blicke auf Li liths selbst im Liegen prallen Busen und die aufregend langen Beine. Lilith hatte es zu ändern versucht; gerade weil sie momentan nie manden provozieren wollte. Aber das Erbstück ihrer Mutter hatte
auf keinen Gedanken und kein laut ausgesprochenes Wort reagiert. Vielleicht hatten die Symbole an den Wänden, die inzwischen wie der zugehängt waren, irreparablen Schaden bewirkt. Möglicherwei se hatte das Kleid seine Mimikryeigenschaft für immer verloren und würde zu keiner anderen Präsentation mehr fähig sein als dieser … Es war müßig, darüber nachzudenken. Lilith hatte längst begrif fen, daß dieser ihr fremde Pater nicht spaßte. Er schien tatsächlich von dem Ehrgeiz beseelt zu sein, sie von dem »Dämon«, der sie in seiner Gewalt hatte, zu exorzieren. Und es schien ihm ein durchaus akzeptabler Preis für das Gelingen dieses Vorhabens, daß Lilith ihre »Befreiung« nicht überleben würde. Anders war sein Gebaren nicht zu interpretieren. »Sie haben mir nicht zugehört«, sagte Lilith. »Sie werfen mir man gelnde Einsicht vor, dabei sind Sie es, der sich davor verschließt, daß nicht ich die Gefahr bin, sondern die, die mich verfolgen!« Der Priester musterte sie schweigend. Warum versagt es? dachte Lilith verzweifelt. Warum hat es mir Hora und seinen Sohn vom Hals geschafft, aber hier versagt es? Es müßte doch viel leichter sein, einen Menschen außer Gefecht zu setzen. Es müßte ihn ja nicht einmal töten …! Sie wußte – nein, ahnte – die Antwort. Dieser Ort war es! Das Gebäude, das Liliths Todfeinde fernhielt und ihr selbst be trächtlich zusetzte, unterdrückte auch die Kräfte des Kleids, von de nen Lilith, wie sie annahm, erst den kleinsten Zipfel erhascht hatte. Es übernahm das, was eigentlich Lilith selbst aufgetragen worden war in jener geistigen Botschaft, die sie am Grab ihrer Mutter erhal ten hatte: Es tötete Vampire! Lilith zweifelte immer noch, daß sie es aus eigenen Kräften ge schafft hätte, Hora oder auch nur einem anderen, schwächeren
Vampir Paroli zu bieten. Ohne das Kleid fühlte sie sich völlig hilflos – und sie war ohne das Kleid! Auch wenn es nicht so aussah. Auch wenn es sich angeblich im mer noch um ihren Körper schmiegte, hatte Lilith das Gefühl, nackt zu sein. Die Magie, der Schmerz, die Lust, all das, was vom ersten Moment des Tragens auf sie übergesprungen war, ließ sich nicht mehr wahrnehmen. Vielleicht, weil es jetzt wirklich nur noch das war, was es ihr anfangs vorgegaukelt hatte: ein ganz normales Textil … Ein Feigenblatt, durchzuckte es Lilith vage. Sie wußte nicht, woher der Gedanke kam – und auch nicht, wohin er ging, ehe er ihr über haupt bewußt wurde. »Du bist unbelehrbar …« Der Priester schüttelte, scheinbar traurig, den Kopf. »Vielleicht könntest du einen anderen täuschen. An mir wirst du dir – und das meine ich wörtlich – die Zähne ausbeißen! Ich wußte schon immer, daß all das Böse, von dem in der Heiligen Schrift und in alten Legenden die Rede ist, mehr ist als die abstrak ten Bilder, die man uns als Krücken unserer begrenzten Vorstel lungskraft gegeben hat. Es ist real – Schlimmeres gäbe es darüber nicht zu sagen! Ich sah den Wolf in dir. Ich sah deine Zähne. Die Grimasse, die du mir zeigtest, als du in meine Kirche eindrangst, war tausendmal ehrlicher als das schöne Blendwerk, das du mir jetzt präsentierst. Der Volksmund nennt dich eine Vampirin – aber egal, was du wirklich bist: Du kannst nicht gut sein! GOTT IST NICHT MIT DIR! Du bist kein Teil seiner Schöpfung! Ich werde her ausfinden, was du bist – und dann werde ich dich aus diesem Kör per vertreiben, oder diesen Körper mit dir vernichten, falls du nicht nur in ihn hineingefahren bist, sondern er tatsächlich dein ist …!« Der grauhaarige Priester hatte immer hektischer gesprochen, sich immer mehr ereifert. In seinen Augen stand zu lesen, daß er an das, was er sagte, glaubte. Schlimmeres hätte Lilith nicht darin finden
können. Sie kniff den Mund zusammen. Wenn kein Wunder geschah – und zwar bald – bedurfte es keines vampirischen Verfolgers mehr, sie zu vernichten. Ein kleiner, verbohrter Mensch würde ihren Feinden die Arbeit abnehmen – und er würde sich dafür auch noch auf die Schultern klopfen! Schon jetzt fühlte sie sich schwach wie nicht einmal ganz zu An fang ihres Bewußtwerdens in dieser sonderbaren Welt. Auch wenn sie verborgen hinter Tüchern hingen, höhlten die Symbole, die der fanatisierte Priester an die Wände gekritzelt hatte, sie systematisch aus. Die Fesseln, die sie auf den klobigen Tisch banden, waren dem ge genüber nur Staffage. Beiwerk. Er weiß nicht, was er tut, dachte Lilith sarkastisch, und tut dabei ge nau das Richtige – aus seiner Sicht jedenfalls …! »Sie wollen mich wirklich töten«, sagte sie matt. Die Augen des Priesters glommen düster auf. »Nicht töten – erlö sen!« Er seufzte wie unter einer Zentnerlast und wandte sich brüsk ab. »Ich weiß nun, daß es müßig ist, dich läutern zu wollen. Dun muß bald zurück sein. Dann werde ich tun, was getan werden muß. – Auch wenn du es jetzt noch nicht begreifen kannst; wenn alles vor bei ist, wirst du mir dankbar sein, daß sich jemand deiner Seele ange nommen hat!« Lilith schloß die Augen, ohne daß sein Bild vor ihr verschwand. »Falls ich eine Seele habe«, flüsterte sie. »Falls du eine Seele hast!« Sie glaubte ihn nicken zu sehen. Der Priester ging, wie er schon einmal gegangen war. Und genauso würde er auch wiederkehren.
Man konnte sich auf ihn verlassen …
* Warner schnellte aus dem Stand und aus einer Distanz von einem knappen Meter gegen die Tür, als das letzte Haltetroß riß und die Kabine sich nach unten verabschiedete. Es war Russisches Roulette par excellence! Nur der Bruchteil einer Sekunde konnte der »Richtige« sein – ein hoher Lotteriegewinn war genauso unwahrscheinlich wie die Chan ce, diesen richtigen Bruchteil zu erwischen. Den Moment, in dem die sich lösende Kabine genau die Stelle passierte, die den Öffnungs mechanismus der Tür freischaltete … Als die zuvor blockierte Austrittstür unter seinem Gewicht nach gab, glaubte er es zunächst nicht. Als er über den Korridorboden rollte und hinter ihm infernalischer Lärm davon kündete, daß die Kabine weiter abwärts sauste und kaum drei Sekunden später am Grund des Schachtes aufschlug, glaubte er es! Die Wucht des Crashs ließ noch die oberen Stockwerke beben. Un geheure kinetische Energie wurde freigesetzt. Warner blieb benommen liegen. Er lauschte in sich hinein und beschloß, seinen diensthabenden Schutzengel für die Ewigkeit weiterzuverpflichten. Zugleich wünschte er sich, Needles hätte einen ähnlich fähigen »Guardian Angel« besessen, als es darauf ankam … Er erstarrte. Außer dem Lift gab es natürlich auch ein Treppenhaus. Und von dort hörte Warner jetzt Schritte, die von oben herabhasteten.
Was das bedeutete, war ihm klar. Er wußte auch, wie schnell sich ein Glückspilz in eine Pechmarie verwandeln konnte. Im letzten Augenblick, ehe die Tür zum Treppenhaus aufgestoßen wurde, konnte er sich dahinter schieben. Außer Sicht dessen, der heraustrat. Die Tür hatte keinen automatischen Schließer, und der Eintretende warf sie auch nicht hinter sich ins Schloß zurück. Warner hatte eine kleine Schonfrist, während derer er an der Kante vorbeispähte und – eigentlich hatte er nie daran gezweifelt – Stiller entdeckte, der sich mißtrauisch der offenen Lifttür näherte. Warner verfluchte das Versäumnis, die Tür nicht wieder geschlos sen zu haben. Nicht einmal eine Flasche wie Stiller würde lange dar über rätseln, was dies bedeuten konnte. Statt seines Dienstrevolvers trug Stiller die gemeine Säge in der Hand, mit der er das Attentat auf den Aufzug verübt hatte – wobei über einen überzeugenden Grund dafür immer noch spekuliert wer den durfte. Warner beschloß, diese Frage zurückzustellen und die Flucht nach vorn anzutreten. Irgendein praxisfremder Aushilfsphilosoph, der bestimmt nicht gerade aus einem abstürzenden Lift entkommen war, hatte Angriff als die beste Verteidigung bezeichnet. Warner hätte in dem Moment, als Stiller sich nach ihm umdrehte, gern mit diesem Sprücheklopfer getauscht. Es war der Moment, als Warner sich aus der Deckung der Tür lös te und Stiller nicht den Hauch von Überraschung zeigte. Ein Laut, wie Warner ihn überhaupt noch nie aus dem Mund eines Menschen gehört hatte, begleitete Stillers Bemerkung: »Auch Katzen geizen mit den vielen Leben, die man ihnen nachsagt – sie wissen,
warum. Du hast nur eines, Warner, aber offenbar hältst du dich für unsterblich …« Er warf die Säge in den gähnenden Schlund des Aufzugsschachts und zog in derselben Bewegung seinen Revolver, dessen Mündung er auf Warners Brust richtete. Obwohl ihm die Spucke im Mund trocknete, höhnte Warner: »Eine fabelhafte Idee. Polizist erschießt Polizist. Niemand wird sich je etwas dabei denken …« Die Sekunde, in der Stiller nun doch noch irritiert schien, nutzte Warner, um sich auf ihn zu werfen. Ein Schuß löste sich, ging aber fehl und schlug irgendwo in die Decke ein, als Warner seinen übergeschnappten Kollegen zu Fall brachte und unter seinem Gewicht begrub. Ein unbarmherziger Ringkampf entbrannte. Stiller versuchte, den Lauf des Revolvers er neut gegen Warner zu richten, aber Warner hatte etwas dagegen. Er rammte Stiller die Stirn gegen das Kinn, daß der Kiefer knackte. Der außer Rand und Band Geratene steckte jedoch nicht in seinem Bemühen zurück, ihn umbringen zu wollen. Er schien auch jetzt nicht ernsthaft in Erwägung zu ziehen, daß er Warner unterliegen könnte. Das verpatzte Attentat war ein Schönheitsfehler – mehr nicht. »Typen, die unter galoppierender Paranoia leiden, scheinen in Mode zu kommen«, preßte Warner in heiligem Zorn hervor. »Hof fentlich ist das nicht ansteckend …« Stiller grunzte, als Warner ihm unvermutet den Revolver aus der Hand hebelte und die Waffe mit Schwung so weit über den Boden schlitterte, daß sie außer Reichweite geriet. Warner gewann nach ei nem weiteren Kraftakt endgültig Oberwasser, warf Stiller auf den Rücken und drückte mit den angezogenen Knien auf dessen Rippen. Der Widerstand des Mannes, der ihn töten wollte, erlahmte. »Hast du endlich genug?« Warner packte ihn derb am Kragen.
Stiller starrte zu ihm hoch. Seine Iris schimmerte feucht. »Ich habe dich etwas gefragt!« Warner hob ihn ein Stück an und stieß ihn dann mit solcher Wucht zum Boden zurück, daß Stillers Kopf hohl aufschlug. Stiller nickte eifrig und versicherte säuselnd: »Frieden!« Warner traute ihm nicht über den Weg. Er trug keine Handschel len bei sich, und bei Stiller danach zu fahnden, war ihm zu riskant. Statt dessen holte er aus und landete einen klassischen Knockout auf Stillers Kinn. Diesmal ließ der Erfolg nicht auf sich warten. Stillers Kopf erschlaffte und rollte zur Seite. Die Spannung wich aus dem drahtigen Körper. »Arschloch!« fauchte Warner und stand auf. Er sah sich nach dem Revolver um, der kurz vor der offenen Aufzugstür liegen geblieben war. Noch während Warner überlegte, wie er sein Erlebnis dem Hauptquartier – vor allem Codd – verkaufen sollte, trottete er zu Stillers Waffe und hob sie auf. Aus dem offenen Schacht drangen knisternde Geräusche. Warner beugte sich vorsichtig über den Rand und spähte nach un ten. Als er das Feuer sah, das über die bis zur Unkenntlichkeit zer borstene Kabine und bloßgelegte Kabelstränge leckte, wurde ihm erst bewußt, daß er schon eine ganze Zeit brenzligen Geruch in der Nase hatte. Der Kampf hatte ihn jedoch von dem Feuer, das offenbar Kurzschlüsse ausgelöst hatten, abgelenkt. Ich muß Alarm schlagen, dachte er. Bevor es sich ausweitet. Er wußte, wo sich die Feuermelder auf jeder Etage befanden und wandte sich um. Stillers Fratze tauchte wie ein Gespenst vor Warner auf. Aus dem Nichts. Mit ausgestreckten Armen und geballten Fäusten, die nur ei nes im Sinn hatten … Er hat sich nur verstellt!
Die Erkenntnis kam spät. Verflucht spät. Hinter Warner gähnte die Tiefe des Schachtes. Er riß den Revolver hoch. Der Schuß löste sich, mit unwirklichem Knall. Die Kugel fuhr in Stillers linken Oberschenkel und zerfetzte eine Arterie. Als Warner begriff, daß nicht einmal die Kugel den berserkerhaft wütenden Mann stoppen konnte, spürte er bereits die Berührung der Fäuste. Im buchstäblich letzten Moment machte er einen Ausfallschritt, wurde vom Stoß aber doch noch erfaßt und rückwärts geschmettert. Sekundenlang schienen seine Arme im Nichts zu rudern, und er meinte bereits, in den Abgrund zu stürzen, bis ihn ein harter Auf prall zwischen den Schulterblättern belehrte, daß er nur gegen die Kante der immer noch offenstehenden Lifttür geschleudert worden war und anschließend weiter in den Gang taumelte. Ein gräßlicher Schrei verriet, daß Stiller weniger Glück gehabt hat te. Offenbar hatte er seinen eigenen Schwung nicht mehr korrigieren können und kraß erfahren, daß Luft keine Balken hatte. Als Warner sich umdrehte, war Stiller verschwunden. Auch der Schrei war erstorben. Mit weichen Knien kehrte Warner zur Schachtöffnung zurück. Diesmal, soviel wurde sofort deutlich, brauchte er keine Besorgnis mehr zu haben, daß Stiller sich lediglich verstellte. Der Flackerschein des Feuers erhellte ein erschütternd endgültiges Szenario. Eine der senkrecht aufragenden Streben der Kabinentrüm mer hatte Stillers Sturz aufgefangen und hielt ihn auch jetzt noch in grotesker Schwebe. Die aufgerissenen Augen, in denen immer noch
geisterhaftes Leben zu irrlichtern schien, starrten zu Warner herauf. Der Metallpfahl hatte sich schräg von der Hüfte aufwärts durch Stil lers linke Seite gebohrt und trat genau in Höhe des Herzens wieder heraus. Warner ertrug den Anblick genau drei Sekunden – dann mußte er wegsehen. Mit Gliedern schwer wie Stein stakste er den Gang entlang und schlug die Scheibe des Feuermelders ein. Während sich das Klingeln durch die Etagen fraß, erreichte er über das noch nicht in Mitleiden schaft gezogene Treppenhaus seine Wohnung. Von dort nahm er mit dem Hauptquartier in der King Street Kontakt auf. Die Stimme aus der Zentrale hörte er wie durch Watte. Er haspelte herunter, was zu sagen war. Dann wartete er. Erst als die Sirenen der Feuerwehr mit dem Wummern der Strei fenwagen zusammenfielen, verließ Warner sein Apartment und ging ihnen entgegen. »Da unten ist kein Toter«, widersprach ihm später einer der Poli zisten und führte ihn ins Erdgeschoß, wo die Feuerwehr die dortige Lifttür für Löschzwecke aufgebrochen hatte. Bis zum Ende des Schachtes waren es von hier aus nur wenige Meter. »Überzeugen Sie sich selbst!« Warner blickte schaudernd auf die Trümmer, auf denen der Löschschaum wie eine Kruste aus altem Zuckerguß haftete. Der monströse Dorn, der Stiller aufgespießt hatte, war leer. »Könnte er –«, wandte sich Warner an den Einsatzleiter der Feuer wehr, »– verbrannt sein?« Das rußgeschwärzte Gesicht blieb ausdruckslos, als der Mann die Schultern zuckte. »Wir haben schon alles erlebt; nichts ist unmög lich. Meine Männer suchen bereits nach menschlichen Überresten …
Aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß man ihn übersehen haben könnte. Sind Sie sicher, daß er tot war?« Warner lachte rauh und humorlos. »Wenn Sie ihn gesehen hätten, würden Sie das nicht fragen!« »Wenn er da war, werden wir ihn finden«, konterte sein Gegen über. Er stapfte davon, um sich ein Stockwerk tiefer zu begeben. Aber Warner hörte noch deutlich, wie er hinzufügte: »Wenn …« Warner brauchte nur zu dem Polizisten zu blicken, der neben ihm stand, um zu erkennen, daß sie der Version, die er ihnen geliefert hatte, nicht trauten. Er hätte es an ihrer Stelle auch nicht getan.
* »Heckenrosen?« hatte die Floristin zweifelnd nachgefragt. »Da müs sen Sie in eine Gärtnerei gehen. Täten’s normale Rosen nicht ebenso …?« Duncan Luther hatte sich breitschlagen lassen. Zumal er weder wußte noch Lust dazu verspürte, herauszufinden, was Pater Lorri mer mit dem seltsamen Sortiment eigentlich bezweckte. Die Rosen waren die letzte Position, die auf der Liste noch offen gestanden hatte. Mit einer großen braunen Papiertüte und einem in Zellophan eingeschlagenen Rosenstrauß beladen, kehrte er zur Kir che am Trumper Park zurück. Wie seit neuestem üblich, mußte er sich schleppenden Verkehr und ein paar Umleitungen gefallen lassen. Weite Teile der Padding ton Street waren durch Absperrungen unzugänglich gemacht wor den: Wie aus der halbstündigen Nachrichtensendung im Radio zu erfahren war, hatten auch viele Anlieger ihre Häuser bis auf weite
res räumen müssen. Bürgermeister Weinbergs Statements dazu klangen mehr als halbherzig. Man konnte den Medien nicht verden ken, daß sie Informationslöcher mit nicht immer seriös klingenden Mutmaßungen stopften. Die zuerst aufgekommene These vom Zusammensturz einer der alten, im viktorianischen Stil erbauten Villen schien – das jedenfalls wurde deutlich – nur die »Spitze des Eisbergs« darzustellen. Sogar die Gerüchte über tote Polizisten und rapide gealterte Angehörige eines städtischen Bautrupps, die anfangs niemand für bare Münze genommen hatte, erschienen vielen durch ihre ständige Wiederho lung inzwischen gar nicht mehr so abwegig. Von der City aus hatte Duncan Luther kurz mit seinen Eltern in Leichhardt telefoniert. Wie er sie kannte, sorgten sie sich bereits, daß er irgendwo unter den Trümmern eines Gebäudes liegen könnte. Sie hatten schon mal das Kunststück fertiggebracht, das australische Konsulat in Kenya in Aufruhr zu versetzen, weil Duncan sich gera de mit Studienfreunden auf einem Urlaubstrip aufhielt und zeit gleich ein Militärputsch im Tschad stattfand. Für Bewohner eines Kontinents, der vielleicht noch überschauba rer als der afrikanische war, benahmen sich Duncans Eltern schon etwas verschroben. Aber er verzieh es ihnen. Sie hatten ansonsten ein phantastisches Verhältnis, und solange er sie zu nehmen wußte, wie sie waren, gab es auch keine Probleme. Sie akzeptierten ihn schließlich auch, wie er war, obwohl weder seine Mutter noch sein Vater je etwas mit der Kirche am Hut gehabt hatten. Sein Vater war Prospektor und oft auf Dienstreisen für eine Landerschließungsgesellschaft. Seine Mutter aber hatte das schwers te Los: Ehegattin, Hausfrau und Mutter. Duncan schmunzelte. Von weitem lugte schon die Kirchturmspitze über die grünen
Wipfel des Parks, als er einen kleinen, geschlossenen Transporter mit einer Panne am Straßenrand stehen sah. Die Haube war aufge klappt, und außer einer jungen Frau mit einem Baby auf dem Arm war weit und breit keine Menschenseele zu entdecken. In dem Moment, als er sich auf gleicher Höhe mit ihr befand, traf Duncan der Blick aus den flehenden Augen der Frau. Wie lange sie hier schon stand, ohne daß jemand angehalten und ihr geholfen hat te, wußte er nicht. Er hätte auf jeden Fall angehalten. Die Nächsten liebe gebot es – etwas, was für Luther keine leere Worthülse war. Er stoppte seinen altersschwachen, günstig erworbenen Vauxhall wenige Meter vor dem fremden Transporter und stieg aus. »Probleme?« Er ging auf die Frau im schwarzen Kleid zu. Sie lächelte scheu. »Ich fürchte.« Sie sah etwas ungewöhnlich aus. Ihre strichdünnen Augenbrauen schienen eine einzige, unterbrechungsfreie Linie entlang der glatten, hohen Stirn zu bilden. Das kohlrabenschwarze Haar unterstrich die Blässe ihres Teints noch zusätzlich. Demgegenüber wurde der Mund von einem tiefroten Lippenstift hervorgehoben, wodurch er – was Duncan auf die Entfernung nicht aufgefallen war – eine obszö ne Note erhielt. Er versuchte, darüber hinwegzusehen. »Vielleicht kann ich helfen …« Er schob sich an ihr vorbei, er haschte einen Blick auf das winzige, in Decken eingeschlagene Bün del auf ihrem Arm – und versteinerte inmitten der Bewegung. Das Baby war kein Baby. Es war eine Puppe. »Miss …« Weiter kam er nicht. Sie ließ die Puppe einfach in den Rinnstein fallen und streckte die Hand aus. »Du bist ein hübscher Bengel. Ich mag, was du anhast.«
Er trug, obwohl er es etwas kindisch fand, denn er war ja noch kein Priester, schwarze Hosen, schwarze Schuhe und ein schwarzes Hemd. Lorrimer hatte darauf bestanden. Es war ihre erste Ausein andersetzung gewesen, und der Pater hatte sie gewonnen. Duncan tröstete sich seither damit, daß er ihn hatte gewinnen las sen. »Wenn du brav bist, zeige ich dir etwas.« Ihre Stimme war voller Lockung. Sie selbst (was für ein eigenarti ger Gedanke, durchzuckte es Luther) war die personifizierte Verfüh rung! Was ihn wenige Sekunden vorher noch an ihr gestört hatte, mach te sie plötzlich unwiderstehlich! Er reichte ihr seine Hand. Den Druck kurz darauf nahm er kaum wahr. »Im Wagen sind wir ungestört«, versprach sie. Noch bevor sie die seitliche Tür des Transporters erreichten, glitt diese zur Seite. Duncan begriff dumpf, daß sie von innen geöffnet worden war. Mehrere erwartungsfrohe Gestalten drängten sich in der Enge. »Steig ein«, sagte die Frau. Duncan zögerte. Hände packte ihn und zogen ihn ins Innere. Er wehrte sich nicht. Er wunderte sich nicht einmal richtig. Die fremde Frau folgte ihm zu den fremden Männern. Hinter ihr sprang die Tür zurück in die Arretierung. Durch die getönten Scheiben drang genügend Licht in den Stau raum, um Duncan Einzelheiten erkennen zu lassen. Mit der Frau umgaben ihn fünf Personen. Er hörte, wie die verführerische Schwarzhaarige sich an die Män ner wandte und mit bebenden Lippen bat: »Laßt ihn mich kosten!
Nur ein klein wenig … Ich muß wissen, wie er schmeckt! Bitte!« Sie sahen alle jung aus. Wie Halbstarke in den Filmen der frühen 50er. Einige waren tat sächlich in Leder gekleidet, als hätten sie die aktuellen Trends ver schlafen. »Narschwitz!« fauchte einer der Männer. Sein Haar glänzte poma dig und war streng nach hinten gekämmt. »Du mußt von Sinnen sein! Was hätten wir gewonnen, wenn du nur an dich denkst?« ,Narschwitz? hallte es in Duncan nach. Er mußte sich verhört ha ben. »Wir könnten einen anderen schicken«, rechtfertigte sich die Frau. Aus ihren Mundwinkeln versuchte sich etwas hervorzuschieben. Ihr Gesicht zuckte vor mühsam gezügelter Erregung. Duncan betrachtete sie fasziniert. Erst als die Stimme des Mannes ihn einfing, sah er weg. »Wir haben keine Zeit für Spielchen. Niemand weiß, wieviel Zeit uns überhaupt noch bleibt! Sie kann von Stunde zu Stunde, die wir vergeuden, mächtiger werden – was wissen wir schon über sie?« Er stach mit dem Zeigefinger einer Hand in Duncans Richtung und sagte hart: »Du wirst sie für uns aufspüren und töten! Dich wird nichts daran hindern!« Er blickte kurz in die Runde der anderen, die schwiegen, und fuhr, nachdem er sich vergewissert hatte, daß nie mand weitere Einwände erheben würde, fort: »Du wirst sie für uns töten und ihren Kadaver ins Freie schleifen, damit alle sehen kön nen, daß niemand sie länger fürchten muß!« »Glaubst du wirklich, daß es so einfach ist?« fragte eine zaghafte Stimme. »Wer redet von einfach? Aber haben wir eine andere Wahl? Wir haben IHN noch nicht erreicht – und bis ER hier sein könnte …«
Er verstummte. Er nickte der Frau zu und schlug einen versöhnli cheren Ton an: »Wenn alles vorbei ist, kannst du mit ihm machen, was du willst.« Er deutete auf Duncan, als wäre er nur eine Ware in einem Schaufenster. »Dann gehört er dir. Aber ich weiß jetzt schon, daß du seiner schnell überdrüssig sein wirst … Menschen!« Duncan stand immer noch leicht gebeugt unter dem Dach des Transporters und hörte so unbeteiligt zu, als ginge es um einen an deren. Das änderte sich, als sich die Fünf wirklich mit ihm befaßten. Sie gaben ihm die Instruktionen, die er benötigte. Und sie überga ben ihm etwas in einem geschlossenen Koffer, den er erst öffnen durfte, als er wieder allein in seinem Vauxhall saß. Pater Lorrimer erwartete ihn voller Ungeduld, als er Minuten später im Hof des Kirchengebäudes parkte. »Hast du alles bekommen, was ich dir aufgeschrieben hatte?« Duncan nickte und gab ihm die feste Papiertüte. Lorrimer warf einen schnellen Kontrollblick hinein. »Und die Rosen?« Duncan lief noch einmal zum Auto zurück und holte den Strauß. »Sie hatten keine Heckenrosen.« Lorrimer verzog mißmutig das Gesicht, nahm den Strauß aber trotzdem. »Ich will die nächsten Stunden nicht gestört werden«, er klärte er in barschem Ton. Duncan zuckte die Achseln. Er wartete, bis der gewichtige und schon wieder schwitzende Pater im Anbau verschwunden war. Dann folgte er ihm.
*
Ehe Lorrimer die Tür aufschloß, hielt er kurz inne und zog Kraft aus der Stille. Das Gewölbe unter der Kirche nahm in seiner Vorstellung die Qualität eines mittelalterlichen Verlieses ein, und er selbst war eine Art Großinquisitor, der sich einer hehren Aufgabe verpflichtet hatte. Sein Blick war auf die massive, eisenbeschlagene Eichentür gerich tet, hinter der die größte Herausforderung seines Lebens auf ihn wartete. Obwohl er es sich nicht eingestand, hatte er Angst davor, zu scheitern. Schreckliche Angst. Das Böse war schlau. Das Böse wußte, wie es ihn schwankend in seinem Glauben ma chen konnte. Er war – obwohl er das über Jahrzehnte hinweg verdrängt zu ha ben meinte – unter der Soutane immer noch ein Mann. Und als Mann war er längst nicht so unanfechtbar gegen das erotische Blend werk, das hinter dieser Tür auf ihn wartete, wie er vorgab. Er war noch nie einer Frau mit dieser Ausstrahlung begegnet. Sie ist keine Frau! berichtigte er sich selbst. Sie ist eine Hexe – eine Vampirin – eine Besessene! Was auch immer die Hölle sich ausgedacht hat te! Im Gegensatz zur großen Meinungsmehrheit hatte er geschichtli che Tragödien wie die Inquisition nie bedauert. Sie war seines Er achtens eine Notwendigkeit gewesen, auch wenn – das gestand er ein – dabei viele unschuldig Denunzierte auf den Scheiterhaufen verbrannt waren. Lorrimer war ein Mann mit festen Prinzipien. Tausend Jahre frü her geboren, hätte er vermutlich die Kreuzritter auf ihren – im wahrsten Sinne des Wortes – »Schlachtzügen« begleitet.
Er gab sich einen Ruck, öffnete die Tür und knipste das Licht an. Die Mitbringsel, die er in eine Tasche gelegt hatte, stellte er innen neben der Tür ab und drückte sie zurück ins Schloß. »Ich habe nachgedacht«, sagte die Frau, deren Name er nicht kannte, noch ehe er sich wieder aufgerichtet hatte. Ihre Stimme elektrisierte ihn. Einen flüchtigen Moment spürte er das unzähmbare Verlangen, seine Vergangenheit mit der dunklen Robe abzustreifen und sich nackt zu ihr zu legen. Nur noch Mann zu sein. Dem Zölibat abzuschwören. »Hexe!« keuchte er, als er sich bei dem verbotenen Wunsch er tappte. »Ich bin keine Hexe«, verteidigte sie sich. Der müde Klang ihrer Stimme richtete ihn innerlich auf. »Nein, du bist etwas Übleres – aber das werde ich aus dir heraus treiben!« Lorrimer gaukelte Standfestigkeit vor, als er mit den Vor bereitungen begann. Er ahnte, daß er, je mehr Zeit er verlor, wieder wankend in seiner Überzeugung werden konnte. Das durfte nicht geschehen. Die Zeit bis zu Duns Rückkehr hatte er mit dem Studium der Hei ligen Schrift und einiger Bücher, die sich mit den Verführungsküns ten des Okkulten befaßten, genutzt. Die Quintessenz, die er aus dem Gelesenen gezogen hatte, schlug sich nun in seinem Handeln nieder. Zuerst stellte er Kerzen um den klobigen Tisch herum auf und zündete sie an. Dann löschte er das künstliche Deckenlicht. Auch durch den fast erleichterten Seufzer, der danach ihrem Mund ent wich, ließ er sich nicht weiter verunsichern. Schnell, dachte er nur. Ich muß es hinter mich bringen. Ich hätte gleich die Polzei rufen können – aber was hätte man getan? Niemand hätte ge glaubt, was ich gesehen habe. Niemand glaubt heute auch nur noch das Allergeringste, wenn er es nicht mit eigenen Augen sieht oder mit seinen
Händen greifen kann … Bei ihr konnte man beides: sehen und berühren. Jetzt sah sie so verletzlich, so zart und anmutig aus, daß es Lorri mer fast das Herz brach, wenn er sie anschaute, wie sie gefesselt und ihm ausgeliefert dalag. Ich darf sie nicht ansehen – niemals so! Sie verstand den heiseren Laut aus seiner Kehle falsch. »Ich habe nachgedacht«, wiederholte sie. »Lassen Sie uns über al les reden. Sie haben ja recht, wenn Sie an das Böse glauben. Aber es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß ich es verkörpere! Binden Sie mich los, und ich gebe Ihrem Fanatimus das richtige Ziel! Ich bin sicher, sie sind immer noch draußen. Sie sahen mich in die Kirche flüchten. Und sie werden –« »Fängst du schon wieder an!« unterbrach er sie. »Ich will nichts mehr hören! Ich weiß, was ich tun muß. Sollten sich tatsächlich wei tere von deinesgleichen draußen aufhalten, werde ich mich ihnen später widmen. Wenn ich hier fertig bin!« Sie sah ihn an. Er fühlte es, obwohl er ihren Blick mied. Sein Herz schlug wie noch nie in seiner Brust. Er nahm die Knoblauchstränge und legte sie auf Hals, Brust und Bauch der Frau. Sie stöhnte. Sie wand sich. Lorrimer staunte kurz, welche Wirkung er bereits mit diesem sim plen Vorgang, der eigentlich noch nichts mit dem geplanten Exorzis mus zu tun hatte, erzielte. Dann brachte er Räucherstäbchen mit Weihrauchduft zum Glim men.
»Hören Sie auf!« keuchte seine Gefangene. »Sie wissen nicht, was Sie tun!« »Schweig jetzt!« zischte er. Als sie weiterflehte, holte er die kleine Schiefertafel, die Dun besorgt hatte, schrieb das Machtwort, das er über die gesamte Austreibung stellen wollte, mit Kreide darauf und preßte es mit der Schriftseite nach unten gegen das Gesicht der Frau. Sie erstarrte schlagartig. Ihre Stimme erstarb. Dann begann ihr ganzer Körper wie Espenlaub zu zittern. Lorrimer bekam Angst vor der eigenen Courage. Er zog die Tafel zurück und starrte in das wie gefroren aussehende Antlitz, aus dem alle Anmut gewichen war. Die Fratze, die er gesehen hatte, als er sie in der Kirche fand, war zurückgekehrt. Etwas Wölfisches hatte ihre Züge verschoben. Vampirzähne ragten aus den Mundwinkeln steil nach unten, und die Zunge im halboffenen Mund vollführte aggres sive Schnalzlaute. Lorrimers Blick glitt über ihren restlichen Körper, um sich zu ver gewissern, ob weitere Veränderungen aufgetreten waren. Insgeheim fürchtete er, sie könnte sich in ein kettensprengendes Ungeheuer verwandeln, das seinen Plan ins Gegenteil kehren und ihn hier an Ort und Stelle zerfleischen würde, um seinen Blutdurst zu befriedi gen. Ein klammes Gefühl strich über sein Rückgrat. Er schauderte. Aber er hielt aus. Neben den eher merkwürdigen Dingen, die Dun besorgt hatte, verfügte Lorrimer noch über einen mit Weihwasser gefüllten Be sprenger und das geweihte Kruzifix. Beides war an seinem Gürtel unter der Soutane befestigt, und beides holte er nun hervor.
Er war so weit gegangen, daß es kein Zurück mehr gab. Er mußte die Sache durchstehen. Das Erscheinen dieses Wesens ausgerechnet in seiner Kirche konnte nur ein Gotteszeichen sein! Der Herr wollte ihn prüfen! Er durfte nicht zweifeln … Mit vibrierender Stimme spulte er die Namen der zwölf Apostel herunter. Danach stimmte er einen sonoren Gesang an, der einem heimlichen Zuhörer wie eine Satansbeschwörung anmuten mochte. Lorrimer hielt sich nicht länger zurück. Er streifte die letzten Schran ken, die er sich auferlegt hatte, ab, riß alle Tücher von den bis dahin verhüllten Wänden, entblößte die starken Symbole der Christenheit und schritt um die wimmernde, zuckende, schreiende und tobende Frau herum, die all das, was er entfesselte, wie ein trockener Schwamm zu absorbieren schien! Lorrimer sang. Er sprengte Weihwasser. Er rief die Machtworte des einen Gottes, an den er glaubte. Er blies den Rauch der glim menden Stäbchen gegen die Haut der Besessenen, hauchte seinen ei genen Atem wie eine Waffe gegen das, was aus ihrem Mund her vorstieß, bekreuzigte sich und murmelte Gebetsformeln, die ihm das Unterbewußtsein auf die Zunge legte, während das Kruzifix in sei ner erhobenen Faust alles beschirmte. Er sah selbst aus wie ein zürnender Gott. Seine Augen waren weit aufgerissen. Ein Speichelfaden lief aus seinem Mundwinkel. Seine Stimme hallte von den Wänden, während seine Ohren verschlossen waren vor dem Betteln, das ihn milde stimmen wollte. Er spürte, daß alles einem Höhepunkt entgegentrieb. Der Boden begann, im Takt seines Herzschlags zu pochen. Die Luft, heiß, feucht und verdorben, schien geradewegs den Schlünden der Hölle zu entsteigen. Lorrimer starrte mit brennendem Blick auf die Vampirin. Sie war eine Blutsaugerin – mochte sie beteuern, was sie wollte.
Er sah ihre Zähne, die nach Blut lechzten. Nach seinem Blut? Er redete schneller. Verkürzte die Pausen. Schnarrte Gebete und Gesänge herunter, als gäbe es kein Morgen. Er fühlte sich beobachtet. Nicht nur von den grünen Augen dieses unheiligen Wesens. Von überall. Millionen Augen, in Millionen Far ben. Er stöhnte gequält. Seine Brust schmerzte, als würde heißes Kerzenwachs seine Spei seröhre entlangrinnen. Ihm wurde schwarz vor Augen, und als er wieder sehen konnte, wußte er, daß er dabei war, sich völlig zu verausgaben. Lange wür de er diese exzessive Beschwörung nicht mehr durchhalten. Aber das schien auch nicht nötig. Ganz langsam verwandelte sich die Vampirfratze der Frau wieder zurück in das unschuldsvoll-anmutige Gesicht, das ihn so sehr be rührte, daß er zwischen Mitleid und Pflichtauffassung zerrieben wurde. Ich schaffe es! dachte er. In diesem Moment aber geschah etwas, was ihm die Kehle wie mit einem Korken verschloß und das Grauen durch seinen Körper krie chen ließ. Lorrimer traute seinen Augen nicht, als das Kleid der Besessenen sich vor seinen Augen von ihrer Haut zu schälen begann! Nähte rissen. Stoff knisterte. Und dann quoll, ohne Zutun der Frau, das Kleid amöbenartig unter dem Rücken der Gefesselten her vor, vereinigte sich mit dem von allen Seiten herangleitenden übri gen Stoff, rollte zusammen wie in Sekundenschnelle welkende Blät ter, ballte sich zu einem Klumpen, verformte sich weiter, bis es wie
eine riesige Zigarre aussah – und fiel schließlich auf der anderen Sei te des klobigen Tisches zu Boden. Lorrimer bückte sich sofort. Er sah gerade noch etwas Schlangen- oder Wurmähnliches ge schmeidig in Richtung Tür fliehen, am Bodenschlitz innehalten, er neut fladenförmig auseinanderlaufen und durch die Ritze ver schwinden. Der ganze Vorgang dauerte höchstens drei Sekunden, und als Lor rimer endlich nachsetzte, die Tür aufriß und auf den Kellergang hin ausrannte, war von der ungeheuerlichen Erscheinung keine Spur mehr zu erblicken.
* Lilith schrie lautlos. Es fiel ihr schwer zu begreifen, daß das Kleid sich verflüchtigt hat te. Es war von ihr abgefallen, schien vor dem Druck der »Bespre chung« durch den Geistlichen kapituliert zu haben. Damit war dem Pater etwas gelungen, was Lilith selbst vergeblich versucht hatte: wieder von dem Erbe ihrer Mutter loszukommen, weil es ihr zu unheimlich und zu bestimmend geworden war! Nun, da es geschehen war, konnte Lilith sich nicht darüber freuen. Bis zuletzt hatte sie gehofft, gerade das Kleid würde dem Fanatiker in der dunklen Robe doch noch erfolgreich Widerstand leisten. Das war nicht geschehen. Das Kleid hatte lieber die »eigene Haut« gerettet, als Lilith zu schützen. Der Priester war kein Vampir. Er war keiner von den Feinden, vor denen Liliths Mutter gewarnt hatte. War das der Grund?
Liliths Situation hatte sich um kein Deut verbessert. Sie war – nun auch optisch nackt – weiter wehrlos den in den bes ten Absichten durchgeführten Angriffen des Paters ausgeliefert. Ich muß ihn täuschen, dachte sie, während sich ihr Geist und ihr Körper langsam von den Wunden erholten, die die Worte und Handlungen des Robenträgers in sie geschlagen hatten. Ich muß es wenigstens versuchen – ich habe sonst keine Chance mehr …!
* Ein Teil der Spannung wich aus Lorrimers Körper. Da merkte er erst, wie sehr er zitterte. Wie die Erschöpfung sein Herz in einen übersäuerten, todmüden Muskel verwandelt hatte. Schweißnaß kehrte er in den Kellerraum zurück, wo sie nun nackt auf dem Tisch lag. Nackt und unirdisch schön. Ihre Augen flatterten. Ihre bleichen Wangen schienen seine Lippen zu einem zärtlichen Kuß verleiten zu wollen. Er schluckte. Er hörte ihre Stimme, die sagte: »Danke! Danke, daß Sie mich er löst haben! Bitte, binden Sie mich los …!« Er wußte sofort, daß sie log. Er brach über ihren Beinen zusam men, berührte ihr kühles, festes, anziehendes Fleisch mit den Lippen und weinte. »Es ist noch nicht zu Ende!« keuchte er. »Ich wollte es vermeiden. Ich dachte, ich wäre stark genug. Aber jetzt weiß ich, daß es keinen anderen Weg gibt!« Roboterhaft richtete er sich auf.
»Was – haben Sie vor?« fragte die Frau nach einer Pause, in der sie sich bewußt zu machen schien, daß sie einen Fehler begangen hatte. »Dasselbe wie zuvor – nur mit anderen Mitteln!« »Welche Mittel?« »Hammer und Pflock.« Er lauerte auf ihre Reaktion. Er wollte her ausfinden, ob die niedergeschriebene, uralte Furcht der Vampire vor dieser absoluten Kombination auf Wahrheit beruhte. Ihre Reaktion mußte es zeigen. Aber eine Steigerung zu ihrer ohnehin vorhande nen Furcht erkannte er nicht. »Sie sind verrückt«, erwiderte sie nur müde. »Wir stehen auf der selben Seite, und Sie merken es nicht …« »Wir könnten nie auf derselben Seite stehen!« Lorrimer hoffte in ständig, daß er nichts Falsches sagte. Wieder war er an einem Punkt angelangt, an dem er zu zaudern begann. Mit sich. Mit den Umstän den. Mit der Unschuld, die dieses Wesen plötzlich ausstrahlte. Und wenn er sich irrte? Wenn mit diesem irrwitzigen Kleidungsstück doch auch der böse Geist aus ihr gewichen war …? »Was kann ich tun, um Sie zu überzeugen?« fragte sie deprimiert. »Was könnte ich Ihnen bieten, damit Sie mich gehen ließen?« Nichts, dachte Lorrimer dumpf. ALLES! schrie es in seiner Seele. Etwas Verdrängtes, Unterdrück tes, in vielen Jahren zu unermeßlicher Gier Herangewachsenes … Er wandte sich abrupt von ihr ab. Sie sollte nicht merken, was in ihm vorging. Mit fahriger Entschlossenheit förderte er das aus der mitgebrachten Tasche, was zuunterst gelegen hatte. Pflock und Hammer. »Ich muß es tun!« preßte er hervor. »Du bist nicht gut! Du …« Er
setzte das zugespitzte Holz auf ihre Brust, und ihm schauderte vor sich selbst, wenn er sich vorstellte, daß er dieses Kunstwerk von ei nem Körper zerstören wollte. Ihre Schönheit, die Reinheit und die Güte, die sie vorspiegelte, erstickten ihn. »Ich muß es tun!« sagte er noch einmal und holte aus. Die Schweißperlen auf seinem Gesicht schienen zu gefrieren. Seufzend ließ er den Hammer niederfahren. Im selbem Augenblick wurde er von hinten angefallen.
* Lilith starrte in die Augen des Priesters und wußte, daß er sein Vor haben zu Ende führen würde, so oder so, was immer sie auch an weiteren Argumenten anführte. Er hatte sich innerlich abgeschottet. Mit einem Schild umgeben, der seinen Verstand vor dem Absturz bewahren sollte. Sie sah, daß er mit sich kämpfte. Aber sie erkannte auch, daß sie diesen Kampf verlieren würde. Was würde danach kommen? Würde der Pflock sie tatsächlich vernichten, wie der Pater es glaubte? Er holte aus und schlug zu. Aber der Hammer erreichte nicht das stumpfe Ende des Pflocks. Der Priester schrie auf, torkelte nach hinten weg, und erst jetzt sah Lilith, daß sich etwas um seinem Kopf geschmiegt hatte. Etwas Dunkles, Pulsierendes, das wie eine Halbkappe geformt war. Es bedeckte das Haar des Mannes vollständig, hörte im Gesicht aber dicht unterhalb der Nasenwurzel auf. Die Nase selbst, die Wan
gen bis zum Augenansatz, Mund und Kinn waren ausgespart. Die Augen nicht. Die Augen waren hinter der Kappe verschwunden, die sich so straff um das Haupt des Priesters gelegt hatte, als sauge dahinter ein Vakuum. Als sie zu pulsieren aufhörte, glänzte sie wie die Schuppen eines Reptils. Unter Zwang spreizte der Geistliche die Finger beider Hände. Pol ternd fielen sein Tötungswerkzeug zu Boden. Stammelnde, unartikulierte Laute lösten sich aus seinem Mund. Als sie sich zu Gebetsformeln zu ordnen drohten, schnellte aus den Rändern der Kappe ein weiteres Band hervor, das den Mund des Mannes knebelte. Der Pater prallte mit dem Rücken gegen die Kellerwand und riß die Hände hoch. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, sich das spukhafte Gebilde vom Kopf zu reißen. Vergeblich. Lilith war unfähig einzugreifen. Hilflos mußte sie von dem klobi gen Tisch aus mitansehen, wie unter den Augenrändern der Kappe Blut in dünnen Fäden hervorzurinnen begann. Gleichzeitig erlahmte der Widerstand des Priesters. Er rutschte mit dem Rücken an der Wand abwärts und preßte die Handflächen gegen das blutver schmierte Gesicht. Lilith hatte längst begriffen, um was es sich bei der Kappe wirklich handelte. Das Kleid war zurückgekehrt. Offenbar hatte es sie doch nicht im Stich gelassen, und in der Wahl der Mittel war es – wie stets – nicht sehr wählerisch verfahren. Obwohl der Priester sie hatte töten wollen, schnürte es Lilith die Kehle zu. Sie ahnte nur, welches Schicksal ihm widerfuhr. Und das
genügte. Nur noch leise Laute drangen aus dem geknebelten Mund. Lilith fröstelte. Eine Blenderin hatte der Priester sie genannt. Mehr als einmal. Das Kleid schien dies wörtlich zu nehmen. Immer mehr Blut quoll unter den geschuppten Rändern der Kappe hervor …
Intermezzo Flug 3271 der British Airways, Flugziel Rampur, Indien In zwölftausend Metern Höhe schien die Sonne in einer Klarheit, wie sie bodennah nicht zu finden war. Wattige Wolken zogen wie die blutenweißen Wellen eines endlosen Ozeans unter der Maschine vorbei. Das Bordprogramm lieferte kurzweilige Unterhaltung für alle, die etwas dafür übrig hatten und nicht gerade schlafträumend ein paar tausend Kilometer überbrückten. »Mister Landers?« Eine der ausnehmend hübschen EconomyClass-Stewardessen beugte sich zu dem Mann mit dem graumelier ten, zu einem kurzen Pferdeschwanz gebundenen Haar hinunter, der zwar ebenfalls die Augen geschlossen hielt, aber nicht schlief. Er sah auf. »Ja?« »Würden Sie mir bitte nach vorn ins Cockpit folgen?« fragte das Girl mit gedämpfter Stimme. »Gerade ging ein Gespräch für Sie ein. Wir machen eine Ausnahme, weil es sehr dringlich klang. Aber bitte fassen Sie sich kurz …« »Natürlich.« Das Gesicht des Passagiers zeigte keinerlei Verwun derung oder Nervosität. Offensichtlich waren solche Zwischenfälle für ihn keine Ausnahmeerscheinungen. Hector Landers folgte der Stewardeß ins Cockpit und nahm den Anruf entgegen. »Landers …« Sowohl die wartende Stewardeß, als auch der zufällig herüberbli ckende Co-Pilot bemerkten, wie die gerade noch so souveräne Mie ne des Passagiers versteinerte. Ein Schatten schien mit einem Male auf seinem Gesicht zu liegen. »Wer ist tot?« Seine Hand krampfte sich so fest um den Hörer, daß das Plastik vernehmlich knackte. »Habe ich nicht immer davor ge warnt? Nun ist es also passiert …«
Nachdem er aufgelegt hatte, fragte die Stewardeß anteilnehmend: »Ein Trauerfall?« Hector Landers nickte abwesend. Es schien, als fände er nur all mählich in die Wirklichkeit zurück. Doch eine Sekunde später hatte er sich wieder gefangen. »Ich hoffe nur, daß ich noch rechtzeitig zur Beerdigung komme«, murmelte er. »Ich fürchte, ich brauche eine Umbuchung …«
* Duncan Luther zog den Dolch unter dem Hemd hervor. Er hatte Lorrimers Beschwörung von Anfang an belauscht. Er hat te den für sein Vorhaben günstigsten Zeitpunkt abwarten wollen. Die Befehle, die in seinen Schläfen flüsterten, waren unmißverständ lich. Töte das Balg! Töte die Tochter der Hure! Ohne bewußt zu erkennen, wie fremdbestimmt er handelte, war Duncan dem Pater in den Keller des Anbaus gefolgt. Er kam nicht zum ersten Mal hier herunter. Lorrimer hatte ihm als eine seiner ersten »Amtshandlungen« aufgetragen, in den Gewöl ben, die so alt wie die Kirche selbst waren – rund 150 Jahre – Ord nung zu schaffen. Zwischen modrigem Staub, Spinngewebe und Ratten hatte Duncan Räume ausgefegt und »Unentbehrliches« kata logisiert, um anschließend mit Lorrimer durchzugehen, was zum Müll gegeben werden konnte. Nichts. Der Geistliche hatte sich bis heute von keinem noch so unsinnigen Stück getrennt. Daß es sich bei der Duncan gestellten Aufgabe um bloße Schikane gehandelt hatte, stand seither unausgesprochen zwi schen ihnen.
Der Priesteranwärter dachte kühl über dies und das nach, wäh rend er sich versteckt hielt. Das nervenaufreibende Treiben des Pa ters, die Pein seiner Gefangenen und der gespenstische Vorgang, als die Kleidung der Frau von ihrem Körper floh, prallten an ihm ab. Er hatte kein Mitleid mit ihr. Er hatte auch keines mit dem Pater. Unbewußt wog er den hölzernen, mit Einkerbungen und christli chen Symbolen übersäten Dolch in der Hand. Er war leicht. Nichts Besonderes haftete ihm an. Jedenfalls nichts, was Duncan wahrzu nehmen imstande gewesen wäre. Als das Unerklärliche über Pater Lorrimer herfiel, sah Duncan Lu ther den Zeitpunkt zum Einschreiten gekommen. Ohne zu überlegen, wie er vorgehen sollte, drang er in den Raum ein. Er achtete nicht eine Sekunde auf den geknebelten Priester, son dern schritt geradewegs auf die Gefangene zu. Daß sie nackt und wehrlos war, berührte vielleicht tief in Luthers Kern etwas. Aber nicht den Dolch, der ihm von den Vampiren über lassen worden war. Das Wispern im Kopf lenkte Duncan wie einen Schlafwandler. Töte das Balg! Töte die Tochter der Hure …
* Lilith haderte mit sich, obwohl sie im letzten Moment ihrer Pfählung entronnen war. Aber was das Ding, hinter dem sich nichts anderes als das Mimikrykleid ihrer Mutter verbergen konnte, dem Priester antat, war nicht gutzuheißen. »Aufhören!« schrie sie mit aller verbliebenen Kraft. »Sofort – auf hören! Ich will das nicht …!«
Es hörte nicht auf. Immer noch schmiegte sich die verhängnisvolle, schuppenschillernde »Kappe« um den Kopf des Geistlichen. Lilith zerrte an ihren Fesseln. Die Einflüsse ihres Gefängnisses lähmten sie nach wie vor, sonst hätte sie es sich zugetraut, sich von den Klammern um Arme und Beine und von dem Halsring zu be freien. So aber mußte sie scheitern. »Ich will das nicht!« Die Gegenwehr des Priesters erlahmte nun rapide. Aus dem Augenwinkel war eine andere Bewegung wahrzuneh men. Lilith glaubte zunächst an eine Sinnestäuschung. Doch es ent puppte sich als real. Ein ihr fremder junger Mann stürmte in den Kellerraum – und kam unbeirrt auf sie zu. Seine Hand umklammerte stoßbereit einen Dolch, von dem schon aus der Ferne etwas Angsteinflößendes auf Lilith übersprang. Woher der Fremde kam, wußte sie nicht. Klar hingegen war seine Absicht, auch wenn sie sich nicht in den mas kenhaften Zügen des jungen Mannes widerspiegelte. Noch einer, der mich unbedingt töten will, begriff Lilith. Und wieder ist es keiner meiner ›natürlichen‹ Feinde – kein Vampir … Sie hätte es gespürt, wäre es anders gewesen. Vampire besaßen ihre ganz eigene Ausstrahlung. Wieder konnte Lilith nichts tun. Wieder flog der Tod auf sie zu, während sie sich in ihren Fesseln aufbäumte. Und wieder – entronn sie ihrem schon sicher gewähnten Schicksal, weil etwas wie eine Lederschnur durch die Luft peitschte, sich um das Handgelenk des Mannes wickelte und den Dolch Zentimeter über Liliths blankem Busen zur Seite zerrte! Kein Laut rann über die Lippen des Angreifers. Das Gesicht blieb
starr und ausdruckslos. Ohne Pause ging es weiter. Zwischen der Kappe des Priesters und dem Dolcharm bestand die schnurdünne Verbindung. Die Kappe löste sich mit einem schmat zenden Geräusch, veränderte ihre Form und wechselte in einem kaum nachvollziehbaren Akt ihr Opfer! Der Kopf des blonden, jungen Mannes wurde eingesponnen wie in einen Kokon. Doch anders als bei dem Priester blieb keine Lücke. Er erstickt, dachte Lilith, und das Entsetzen über die Kompromiß losigkeit des Kleids wuchs ins Uferlose. Den hölzernen Dolch hielt der Fremde, der jetzt unkontrolliert mit den Armen zu fuchteln begann, immer noch fest umklammert. Lilith wartete nur darauf, daß einer der planlosen Reflexe sie doch noch treffen und verletzen – oder töten – würde. Etwas entströmte dieser so einfachen Waffe, das ahnen ließ, wie wenig er mit einem simplen Stück Holz gemein hatte. Eine ähnliche Machtaura wie ein geweihtes Kruzifix umgab ihn. Noch stärker so gar. Dann erlahmten die Bewegungen des Mannes. Er stirbt … Lilith war sicher, daß sie recht hatte. Aber der Mann fiel nicht. Er hörte einfach auf, sich zu wehren. Mit hängenden Armen blieb er vor dem klobigen Tisch stehen und rührte sich sekundenlang über haupt nicht mehr. Plötzlich schob er den Dolch mit einer ruhigen Bewegung in den Gürtel seiner Hose, und danach verharrte er wieder, diesmal minu tenlang. Liliths Versuche, ihn anzusprechen, führten zu nichts. Sie dachte schon, alles um sie herum – der Priester, der andere An greifer – wäre in einem Zustand von Tod oder Stasis eingefroren, als
der schuppige Kokon abfiel. Mit verlorenem Glanz, spröde und brü chig, blieb er auf dem Boden zwischen dem Fremden und Lilith lie gen. Lilith konnte das wie erloschen wirkende Gebilde sehen, indem sie den Kopf ganz zur Seite schob. Sie seufzte, als sie begriff, daß das Kleid (wie sollte sie es sonst nennen?) bei diesem Kraftakt offenbar seine letzten Energien ver braucht hatte. Es war nicht einmal mehr in der Lage, zu Lilith zu rückzukehren und sich in ihre Haut zu beißen. Und Lilith wußte nicht, ob sie darüber froh oder traurig sein sollte. Noch bevor ihr Blick das Gesicht des jungen Fremden suchte, glitt er zu dem alten Priester, der immer noch reglos gegen die Wand lehnte. Seine Augen standen offen. Nur das Weiße war zu sehen. Ein von Gilb überzogenes, grausiges Weiß … Neben ihr löste sich der Fremde aus seiner Starre. Du bist unverbesserlich! schalt Liliths Bewußtsein, als sie den Kör per des gutgebauten Fremden unterbewußt einer ganz eigenen Mus terung unterzog. Unverbesserlich verrückt! »Durstig …«, entgegnete sie laut. »Ich bin nur … durstig …« Ihre Stimme stoppte den Mann mit dem widerspenstigen blonden Haar nicht. Geschmeidig, keineswegs stockend, ging er zu dem Priester. Er bückte sich und durchwühlte dessen Robe. Als er sich erhob, klimperte ein Schlüsselbund in seiner Hand. Damit kehrte er zu Lilith zurück und sperrte ihre Fesseln auf. Lilith wartete schweigend ab, bis sich die letzte Klammer löste. Dann richtete sie sich mit einer matten Bewegung auf und fragte: »Lebt er?« »Er lebt«, sagte der Fremde und legte den Bund auf den klobigen Tisch. Liliths Blicke wanderten zu den Wänden, wo die Machtworte wie mit Feuer statt mit Kreide geschrieben zu ihr herüberglühten.
JAHWE … ADONAI... ELOHIM … EL ELIJON … SCHADDAI Der Fremde folgte ihrem Blick, verstand wortlos, riß eines der zu rückgeklappten Tücher aus seiner Befestigung und benutzte es, um mit sicheren Bewegungen die Schriften von den Wänden zu tilgen. Aber auch als das letzte Machtwort weggewischt war, fühlte Lilith keine Besserung. Sie setzte die Füße auf den Boden und merkte, daß sie kaum aus eigener Kraft stehen konnte. »Wer sind Sie?« fragte sie, als der Fremde zu ihr kam und sie mü helos stützte. Er war athletisch, ohne daß es übertrieben wirkte. Er roch nach Moschus, und dieser Duft weckte in Lilith die Sehnsucht nach einem düsteren Wald, in den sie sich verkriechen, dessen Un terholz sie durchstreifen und neue Kraft tanken konnte. »Duncan Luther«, sagte der Fremde. Das Unnatürlichste an ihm war die Ruhe, mit der er handelte und sprach, obwohl er sie vorhin noch zu töten versucht hatte. Lilith wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie empfand kei nerlei Furcht vor Luther, und das allein war schon eigentümlich ge nug. Ihre Nacktheit schien ihn weder zu stören noch zu erregen. Er sieht mich überhaupt nicht, dachte Lilith. Er schaut mich an, aber er sieht mich nicht … Sie wollte zu dem Priester gehen, aber Luther hielt sie zurück. »Wir müssen gehen«, sagte er. »Sofort.« Lilith musterte ihn mit neu entflammtem Mißtrauen. »Gehen?« Draußen warteten die Vampire. Sie würden sie zerreißen, schon weil sie Hora getötet hatte … Sie ahnte plötzlich, daß Horas Familie diesen Mann geschickt hat te. Keiner von ihnen konnte einen Ort wie diesen persönlich betreten. Lilith starrte hilfesuchend zu den Resten, die vom Kleid übrigge
blieben waren. Wie eine zusammengerollte, alte Schlangenhaut lag es am Boden. Als sie es aufheben wollte, spürte sie etwas wie Ekel und verzichtete darauf. »Hier können wir nicht bleiben«, sagte Duncan Luther. Er lenkte sie aus dem Raum. »Was ist mit dem …?« Fast hätte sie Blinden gesagt. »Nichts«, sagte Luther und trieb sie weiter. Lilith fühlte sich nicht nur wehrlos ohne das Kleid, sie war wehr los. Momentan hätte sie gegen niemanden eine Chance gehabt. Die se Erkenntnis bezog auch Duncan Luther ein. Sie war ihm auf Ge deih und Verderb ausgeliefert. Er hätte sie auf der Stelle mit bloßen Händen töten können, wenn er es gewollt hätte. »Ich weiß einen Weg«, sagte er in diesem Moment, »den die Vam pire vielleicht nicht kennen.« Daß er von den lauernden Vampiren wußte, verstärkte Liliths Ver dacht, sie könnten ihn geschickt haben. Konnte sie ihm dennoch vertrauen? Was bleibt dir übrig, Närrin? »Ich … bin nackt«, sagte sie nur. Ein Schatten huschte wie eine ziehende Wolke hinter seinen Au gen vorbei. »Ich weiß«, sagte er. Das Begehren blitzte nur eine Mikrosekunde auf, dennoch er schauderte Lilith. Etwas in ihr versuchte sie zu verleiten, sich auf den gutaussehenden jungen Mann zu stürzen und sich seiner zu be dienen, um die verlorengegangenen Kräfte zurückzuerlangen. Aber selbst wenn sie dieser verführerischen Zunge erlegen wäre, hätte sie wenig Erfolgsaussichten gehabt. Die Gefahr, ihn zu provozieren, war zu groß. Er besaß immer noch den Dolch, auch wenn er ihn weggesteckt
hatte. Als sie ein Stück entlang eines Kellerganges gelaufen waren, den Lilith nicht kannte, weil der Pater sie in bewußtlosem Zustand hier durchgeschleppt hatte, hielt Luther plötzlich an und sagte: »Warte hier!« Er streifte ihren Arm ab, mit dem sie sich auf seine Schulter ge stützt hatte. Lilith war viel zu perplex, um zu widersprechen. Luther verschwand und kehrte Minuten später – sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt – mit Kleidung zurück. Es war Herrenkleidung, und sie schien ihm selbst zu gehören, aber das war immer noch unauffäl liger als das, was Lilith momentan trug: nämlich nichts. Auf Schuhe hatte er in weiser Voraussicht verzichtet. Aber die Baumwollhosen ließen sich dank eines Gürtels nach Bedarf um die Taille schnüren. Und das Hemd war ohnehin kein Problem. »Wie sehe ich aus?« fragte Lilith, nachdem sie sich, immer noch schwach und gerädert, in die Klamotten gequält hatte. Luther hielt sich nicht mit Kommentaren auf, weder schmeichel haften noch anderen. »Gehen wir!« drängte er erneut. Der Stoff, der über Liliths Haut rieb, regte sie stärker an, als ihr lieb war. Sie musterte Luther, inzwischen überzeugt, daß er sie nicht den Vampiren ausliefern wollte, weil er sich dann vermutlich kaum solche Mühe gegeben hätte. »Wohin laufen wir?« fragte sie. »Immer geradeaus.« Geradeaus war eine Wand. Luther hatte eine trübe Kellerbeleuch tung eingeschaltet, der Liliths Augen in allen Belangen überlegen waren. »Geradeaus geht es nicht weiter …«
Sie täuschte sich. Dort, wo es scheinbar nicht mehr weiterging, lag rechts versetzt eine Tür, die man nur stark gebückt passieren konn te. Luther schob den Riegel zurück, und als die Luke zurück schwang, hörte Lilith sofort Geräusche. »Was ist das?« »Wasser«, sagte er. »Ein … Fluß?« »Ein ziemlich schmutziger Fluß«, bekam sie zur Antwort. Sie krochen hindurch und standen bis zu den Knien in einem träge fließenden, schmalen Strom. Nach wenigen Schritten erweiterte sich der tunnelartige, finstere Verlauf glücklicherweise. Irgendwo in der Ferne schimmerte ein Lichtfleck, an dem zumindest Luther sich zu orientieren schien. Lilith hatte begriffen, daß er versuchen wollte, die Kirche unterir disch – und folglich unbemerkt – zu verlassen. Ein guter Plan, der nur einen Fehler hatte: Andere hatten auch daran gedacht …
* Henna Scrooges Tagwerk folgte einem festen Stundenplan. Man konnte die Uhr danach stellen, wann sie ihre Einkäufe erledigte, wann die Seniorentagesstätte besuchte, im Trumper Park spazieren ging oder die dortige Kirche besuchte, um in der Stille des Kirchen schiffs ein paar Minuten stumme Zwiesprache mit ihrem Schöpfer und ihrem früh verstorbenen Mann zu halten. Sie besuchte nie eine Messe, aber stumme Gebete in dafür geschaf fener Atmosphäre waren ihr zur lieben Gewohnheit geworden. Auch der leichte Nieselregen, der eingesetzt hatte, hielt sie davon
nicht ab. Wozu gab es Schirme? Aber heute spürte sie schon beim Betreten des Kirchenvorraums, daß etwas anders war als sonst. Auf ihr Gefühl konnte sie bauen. Nur was sie befremdete, fand sie nicht heraus. Auch nicht, als sie durch die Bankreihen bis ganz nach vorn zum Altar ging – gemäch lich. In ihrem Alter – Henna Scrooge näherte sich ihrem rüstigen Neun zigsten – ging alles nur noch gemächlich. Sie machte ihren Knicks, nahm den unsichtbar markierten Platz in der ersten Reihe ein, lehnte sich zurück und faltete die arthritischen Finger mit geschlossenen Augen. Mitten im Gebet hörte sie Schritte von vorn, von der Empore, wo der Altar aufragte. Der junge Lorrimer, dachte sie, ohne das Gebet wirklich zu unter brechen oder die Lider zu heben. Jung waren die meisten in ihren Augen, und der Pater hatte gera de mal zwei Drittel ihres gesegneten Alters erreicht … Wie viele alte Menschen produzierte auch Henna Scrooge Ge räusche, die sie selbst gar nicht wahrnahm. Verhaltenes Räuspern, hin und wieder einen gierigen Atemzug, ein leises »Hhm …« Daran orientierte sich der Blinde, der die Stufen der Empore her abkam. Die alte Frau nahm immer noch an, daß Lorrimer sie entdeckt hat te (was auch stimmte) und sich neben sie setzen wollte (was falsch war). Als sich seine Hände wie Schraubzwingen um ihren dürren Hals schlossen, riß Henna Scrooge die Augen auf, und das Herz über sprang gleich mehrere Takte, ehe es stotternd wieder einsetzte. Die gilbhellen Augen des Paters und die Grimasse, die er schnitt,
reichten schon beinahe, sie umzubringen. Doch darauf schien er sich nicht verlassen zu wollen. »Habe ich dich doch noch erwischt, Besessene!« keuchte der Pries ter und drückte mit aller Macht zu. Henna Scrooge begriff schneller als irgend etwas anderes in den letzten Jahren, daß dies kein makabrer Scherz war, sondern tödli cher Ernst. Entsprechend ernsthaft bohrte sie Lorrimer auch die Metallspitze ihres Schirmes in die Brust, nachdem sie ihn mit letzter Not neben sich auf der Bank zu fassen bekommen hatte. Überraschung malte sich bis in die blinden Augen. Der Pater ließ los und taumelte zurück. Sein Schrei scholl furchtbar durch das domartige Rund, wo seine Stimme während der Gottesdienste sonst wesentlich gemäßigter wi derhallte. Der Schirm war nicht in der Brust stecken geblieben, sondern zu Boden gefallen. Henna Scrooge hielt sich an der Banklehne fest und beobachtete aus verschwommenen Augen, wie der Pater gegen eine der überle bensgroßen Heiligenfiguren prallte, sie mit beiden Armen umklam merte und trotz ihres enormen Gewichts und Standvermögens zum Wanken brachte. Das Drama fand seinen abrupten Abschluß, als der zentnerschwe re Marmor zu kippen begann und den Pater unter sich begrub. Bis Henna Scrooge endlich jemanden alarmiert hatte, war Lorri mer nicht mehr zu helfen …
*
Sie warteten genau hinter der »Lichtinsel« eines Kanaldeckels, durch dessen Punktöffnungen die Sonne den Weg herunter fand. Liliths Sinne hatten soviel von ihrer Sensibilität eingebüßt, daß sie keine vorherigen Warnzeichen bemerkte. Und hier unten, wo – von den seltenen Lichtinseln abgesehen – ewige Nacht herrschte, hatte der Feind alle Möglichkeiten. Als das Knurren ertönte, waren sie und Luther bereits von drei glühenden Wolfsaugenpaaren umzingelt. Wie angewurzelt blieben sie in der Wasserrinne stehen. Zwei der Wölfe sprangen fast gleichzeitig. Der eine warf sich gegen Luther, der andere schmetterte Lilith mit solcher Wucht zurück, daß sie rudernd unter Wasser tauchte. Ihre Hände hatten wie von selbst den Hals der Bestie gefunden. Kiefer versuchten, nach ihr zu schnappen. Gekrümmt aus den Pfo ten ragende Nägel gruben blutige Kratzspuren in ihre Haut. Den Schmerz fühlte sie nicht. Aber den Willen, trotz fehlender Mittel zu überleben! Mit einem Aufschrei schleuderte sie den Wolfskörper von sich und wunderte sich, wie weit er durch die Luft katapultiert wurde, bis er dumpf gegen eine der Wände schlug. Prustend tauchte sie aus dem Wasser und wurde gerade noch Zeugin der Zurückverwandlung des Vampirs. Zugleich klang dort, wo die zweite Wolfsgestalt gelandet war, schauriges Geheul auf. Duncan Luther war nicht zu Boden gegangen. Wie ein Fels in der Brandung stand er da und – Lilith sah es mit ihren nachtsichtigen Augen in jedem Detail – hatte die Klinge des Holzdolches bis zum Schaft in die Unterseite des Wolfes gerammt. Was daraufhin geschah, vermittelte ihr einen winzigen Geschmack darüber, was geschehen wäre, wenn Luther mit dem Dolch auf sie
eingestochen hätte. Auch hier fand eine Rückverwandlung in die humanoide Gestalt des Vampirs statt. Aber der Dolch steckte weiterhin im Bauch, und nun wurde der gesamte Körper von gleißendem Licht durchdrun gen – einem so starken Licht, daß die Knochen und Organe des Vampirs röntgenartig als dunklere Flecke hervortraten, ehe alle un tote Materie in diesem Licht verging. Nasse, pampige Asche blieb als rauchendes Häuflein auf dem Betonboden neben der Rinne zu rück. Mehr nicht. Tiefer noch als in Lilith saß der Schock verständlicherweise in den anderen beiden Vampiren. Dennoch schnellte sich die Gestalt, die Lilith gerade abgestreift hatte, sofort auf Luther zu. Liliths Warnruf ließ ihn herumfahren. Auch jetzt war nicht zweifelsfrei erkennbar, ob Duncan Luther be wußt kämpfte oder nur reagierte. Aber wieder bohrte sich die Klinge in untotes Fleisch. Die Einäscherung ging diesmal so rasch vonstat ten, daß nicht einmal mehr ein Schrei über die Lippen des Vampirs fliehen konnte. Liliths Blick suchte den dritten derer, die ihnen hier unten aufge lauert hatten. Doch dieser letzte schien auch mit Verspätung keinen Gefallen an Kampf zu finden. Blitzschnell wechselte er die Gestalt. Aus Wolf wurde Fledermaus. Spitze Schreie ließen eine Weile den Flug der Lederschwingen verfolgen, dann war der Vampir uneinholbar ver schwunden. Trotzdem sie froh sein mußte, noch zu leben, erkannte Lilith so fort, daß damit die Hetzjagd auf sie ihren Fortgang nehmen würde. »Weiter!« riß Luthers inzwischen hinlänglich bekannter Ruf sie aus ihren Gedanken.
Noch einmal warf sie einen Blick zu den beiden Aschehaufen. Dann setzte sie sich gehorsam in Bewegung.
* Habakuk verwandelte sich zurück, bevor er an einem fernen Punkt des Kanalisationslabyrinths aus einem offenen Gully stieg. Das Ta geslicht wäre seiner »Fluchtmaskerade« nicht gut bekommen, ob wohl sich Wolken vor die Sonne geschoben hatten und leichter Re gen fiel. Zu Fuß kehrte er auf kürzestem Weg zu den anderen zurück. Diese hatten sich aus offensichtlichen Gründen etwas von der Kir che zurückgezogen. Dort war Tumult aufgezogen. Ambulanz und zwei Streifenwagen versperrten die Zufahrt zum Eingangsportal. Erst als die anderen Vampire erfuhren, was sich in der Kanalisati on zugetragen hatte, begriffen sie, daß ihr Plan fehlgeschlagen war. Bis dahin hatten sie angenommen, die Zusammenrottung vor der Kirche wäre ein Hinweis, daß der von ihnen entsandte Killer seine Aufgabe erfüllt hatte. Nun hörten sie, daß es ein Fehler von noch nicht absehbarer Trag weite gewesen war, dem hypnotisch beeinflußten Priesteranwärter eine solch gefährliche Waffe auszuhändigen. Der Schuß war nach hinten losgegangen. Der geweihte Dolch hatte einem Vampirjäger gehört, den die Sip pe vor langer Zeit unter größten Mühen hatte besiegen können, nachdem er zuvor in Darwin ganz fürchterlich unter der dort ansäs sigen Familie gewütet hatte. Der Name des Wissenden wurde nicht mehr ausgesprochen. Aber nun schien es, als wirke sein Fluch bis in die Gegenwart nach.
Unter den Vampiren brach ein noch heilloserer Tumult aus als un ter den Menschen vor der Kirche. Einige verloren, während Haba kuk berichtete, völlig den Kopf und eilten in ihre Unterschlüpfe, wo sie sich für die nächste Zeit verkrochen. Die Mehrheit jedoch schwärmte in anderer Absicht aus. Mit Habakuk nahmen sie die Verfolgung des Feindes auf, der ihre Sippe binnen kürzester Frist dezimiert hatte wie noch kein Widersa cher zuvor. Vier getötete Vampire … Eine vernichtete Dienerkreatur … Auf Landru – sollte er endlich eintreffen – wartete ein Desaster.
* Virgil Codd ließ Warner schmoren. Draußen dämmerte es bereits, als Maud Edwards in dem kleinen Büroraum erschien, den er sich mit Needles geteilt hatte, und erklär te: »Der Chef erwartet Sie jetzt. Kommen Sie bitte.« Maud Edwards war schon bei der Sydneyer Polizei gewesen, als Jeff Warner diesem »Verein« vor knapp 15 Jahren beigetreten war. Sie wirkte auf absonderliche Weise anziehend, obwohl sie nicht dem allgemeinen Schönheitsideal entsprach. Vieles an ihr wirkte sogar leicht deformiert. Ihr Gesicht hatte etwas Morbides, das von dem schiefen Mund, graugrünen, weit in den Höhlen liegenden Augen, der fast india nisch ausgeprägten Nase und der fliehenden Stirn unterstrichen wurde. Wie immer hatte sie kräftig in den »Farbeimer« gelangt und trug zuviel Rouge. Seit ewiger Zeit wurde im Hauptquartier darüber getuschelt, ob
die mittlerweile vierzigjährige Maud auch privat mit dem Widerling Codd verbandelt war. Die Fürsprecher und Gegner dieses Gerüchts hielten sich etwa die Waage. Warner zählte zu denen, die sich abso lut nicht vorstellen konnten, daß irgendeine Frau einen so schlechten Geschmack an den Tag legen konnte, um sich mit dem Polizeichef einzulassen. Die Vorstellung, daß der an tausend eingebildeten oder tatsächlichen Allergien kränkelnde Polizeichef mit seinen schwieli gen Fingern über Mauds Körper tatschen könnte, verursachte War ner auch jetzt Sodbrennen, als er der Sekretärin folgte. Codd war unverheiratet. Warner war es auch. Erstaunlicherweise war er jedoch nie auf den Gedanken gekom men, mit Maud zu flirten. Vielleicht lag es an ihrer Sprödheit. »Wie ist er drauf?« fragte er beiläufig. Die brünette Sekretärin drehte sich nicht um. Sie antwortete, ohne den Schritt zu verlangsamen. »Er hat sich gerade einen kleinen Ser geant als Imbiß kommen lassen und ihn bis auf die Knochen abge nagt.« Warner grinste flüchtig, obwohl Maud Edwards ohne eine Spur von Heiterkeit gesprochen hatte. »Vielleicht ist er dann wenigstens satt.« Maud zuckte die ungleich hoch angesetzten Achseln. »Wie gesagt, es war nur ein kleiner Sergeant …« Herrliche Aussichten, dachte Warner und folgte ihr weiter den Korridor entlang. Kollegen, auf dem Weg zum wohlverdienten Fei erabend, kamen ihm entgegen. Mehr als kurze, launige Grußfor meln waren nicht drin. Maud trug die Nase ziemlich weit oben. An ihrer Primadonna-Miene prallten noch so humorvoll verbrämte An züglichkeiten eiskalt ab. Das Hauptquartier ähnelte einem sich ent leerenden Ameisenhaufen.
Warner war froh, als sie Codds Vorzimmer erreichten. Maud klopfte, streckte den Kopf ins »Allerheiligste« und signali sierte Warner anschließend, einzutreten. Sie gab die Tür frei. »Kaf fee?« fragte sie. Ehe Warner antworten konnte, entschied Codd von drinnen. »Danke, nein. Sie können jetzt nach Hause gehen, Maud. Ich brau che Sie heute nicht mehr.« Sie verabschiedete sich knapp. Dann verschwand sie aus Warners Blickfeld, weil er das Büro betrat und erst einmal verwundert inne hielt, als er den ungewohnten Aufmarsch von Technik neben Codds wuchtigem Schreibtisch erblickte. »Ah, Jeff …« Die verhaltene Stimme ließ Warners Blick von dem eingeschalte ten Monitor weiter zu dem Stuhl wandern, in dem Virgil Codd saß. Das Licht war gedämpft. Die entgegengestreckte Hand hätte Warner am liebsten übersehen, weil sie auch nur wieder eine der üblichen Finten sein konnte. Meis tens scherte sich Codd nämlich einen feuchten Schmutz um Floskeln und gutes Betriebsklima. Warner machte gute Miene zum bösen Spiel. Codds Händedruck ließ wie immer alles vermissen, was man von einem Mann seiner Machtfülle erwartete. Er bot Warner einen der Stühle an. »Setzen Sie sich doch, Jeff. Tut mir leid, daß Sie warten mußten. Aber hier geht es zu … na, das können Sie sich ja denken. Haben Sie wenigstens zwischendurch mal ein Auge zugetan? Sie sehen schlecht aus. Hölle, sehen Sie übel aus. Muß Ihnen ganz schön an die Nieren gegangen sein. Erst die Geschichte mit Needles, dann …« »Zur Sache, bitte!« Warner haßte es, an alles, was er zu verdrängen versuchte, auf diese Art erinnert zu werden. »Ich versuche seit Stun
den, zu Ihnen zu gelangen! Dabei geht es – na, das können Sie sich ja denken«, äffte er Codd ungeniert nach, »– nicht um irgendeine Ba nalität, sondern …« »Das weiß ich doch, Jeff, als ob ich das nicht wüßte. Aber sehen Sie sich um! Was sehen Sie?« Warner preßte die Zähne aufeinander. Er hatte längst erkannt, welche Bilder der eingeschaltete Monitor übertrug: Luftaufnahmen (vermutlich von einem Helikopter aus) der Paddington Street, ge nauer: des Grundstücks 333. »Seit Sie den Ort des mysteriösen Geschehens verließen, hat sich einiges getan«, fuhr Codd fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Sie können es nicht wissen, weil Sie sich mit Stiller um diesen Fall in der Hargrave Street kümmerten, aber …« »Warum reden wir nicht zuerst über Secada und Stiller und über einiges andere, Sir?« Codd spiegelte Überraschung vor. »Ich dachte, dies hier würde Sie vor allem anderen interessieren, Jeff. Es ist Ihr Fall...« »Den Sie mir ebenso aufgedrückt haben wie alles andere in letzter Zeit!« Diesen längst fälligen Vorwurf konnte er sich nicht verknei fen. »Sie wissen genau, daß ich einer Riesensache auf der Spur war – auch ohne das, was sich in der Paddington Street abspielt und zu mindest meinem Begreifen entzieht!« »Wollen Sie schon wieder mit Ihren unhaltbaren Mutmaßungen anfangen, die ›Genickbruch-Morde‹ betreffend?« Warner schüttelte den Kopf. Sein Erlebnis im Lift und die lange Warterei hatten das Faß zum Überlaufen gebracht. »Streichen Sie das Wort ›unhaltbar‹ – ich habe inzwischen stichhaltige Beweise, die meinen Verdacht zum einen bestätigen und zum anderen beinahe ebenso mysteriös werden lassen wie die anderen Geschehnisse, die uns momentan beschäftigen!«
»Was reden Sie da, Jeff?« Codd lehnte sich mißmutig in seinem Sessel zurück. »Wollen Sie wirklich jetzt darüber diskutieren? Sehen Sie auf den Monitor! Ich zeige Ihnen etwas, wobei Ihnen die Spucke wegbleibt, das verspreche ich!« »Jetzt ist so gut wie jeder andere Zeitpunkt. Sie haben mich – mit Verlaub – so lange warten lassen, daß auch noch Zeit übrig sein muß, mir endlich zuzuhören!« Täuschte er sich, oder huschte gerade ein in höchstem Maße amü sierter Ausdruck über das fleischig-kantige Gesicht des Polizeichefs? »Na gut, Jeff. Vielleicht wissen Sie es noch nicht, aber ich schätze Ihre Art, den Dingen auf den Grund gehen zu müssen. Daß man sich da mitunter verfährt …« Warner zog den Zettel aus der Hemdtasche, den er schon die gan ze Zeit mit sich herumgetragen hatte. Phil Asgard, ein Computer fahndungsexperte, hatte für ihn den Zentralcomputer der Polizei an gezapft, nachdem Warner ihm glaubhaft gemacht hatte, er handele auf Codds Weisung. Das war eine glatte Notlüge gewesen. Codd hatte im Gegenteil alles Erdenkliche versucht, um Warner von sei ner Theorie eines Killers für alle vier bisherigen Genickbruch-Morde in seinem Bezirk abzubringen. Zuletzt hatte er sogar angedeutet, Stiller würde der Angelegenheit nachgehen, um Warner den Rücken für die Paddington Street freizuhalten. »Was ist das?« fragte Codd, als er den Ausdruck überreicht be kam. »Lesen Sie«, forderte Warner ihn auf. Eine Weile richtete Codd die Augen auf das auseinandergefaltete Papier, mit dem Warner ihn schon früher hatte konfrontieren wol len. Doch dann war die Entwicklung im Sperrgebiet dazwischen ge kommen. »Elisabeth Bay, neunzehnhundertdreiundsechzig«, griff Codd mit
tonloser Stimme eine beliebige Position auf der langen Liste heraus. »Geordy Henner.« Er blickte kurz auf, las dann jedoch weiter. »Mil lers Point, achtzehnneunundneunzig, Annie Barkley … Darling Har bour, neunzehnachtundvierzig, Jennifer Bowl … Woolloomooloo, neunzehndreiundsiebzig, Charlene King …« Virgil Codd benetzte die Lippen und legte das Blatt vor sich auf den Tisch. »Was ist das? Orte, Jahreszahlen, Namen …« Warner beugte sich leicht vor. Er löste den Blick von der Matt scheibe, die ihn natürlich auch immer wieder einfing. »Es sind die Namen und Todesdaten von einundsiebzig Personen im Laufe von knapp hundert Jahren, die im und um den Großraum Sydney lebten und gewaltsam starben. Alle wurden – unter anderen, wie ich ein räume – mit gebrochenem Genick aufgefunden, die meisten zusätz lich gräßlich verstümmelt. Die Zahl achtundzwanzig am Ende der Liste nennt überdies die Zahl von Opfern desselben Musters, die aber nie identifiziert werden konnten. Auffallend ist: Das Verhältnis Frauen zu Männern beträgt etwa vier zu eins. Viermal so viele Frau en wie Männer weisen die Charakterstika auf, nach denen ich such te!« Warner verstummte und blickte erwartungsvoll zu seinem Vorge setzten. Dann fragte er: »Weigern Sie sich immer noch, an Zusam menhänge zu glauben?« Virgil Codd atmete ein und aus. Es klang, als bemühe er sich regel recht um Luft. »Es macht mich traurig zu sehen, wie ein Mann mit Ihren Fähigkeiten sich in eine Sache verrennt, Jeff, maßlos traurig. Sie wissen nicht, wie sehr ich Sie gerade jetzt brauchte …« Er schüt telte den Kopf. »Hundert Jahre, Jeff! Sie kamen zu mir und speku lierten über einen Serientäter, weil Sie vier ähnliche Morde in Ihrem Distrikt bemerkt zu haben glaubten – das wäre okay gewesen. Da mit könnte man sich zu Zeiten befassen, wenn das Tagesgeschäft nicht darunter leidet! Aber nun kommen Sie ernsthaft auf mich zu –
während die Stadt brennt, Jeff, während die Stadt brennt! – und wollen mir einen Serienkiller verkaufen, der seit hundert Jahren in Sydney Menschen tötet! Jeff! Denken Sie selbst nach! Wie alt müßte ein sol cher – Killer sein?« Warner hatte keine andere Reaktion erwartet. »Ich sagte selbst, es ist mysteriös.« Codd schüttelte den Kopf. »Es ist mehr, Jeff, viel mehr – es ist ver rückt!« »Es war auch verrückt, daß Stiller mich umbringen wollte!« Codd hielt inne. Er seufzte. Seine Finger rutschten über das Blatt Papier und zerknitterten es noch mehr. »Auch darüber müssen wir reden, Jeff. Was Sie zu Protokoll gaben, kann nicht Ihr Ernst sein. Daß dieser Irre, den Sie mit Stiller in der Hargrave Street verhaftet haben, ein um fünfzig Jahre gealterter Brian Secada sein soll, lasse ich ja angesichts dessen, was sonst noch passiert ist, durchgehen. Se cada sitzt mittlerweile in der Klapsmühle. Aber Sie, Jeff, Sie machen leider auch keinen sehr gesunden Eindruck mehr auf mich. Von Stil ler wurde nicht die geringste Spur gefunden, dort, wo er nach Ihrer Aussage gestorben sein soll. Das müßte man aber doch, wenn Ihre Schilderung seiner Verletzung der Wahrheit entspräche, oder? Wenn aber hier bereits Zweifel angebracht scheinen, wie soll ich dann glauben, daß ein Mann wie Stiller Ihnen auflauert, um Sie ins Jenseits zu befördern? Welches Motiv könnte ihn getrieben haben?« »Das weiß ich alles nicht«, sagte Warner. »Aber es war nicht der erste Anschlag auf mich.« »Nicht der erste?« Codd hob kopfschüttelnd die Brauen. Warner berichtete ihm von dem Überfall dreier Gestalten in der Tiefgarage des Apartmenthauses. Noch während er beschrieb, wie sie ausgesehen und sich verhalten hatten, begriff er die Sinnlosigkeit dieses Versuches.
Codd blickte jetzt unverwandt auf den Monitor. »Ich hatte Ihr weiteres Schicksal vom Verlauf dieses Gesprächs ab hängig gemacht«, sagte er wie im Selbstgespräch, ohne daß Warner zunächst die ganze Tragweite der Äußerung begriff. »Ich bemühe mich nach Kräften, das Chaos, das ausgebrochen ist, einzudämmen. Sie haben keine Ahnung, welche Lawine losgetreten wurde, keine Ahnung!« Er hob den Arm und zeigte auf den Bildschirm. »Sehen Sie endlich genau hin, Sie Narr! Natürlich ist es nicht normal, was dort passiert! Erst ist das verfluchte Haus samt Garten spurlos ver schwunden, dann kehrte die Vegetation zurück … Aber was für eine Vegetation, Warner, reißen Sie die Augen auf! Haben Sie solche Bäu me und Sträucher schon einmal in unseren Breiten gesehen? Das glaube ich kaum!« Er hob eine vor ihm liegende Fernbedienung auf und schaltete daran herum. Sofort wurde deutlich daß der Film, der zu sehen war, nicht live übertragen wurde, sondern auf einem Vi deoband gespeichert war. »Was wir hier sehen, bekam ich vor zwei Stunden ausgehändigt«, fuhr Codd fort. »Es war der erste und bislang auch letzte Flug über dem Grundstück. Der Pilot ist froh, daß er überlebt hat. Er setzte mit einer Bruchlandung auf, weil ihn plötzlich Halluzinationen befielen, die eine ordnungsgemäße Rückkehr zum Boden unmöglich mach ten! Und ich will Ihnen verraten, daß er noch Glück hatte! Das, was nach ihm griff, bekam ihn nicht richtig zu fassen, sonst könnten wir jetzt auch nicht auf diese Bilder zurückgreifen.« Warner schwieg, zwischen Zorn und einem Gefühl völliger Ohn macht hin- und hergerissen. Codd ließ das Band ein Stück vorlaufen und ging dann wieder auf Normalgeschwindigkeit. »Was sehen Sie?« fragte er. Warner hatte keine Lust, sich weiter zur Zielscheibe von Anfein dungen zu machen. Dennoch starrte er auf den Monitor, wo das zeitrafferschnell gewucherte Grün in der Mitte des Gartens eine Stel
le ausgelassen hatte. »Eine Lichtung«, sagte er, fast gegen seinen Willen. »Ungefähr dort, wo das Haus stand.« »Richtig«, nickte Codd. »Eine kreisrunde Lichtung von etwa zwanzig bis dreißig Metern Durchmesser, auf der der Grund noch so verödet scheint, wie es unmittelbar nach dem Untergang des Hauses überall der Fall war. Das Gestrüpp hält respektvollen Ab stand dazu. Sie können sich denken, daß ich Al Weinberg und die anderen, die stündlich bei mir anrufen, nicht endlos hinhalten kann. Ich brauche Antworten, nicht ständig neue Fragen, was in der Pad dington Street geschieht …« »Was sagen die Experten?« »Experten sind Idioten. Ich brauche jemanden, der unbelastet von allem Pseudowissen für mich herausfindet, was auf dem Grund stück vorgeht. Ich brauche einen Mann mit Mut.« Warner begriff plötzlich, worauf Codd auf die ihm eigene, um ständliche Art hinauswollte. Er lachte kurz auf. »Das ist nicht ihr Ernst …« »Mir war noch nie etwas so ernst.« Codd schob den Computeraus druck zu ihm zurück. »Ich will es mal so formulieren, Jeff: In Anbe tracht Ihres merkwürdigen Verhaltens und der Vorwürfe und The sen, die Sie erheben, sind Sie nicht länger tragbar für mich gewor den. Sie könnten sich jedoch rehabilitieren, indem Sie mir die Ant worten besorgen, die ich benötige. Antworten, die wir alle benötigen! Und natürlich müssen Sie aufhören, sich lächerlich zu machen. Ich lasse gegenwärtig den technischen Defekt untersuchen, der zum Ab sturz des Aufzugs führte. Auch lasse ich immer noch nach Stiller forschen, der seither unauffindbar ist. Sollte sich dabei auch nur ein Körnchen finden, das Ihre Behauptungen untermauert, leiste ich Ih nen postwendend Abbitte. Aber wenn Sie auf mich hören, strapazie
ren Sie diese Unwahrscheinlichkeit nicht allzu heftig …« »Sie wollen, daß ich das Grundstück betrete, auf dem schon mehr als ein Dutzend Leute umgekommen sind«, sprach Warner aus, was Codd zwischen den Zeilen belassen hatte. »Halten Sie das für zuviel verlangt?« Während des ganzen letzten Gesprächverlaufs hatte Warner be reits überlegt, ob er alles hinschmeißen sollte. Er verstand Codds Standpunkt immer weniger. Aber wenn er jetzt ausstieg, würde die ser Mittel und Wege finden, ihn für immer kaltzustellen. Virgil Codd war kein Gentleman … »Nein«, sagte er verkniffen. »Wann soll ich gehen?« »Sofort.« »Sofort? Es dämmert …« »Die Sache duldet keinen weiteren Aufschub. Man wird Sie mit al lem ausrüsten, um Ihre Mission zu erleichtern, Jeff. Es soll ihnen ja nichts zustoßen.« Warner hatte dunkle Halbringe unter den Augen. Spuren von Er schöpfung und fehlendem Schlaf. Davon war nun nicht mehr die Rede. »Werde ich allein gehen?« fragte er rauh. »Allein.« Virgil Codd nickte.
* Das Hotel als schäbig zu bezeichnen, wäre geschmeichelt gewesen. Sie waren der unterirdischen Kanalisation entstiegen und hatten sich im Schutz der Dämmerung durch verkehrsarme Gassen und Straßen stadtauswärts bewegt. An der äußersten östlichen Pheriphe
rie hatten sie diese billige Absteige betreten, in der sonst nur Ruck sacktouristen mit schmaler Geldbörse oder verkrachte Existenzen abzusteigen schienen. Lilith in ihren klatschnassen und um einige Nummern zu großen Klamotten war von dem schiefgesichtigen, unrasierten Portier lüs tern und mißtrauisch zugleich beäugt worden. Er schien Duncan Luther zu kennen, denn als Begrüßung hatte er genuschelt: »Ah, un ser angehender Heiliger hat mal wieder was vom Straßenpflaster aufgelesen, um es vor der ›Verdammnis‹ zu retten. Wenn du dich da mal nicht übernimmst, Kleiner. Die Süße hier sieht aus, als könnte sie sogar dir gefährlich werden …!« Luther hatte ihn nur stumm angesehen und den Schlüssel für die ses Zimmer erhalten, in dem sie sich seitdem aufhielten. Lilith war im engen Bad, wo sie sich ihrer nassen Kleider entledigt hatte. Lu ther wartete im Zimmer. Er hatte am Fenster vor den geschlossenen Vorhängen gestanden, als sie ihn verlassen hatte. Draußen war es dunkel geworden. Lilith besah sich ihren nackten Körper. Sie brauchte kein Licht dazu, und der Spiegel nützte ohnehin nicht viel. Dort, wo die Krallen blutige Spuren gezogen hatten, war die Haut wieder makellos verheilt. Nirgends fanden sich noch Anzeichen des kurzen, heftigen Kampfes, den Lilith allein mit Luthers Hilfe über lebt hatte. Ihre Kräfte kehrten allmählich zurück. Dennoch fühlte sie sich auf unerklärbare Weise amputiert. Das Kleid, ahnte sie. Mir fehlt das Kleid. Es war das einzige gewesen, was ihr als greifbare Erinnerung an ihre Mutter geblieben war. Sie umwickelte sich mit einem Handtuch, das sie über den Brüsten verknotete. Daß es kaum die Scham bedeckte, registrierte sie nicht. Als sie ins matt erhellte Zimmer zurücktrat, stand Duncan Luther
nicht mehr am Fenster. Er saß auf der Bettkante. Sein Gesicht hatte er in die Hände gestützt. Er wirkte desorientiert, bis er Lilith be merkte und sie aus großen Augen ansah. »Was habe ich getan?« Zum ersten Mal, seit Lilith ihn kannte, war sein Blick klar. Vor ihm am Boden lag der Dolch, an dem noch schwarzes Vampirblut klebte. Lilith blieb stehen. In ihrer Brust zog sich etwas zusammen. »Nur, was getan werden mußte,« antwortete sie. »Erinnerst du dich an – nichts?« Sein Lachen war gallebitter. »Ich erinnere mich an alles! Das ist es ja! Ich verstehe nur nicht mehr, warum ich so und nicht anders han deln konnte … mußte …« »Du weißt noch, wer ich bin?« Er nickte. »Auch, wer ich wirklich bin?« »Ich glaube, ich dürfte es nicht wissen.« Er raufte sich die Haare. »Eine Vampirin?« »Etwas ähnliches. Tu es weg!« bat sie. »Den Dolch?« »Ja.« Er legte ein Kopfkissen darüber. »Besser?« »Wir müssen reden«, sagte sie, ohne darauf einzugehen. Ihre Stim me klang jetzt kehlig. »Über vieles, aber zuerst über etwas ganz Be stimmtes. Ich fürchte, ich habe da ein Problem.« »Ein Problem?« Sie bejahte mit bebenden Lippen. »Ich habe entsetzlichen Durst …«
* Er passierte alle Sperren und stieg unmittelbar vor dem Eingang zum Grundstück 333, Paddington Street, aus seinem Wagen. Ein Polizist trat ihm entgegen. »Wir wurden gerade informiert, Sir. Am Tor liegen eine Lampe und ein tragbares Funkgerät für Sie be reit. Aber sind Sie sicher, daß Sie das riskieren wollen? Bei Nacht?« Die Sorge des Polizisten klang ehrlich. »Gibt es etwas, das ich noch nicht weiß, aber wissen sollte?« fragte Warner. »Zwei von Bürgermeister Weinbergs gesandten Biologen, die sich die Gewächse des Gartens noch bei Tageslicht ansehen wollten, sind noch nicht wieder zurückgekehrt. Der Kontakt per Walkie-talkies brach ab, was uns das Schlimmste befürchten läßt. Aber das Haupt quartier lehnte ab, daß wir ein Suchkommando zusammenstellen. Seither beschränken wir uns auf reine Beobachtung von außen.« Er massierte sich das Kinn. »Ich verstehe offengestanden die Entschei dung nicht, Sie allein da hineinzuschicken, Sir, Entschuldigung …« Warner ging zum Tor. Entlang der Mauer waren Flutlichtstrahler aufgestellt. Doch sie vermochten nur den Rand des Gartens zu er hellen. Das Dickicht war bereits wie eine Wand. In Warners Schulterhalfter steckte ein frischgeladener Revolver. Dennoch fragte er sich: Warum tue ich das? Niemand kann mich dazu zwingen. Nicht einmal ein Schweinehund wie Codd. Er hängte das Walkie-talkie um die Schulter und schaltete die Lampe an. Während er das Tor aufstieß, erinnerte er sich an Needles und Se cada und all die anderen. Ihn fröstelte kurz. Dann ging er weiter.
Seltsame, ungewohnte Düfte kitzelten seine Nase. Das Knacken im Walkie-talkie verstummte, ohne daß er es merkte. Als er zum ersten Mal zurückblickte, konnte er nicht fassen, daß sich hinter ihm bereits dieselbe grüne Wand erhob wie überall. Der Lampenstrahl bohrte sich wie eine Stange zwischen den Ästen und Blättern hindurch ins zwielichtige Dunkel, wo Warner bereits erwartet wurde. Schreckliches lauerte dort … ENDE
Landrus Ankunft von Adrian Doyle Sie sind auf der Flucht – der junge Priester-Aspirant und die HalbVampirin. Verfolgt von einer Macht, die über Mittel und Wege ver fügt, die die beiden Flüchtenden nicht einmal erahnen können. Der Weg hinter ihnen liegt in Scherben: Das Haus, in dem Lilith fast 100 Jahre lang geborgen war, ist versunken, Duncan Luthers Laufbahn zerstört. Und in der Stadt breitet sich das Grauen aus. Ir gend etwas geht von der Paddington Street aus, das immer weitere Kreise zieht und Unheil heraufbeschwört. Doch das wahre Unheil hat noch gar nicht begonnen. Es nimmt erst seinen Lauf, als ein Wesen in Sydney eintrifft, dessen Stärke und Bosheit unbeschreiblich ist …