BASTEI-LÜBBE-PAPERBACK Band 28 113
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BASTEI-LÜBBE-PAPERBACK Band 28 113
© Copyright 1973 by Isaac Asimov/Sphere Books Ltd. Copyrights der einzelnen Stories am Ende des Romans. All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1983 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: The Best of Isaac Asimov Ins Deutsche übertragen von Barbara Heidkamp und Jürgen Saupe Titelillustration: Ballantine Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Clausen und Bosse, Leck Printed in Western Germany ISBN 3-404-28113-6 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Inhalt
Vorwort 6 Havarie vor Vesta 17 Und Finsternis wird kommen 43 Geschichte eines Helden 107 Die Verschwender vom Mars 173 Die in der Tiefe 256 Der Spaß, den sie hatten 295 Wenn die Sterne verlöschen 301 Das Chronoskop 324 Die schwindende Nacht 406 Jahresfeier 453 Das Nullfeld 482 Spiegelbild 514
Vorwort Ich muß gestehen, daß mich der Titel dieses Bandes nachdenklich macht. Wer sagt, die Geschichten, die darin stehen, seien meine »besten«? Sage ich das? Der Herausgeber? Oder irgendein Kritiker? Ein Leser? Oder hat sich die gesamte Bevölkerung der Welt in allgemeiner Wahl entschieden? Und wer es auch sagt – stimmt es denn überhaupt? Kann dieses »die besten« eigentlich eine allgemeine Bedeutung haben – oder nur eine, die für einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Stimmung gilt? Vielleicht nicht – und wenn wir das Wort uneingeschränkt stehenlassen, dann können Sie oder Sie über Geschichten bestürzt sein, die ausgelassen oder aufgenommen wurden, oder wenn Sie noch nie etwas von mir gelesen haben, sich zu dem Ausruf gedrängt sehen: »Du lieber Himmel, das sind seine besten?« Ich will also mit Ihnen aufrichtig sein. In diesem Band finden sich Geschichten, die so ausgewählt sind, daß sie sich über ein Dritteljahrhundert des Schreibens erstreckten, zwei frühe und zwei späte und acht Beispiele aus den fünfziger Jahren bringen, die mein goldenes Jahrzehnt waren. Die vorliegenden sind so typisch, wie sich das mit einer umsichtigen Auswahl guter Geschichten (das heißt, 6
die meinem Herausgeber und mir gefallen) verträgt, und so sehr die besten, wie sich das damit verträgt, die typischen zu bringen. Ich nehme an, wir sollten das Buch eigentlich »Die recht guten und recht typischen Geschichten Isaac Asimovs« nennen, aber wer würde es dann kaufen? Also bleibt's bei »besten«. Was die einzelnen Geschichten betrifft … »Havarie vor Vesta« (Marooned Off Vesta) war die allererste Geschichte, die ich je veröffentlichte. Es war also tatsächlich notwendig, sie mit aufzunehmen. Es war nicht die erste, die ich je in der Hoffnung auf Veröffentlichung geschrieben habe. Es war eigentlich die dritte. Die erste wurde nie verkauft und es gibt sie nicht mehr. Die zweite wurde ein paar Jahre, nachdem sie geschrieben worden war, verkauft, ist aber nicht sehr gut. Es liegt mir fern, um Nachsicht zu ersuchen, aber ich denke, es ist wichtig zu wissen, daß ich, als ich die Geschichte schrieb und verkaufte (1938), achtzehn Jahre alt war und all die Jahre, an die ich mich erinnern konnte, in einem Slum in einer Stadt zugebracht hatte. Mein Traum von starken Abenteurern, die in fernen Weiten mutig der Gefahr ins Auge blickten, war nichts als Träumerei. »Die Verschwender vom Mars« (The Martian Way) steht für meine Reaktion auf die Ära McCarthy, eine Zeit Anfang der fünfziger Jahre, als die Amerikaner anscheinend ihre eigene Vergangenheit aufgaben und zum Teil zu Hexenverfolgern, zum Teil zu Opfern und zum größten Teil zu Feiglingen wurden. (Glücklicherweise
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verblieben auch einige mutige Männer, weshalb wir auch aus der Sache wieder herauskamen.) »Die Verschwender vom Mars«, auf dem Höhepunkt der McCarthy-Ära geschrieben und veröffentlicht, war die Erklärung meines eigenen Standpunkts. Ich kam mir damals sehr mutig vor und war enttäuscht, daß man mir in der Folgezeit nicht einmal ein Stirnrunzeln schenkte. Ich muß zu unwichtig gewesen sein. Ein zweiter Gesichtspunkt an der Geschichte ist, daß es mir gelang, etwas genau vorauszusehen. Man nimmt von Science Fiction-Schriftstellern oft an, daß sie scharfsichtig in die Zukunft blicken und Dinge sehen, die andere nicht erkennen. Eigentlich haben sich in dieser Hinsicht nur wenige Schriftsteller einen Ruf erworben, und von meinem kann höchstens gesagt werden, daß er einen durchschnittlichen Wert erreicht hat. Macht nichts. In »Die Verschwender vom Mars« beschrieb ich die euphorischen Wirkungen eines Raumspaziergangs fünfzehn Jahre, bevor jemand durch den Raum spaziert war – und als man es dann tat, erlebte der Astronaut offensichtlich Euphorien. »Die in der Tiefe« (The Deep) ist die Überraschung in der Zusammenstellung. Ab und zu schreibe ich eine Geschichte, die anscheinend keine Reaktion hervorruft, obwohl sie meiner Meinung nach gut ist (und mir gefallen nicht alle meine Geschichten). Diese hier ist eine von denen. Vielleicht deshalb, weil ich absichtlich darauf aus war, eine Gesellschaft zu beschreiben, in der Mutterliebe ein Verbrechen ist, und die Welt war noch nicht reif dafür.
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»Und Finsternis wird kommen …« (Nightfall), zweieinhalb Jahre später entstanden, war die zweiunddreißigste Kurzgeschichte, die ich geschrieben hatte (was sollte ich damals anderes tun, als im Süßwarenladen meines Vaters auszuhelfen und für meine College-Prüfungen zu büffeln) und ungefähr die vierzehnte, die wirklich veröffentlicht wurde. Und trotzdem, es stellte sich heraus, daß ich in den knapp drei Jahren zu Beginn meiner Karriere das Beste von Asimov geschrieben hatte. Zumindest »Und Finsternis wird kommen …« ist häufig nachgedruckt worden und wird stets als »Klassiker« bezeichnet, und wann immer ein Magazin oder ein Fanclub über eine Hitliste von Kurzgeschichten abstimmen läßt, landet meine Story auf einem der ersten Plätze – und zwar nicht nur, wenn es ausschließlich um meine Kurzgeschichten geht sondern auch, wenn nach den besten Kurzgeschichten überhaupt gefragt wird. Eine ihrer Vorzüge ist ihr einzigartiger »Plot«. Vorher gab es soweit mir bekannt ist – nichts, was damit zu vergleichen wäre, und natürlich ist sie jetzt derart bekannt, daß nichts in dieser Richtung in Zukunft jemals veröffentlicht werden könnte. Es ist ein schönes Gefühl, eine solche Geschichte geschrieben zu haben. Nun war ich gerade einundzwanzig Jahre alt, als ich sie schrieb, und experimentierte noch herum. Meine Favoritin ist »Und Finsternis wird kommen …« nicht. Später werde ich Ihnen verraten, was ich für meine beste Story halte, und dann können Sie sich Ihr eigenes Urteil bilden. »Geschichte eines Helden« (C-Chute) folgt nach einer Lücke von zehn Jahren, wenn man die in diesem Buch 9
zusammengefaßten Kurzgeschichten betrachtet. Natürlich hatte ich mit dem Schreiben nicht aufgehört, das sollten Sie nicht annehmen. Freilich hatte ich es ein wenig langsamer angehen lassen, denn es war Krieg, und die Arbeit an meiner Dissertation nahm meine meiste Zeit in Anspruch, jedoch erklärt sich diese Lücke in Wahrheit aus der Tatsache, daß ich in den vierziger Jahren die Geschichten schrieb, die in meinen Büchern Ich, der Robot (»I, Robot«) und Die Psycho-Historiker (»The Foundation Trilogy«) gesammelt sind. Es erschien nicht ratsam, für die vorliegende Sammlung Teile aus jenen Kollektionen herauszureißen. »Geschichte eines Helden« steht etwa am Beginn meiner »reifen« Periode (oder wie immer Sie sie nennen wollen). Ich hatte meinen Ph.D. (Doctor of Philosophy); ich hatte eine Stelle als außerordentlicher Professor für Biochemie an der Boston University School of Medicine; ich hatte meine ersten drei Bücher veröffentlicht; und ich strotzte vor Selbstvertrauen. Außerdem war ich aus der exklusiven Abhängigkeit vom SF-Magazin Astounding Science Fiction ausgebrochen. Neue Magazine waren gegründet worden, die Astounding die Führungsposition streitig machten, insbesondere die Magazine Galaxy und Fantasy and Science Fiction. »Geschichte eines Helden« erschien in Galaxy. Desgleichen die nächsten beiden Stories in dieser Kollektion. »Der Spaß, den sie hatten« (The Fun They Had) ist wahrscheinlich die größte Überraschung in meiner Laufbahn als Schriftsteller. Ein persönlicher Freund bat mich, für die Jungen- und MädchenSeite einer Reihe von 10
Zeitungen, die in einer Gruppe zusammengefaßt waren und für die er die Seite machte, eine Science-fictionGeschichte zu schreiben, und ich war aus Gründen der Freundschaft einverstanden. Ich dachte, sie würde in ein paar Zeitungen für einen Tag erscheinen und nie wieder auftauchen. Doch Fantasy and Science Fiction griff sie auf, und zu meiner Überraschung kam eine Anfrage zur Nachdruckerlaubnis nach der anderen. Sie ist mindestens dreißigmal nachgedruckt worden, und in fünfzehn Jahren gab es keinen Zeitabschnitt (den jetzigen Augenblick dazugerechnet), in dem keine neuen Nachdrucke bevorstanden. Wieso? Ich weiß nicht, wieso. Wenn ich über die Geistesverfassung eines Kritikers verfügte (was ich entschieden nicht tue), dann würde ich mich hinsetzen und versuchen, meine Geschichten zu untersuchen, die Umstände herauszufinden, die manche erfolgreicher als andere machen, dann mich diesen Umständen widmen, um mit umwerfenden Leistungen nur so um mich zu werfen. Aber zum Teufel damit. Ich will mir den Erfolg nicht zum Preis der Befangenheit erkaufen. Mir fehlt dazu die Neigung. Ich werde schreiben, was mir gefällt und überlasse den Kritikern das Untersuchen. (Gestern sagte mir jemand, ein Kritiker gleiche einem Haremswächter. Er kann beobachten, studieren, untersuchen – aber selber machen kann er es nicht.) »Wenn die Sterne verlöschen« (The Last Question) ist mir persönlich die liebste Geschichte, und ich achtete darauf, daß sie bei dieser Zusammenstellung nicht weggelassen würde. 11
Warum ist sie mir die liebste? Einmal kam mir der Einfall dazu ganz plötzlich. Ich mußte mich mit ihm nicht herumplagen. Und dann schrieb ich sie in fieberhaftem Eifer hin und mußte kaum ein Wort ändern. So etwas läßt jedem Schriftsteller eine Geschichte ans Herz wachsen. Dann hatte sie auch die merkwürdigste Wirkung auf meine Leser. Oft schreibt mir jemand und bittet mich, ob ich ihm nicht den Titel einer Geschichte nennen kann, von der er glaubt, ich hätte sie geschrieben, ob ich ihm nicht sagen könne, wo er sie finden kann. Die Leser erinnern sich nicht an den Titel, aber wenn sie die Geschichte beschreiben, handelt es sich ausnahmslos um »Wenn die Sterne verlöschen«. Es ist schon soweit gekommen, daß ich vor kurzem das Ferngespräch eines verzweifelten Mannes entgegennahm, der so anfing: »Dr. Asimov, ich glaube, es gibt da eine Geschichte, die Sie geschrieben haben, an deren Titel ich mich nicht erinnere –« worauf ich ihn unterbrach, um ihm mitzuteilen, es handle sich um »Wenn die Sterne verlöschen«. Und als ich die Handlung beschrieb, stellte sich heraus, daß er tatsächlich hinter dieser Geschichte her war. Ich ließ ihm den Glauben, ich könne über eine Entfernung von tausend Meilen Gedanken lesen. Keine andere Geschichte, die ich geschrieben habe, hat auch nur eine vergleichbare Wirkung auf meine Leser. Sie ruft sofort eine unerschütterliche Erinnerung an die Handlung hervor, und eine unerschütterliche Vergeßlichkeit, was Titel und selbst Autor betrifft. Es kann sein, denke ich, daß die Geschichte sie so vollkommen erfüllt, daß für Nebensächlichkeiten kein Platz mehr bleibt. 12
»Das Chronoskop« (The Dead Fast) wurde geschrieben, als ich sieben Jahre lang gelehrt hatte. Ich hatte die Welt der Forschung so über, wie es nur geht. Jeder, der schreibt, legt natürlich die Welt offen, in der er steckt, ob er das nun will oder sich verzweifelt dagegen wehrt. Ich habe nie versucht, meine persönliche Umwelt aus meinen Geschichten herauszuhalten, aber ich muß zugeben, daß sie sich nie so tief in eine eingeschlichen hat wie in diese. Als Beispiel, wie es mit meinen Geschichten geht, folgendes: Ich ließ meinen Hauptdarsteller sich für Karthago interessieren, weil ich selbst ein großer Bewunderer Hannibals bin und die Schlacht von Zama nie wirklich verwunden habe. Ich führte Karthago grundlos ein, ohne jede Absicht, es in der Handlung eine Rolle spielen zu lassen. Trotzdem kam es dann zu einer Rolle in der Handlung. Das passiert mir immer wieder. Manche Schriftsteller legen sich die Geschichten bis in alle Einzelheiten hinein genau zurecht, bevor sie anfangen und halten sich an den Plan. Wie ich höre, macht P. G. Wodehouse es so, und ich bewundere seine Bücher. Trotzdem mache ich es nicht so. Ich lege mir das Ende zurecht, entschließe mich für einen Anfang und beginne dann, lasse alles dazwischen sich von selbst ergeben, wenn ich soweit bin. »Die schwindende Nacht« (The Dying Night) ist ein Beispiel für eine Kriminal- wie auch Science FictionGeschichte. Ich lese Kriminalromane seit ich Science
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Fiction lese, und im ganzen gesehen machen mir Kriminalromane mehr Spaß, denke ich. Ich bin mir nicht sicher, woher das kommt. Vielleicht lag es daran, daß ich mich bei Science Fiction-Geschichten nicht mehr entspannen konnte, sobald ich ein bekannter Science FictionAutor geworden war. Beim Lesen jeder Geschichte war mir klar bewußt, daß sie vielleicht schlechter als meine war, wobei ich dann keine Geduld mehr für sie aufbrachte, oder daß sie vielleicht besser war, wobei mir dann erbärmlich zumute wurde. Kriminalromane, vor allem die Sorte des intellektuellen Puzzlespiels, legten mir nicht solche Hindernisse in den Weg. Es war klar, daß ich mich früher oder später an einer Science FictionKriminalgeschichte versuchen würde, und »Die schwindende Nacht« ist eine davon. »Jahresfeier« (Anniversary) wurde geschrieben, um einer Bitte nachzukommen – daß ich eine Geschichte für die Märzausgabe 1959 von Amazing Stories schreibe, um dadurch den zwanzigsten Jahrestag der Märzausgabe 1939 zu feiern, in der meine erste veröffentlichte Geschichte »Havarie vor Vesta« erschienen war. Es war nicht zu umgehen, daß ich eine Geschichte schrieb, die sich mit den Helden von »Havarie vor Vesta« zwanzig Jahre später beschäftigte. Die Zeitschrift druckte dann beide Geschichten zusammen ab, und ich war mir sicher, daß mir jemand einen Brief schicken würde, in dem zu lesen wäre, daß die erste Geschichte besser geschrieben sei, aber niemand tat es.
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»Das Nullfeld« (Billiard Ball) kommt in dieser Zusammenstellung nach einem Zwischenraum von acht Jahren und ist ein Beispiel meines »Spätstils«. (Wenn es so etwas überhaupt gibt. Manche Kritiker sagen, es sei ein Fehler meiner Schriftstellernatur, daß ich mich nicht »entwickelt« habe. Vielleicht sind Sie auch der Ansicht und schelten mich deswegen – aber ich habe Ihnen schon gesagt, was manche Leute von Kritikern halten.) Der Grund für den Zwischenraum liegt darin, daß ich 1958 das akademische Leben aufgab, um mich ganz dem Schreiben zu widmen. Ich fing unverzüglich damit an, alles mögliche zu schreiben (rein Wissenschaftliches, reine Kriminalgeschichten, Kinderbücher, Geschichtsbücher, literarische Kommentare, Etymologisches, Humoristisches usw.) außer Science Fiction. Ich habe sie natürlich nie ganz aufgegeben – siehe »Das Nullfeld«. »Spiegelbild« (Mirror-lmage) ist eine Science FictionKurzgeschichte, die ich erst vor kurzem für die Zeitschriften geschrieben habe, und die im Gegensatz zu den anderen neun wegen der geringen Zeitspanne noch nicht wieder neu gedruckt worden ist. Einer der Gründe, warum ich sie schrieb, ist, daß ich jene Leser besänftigen wollte, die mich immer wieder um Fortsetzungen bitten. Um noch ein Buch, in dem Helden auftauchen, die in früheren Büchern schon erschienen sind. Eine der häufigsten Bitten war, daß ich einen dritten Roman schreibe, der The Caves of Steel und The Naked Sun fortsetzt, die sich um die Abenteuer des Detektivs Elijah Baley und seines Roboter-Assistenten R. Daneel
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Olivaw drehten. Ich fand nicht die Zeit dazu und schrieb eine Kurzgeschichte über sie – »Spiegelbild«. Die Folge war leider, daß ich eine Flut von Briefen bekam, in denen stand: »Danke, aber wenn wir Roman sagen, meinen wir auch Roman.« Schön, das wär's dann. Blättern Sie um, und Sie können sich auf 115000 typische und vielleicht sogar mehr oder weniger »beste« Worte der 2000000 Worte Science Fiction stürzen, die ich bis jetzt geschrieben habe. Ich hoffe, es macht Ihnen Spaß. Und wenn nicht, dann denken Sie daran, daß ich auch 7500000 Worte geschrieben habe, die nicht Science Fiction sind, und von denen Sie verschont bleiben. Isaac Asimov
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Havarie vor Vesta (Marooned off Vesta, 1939) Deutsch von Jürgen Saupe
»Hör doch bitte auf, so hin und her zu laufen«, sagte Warren Moore von der Liege aus. »Davon hat keiner etwas. Denk an unser Glück. Hier ist alles luftdicht.« Mark Brandon fuhr herum. »Freut mich, daß dich das glücklich macht«, stieß er heftig hervor. »Du weißt natürlich nicht, daß unser Luftvorrat nur drei Tage reicht.« Trotzig setzte er seine Wanderung fort. Moore gähnte, reckte sich, nahm eine bequemere Stellung ein und erwiderte: »Diese Energieverschwendung wird ihn nur noch rascher aufbrauchen. Warum machst du's nicht wie Mike? Der ist die Ruhe selbst.« »Mike« war Michael Shea, bis vor kurzem ein Besatzungsmitglied der Silver Queen. Sein kurzer, gedrungener Körper ruhte auf dem einzigen Stuhl im Raum, und seine Füße lagen auf dem Tisch. Als sein Name fiel, blickte er auf und verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. »Man muß einfach damit rechnen, daß so etwas mal passiert«, sagte er. »An den Asteroiden vorbeihüpfen ist eine gewagte Sache. Wir hätten den Sprung tun sollen. Dauert länger, ist aber der einzig sichere Weg. Aber nein, 17
der Kapitän wollte den Fahrplan einhalten. Er mußte durch.« Mike spuckte verärgert aus. »Und jetzt sitzen wir hier.« »Was heißt ›Sprung‹?« fragte Brandon. »Ach, ich nehme an, unser Freund Mike ist der Ansicht, wir hätten einen Bogen um den Raum der Asteroiden machen und einen Kurs wählen sollen, der außerhalb der Ebene der Ekliptik liegt«, antwortete Moore. »Stimmt doch, Mike?« Mike zögerte und erwiderte bedächtig: »Ja, ich glaube schon.« Moore lächelte freundlich und fuhr fort: »Also, ich würde Kapitän Crane keine großen Vorwürfe machen. Fünf Minuten, bevor dieser Granitbrocken mit uns zusammenkrachte, muß der Abweisschirm ausgefallen sein. Dafür kann er nichts, trotzdem hätten wir ausweichen müssen und uns nicht auf den Schirm verlassen dürfen.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Die Silver Queen brach einfach auseinander. Wirklich ein unglaubliches Glück, daß dieser Teil des Schiffs luftdicht blieb.« »Eine merkwürdige Vorstellung von Glück hast du, Warren«, sagte Brandon. »Hast du immer schon gehabt, seit ich dich kenne. Wir stecken in einem Teil, der kaum ein Zehntel des Schiffs ausmacht und nur drei Räume hat, die ganz sind, haben Luft für drei Tage und keine Aussicht, dann noch weiterzuleben, und du hast die Unverschämtheit, über Glück zu quatschen.« »Verglichen mit denen, die sofort tot waren, als der Asteroid einschlug, allerdings«, war Moores Antwort. 18
»Das glaubst du also? Na, dann laß dir sagen, daß ein plötzlicher Tod nicht so schlimm ist, verglichen mit dem, was uns bevorsteht. Ersticken ist ein verdammt unangenehmer Tod.« »Wir finden vielleicht einen Ausweg«, ermutigte ihn Moore. »Warum nicht den Tatsachen ins Auge sehen!« Brandon hatte einen roten Kopf, und seine Stimme bebte. »Wir sind erledigt, sag' ich dir!« Mike blickte unschlüssig von einem zum anderen und hustete dann, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Also, meine Herren, da wir alle in der gleichen Patsche sitzen, hat es, glaub' ich, keinen Zweck, alles für sich behalten zu wollen.« Aus seiner Tasche zog er ein Fläschchen, das eine grünliche Flüssigkeit enthielt. »Das ist erstklassiges Jabra. Mir macht's nichts aus, es brüderlich mit euch zu teilen.« Zum ersten Mal seit über einem Tag ließ Brandon Zeichen der Freude erkennen. »Jabrawasser vom Mars. Wieso sagst du das erst jetzt?« Doch als er danach greifen wollte, wurde sein Handgelenk gepackt. Er sah auf und blickte in die ruhigen blauen Augen von Warren Moore. »Sei kein Narr«, sagte Moore. »Es reicht nicht, um uns für drei Tage betrunken zu machen. »Was willst du? Dich jetzt besaufen und dann total nüchtern sterben? Wir heben das für die letzten sechs Stunden auf, wenn die Luft stickig wird und das Atmen weh tut – dann trinken wir die Flasche gemeinsam aus und spüren das Ende nicht mehr oder machen uns nichts mehr draus.« Brandon ließ langsam die Hand sinken. »Verdammt, Warren, wenn man dich aufschneidet, kommt wahrschein19
lich Eis heraus. Wie kannst du jetzt überhaupt noch klar denken?« Er gab Mike ein Zeichen, und die Flasche wurde wieder verstaut. Brandon trat an das Bullauge und sah hinaus. Moore kam zu ihm und legte einen Arm auf die Schulter des Jüngeren. »Mann, warum es denn so schwer nehmen?« sagte er. »So kannst du nicht weitermachen. Und wenn du's tust, dann wirst du in vierundzwanzig Stunden verrückt sein.« Keine Antwort. Brandon starrte verbittert auf die Kugel, die fast das ganze Bullauge füllte. Moore fuhr fort: »Vesta anschauen wird dir auch nicht helfen.« Mike Shea schlenderte zum Bullauge. »Wenn wir nur auf Vesta sein würden, wären wir in Sicherheit. Dort gibt's Leute. Wie weit sind wir weg?« »Nicht weiter als fünf- bis sechshundert Kilometer, wenn man von der scheinbaren Größe ausgeht«, antwortete Moore. »Ihr müßt daran denken, daß sie nur dreihundertneunzig Kilometer Durchmesser hat.« »Fünfhundert Kilometer von der Rettung entfernt«, murmelte Brandon. »Es könnte genausogut eine Million sein. Wenn wir nur die Umlaufbahn verlassen könnten, die dieses blöde Bruchstück angenommen hat. Wißt ihr, wenn wir uns einen Stoß geben könnten, um den Fall einzuleiten. Wir brauchten auch keine Angst zu haben, zu zerschellen, weil dieser Zwerg mit seiner geringen Schwerkraft nicht einmal einen Sahneklecks zerdrücken könnte.« »Seine Schwerkraft reicht aber aus, uns in einer Umlaufbahn zu halten«, versetzte Moore. »Muß uns 20
eingefangen haben, als wir nach dem Zusammenprall bewußtlos waren. Ich wollte, wir wären näher 'rangekommen. Dann hätten wir vielleicht landen können.« »Diese Vesta, ein komisches Ding«, bemerkte Mike Shea. »Ich war ein paarmal unten. Ist ganz mit etwas wie Schnee bedeckt, nur daß es kein Schnee ist. Ich hab' vergessen, wie man es nennt.« »Gefrorenes Kohlendioxyd?« gab ihm Moore das Stichwort. »Ja, Trockeneis, genau. Deshalb glänzt Vesta auch so hell.« »Natürlich, dadurch hat sie eine hohe Albedo.« Mike warf Moore einen argwöhnischen Blick zu und beschloß, nicht darauf einzugehen. »Schwierig wegen dem Schnee, da unten was zu erkennen, aber wenn ihr genau hinschaut«, sagte er und zeigte mit dem Finger, »dann könnt ihr einen grauen Fleck sehen. Ich glaube, das ist die Bennettkuppel. Dort ist das Observatorium. Und da oben ist die Calornkuppel. Ein Tanklager ist dort. Es gibt noch eine Menge davon, bloß seh' ich jetzt nichts.« Er stockte und wandte sich dann an Moore. »Hör mal, Boß, ich hab' nachgedacht. Ob sich die dort nicht nach uns umsehen, wenn sie von dem Unfall hören? Und kann man uns von Vesta aus nicht leicht entdecken, da wir so nah sind?« Moore schüttelte den Kopf. »Nein, Mike, die werden sich nicht nach uns umsehen. Man wird die Silver Queen erst vermissen, wenn sie nicht fahrplanmäßig ankommt. Weißt du, als der Asteroid uns traf, hatten wir keine Zeit 21
mehr, SOS zu funken.« Er seufzte. »Und von der Vesta aus wird man uns auch nicht sehen. Wir sind so klein, daß man uns selbst bei dieser Entfernung nur sehen würde, wenn man wüßte, wonach man Ausschau halten muß und wo.« »Mhmm.« Mike legte die Stirn in Falten. »Dann müssen wir Vesta erreichen, bevor drei Tage um sind.« »Genau, Mike, das ist der Kern der Sache. Jetzt müßten wir nur wissen, wie wir das anpacken …« Brandon geriet plötzlich außer sich. »Warum hört ihr beiden nicht mit dem Gefasel auf und tut endlich was!« Moore zuckte mit den Schultern und ging schweigend wieder zur Liege. Kein Zweifel, sie waren wirklich in einer bösen Klemme. Zum zwanzigsten Mal vielleicht ließ er sich die Ereignisse des vergangenen Tages durch den Kopf gehen. Als der Asteroid eingeschlagen war und das Schiff auseinandergerissen hatte, war ihm schwarz vor Augen geworden. Er wußte nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war, da seine Uhr beschädigt war und sich kein anderer Zeitmesser fand. Als er zu sich kam, waren er und Mark Brandon, mit dem er das Zimmer teilte, und Mike Shea, ein Mitglied der Besatzung, die einzigen Bewohner dessen, was von der Silver Queen übrig war. Dieser Überrest kreiste nun in Schräglage um Vesta. Im Augenblick war es einigermaßen gut um sie bestellt. Die Lebensmittelvorräte reichten für eine Woche. Und unter ihrem Raum befand sich ein lokaler Schwerkrafterzeuger, der ihnen normales Ge wicht gab und das unbegrenzt weiter tun würde, jedenfalls länger, als der Luftvorrat 22
reichen würde. Die Beleuchtungsanlage arbeitete weniger zufriedenstellend, hatte bis jetzt jedoch gehalten. Es gab freilich keinen Zweifel, wo das dicke Ende lag. Luft für drei Tage! Nicht, daß es nicht noch andere entmutigende Umstände gegeben hätte. Es gab keine Heizung. Obwohl es lange dauern würde, bis das Schiff so viel Wärme in den leeren Raum abgestrahlt hätte, daß ihnen ungemütlich werden würde. Sehr viel wesentlicher war die Tatsache, daß ihr Teil des Schiffes weder über Nachrichteneinrichtungen noch über Antriebsaggregate verfügte. Moore seufzte. Eine intakte Treibstoffdüse würde alles in Ordnung bringen, da sie ein Stoß in die korrekte Richtung sicher zur Vesta bringen würde. Die Falte zwischen seinen Augen vertiefte sich. Was war zu tun? Sie verfügten nur über einen Raumanzug, einen Hitzestrahler und eine Sprengkapsel. Sie hatten die zugänglichen Teile des verwüsteten Schiffes durchsucht und nicht mehr an Raumausrüstung gefunden. Moore zuckte mit den Schultern, stand auf und füllte sich ein Glas mit Wasser. Er war noch in Gedanken versunken und schluckte automatisch, als ihm etwas einfiel. Er warf einen neugierigen Blick auf das leere Glas in seiner Hand. »Sag mal, Mike«, sagte er, »wie sieht's mit unserem Wasservorrat aus? Komisch, daß ich nicht schon eher dran gedacht habe.« Mike riß erstaunt die Augen auf. »Weißt du das nicht, Boß?« »Was?« wollte Moore ungeduldig wissen. 23
»Wir haben das ganze Wasser, das da war.« Er machte mit der Hand eine weitausholende Bewegung. Er schwieg. Aber da ihn Moore auch weiter völlig entgeistert ansah, wurde er ausführlicher. »Verstehst du nicht? Wir haben den Haupttank, in dem das Wasser für das ganze Schiff ist.« Er zeigte auf eine Wand. »Willst du damit sagen, daß sich neben uns ein Behälter voller Wasser befindet?« Mike nickte nachdrücklich. »Jawohl! Ein würfelförmiges Faß, in jeder Richtung dreißig Meter lang. Und es ist dreiviertel voll.« Moore war überrascht. »Siebenundzwanzigtausend Kubikmeter Wasser.« Und dann: »Warum ist es nicht durch die geborstenen Rohre ausgelaufen?« »Es hat nur einen einzigen Abfluß, der hier gleich vor dem Raum den Gang hinunterläuft. Ich hab' an dem Hauptventil gearbeitet, als der Asteroid einschlug und mußte es zumachen. Als ich wieder zu mir kam, machte ich das Rohr auf, das zu unserem Wasserhahn führt, und einen anderen offenen Abfluß gibt's jetzt nicht.« »Ach.« Moore hatte tief in seinem Innern ein merkwürdiges Gefühl. In seinem Kopf hatte sich ein Gedanke halb gebildet, doch konnte er ihn nicht um alles in der Welt fassen. Er wußte nur, daß sich in dem, was er eben gehört hatte, etwas Wichtiges verbarg, kam aber einfach nicht darauf. Brandon hatte Shea schweigend zugehört und stieß jetzt ein lustloses Lachen aus. »Ich sehe schon, das Schicksal hat sich wirklich einen Scherz mit uns erlaubt. Zuerst setzt 24
es uns einen Ort vor die Nase, wo wir sicher wären und achtet dann darauf, uns keine Möglichkeit zu lassen, dorthin zu kommen. Und dann versorgt es uns mit Essen für eine Woche, Luft für drei Tage und einem Wasservorrat, der ein Jahr reicht. Ein Vorrat für ein Jahr, hört ihr? Genug Wasser zum Trinken, zum Gurgeln, zum Waschen, zum Baden. Und was wir sonst noch damit anstellen wollen. Wasser! Verdammtes Wasser.« »Ach, Mark, nimm's nicht so schwer«, sagte Moore. »Nimm an, wir sind ein Trabant von Vesta – was wir ja auch sind. Wir haben unsere eigene Umlauf- und Umdrehungszeit. Wir haben einen Äquator und eine Achse. Unser ›Nordpol‹ liegt irgendwo oben bei dem Bullauge, in Richtung Vesta, und ›Süden‹ zeigt bei uns durch den Wassertank von Vesta weg. Nun, unser Trabant hat eine Atmosphäre, und jetzt haben wir sogar einen Ozean. Im Ernst, wir sind gar nicht so schlimm dran. Unsere Atmosphäre wird drei Tage reichen, wir können uns doppelte Portionen einverleiben und trinken, bis uns das Wasser zu den Ohren herauskommt. Wir haben so viel Wasser, daß wir's wegschütten können.« Der Gedanke, der bis jetzt nur halb ausgedacht war, reifte plötzlich. Die Handbewegung, mit der er die letzte Bemerkung unterstrichen hatte, brach mitten in der Luft ab. Sein Mund klappte zu, und er riß den Kopf hoch. Brandon war jedoch in seine eigenen Überlegungen vertieft und bemerkte nichts vom seltsamen Gebaren Moores. »Warum machst du mit deinem Vergleich eines Mondes nicht weiter?« höhnte er. »Oder willst du als eingefleischter Optimist all die unangenehmen Seiten 25
weglassen? Wenn ich du wäre, würde ich wie folgt fortfahren.« Er ahmte Moores Tonfall nach. »Dieser Mond ist gegenwärtig bewohnbar und auch bewohnt, wird aber auf Grund der Erschöpfung seiner Atmosphäre in drei Tagen zu einer toten Welt werden. Was ist, warum antwortest du nichts? Verstehst du denn nicht – was ist los?« Die letzten Worte rief er vor Überraschung aus, denn Moores Benehmen konnte wirklich überraschen. Er hatte sich plötzlich erhoben, hatte sich mit der Hand auf die Stirn geschlagen und blieb dann steif und stumm stehen, starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne. Sprachlos blickten ihn Brandon und Mike Shea an. Plötzlich platzte Moore heraus: »Ha! Ich hab's. Warum dachte ich nicht gleich daran?« Dann wurden seine Ausrufe unverständlich. Mit einem bedeutungsvollen Blick brachte Mike die Jabraflasche zum Vorschein, aber Moore winkte ungeduldig ab. Worauf Brandon ohne Warnung mit der Rechten zuschlug, den überraschten Moore voll am Kinn traf und ihn zu Boden schickte. Moore rieb sich stöhnend das Kinn. Er fragte empört: »Weshalb denn das?« »Steh auf, und ich hau noch mal zu«, schrie Brandon. »Ich halt's nicht mehr aus. Mir steht dein Gebrabbel bis hier oben. Du bist hier derjenige, der durchdreht.« »Unsinn! Ein bißchen aufgeregt, sonst nichts. Hört mal, um Himmels willen. Ich glaub', ich hab' den Ausweg …«
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Brandon starrte ihn wild an. »Ach, wirklich? Machst uns Hoffnung mit einem albernen Plan, um dann zu bemerken, daß es so nicht geht. Ich lasse mir das nicht gefallen, verstanden?« Moore geriet in Wut. »Hör mal, Mark, du hast nichts damit zu tun. Ich mach's allein. Ich brauche deine Hilfe nicht und will sie auch nicht. Wenn du so sicher bist, daß du sterben mußt, warum verkürzt du dir nicht dein Leiden? Wir haben einen Hitzestrahler und eine Sprengkapsel, beides verläßliche Waffen. Entscheide dich, und dann bring dich um. Shea und ich werden uns nicht einmischen.« Brandon zeigte die letzten schwachen Anzeichen von Trotz. Dann gab er plötzlich ganz und gar auf. »Na schön, Warren, ich bin deiner Ansicht. Ich weiß nicht genau, was in mich gefahren ist. Ich fühle mich nicht gut. Warren. Ich – ich …« »Ach, schon gut, Junge.« Er tat Moore wirklich leid. »Nimm's nicht so schwer. Ich weiß, wie du dich fühlst. Mich hat's auch gepackt. Aber du darfst nicht nachgeben. Wehr dich dagegen, oder du schnappst über. Und jetzt leg dich hin und versuch zu schlafen. Überlaß alles mir. Es wird schon noch gut werden.« Brandon preßte eine Hand auf die schmerzende Stirn, taumelte zur Liege und ließ sich fallen. Er wurde von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt, während Moore und Shea verlegen schwiegen.
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Schließlich stieß Moore Mike an. »Komm«, flüsterte er. »An die Arbeit. Wir sehen uns um. Luftschleuse fünf ist doch am Ende dieses Ganges?« Shea nickte, und Moore fuhr fort: »Ist sie dicht?« »Also«, sagte Shea nach einigem Nachdenken, »die innere Tür ist natürlich dicht, aber wie's mit der äußeren ist, weiß ich nicht. Die kann durchlöchert sein. Weißt du, als ich nachsah, ob die Wand luftdicht ist, hab' ich mich nicht getraut, die innere Tür aufzumachen, denn wenn mit der äußeren was nicht in Ordnung gewesen wäre, dann pfff!« Er unterstrich es mit einer eindrucksvollen Geste. »Dann müssen wir uns jetzt um die äußere Tür kümmern. Ich muß irgendwie nach draußen. Wir müssen es darauf ankommen lassen. Wo ist der Raumanzug?« Er holte den einzigen Anzug von seinem Platz im Schrank, warf ihn sich über die Schulter und ging als erster in den langen Gang hinaus, der an dem Zimmer vorbeilief. Er kam an geschlossenen Türen vorbei, hinter deren luftdichten Flügeln Passagierräume gewesen waren, jetzt nur noch leere Höhlen, die sich in den Raum öffneten. Am Ende des Ganges war die fest anliegende Tür der Luftschleuse fünf. Moore blieb stehen und sah sie abschätzend an. »Ist offensichtlich in Ordnung«, bemerkte er. »Aber man kann freilich nicht sagen, wie's draußen aussieht. Mein Gott, ich hoffe nur, es klappt.« Er runzelte die Stirn. »Wir könnten natürlich den ganzen Gang als Luftschleuse benutzen, mit unserer Zimmertür als innerer und dieser hier als äußerer
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Tür, aber dabei würde die Hälfte unseres Luftvorrats verlorengehen. Das können wir uns noch nicht leisten.« Er wandte sich Shea zu. »Also schön. Der Anzeige nach ist jemand das letzte Mal durch die Schleuse hereingekommen. Sie müßte also mit Luft gefüllt sein. Mach die Tür einen winzigen Spalt weit auf, und wenn ein Zischen zu hören ist, mach sie schnell wieder zu.« »Na, dann los.« Und der Hebel wurde um einen Teilstrich bewegt. Die Anlage war durch die Erschütterung des Aufpralls schwer mitgenommen worden, und ihr früher geräuschloses Funktionieren war einem schroffen Knirschen gewichen, aber sie tat noch ihren Dienst. Links von der Sperrvorrichtung erschien ein schmaler schwarzer Strich. Er zeigte an, daß sich die Tür auf ihren Gleitrollen den Bruchteil eines Zentimeters aufgeschoben hatte. Kein Zischen! Moore wurde ein wenig ruhiger. Er nahm ein kleines Stück Karton aus seiner Tasche und hielt es gegen den Spalt. Wäre Luft entwichen, so hätte sie durch ihr Ausströmen den Streifen am Spalt festgehalten. Er fiel zu Boden. Mike Shea steckte einen Zeigefinger in den Mund und hielt ihn dann an den Spalt. »Gott sei Dank!« flüsterte er. »Keine Spur von Luftzug.« »Sehr gut. Mach sie weiter auf.« Der Hebel bewegte sich einen Teilstrich weiter, und der Spalt verbreiterte sich. Noch immer kein Zug. Ganz langsam, Teilstrich für Teilstrich, verbreiterte sich der Spalt. Die beiden Männer hielten den Atem an. Wenn auch die äußere Tür nicht durchlöchert war, so konnte sie doch 29
so schwach sein, daß sie jeden Augenblick nachgab. Aber sie hielt! Moore frohlockte und schlüpfte in den Raumanzug. »Bis jetzt läuft alles glatt, Mike«, sagte er. »Du setzt dich hier hin und wartest auf mich. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde, aber ich komme zurück. Wo ist der Hitzestrahler? Hast du ihn?« Shea reichte ihm den Strahler und fragte: »Aber was willst du tun? Ich würd's ganz gern wissen.« Moore wollte sich eben den Helm überstülpen und hielt inne. »Hast du mich vorhin nicht gehört, als ich sagte, wir haben genug Wasser, um es wegzuschütten? Ich habe mir eben Gedanken darüber gemacht, und die Idee ist gar nicht schlecht. Ich werde es wegschütten.« Ohne weitere Erklärung betrat er die Schleuse und ließ einen recht verblüfften Mike Shea zurück. Moore wartete mit klopfendem Herzen, daß sich die äußere Tür öffnen würde. Sein Plan war außerordentlich einfach, mochte aber vielleicht schwer auszuführen sein. Zahnräder quietschten, und Sperrklinken knackten. Die Luft entwich seufzend ins Nichts. Die Tür vor ihm schob sich ein paar Zentimeter auf und blieb hängen. Moore verließ der Mut, weil er einen Augenblick lang glaubte, sie würde sich gar nicht öffnen, aber nach einem ruckenden, klappernden Anlauf ging die Trennwand ganz auf. Er legte den Magnetgriff an und setzte sehr vorsichtig einen Fuß in den Raum hinaus. Schwerfällig tastete er sich zur Längsseite des Schiffes hinaus. Er hatte noch nie ein
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Schiff im freien Raum verlassen, und ein kurzer Schwindelanfall suchte ihn heim. Er schloß die Augen, hing fünf Minuten da und klammerte sich an den glatten Überrest der Silver Queen. Der Magnetgriff hielt ihn fest, und als er die Augen wieder öffnete, spürte er, wie er wieder Selbstvertrauen gewann. Er blickte sich um. Zum ersten Mal seit dem Zusammenprall sah er wieder die Sterne, anstatt nur die Vesta. Er suchte eifrig den Himmel nach jenem kleinen blauweißen Fleck ab, der die Erde war. Aber seine Suche war vergeblich. Für ihn war die Erde unsichtbar. Sie verbarg sich wie die Sonne sicher hinter Vesta. Aber es gab sehr viel anderes zu sehen, dem er sich nicht entziehen konnte. Links lag der Jupiter, für das unbewaffnete Auge eine Kugel von der Größe einer kleinen Erbse. Moore konnte zwei aus dem Gefolge seiner Monde erkennen. Der Saturn war ebenfalls zu sehen, ein strahlender Planet, hell wie die Venus, wenn man sie von der Erde aus betrachtet. Moore hatte erwartet, eine ziemliche Anzahl von Asteroiden sehen zu können, aber der Raum schien verblüffend leer. Einmal glaubte er, in ein paar Kilometern Entfernung einen Körper vorbeischießen zu sehen. Aber der Eindruck war so rasch gekommen und verschwunden, daß er seine Sache nicht sicher sein konnte. Und dann war da natürlich die Vesta. Prall wie ein Ballon füllte sie gleich unter ihm ein Viertel des Himmels. Schneeweiß und ruhig schwebte sie dort, und Moore blickte sie zutiefst sehnsüchtig an. Ein fester Tritt gegen
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die Seite des Schiffes würde genügen, dachte er, ihn zur Vesta hin fallen zu lassen. Vielleicht konnte er sicher landen und Hilfe für die anderen holen. Aber das Risiko war zu groß, dabei nur in eine neuerliche Umlaufbahn um Vesta zu geraten. Nein, nein, es mußte etwas Besseres geschehen. Ihm fiel ein, daß keine Zeit zu verlieren war. Er ließ seine Augen das Schiff entlangwandern, suchte nach dem Wassertank, konnte aber nur ein Durcheinander von verdrehten, geborstenen Wänden entdecken. Er war sich unschlüssig. Offenbar blieb nur eines zu tun, sich zum leuchtenden Bullauge ihrer Kabine zu bewegen und sich von dort aus weiter zum Tank vorzuarbeiten. Behutsam zog er sich an der Wand des Schiffes vorwärts. Nicht ganz zwei Meter von der Schleuse hörte die Glätte ganz unvermittelt auf. Vor ihm gähnte eine Höhle, die Moore als den Raum wiedererkannte, der am anderen Ende auf den Gang gestoßen war. Ihn schauderte. Und wenn er in einem dieser Räume auf eine aufgeblähte Leiche stoßen sollte? Die meisten der Passagiere hatte er gekannt, viele sogar persönlich. Er überwand jedoch seine Zimperlichkeit und zwang sich, die gefährliche Reise zu seinem Ziel fortzusetzen. Und hier traf er auf die erste praktische Schwierigkeit. Der Raum bestand in vielen Teilen aus Material, das kein Eisen enthielt. Der Magnetgriff konnte eigentlich nur an der Außenhaut des Schiffes Verwendung finden und war im Innern zum größten Teil wertlos. Moore hatte das vergessen und sah sich plötzlich mit unbrauchbarem
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Magnetgriff eine geneigte Fläche entlangschweben. Er faßte keuchend nach einem nahen Vorsprung. Er zog und brachte sich langsam wieder in Sicherheit. Für einen Augenblick blieb er beinahe atemlos liegen. Hier im Raum hätte er theoretisch gewichtslos sein müssen – Vestas Einfluß war unerheblich – doch der lokale Schwerkrafterzeuger unter seinem Raum funktionierte noch. Die anderen Schwerkrafterzeuger hielten seine Wirkung nicht mehr im Gleichgewicht, und Moore sah sich bei einer Änderung seiner Lage unterschiedlichen, plötzlich wechselnden Belastungen ausgesetzt. Und wenn sein Magnetgriff unversehens nicht mehr haftete, konnte das bedeuten, vom Schiff abgeschüttelt zu werden. Und dann? Offensichtlich würde sich alles noch schwieriger anlassen, als er es sich gedacht hatte. Er kroch Zentimeter für Zentimeter vorwärts und prüfte jede Stelle, ob der Griff auch halten würde. Manchmal mußte er große Umwege machen, um nur ein paar Meter voranzukommen, und dann wieder war er gezwungen, über Stellen aus nicht eisenhaltigem Material zu krabbeln und zu rutschen. Und immer war der Zug des Schwerkrafterzeugers zu spüren, der ständig seine Richtung änderte, während Moore sich vorwärtsbewegte. Dadurch wirkten ebene Böden und senkrechte Wände wie vom Zufall schief angeordnet. Er sah sich sorgfältig alle Gegenstände an, auf die er stieß. Eine unergiebige Suche. Lose Gegenstände, Tische und Stühle waren durch den ersten Stoß vermutlich abgeschüttelt worden und jetzt selbständige Körper des 33
Sonnensystems. Er konnte immerhin einen kleinen Feldstecher und einen Füllfederhalter auflesen. Fünfzehn, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde mühte er sich langsam in der Richtung weiter, in der er das Bullauge vermutete. Der Schweiß rann ihm in die Augen und machte feuchten Filz aus seinem Haar. Seine Muskeln fingen an, unter der ungewohnten Anstrengung zu schmerzen. Sein Gehirn, von der Zerreißprobe des gestrigen Tages schon mitgenommen, begann zu ermüden und spielte ihm Streiche. Bald schien ihm, als krieche er seit Ewigkeiten, als würde er in Ewigkeiten fortkriechen. Der Zweck seiner Reise, das, wofür er sich abmühte, schien unwichtig. Er wußte nur, daß er unbedingt weiter mußte. Die Zeit, die er vor einer Stunde mit Brandon und Shea verbracht hatte, war wie von einem Nebel, von der Vergangenheit, verschluckt. Noch mehr waren die normalen Zeiten, die jetzt zwei Tage zurücklagen, völlig vergessen. Nur die schartigen Wände vor ihm, nur die absolute Notwendigkeit, ein Ungewisses Ziel zu erreichen, hatten Platz in seinem Kopf, in dem sich alles drehte. Greifen, ziehen. Ein Tasten nach der Eisenlegierung. Hinauf und hinein in gähnende Löcher, wo Zimmer gewesen waren, dann wieder hinaus. Tasten und ziehen, tasten und ziehen – und – ein Licht. Moore hielt inne. Hätte er nicht an der Wand geklebt, so wäre er gestürzt. Das Licht schien manches zu klären. Es war das Bullauge, nicht eines der vielen, an denen er vorübergekommen war, die schwarz und blind starrten, 34
sondern eines voller Leben und Licht. Hinter ihm war Brandon. Ein tiefer Atemzug, und er fühlte sich besser. In seinem Kopf wurde es klar. Und jetzt lag der Weg deutlich vor ihm. Er kroch auf diesen Funken Leben zu. Näher und näher, bis er ihn greifen konnte. Er war da! Seine Augen verschlangen das vertraute Zimmer. Er verband weiß Gott keine glücklichen Gedanken mit ihm, aber es war ein Stück Wirklichkeit, hatte fast etwas Natürliches. Brandon schlief auf der Liege. Sein Gesicht war erschöpft und faltig, noch einmal huschte ein Lächeln darüber hinweg. Moore hob die Faust, um zu klopfen. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich mit jemandem zu unterhalten, und sei es auch nur mit Hilfe von Handzeichen. Und doch ließ er es im letzten Augenblick sein. Vielleicht träumte der Junge von zu Hause. Brandon war jung und feinfühlig und hatte eine Menge durchgemacht. Laß ihn schlafen. Es war Zeit genug, ihn zu wecken, wenn er seinen Plan ausgeführt hätte. Falls er ihn ausführen konnte. Er fand die Wand in dem Zimmer, hinter der sich der Wassertank befand, und nun versuchte er, ihn von außen zu entdecken. Das war jetzt nicht schwer. Die Tankrückwand trat deutlich hervor. Moore staunte. Ein Wunder, daß sie nicht durchlöchert worden war. War das Schicksal vielleicht doch nicht so ironisch gewesen? Der Tank war leicht zu erreichen, obwohl er sich auf der anderen Seite des Wrackteils befand. Ein ehemaliger Gang führte beinahe direkt zu ihm. Als die Silver Queen noch
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heil gewesen war, war der Gang eben und horizontal gewesen. Aber die ungleichmäßige Anziehungskraft des lokalen Schwerkrafterzeugers ließ ihn jetzt eher wie einen steilen Hang erscheinen. Und doch ein einfacher Weg. Da er ganz aus Beryllstahl war, hatte Moore keine Schwierigkeiten, sich festzuhalten, während er sich die sechs, sieben Meter zum Wassertank hinaufwand. Jetzt war die Entscheidung, die Endphase erreicht. Er spürte, daß er sich zunächst ausruhen mußte, doch wurde seine Erregung schnell stärker. Jetzt ging's ums Ganze. Er zog sich hinaus zur Mitte der Unterseite des Tanks. Er ruhte sich dort auf dem schmalen Sims aus, der vom Fußboden des Ganges übriggeblieben war, der sich ehemals neben dem Tank befunden hatte. Moore machte sich fertig. »Schade, daß das Hauptrohr in die falsche Richtung weist«, murmelte er. »Wenn es in der richtigen Lage wäre, hätte es mir eine Menge Arbeit erspart. Aber so …« Er seufzte und machte sich an die Arbeit. Der Hitzestrahl war auf einen kleinen Punkt eingestellt, und der unsichtbare Strom richtete sich auf eine Stelle, die sich etwa dreißig Zentimeter über dem Boden des Tanks befand. Langsam wurde die Wirkung der gebündelten Erregerwellen auf die Moleküle der Wand sichtbar. Ein Fleck von der Größe einer kleinen Münze, der im Brennpunkt des Strahlers lag, fing an, schwach zu glänzen. Der Glanz wurde schwächer, dann wieder heller, während Moore sich mühte, den Arm trotz seiner Ermüdung ruhig
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zu halten. Er setzte ihn auf den Sims auf und erzielte eine bessere Wirkung. Der winzige Kreis leuchtete auf. Die Farbe wanderte langsam das Spektrum hinauf. Das dunkle, drohende Rot, das erst zu sehen gewesen war, hellte sich zu einem Kirschrot auf. Als immer mehr Hitze zuströmte, breitete sich die Helligkeit in kleinen Wellen anscheinend immer weiter aus, so daß die Stelle bald wie eine Zielscheibe aus abgestuft dunkler werdenden roten Ringen aussah. Selbst über einen Meter von dem Kernpunkt entfernt war die Wand schon unangenehm heiß, wenn auch nicht glühend geworden, und Moore achtete darauf, mit dem Metall seines Anzugs nicht mehr mit ihr in Berührung zu kommen. Moore fluchte, weil sich der Sims auch erhitzte. Und als die schmelzende Wand anfing, eigene Hitze abzustrahlen, da galten seine Flüche vor allem den Herstellern von Raumanzügen. Warum bauten die keinen Anzug, der Wärme sowohl halten wie abhalten konnte? Aber wieder regte sich, was Brandon eingefleischten Optimismus nannte. Salzigen Schweißgeschmack im Mund, tröstete sich Moore: »Könnte schlimmer sein, kann ich mir denken. Wenigstens ist die fünf Zentimeter dicke Wand hier kein allzu großes Hindernis. Angenommen, man hätte den Tank direkt an die Außenhaut gebaut. He, stell dir vor, du müßtest durch dreißig Zentimeter von dem Zeug durch.« Er biß die Zähne zusammen und machte weiter. Der helle Fleck flimmerte jetzt orangegelb, und Moore wußte, daß der Schmelzpunkt der Beryllstahllegierung bald erreicht sein würde. Er sah jetzt, daß er den Fleck nur noch
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in großen Abständen und dann nur ganz kurz beobachten konnte. Offenbar würde er schnell zu Werk gehen müssen, wenn er überhaupt Erfolg haben wollte. Zunächst einmal war der Hitzestrahler nicht ganz aufgeladen gewesen, mußte dann auch bald erschöpft sein, da er seit fast zehn Minuten in voller Stärke Energie ausströmen ließ. Und die Wand war eben erst richtig weich geworden. In einem Anfall von Ungeduld stieß Moore die Mündung der Waffe direkt in die Mitte des Flecks und zog sie rasch wieder zurück. Das weiche Metall war tief eingebuchtet, aber nicht durchstoßen worden. Moore war dennoch zufrieden. Es war beinahe soweit. Wenn sich zwischen ihm und der Wand Luft befunden hätte, wäre das Gurgeln und Zischen des verdampfenden Wassers dahinter bis zu ihm gedrungen. Der Druck nahm ständig zu. Wie lange würde die geschwächte Wand standhalten? Und dann war Moore so plötzlich durch, daß er es ein paar Augenblicke lang gar nicht bemerkte. Am Grund der kleinen Grube, die vom Strahler herrührte, bildete sich ein winziger Riß, und schneller, als man sich denken konnte, hatte sich das aufgewühlte Wasser von drinnen einen Weg gebahnt. Das weiche, flüssige Metall dieser Stelle platzte auf und umrahmte ein erbsengroßes Loch mit seinen Zacken. Und aus diesem Loch zischte und fauchte es hervor. Eine Dampfwolke schoß heraus und hüllte Moore ein. Durch den feuchten Dunst konnte er erkennen, wie der Dampf sich beinahe sofort zu Eiströpfchen kondensierte, 38
und dann sah er, wie diese kalten Kügelchen rasch zu Nichts zusammenschrumpften. Fünfzehn Minuten lang sah er zu, wie der Dampf herausschoß. Dann wurde er sich des leichten Drucks bewußt, und er merkte, daß das die Folge einer Beschleunigung des Schiffes war. Seine eigene Trägheit hielt ihn zurück. Es bedeutete, daß seine Aufgabe erfüllt war, und zwar mit Erfolg. Der Wasserstrahl war an die Stelle des Raketenschubs getreten. Moore machte sich auf den Rückweg. Wenn Schrecken und Gefahren auf dem Weg zum Tank schon groß gewesen waren, so hätte die des Rückwegs noch größer sein müssen. Seine Müdigkeit hatte unendlich zugenommen, seine Augen waren so gut wie blind, und zum verrückten Ziehen des Schwerkrafterzeugers kam noch die Kraft, die durch die unterschiedliche Beschleunigung des Schiffes hervorgerufen wurde. Aber wie sehr er sich auch bei seiner Rückkehr abmühte, es machte ihm nichts aus. Er wußte nicht, wie er es fertigbrachte, die Entfernung sicher zurückzulegen. Die meiste Zeit umfing ihn eine Wolke des Glücks, und die Gegebenheiten seiner Lage wurden ihm kaum bewußt. In seinem Hirn war nur ein einziger Gedanke – rasch zurückzukehren und die freudige Nachricht ihrer Rettung mitzuteilen. Unversehens fand er sich vor der Luftschleuse wieder. Er konnte kaum begreifen, daß es sich um die Luftschleuse handelte. Fast hätte er nicht verstanden, warum er auf den 39
Signalknopf drückte. Ein instinktives Gefühl sagte ihm, daß er es tun müsse. Mike Shea hatte gewartet. Es gab ein Quietschen und ein Rumpeln, und die äußere Tür ging auf, stockte und blieb an der gleichen Stelle wie vorhin stehen, schaffte es aber dann wieder, ganz aufzugehen. Sie schloß sich hinter Moore, dann öffnete sich die innere Tür, und er taumelte in Sheas Arme. Er kam sich vor wie in einem Traum, als er den Gang zum Zimmer halb getragen und halb gezogen wurde. Man riß ihm den Anzug vom Leib. Eine scharfe, brennende Flüssigkeit ätzte seinen Schlund. Moore würgte, schluckte und fühlte sich besser. Shea steckte die Jabraflasche wieder ein. Die verschwommenen, schwankenden Schatten von Brandon und Shea beruhigten und verfestigten sich vor ihm. Moore wischte sich mit zitternder Hand den Schweiß aus dem Gesicht und probierte es mit einem schwachen Lächeln. »Warte«, winkte Brandon ab. »Sag nichts. Du siehst halbtot aus. Ruh dich gefälligst aus!« Moore schüttelte jedoch den Kopf. Mit heiserer Stimme berichtete er, so gut er konnte, über die Ereignisse der letzten beiden Stunden. Die Erzählung war unzusammenhängend, kaum verständlich, aber herrlich eindrucksvoll. Die beiden Zuhörer wagten während des Vortrags kaum zu atmen. »Willst du sagen«, stammelte Brandon, »daß uns die Fontäne wie ein Raketentriebwerk zur Vesta drückt?« 40
»Genau – so'n Ding wie – ein Raketentriebwerk«, keuchte Moore. »Liegt auf – der Vesta abgewandten Seite – drückt uns deshalb zur Vesta.« Shea tanzte vor dem Bullauge hin und her. »Er hat recht«, rief er, »Brandon, mein Junge. Man kann die Bennettkuppel ganz sauber sehen. Wir schaffen's, wir schaffen's!« Moore spürte, wie er sich erholte. »Auf Grund unserer Umlaufbahn von vorhin nähern wir uns in einer Spirale. Wir werden vielleicht in fünf, sechs Stunden landen. Das Wasser wird ziemlich lange reichen, und da das Wasser als Dampf herauskommt, ist der Druck noch groß.« »Dampf – bei der niedrigen Temperatur des Raumes?« Brandon war überrascht. »Dampf – bei dem niedrigen Druck des Raumes!« verbesserte Moore. »Der Siedepunkt des Wassers fällt mit dem Druck. Im Vakuum ist er wirklich niedrig. Sogar Eis hat einen Dampfdruck, bei dem es sublimiert wird.« Er lächelte. »Tatsächlich friert und kocht es zugleich. Ich habe zugesehen.« Er schwieg kurz. Dann: »Na, wie fühlst du dich jetzt, Brandon? Viel besser, was?« Brandon wurde rot. Einen Augenblick lang suchte er vergeblich nach Worten. Dann sagte er schließlich sehr leise: »Weißt du, ich muß mich vorhin wie ein Idiot und ein Feigling aufgeführt haben. Ich glaube, ich verdiene das alles gar nicht, weil ich so zusammengebrochen bin und die ganze Last unserer Rettung deinen Schultern aufgebürdet habe. Ich wollte, du würdest mich dafür verdreschen, oder so was, daß ich dich vorhin niedergeboxt habe. Da würd' 41
ich mich besser fühlen, wirklich.« Das war anscheinend wirklich seine Meinung. Moore knuffte ihn. »Denk nicht mehr dran. Du weißt gar nicht, wie nahe ich selbst einem Zusammenbruch war.« Er hob die Stimme, um weitere Entschuldigungen Brandons zu ersticken. »He, Mike, hör auf, aus dem Bullauge zu glotzen und bring die Jabraflasche her.« Mike gehorchte voller Eifer und brachte drei Stück Plexatron mit, die behelfsmäßig als Gläser dienen konnten. Moore schenkte jedes genau randvoll ein. Er wollte sich gründlich betrinken. »Meine Herren«, sagte er feierlich, »ein Trinkspruch.« Die drei hoben einträchtig die Gläser. »Meine Herren, auf den Jahresvorrat von gutem, altem H2O, den wir mal hatten.«
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Und Finsternis wird kommen (Nightfall, 1941) Deutsch von Barbara Heidkamp
»Wenn sich die Sterne eines Nachts in tausend Jahren zeigen würden, wie würden die Menschen dann über viele Generationen an das Andenken der Stadt Gottes glauben, es verehren und bewahren?« EMERSON Aton 77, Direktor der Universität von Saro, schob angriffslustig die Unterlippe vor und funkelte den jungen Reporter wutentbrannt an. Theremon 762 blieb von dieser Wut unbeeindruckt. In seinen frühen Tagen, als seine inzwischen in vielen Zeitungen erscheinende Kolumne nur eine verrückte Idee im Kopf eines jungen Reporters gewesen war, hatte er sich auf »unmögliche« Interviews spezialisiert. Es hatte ihm Schrammen, blaue Augen und Knochenbrüche eingebracht, aber es hatte ihm auch einen breiten Rückhalt an Kaltblütigkeit und Selbstvertrauen gegeben. Jetzt ließ er die ausgestreckte Hand sinken, die so nachdrücklich übersehen worden war und wartete gelassen ab, bis sich der betagte Direktor wieder etwas beruhigt hatte. Astronomen waren sowieso komische Vögel, und 43
wenn das, was Aton in den vergangenen zwei Monaten getan hatte, irgendeine Bedeutung hatte, war dieser Aton der komischste von allen. Aton 77 fand seine Stimme wieder, und wenn sie auch vor unterdrückter Erregung bebte, hielt er an der gewählten, etwas pedantischen Ausdrucksweise fest, für die der berühmte Astronom bekannt war. »Sir, Sie legen eine infernalische Frechheit an den Tag, daß Sie mit einem solchen unerhörten Ansinnen zu mir kommen.« Der stämmige Telephotograph des Observatoriums, Beenay 25, ließ die Zungenspitze zwischen trockenen Lippen sehen und warf ein: »Nun, Sir, Sie dürfen nicht vergessen …« Der Direktor drehte sich zu ihm herum und hob eine weiße Augenbraue. »Mischen Sie sich nicht ein, Beenay. Ich will Ihnen zugute halten, daß Sie diesen Mann in gutem Glauben hergebracht haben, aber ich dulde jetzt keine Subordination.« Theremon fand, daß es an der Zeit war, einzuschreiten. »Direktor Aton, wenn Sie mich zu Ende führen lassen, was ich eben sagen wollte, werden Sie …« »Ich glaube nicht, junger Mann«, unterbrach ihn Aton, »daß Sie nach Ihren täglichen Kolumnen der letzten beiden Monate jetzt noch etwas von großer Bedeutung zu sagen haben könnten. Sie haben eine groß angelegte Zeitungskampagne gegen die Bemühungen meiner eigenen Person und die meiner Kollegen angeführt, die Welt gegen eine Gefahr zu organisieren, die sich nun nicht mehr abwenden 44
läßt. Sie haben mit Ihren sehr persönlichen Angriffen Ihr Möglichstes getan, das Kollegium dieses Observatoriums zum Ziel des Gespötts zu machen.« Der Direktor nahm eine Ausgabe des Saro City Chronicle vom Tisch und hielt sie Theremon wütend unter die Nase. »Selbst jemand, der für seine Unverschämtheit so bekannt ist wie Sie, hätte Bedenken haben müssen, mit der Bitte zu mir zu kommen, für sein Blatt über die Ereignisse des heutigen Tages berichten zu dürfen. Sie, ausgerechnet Sie!« Aton warf die Zeitung auf den Boden, schritt zum Fenster und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Sie können gehen«, bellte er über seine Schulter und starrte übellaunig hinaus auf den Horizont, wo Gamma, die hellste der sechs Sonnen des Planeten, gerade unterging. Im fernen Dunst war nur noch ihr gelblicher Schein zu erkennen, und Aton wußte, daß er sie nie wieder als geistig gesunder Mensch sehen würde. Er fuhr herum. »Nein, warten Sie! Kommen Sie her!« Er winkte herrisch mit der Hand. »Ich werde Ihnen Ihre Geschichte geben.« Der Reporter, der noch keine Anstalten gemacht hatte, zu gehen, kam jetzt langsam auf den alten Mann zu. Aton deutete nach draußen. »Von den sechs Sonnen steht nur noch Beta am Himmel. Sehen Sie sie?« Die Frage war ziemlich überflüssig. Beta stand fast im Zenit, und ihr rötlicher Schein tauchte die Landschaft in ein ungewohntes orangefarbenes Licht, als die leuchtenden Strahlen der untergehenden Gamma verblaßten. Beta stand 45
im Aphel. Sie war klein; kleiner, als Theremon sie je gesehen hatte, und im Augenblick war sie die unangefochtene Herrscherin über den Himmel von Lagash. Lagashs eigene Sonne, Alpha, die Sonne, um die sich der Planet drehte, befand sich auf der anderen Seite, genauso wie die beiden entfernten Begleiterpaare. Der rote Zwerg Beta – Alphas direkter Begleiter – war allein, unheilvoll allein. Atons aufwärts gerichtetes Gesicht erglühte rötlich im Licht der Sonne. »In etwas weniger als vier Stunden«, begann er, »wird die Zivilisation, wie wir sie kennen, untergehen. Sie wird deshalb untergehen, weil, wie Sie sehen, Beta die einzige Sonne am Himmel ist.« Er lächelte verbissen. »Drucken Sie das ruhig! Es wird doch niemand mehr da sein, der es liest.« »Aber wenn nun nach diesen vier Stunden – und nach weiteren vier – immer noch nichts passiert ist?« fragte Theremon ruhig. »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Es wird etwas passieren – genug.« »Schön! Und trotzdem – wenn jetzt nichts passiert?« Zum zweitenmal meldete sich Beenay 25 zu Wort. »Sir, ich finde, Sie sollten ihn anhören.« »Lassen Sie doch abstimmen, Direktor Aton«, schlug Theremon vor. Unruhe machte sich unter den übrigen fünf Mitgliedern des Observatoriumkollegiums breit, die bis jetzt eine Haltung wachsamer Neutralität gezeigt hatten.
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»Das«, stellte Aton ausdruckslos fest, »ist nicht notwendig.« Er zog seine Taschenuhr heraus. »Da Ihr guter Freund Beenay so darauf drängt, gebe ich Ihnen fünf Minuten. Sprechen Sie.« »Gut! Also, was für einen Unterschied würde es machen, wenn Sie mir erlaubten, einen Augenzeugenbericht über das zu schreiben, was passieren wird? Wenn sich Ihre Voraussage bewahrheitet, wird meine Gegenwart nicht schaden, denn in diesem Fall würde mein Artikel doch nicht zu Papier kommen. Sollte sich aber das Ganze als Irrtum herausstellen, wird man Sie auslachen oder noch schlimmeres. Es wäre klug, dies wohlmeinenden Händen zu überlassen.« Aton schnaubte verächtlich. »Meinen Sie die Ihren, wenn Sie von wohlmeinenden Händen sprechen?« »Natürlich!« Theremon setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Meine Artikel sind vielleicht ein bißchen hart gewesen, aber ich habe nie ausgeschlossen, daß Sie nicht möglicher weise doch recht haben könnten. Schließlich sind wir nicht mehr in einem Jahrhundert, in dem man Lagash mit ›Das Ende der Welt ist nahe‹ kommen kann. Sie müssen verstehen, daß die Leute nicht mehr an das Buch der Offenbarungen glauben, und sie regen sich darüber auf, wenn die Wissenschaftler auf einmal ihre Meinung ändern und uns erklären, daß die Kultanhänger nun doch recht haben …« »Kommen Sie mir nicht damit, junger Mann«, fiel ihm Aton ins Wort. »Es ist zwar richtig, daß ein Großteil unserer Informationen vom Kult herstammt, aber unsere Ergebnisse haben nichts mit dem Mystizismus des Kults zu 47
tun. Fakten sind Fakten, und hinter der sogenannten Mythologie des Kults stehen gewisse Fakten. Wir haben sie aufgedeckt und ihnen alles Mystische genommen. Glauben Sie mir, der Kult haßt uns jetzt noch mehr als Sie.« »Ich hasse Sie nicht. Ich versuche nur, Ihnen verständlich zu machen, daß die Öffentlichkeit in einer üblen Stimmung ist. Sie ist wütend.« Aton zog verächtlich die Mundwinkel herab. »Sollen sie doch wütend sein.« »Schon, aber was ist mit morgen?« »Es wird kein Morgen geben!« »Aber wenn nun doch? Nehmen wir an, daß es doch ein Morgen gibt – rein theoretisch. Diese Wut könnte irgendwelche ernsten Formen annehmen. Mit der Wirtschaft ist es in den letzten beiden Monaten ziemlich bergab gegangen. Die Geldanleger glauben zwar eigentlich nicht an das Ende der Welt, aber trotzdem sind sie vorsichtig mit ihrem Geld, bis alles vorbei ist. Der Mann von der Straße glaubt Ihnen auch nicht, aber mit den neuen Frühjahrsmöbeln könnte man auch ruhig noch ein paar Monate warten – für alle Fälle. Sie sehen, worauf ich hinaus will. Sobald das hier alles vorbei ist, wird Ihnen die Geschäftswelt ans Fell wollen. Sie werden sagen, wenn ein paar – entschuldigen Sie – Spinner frei nach Belieben die Konjunktur des Landes durcheinanderbringen können, einfach indem sie eine verrückte Voraussage machen, daß es Aufgabe des
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Planeten ist, etwas gegen sie zu unternehmen. Die Fetzen werden fliegen, Sir.« Der Direktor betrachtete den Kolumnisten finster. »Und was schlagen Sie nun vor, wie man die Situation ändern könnte?« »Nun« – Theremon grinste – »ich wollte Ihnen vorschlagen, daß ich mich um die Öffentlichkeit kümmere. Ich kann die Sache so drehen, daß die Leute das Ganze nur von der lächerlichen Seite her sehen. Zugegeben, es würde ganz schön hart für Sie, weil ich Sie als einen Haufen sabbernder Idioten darstellen müßte, aber wenn ich die Leute soweit kriegen kann, daß sie über Sie lachen, vergessen sie vielleicht ihre Wut. Alles, was mein Verleger als Gegenleistung dafür verlangt, ist eine Exklusivstory.« Beenay nickte. »Sir«, platzte er heraus, »wir meinen, daß er recht hat. In diesen letzten beiden Monaten haben wir alles berücksichtigt außer der eins-zu-eine-Million Chance, daß uns doch in unserer Theorie oder unseren Berechnungen ein Fehler unterlaufen sein könnte. Wir sollten auch an diese Möglichkeit denken.« Die Männer, die um den Tisch versammelt waren, murmelten zustimmend, und Atons Gesicht nahm den Ausdruck eines Mannes an, dessen Mund voll mit etwas Bitterem war und der es nicht loswerden konnte. »Also gut, Sie können bleiben, wenn Sie wollen. Sie werden allerdings freundlicherweise unterlassen, uns in irgendeiner Weise an unseren Pflichten zu hindern. Sie werden auch daran denken, daß ich die Verantwortung für alles trage, was wir hier tun, und ich erwarte trotz Ihrer
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Ansichten, wie Sie sie in Ihren Artikeln zum Ausdruck gebracht haben, volle Mitarbeit und vollen Respekt …« Seine Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt, und das faltige Gesicht hatte er entschlossen vorgereckt, während er sprach. Er hätte vielleicht noch ewig so weitergeredet, wenn ihn nicht eine neue Stimme unterbrochen hätte. »Hallo, hallo, hallo!« Es war ein hoher Tenor, und die dicken Wangen des Neuankömmlings drehten sich zu einem erfreuten Lächeln. »Was sollen denn diese Leichenbittermienen? Es wird doch niemand die Nerven verlieren, hoffe ich?« Aton starrte den Mann konsterniert an und meinte gereizt: »Was zum Teufel machen Sie hier, Sheerin? Ich dachte, Sie sollten im Versteck bleiben.« Sheerin lachte und ließ seine füllige Gestalt in einen Sessel plumpsen. »Zum Teufel mit dem Versteck! Dort war es mir zu langweilig. Ich wollte hier sein, am Ort des Geschehens. Was meinen Sie wohl, ich bin genauso neugierig wie jeder andere. Ich will diese Sterne sehen, von denen die Kultanhänger ständig reden.« Er rieb sich die Hände und fügte etwas sachlicher hinzu: »Es friert draußen. Der Wind ist so kalt, daß man Eiszapfen an der Nase bekommt. Beta scheint in der Entfernung, in der sie sich jetzt befindet, überhaupt keine Wärme abzugeben.« Der weißhaarige Direktor knirschte vor plötzlichem Ärger mit den Zähnen. »Warum machen Sie so etwas Verrücktes, Sheerin? Was nützen Sie uns hier?«
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»Was nütze ich dort?« Sheerin breitete in komischer Resignation die Handflächen aus. »Ein Psychologe ist im Versteck keinen Schuß Pulver wert. Sie brauchen Männer der Tat und kräftige, gesunde Frauen, die Kinder in die Welt setzen können. Und ich? Ich bin hundert Pfund zu schwer für einen Mann der Tat, und im Kinderkriegen wäre ich wohl auch nicht sehr erfolgreich. Warum soll ich also da bleiben und ihnen einen zusätzlichen Mund zu stopfen geben? Ich bin lieber hier.« »Was ist denn dieses Versteck, Sir?« fiel Theremon rasch ein. Sheerin schien den Reporter erst jetzt zu bemerken. Er runzelte die Stirn und blies seine fülligen Wangen auf. »Und wer, auf Lagash, sind Sie, Rotschopf?« Aton preßte die Lippen zusammen. »Das ist Theremon 762«, murmelte er verdrießlich, »der Zeitungsschmierer. Sie haben sicher schon von ihm gehört.« Der Kolumnist streckte seine Hand aus. »Und Sie sind natürlich Sheerin 501 von der Saro-Universität. Ich habe schon von Ihnen gehört.« Dann wiederholte er: »Was ist nun das Versteck, Sir?« »Nun«, antwortete Sheerin, »es ist uns gelungen, ein paar Leute von der Stichhaltigkeit unserer – eh, um es einmal spektakulär auszudrücken – Untergangsprophezeiung zu überzeugen, und diese paar haben entsprechende Maßnahmen ergriffen. Es handelt sich hauptsächlich um direkte Angehörige der Familien des Observatoriumkollegiums, dann ein paar von der Fakultät der SaroUniversität und einige Außenstehende. Es sind insgesamt
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rund dreihundert Personen, dreiviertel davon Frauen und Kinder.« »Ich verstehe! Sie sollen sich dort verstecken, wo ihnen die Finsternis und die – eh – Sterne nichts anhaben können und dann da aushalten, wenn der Rest der Welt in die Binsen geht.« »Wenn sie können. Es wird nicht leicht sein. Wenn die gesamte Menschheit wahnsinnig ist und die großen Städte in Flammen aufgehen, wird die Umwelt nicht gerade überlebensfreundlich sein. Aber sie haben zu essen, Wasser, Schutz und Waffen …« »Sie haben noch mehr«, mischte sich Aton ein. »Sie haben unsere sämtlichen Aufzeichnungen, mit Ausnahme der, die wir heute machen. Diese Aufzeichnungen werden alles für den nächsten Zyklus bedeuten, und sie sind es, die erhalten bleiben müssen. Alles andere kann zum Teufel gehen.« Theremon stieß einen langen, leisen Pfiff aus und saß ein paar Minuten lang grübelnd da. Die Männer um den Tisch hatten ein Multischachbrett hervorgeholt und begannen ein Spiel für sechs Spieler. Rasch und schweigend machten sie ihre Züge. Alle Augen waren in grimmiger Konzentration auf das Brett gerichtet. Theremon sah ihnen aufmerksam zu, dann stand er auf und ging zu Aton hinüber, der abseits saß und sich flüsternd mit Sheerin unterhielt. »Hören Sie«, meinte er, »gehen wir doch irgendwo hin, wo wir die übrigen nicht stören. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.« 52
Der betagte Astronom runzelte mürrisch die Stirn, doch Sheerin zwitscherte los: »Sicher. Es wird mir guttun zu reden. Das tut es immer. Aton hat mir gerade von Ihren Ansichten über die Reaktion der Welt erzählt, falls sich die Prophezeiung als Irrtum herausstellen sollte – und ich stimme Ihnen zu. Ich lese Ihre Spalte übrigens ziemlich regelmäßig, und im allgemeinen gefallen mir Ihre Ansichten.« »Bitte, Sheerin«, grollte Aton. »Was? Ach so, ja gut. Gehen wir in den Nebenraum. Er hat sowieso die weicheren Sessel.« Die Sessel im Nebenraum waren weicher. Außerdem hingen dicke rote Vorhänge vor den Fenstern, und auf dem Boden lag ein kastanienbrauner Teppich. Mit dem hereinfallenden rötlich-braunen Licht von Beta bekam das Ganze einen abstoßenden Effekt von getrocknetem Blut. Theremon schüttelte sich. »Meine Güte, ich würde glatt zehn Credits für eine einzige Sekunde weißes Licht geben. Ich wünschte, Gamma oder Delta wären am Himmel.« »Was möchten Sie fragen?« wollte Aton wissen. »Bitte vergessen Sie nicht, daß unsere Zeit begrenzt ist. In etwas über eineinviertel Stunde werden wir nach oben gehen, und danach wird zum Reden keine Zeit mehr sein.« »Okay. Also …« Theremon lehnte sich zurück und faltete seine Hände auf der Brust. »Ihr tut alle so verdammt ernst in dieser Sache, daß ich langsam anfange, euch zu glauben. Könnten Sie mir vielleicht einmal erklären, worum es eigentlich hier geht?«
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»Wollen Sie etwa behaupten«, explodierte Aton, »daß Sie uns die ganze Zeit mit Ihrem Spott bombardiert haben, ohne überhaupt zu wissen, was wir sagen wollen?« Der Kolumnist grinste einfältig. »Ganz so schlimm ist es nicht, Sir. Ich habe schon eine ungefähre Vorstellung. Sie behaupten, daß es in wenigen Stunden eine weltweite Dunkelheit geben und die gesamte Menschheit völlig wahnsinnig werden wird. Was ich jetzt hören möchte, ist der wissenschaftliche Aspekt, der dahinter steht.« »Nein, besser nicht. Besser nicht«, unterbrach ihn Sheerin. »Wenn Sie Aton darum bitten – angenommen, er wäre überhaupt dazu aufgelegt, Ihnen eine Antwort zu geben – würde er Ihnen seitenweise Zahlen und Schaubilder unter die Nase halten, und Sie wüßten vorn und hinten nichts damit anzufangen. Wenn Sie mich dagegen fragen, könnte ich Ihnen den Standpunkt eines Laien geben.« »Also schön; ich frage Sie.« »Dann möchte ich zuerst etwas zu trinken.« Er rieb sich die Hände und sah Aton an. »Wasser?« »Seien Sie nicht albern!« »Seien Sie nicht albern. Kein Alkohol heute. Meine Leute würden zu leicht betrunken werden. Ich kann es mir nicht leisten, sie in Versuchung zu führen.« Der Psychologe brummte etwas Unverständliches. Dann wandte er sich an Theremon, durchbohrte ihn mit seinen scharfen Augen und begann.
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»Ich muß Ihnen sicher nicht sagen, daß die Geschichte der Zivilisation auf Lagash einen zyklischen Charakter aufweist – und ich meine zyklisch!« »Ich weiß«, erwiderte Theremon vorsichtig, »daß dies die geläufige archäologische Theorie ist. Ist sie denn als Tatsache akzeptiert worden?« »So gut wie. In diesem letzten Jahrhundert ist man sich allgemein darüber einig geworden. Dieser zyklische Charakter ist oder besser war – eins der großen Geheimnisse. Wir haben Folgen von Zivilisationen ausfindig machen können, neun davon definitiv, sowie Hinweise auf andere, die alle auf einem ähnlichen Höhepunkt wie wir jetzt gestanden haben und die alle, ohne Ausnahme, genau in der Blütezeit ihrer Kultur durch Feuer vernichtet wurden. Und niemand wußte, warum. Alle Kulturzentren wurden durch Feuer völlig zerstört, und es blieb nichts zurück, das einen Hinweis auf die Ursache hätte geben können.« Theremon hörte aufmerksam zu. »Hat es nicht auch eine Steinzeit gegeben?« »Wahrscheinlich, aber darüber wissen wir bisher noch kaum etwas, außer daß die Menschen in dieser Periode nicht viel mehr als ziemlich intelligente Affen waren. Das können wir vergessen.« »Ich verstehe. Fahren Sie fort!« »Natürlich gibt es Erklärungen für diese sich ständig wiederholenden Katastrophen, die aber alle mehr oder weniger phantastisch sind. Einige sagen, daß periodisch Feuerregen auftritt; andere, daß Lagash in bestimmten 55
Abständen dicht an einer Sonne vorbeikommt und wieder andere noch wildere Dinge. Es gibt aber eine Theorie, die sich völlig von diesen anderen unterscheidet und die seit einer Reihe von Jahrhunderten weitergegeben wird.« »Ich weiß. Sie meinen diesen Mythos über die ›Sterne‹, den die Kultanhänger in ihrem Buch der Offenbarungen haben.« »Genau.« Sheerin nickte mit Befriedigung. »Die Kultanhänger sagen, daß Lagash alle zweitausendundfünfzig Jahre in eine riesige Höhle eintrat, so daß alle Sonnen verschwanden, und es kam eine totale Finsternis über die ganze Welt! Und dann, sagen sie, zeigten sich Dinge, die Sterne hießen, die die Menschen ihrer Seelen beraubten und sie zu vernunftlosen Tieren machten, so daß sie die Zivilisation zerstörten, die sie selbst aufgebaut hatten. Natürlich vermischen sie das alles mit einer Reihe religiös-mystischer Vorstellungen, aber das ist der Zentralgedanke.« Es entstand eine kurze Pause, in der Sheerin tief Luft holte. »Und jetzt kommen wir zu der Theorie der Universalen Gravitation.« Er sprach den Satz so aus, daß die Anfangsbuchstaben betont waren – und an diesem Punkt wandte sich Aton vom Fenster ab, schnaubte laut und stakte aus dem Raum. Die beiden starrten ihm nach, und Theremon meinte: »Was ist denn los?« »Nichts weiter. Zwei der Männer sollten schon vor Stunden hier sein, sind aber bisher noch nicht aufgetaucht. Er ist natürlich schrecklich knapp an Leuten, weil alle 56
außer den wirklich unabkömmlichen Männern zum Versteck sind.« »Sie glauben doch nicht, daß die beiden desertiert sind, oder?« »Wer? Faro und Yimot? Natürlich nicht. Trotzdem, wenn sie nicht innerhalb der nächsten Stunde zurück sind, könnte es ein bißchen eng werden.« Er stand unvermittelt auf und zwinkerte mit den Augen. »Wie dem auch sei, solange Aton nicht zusehen kann …« Er schlich auf Zehenspitzen zum nächsten Fenster, ging in die Hocke und holte aus dem Blumenkasten darunter eine Flasche mit einer roten Flüssigkeit, die verlockend gluckste, als er sie schüttelte. »Ich dachte mir doch, daß Aton nichts davon wußte«, bemerkte er, als er zurück zum Tisch trottete. »Hier! Wir haben bloß ein Glas, und das dürfen Sie nehmen, da Sie der Gast sind. Ich behalte die Flasche.« Er füllte das winzige Glas mit penibler Sorgfalt. Theremon erhob sich, um zu protestieren, doch Sheerin warf ihm einen strengen Blick zu. »Respekt vor dem Alter, junger Mann.« Der Reporter setzte sich wieder mit einem schmerzlichen Ausdruck im Gesicht. »Dann machen Sie schon, Sie alter Schurke.« Der Adamsapfel des Psychologen hüpfte, als er die Flasche ansetzte, und dann, nach einem zufriedenen Grunzen und einem schmatzenden Laut, begann er wieder. »Was wissen Sie über Gravitation?«
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»Nichts, außer daß es sich dabei um eine sehr neue Entwicklung handelt, die noch nicht richtig erfaßt ist, und daß die Mathematik so kompliziert ist, daß sie angeblich nur zwölf Leute auf Lagash verstehen.« »Pah! Unsinn! Quatsch! Ich kann Ihnen die Grundmathematik in einem Satz geben. Das Gesetz der Universalen Gravitation besagt, daß zwischen allen Körpern des Universums eine Anziehungskraft besteht, und die Kraft, mit der sich zwei Körper anziehen, proportional ist dem Produkt ihrer Massen geteilt durch das Quadrat ihrer Entfernung voneinander.« »Ist das alles?« »Das reicht! Es hat vierhundert Jahre gedauert, das herauszufinden.« »Warum so lange? Es klingt doch ziemlich einfach, so wie Sie es gerade gesagt haben.« »Weil sich große Gesetze nicht durch Geistesblitze erkennen lassen, wie Sie vielleicht glauben. Es erfordert gewöhnlich die gemeinsame Arbeit einer Welt voll Wissenschaftler über einen Zeitraum von Jahrhunderten. Nachdem Genovi 41 entdeckte, daß sich Lagash um die Sonne Alpha dreht und nicht umgekehrt und das war vor vierhundert Jahren – haben sich die Astronomen an die Arbeit gemacht. Die komplexen Bewegungen der sechs Sonnen wurden aufgezeichnet, analysiert und entworren. Eine Theorie nach der anderen wurde entwickelt und überprüft und gegengeprüft und abgeändert und verworfen und wieder neu aufgegriffen und in etwas anderes umgewandelt. Es war eine Heidenarbeit.« 58
Theremon nickte nachdenklich und hielt Sheerin dann sein Glas hin. Zähneknirschend gab der Psychologe ein paar rote Tropfen aus der Flasche frei. »Vor zwanzig Jahren«, fuhr er fort, nachdem er sich auch noch einmal die Kehle angefeuchtet hatte, »wurde dann endgültig bewiesen, daß sich mit dem Gesetz der Universalen Gravitation die Bahnbewegungen der sechs Sonnen exakt erklären lassen. Es war ein großer Triumph.« Sheerin stand auf und ging zum Fenster, wobei er die Flasche nicht aus der Hand gab. »Und nun kommen wir zum Kern der Sache. In den letzten zehn Jahren wurden die Bewegungen Lagashs um Alpha nach der Gravitation berechnet, und sie erklärte nicht die beobachtete Bahn; selbst dann nicht, als alle Perturbationen durch die anderen Sonnen miteinbezogen wurden. Entweder war das Gesetz ungültig, oder es spielte noch ein weiterer, bisher unbekannter Faktor mit.« Theremon gesellte sich zu Sheerin ans Fenster und starrte hinaus über die baumbestandenen Hänge auf den Horizont, wo die Türme von Saro City in ein blutiges Licht getaucht waren. Der Reporter fühlte, wie die Spannung der Unsicherheit in ihm wuchs, als er einen flüchtigen Blick auf Beta warf. Sie glühte rötlich im Zenit, geschrumpft und böse. »Fahren Sie fort, Sir«, sagte er leise. »Die Astronomen rätselten Jahre herum, und jede Theorie, mit der sie kamen, war unhaltbarer als die vorhergehende – bis Aton die Eingebung hatte, den Kult zur Hilfe zu ziehen. Der Führer des Kults, Sor 5, hatte
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Zugang zu gewissen Informationen, die das Problem beträchtlich vereinfachten. Aton begann, an einer neuen Spur zu arbeiten. Was war, wenn es nun einen anderen nicht leuchtenden Planetenkörper wie Lagash gab? Wenn dies so war, würde er nur durch reflektiertes Licht scheinen, und wenn er aus bläulichen Felsen bestehen würde, wie der größte Teil von Lagash, dann würde ihn die Röte des Himmels, das ewige Licht der Sonnen, unsichtbar machen – ihn völlig überdecken.« Theremon stieß einen Pfiff aus. »Was für eine verrückte Idee.« »Das halten Sie für verrückt? Dann hören Sie sich das hier mal an: Angenommen, dieser Himmelskörper würde in der und der Entfernung und auf der und der Bahn um Lagash kreisen und besäße eine solche Masse, daß sich durch seine Anziehungskraft die Abweichungen der Umlaufbahn Lagashs von der Theorie erklären ließen – wissen Sie, was passieren würde? Nun, manchmal würde dieser Körper in den Weg einer Sonne kommen.« Sheerin leerte in einem Zug, was noch in der Flasche war. »Was der Fall ist, wie ich annehme«, bemerkte Theremon tonlos. »Ja! Aber es liegt nur eine Sonne in seiner Umlaufebene.« Er ruckte mit dem Daumen in Richtung der eingeschrumpften Sonne über ihnen. »Beta! Und es ist bewiesen worden, daß die Eklipse nur auftritt, wenn die Anordnung der Sonnen so ist, daß Beta allein in ihrer 60
Hemisphäre und in maximaler Entfernung ist, zu welchem Zeitpunkt der Mond unveränderlich im geringsten Abstand steht. Die daraus resultierende Eklipse, wobei der Durchmesser des Mondes siebenmal so groß ist wie der sichtbare von Beta, erstreckt sich über ganz Lagash und dauert über einen halben Tag, so daß keine Stelle auf dem Planeten dem Effekt entgeht. Diese Eklipse kommt einmal alle zweitausendneunundvierzig Jahre vor.« Theremons Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske verzogen. »Und das ist meine Geschichte?« Der Psychologe nickte. »Das ist alles. Zuerst die Eklipse – die in einer Dreiviertelstunde einsetzen wird – dann die weltweite Fin sternis und, vielleicht, diese mysteriösen Sterne – dann Wahnsinn und das Ende des Zyklus'.« Er runzelte die Stirn. »Wir hatten einen Spielraum von zwei Monaten – wir im Observatorium – und das war nicht genug Zeit, um Lagash von der Gefahr zu überzeugen. Vielleicht wären noch nicht einmal zweihundert Jahre genug gewesen. Aber unsere Aufzeichnungen befinden sich im Versteck, und heute photographieren wir die Eklipse. Der nächste Zyklus wird direkt mit der Wahrheit beginnen, und wenn dann die nächste Eklipse kommt, wird die Menschheit endlich darauf vorbereitet sein. Übrigens, auch das gehört zu Ihrer Geschichte.« Ein leiser Wind fuhr durch die Vorhänge am Fenster, als Theremon es öffnete und sich hinauslehnte. Der Wind spielte kalt in seinen Haaren, während Sheerin auf das blutig rote Sonnenlicht auf seiner Hand starrte. »Wie könnte mich Finsternis in den Wahnsinn treiben?«
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Sheerin lächelte vor sich hin, während er die leere Flasche mit zerstreuten Bewegungen kreisen ließ. »Haben Sie denn schon jemals Finsternis erlebt, junger Mann?« Der Reporter lehnte sich gegen die Wand und dachte nach. »Nein. Das habe ich nicht. Aber ich weiß, wie es ist. Einfach – eh –« Er fuchtelte mit den Fingern herum, dann hellte sich seine Miene auf. »Einfach kein Licht. Wie in einer Höhle.« »Sind Sie schon mal in einer Höhle gewesen?« »In einer Höhlei Natürlich nicht!« »Das habe ich mir gedacht. Ich habe es letzte Woche versucht nur um zu sehen, wie es ist – und bin auf dem schnellsten Weg wieder raus. Ich bin soweit hineingegangen, bis der Höhleneingang nur noch als undeutlicher Lichtfleck zu sehen und sonst alles schwarz war. Ich hätte nie gedacht, daß jemand mit meinem Gewicht so schnell laufen könnte.« Theremon kräuselte die Lippen. »Also, was das betrifft, glaube ich kaum, daß ich gelaufen wäre, wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre.« Der Psychologe studierte den jungen Mann mit verärgertem Stirnrunzeln. »Mein Gott, spucken Sie nicht so große Töne! Sie trauen sich ja nicht, den Vorhang vorzuziehen.« Theremon sah ihn überrascht an. »Wozu? Wenn wir vier oder fünf Sonnen da draußen hätten, dann könnte ich es ja verstehen, damit es nicht ganz so hell ist, aber jetzt haben wir ja noch nicht mal genug Licht.«
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»Genau darum geht es. Ziehen Sie den Vorhang vor, und dann kommen Sie her und setzen sich.« »Von mir aus.« Theremon griff nach der Schnur mit dem Quast und zog daran. Der rote Vorhang glitt vor das breite Fenster, wobei die Metallringe schnarrend über die Querstange rutschten und sich eine dämmrig-rote Dunkelheit über den Raum legte. Theremons Schritte klangen hohl in der Stille, als er sich auf den Weg zurück zum Tisch machte und dann auf halber Strecke stehenblieb. »Ich kann Sie nicht sehen, Sir«, flüsterte er. »Dann ertasten Sie sich Ihren Weg«, befahl Sheerin gezwungen. »Aber ich kann Sie nicht sehen, Sir.« Der Reporter atmete hart. »Ich kann überhaupt nichts sehen.« »Was haben Sie denn erwartet?« kam die verbissene Antwort. »Kommen Sie her und setzen Sie sich!« Wieder erklangen die Schritte, zögernd kamen sie langsam näher. Dann konnte man hören, wie sich jemand mit einem Stuhl zu schaffen machte. »Da bin ich«, kam dünn Theremons Stimme. »Ich bin … okay.« »Es gefällt Ihnen, oder?« »N-nein. Es ist verdammt schrecklich. Die Wände scheinen –« Er brach ab. »Sie scheinen auf mich zuzukommen. Ich meine, ich müßte sie zurückdrücken. Aber ich werde nicht verrückt! Eigentlich ist es jetzt schon gar nicht mehr so schlimm wie am Anfang.« »Schön. Ziehen Sie die Vorhänge wieder auf.«
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Vorsichtige Schritte waren im Dunkeln zu hören, dann das Rascheln von Theremon, wie er den Vorhang streifte, als er nach der Schnur tastete, und schließlich das triumphierende Rauschen des zurückgleitenden Vorhangs. Rotes Licht flutete in den Raum, und mit einem Freudenschrei sah Theremon zu der Sonne hinauf. Sheerin wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Und das war nur ein dunkler Raum«, meinte er mit bebender Stimme. »Es läßt sich aushalten«, gab Theremon leichthin zurück. »Ja, ein dunkler Raum schon. Sagen Sie, sind Sie auf der Jonglor Jahrhundertausstellung vor zwei Jahren gewesen?« »Nein, dazu bin ich nicht gekommen. Sechstausend Meilen war doch ein bißchen weit, selbst für diese Ausstellung.« »Nun, ich bin dort gewesen. Können Sie sich an den ›Geheimnisvollen Tunnel‹ erinnern, der alle Rekorde auf dem Vergnügungsplatz gebrochen hat – zumindest im ersten Monat?« »Ja. Hat es damit nicht Theater gegeben?« »Alles wurde mehr oder weniger vertuscht. Dieser ›Geheimnisvolle Tunnel‹ war einfach ein Tunnel von einer Meile Länge ohne Licht. Man stieg in einen kleinen offenen Wagen und wurde fünfzehn Minuten lang durch Finsternis kutschiert. Es war sehr beliebt – solange es bestand.« »Beliebt?«
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»Natürlich. Es geht eine Faszination von dem Gefühl aus, Angst zu haben, wenn es zu einem Spiel gehört. Ein Baby wird mit drei instinktiven Ängsten geboren: vor lauten Geräuschen, vor dem Fallen und vor dem Fehlen von Licht. Deshalb findet man es auch so spaßig, auf jemanden zuzuspringen und ›Buh!‹ zu rufen. Deshalb macht es auch so viel Vergnügen, mit der BergundTalbahn zu fahren. Und deshalb war der ›Geheimnisvolle Tunnel‹ auch so ein Bombengeschäft. Die Leute kamen zitternd, atemlos und halb tot vor Angst wieder aus jener Finsternis heraus, aber trotzdem bezahlten sie weiter, um hineinzukommen.« »Warten Sie mal, jetzt erinnere ich mich. Ein paar Leute kamen tot heraus, nicht? Es sind jedenfalls solche Gerüchte kursiert, nachdem der Laden dicht machte.« Der Psychologe schnaubte verächtlich. »Pah! Zwei oder drei sind gestorben. Das war nichts! Sie haben die Familien der Toten ausbezahlt und den Stadtrat von Jonglor dazu überredet, die Angelegenheit zu vergessen. Schließlich, argumentierten sie, geschähe es auf eigene Gefahr, wenn Leute mit einem schwachen Herzen unbedingt durch den Tunnel wollten – und außerdem würde so etwas nicht wieder vorkommen. Sie setzten also einen Arzt in das Eingangsbüro, und jeder Besucher mußte sich einer körperlichen Untersuchung unterziehen, bevor er in den Wagen durfte. Und das trieb dann die Besucherzahlen erst recht in die Höhe.« »Und dann?« »Sehen Sie, es kam noch etwas anderes hinzu. Leute kamen manchmal völlig normal wieder heraus, nur daß sie 65
sich plötzlich weigerten, Gebäude zu betreten – ganz gleich, welche Art von Gebäuden, ob Paläste, Villen, Miets- oder Einfamilienhäuser, Hütten, Scheunen, Schuppen oder Zelte.« Theremon sah ihn entsetzt an. »Sie meinen, sie weigerten sich, aus dem Freien zu gehen? Wo haben sie denn geschlafen?« »Im Freien.« »Man hätte sie nach drinnen zwingen sollen.« »Oh, das hat man getan, das hat man getan. Worauf dieselben Leute die schlimmsten hysterischen Anfälle bekamen und mit aller Gewalt versuchten, sich den Kopf an der nächsten Wand einzuschlagen. In geschlossenen Räumen waren sie nur mit einer Zwangsjacke oder einer starken Dosis von Beruhigungsmitteln friedlich zu halten.« »Sie müssen verrückt gewesen sein.« »Genau das waren sie. Einer von zehn, die in diesen Tunnel fuhren, kam so wieder heraus. Man rief die Psychologen zu Hilfe, und wir haben das einzig Mögliche getan. Nämlich das Ding geschlossen.« Er breitete die Hände aus. »Was war denn mit diesen Leuten los?« fragte Theremon schließlich. »Im Grunde genau das gleiche, was mit Ihnen los war, als Sie dachten, daß die Wände Sie im Dunkeln erdrücken würden. Es gibt einen psychologischen Ausdruck für die instinktive Angst des Menschen vor dem Fehlen von Licht. Wir nennen es ›Klaustrophobie‹, weil das Fehlen von Licht immer mit geschlossenen Räumen verbunden ist, so daß 66
die Angst vor dem einen auch die Angst vor dem anderen ist. Verstehen Sie?« »Und diese Leute aus dem Tunnel?« »Diese Leute aus dem Tunnel waren jene Unglücklichen, die geistig nicht die Widerstandskraft besaßen, die Klaustrophobie zu überwinden, die sie in der Finsternis überkam. Fünfzehn Minuten ohne Licht ist eine lange Zeit; bei Ihnen waren es eben nur zwei oder drei Minuten, und ich glaube, Sie waren doch ziemlich durcheinander. Die Leute aus dem Tunnel hatten eine sogenannte ›klaustrophobische Zwangsvorstellung‹. Ihre latente Angst vor Finsternis und geschlossenen Räumen hatte sich manifestiert und war aktiv und, soweit wir sagen können, permanent geworden. Das passiert, wenn Sie fünfzehn Minuten im Dunkeln sind.« Es trat eine lange Pause ein, und Theremons Stirn zog sich langsam zu einem Runzeln zusammen. »Ich glaube nicht, daß es so schlimm ist.« »Sie meinen, Sie wollen es nicht glauben«, fauchte Sheerin. »Sie haben Angst, es zu glauben. Sehen Sie aus dem Fenster!« Theremon gehorchte, und der Psychologe fuhr ohne Unterbrechung fort. »Stellen Sie sich Finsternis vor – überall. Kein Licht, soweit Sie sehen können. Die Häuser, Bäume, Felder, die Erde, der Himmel – schwarz! Und dann auf einmal die Sterne, oder was weiß ich – was immer das auch sein mag. Können Sie sich das vorstellen?« »Ja, kann ich«, erklärte Theremon aufsässig. 67
Sheerin schlug in einer plötzlichen Wut mit der Faust auf den Tisch. »Sie lügen! Das können Sie sich nicht vorstellen. Ihr Gehirn ist genauso wenig für diese Vorstellung ausgelegt wie für die der Unendlichkeit oder Ewigkeit. Sie können nur darüber sprechen. Ein Bruchteil der Realität bringt Sie schon aus der Fassung, und wenn es dann wirklich ernst wird, steht Ihr Gehirn vor einem Phänomen, das über seine Fassungskraft hinausgeht. Sie werden wahnsinnig werden, total und für immer! Daran besteht kein Zweifel!« Betrübt fügte er hinzu: »Und wieder sind ein paar tausend Jahre mühevoller Anstrengungen umsonst. Morgen wird keine Stadt auf ganz Lagash mehr unbeschädigt stehen.« Theremon gelang es, einen Teil seines geistigen Gleichgewichts zurückzufinden. »Das leuchtet mir nicht ein. Ich kann immer noch nicht begreifen, daß ich verrückt werden soll, nur weil keine Sonne mehr am Himmel ist – aber selbst wenn ich verrückt würde und alle anderen auch, was hat das mit den Städten zu tun? Sollen wir sie vielleicht in die Luft jagen?« Sheerin war jetzt ebenfalls wütend. »Wenn Sie im Finstern wären, was würden Sie mehr als alles andere wollen; wonach würde jeder Instinkt in Ihnen rufen? Nach Licht, verdammt noch mal, nach Licht!« »Und?« »Und woher würden Sie Licht bekommen?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Theremon tonlos.
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»Was ist der einzige Weg, Licht zu bekommen, außer durch eine Sonne?« »Woher soll ich das wissen?« Sie standen sich jetzt Gesicht an Gesicht und Nase an Nase gegenüber. »Indem Sie etwas verbrennen«, fuhr Sheerin fort. »Haben Sie schon mal einen Waldbrand gesehen? Sind Sie schon mal zelten gewesen und haben über einem Holzfeuer gekocht? Wärme ist nicht das einzige, was brennendes Holz abgibt. Es gibt auch Licht ab, und das wissen die Leute. Und wenn es dunkel ist, wollen sie Licht, und das werden sie sich holen.« »Also verbrennen sie Holz?« »Sie werden alles verbrennen, was ihnen in die Hände kommt. Sie müssen Licht haben. Sie müssen etwas verbrennen, und Holz ist nicht bei der Hand – also werden sie verbrennen, was gerade greifbar ist. Sie werden ihr Licht bekommen – und jede Ansiedlung wird in Flammen aufgehen!« Jeder hielt den Blick des anderen fest, als ob das Ganze eine persönliche Sache respektiver Willenskraft sei, bis sich Theremon dann wortlos abwandte. Sein Atem ging hart und unregelmäßig, und er bemerkte kaum den Tumult, der aus dem angrenzenden Raum durch die geschlossene Tür hereindrang. Als Sheerin jetzt wieder das Wort ergriff, hatte er Mühe, seine Stimme sachlich klingen zu lassen. »Ich glaube, ich habe Yimots Stimme gehört. Er und Faro werden
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wahrscheinlich zurück sein. Gehen wir hinüber und hören uns an, was sie aufgehalten hat.« »Von mir aus!« murmelte Theremon. Er holte tief Luft und schien sich zu schütteln. Die Spannung war gebrochen. Der Raum war in Aufruhr, und die Mitglieder des Kollegiums standen um zwei junge Männer herum, die gerade ihre Überkleidung auszogen, während sie gleichzeitig die verschiedenen Fragen parierten, die ihnen zugerufen wurden. Aton schob sich durch die Menge und stellte sich zornig vor die Neuankömmlinge. »Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß es keine halbe Stunde mehr bis zum entscheidenden Augenblick ist? Wo sind Sie gewesen?« Faro 24 setzte sich und rieb sich die Hände. Seine Wangen waren von der Kälte draußen gerötet. »Yimot und ich haben eben ein eigenes kleines verrücktes Experiment durchgeführt. Wir wollten sehen, ob wir nicht etwas zusammenbasteln konnten, wodurch wir das Phänomen der Finsternis und der Sterne simulieren konnten, um im voraus einen Eindruck zu bekommen, wie es aussehen würde.« Unter den Zuhörern wurde verwirrtes Gemurmel laut, und in Atons Augen trat plötzlich ein interessierter Ausdruck. »Davon haben Sie vorher nichts erwähnt. Wie haben Sie es angefangen?« »Nun«, erklärte Faro, »die Idee ist Yimot und mir schon vor langem gekommen, und in unserer freien Zeit haben wir sie ausgearbeitet. Yimot wußte ein niedriges, 70
einstöckiges Gebäude in der Stadt mit einem Kuppeldach – ich glaube, es ist früher mal ein Museum gewesen. Jedenfalls, wir haben es gekauft …« »Woher hatten Sie das Geld?« unterbrach ihn Aton bestimmt. »Von unseren Bankkonten«, antwortete Yimot 70. »Es kostete zweitausend Credits.« Dann fügte er verteidigend hinzu: »Was soll's schon? Morgen sind zweitausend Credits nur noch zweitausend Fetzen Papier. Mehr nicht.« »Genau«, pflichtete ihm Faro bei. »Wir haben das Haus also gekauft und es vom Boden bis zur Decke mit schwarzem Samt ausgeschlagen, um eine so perfekte Finsternis wie möglich zu bekommen. Dann haben wir kleine Löcher in die Decke und durch das Dach gestoßen und sie mit kleinen Metallkappen abgedeckt, die durch das Drücken eines Schalters alle gleichzeitig zur Seite geschoben werden konnten. Das haben wir allerdings nicht selbst gemacht; wir haben einen Zimmermann, einen Elektriker und ein paar andere Handwerker damit beauftragt – Geld spielte ja keine Rolle. Worum es uns ging, war, daß Licht durch die Löcher im Dach fiel, so daß wir einen sternenähnlichen Effekt hatten.« In der anschließenden Pause herrschte atemloses Schweigen. »Sie hatten kein Recht, ein privates …« begann Aton steif. Faro schien verlegen. »Ich weiß, Sir – aber offengestanden hielten Yimot und ich das Experiment für etwas gefährlich. Wenn der beabsichtigte Effekt eintrat, rechneten wir halb damit, verrückt zu werden – nach dem,
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was Sheerin dazu sagt, hielten wir es für ziemlich wahrscheinlich. Wir wollten das Risiko allein eingehen. Natürlich haben wir uns überlegt, daß wir, wenn wir bei dem Experiment nicht wahnsinnig wurden, vielleicht eine Art Immunität gegen das tatsächliche Ereignis entwickeln und die übrigen von uns dann dem gleichen Versuch unterziehen konnten. Nur hat das Ganze dann nicht geklappt …« »Was ist denn passiert?« Es war Yimot, der die Antwort übernahm. »Wir haben uns eingeschlossen und gewartet, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es ist ein ganz schön ekelhaftes Gefühl, denn in der totalen Finsternis hat man den Eindruck, als ob die Wände und die Decke einen erdrücken. Aber wir haben es ausgehalten und schließlich den Schalter gedrückt. Die Kappen fielen zur Seite, und überall im Dach glitzerten kleine Lichtpunkte …« »Und?« »Und – nichts. Das war ja gerade das Verrückte. Nichts passierte. Es war einfach ein Dach mit Löchern, und genauso hat es auch ausgesehen. Wir haben es immer wieder versucht – deshalb sind wir auch so spät gekommen –, aber es hat nicht den geringsten Effekt gehabt.« Es folgte entsetztes Schweigen, und alle Augen richteten sich auf Sheerin, der regungslos und mit offenem Mund dasaß. Theremon war der erste, der seine Sprache wiederfand. »Sie wissen, was das für diese Theorie bedeutet, die Sie aufgestellt haben, Sheerin, nicht?« Er grinste erleichtert. 72
Sheerin hob die Hand. »Jetzt warten Sie mal einen Augenblick. Lassen Sie mich überlegen.« Dann schnippte er mit den Fingern, und als er den Kopf hob, lag weder Überraschung noch Unsicherheit in seinen Augen. »Natürlich …« Er kam nicht dazu, auszuführen, was er hatte sagen wollen. Von irgendwo über ihnen war plötzlich ein scharfes Klirren zu hören, worauf Beenay aufsprang und mit einem »Was zum Teufel ist denn da los?« die Treppe hinaufstürzte. Die anderen folgten ihm. Die Ereignisse überstürzten sich. Sobald er die Kuppel erreicht hatte, erfaßte Beenay mit einem entsetzten Blick die zerbrochenen Photoplatten und den Mann, der sich über sie beugte; und dann stürzte er sich voll Wut auf den Eindringling und ging ihm mit einem mörderischen Griff an die Kehle. Ein wildes Gerangel entstand, und nachdem andere aus dem Kollegium zu Hilfe kamen, wurde der Fremde unter dem Gewicht eines halben Dutzends aufgebrachter Männer begraben und fast erdrückt. Aton kam als letzter hoch. Er atmete schwer. »Laßt ihn los!« Zögernd lösten sich die Männer von dem Fremden, der, keuchend, mit zerrissenen Sachen und zerschrammter Stirn, auf die Füße gerissen wurde. Er trug einen kurzen, flachsfarbenen Bart, der kunstvoll in der Mode onduliert war, wie sie die Kultanhänger bevorzugten. Beenay lockerte seinen Griff, packte den Mann statt dessen am Kragen und schüttelte ihn hin und her. »So, du 73
Dreckskerl, und jetzt verrat uns mal, was das Ganze soll. Diese Platten …« »Auf sie hatte ich es nicht abgesehen«, gab der Kultanhänger kalt zurück. »Das war ein Unfall.« Beenay folgte seinem finsteren Blick und zischte dann: »Ich verstehe. Sie hatten es auf die Kameras abgesehen. Dann können Sie von Glück sagen, daß Ihnen das mit den Platten passiert ist. Wenn Sie die Schnappschuß-Bertha oder eine der anderen angefaßt hätten, wären Sie eines langsamen Foltertodes gestorben. So dagegen …«Er holte mit der Faust aus. Aton schnappte ihn beim Ärmel. »Schluß damit! Lassen Sie ihn los!« Der junge Techniker zögerte, dann ließ er den Arm widerwillig sinken. Aton schob ihn zur Seite und stellte sich vor den Kultanhänger. »Sie sind Latimer, nicht?« Der Kultanhänger verbeugte sich förmlich und deutete auf das Symbol an seiner Hüfte. »Ich bin Latimer25, Adjutant Seiner Durchlaucht, Sor5.« »Sie sind doch« – Atons weiße Augenbraue hob sich – »bei Seiner Durchlaucht gewesen, als er mich letzte Woche besucht hat, oder?« Latimer verbeugte sich ein zweites Mal. »Schön, also was wollen Sie?« »Nichts, das Sie mir freiwillig geben würden.« »Sor'5 hat Sie geschickt, nehme ich an – oder war es Ihre eigene Idee?« »Auf diese Frage antworte ich nicht.« 74
»Werden noch weitere Besucher kommen?« »Auch darauf gebe ich keine Antwort.« Aton sah auf seine Uhr. »So, Mann«, meinte er mit finsterer Miene, »was will Ihr Meister von mir? Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt.« Latimer lächelte leise, sagte aber nichts. »Ich habe ihn um Informationen gebeten«, fuhr Aton zornig fort, »die mir nur der Kult geben konnte, und diese habe ich bekommen. Dafür sage ich vielen Dank. Als Gegenleistung habe ich versprochen, zu beweisen, wie wahr der Glauben des Kults ist.« »Dies zu beweisen, bestand keine Notwendigkeit«, kam die stolze Antwort. »Es steht im Buch der Offenbarungen bewiesen.« »Ja, für die paar, die den Kult bilden. Geben Sie nicht vor, Sie wüßten nicht, was ich damit meine. Ich habe Ihnen angeboten, Ihren Glauben wissenschaftlich zu untermauern. Und das habe ich getan!« Die Augen des Kultanhängers verengten sich verbittert. »Ja, das haben Sie – mit der Schläue eines Fuchses, denn Ihre angebliche Erklärung untermauerte zwar unseren Glauben, nahm ihm aber gleichzeitig jede Notwendigkeit. Sie machten die Finsternis und die Sterne zu einem Naturereignis und nahmen ihr ihre wirkliche Bedeutung. Das war Blasphemie.« »Wenn das so ist, ist es nicht meine Schuld. Die Fakten existieren nun einmal. Was anders kann ich tun, außer sie festzustellen und zu nennen?« »Ihre ›Fakten‹ sind nichts als Betrug und Täuschung.« 75
Aton stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Woher wollen Sie das wissen?« Und die Antwort kam mit der Sicherheit des bedingungslosen Glaubens. »Ich weiß es!« Der Direktor lief rot an, und Beenay redete flüsternd auf ihn ein, doch Aton brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Und was erwartet Sor 5 nun von uns? Er denkt wohl immer noch, daß wir unzählige Seelen in Gefahr bringen, indem wir versuchen, die Welt zu warnen und sie zu veranlassen, Maßnahmen gegen die Gefahr des Wahnsinns zu ergreifen. Es ist uns nicht gelungen, wenn ihn das beruhigt.« »Der Versuch an sich hat schon genug Schaden angerichtet, und Ihre verderbten Bemühungen, mit Hilfe Ihrer teuflischen Instrumente Informationen zu bekommen, müssen gestoppt werden. Wir folgen dem Willen der Sterne, und ich bedaure nur, daß ich durch meine eigene Ungeschicklichkeit daran gehindert worden bin, Ihre Teufelsgeräte zu vernichten.« »Es hätte Ihnen nicht viel genützt«, gab Aton zurück. »Unsere sämtlichen Informationen, ausgenommen der direkten Beweise, die wir jetzt sammeln wollen, sind in sicherer Verwahrung, so daß ihnen nichts passieren kann.« Er lächelte verbissen. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß Sie hier eingebrochen und damit ein Krimineller sind.« Er wandte sich an die Männer hinter ihm. »Jemand soll die Polizei rufen.«
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Sheerin mischte sich entrüstet ein. »Verdammt, Aton, was ist los mit Ihnen? Für so was haben wir jetzt keine Zeit. Kommen Sie …« er schob sich zu ihm vor – »lassen Sie mich das übernehmen.« Aton starrte über seine Nase auf den Psychologen. »Wir haben jetzt keine Zeit für Ihre Narreteien, Sheerin. Ich möchte Sie bitten, mich die Angelegenheit auf meine Weise regeln zu lassen. Im Augenblick sind Sie hier nur ein Außenstehender, bitte vergessen Sie das nicht.« Sheerin verzog vielsagend den Mund. »Warum sollten wir uns derart viel Umstände machen und die Polizei rufen – wo es nur noch Minuten bis zu Betas Eklipse sind –, wenn dieser junge Mann hier bereit ist, uns sein Ehrenwort zu geben, daß er hierbleibt und uns keinen Ärger macht?« »Das werde ich nicht tun«, meldete sich der Kultanhänger sofort. »Es steht Ihnen frei, zu tun, was Sie wollen, aber ich halte es nur für recht und billig, Sie darauf hinzuweisen, daß ich versuchen werde, das zu Ende zu bringen, weswegen ich hergekommen bin, sobald sich mir eine Chance dazu bietet. Wenn Sie sich auf mein Ehrenwort verlassen wollen, rufen Sie besser die Polizei.« Sheerin lächelte liebenswürdig. »Sie sind ein ganz schön entschlossener Bursche, was? Passen Sie auf, ich möchte Ihnen etwas erklären. Sehen Sie diesen jungen Mann da am Fenster? Er ist ein starker, kräftiger Bursche, der ganz gut mit seinen Fäusten umzugehen weiß, und außerdem ist er ein Außenstehender. Sobald die Eklipse beginnt, wird es für ihn nichts weiter zu tun geben, als ein Auge auf Sie zu halten. Und ich bin auch noch da vielleicht ein bißchen
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schwerfällig, um aktiv mitzumischen, aber helfen kann ich ihm trotzdem.« »Und?« wollte Latimer eisig wissen. »Hören Sie zu, dann werde ich es Ihnen erklären. Sobald die Eklipse beginnt, werden Theremon und ich Sie in einen kleinen Abstellraum mit nur einer Tür verfrachten, der keine Fenster, aber dafür ein riesiges Schloß hat. Und dort werden Sie für die Dauer der Eklipse bleiben.« »Und hinterher«, stieß Latimer heftig hervor, »wird niemand mehr da sein, der mich herausläßt. Ich weiß ebenso gut wie Sie, was das Erscheinen der Sterne bedeutet – ich weiß es viel besser als Sie. Wenn Sie alle Ihren \ erstand verloren haben, werden Sie mich kaum wieder herauslassen. Ich werde ersticken oder langsam verhungern, nicht? Genau das, was ich von einer Gruppe Wissenschaftler hätte erwarten können. Aber ich gebe Ihnen mein Wort nicht. Es ist eine Prinzipsache, und ich möchte nicht weiter darüber diskutieren.« Aton schien verstört, und in seinen Augen spiegelte sich Besorgnis. »Also wirklich, Sheerin, Sie können doch nicht …« »Bitte!« Sheerin bedeutete ihm ungeduldig, zu schweigen. »Ich glaube nicht einen Moment, daß es soweit kommen wird. Latimer hat gerade einen cleveren kleinen Bluff versucht, aber ich bin ja nicht Psychologe, nur weil mir der Name so gut gefällt.« Er sah den Kultanhänger grinsend an. »Kommen Sie, Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich so grausam sein könnte und Sie langsam verhungern lassen würde. Mein lieber Latimer, wenn ich 78
Sie im Abstellraum einsperren würde, dann würden Sie die Finsternis nicht sehen, und Sie würden die Sterne nicht sehen. Man braucht nicht viel über den fundamentalen Glauben des Kults zu wissen, um zu verstehen, daß es für Sie den Verlust Ihrer unsterblichen Seele bedeuten würde, wenn Sie die Sterne nicht sehen könnten, sobald sie sich zeigen. Nun, ich halte Sie für einen ehrenhaften Mann. Ich nehme Ihr Ehrenwort an, keinen weiteren Versuch mehr zu unternehmen, die Handlungen hier zu behindern, wenn Sie es geben.« An Latimers Schläfe klopfte eine Ader, und er schien in sich zusammenzufallen, als er mit belegter Stimme sagte: »Sie haben es! Aber«, fügte er in plötzlicher Wut hinzu, »es ist mir ein Trost, daß Sie alle für Ihre heutigen Taten verdammt werden.« Er machte auf dem Absatz kehrt und stakste hinüber zu dem hohen, dreibeinigen Stuhl an der Tür. Sheerin nickte dem Reporter zu. »Setzen Sie sich neben ihn, Theremon – nur rein formell. Hey, Theremon!« Doch der Kolumnist rührte sich nicht. Er war bis zu den Lippen blaß geworden. »Sehen Sie da!« Mit zitterndem Finger deutete er auf den Himmel, und seine Stimme war trocken und brüchig. Allen stockte der Atem, als sie dem ausgestreckten Finger folgten, und für einen atemlosen Augenblick waren sie wie erstarrt. Bei Beta fehlte ein Stück an einer Seite! Das winzige schwarze Stück, das aus der Sonne herausgefressen war, hatte etwa die Größe eines 79
Fingernagels, aber in den Augen der entsetzten Betrachter wurde es zu einem Fanal ähnlich den Posaunen des Jüngsten Gerichts. Sie sahen nur einen Augenblick hin, danach entstand ein wildes Durcheinander, das noch kürzer dauerte und sich dann in hastige Aktivität verwandelte – jeder eilte an den ihm zugewiesenen Posten. Im entscheidenden Augenblick war keine Zeit für Emotionen. Die Männer waren jetzt Wissenschaftler, die eine Aufgabe hatten. Sogar Aton hatte sich verflüchtigt. »Der erste Kontakt muß vor fünfzehn Minuten stattgefunden haben«, erklärte Sheerin prosaisch. »Ein bißchen früh, aber trotzdem ganz gut, wenn man die Unsicherheiten in der Berechnung berücksichtigt.« Er blickte sich um und kam dann auf Zehenspitzen auf Theremon zu, der noch immer vor dem Fenster stand und hinausstarrte. Sheerin zog ihn sanft beiseite. »Aton ist wütend«, flüsterte er, »also bleiben Sie lieber da weg. Wegen diesem Durcheinander mit Latimer hat er den ersten Kontakt verpaßt, und wenn Sie ihm jetzt in die Quere kommen, wird er Sie aus dem Fenster werfen lassen.« Theremon nickte knapp und setzte sich. Sheerin sah ihn überrascht an. »Teufel, Mann«, rief er, »Sie zittern ja.« »Wie?« Theremon leckte sich über seine trockenen Lippen und versuchte zu lächeln. »Ich fühle mich nicht besonders, und das ist eine Tatsache.«
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Der Blick des Psychologen wurde härter. »Sie werden doch nicht die Nerven verlieren?« »Nein!« schrie Theremon in einem Anflug von Gekränktheit. »Geben Sie mir eine Chance, ja? Ich habe diese ganze Faselei bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt – zumindest nicht alles. Geben Sie mir die Gelegenheit, mich an die Vorstellung zu gewöhnen. Sie hatten zwei Monate mehr Zeit dazu als ich.« »Da haben Sie recht«, erwiderte Sheerin nachdenklich. »Hören Sie! Haben Sie eine Familie – Eltern, Frau, Kinder?« Theremon schüttelte den Kopf. »Ich nehme an, Sie meinen das Versteck. Nein, darüber machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich habe nur eine Schwester, und die ist zweitausend Meilen weit weg. Ich weiß noch nicht einmal ihre genaue Adresse.« »Nun, und was ist mit Ihnen? Es bleibt Ihnen immer noch Zeit, sich dort hinzubegeben, und es ist sowieso jetzt einer zu wenig, weil ich weggegangen bin. Hier werden Sie doch nicht gebraucht, und Sie wären eine verdammt gute Ergänzung …« Theremon sah den anderen müde an. »Sie glauben, daß ich mir vor Angst bald in die Hose mache, nicht? Dann passen Sie mal auf, Mister, ich bin Reporter, und ich habe den Auftrag, eine Story zu schreiben. Und die werde ich auch schreiben.« Ein schwaches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Psychologen. »Ich verstehe. Berufsehre, ist es das?«
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»So könnte man es nennen. Mann, ich würde meinen rechten Arm für noch eine Flasche von diesem Zeug geben, und wenn sie nur halb so groß wäre wie die, die Sie hatten. Wenn je einer einen Schnaps gebraucht hat, dann bin ich es.« Er brach ab, weil Sheerin ihn heftig anstieß. »Hören Sie das? Machen Sie mal die Ohren auf!« Theremon folgte der Richtung, in die das Kinn des anderen wies, und sah den Kultanhänger, der, für alle sichtbar, das Gesicht dem Fenster zugewandt, mit einem Ausdruck wilder Erregung in einem Singsang vor sich hinmurmelte. »Was redet er da?« flüsterte der Kolumnist. »Er zitiert aus dem Buch der Offenbarungen, fünftes Kapitel«, erklärte Sheerin. »Seien Sie still und hören Sie zu«, setzte er eindringlich hinzu. Die Stimme des Kultanhängers war mit steigender Erregung lauter geworden: »Und in jenen Tagen geschah es, daß die Sonne Beta einsame Wache hielt am Himmel für eine immer längere Zeit, als sich die Umdrehungen vollzogen; bis die Zeit kam, als sie bei einer vollen halben Umdrehung allein, zusammengeschrumpft und kalt, auf Lagash herabschien. Und die Leute versammelten sich auf den öffentlichen Plätzen und Straßen, um den Anblick zu bereden und zu bestaunen, denn eine seltsame Niedergeschlagenheit hatte von ihnen Besitz ergriffen. Ihr Geist war getrübt und ihre Sprache wirr, denn die Seelen der Menschen erwarteten die Ankunft der Sterne. 82
Und in der Stadt Trigon, um die Mittagsstunde, erschien Vendret2 und sagte zu den Menschen von Trigon: ›Höret, ihr Sünder! Möget ihr auch der Rechtschaffenheit spotten, es kommt die Zeit der Abrechnung. Es nähert sich die Höhle, um Lagash zu verschlingen; ja, und alles, was darauf ist.‹ Und noch während er redete, kam die Höhle der Finsternis über Beta, so daß sie für ganz Lagash dem Blick entzogen war. Laut waren die Schreie der Menschen, als die Sonne verschwand, und groß die Angst um die Seele, die sie befiel. Und es geschah, daß die Finsternis der Höhle über Lagash fiel, und nirgends auf der ganzen Oberfläche von Lagash gab es mehr Licht. Die Menschen waren wie geblendet, und niemand konnte mehr seinen Nachbarn sehen, auch wenn er dessen Atem auf seinem Gesicht fühlte. Und in dieser Dunkelheit erschienen die Sterne, unzählige an der Zahl, zu den Klängen von Musik so wunderschön, daß die Blätter an den Bäumen verwundert ausriefen. Und in diesem Augenblick verließen die Seelen der Menschen ihre Körper, und die Seelenlosen wurden wie Tiere, ja, wie wilde Tiere, und sie strichen mit wilden Schreien durch die schwarzen Straßen der Städte von Lagash. Und dann kam von den Sternen das Himmlische Feuer auf Lagash herab, und wo es niederfiel, gingen die Städte
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von Lagash in Flammen auf, so daß vom Menschen und seinem Werk nichts mehr blieb. Dann –« Eine feine Veränderung war aus Latimers Tonfall herauszuhören. Seine Augen hatten sich nicht bewegt, aber irgendwie hatte er bemerkt, wie aufmerksam ihm die anderen beiden zuhörten. Mühelos, ohne dazwischen Atem zu holen, wechselte die Klangfarbe seiner Stimme und die Silben wurden flüssiger. Theremon starrte ihn überrascht an. Die Worte erschienen seltsam vertraut. Es war eine unbestimmbare Veränderung im Akzent eingetreten, eine kaum merkbare in der Betonung, mehr nicht – und doch war plötzlich kein Wort mehr von dem zu verstehen, was Latimer sagte. Sheerin lächelte schlau. »Er hat auf eine Sprache eines alten Zyklus' umgewechselt, wahrscheinlich auf ihre traditionelle des zweiten Zyklus'. Das ist die Sprache, in der das Buch der Offenbarungen ursprünglich geschrieben war.« »Es spielt keine Rolle; ich habe genug gehört.« Theremon schob seinen Stuhl zurück, und die Hände, mit denen er sich das Haar aus der Stirn strich, zitterten nicht mehr. »Ich fühle mich jetzt viel besser.« »Tatsächlich?« Sheerin schien leicht überrascht. »Ja. Ich hatte vorhin eine Heidenangst, als Sie mir von Gravitation und allem erzählten und ich dann sah, wie die Eklipse anfing. Es hätte mich fast geschafft. Aber das da« – er ruckte mit dem Daumen in Richtung des bärtigen Kultanhängers – »das ist genau so wie das, was mir mein 84
Kindermädchen früher immer erzählt hat. Über so etwas habe ich schon immer nur lachen können. Und jetzt lasse ich mir davon auch keine Angst machen.« Er holte tief Luft und meinte mit einer hektischen Fröhlichkeit: »Trotzdem, wenn ich weiter bei Verstand bleiben will, drehe ich besser meinen Stuhl vom Fenster weg.« »Ja, und Sie sollten lieber ein bißchen leiser sprechen«, erwiderte Sheerin. »Atons Kopf ist gerade aus diesem Kasten aufgetaucht, in den er ihn gesteckt hat, und der Blick, den er Ihnen zugeworfen hat, war tödlich.« Theremon verzog das Gesicht. »Den alten Knaben hatte ich glatt vergessen.« Betont vorsichtig drehte er seinen Stuhl vom Fenster weg, warf noch einen letzten Blick zurück und meinte dann: »Ich habe den Eindruck, daß es eine beträchtliche Immunität gegen den Sternenwahnsinn geben muß.« Der Psychologe antwortete nicht sofort. Beta war jetzt über ihren Zenit hinaus, und das Viereck des blutigroten Sonnenlichts, das das Fenster nachzeichnete, fiel jetzt in Sheerins Schoß. Er starrte nachdenklich auf seine dunkle Farbe, beugte sich dann vor und blinzelte in die Sonne hinein. Die fehlende Ecke in Betas Seite hatte sich weitergefressen und bedeckte jetzt ein Drittel der Kugel. Sheerin schüttelte sich, und als er sich wieder aufrichtete, war auf seinen rosigen Wangen nicht mehr ganz so viel Farbe wie vorher.
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Mit einem Lächeln, das fast entschuldigend wirkte, drehte auch Sheerin jetzt seinen Stuhl herum. »Es sind wahrscheinlich zwei Millionen Menschen in Saro City, die jetzt alle versuchen, dem Kult in einer einzigen gigantischen Erweckung beizutreten.« Ironisch fuhr er fort: »Für eine Stunde erlebt der Kult eine beispiellose Blüte, und ich schätze, sie werden versuchen, das nach Kräften auszunützen. Eh, was haben Sie eben gesagt?« »Genau das. Wie haben die Kultanhänger es überhaupt fertiggebracht, das Buch der Offenbarungen von einem Zyklus zum nächsten zu bewahren, und wie, auf Lagash, ist es eigentlich geschrieben worden? Es muß doch irgendeine Art von Immunität gegeben haben, denn wenn alle verrückt geworden wären, wer hätte das Buch dann schreiben können?« Sheerin sah den Reporter trübselig an. »Nun, junger Mann, darüber gibt es keine Augenzeugenberichte, aber wir haben ein paar verdammt gute Vorstellungen, was passiert ist. Sehen Sie, es gibt drei Gruppen von Leuten, auf die das Geschehen möglicherweise kaum eine Wirkung hat. Einmal die wenigen, die die Sterne überhaupt nicht sehen: die geistig Zurückgebliebenen oder diejenigen, die sich zu Beginn der Eklipse sinnlos betrinken und bis zu ihrem Ende in diesem Zustand bleiben. Die lassen wir einmal beiseite, weil es keine wirklichen Augenzeugen sind. Dann sind da die Kinder unter sechs, für die die Welt als Ganzes zu neu und fremd ist, als daß ihnen die Sterne und die Finsternis Angst machen könnten, denn es wären
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einfach zwei weitere Erscheinungen in einer Welt, die ohnehin voller Überraschungen steckt. Das verstehen Sie, nicht wahr?« Sein Gegenüber nickte unsicher. »Ich glaube schon.« »Und zu guter Letzt diejenigen, deren Verstand zu grobkörnig ist, als daß sie ein solches Ereignis völlig aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Die sehr Insensiblen würden kaum betroffen werden – zum Beispiel Leute wie einige unserer älteren Menschen oder von der Arbeit abgehärtete Bauern. Nun, die Kinder hätten flüchtige Erinnerungen, und das, plus das wirre, zusammenhanglose Gestammel der Halbverrückten, war dann die Basis für das Buch der Offenbarungen. Natürlich basierte das Buch in erster Linie auf dem Zeugnis derer, die am wenigsten als Historiker geeignet sind, das heißt Kinder und Verrückte, und wurde wahrscheinlich über die Zyklen hinweg immer wieder neu bearbeitet.« »Glauben Sie«, unterbrach ihn Theremon, »daß sie das Buch so über die Zyklen weitergegeben haben, wie wir es jetzt mit dem Geheimnis der Gravitation beabsichtigen?« Sheerin zuckte die Achseln. »Vielleicht, aber wie sie es tatsächlich machen, ist unwichtig. Sie machen es irgendwie. Worauf ich hinaus wollte, ist folgendes: Das Buch kann nur aus lauter Entstellungen bestehen, selbst wenn es auf Fakten basiert. Erinnern Sie sich zum Beispiel an das Experiment mit den Löchern im Dach, das Faro und Yimot probiert haben – und das danebenging?« »Ja.« 87
»Wissen Sie auch, warum es da …« Er brach ab und stand alarmiert auf, denn Aton kam heran. Sein Gesicht war eine verzerrte Maske der Bestürzung. »Was ist passiert?« Aton zog ihn beiseite, und Sheerin konnte fühlen, wie Atons Finger an seinem Ellbogen zuckten. »Nicht so laut!« Atons Stimme war leise und gepreßt. »Ich habe gerade über die Geheimleitung Nachricht vom Versteck bekommen.« »Sind sie in Schwierigkeiten?« unterbrach ihn Sheerin besorgt. »Nicht sie.« Aton betonte das Pronomen bedeutungsvoll. »Sie haben sich vor noch nicht allzu langer Zeit eingeschlossen und werden bis übermorgen versteckt bleiben. Sie sind in Sicherheit. Aber die Stadt, Sheerin – das reinste Schlachtfeld. Sie haben keine Vorstellung …«Er hatte Mühe, weiterzusprechen. »Ja?« zischte Sheerin ungeduldig. »Was ist damit? Nun sagen Sie es schon. Warum zittern Sie so?« Mißtrauisch fügte er hinzu: »Wie fühlen Sie sich?« Atons Augen blitzten zornig bei dieser Anspielung, doch dann nahmen sie wieder ihren alten, besorgten Ausdruck an. »Sie begreifen nicht. Die Kultanhänger sind aktiv geworden. Sie hetzen die Leute auf, das Observatorium zu stürmen – versprechen ihnen sofortigen Eingang in die Gnade, versprechen ihnen die Rettung ihrer Seelen, versprechen ihnen alles. Was sollen wir nur tun, Sheerin?« Der Psychologe senkte den Kopf und starrte lange gedankenverloren auf seine Schuhspitzen. Er klopfte sich 88
mit einem Knöchel ans Kinn, dann blickte er auf und meinte knapp: »Tun? Was gibt es da zu tun? Nichts, gar nichts. Wissen die Männer davon?« »Nein, natürlich nicht!« »Gut! Dann sorgen Sie dafür, daß es so bleibt. Wie lange noch bis zur Totalen?« »Nicht mehr ganz eine Stunde.« »Wir können nichts weiter tun, als auf unser Glück hoffen. Es dauert seine Zeit, eine wirklich anständige Menschenmenge auf die Beine zu stellen, und es dauert wieder, sie hierherzubringen. Wir sind gut fünf Meilen von der Stadt entfernt …« Er blickte zum Fenster hinaus und über die Hügel, wo unbebautes Ackerland von Gruppen weißer Häuser der Vorstadtsiedlungen abgelöst wurde; hinunter in die Ferne, wo die Metropole selbst als Schemen am Horizont lag – ein Dunst im abnehmenden Licht von Beta. »Es wird seine Zeit dauern«, wiederholte er, ohne sich umzudrehen. »Arbeiten Sie weiter und beten Sie, daß die Totale als erste kommt.« Beta war jetzt nur noch zur Hälfte da, und die Trennlinie schob sich leicht konkav in den noch leuchtenden Teil der Sonne vor. Es war wie ein gigantisches Augenlid, das sich schräg über dem Licht einer Welt schloß. Die leisen Geräusche des Raums, in dem er stand, versanken in Vergessenheit, und er nahm nur das schwere Schweigen der Felder draußen wahr. Sogar die Insekten schienen vor Angst stumm. Alles war gedämpft.
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Beim Klang der Stimme an seinem Ohr zuckte er zusammen. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Es war Theremon. »Wie? Eh – nein. Setzen Sie sich wieder. Wir stehen hier im Weg.« Sie gingen zurück in ihre Ecke, wo der Psychologe weiter schwieg. Mit einem Finger lockerte er seinen Kragen, dann drehte er seinen Hals hin und her, fand aber keine Erleichterung. Plötzlich sah er auf. »Haben Sie irgendwie Schwierigkeiten beim Atmen?« Der Reporter riß die Augen weit auf und holte ein paarmal tief Luft. »Nein. Warum?« »Ich glaube, ich habe zu lange aus dem Fenster gesehen. Diese Düsterkeit macht mir zu schaffen. Atemschwierigkeiten sind die ersten Symptome für einen klaustrophobischen Anfall.« Theremon holte noch einmal tief Luft. »Nein, ich merke noch nichts. Sehen Sie mal, da kommt einer von den Jungs.« Beenay hatte sich zwischen das Licht und das Paar in der Ecke geschoben, und Sheerin blinzelte besorgt in seine Richtung. »Hallo, Beenay.« Der Astronom verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und grinste schwach. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mich einen Augenblick zu Ihnen setze und mich an der Unterhaltung beteilige? Meine Kameras stehen bereit, und es ist nichts mehr zu tun bis zur Totalen.« Er schwieg und betrachtete den Kultangehörigen, der eine Viertelstunde vorher ein kleines, ledergebundenes Buch aus seinem Ärmel gezogen hatte und seitdem ganz darin 90
vertieft war. »Dieser Mistkerl hat doch keinen Ärger gemacht, oder?« Sheerin schüttelte den Kopf. Er hatte die Schultern zurückgenommen, und seine Stirn zog sich vor Konzentration zusammen, als er sich zwang, gleichmäßig zu atmen. »Haben Sie irgendwie Atemschwierigkeiten, Beenay?« Beenay schnüffelte. »Also, stickig ist die Luft nicht.« »Ein Symptom der Klaustrophobie«, erklärte Sheerin. »Ach sooo! Bei mir wirkt sich das anders aus. Ich habe das Gefühl, als würden mich meine Augen im Stich lassen. Alles sieht irgendwie verzerrt aus und – nun, es ist einfach nichts mehr klar. Und außerdem ist es kalt.« »Und ob es kalt ist. Aber das ist keine Sinnestäuschung.« Theremon schnitt eine Grimasse. »Meine Zehen fühlen sich an, als würde ich sie in einem Kühlwagen spazierenfahren.« »Wichtig ist jetzt«, unterbrach ihn Sheerin, »daß wir uns mit ganz anderen Dingen ablenken. Ich wollte Ihnen vorhin erzählen, Theremon, warum Faros Experimente mit den Löchern im Dach nicht geklappt haben.« »Sie hatten gerade damit angefangen.« Theremon schlang seine Arme um ein Knie und stützte sein Kinn darauf. »Also, was ich sagen wollte: Sie ließen sich täuschen, indem sie das Buch der Offenbarungen wörtlich nahmen. Wahrscheinlich ist den Sternen überhaupt keine physikalische Bedeutung zuzuschreiben. Wissen Sie, es könnte 91
sein, daß der Verstand bei totaler Finsternis einfach Licht erzeugen muß. Es wäre denkbar, daß diese Sterne nichts weiter als die Illusion von Licht sind.« »Mit anderen Worten«, warf Theremon ein, »Sie meinen, daß die Sterne das Resultat des Wahnsinns und nicht eine seiner Ursachen sind. Was sollen dann Beenays Photos?« »Sie sollen beweisen, daß es sich um eine Illusion handelt, oder auch nicht. Ich kann es nicht sagen. Auf der anderen Seite …« Beenay hatte seinen Stuhl näher herangezogen, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein enthusiastischer Ausdruck. »Hören Sie, ich bin froh, daß Sie beide dieses Thema angeschnitten haben.« Seine Augen verengten sich, und er hob einen Finger. »Ich habe über diese Sterne nachgedacht, und dabei ist mir eine Idee gekommen. Es ist natürlich alles nur so eine Theorie, die ich nicht ernsthaft weiter ausarbeiten will, aber ich meine doch, daß sie ganz interessant ist. Wollen Sie sie hören?« Er schien sich seiner Sache nicht ganz sicher, aber Sheerin lehnte sich zurück und meinte: »Schießen Sie los! Ich bin ganz Ohr.« »Schön, also angenommen, es gäbe noch andere Sonnen im Universum.« Er brach ein bißchen schüchtern ab. »Ich meine, Sonnen, die so weit weg sind, daß sie zu schwach sind, als daß man sie sehen könnte. Das klingt jetzt wohl so, als hätte ich zu viele dieser phantastischen Geschichten gelesen.«
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»Nicht unbedingt. Aber wird diese Möglichkeit nicht durch die Tatsache ausgeschlossen, daß sie nach dem Gesetz der Gravitation aufgrund ihrer Anziehungskräfte feststellbar sein müßte?« »Nicht, wenn sie weit genug weg sind«, erklärte Beenay. »Wirklich weit weg – vielleicht vier Lichtjahre, oder noch weiter. Dann würden wir keine Perturbationen feststellen können, weil sie zu minimal wären. Nehmen wir an, es gäbe eine Menge Sonnen so weit weg; ein Dutzend, oder vielleicht auch zwei Dutzend.« Theremon pfiff melodiös. »Was für eine Idee für eine gute Sonntagsbeilage. Zwei Dutzend Sonnen in einem Universum von acht Lichtjahren im Durchmesser. Wow! Das würde unsere Welt zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen lassen. Die Leser würden den Artikel verschlingen.« »Es ist nur eine Idee«, meinte Beenay grinsend, »aber Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Bei einer Eklipse würden diese Sonnen sichtbar werden, weil kein richtiges Sonnenlicht mehr da wäre, das sie verdeckt. Da sie so weit weg sind, wären sie ganz klein, so wie eine Reihe Murmeln. Natürlich reden die Kultgläubigen von Millionen von Sternen, aber das ist wahrscheinlich eine Übertreibung. Eine Million Sonnen hätte gar keinen Platz im Universum – es sei denn, sie würden sich berühren.« Sheerin hatte mit wachsendem Interesse zugehört. »Ich glaube, Sie sind da auf etwas Wichtiges gestoßen, Beenay. Und Übertreibung ist genau das, was passieren würde. Unser Verstand kann, wie Sie wahrscheinlich wissen, eine Zahl über fünf nicht mehr konkret fassen; alles, was 93
darüber liegt, ist in unseren Augen einfach ›viele‹. Aus einem Dutzend würde also ohne weiteres eine Million. Eine verdammt gute Idee!« »Und mir ist da noch ein anderer Gedanke gekommen«, fuhr Beenay fort. »Haben Sie sich schon einmal überlegt, was für ein simples Problem die Gravitation wäre, wenn man nur ein System hätte, das unkompliziert genug ist? Angenommen, Sie hätten ein Universum, in dem es einen Planeten mit nur einer Sonne gibt. Der Planet würde sich auf einer Ellipse bewegen, und das Prinzip der Gravitationskraft wäre so augenscheinlich, daß man es als Axiom annehmen könnte. Astronomen auf einem solchen Planeten würden wahrscheinlich noch vor der Erfindung des Teleskops mit der Untersuchung der Gravitation beginnen. Die Beobachtung mit dem bloßen Auge würde ausreichen.« »Aber wäre ein solches System denn dynamisch stabil?« wollte Sheerin zweifelnd wissen. »Sicher! Es wird als der ›eins-und-eins‹ Fall bezeichnet. Mathematisch hat man es schon ausgearbeitet, aber es sind die philosophischen Folgerungen, die mich interessieren.« »Ganz hübsch«, gab Sheerin zu, »das ganze als Abstraktion zu behandeln wie ein reines Gas oder den absoluten Nullpunkt.« »Natürlich«, fuhr Beenay fort, »hat diese Theorie den einen Haken, daß Leben auf einem solchen Planeten unmöglich wäre. Er würde nicht genug Wärme und Licht bekommen, und die Hälfte eines jeden Tags würde totale Finsternis herrschen. Leben – das in erster Linie von Licht 94
abhängt – könnte sich unter solchen Bedingungen natürlich nicht entwickeln. Außerdem …« Sheerins Stuhl kippte nach hinten um, als er aufsprang und Beenay unhöflich unterbrach. »Aton hat die Lichter herausgeholt.« »Huh?« Beenay fuhr herum, dann verzog sich sein Gesicht zu einem sichtlich erleichterten Grinsen. Aton hatte ein halbes Dutzend Stangen von einem Fuß Länge und einem Zoll Dicke im Arm. Er sah über sie hinweg auf das versammelte Kollegium. »Zurück an die Arbeit, alle. Sheerin, kommen Sie her und helfen Sie mir!« Sheerin trottete zu dem alten Mann hinüber, und schweigend steckten die beiden einen Stab nach dem anderen in die provisorischen Metallhalter an den Wänden. Mit einer Miene, als würde er die heiligste Handlung eines religiösen Rituals durchführen, rieb Sheerin ein großes, unhandliches Streichholz zu zischendem Leben und gab es an Aton weiter, der die Flamme an das obere Ende eines der Stäbe hielt. Dort zögerte sie eine Weile und spielte wirkungslos um die Spitze, bis ein plötzlicher, knisternder Lichtschein Atons zerfurchtes Gesicht in gelbes Licht tauchte. Er zog das Streichholz zurück, und das Fenster klapperte unter dem spontanen Jubel. Der obere Teil der Stange war über eine Länge von sechs Zoll in eine flackernde Flamme gehüllt! Der Reihe nach wurden jetzt auch die übrigen Stäbe entzündet, bis
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sechs einzelne Feuer den hinteren Teil des Raums in gelbes Licht tauchten. Es war düster, noch düsterer als das zaghafte Sonnenlicht. Die Flammen hüpften wild und erweckten trunkene, taumelnde Schatten zum Leben. Sie qualmten entsetzlich und stanken infernalisch. Aber sie gaben ein gelbes Licht ab. Nach vier Stunden einer düster und immer schwächer werdenden Beta hatte dieses gelbe Licht eine ganz besondere Wirkung. Sogar Latimer hatte von seinem Buch aufgesehen und starrte verwundert auf die Fackeln. Sheerin wärmte sich die Hände an der nächsten, ohne sich um den Ruß zu kümmern, der sich als feiner, grauer Staub auf ihnen sammelte, und murmelte begeistert vor sich hin: »Phantastisch! Phantastisch! Ich habe nie gewußt, was für eine herrliche Farbe Gelb doch ist.« Theremon dagegen betrachtete die Fackeln voller Mißtrauen. Er rümpfte die Nase angesichts des ranzigen Geruchs und fragte: »Was sind das für Dinger?« »Holz«, antwortete Sheerin knapp. »Oh nein, Holz ist das nicht. Sie brennen ja nicht. Das oberste Stück ist verkohlt, und die Flamme schießt weiter einfach aus dem Nichts auf.« »Das ist ja gerade das Phantastische daran. Sie sehen hier einen wirklich wirkungsvollen KunstlichtMechanismus. Wir haben Hunderte von diesen Dingern gemacht, aber die meisten sind natürlich ins Versteck gegangen. Sehen Sie« – er drehte sich herum und wischte sich die Hände an seinem Taschentuch ab »Sie nehmen den 96
Markkern von grobem Wasserschilf, trocknen es sorgfältig und tauchen es in Tierfett. Dann zünden Sie es an, und das Fett verbrennt langsam. Diese Fackeln werden fast eine halbe Stunde ununterbrochen brennen. Genial, nicht? Die Idee wurde von einem unserer eigenen jungen Männer an der Universität von Saro entwickelt.« Nach der momentanen Erregung war es wieder ruhig in der Kuppel geworden. Latimer hatte seinen Stuhl direkt unter eine Fackel gesetzt und las weiter, wobei sich seine Lippen im monotonen Rezitieren der Anrufungen der Sterne bewegten. Beenay war wieder zu seinen Kameras zurückgegangen, und Theremon nutzte die Gelegenheit, seine Notizen für den Artikel zu vervollständigen, den er am nächsten Tag für den Saro City Chronicle schreiben wollte – einer Prozedur, der er in den vergangenen beiden Stunden ganz mechanisch, ganz gewissenhaft und, wie er sehr wohl wußte, ganz sinnlos gefolgt war. Aber auf diese Weise, wie das belustigte Funkeln in Sheerins Augen andeutete, beschäftigten sich seine Gedanken wenigstens mit etwas anderem als mit der Tatsache, daß der Himmel langsam eine gräßliche, tiefrote Färbung annahm, als sei er eine riesige, frisch geschälte rote Rübe, und so erfüllten die Notizen doch ihren Zweck. Die Luft wurde irgendwie dichter. Dämmerung drang wie ein greifbares Gebilde in den Raum, und die tanzenden gelben Lichtkreise um die Fackeln hoben sich immer schärfer vom Grau des Hintergrundes ab. Da war der Rauchgeruch, und da waren die leisen, knisternden Geräusche, die die brennenden Fackeln verursachten; die 97
gedämpften Schritte eines der Männer, der auf Zehenspitzen um den Tisch herumging, an dem er arbeitete; hin und wieder ein seufzender Atemzug von jemandem, der versuchte, seine Fassung zu bewahren in einer Welt, die sich in Dunkelheit zurückzog. Es war Theremon, der den Lärm von draußen als erster hörte. Es war der vage, wirre Eindruck eines Geräuschs, das niemand bemerkt hätte, wenn es in der Kuppel nicht so totenstill gewesen wäre. Der Reporter richtete sich auf und legte sein Notizbuch beiseite. Er hielt den Atem an und lauschte, und dann suchte er sich, mit deutlichem Widerstreben, zwischen dem Solarskop und einer von Beenays Kameras einen Weg zum Fenster. »Sheerin!« Sein entsetzter Ausruf zerriß die Stille. Alle Arbeit wurde eingestellt! Einen Moment später stand der Psychologe schon neben ihm. Aton gesellte sich als dritter dazu. Selbst Yimot 70, der hoch oben auf seinem kleinen Sitz vor dem Okular des gigantischen Solarskops saß, hielt inne und sah hinunter. Beta war nur noch ein glühender Splitter und warf einen letzten, verzweifelten Blick auf Lagash hinunter. Der östliche Horizont, die Richtung, in der die Stadt lag, verlor sich in Finsternis, und die Straße von Saro zum Observatorium war nur noch eine dunkelrote Linie, auf beiden Seiten von Waldstrichen gesäumt, deren Bäume irgendwie ihre Individualität verloren hatten und zu einer einheitlichen, schemenhaften Masse verschmolzen waren.
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Doch es war die Straße selbst, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog, denn auf ihr entlang wogte eine andere, und unendlich bedrohliche, schemenhafte Masse. »Die Verrückten aus der Stadt!« rief Aton mit brüchiger Stimme. »Sie sind auf dem Weg hierher!« »Wie lange noch bis zur Totalen?« wollte Sheerin wissen. »Fünfzehn Minuten, aber … aber sie werden in fünf Minuten schon hier sein.« »Kümmern Sie sich nicht darum, sehen Sie nur zu, daß die Männer weiter arbeiten. Wir werden sie schon aufhalten. Dieses Observatorium ist wie eine Festung gebaut. Behalten Sie für alle Fälle den jungen Kultgläubigen hier im Auge, Aton. Theremon, kommen Sie mit.« Sheerin war schon zur Tür hinaus, und der Reporter folgte ihm auf den Fersen. Unter ihnen liefen die Stufen der Treppe in engen, kreisförmigen Windungen um die Mittelsäule hinunter und verschwammen im dumpfen, trüben Dunkel. Der erste Schwung ihres Anlaufs hatte sie fünfzehn Fuß hinunter getragen, so daß der düstere, flackernde Schein aus der offenen Tür der Kuppel jetzt verschwunden war und sowohl von oben wie auch von unten die gleiche dumpfe Dunkelheit auf sie eindrang. Sheerin blieb stehen und griff sich mit der feisten Hand an die Brust. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, und seine Stimme war ein trockenes Husten. »Ich … bekomme
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keine … Luft mehr … Gehen Sie … allein … weiter. Schließen Sie alle Türen …« Theremon ging ein paar Stufen hinunter, dann drehte er sich wieder um. »Warten Sie! Können Sie noch eine Minute aushalten?« Er keuchte jetzt auch. Wie Sirup floß die Luft in seine Lungen und wieder heraus, und in seinem Geist entstand ein kleiner Keim schreiender Panik bei dem Gedanken daran, allein seinen Weg in die mysteriöse Finsternis unter ihm machen zu müssen. Theremon hatte also doch Angst vor dem Dunkel! »Warten Sie hier«, sagte er zu Sheerin. »Ich bin sofort wieder zurück.« Er stürmte, immer zwei Stufen auf einmal und mit klopfendem Herzen – und das nicht nur von der Anstrengung die Treppe hinauf in die Kuppel und schnappte sich eine Fackel aus einem Halter. Sie stank, und der rußende Qualm blendete ihn fast, aber er umklammerte die Fackel so fest, als wollte er sie vor Freude küssen, und ihre Flamme wehte zurück, als er wieder die Stufen hinuntereilte. Sheerin öffnete die Augen und stöhnte, als sich Theremon über ihn beugte. Der Reporter schüttelte ihn rauh. »Los, reißen Sie sich zusammen. Wir haben Licht.« Er hielt die Fackel hoch und stieg, den wankenden Psychologen unter dem Ellbogen gestützt, im schützenden Lichtkreis hinunter. In den Büros im Erdgeschoß empfing sie das schwache Licht, das noch geblieben war, und Theremon merkte, wie sein Entsetzen langsam wich.
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»Hier«, sagte er brüsk und reichte Sheerin die Fackel. »Man kann sie draußen hören.« Und sie konnten sie hören. Kleine Fetzen heiserer Rufe. Aber Sheerin hatte recht; das Observatorium war tatsächlich wie eine Festung erbaut. Errichtet im letzten Jahrhundert, als der neugavottische Stil seinen häßlichen Höhepunkt erreicht hatte, war es weniger für Schönheit als für Stabilität und Haltbarkeit ausgelegt worden. Die Fenster waren mit Gittern aus zolldicken Eisenstäben gesichert, die tief in den Betonrahmen eingelassen waren. Die Wände bestanden aus solidem Mauerwerk, dem selbst ein Erdbeben nichts hätte anhaben können, und den Haupteingang verschloß eine gewaltige, mit Eisen verstärkte Eichentür. Theremon schob die Riegel vor, die mit einem dumpfen Dröhnen zuglitten. Am anderen Ende des Korridors stieß Sheerin einen leisen Fluch aus. Er zeigte auf das Schloß der Hintertür, das mit einem Brecheisen aufgebrochen und nicht mehr zu benutzen war. »So muß Latimer hereingekommen sein«, erklärte er. »Stehen Sie nicht herum«, rief Theremon ungeduldig. »Helfen Sie mir, ein paar Möbelstücke vor die Tür zu schieben – und gehen Sie mir mit der Fackel aus den Augen. Der Rauch bringt mich noch um.« Während er sprach, wuchtete er den schweren Tisch gegen die Tür, und in zwei Minuten hatte er eine Barrikade errichtet, die durch ihre reine Trägheit und Masse wettmachte, was ihr an Schönheit und Symmetrie fehlte.
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Irgendwo, ganz schwach und ganz weit weg, konnte er das Trommeln von nackten Fäusten gegen die Tür hören, und die Schreie und Rufe von draußen schienen irgendwie nicht real. In den Köpfen des Mobs, der sich von Saro City auf den Weg gemacht hatte, hatten nur zwei Dinge Platz: die Erlangung des Kultischen Heils durch die Zerstörung des Observatoriums und eine wahnsinnige Angst, die sie fast lähmte. Es war keine Zeit, an Fahrzeuge oder Waffen oder eine Führung zu denken, noch nicht einmal an Organisation. Zu Fuß machten sie sich auf den Weg zum Observatorium und griffen es mit bloßen Händen an. Und jetzt, nachdem sie endlich da waren, flackerte der letzte Rest von Beta, der letzte dunkelrote Lichttropfen kläglich über einer Menschheit, der nur die nackte Angst geblieben war! »Gehen wir zurück in die Kuppel«, ächzte Theremon. In der Kuppel war nur noch Yimot am Solarskop an seinem Platz. Alle anderen standen um die Kameras herum, während Beenay mit heiserer, gespannter Stimme seine Instruktionen gab. »Passen Sie alle jetzt gut auf. Ich schieße Beta unmittelbar vor der Totalen und wechsle die Platte. Damit bleibt einer von Ihnen für jede Kamera. Sie wissen alle über … über die Belichtungszeiten Bescheid …« Atemloses Gemurmel bejahte seine Frage. Beenay fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Brennen die Fackeln noch? Lassen Sie, ich sehe sie!« Er stützte sich schwer gegen die Lehne eines Stuhls. »Und 102
denken Sie daran, versuchen Sie nicht, unbedingt gute Aufnahmen zu machen. Vergeuden Sie keine Zeit mit einem Versuch, z-zwei Sterne gleichzeitig einzufangen. Einer reicht. Und … und wenn Sie merken, daß Ihnen schlecht wird, dann verschwinden Sie von der Kamera.« »Bringen Sie mich zu Aton«, flüsterte Sheerin dem Reporter an der Tür zu. »Ich sehe ihn nicht.« Theremon antwortete nicht sofort. Die vagen Formen der Astronomen schwankten und verschwammen, und die Fackeln über ihnen waren nur noch gelbe Flecke. »Es ist finster«, wimmerte er. Sheerin streckte die Hand aus. »Aton.« Er stolperte vorwärts. »Aton!« Theremon folgte ihm und faßte ihn am Arm. »Warten Sie, ich führe Sie.« Irgendwie schaffte er den Weg durch den Raum. Er verschloß die Augen vor der Finsternis und seinen Geist vor dem Chaos, das in ihm war. Niemand hörte sie oder kümmerte sich um sie. Sheerin stolperte gegen die Wand. »Aton!« Der Psychologe fühlte, wie ihn bebende Hände berührten, sich zurückzogen, und murmelte dann: »Sind Sie das, Sheerin?« »Aton!« Sheerin bemühte sich, ruhig zu atmen. »Machen Sie sich keine Sorge wegen der Menge. Sie kann dieses Gebäude nicht bezwingen.« Latimer, der Kultgläubige, stand auf, und sein Gesicht verzerrte sich vor Verzweiflung. Er hatte sein Wort gegeben, und es zu brechen, würde bedeuten, seine Seele tödlicher Gefahr preiszugeben. Andrerseits hatte man ihm 103
sein Wort abgezwungen, er hatte es nicht freiwillig gegeben. Die Sterne würden bald kommen! Er konnte nicht einfach dastehen und zusehen – aber er hatte sein Wort gegeben! Auf Beenays Gesicht lag ein düsterer Schein, als er hinauf auf Betas letzten Strahl blickte, und als Latimer sah, wie er sich über seine Kamera beugte, traf er seine Entscheidung. Er stolperte unsicher, als er seinen Angriff begann. Vor ihm war nichts als Dunkelheit, und selbst der Boden unter seinen Füßen schien substanzlos. Und dann war jemand über ihm, und Finger krallten sich um seinen Hals, als er zu Boden fiel. Er riß sein Knie an sich und stieß es hart in den Angreifer. »Laß mich los oder ich bringe dich um.« Theremon schrie laut auf und murmelte dann etwas durch einen blendenden Nebel von Schmerzen. »Du hinterhältiges Schwein!« Der Reporter schien alles gleichzeitig wahrzunehmen. Er hörte Beenay krächzen: »Ich hab's. An eure Kameras, Leute!«, und dann wurde ihm bewußt, daß der letzte Rest Sonnenlicht noch spärlicher wurde und auf einmal verlosch. Gleichzeitig hörte er ein letztes, ersticktes Atmen von Beenay, und einen seltsamen, kurzen Schrei von Sheerin, ein hysterisches Kichern, das in einem Krächzen erstickte – und eine abrupte Stille, eine seltsame, tödliche Stille von draußen.
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Latimer war in seinem sich lockernden Griff schlaff geworden. Theremon starrte in die Augen des Kultgläubigen und sah die Leere in ihnen, wie sie aufwärts blickten und sich das schwache Gelb der Fackeln in ihnen spiegelte. Er sah den Schaum auf Latimers Lippen und hörte das leise, animalische Wimmern. Mit der langsamen Faszination der Angst richtete er sich auf und lenkte den Blick auf die grausige Schwärze des Fensters. Durch das die Sterne schienen! Nicht die schwachen dreitausendsechshundert Sterne um die Erde, die mit dem Auge zu erkennen sind; Lagash befand sich im Zentrum eines gigantischen Sternenhaufens. Dreißigtausend mächtige Sonnen schienen in einem die Seele verbrennenden Glanz, der in seiner furchtbaren Unbestimmtheit erschreckender kalt war als der rauhe Wind, der über die kalte, gräßlich düstere Welt fuhr. Theremon kam taumelnd auf die Füße, die Kehle zugeschnürt, so daß er keine Luft mehr bekam, während sich seine Muskeln in einer Intensität des Entsetzens und der nackten Angst verzerrten, die über die Grenzen des Erträglichen hinausging. Er war dabei, wahnsinnig zu werden, und wußte es, und irgendwo tief im Innern schrie ein letzter Rest von gesundem Verstand und versuchte, gegen die hoffnungslose Flut des schwarzen Entsetzens anzukämpfen. Es war ein gräßliches Gefühl, wahnsinnig zu werden und zu wissen, daß man wahnsinnig wurde – zu wissen, daß man im nächsten Augenblick zwar noch physisch da sein würde, aber das wirkliche Sein tot und in schwarzem Wahnsinn untergegangen sein würde. Denn 105
dies war die Finsternis – die Finsternis und die Kälte und der Untergang. Die leuchtenden Mauern des Universums waren zerschlagen, und ihre schrecklich schwarzen Teile fielen herab, um ihn zu zermahlen, zu vernichten. Er stieß gegen jemanden, der auf Händen und Knien herumkroch, stolperte aber irgendwie über ihn hinweg. Hände griffen nach seiner gemarterten Kehle, als er sich auf die Flamme der Fackeln zuschleppte, die sein ganzes verrücktes Blickfeld ausfüllte. »Licht!« schrie er. Irgendwo weinte Aton, wimmerte furchtbar wie ein zu Tode verängstigtes Kind. »Sterne – die ganzen Sterne – wir wußten es nicht. Wir wußten gar nichts. Wir dachten, sechs Sterne in einem Universum wären gewaltig … die Sterne merkten nicht … es ist Finsternis für immer und immer und ewig und die Wände stürzen ein, und wir wußten es nicht wir konnten es nicht wissen …« Jemand krallte sich in seine Fackel, und sie fiel hin und erlosch. Und augenblicklich sprang der schreckliche Glanz der unbestimmten Sterne näher auf sie zu. Am Horizont auf der anderen Seite des Fensters, in der Richtung von Saro City, begann ein rotes Leuchten zu wachsen, ein Leuchten, das an Intensität zunahm und das nicht das Leuchten einer Sonne war. Wieder war die lange Nacht gekommen.
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Geschichte eines Helden (C-Chute, 1951) Deutsch von Barbara Heidkamp
Selbst von der Kabine aus, in die man ihn und die anderen Passagiere verfrachtet hatte, konnte Colonel Anthony Windham noch das Wesentliche des Kampfverlaufs verfolgen. Eine Weile herrschte Stille, keine Stöße, was bedeutete, daß sich die Raumschiffe in ungeheurer Distanz ein Duell mit Energiesalven und starken Energieschirmen lieferten. Er wußte, wie es ausgehen würde. Ihr Erdenschiff war nur ein bewaffneter Handelsraumer, und der Blick, den er noch auf den kloroschen Feind hatte werfen können, bevor er von der Besatzung von Deck gebracht worden war, hatte genügt, ihm zu zeigen, daß es sich um einen leichten Kreuzer handelte. Und in weniger als einer halben Stunde kamen dann diese kurzen, harten Stöße, auf die er wartete. Die Passagiere wankten hin und her, als das Schiff stampfte und schlingerte, als sei es ein Ozeandampfer in einem Sturm. Aber der Weltraum war ruhig und still wie immer. Es war ihr Pilot, der verzweifelte Dampfstöße durch die Dampfröhren jagte, auf die das Schiff mit Schlingern und Rollen reagierte. Es konnte nur bedeuten, daß das Unvermeidliche eingetreten war. Die Schutzschirme des 107
Erdenschiffs waren erschöpft, und es konnte keinen direkten Treffer mehr riskieren. Colonel Windham versuchte, sich mit seinem Aluminiumstock abzustützen. Er dachte daran, daß er ein alter Mann war; daß er sein Leben in der Miliz zugebracht und nie ein Gefecht miterlebt hatte; daß ausgerechnet jetzt, als um ihn herum eine Schlacht im Gange war, er alt und fett und lahm war und keine Männer unter seinem Kommando hatte. Sie würden bald an Bord kommen, diese Kloro-Monster. Es war ihre Art zu kämpfen. Sie würden durch Raumanzüge behindert sein, und sie würden hohe Verluste hinnehmen müssen, aber sie wollten das Erdenschiff. Windham dachte an die Passagiere. Einen Augenblick lang überlegte er, wenn sie bewaffnet wären und ich sie anführen könnte – Er verwarf den Gedanken. Porter hatte ganz offensichtlich einen Mordsschiß, und bei dem Jungen, Leblanc, war es nicht viel anders. Die Polyorketes-Brüder – verdammt, er konnte sie einfach nicht auseinanderhalten – kauerten in einer Ecke und unterhielten sich halblaut. Und dann Mullen. Er saß kerzengerade da, ohne eine Spur von Angst oder irgendeiner anderen Emotion im Gesicht. Aber der Mann war nur um die einsfünfzig groß und hatte zweifellos in seinem ganzen Leben noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Er fiel ganz aus. Und dann war da Stuart, mit seinem eingefrorenen halben Lächeln und dem exaltierten Sarkasmus, mit dem alles, was er sagte, durchsetzt war. Windham betrachtete 108
Stuart jetzt von der Seite, wie der Mann dasaß und sich mit den totenbleichen Händen durch das strohblonde Haar fuhr. Mit diesen künstlichen Händen war er sowieso nutzlos. Windham fühlte die zitternde Vibration des Schiff-anSchiff Kontakts, und fünf Minuten später hallte der Kampfeslärm durch die Korridore. Einer der PolyorketesBrüder schrie und stürzte zur Tür. Der andere rief: »Aristides! Warte!« und eilte ihm nach. Es geschah alles sehr schnell. Aristides rannte in blinder Panik durch die Tür hinaus auf den Korridor. Ein Karbonisator glühte kurz auf, und es war nicht einmal mehr ein Schrei zu hören. Windham, der an der Tür stand, wandte sich entsetzt ab bei dem Anblick des verkohlten Stumpfs, der übriggeblieben war. Merkwürdig – ein Leben in Uniform, und es war das erstemal, daß er sah, wie ein Mensch gewaltsam starb. Nur mit vereinter Kraft gelang es den übrigen, den sich wehrenden anderen Bruder zurück in den Raum zu tragen. Der Kampfeslärm verklang. »Das wär's dann«, stellte Stuart fest. »Sie werden ein Prisenkommando von zwei Leuten an Bord lassen und uns zu einem ihrer Heimatplaneten bringen. Wir sind natürlich Kriegsgefangene.« »Nur zwei von den Kloros werden an Bord bleiben?« fragte Windham erstaunt. »Das machen sie immer so. Warum fragen Sie, Colonel? Spielen Sie vielleicht mit dem Gedanken, einen mutigen Überfall anzuführen, um das Schiff zurückzuerobern?«
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Windham wurde rot. »Einfach eine Frage zur Information, ja?« Aber er wußte, daß es ihm mißlungen war, würdevoll und autoritär zu klingen. Er war nichts weiter als ein alter, gebrechlicher Mann. Und Stuart hatte wahrscheinlich recht. Er hatte unter den Kloros gelebt und kannte ihre Gewohnheiten. John Stuart hatte von Anfang an behauptet, daß die Kloros Gentlemen seien. Vierundzwanzig Stunden waren seit ihrer Gefangennahme vergangen, und jetzt wiederholte er diese Behauptung, als er die Finger seiner Hände bog und zusah, wie sich das weiche Kunstplasma runzelte und wieder glättete. Er genoß die Reaktion des Unbehagens, die der Anblick bei den anderen hervorrief. Die waren dazu gedacht, daß man in sie hineinstach; hohle Blasen, das waren sie alle. Und sie hatten Hände aus dem gleichen Zeug wie ihr Körper. Da war vor allem Anthony Windham. Colonel Anthony Windham, nannte er sich, und Stuart war durchaus bereit, es zu glauben. Ein pensionierter Colonel, der wahrscheinlich vor vierzig Jahren eine Bürgerwehr auf einem Dorfanger gedrillt hatte und sich so wenig hervorgetan hatte, daß man ihn in keiner Eigenschaft mehr in den Militärdienst zurückgerufen hatte, auch nicht während des Ausnahmezustands des ersten interstellaren Kriegs der Erde. »Verflucht fehl am Platze, so etwas vom Feind zu sagen, Stuart. Kann nicht behaupten, daß mir Ihre Einstellung 110
gefällt.« Windham schien die Worte durch seinen gestutzten Schnurrbart zu schieben. Sein Kopf war kahlgeschoren gewesen, ebenfalls eine Imitation der geläufigen militärischen Mode, aber jetzt zeigten sich graue Stoppeln um die Glatze in der Mitte. Seine schlaffen Wangen hingen herunter. Das, und die feinen roten Linien auf seiner dicken Nase ließen ihn irgendwie derangiert aussehen, als ob er zu überstürzt und zu früh geweckt worden wäre. »Unsinn«, erwiderte Stuart. »Stellen Sie sich die momentane Situation doch mal umgekehrt vor. Angenommen, ein Kriegsschiff von der Erde hätte einen Kloro-Kreuzer gekapert. Was glauben Sie, was mit den Kloro-Zivilisten an Bord passiert wäre?« »Ich bin sicher, daß die Erdenflotte sich genau an das interstellare Kriegsrecht halten würde«, antwortete Windham steif. »Nur daß es keins gibt. Wenn wir ein Prisenkommando auf eins ihrer Schiffe setzen würden, glauben Sie, wir würden uns die Mühe machen, der Überlebenden wegen eine Chloratmosphäre aufrechtzuerhalten? Ihnen erlauben, alle legalen Besitztümer zu behalten? Sie in der komfortabelsten Kabine unterbringen etcetera etcetera etcetera?« »Hören Sie um Gottes willen damit auf«, mischte sich Ben Porter ein. »Wenn ich Ihr etcetera etcetera noch einmal höre, schnappe ich über.« »Tut mir leid!« sagte Stuart. Was gelogen war.
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Porter war eigentlich kaum zurechnungsfähig. Sein hageres Gesicht und die Hakennase glitzerten vor Schweiß, und er biß sich ständig auf die Innenseite seiner Wange, bis er plötzlich zusammenzuckte. Als er die Zunge gegen die wunde Stelle drückte, sah er noch komischer aus als ohnehin schon. Stuart war es langsam leid, sie zu piesacken. Windham war ein zu schlappes Ziel, und Porter krümmte sich bloß. Die übrigen schwiegen. Demetrios Polyorketes befand sich im Augenblick in einer Welt stiller innerer Trauer. Wahrscheinlich hatte er in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. Jedenfalls hatte Stuart, als er aufgewacht war, um sich herumzudrehen – er hatte selbst ziemlich unruhig geschlafen – Polyorketes' ersticktes Murmeln aus der nächsten Koje gehört. Es hatte vieles gesagt, aber das Stöhnen, in das es immer wieder zurückgekehrt war, war »Oh, mein Bruder!« gewesen. Jetzt saß er stumm auf seinem Bett, und seine roten Augen stierten aus seinem breiten, dunklen und unrasierten Gesicht auf die anderen Gefangenen. Während Stuart ihn betrachtete, sank sein Gesicht in die schwieligen Hände, so daß nur noch der krause schwarze Haarschopf zu sehen war. Er schaukelte leise, gab aber jetzt, da die anderen wach waren, keinen Laut von sich. Claude Leblanc versuchte ziemlich erfolglos, einen Brief zu lesen. Er war der jüngste der sechs, gerade aus dem College und auf dem Weg zur Erde, um zu heiraten. Stuart hatte ihn an diesem Morgen still vor sich hin weinen gesehen, das rosa-weiße Gesicht gerötet und fleckig wie
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das eines untröstlichen Kindes. Er war hellblond, und mit seinen großen blauen Augen und den vollen Lippen besaß er fast die Schönheit eines Mädchens. Stuart fragte sich, was es wohl für eine Art von Mädchen war, das seine Frau werden wollte. Er hatte ihr Foto gesehen. Wer auf dem Schiff hatte es nicht gesehen? Sie hatte jenes charakterlose hübsche Gesicht, das alle Fotos von Verlobten gleich aussehen läßt. Stuart fand, daß er als Mädchen eher einen etwas maskulineren Typ Mann bevorzugt hätte. Blieb nur noch Randolph Mullen. Stuart hatte ehrlich gesagt nicht die leiseste Ahnung, wie er diesen Mann einordnen sollte. Er war der einzige der sechs, der für längere Zeit auf den arcturischen Welten gewesen war. Stuart selbst zum Beispiel war gerade lange genug dort gewesen, um am Provinzinstitut für Technik eine Reihe von Vorträgen über Raumfahrttechnik zu halten. Colonel Windham war auf einer Besichtigungsreise dort gewesen, Porter wollte konzentriertes fremdes Gemüse für seine Konservenfabriken auf der Erde einkaufen, und die PolyorketesBrüder hatten ihr Glück als Gemüsegärtner auf Arcturus versucht, nach zwei Anbausaisons wieder aufgegeben, wobei sie irgendwie sogar noch einen Profit gemacht hatten, und waren jetzt auf dem Weg zurück zur Erde gewesen. Randolph Mullen dagegen war siebzehn Jahre lang im arcturianischen System gewesen. Wie konnten Reisende nur in so kurzer Zeit soviel voneinander erfahren? Soweit Stuart wußte, hatte der kleine Mann an Bord des Schiffs kaum ein Wort gesagt. Er war immer höflich, trat immer einen Schritt zur Seite, damit ein anderer vorbei konnte, 113
aber sein ganzer Wortschatz schien sich auf »Danke« und »Entschuldigung« zu beschränken. Trotzdem war es irgendwie durchgedrungen, daß dies seine erste Reise zur Erde in siebzehn Jahren war. Er war ein kleiner Mann und sehr exakt, so exakt, daß es einen fast schon aufregte. Nachdem er am Morgen aufgestanden war, hatte er ordentlich sein Bett gemacht, sich rasiert, gewaschen und angezogen. Die Tatsache, daß er jetzt ein Gefangener der Kloros war, schien ihn in seiner Gewohnheit nicht im geringsten zu stören. Er machte es sehr unauffällig, das mußte man ihm lassen, und er erweckte nicht den Eindruck, daß er die Schlampigkeit der anderen mißbilligte. Mullen saß einfach da, fast entschuldigend, in seine mehr als konservativen Sachen gehüllt, die Hände lose in seinem Schoß gefaltet. Der schmale Strich seines Oberlippenbarts trug gewiß nicht dazu bei, sein Gesicht markanter wirken zu lassen, sondern verstärkte noch auf absurde Weise seine Förmlichkeit. Er sah aus, wie man sich die Karikatur von einem Buchhalter vorstellte. Und das Komische daran war, dachte Stuart, daß er genau das auch war. Er hatte es auf der Passagierliste gesehen Randolph Fluellen Mullen; Beruf: Buchhalter; Arbeitgeber: Prime Paper Box Co.; 27 Tobias Avenue, New Warsaw, Arcturus II. »Mr. Stuart?« Stuart sah auf. Es war Leblanc; seine Unterlippe zitterte leicht. Stuart versuchte, sich zu erinnern, wie man es
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anstellte, höflich zu jemandem zu sein. »Was gibt's denn, Leblanc?« »Sagen Sie, wann werden sie uns wohl freilassen?« »Woher soll ich das wissen?« »Alle sagen, daß Sie auf einem Kloro-Planeten gelebt haben, und gerade haben Sie gesagt, sie wären Gentlemen.« »Ja, natürlich. Aber auch Gentlemen führen Kriege, um sie zu gewinnen. Wahrscheinlich werden wir solange interniert.« »Aber das könnte doch Jahre dauern! Margret wartet doch. Sie wird denken, ich wäre toi!« »Ich schätze, daß sie uns erlauben werden, Nachrichten nach Hause zu schicken, wenn wir erst mal auf ihrem Planeten sind.« Porters heisere Stimme klang erregt. »Hören Sie, wenn Sie so viel von diesen Teufeln wissen, können Sie uns dann auch sagen, was sie während der Internierung mit uns machen werden? Was geben sie uns da zu essen? Woher bekommen sie den Sauerstoff für uns? Ich sage Ihnen, sie werden uns umbringen. Auch ich habe eine Frau, die auf mich wartet«, fügte er hinzu. Aber Stuart hatte ihn schon in den Tagen vor dem Angriff von seiner Frau sprechen hören und war nicht beeindruckt. Porters Finger mit den abgekauten Nägeln zogen und zupften an Stuarts Ärmel. In einer heftigen Reaktion machte sich Stuart frei. Er konnte diese widerlichen Hände nicht ertragen. Es ärgerte ihn bis zur Verzweiflung, daß solche häßlichen Dinger echt sein 115
sollten, während seine eigenen weißen und perfekt geformten Hände nur lächerliche Imitationen aus Latex waren. »Sie werden uns nicht umbringen«, gab er zurück. »Wenn sie das vorhätten, dann hätten sie es schon längst getan. Sehen Sie, wir nehmen ja auch Kloros gefangen, und es ist ganz einfach eine Sache des gesunden Menschenverstands, seine Gefangenen anständig zu behandeln, wenn man will, daß die andere Seite die eigenen Leute auch anständig behandelt. Sie werden ihr Bestes tun. Das Essen wird vielleicht nicht besonders sein, aber sie sind bessere Chemiker als wir. Auf diesem Gebiet sind sie am besten. Sie werden genau wissen, welche Nährstoffe wir brauchen und wie viele Kalorien. Wir werden am Leben bleiben. Dafür werden sie sorgen.« »Sie klingen immer mehr wie ein verdammter Sympathisant«, polterte Windham. »Mir dreht sich der Magen um, wenn ich höre, daß jemand von der Erde so nett von diesen Typen spricht, wie Sie es tun. Verdammt, Mann, wo bleibt Ihre Loyalität?« »Meine Loyalität ist da, wo sie hingehört. Bei Ehrlichkeit und Anständigkeit, ganz egal, welche Form das Lebewesen hat.« Stuart hielt seine Hände hoch. »Sehen Sie das hier? Kloros haben sie mir gemacht. Ich habe sechs Monate auf einem ihrer Planeten gelebt. Meine Hände wurden in der Klimaanlage meiner eigenen Unterkunft zerquetscht. Ich dachte, die Sauerstoffzufuhr, die sie mir gaben, wäre zu gering – was übrigens nicht der Fall war – und versuchte, es selbst zu ändern. Es war mein eigener
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Fehler. Man sollte sich nie zutrauen, mit Geräten einer anderen Kultur zurechtzukommen. Bis jemand von den Kloros einen Atmosphärenanzug anziehen und zu mir hereinkommen konnte, war es bereits zu spät, meine Hände noch zu retten. Sie machten diese Dinger hier aus Kunstplasma und operierten mich. Wissen Sie, was das hieß? Es hieß, Geräte und Nährflüssigkeiten speziell für eine Sauerstoffatmosphäre zu entwickeln. Es hieß, daß ihre Chirurgen eine schwierige Operation in Atmosphärenanzügen durchführen mußten. Und jetzt habe ich wieder Hände.« Er lachte rauh und ballte sie zu kraftlosen Fäusten zusammen. »Hände …« »Und dafür würden Sie Ihre Loyalität zur Erde verkaufen?« sagte Windham. »Meine Loyalität verkaufen? Sie sind verrückt. Ich habe die Kloros Jahre deswegen gehaßt. Ich war Kapitän bei den Transgalaktischen Raumlinien, bevor das hier passierte. Und jetzt? Schreibtischarbeit. Oder hin und wieder ein Vortrag. Ich brauchte ziemlich lange, um mir den Fehler selbst zuzuschreiben und zu begreifen, daß die einzige Rolle, die die Kloros bei der ganzen Sache gespielt haben, eine anständige war. Sie haben ihren Moralkodex, und der ist genauso gut wie unserer. Wenn nicht ein paar ihrer Leute so dumm wären – und, bei Gott, ein paar von unseren – hätten wir jetzt keinen Krieg. Und wenn alles vorbei ist …«
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Polyorketes war aufgestanden. Seine dicken Finger bogen sich vor ihm nach innen, und seine dunklen Augen funkelten. »Mir gefällt nicht, was Sie da sagen, Mister.« »Und warum nicht?« »Weil Sie zu nett über diese verdammten grünen Dreckskerle sprechen. Die Kloros waren gut zu Ihnen, was? Bloß, sie waren nicht so gut zu meinem Bruder. Sie haben ihn umgebracht. Und ich denke mir, ich könnte Sie auch umbringen, Sie dreckiger grüner Spion.« Und er griff an. Stuart hatte kaum Zeit, die Hände hochzureißen, um sich gegen den wutentbrannten Farmer zu wehren. »Was zum Teufel …« zischte er, als er ein Handgelenk schnappte und eine Schulter hob, um den anderen abzublocken, der nach seiner Kehle griff. Seine künstlichen Hände lösten sich, und Polyorketes konnte sich ohne große Mühe befreien. Windham bellte zusammenhanglos, während Leblanc mit seiner piepsigen Stimme rief: »Aufhören! Aufhören!« Aber es war der kleine Mullen, der seine Arme von hinten um den Hals des Farmers schlang und mit aller Kraft zog. Er war nicht sehr erfolgreich, und Polyorketes schien von dem Gewicht des kleinen Mannes auf seinem Rücken kaum etwas zu merken. Mullens Füße lösten sich vom Boden, so daß er hilflos nach rechts und links schlenderte. Aber er ließ nicht los und behinderte Polyorketes doch genug, daß sich Stuart eben freimachen konnte, um sich Windhams Aluminiumstock zu schnappen. »Bleiben Sie mir vom Leib, Polyorketes«, drohte Stuart. 118
Er schnappte nach Luft und hatte Angst, daß der andere wieder angreifen könnte. Das hohle Aluminiumrohr war kaum stabil genug, als daß es ihm viel hätte helfen können, aber immerhin war es eine wirksamere Waffe als nur seine kraftlosen Hände. Mullen hatte den Farmer losgelassen und umkreiste ihn wachsam; sein Atem ging stoßweise, und das Jackett war in Unordnung. Einen Augenblick lang blieb Polyorketes reglos stehen. Er rührte sich nicht, den struppigen Kopf tief gesenkt. »Es ist Unsinn«, meinte er dann. »Ich muß Kloros umbringen. Passen Sie nur auf, was Sie sagen, Stuart. Wenn Sie zuviel quatschen, könnte Ihnen leicht etwas passieren. Richtig etwas passieren, meine ich.« Stuart fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn und warf Windham den Stock zurück, der ihn mit der linken Hand auffing, während er sich mit dem Taschentuch in der Rechten heftig über seinen Glatzkopf wischte. »Gentlemen, so etwas müssen wir vermeiden«, erklärte der Colonel. »Es wirkt sich schlecht auf unser Ansehen aus. Wir müssen immer daran denken, daß wir einen gemeinsamen Feind haben. Wir sind Erdenmenschen, und wir dürfen nicht vergessen, wer wir sind – die herrschende Rasse in der Galaxis. Wir dürfen nicht vor niederen Rassen unsere Würde verlieren.« »Okay, Colonel«, unterbrach ihn Stuart überdrüssig, »den Rest der Rede können Sie uns morgen halten.« Er wandte sich an Mullen. »Ich möchte mich bedanken.« 119
Er tat es nicht gerade gern, aber er mußte es tun. Dieser kleine Buchhalter hatte ihn wirklich überrascht. »Sie brauchen sich nicht zu bedanken, Mr. Stuart«, erwiderte der kleine Mann mit spröder Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war. »Es ist doch ganz natürlich. Sollten wir interniert werden, dann brauchen wir Sie vielleicht als Dolmetscher, damit sich jemand mit den Kloros verständigen kann.« Stuart versteifte sich. Es war, dachte er, die absolut typische Denkweise eines Buchhalters, absolut logisch und absolut nüchtern. Momentanes Risiko und letztendlicher Nutzen. Die positiven und negativen Seiten sorgfältig gegeneinander abgewogen. Er hätte lieber gesehen, daß ihm Mullen zur Hilfe gekommen wäre aus – nun, aus was? Aus reiner, selbstloser Anständigkeit? Stuart mußte im stillen über sich lachen. Er fing an, von Menschen Idealismus zu erwarten statt guter, ehrlicher, egozentrischer Motivation. Polyorketes war wie betäubt. Trauer und Wut brannten wie Säure in ihm, aber sie hatten keine Worte, um herauszukommen. Wenn er Stuart wäre, Stuart mit dem großen Mund und den weißen Händen, dann könnte er reden und reden, und es würde ihm vielleicht besser gehen. Statt dessen mußte er hier sitzen, zur Hälfte tot; ohne Bruder, ohne Aristides … Es war alles so schnell passiert. Könnte er die Zeit doch nur zurückdrehen, eine Sekunde mehr haben, damit er Aristides vielleicht hätte festhalten, zurückhalten, ihn retten können. 120
Aber am meisten haßte er die Kloros. Noch vor zwei Monaten hatte er kaum gewußt, daß es sie gab, und jetzt haßte er sie so sehr, daß er mit Freuden sterben würde, wenn er nur ein paar von ihnen umbringen könnte. »Was hat diesen Krieg eigentlich ausgelöst?« fragte er, ohne aufzusehen. Er hatte Angst, daß Stuarts Stimme ihm antworten würde. Er haßte Stuarts Stimme. Aber es war Windham, der Glatzkopf. »Der unmittelbare Anlaß, Sir«, erklärte der Colonel, »war ein Streit über Minenkonzessionen im WyandotteSystem. Die Kloros hatten sich Eigentum der Erde angeeignet.« »Es ist Platz genug für beide, Colonel!« Polyorketes hob wütend den Kopf. Dieser Stuart konnte doch nie lange den Mund halten. Jetzt mischte er sich wieder ein, dieser Besserwisser, dieser Kloro-Freund mit den Krüppelhänden. »Ist das ein Grund, sich zu streiten, Colonel?« fuhr er fort. »Wir können doch nichts mit den Planeten des anderen anfangen. Ihre Chlorwelten sind nutzlos für uns, und unsere Sauerstoffwelten nutzlos für sie. Chlor ist tödlich für uns, und Sauerstoff ist tödlich für sie. Es wäre auf die Dauer unmöglich, die Feindschaft weiterzuführen. Unsere Rassen sind einfach zu verschieden. Ist es denn ein Grund, Krieg zu führen, nur weil beide Rassen zufällig auf denselben luftlosen Planetoiden Eisen abbauen wollen, wo es Millionen anderer in der Galaxis gibt?«
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»Es ist eine Frage der planetarischen Ehre«, warf Windham ein. »Planetarische Ehre! Ist das eine Entscheidung für einen so lächerlichen Krieg wie diesen? Er kann nur auf Außenposten ausgetragen werden. Irgendwann beschränken sich beide Seiten dann nur noch auf Verteidigung, und schließlich wird er durch Verhandlungen beigelegt, die schon direkt zu Beginn hätten geführt werden können. Weder wir oder die Kloros werden irgend etwas gewinnen.« Polyorketes mußte, wenn auch widerwillig, zugeben, daß Stuart recht hatte. Was ging es ihn oder Aristides an, woher die Erde oder die Kloros ihr Eisen bekamen? Und war das ein Grund, daß Aristides hatte sterben müssen? Plötzlich ertönte der kleine Warnsummer. Polyorketes' Kopf fuhr ruckartig in die Höhe, und er stand langsam auf, wobei sich seine Lippen zurückzogen. Er wußte, wer draußen vor der Tür war. Mit angespannten Armen und geballten Fäusten wartete er. Stuart rückte langsam an ihn heran. Polyorketes sah es und mußte insgeheim lachen. Wenn der Kloro hereinkam, würden ihn weder Stuart noch die anderen aufhalten können. Warte, Aristides, nur noch einen Augenblick Geduld, dann werde ich dich wenigstens schon ein bißchen rächen können. Die Tür ging auf, und eine Gestalt kam herein, die ganz in eine formlose, wogende Travestie eines Raumanzugs gehüllt war. 122
Eine seltsame, unnatürliche, aber nicht unangenehme Stimme begann: »Zu unserer Besorgnis, Erdenmenschen, haben mein Begleiter und ich …« Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick stürzte sich Polyorketes brüllend auf ihn. Es steckte keine Überlegung hinter dem Angriff. Er stürmte los wie ein Bulle, der ein rotes Tuch sieht. Den dunklen Kopf gesenkt, die stämmigen Arme mit den behaarten Fingern zur Seite ausgestreckt, rannte er vorwärts. Stuart wurde zur Seite gewirbelt, bevor er noch dazu kam, einzugreifen und stolperte gegen ein Bett. Der Kloro hätte Polyorketes ohne große Mühe mit ausgestreckten Armen stoppen oder einfach einen Schritt zur Seite treten können. Aber er tat nichts von beidem. Mit einer schnellen Bewegung hatte er eine Handwaffe oben, und ein blaßrosa Strahl traf den anstürmenden Erdenmenschen. Polyorketes wankte und stürzte zu Boden, wobei sein Körper in der Position, die er zuletzt gehabt hatte, liegenblieb, einen Fuß erhoben, als wäre er im Bruchteil einer Sekunde gelähmt geworden. Der Fuß fiel zu einer Seite herunter, und der Farmer lag da, mit wachen Augen, die vor Wut funkelten. »Er ist nicht verletzt«, sagte der Kloro. Er schien über den Angriff keineswegs verärgert. Dann begann er noch einmal: »Zu unserer Besorgnis, Erdenmenschen, haben mein Begleiter und ich einen gewissen Aufruhr in diesem Raum vernommen. Haben Sie irgendeinen Wunsch, den wir befriedigen können?«
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Stuart kümmerte sich wütend um sein Knie, das er sich bei der Kollision mit dem Bett aufgeschlagen hatte. »Nein, danke, Kloro«, antwortete er. »Hören Sie zu«, schnaubte Windham. »Es ist ein unerhörter Skandal. Wir verlangen, sofort auf freien Fuß gesetzt zu werden.« Der winzige, insektenähnliche Kopf des Kloros drehte sich in die Richtung des dicken alten Mannes. Es war kein erfreulicher Anblick für jemanden, der nicht daran gewöhnt war. Er war etwa so groß wie ein Erdenmensch, aber oben hatte er einen spindeldürren Hals mit einem Kopf, der nichts weiter als eine winzige Schwellung war. Sie bestand aus einem stumpfen, dreieckigen Rüssel vorn und zwei Froschaugen auf jeder Seite. Das war alles. Es gab keine Gehirnschale und auch kein Gehirn. Was bei einem Kloro dem menschlichen Gehirn entsprach, saß in dem beim Menschen entsprechenden Unterleib, wodurch der Kopf nur die Funktion eines Sinnesorgans übernahm. Der Raumanzug des Kloros folgte mehr oder weniger getreu den Umrissen seines Kopfes, wobei sich dort, wo die hervortretenden Augen saßen, zwei Halbkugeln aus durchsichtigem Glas befanden, die aufgrund der Chloratmosphäre im Innern leicht grünlich schimmerten. Eins der Augen war jetzt direkt auf Windham gerichtet, der unter dem Blick unbehaglich zitterte, aber trotzdem fortfuhr: »Sie haben kein Recht, uns gefangenzuhalten. Wir sind Zivilisten.« »Ist das Ihr Ernst?« entgegnete die Stimme. »Sicher haben Sie von Kriegsrecht und Kriegsgefangenen gehört.« 124
Das Wesen sah sich um, drehte die Augen mit kurzen, ruckartigen Bewegungen seines Kopfes und starrte immer erst mit dem einen und dann mit dem anderen auf ein bestimmtes Ziel. Stuart wußte, daß jedes Auge eine separate Botschaft an das Gehirn im Unterleib schickte, das die beiden koordinieren mußte, um volle Information zu erhalten. Windham hatte nichts mehr zu sagen. Genau wie alle anderen. Da stand der Kloro, mit vier Hauptgliedern, paarweise in etwa Armen und Beinen entsprechend, und einem vage menschlichen Aussehen unter dem tarnenden Anzug, wenn man nicht höher als bis zu seiner Brust sah, aber niemand konnte sagen, was dieses Wesen fühlte. Sie sahen ihm nach, wie es sich umdrehte und hinausging. Porter hustete und meinte mit erstickter Stimme: »Mein Gott, riecht das nach Chlor. Wenn sie nichts daran tun, sterben wir hier noch alle an kaputten Lungen.« »Halten Sie den Mund«, fiel Stuart ein. »Es ist noch nicht mal genug Chlor in der Luft, daß eine Mücke niesen müßte, und das bißchen, was da ist, wird in ein paar Minuten wieder weg sein. Außerdem schadet Ihnen ein bißchen Chlor nicht. Vielleicht tötet es Ihren Erkältungsvirus.« Windham hustete. »Stuart, ich finde, Sie hätten Ihren KloroFreunden ruhig sagen können, daß sie uns freilassen sollen. In ihrer Gegenwart sind Sie verflucht noch mal ganz und gar nicht so mutig, wie wenn sie wieder weg sind.«
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»Sie haben doch gehört, was das Wesen gesagt hat, Colonel. Wir sind Kriegsgefangene, und ein Gefangenenaustausch wird immer über Diplomaten verhandelt. Uns wird nichts übrigbleiben, als zu warten.« Leblanc, der beim Eintreten des Kloros käseweiß geworden war, stand auf und lief zur Toilette. Augenblicke später waren würgende Geräusche zu hören. Ein unbehagliches Schweigen fiel über den Raum, während Stuart überlegte, was er sagen konnte, um das unangenehme Geräusch zu übertönen. Mullen kam ihm zu Hilfe. Er hatte in einer kleinen Schachtel herumgesucht, die er unter seinem Kopfkissen hervorgezogen hatte. »Vielleicht sollte Mr. Leblanc lieber ein Beruhigungsmittel nehmen, bevor er sich schlafen legt. Ich habe ein paar dabei. Er kann gerne eins haben.« Er erklärte seine Großzügigkeit augenblicklich. »Wissen Sie, sonst hält er uns nachher hoch alle wach.« »Sehr logisch«, bemerkte Stuart trocken. »Sie würden am besten auch noch eine für unseren Sir Lancelot hier aufheben; oder sagen wir, ein halbes Dutzend.« Er ging zu Polyorketes hinüber, der immer noch ausgestreckt auf dem Boden lag, und kniete sich neben ihn. »Na, liegen wir bequem so, mein Guter?« »Verflixt geschmacklos, so etwas zu sagen, Stuart.« »Wenn Sie so besorgt um ihn sind, warum heben Sie ihn dann nicht mit Porter auf sein Bett?« Er half ihnen dabei. Polyorketes' Arme zuckten jetzt konvulsivisch. Nach dem, was Stuart über die Nervenwaffen der Kloros wußte, durfte der Mann 126
mittlerweile ziemliche Schmerzen haben, als würden ihn tausend Nadeln stechen. »Sie brauchen nicht so sanft mit ihm umzugehen«, sagte Stuart. »Wegen dieses verdammten Idioten hätten wir alle sterben können. Und wofür?« Er schob Polyorketes' steifen Körper zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. »Können Sie mich hören, Polyorketes?« Polyorketes' Augen funkelten. Ein Arm hob sich kraftlos und fiel sofort wieder herunter. »Schön, dann passen Sie auf. Versuchen Sie so etwas nie wieder. Beim nächsten Mal könnte es das Ende für uns alle bedeuten. Sie sollten endlich mal eins in Ihren Schädel kriegen: Das mit Ihrem Bruder tut uns leid und ist verdammt schlimm, aber es war seine eigene Schuld.« Polyorketes versuchte, sich zu erheben, und Stuart drückte ihn wieder zurück. »Nein, Sie hören schön weiter zu. Vielleicht bleibt das die einzige Gelegenheit, daß ich mal mit Ihnen reden kann und Sie mir zuhören müssen. Ihr Bruder hatte kein Recht, die Passagierunterkunft zu verlassen. Er konnte nirgendwo hingehen. Er ist unseren eigenen Leuten in die Quere gekommen. Wir wissen noch nicht mal genau, ob er überhaupt von einer Kloro-Waffe getroffen worden ist. Es hätte auch eine von uns sein können.« »Jetzt hören Sie aber auf, Stuart«, wandte Windham ein. Stuart fuhr zu ihm herum. »Können Sie das Gegenteil beweisen? Haben Sie den Schuß gesehen? Können Sie
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anhand dessen, was von ihm übriggeblieben ist, vielleicht feststellen, ob es Erdenenergie oder Kloroenergie war?« Polyorketes fand seine Stimme zurück und brachte seine widerstrebende Zunge zu einer undeutlichen, verächtlichen Erwiderung. »Verdammter stinkender grüner Bastard.« »Ich? Ich weiß, was jetzt in Ihrem Kopf vorgeht, Polyorketes. Sie denken, wenn die Lähmung nachläßt, können Sie Ihren Gefühlen Luft machen, indem Sie mich herumprügeln. Nun, sollten Sie das tun, wird es wahrscheinlich das Ende für uns alle bedeuten.« Er erhob sich und stellte sich mit dem Rücken an die Wand. In diesem Augenblick kämpfte er gegen sie alle. »Keiner von euch kennt die Kloros so wie ich. Die physischen Unterschiede, die ihr seht, haben keine Bedeutung. Was zählt, sind die Unterschiede im Temperament. Sie begreifen zum Beispiel nicht unsere Ansichten über Sex. Für sie ist es ganz einfach ein biologischer Reflex wie das Atmen. Sie messen ihm keinen Wert bei. Wem sie aber Wert beimessen, das sind soziale Gruppierungen. Vergeßt nicht, ihre evolutionären Vorfahren hatten eine ganze Menge gemeinsam mit unseren Insekten. Sie nehmen immer an, daß jede Gruppe von Erdenmenschen, die sie finden, eine soziale Einheit bildet. »Und das bedeutet für sie so gut wie alles. Ich verstehe nicht genau, was es bedeutet. Das kann kein Erdenmensch verstehen. Aber die Folge ist, daß sie keine Gruppe auseinanderreißen, genau wie wir möglichst nicht eine Mutter von ihren Kindern trennen. Einer der Gründe, 128
warum sie uns jetzt vielleicht mit Samthandschuhen anfassen, ist der, daß sie denken, wir wären völlig am Ende, weil sie einen von uns getötet haben, und sie sich schuldig fühlen. Eins solltet ihr immer im Kopf behalten: Wir werden zusammen interniert werden und auch die ganze Zeit zusammen bleiben. Ein Gedanke, der mir nicht gerade gefällt. Ich hätte mir keinen von euch als Mitgefangenen ausgesucht, wenn ich hätte wählen dürfen, und ich bin ziemlich sicher, daß auch keiner von euch mich ausgesucht hätte. Aber wir sind nun einmal zusammen, und die Kloros würden es nie verstehen können, daß wir nur rein zufällig zusammen auf dem Schiff waren. Das heißt, daß wir irgendwie miteinander auskommen müssen. Und ich erzähle euch hier nicht irgendeinen vor. Was glaubt ihr, was passiert wäre, wenn die Kloros früher hereingekommen wären und Polyorketes und mich entdeckt hätten, wie wir dabei waren, uns gegenseitig umzubringen? Nun, was würdet ihr wohl von einer Mutter denken, die versucht, ihre Kinder umzubringen? Das wär's dann gewesen. Sie hätten uns alle als einen, in ihren Augen, Haufen Perverser und Monster umgebracht. Habt ihr das kapiert? Was ist mit Ihnen, Polyorketes? Haben Sie es kapiert? Also, laßt uns einander von mir aus gegenseitig beschimpfen, aber haltet eure Hände bei euch. Wenn keiner etwas dagegen hat, werde ich jetzt meine Hände wieder in Form massieren – diese künstlichen Hände hier, die ich von den Kloros bekommen habe und die mir jemand von meinen eigenen Leuten wieder zerquetschen wollte.« 129
Für Claude Leblanc war das schlimmste vorbei. Er war todunglücklich gewesen, todunglücklich wegen einer ganzen Menge Dinge, aber am meisten darüber, daß er überhaupt die Erde verlassen hatte. Es war eine tolle Sache gewesen, auf einem anderen Planeten zum College zu gehen. Es war ein Abenteuer gewesen und hatte ihn von seiner Mutter weggeführt. Nach den ersten vier Wochen ängstlicher Anpassung war er insgeheim froh gewesen, daß er sich davongemacht hatte. Und dann, in den Sommerferien, war er nicht mehr Claude, der schüchterne Schüler gewesen, sondern Leblanc, der Raumreisende. Er hatte mit dieser Tatsache renommiert, so sehr er konnte. Er fühlte sich so männlich, wenn er von den Sternen und den Sprüngen erzählte, von den Sitten und der Umwelt anderer Planeten; und es hatte ihn mutig bei Margret gemacht. Sie hatte ihn der Gefahren wegen geliebt, die er auf sich genommen hatte … Nur, daß dies die erste richtige Gefahr war, die er erlebte, und er hatte sich gar nicht so gut gehalten. Er wußte es und schämte sich, und er wünschte, so zu sein wie Stuart. Er benutzte die Essenszeit als Ausrede, an ihn heranzutreten. »Mr. Stuart?« Stuart sah auf. »Wie fühlen Sie sich?« fragte er kurz. Leblanc merkte, wie er rot wurde. Er wurde sehr leicht rot, und wenn er sich anstrengte, nicht rot zu werden, wurde es nur noch schlimmer. »Danke, viel besser. Wir essen gerade, und ich dachte, ich bringe Ihnen Ihre Portion.« 130
Stuart nahm die Dose, die ihm der Junge hinhielt. Es war die Standardraumverpflegung; völlig synthetisch, konzentriert, nahrhaft und irgendwie unbefriedigend. Sie wärmte sich automatisch auf, wenn die Dose geöffnet wurde, konnte aber, wenn nötig, auch kalt gegessen werden. Obwohl ein kombiniertes GabelLöffel-Gerät beigefügt war, bestand die Ration aus einer so festen Masse, daß es praktisch war, die Finger zu benutzen, ohne daß man sie dabei besonders schmutzig machte. »Haben Sie meine kleine Ansprache gehört?« wollte Stuart wissen. »Ja, Sir. Ich möchte, daß Sie wissen, daß Sie auf mich zählen können.« »Freut mich. Jetzt gehen Sie und essen.« »Darf ich hier essen?« »Wie Sie möchten.« Einen Moment aßen sie schweigend, dann platzte Leblanc heraus: »Sie sind so selbstsicher, Mr. Stuart! Es muß ganz toll sein, so zu sein!« »Selbstsicher? Danke, aber Ihr Selbstsicherer sitzt dort.« Leblanc folgte überrascht der Richtung, in die Stuart genickt hatte. »Mr. Mullen? Dieser kleine Mann da? Oh nein!« »Sie halten ihn nicht für selbstsicher?« Leblanc schüttelte den Kopf. Er betrachtete Stuart aufmerksam, um zu sehen, ob er vielleicht nur Spaß machte. »Der da ist doch bloß kalt. Er hat überhaupt keine Gefühle. Er ist wie eine kleine Maschine. Ich finde ihn
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abstoßend. Sie sind ganz anders, Mr. Stuart. Sie haben Gefühle, aber Sie wissen sie zu beherrschen. Ich wäre auch gern so.« Als zöge ihn die Erwähnung seines Namens, auch wenn er es nicht gehört hatte, magnetisch an, gesellte sich jetzt Mullen zu den beiden. Er hatte seine Ration kaum angerührt. Sie dampfte noch leicht, als er sich ihnen gegenüber hinhockte. Seine Stimme hatte den üblichen Klang nach heimlich knisterndem Unterholz. »Wie lange, meinen Sie, Mr. Stuart, wird der Flug dauern?« »Kann ich nicht sagen, Mullen. Sie werden mit Sicherheit die üblichen Handelsrouten umgehen und mehr Sprünge als normal durch den Hyperraum machen, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Es würde mich nicht überraschen, wenn er eine Woche dauerte. Warum fragen Sie? Ich nehme an, Sie haben einen sehr praktischen und logischen Grund dafür?« »Eh, ja. Natürlich.« Er schien ziemlich unempfindlich für Sarkasmus. »Mir ist der Gedanke gekommen, daß es vielleicht klug wäre, die Rationen sozusagen zu rationieren.« »Wir haben genug zu essen und Wasser für einen Monat. Das habe ich als erstes überprüft.« »Ich verstehe. In diesem Fall werde ich meine Dose aufessen.« Das tat er dann auch, wobei er sich geziert des Allzweckbestecks bediente und von Zeit zu Zeit mit einem Taschentuch seine untadelig sauberen Lippen abtupfte.
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Etwa zwei Stunden später kam Polyorketes mühsam auf die Beine. Er wankte ein bißchen und sah aus wie jemand mit einem schrecklichen Kater. Er unternahm keinen Versuch, sich Stuart zu nähern, sondern redete von dort, wo er stand. »Passen Sie bloß auf, Sie stinkender grüner Spion.« »Sie haben gehört, was ich gesagt habe, Polyorketes.« »Das habe ich. Und ich habe auch gehört, was Sie über Aristides gesagt haben. Ich werde mich nicht an Ihnen vergreifen, weil Sie nichts weiter als ein Ballon voll quakender Luft sind. Aber eines Tages werden Sie Ihre Luft in ein falsches Gesicht blasen, und dann wird sie Ihnen jemand rauslassen.« »Ich werde warten.« Windham kam herübergehumpelt und stützte sich schwer auf seinen Stock. »Aber, aber«, rief er mit schnaufender Jovialität, die seine schwitzende Angst so schlecht verbarg, daß sie sie noch hervorhob. »Verflucht, wir sind doch alle Erdenmenschen. Vergeßt das nicht; bewahrt es als ein leuchtendes Licht der Inspiration. Laßt euch nie vor diesen verdammten Kloros gehen. Wir müssen alle privaten Fehden vergessen und nur daran denken, daß wir Erdenmenschen sind, die der gemeinsame grüne Feind vereint.« Stuarts Kommentar war nicht druckreif. Porter stand direkt hinter Windham. Er hatte sich eine Stunde lang mit dem kahlköpfigen Colonel unter vier Augen beraten, und jetzt meinte er empört: »Ihre klugscheißerische Rederei hilft uns nicht weiter. Sie hören 133
jetzt mal dem Colonel zu. Wir haben uns die Situation lange durch den Kopf gehen lassen.« Er hatte sich sein schmieriges Gesicht gewaschen, so daß es jetzt halbwegs sauber war, sein Haar naß gemacht und zurückgestrichen. Aber das änderte nichts an dem kleinen, nervösen Zucken auf seiner rechten Wange, genau da, wo die Lippen aufhörten, und es machte auch nicht den Anblick der Hände mit den abgekauten Nägeln erfreulicher. »Also, Colonel«, sagte Stuart, »was haben Sie auf dem Herzen?« »Ich ziehe es vor, alle Männer dabei zu haben.« »Okay, dann rufen Sie sie.« Leblanc beeilte sich, herüberzukommen, während Mullen etwas gemächlicher herankam. »Der da auch?« Stuart ruckte mit dem Kopf in Polyorketes' Richtung. »Sicher. Mr. Polyorketes, würden Sie uns auch die Ehre geben, alter Knabe?« »Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe.« »Schießen Sie los«, forderte Stuart den Colonel auf. »Lassen Sie ihn doch da. Ich will ihn nicht dabei haben.« »Nein, nein«, widersprach Windham. »Es betrifft alle Erdenmenschen. Mr. Polyorketes, wir brauchen auch Sie.« Polyorketes rollte sich von einer Seite seines Betts hinunter. »Ich bin nahe genug, daß ich Sie hören kann.« »Ob sie – ich meine die Kloros – diesen Raum abhören lassen?« wollte Windham von Stuart wissen. 134
»Nein. Warum sollten sie?« »Sind Sie sicher?« »Natürlich bin ich sicher. Sie wußten nicht, was passiert ist, als Polyorketes auf mich losgegangen ist. Sie haben bloß etwas poltern gehört.« »Vielleicht wollten sie nur, daß wir denken, der Raum wird nicht abgehört.« »Hören Sie, Colonel, ich habe noch nie erlebt, daß ein Kloro vorsätzlich gelogen hat …« »Dieser Quaker liebt die Kloros ja regelrecht«, unterbrach ihn Polyorketes ruhig. »Fangen wir nicht schon wieder damit an«, ging Windham hastig dazwischen. »Sehen Sie, Stuart, Porter und ich haben beratschlagt, und wir meinen, daß Sie die Kloros gut genug kennen, um sich eine Möglichkeit vorstellen zu können, wie wir zurück zur Erde kommen.« »Da sind Sie zufällig im Irrtum. Das kann ich nämlich nicht.« »Vielleicht gibt es irgendeine Möglichkeit, wie wir diesen verdammten grünen Burschen das Schiff wieder wegnehmen können«, überlegte Windham. »Irgendeine schwache Stelle, die sie vielleicht haben. Verdammt, Sie wissen schon, was ich meine.« »Sagen Sie, Colonel, worum geht es Ihnen eigentlich? Um Ihre eigene Haut oder um das Wohl der Erde?« »Ich finde diese Frage unerhört. Natürlich habe ich genau das Recht wie jeder andere, an meinem Leben zu
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hängen, aber ich denke in erster Linie an die Erde. Und ich glaube, das trifft für alle von uns zu.« »Da haben Sie verdammt recht«, sagte Porter sofort. Leblanc sah ängstlich aus, Polyorketes böse, während Mullens Gesicht völlig ausdruckslos war. »Schön«, meinte Stuart. »Natürlich glaube ich nicht, daß wir das Schiff zurückerobern können. Sie sind bewaffnet und wir nicht. Aber es sieht folgendermaßen aus: Sie wissen, warum die Kloros dieses Schiff unversehrt einnehmen wollten. Weil sie Schiffe brauchen. Sie mögen bessere Chemiker sein als die Erdenmenschen, aber Erdenmenschen sind bessere Raumfahrttechniker. Wir haben größere, bessere und mehr Schiffe. Wenn unsere Besatzung die richtige Achtung vor militärischen Grundsätzen gehabt hätte, hätte sie das Schiff in die Luft gejagt, sobald es danach aussah, daß die Kloros es entern würden.« Leblanc sah ihn entsetzt an. »Und die Passagiere umgebracht?« »Warum nicht? Sie haben doch gehört, was der Colonel gesagt hat. Jeder von uns stellt sein lausiges Leben hinter die Interessen der Erde. Was nützt es der Erde, daß wir noch leben? Überhaupt nichts. Und welchen Schaden kann dieses Schiff in den Händen der Kloros anrichten? Eine ganze Menge, wahrscheinlich.« »Aber warum«, meldete sich Mullen zu Wort, »wollten unsere Männer das Schiff nicht in die Luft jagen? Sie müssen doch einen Grund gehabt haben.«
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»Den hatten sie. Es ist ein fester Grundsatz des Militärs auf der Erde, daß das Verhältnis der Opfer auf beiden Seiten nie negativ sein darf. Wenn wir uns in die Luft gejagt hätten, wären auf unserer Seite zwanzig Kämpfer und sieben Zivilisten zu beklagen gewesen, während es auf der Seite des Feindes keine Opfer gegeben hätte. Also was passiert? Wir lassen sie an Bord kommen, töten achtundzwanzig von ihnen – ich bin sicher, daß wir mindestens so viele getötet haben – und lassen ihnen dann das Schiff.« »Reden, reden und nochmal reden«, höhnte Polyorketes. »Das Ganze hat natürlich eine Moral«, fuhr Stuart fort. »Wir können den Kloros das Schiff nicht wieder abnehmen. Wir könnten sie aber vielleicht austricksen und sie lange genug beschäftigt halten, daß einer von uns in der Zwischenzeit die Maschinen kurzschließen kann.« »Was?« rief Porter, worauf ihm Windham erschrocken bedeutete, zu schweigen. »Die Motoren kurzschließen«, wiederholte Stuart. »Damit würden wir natürlich das Schiff zerstören, aber gerade das wollen wir ja, nicht?« Leblancs Lippen waren weiß. »Ich glaube nicht, daß das klappen würde.« »Das wissen wir erst, wenn wir es versucht haben. Und was haben wir schon zu verlieren, wenn wir es versuchen?« »Unser Leben, verdammt noch mal!« schrie Porter. »Sie wahnsinniger Irrer Sie! Sie Verrückter!«
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»Wenn ich ein Irrer bin, und wahnsinnig noch dazu, dann bin ich natürlich verrückt. Aber vergessen Sie nicht: Wenn wir unser Leben verlieren, was mehr als wahrscheinlich ist, verliert die Erde damit nichts von Wert, wohingegen, wenn wir das Schiff zerstören, was uns vielleicht gelingen könnte, wir der Erde einen sehr großen Nutzen erweisen. Welcher Patriot würde da zögern? Wer hier würde sich vor seine Welt stellen?« Er sah sich unter den Schweigenden um. »Sie doch ganz sicher nicht, Colonel Windham?« Windham hustete geräuschvoll. »Mein lieber Mann, darum geht es doch gar nicht. Es muß doch eine Möglichkeit geben, wie wir dieses Schiff für die Erde retten können, ohne dabei unser Leben zu verlieren, oder?« »Schön. Dann schlagen Sie mal was vor.« »Lassen Sie uns alle nachdenken. Also, es sind nur zwei von den Kloros an Bord des Schiffs. Wenn sich einer von uns an sie heranschleichen könnte und …« »Wie denn? Das ganze übrige Schiff ist mit Chlor gefüllt. Wir würden einen Raumanzug tragen müssen. Die Schwerkraft in ihrem Teil des Schiffs ist auf KloroVerhältnisse angehoben, wer von uns also der Glückliche wäre, würde ganz langsam und schwerfällig herumtrampeln. Oh, natürlich könnte er sich an sie heranschleichen – etwa so unauffällig wie ein Skunk, das mit dem Wind kommt.« »Dann lassen wir das Ganze.« Porters Stimme zitterte. »Hören Sie, Windham, das Schiff wird nicht zerstört, ja? Mein Leben bedeutet mir eine ganze Menge, und wenn 138
einer von euch so etwas versuchen sollte, werde ich die Kloros rufen. Das ist mein voller Ernst.« »Tja«, meinte Stuart, »da hätten wir Held Nummer eins.« »Ich will zurück zur Erde«, erklärte Leblanc, »aber ich – « »Ich glaube nicht«, fiel Mullen ein, »daß unsere Chancen, das Schiff zu zerstören, gut stehen, es sei denn …« »Held Nummer zwei und drei. Was ist mit Ihnen, Polyorketes? Sie hätten die Chance, zwei Kloros zu töten.« »Ich will sie mit meinen bloßen Händen umbringen«, grollte der Farmer, und seine schweren Fäuste zuckten. »Auf ihrem Planeten werde ich sie zu Dutzenden umbringen.« »Das ist ein nettes und sicheres Versprechen für den Augenblick. Und was ist mit Ihnen, Colonel? Wollen Sie nicht in Tod und Ruhm mit mir marschieren?« »Ihre Bemerkungen sind sehr zynisch und fehl am Platze, Stuart. Es liegt doch auf der Hand, daß Ihr Plan fehlschlagen muß, wenn die anderen nicht mitmachen wollen.« »Es sei denn, ich mache es selbst, was?« »Das werden Sie nicht tun, haben Sie verstanden?« mischte sich Porter augenblicklich ein. »Natürlich werde ich das nicht«, stimmte ihm Stuart zu. »Ich gebe nicht vor, ein Held zu sein. Ich bin ganz einfach ein durchschnittlicher Patriot, der nichts dagegen hat, zu
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irgendeinem Planeten zu fliegen, auf den sie mich bringen und dort zu warten, bis der Krieg zu Ende ist.« »Es gibt natürlich eine Möglichkeit, wie wir die Kloros überraschen könnten«, meinte Mullen nachdenklich. Seine Bemerkung wäre ignoriert worden, wenn nicht Polyorketes reagiert hätte. Er deutete mit einem schwarznageligen, dicken Zeigefinger auf Mullen und lachte rauh. »Mr. Buchhalter! Mr. Buchhalter spuckt genauso große Töne wie unser verdammter grüner Spion hier. Also schön, Mr. Buchhalter, schießen Sie los. Halten Sie schon Ihre große Rede. Lassen Sie die Worte rollen wie ein leeres Faß.« Er wandte sich an Stuart und wiederholte erregt: »Ein leeres Faß! Ein leeres Faß mit verkrüppelten Händen. Taugt zu nichts anderem als zum Reden.« Mullens leise Stimme drang nicht durch, bis Polyorketes fertig war, doch dann wandte er sich direkt an Stuart und sagte: »Wir könnten vielleicht von außen an sie herankommen. Dieser Raum hat doch sicher einen TSchacht.« »Was ist ein T-Schacht?« wollte Leblanc wissen. »Nun …« begann Mullen und brach dann hilflos ab. »Das ist ein Euphemismus, mein Junge«, fuhr Stuart spöttisch für ihn fort. »Die volle Bezeichnung lautet ›Toten-Schacht‹. Es wird natürlich nicht groß herumerzählt, aber normalerweise findet man ihn in allen Haupträumen eines Schiffs. Es sind einfach kleine Luftschleusen, durch die man einen Leichnam 140
hinausbefördert. Begräbnis im Raum. Geschieht immer mit einer ganzen Menge Sentimentalität und gesenkten Köpfen, und der Captain hält eine rollende Rede in jenem Stil, wie ihn Polyorketes hier nicht mag.« Leblancs Gesicht zuckte. »Auf diesem Weg das Schiff verlassen?« »Warum nicht? Sind Sie abergläubisch? – Weiter, Mullen.« Der kleine Mann hatte geduldig gewartet. »Sobald der Betref fende draußen ist, könnte er durch die Dampfröhren wieder in das Schiff hineinkommen. Es läßt sich machen – mit Glück. Und dann wäre man ein überraschender Besucher im Kontrollraum.« Stuart musterte ihn neugierig. »Wie stellen Sie sich das vor? Kennen Sie sich vielleicht mit Dampfröhren aus?« Mullen hüstelte. »Sie meinen, weil ich im Papierschachtelgeschäft arbeite? Nun …« Er lief rosa an, wartete einen Augenblick und setzte dann noch einmal mit blasser, ausdrucksloser Stimme an. »Meine Firma, die ausgefallene Papierschachteln und neuartige Behälter herstellt, machte vor ein paar Jahren einen Versuch mit Süßigkeitenbehältern in Form von Raumschiffen für den Kindermarkt. Sie waren so konzipiert, daß, wenn man an einer Schnur zog, kleine Druckbehälter platzten und komprimierte Luft durch die nachgemachten Dampfröhren schoß, so daß die Schachtel durch die Luft flog und dabei die Süßigkeiten verstreute. Die Verkaufstheorie war die, daß die Jugendlichen es aufregend finden würden, mit dem Schiff zu spielen, und lustig, die Süßigkeiten zu fangen.
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Das Unternehmen war ein totaler Fehlschlag. Das Schiff machte Geschirr kaputt und traf ein paarmal ein Kind ins Auge. Noch schlimmer, die Kinder versuchten nicht, die Süßigkeiten zu fangen, sondern schlugen sich darum. Es war fast unser schlimmster Mißerfolg. Wir haben Tausende dabei verloren. Aber während der Konzeption der Schachteln interessierte sich das ganze Büro dafür. Es war wie ein Spiel, sehr schlecht für die Arbeitsleistung und –moral. Eine Zeitlang waren wir alle Dampfröhrenexperten. Ich habe eine ganze Reihe Bücher über Schiffsbau gelesen. In meiner freien Zeit natürlich, nicht während der Arbeitszeit.« Stuart war fasziniert. »Wissen Sie, es klingt wie im Fernsehen, aber es könnte klappen, wenn wir einen Helden hätten. Haben wir einen?« »Was ist mit Ihnen?« erwiderte Porter aufgebracht. »Die ganze Zeit kommen Sie mit Ihrem ironischen und neunmalklugen Gefasel, aber ich sehe nicht, daß Sie sich für irgend etwas freiwillig melden.« »Weil ich kein Held bin, Porter. Und ich gebe es zu. Mein Ziel ist es, am Leben zu bleiben, und ob ich das kann, wenn ich mich durch Dampfröhren quetschen muß, ist höchst fraglich. Aber ihr anderen seid doch anständige Patrioten. Das hat der Colonel gesagt. Was ist mit Ihnen, Colonel? Sie sind der älteste Held hier.« »Verdammt, wenn ich jünger wäre, und wenn Sie Hände hätten, würde es mir ein Vergnügen sein, Sir, Sie nach Strich und Faden zu verprügeln.« 142
»Das bezweifle ich nicht, aber es ist keine Antwort.« »Sie wissen sehr gut, daß ich mit meinen Jahren und meinem Bein hier –« er klopfte mit der flachen Hand auf sein steifes Knie »nicht in der Lage bin, etwas Derartiges zu tun, so gern ich es auch tun würde.« »Ah ja«, gab Stuart zurück, »und ich bin auch ein Krüppel mit meinen Händen, wie Polyorketes mir gesagt hat. Also kommen wir beide schon nicht mehr in Frage. Und welche unglücklichen Mißbildungen kann der Rest von uns aufweisen?« »Hören Sie zu«, rief Porter, »ich will wissen, was das alles soll. Wie kann denn überhaupt jemand in die Dampfröhren gehen? Was ist, wenn die Kloros sie plötzlich einsetzen, während einer von uns da drinnen ist?« »Tja, Porter, das ist eben Risiko. Dadurch wird's ja erst spannend.« »Aber er würde in der Hülle gekocht wie ein Hummer.« »Ein hübscher Vergleich, aber unzutreffend. Der Dampf würde nur für eine sehr kurze Zeit durchströmen, vielleicht für ein oder zwei Sekunden, und das würde die Anzugisolierung aushalten. Außerdem kommt der Strahl mit ein paar hundert Meilen pro Minute herausgeschossen, so daß er Sie schon aus der Röhre herausgeblasen hätte, bevor der Dampf Sie auch nur anwärmen könnte. Um präzise zu sein, Sie würden sogar ein paar Meilen hinaus in den Raum geblasen werden, und damit würden Sie vor den Kloros ziemlich sicher. Natürlich könnten Sie dann nicht mehr zum Schiff zurück.«
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Porter schwitzte jetzt offen. »Sie können mir nicht eine Minute Angst einjagen, Stuart.« »Nein? Dann bieten Sie sich freiwillig an? Sind Sie sicher, daß Sie sich auch genau überlegt haben, was es heißt, irgendwo im Raum zu treiben? Sie sind allein, müssen Sie wissen; mutterseelenallein. Durch den Dampfstrahl werden Sie sich wahrscheinlich sehr schnell drehen. Aber das merken Sie nicht. Sie werden das Gefühl haben, als würden Sie sich überhaupt nicht bewegen. Aber die Sterne werden sich um Sie drehen und drehen, so daß sie nur Streifen am Himmel sind. Sie werden nie aufhören, sich zu drehen. Sie werden noch nicht einmal langsamer werden. Dann wird Ihre Heizung ausfallen, der Sauerstoff wird ausgehen, und Sie werden sehr langsam sterben. Sie werden sehr viel Zeit haben, nachzudenken. Wenn Sie es eilig haben, können Sie natürlich auch Ihren Anzug aufmachen, obwohl das auch nicht gerade angenehm wäre. Ich habe die Gesichter von Leuten gesehen, bei denen so ein Anzug durch Zufall zerrissen ist, und es ist ziemlich schlimm. Aber es ginge schneller. Dann …« Porter wandte sich ab und ging auf unsicheren Beinen weg. »Also wieder nichts«, sagte Stuart leichthin. »Zur Versteigerung steht noch immer eine Heldentat an den Höchstbietenden. Bisher noch kein Gebot.« Polyorketes meldete sich zu Wort, und seine ohnehin rauhe Stimme ließ die Worte noch rauher klingen. »Immer nur reden, Mr. Großmaul. Immer nur hämmern Sie auf diesem leeren Faß herum. Wir werden Ihnen sehr bald 144
schon die Zähne eintreten. Und ich glaube, da gibt es jemanden, der das nur zu gern auf der Stelle tun würde, was, Mr. Porter?« Der Blick, mit dem Porter Stuart bedachte, bestätigte die Worte des Farmers, aber er sagte nichts. »Und was ist mit Ihnen, Polyorketes?« entgegnete Stuart. »Sie sind doch der Mann mit den nackten Fäusten und dem großen Mut. Soll ich Ihnen in einen Anzug helfen?« »Ich werde Sie schon fragen, wenn ich Ihre Hilfe brauche.« »Und Sie, Leblanc?« Der junge Mann wich zurück. »Noch nicht mal, um zurück zu Margaret zu kommen?« Aber Leblanc konnte nur den Kopf schütteln. »Mullen?« »Also – ich will es versuchen.« »Sie wollen was?« »Ich habe gesagt, ich will es versuchen. Schließlich war es ja meine Idee.« Stuart sah ihn sprachlos an. »Im Ernst? Wieso?« Mullen schürzte die steifen Lippen. »Weil keiner sonst will.« »Aber das ist doch kein Grund. Vor allem für Sie nicht.« Mullen zuckte die Achseln. Hinter Stuart war das Poltern eines Stocks zu hören. Colonel Windham schob sich vorbei.
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»Haben Sie wirklich vor, es zu tun, Mullen?« »Ja, Colonel.« »In diesem Fall, lassen Sie mich Ihnen die Hand schütteln, verdammt. Sie gefallen mir. Sie sind ein – ein Erdenmensch, bei Gott. Machen Sie es, und siegen oder sterben Sie, ich werde für Sie Zeugnis ablegen.« Mullen zog seine Hand verlegen aus dem festen und bebenden Griff des anderen. Und Stuart stand einfach da. Er war in einer sehr ungewöhnlichen Position. Er war, genau gesagt, in jener speziellen aller Positionen, in der er sich höchst selten fand. Er hatte nichts zu sagen. Die Art der Spannung hatte sich verändert. Die gereizte und verzweifelte Stimmung hatte sich etwas gehoben, und an ihre Stelle war die Erregung der Verschwörung getreten. Sogar Polyorketes befingerte die Raumanzüge und gab knapp und heiser kund, welchem er den Vorzug geben würde. Mullen hatte gewisse Schwierigkeiten. Der Anzug schlotterte ziemlich locker um seine Gestalt, obwohl alle verstellbaren Nahtstellen schon auf das Minimum verengt worden waren. Es fehlte jetzt nur noch der Helm. Mullen verdrehte den Hals. Stuart hatte Mühe, den Helm zu halten. Er war schwer, und seine künstlichen Hände konnten nicht besonders gut zupacken. »Sie kratzen sich besser noch mal an der Nase,
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wenn sie jetzt juckt«, meinte er. »Es ist die letzte Gelegenheit für eine ganze Weile.« Er sagte nicht: »Vielleicht für immer«, aber er dachte es. »Vielleicht sollte ich besser noch einen zusätzlichen Sauerstoffzylinder mitnehmen«, meinte Mullen tonlos. »Gute Idee.« »Mit einem Reduzierventil.« Stuart nickte. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Wenn Sie aus dem Schiff geblasen werden sollten, könnten Sie so versuchen, sich zurückzublasen, indem Sie die Sauerstoffflasche als einen Aktions-Reaktionsmotor verwenden.« Sie schraubten ihm den Helm auf und schnallten den Zusatzzylinder an Mullens Hüfte. Polyorketes und Leblanc hoben ihn dann in die gähnende Öffnung des T-Schachts. Es war unheimlich dunkel im Innern, da die Metallverkleidung in der Trauer farbe schwarz angestrichen war. Stuart glaubte, einen muffigen Geruch wahrnehmen zu können, aber er wußte, daß es nur Einbildung war. Er unterbrach die Prozedur, als Mullen zur Hälfte in der Röhre verschwunden war, und klopfte auf die Gesichtsplatte des kleinen Mannes. »Können Sie mich hören?« Der Kopf im Innern nickte. »Ist die Sauerstoffzufuhr in Ordnung? Keine Bedenken im letzten Augenblick?« Mullen hob den eingepackten Arm zur Bestätigung.
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»Denken Sie daran, daß Sie das eingebaute Funkgerät da draußen nicht benutzen. Die Kloros könnten die Signale auffangen.« Zögernd trat er zurück. Polyorketes' kräftige Hände ließen Mullen soweit herunter, bis sie das polternde Geräusch hörten, das die in Stahlschuhen steckenden Füße auf dem Außenventil verursachten. Dann schloß sich das innere Ventil mit einer schrecklichen Endgültigkeit, und die konusförmige Silikondichtung verursachte ein leises, schmatzendes Geräusch, als es einrastete. Sie legten die Klammern vor. Stuart stand vor dem Kippschalter, mit dem die Außenklappe geöffnet wurde. Er legte es um, worauf die Anzeigenadel für den Luftdruck innerhalb der Röhre auf Null hinunterfiel. Ein kleines rotes Lichtsignal warnte, daß die Außenklappe offen war. Dann erlosch es, die Klappe schloß sich, und die Nadel kletterte langsam wieder auf fünfzehn Pfund hoch. Als sie die Innenklappe wieder aufmachten, war die Röhre leer. Polyorketes sprach als erster. »Dieser kleine Teufelskerl. Er hat es tatsächlich gewagt!« Er sah die anderen erstaunt an. »Ein so kleiner Bursche mit so viel Mut.« »Hören Sie, wir sehen besser zu, daß wir hier drinnen alles regeln. Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß die Kloros bemerkt haben, daß die Klappen geöffnet und geschlossen worden sind. Wenn ja, dann werden sie herkommen, um nachzusehen, und wir müssen Mullen decken.« 148
»Wie?« wollte Windham wissen. »Sie werden ihn hier nicht sehen. Wir sagen dann einfach, er wäre auf dem Klo. Die Kloros wissen, daß es eine der komischen Eigenheiten der Erdenmenschen ist, daß sie es nicht mögen, wenn sie auf der Toilette gestört werden, und sie werden nicht versuchen, dort nachzusehen. Wenn wir sie zurückhalten können …« »Und was ist, wenn sie warten? Oder die Raumanzüge kontrollieren?« erkundigte sich Porter. Stuart zuckte die Achseln. »Hoffen wir, daß sie es nicht tun. Und hören Sie, Polyorketes, machen Sie bloß keinen Zirkus, wenn sie reinkommen.« »Wo dieser kleine Bursche da draußen ist?« brummte Polyorketes. »Für wen halten Sie mich?« Er sah Stuart ohne Feindseligkeit an, dann kratzte er sich heftig in seinem Kraushaar. »Wissen Sie, ich habe über ihn gelacht. Ich dachte, er sei ein altes Weib. Jetzt schäme ich mich dafür.« Stuart räusperte sich. »Also, wissen Sie, wenn ich es mir recht überlege, habe ich einiges gesagt, das vielleicht überhaupt nicht so komisch war. Ich möchte nur sagen, daß es mir leid tut.« Er wandte sich verdrießlich ab und ging auf seine Koje zu. Hinter sich hörte er Schritte, dann merkte er, wie ihn jemand am Ärmel zog. Er drehte sich um; es war Leblanc. »Ich muß immer daran denken, daß Mr. Mullen ein alter Mann ist«, sagte er leise. »Na ja, er ist jedenfalls kein Kind mehr. Zwischen fünfundvierzig und fünfzig, schätze ich.« 149
»Meinen Sie, Mr. Stuart, daß ich an seiner Stelle hätte gehen sollen? Ich bin der jüngste hier. Der Gedanke, daß ich einen alten Mann für mich habe gehen lassen, gefällt mir nicht. Er macht mich hundeelend.« »Ich weiß. Es wird verdammt schade sein, wenn er stirbt.« »Aber er hat sich freiwillig dafür gemeldet. Wir haben ihn nicht dazu gezwungen, oder?« »Versuchen Sie nicht, sich vor der Verantwortung zu drücken, Leblanc. Damit fühlen Sie sich auch nicht besser. Es gibt niemanden unter uns, der ein stärkeres Motiv hatte, es zu riskieren, als er.« Und Stuart blieb schweigend sitzen und dachte nach. Mullen fühlte, wie das Hindernis unter seinen Füßen nachgab und die Wände um ihn herum schnell an ihm vorbeiglitten, zu schnell. Er wußte, es war der Sog der entweichenden Luft, der ihn mitzog, und er drückte Arme und Beine verzweifelt gegen die Wand, um sich abzubremsen. Die Toten sollten ein gutes Stück aus dem Schiff herausfliegen, aber er war kein Toter – noch nicht. Seine Füße bewegten sich frei; er trat um sich. Er hörte das Dröhnen, als einer seiner magnetischen Stiefel Kontakt mit dem Rumpf bekam, gerade als der Rest seines Körpers hinausflog wie ein festsitzender Korken unter Luftdruck. Er schwankte gefährlich am Rand der Öffnung – er hatte plötzlich seine Richtung verändert und sah auf sie hinunter –, dann trat er einen Schritt zurück, als die Klappe zuglitt und sich glatt an die Hülle anschloß. 150
Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam ihn. Sicher war es nicht er, der hier auf der Außenhülle eines Raumschiffs stand. Nicht Randolph F. Mullen. Nur wenige Menschen konnten das von sich behaupten, selbst unter denen, die ständig im Raum unterwegs waren. Nur langsam wurde ihm bewußt, daß er Schmerzen hatte. Es hätte ihn fast entzwei gerissen, als er, einen Fuß an die Hülle geklebt, aus der Öffnung geschossen war. Er versuchte vorsichtig, sich zu bewegen und stellte fest, daß seine Bewegungen sprunghaft und so gut wie nicht zu kontrollieren waren. Mullen dachte, daß er nichts gebrochen hätte, obwohl sich die Muskeln seiner linken Körperhälfte böse verzerrt hatten. Und dann kam er wieder zu sich und merkte, daß die Armbeleuchtung seines Anzugs eingeschaltet war. Mit Hilfe dieses Lichts hatte er in die Schwärze des T-Schachts geschaut. Nervös überlegte er, daß die Kloros vielleicht die beiden sich bewegenden Lichtpunkte direkt auf der Hülle sehen würden, und er legte den Schalter auf die Mittelpartie des Anzugs um. Mullen hätte nie gedacht, daß er auf einem Schiff stehen könnte, ohne es zu sehen. Aber es war dunkel, sowohl unter wie auch über ihm. Da waren nur die Sterne, harte und strahlende kleine Punkte ohne Dimension. Nichts anderes. Nirgendwo etwas anderes. Unter seinen Füßen waren nicht einmal die Sterne zu sehen – nicht einmal seine Füße. Er beugte sich zurück, um zu den Sternen hinaufzusehen. Ihm war schwindelig. Die Sterne bewegten sich langsam. Oder besser, sie standen still, und das Schiff 151
drehte sich, aber das konnte er seinen Augen nicht sagen. Sie bewegten sich. Seine Augen folgten ihnen- hinunter und hinter das Schiff. Neue Sterne tauchten auf der anderen Seite auf und stiegen auf. Ein schwarzer Horizont. Das Schiff existierte nur als ein Bereich, in dem es keine Sterne gab. Keine Sterne? Da war aber doch einer, fast an seinen Füßen. Er hätte fast danach gegriffen, dann wurde ihm bewußt, daß es sich nur um ein leuchtendes Spiegelbild auf dem reflektierenden Metall handelte. Sie bewegten sich mit Tausenden von Meilen in der Stunde vorwärts. Die Sterne waren da. Das Schiff war da. Er war da. Aber das bedeutete nichts. Für seine Sinne gab es nur Schweigen und Dunkelheit und jenes langsame Drehen der Sterne. Seine Augen folgten der Bewegung … Und sein Kopf in dem Helm stieß mit einem leisen, glockenähnlichen Klingen an die Hülle des Schiffs. Von Panik ergriffen, tastete er mit seinen dicken, gefühllosen Handschuhen aus gesponnenem Silikat um sich. Seine Füße hingen noch immer in festem magnetischen Kontakt an der Hülle, aber der Rest seines Körpers war ab den Knien in einem rechten Winkel zurückgebogen. Es gab keine Schwerkraft außerhalb des Schiffs. Wenn er sich zurückbeugte, war nichts, das den oberen Teil seines Körpers heruntergezogen und seinen Gelenken gesagt hätte, daß sie sich beugten. Sein Körper blieb in der Position, in die er ihn brachte.
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Er drückte sich verzweifelt gegen die Hülle, und sein Körper schoß vor, stoppte aber nicht, als er aufrecht war. Er fiel nach vorn. Er versuchte es langsamer, wobei er mit beiden Händen an der Hülle balancierte, bis er gerade hockte. Dann auf. Ganz langsam. Gerade. Die Arme zur Balance ausgestreckt. Er stand jetzt aufrecht, und er merkte, daß ihm übel und schwindlig war. Er sah sich um. Mein Gott, wo waren die Dampfröhren? Er konnte sie nicht sehen. Schwarz auf schwarz, nichts auf nichts. Hastig schaltete er die Handgelenkbeleuchtung ein. Im Raum gab es keine Strahlen, nur elliptische, scharf umgrenzte Stellen blauen Stahls, der Licht zu ihm zurückwarf. Wo sie auf eine Naht trafen, entstand ein Schatten, messerscharf und schwarz wie der Raum, während die beleuchtete Stelle abrupt und ohne Streuung erhellt war. Er bewegte seine Arme, sein Körper schwankte leicht in die entgegengesetzte Richtung; Aktion und Reaktion. Eine Dampfröhre mit ihren glatten, zylindrischen Seiten sprang in sein Blickfeld. Er versuchte, sich auf sie zuzubewegen. Sein Fuß haftete fest an der Hülle. Er zog, und das Bein gab nach, als zöge er ihn aus Treibsand heraus, der leicht nachgab. Drei Zoll hoch, und es war fast frei; sechs Zoll, und er dachte, es würde davonfliegen.
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Er senkte es und fühlte, wie sein Fuß wieder in Treibsand kam. Als die Sohle noch zwei Zoll von der Hülle entfernt war, wurde sie abrupt heruntergezerrt und landete, außer Kontrolle, mit einem klingenden Geräusch auf der Hülle. Sein Raumanzug leitete die Vibrationen weiter und verstärkte sie in seinen Ohren. Völlig entsetzt hielt er inne. Die Dehydratoren, die der Atmosphäre in seinem Anzug Feuchtigkeit entzogen, konnten den plötzlichen Schweißausbruch auf seiner Stirn und unter den Achseln nicht bewältigen. Er wartete, dann versuchte er wieder, seinen Fuß anzuheben nur einen Zoll, dort hielt er ihn mit aller Kraft und bewegte ihn waagerecht. Waagerechte Bewegungen erforderten überhaupt keine Anstrengung, weil es eine Bewegung war, die senkrecht zu den magnetischen Kraftlinien lief. Aber dabei mußte er darauf achten, daß der Fuß nicht nach unten gezogen wurde, und ihn dann langsam wieder senken. Er keuchte vor Anstrengung. Jeder Schritt war eine Qual. Die Bänder seiner Knie knackten, und in seiner Seite stachen Messer. Mullen stoppte, um den Schweiß trocknen zu lassen. Es würde ihm nicht helfen, wenn die Innenseite seiner Gesichtsplatte beschlug. Er ließ seine Armbeleuchtung aufblitzen, und das Licht zeigte ihm den Dampfzylinder direkt vor ihm. Das Schiff hatte vier, in Abständen von neunzig Grad, die im Winkel aus dem Mittengürtel heraustraten. Sie waren die »Feinjustierungen« des Schiffs. Die grobe 154
Regulierungsvorrichtung waren die starken Schubsysteme vorn und hinten, die die Endgeschwindigkeit durch ihre Beschleunigungs- oder Bremskraft bestimmten, sowie der Hyperatomantrieb, mit dessen Hilfe die raumschluckenden Sprünge vorgenommen wurden. Aber ab und zu mußte die Flugrichtung leicht korrigiert werden, und diese Aufgabe übernahmen die Dampfzylinder. Einzeln konnten sie das Schiff aufwärts, abwärts, nach links und nach rechts bewegen. Zu zweit eingesetzt, mit den entsprechenden Schubverhältnissen, konnte das Schiff in jede gewünschte Richtung gewendet werden. Das System war über Jahrhunderte hinweg nicht verbessert worden, weil es zu einfach war, um verbessert werden zu können. Der Reaktor erhitzte das in einem geschlossenen Behälter befindliche Wasser zu Dampf und brachte es in weniger als einer Sekunde auf Temperaturen, die es in ein Gemisch von Wasserstoff und Sauerstoff aufgespaltet hätten und dann in ein Gemisch aus Elektronen und Ionen. Vielleicht fand diese Aufspaltung tatsächlich statt, aber niemand machte sich die Mühe, es nachzuprüfen. Es funktionierte, also war es gut. Im entscheidenden Augenblick öffnete sich ein Nadelventil, und der Dampf schoß wie wild in einem kurzen, aber gewaltigen Strahl heraus. Und das Schiff bewegte sich zwangsläufig und majestätisch in die andere Richtung, wobei es sich um sein eigenes Schwerkraftzentrum drehte. Wenn der Wendungsgrad erreicht war, wurde entgegengesetzt ein gleicher Dampfstrahl abgelassen, der die Drehbewegung aufhob. Das Schiff 155
bewegte sich dann mit seiner ursprünglichen Geschwindigkeit weiter, aber in einer neuen Richtung. Mullen hatte sich jetzt seinen Weg hinaus an den Rand des Dampfzylinders gebahnt. Er konnte sich vorstellen, wie er jetzt aussah – ein winziger Fleck, der am äußersten Ende eines aus einem Oval hervortretenden Gebildes balancierte, ein Oval, das mit zehntausend Meilen in der Stunde durch den Raum schoß. Aber es gab keinen Luftstrom, der ihn von der Hülle hätte fegen können, und seine magnetischen Sohlen hielten ihn fester, als ihm lieb war. Mit eingeschalteter Beleuchtung bog er sich vor, um in die Röhre zu schauen, worauf das Schiff kopfüber hinunterfiel, als er seine Orientierung veränderte. Er streckte die Hand aus, um sich abzustützen, aber er fiel nicht. Es existierte kein Oben oder Unten im Raum, abgesehen von dem, was sein verwirrter Geist als oben oder unten ansehen wollte. Der Zylinder war gerade groß genug, daß ein Mann hineinpaßte, wenn Reparaturen vorgenommen werden mußten. Sein Armlicht fiel auf die Sprossen fast direkt gegenüber. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus mit dem bißchen Luft, das er noch hatte. Manche Schiffe hatten keine Leitern. Während er sich dorthin vorarbeitete, schien das Schiff unter ihm zu rutschen und sich zu drehen. Er hob einen Arm über den Rand der Röhre, tastete nach der Sprosse, löste jeden Fuß und zog sich dann hinein.
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Der Knoten in seinem Magen, der von Anfang an dagewesen war, verkrampfte sich schmerzhaft. Wenn sie jetzt die Flugrich tung änderten, wenn der Dampf gerade jetzt herausschoß … Er würde es nicht hören und auch nie erfahren. In einem Augenblick würde er sich an einer Sprosse festhalten und mit der andern Hand nach der nächsten greifen, und im nächsten trieb er schon allein im Raum, und das Schiff war nur ein dunkles, dunkles Nichts, das sich in den Sternen verlor. Vielleicht würde ihn für kurze Zeit ein Wirbel von Eiskristallen begleiten, die im Licht seiner Armbeleuchtung schimmerten und langsam herankamen und sich um ihn drehten, angezogen von seiner Masse wie unendlich kleine Planeten von einer lächerlich kleinen Sonne. Wieder begann er zu schwitzen, und er merkte auch, daß er Durst hatte. Er verdrängte das Bewußtsein. Zu trinken gab es erst, wenn er wieder aus seinem Anzug war – wenn überhaupt. Eine Stufe hinauf; eine weitere; und noch eine. Wie viele waren es? Seine Hand rutschte aus, und er starrte ungläubig auf das Glitzern, das sich in seinem Licht zeigte. Eis? Wieso nicht? Der unvorstellbar heiße Dampf würde auf Metall treffen, das ungefähr den absoluten Nullpunkt hatte. In den wenigen Bruchteilen von Sekunden, die der Dampf durch die Röhre schoß, würde das Metall keine Zeit bekommen, sich über den Gefrierpunkt des Wassers aufzuwärmen. Es würde sich eine Eisschicht bilden, die
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sich dann langsam im Vakuum verflüchtigte. Die Schnelligkeit, mit der das geschah, verhinderte, daß die Röhren und der Wasserbehälter selbst dabei schmolzen. Seine tastende Hand hatte das Ende erreicht. Wieder die Armbeleuchtung. Schaudernd starrte er auf die Dampfdüse, die einen Durchmesser von einem halben Zoll hatte. Sie sah tot und harmlos aus. Aber das würde sie immer, bis zu der Mikrosekunde vor – Um die Düse befand sich der äußere Dampfverschluß. Er war frei auf einem Mittelstück gelagert, das auf Federn zur Raumseite hin saß und an der Schiffsseite angeschraubt war. Die Federn erlaubten es ihm, unter dem ersten heftigen Stoß des Dampfdrucks nachzugeben, bis die ungeheure Trägheit des Schiffs überwunden werden konnte. Der Dampf wurde in die Innenkammer geblasen, in der die Wucht des Drucks gebrochen wurde, wobei die Gesamtenergie unverändert blieb, der Dampf aber so verteilt wurde, daß das Schiff weitaus weniger Gefahr lief, ein Loch zu bekommen. Mullen stützte sich fest gegen eine Sprosse und drückte gegen den Außenverschluß, bis er etwas nachgab. Er ließ sich nur schwer bewegen, aber er mußte ja nicht weit nachgeben, nur soviel, bis er auf der Schraube einrastete. Er fühlte, wie sie einschnappte. Mullen drückte dagegen und drehte sie, und er merkte, wie sich sein Körper in die entgegengesetzte Richtung drehte. Es hielt, und die Schraube übernahm jetzt den Druck, als er vorsichtig den kleinen Kontrollschalter
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einstellte, der die Federn löste. Wie gut er sich noch an die Bücher erinnerte, die er gelesen hatte! Er befand sich jetzt in der Zwischenkammer, die so groß war, daß ein Mann bequem hineinpaßte, wieder zur Erleichterung von Reparaturarbeiten. Er konnte jetzt nicht mehr aus dem Schiff geblasen werden. Wenn jetzt der Dampfstrahl eingeschaltet wurde, würde er ihn nur gegen die innere Absperrung wirbeln – hart genug, um ihn zu Brei zu zerquetschen. Wenigstens ein schneller Tod, von dem er nichts merken würde. Langsam löste er seine zusätzliche Sauerstoffflasche vom Gürtel. Zwischen ihm und dem Kontrollraum befand sich nun nur noch eine Innenabsperrung, die sich hinaus in den Raum öffnete, so daß der Dampfstrahl sie nicht aufblasen, sondern höchstens noch fester verschließen würde. Und sie schloß dicht und glatt ab. Er hob sich über die Klappe, wobei er seinen gebeugten Rücken gegen die Innernfläche des Zwischenraums drückte. Es erschwerte das Atmen. Die Zusatzflasche baumelte in einem komischen Winkel herunter. Er hielt sie an dem Metallgeflechtschlauch fest, zog sie gerade und schwenkte sie gegen die Innenklappe, so daß das Metall vibrierte. Wieder – und wieder – Es mußte die Aufmerksamkeit der Kloros erregen. Sie würden nachsehen müssen. Nur wann, das konnte er nicht sagen. Normalerweise würden sie erst Luft in die Zwischenkammer lassen, damit sich die Außenabsperrung zudrückte. Aber jetzt war die Außenklappe an der Mittelschraube eingerastet und würde 159
nicht abschließen. Luft würde wirkungslos um sie herumströmen und hinaus in den Raum gesaugt werden. Mullen hämmerte weiter gegen die Innenklappe. Würden die Kloros auf den Luftdruckmesser sehen und merken, daß sich der Zeiger kaum über Null hob, oder würden sie sich darauf verlassen, daß es richtig funktionierte? »Er ist jetzt seit anderthalb Stunden weg«, stellte Porter fest. »Ich weiß«, erwiderte Stuart. Sie waren alle nervös und unruhig, aber die Spannung untereinander war verschwunden. Es war, als ob sich alle Emotionen auf die Hülle des Schiffs konzentrierten. Porter war beunruhigt. Seine Lebensphilosophie war immer einfach gewesen: Kümmere dich um dich selbst, weil sich keiner um dich kümmern wird. Es brachte ihn durcheinander, die anderen erschüttert zu sehen. »Was meinen Sie, ob sie ihn erwischt haben?« »Wenn, dann hätten wir es schon gehört«, gab Stuart kurz zurück. Porter merkte, daß die anderen wenig Interesse daran hatten, mit ihm zu sprechen, und es schmerzte ihn. Er konnte es ja verstehen; er hatte sich nicht gerade ihre Achtung verdient. Einen Moment lang suchten seine Gedanken nach einer Entschuldigung. Die anderen hatten auch Angst gehabt. Ein Mann hatte das Recht, Angst zu haben. Keiner starb gern. Wenigstens war er nicht hinausgerannt wie Aristides Polyorketes. Er hatte nicht geweint wie Leblanc. Er … 160
Aber da war Mullen, draußen auf der Hülle. »Warum hat er es getan?« schrie er. Die anderen drehten sich zu ihm um und starrten ihn verständnislos an, aber es war ihm egal. Es hatte ihn lange genug gequält, und jetzt mußte es heraus. »Ich will wissen, warum Mullen sein Leben riskiert.« »Der Mann«, antwortete Windham, »ist ein Patriot …« »Kommen Sie mir nicht damit!« Porter war fast hysterisch. »Dieser kleine Mann kennt überhaupt keine Emotionen. Er kennt nur Gründe, und ich will wissen, was für Gründe das sind, weil …« Er führte den Satz nicht zu Ende. Konnte er sagen, daß wenn diese Gründe auf einen kleinen Buchhalter in mittleren Jahren zutrafen, sie vielleicht noch zwingender auch auf ihn selbst zutrafen? »Er ist ein verdammt mutiger kleiner Bursche«, stellte Polyorketes fest. Porter stand auf. »Vielleicht hängt er da draußen fest. Vielleicht schafft er es nicht alleine. Ich melde mich freiwillig, nachzusehen.« Er zitterte, während er das sagte, und er wartete ängstlich auf eine sarkastische Bemerkung von Stuart. Stuart sah ihn an, wahrscheinlich überrascht, aber Porter wagte nicht, seinem Blick zu begegnen, um sich zu vergewissern. »Geben wir ihm noch eine halbe Stunde«, schlug Stuart leise vor.
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Porter sah verblüfft auf. Er konnte keinen verächtlichen Ausdruck auf Stuarts Gesicht entdecken. Es war sogar freundlich. Sie alle sahen ihn freundlich an. »Und dann …« begann er. »Und dann werden alle Freiwilligen Strohhalme ziehen oder irgend etwas anderes Demokratisches. Wer meldet sich noch, außer Porter?« Alle hoben die Hände; auch Stuart. Aber Porter war glücklich. Er hatte sich als erster gemeldet. Er konnte es kaum erwarten, bis die halbe Stunde herum war. Mullen wurde völlig überrascht. Die Außenklappe flog auf, und der lange, dünne, schlangenähnliche und fast kopflose Hals eines Kloros schoß heraus, unfähig, gegen den Sog der entweichenden Luft anzukämpfen. Mullens Sauerstoffflasche flog weg und wäre fast losgerissen. Nach einem kurzen Moment erstarrter Panik kämpfte er um sie, zog sie über den Luftstrom, wartete, solange er es wagen konnte, bis der erste Ansturm schwächer wurde, als die Luft im Kontrollraum weniger wurde, und dann brachte er sie mit Gewalt herunter. Sie erwischte voll den sehnigen Nacken und zerschmetterte ihn. Mullen, der über der Öffnung kauerte und fast völlig vor dem Luftstrom geschützt war, hob die Flasche wieder hoch und schlug ein zweites Mal zu, traf den Kopf und zermalmte die Augen zu Brei. Grünes Blut pumpte aus dem, was vom Hals noch übriggeblieben war, in den fast luftleeren Raum. 162
Mullen wagte nicht, sich zu übergeben, obwohl er es am liebsten getan hätte. Mit abgewandtem Blick wich er rückwärts, griff mit einer Hand nach der Außenklappe und drehte sie an. Sie drehte sich ein paar Sekunden weiter, bis das Ende der Schraube erreicht war, dann schnappten die Federn automatisch ein und zogen die Klappe dicht. Das, was von der Atmosphäre noch übrig war, saugte sie fest, und die arbeitenden Pumpen konnten jetzt damit beginnen, den Kontrollraum wieder aufzufüllen. Mullen krabbelte über den zerschmetterten Kloro in den Raum hinein. Er war leer. Es blieb ihm kaum Zeit, das festzustellen, als er sich auch schon auf den Knien wiederfand. Mühsam stand er auf. Der Übergang von Schwerelosigkeit zur Schwerkraft war zu plötzlich gekommen. Außerdem war es die Schwerkraft der Kloros, was bedeutete, daß er mit diesem Anzug fünfzig Prozent Gewicht zuviel für seine schmächtige Statur zu tragen hatte. Aber wenigstens klebten seine schweren Metallschuhe nicht mehr so fest am Metall unter ihnen, da im Innern des Schiffs Böden und Wände aus einer mit Kork ausgelegten Aluminiumlegierung bestanden. Langsam drehte er sich um. Der halslose Kloro war in sich zusammengefallen, und nur ein gelegentliches Zucken bewies, daß dies einmal ein lebender Organismus gewesen war. Angewidert trat er über ihn hinweg und zog die Klappe der Dampfröhre zu.
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Der Raum wies eine bedrückende, gallige Färbung auf, und die Lichter schimmerten gelblich-grün. Natürlich war das die KloroAtmosphäre. Mullen fühlte einen Anflug von Überraschung und widerwilliger Bewunderung. Die Kloros kannten offensichtlich ein Verfahren, Material so zu behandeln, daß ihm die oxydierende Wirkung des Chlors nichts anhaben konnte. Sogar die Karte von der Erde an der Wand, die auf glänzendem Papier mit Kunststoffuntergrund gedruckt war, sah neu und unberührt aus. Er trat näher, angezogen von den vertrauten Umrissen der Kontinente … In diesem Augenblick nahm er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr. So schnell es sein schwerer Anzug erlaubte, drehte er sich um, dann stieß er einen Schrei aus. Der Kloro, den er für tot gehalten hatte, stand gerade wieder auf. Sein Hals hing schlaff herunter, eine feuchte Masse zermatschten Gewebes, aber seine Arme streckten sich ziellos aus, und die Tentakel an seiner Brust vibrierten schnell wie unzählige Schlangenzungen. Der Kloro war blind. Die Zerstörung seines Halses hatte ihn seiner ganzen Sinnesorgane beraubt, und eine teilweise Asphyxie hatte seinen Organismus weiter in Mitleidenschaft gezogen, aber sein Gehirn war unversehrt in seinem Unterleib. Mullen wich zurück. Er umkreiste den Kloro, wobei er schwerfällig und ohne Erfolg versuchte, auf Zehenspitzen zu gehen, obwohl er wußte, daß das, was von dem Kloro noch übrig war, auch taub war. Das Wesen stolperte, 164
taumelte gegen eine Wand, fiel herunter und begann, daran entlangzurutschen. Mullen sah sich verzweifelt nach einer Waffe um, konnte aber nichts finden. Die einzige Waffe steckte in der Halfter des Kloros, aber er wagte nicht, die Hand danach auszustrecken. Warum hatte er sie auch nicht sofort an sich genommen? Wie dumm von ihm! Die Tür zum Kontrollraum ging auf. Sie verursachte fast kein Geräusch. Zitternd drehte sich Mullen um. Der andere Kloro kam herein, gesund und unverletzt. Er blieb einen Moment im Eingang stehen, die Brustfühler starr und reglos; der dürre Hals streckte sich vor, und seine gräßlichen Augen drehten sich zuerst auf ihn, dann auf seinen fast toten Kameraden. Und dann fuhr seine Hand blitzschnell an seine Seite. Mullen handelte rein reflexmäßig und ebenso blitzschnell, ohne nachzudenken. Er hielt den Schlauch der zusätzlichen Sauerstoffflasche vor sich, die er nach dem Betreten des Kontrollraums wieder in der Anzughalterung befestigt hatte und schlug das Ventil auf. Er machte sich nicht die Mühe, den Druck zu reduzieren, sondern ließ die Luft ungehindert herausschießen, so daß ihn der Rückstoß fast um sein Gleichgewicht gebracht hätte. Er konnte den Sauerstoffstrahl sehen. Es war eine blasse Wolke inmitten des grünen Chlors. Sie erwischte den Kloro mit einer Hand an seiner Waffenhalfter. Der Kloro riß die Arme hoch. Der kleine Schnabel an seinem knotenartigen Kopf öffnete sich warnend, aber es kam kein Ton heraus. Er stolperte, fiel hin, zuckte noch 165
einen Augenblick und lag dann still. Mullen trat an ihn heran und fuhr mit dem Sauerstoffstrahl über seinen Körper, als ob er ein Feuer löschen wollte. Und dann hob er seinen schweren Fuß, trat zu und zermalmte den Stielnacken auf dem Boden. Er wandte sich wieder dem ersten Kloro zu. Er lag starr ausgestreckt da. Der ganze Raum war in blaßblauen Sauerstoff getaucht, genug, um ganze Legionen von Kloros umzubringen. Mullens Flasche war leer. Mullen schritt über den toten Kloro hinweg aus dem Kontrollraum hinaus und ging durch den Hauptkorridor auf das Gefangenenquartier zu. Die Reaktion hatte eingesetzt. Er wimmerte in blinder, unlogischer Angst. Stuart war müde. Mit künstlichen Händen stand er wieder am Kontrollpult eines Schiffs. Zwei leichte Kreuzer von der Erde waren unterwegs. Seit mehr als vierundzwanzig Stunden stand er jetzt praktisch allein an der Steuerung. Er hatte die Chloranlage ausgeschaltet, die alte Atmosphäre wiederhergestellt, die Position des Schiffs im Raum festgestellt, versucht, einen Kurs auszuarbeiten und vorsichtige Signale ausgesandt – es hatte geklappt. Deshalb war er jetzt auch etwas verärgert, als die Tür zum Kontrollraum geöffnet wurde. Er war zu müde, um Konversationshandball zu spielen. Als er sich umdrehte, sah er, daß es Mullen war.
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»Um Gottes willen, Mullen, machen Sie, daß Sie zurück in Ihr Bett kommen.« »Ich habe keine Lust mehr zu schlafen, auch wenn ich mir das vor ein paar Stunden nicht hätte vorstellen können.« »Wie fühlen Sie sich?« erkundigte sich Stuart. »Ich bin völlig steif. Vor allem meine Seite.« Er zog eine Grimasse und sah sich unwillkürlich um. »Wenn Sie die Kloros suchen: Wir haben die armen Teufel über Bord geworfen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie haben mir leid getan. Wissen Sie, in ihren Augen sind sie die Menschen, und wir sind die fremden Wesen. Nicht, daß mir lieber gewesen wäre, sie hätten Sie getötet, wohlgemerkt.« »Ich verstehe.« Stuart warf dem kleinen Mann, der dasaß und sich die Karte von der Erde betrachtete, einen Blick von der Seite zu. »Ich schulde Ihnen eine persönliche Entschuldigung, Mullen«, fuhr er fort. »Ich habe nicht viel von Ihnen gehalten.« »Das war Ihr gutes Recht«, erwiderte Mullen mit seiner spröden Stimme. Es lagen keine Emotionen in seinem Tonfall. »Nein, das war es nicht. Niemand hat das Recht, einen anderen zu verachten, es sei denn, er hat es sich durch lange Erfahrungen hart verdient.« »Haben Sie darüber nachgedacht?«
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»Ja, den ganzen Tag. Vielleicht kann ich es nicht erklären. Schuld sind diese Hände hier.« Er hielt sie vor sich und spreizte die Finger. »Es war ein schlimmes Gefühl zu wissen, daß andere Leute richtige Hände hatten. Ich mußte sie dafür hassen. Ich mußte immer mein Möglichstes tun, ihre Motive herauszufinden und zu bagatellisieren, ihre Schwächen aufzudecken und ihre Dummheiten bloßzustellen. Ich mußte alles tun, um mir zu beweisen, daß es sich überhaupt nicht lohnte, sie zu beneiden.« Mullen bewegte sich unruhig. »Sie müssen das nicht erklären.« »Doch. Ich muß es. Ich muß es!« Stuart war sich seiner Gedanken intensiv bewußt und bemühte sich, sie in Worte zu fassen. »Jahrelang hatte ich die Hoffnung aufgegeben, etwas Anständiges in den Menschen zu finden. Und dann sind Sie in den T-Schacht gestiegen.« »Sie sollten wissen, daß mich rein praktische und selbstsüchtige Überlegungen dazu veranlaßt haben. Ich möchte nicht, daß Sie mich als Helden darstellen.« »Das war auch nicht meine Absicht. Ich weiß, daß Sie nichts ohne einen Grund tun würden. Worum es geht, ist, welche Wirkung Ihre Tat auf uns andere gehabt hat. Sie hat aus einem Haufen von Heuchlern und Dummköpfen anständige Menschen gemacht. Und das nicht durch Zauberei. Sie sind schon immer anständige Leute gewesen. Es fehlte ihnen nur etwas, an das sie sich halten konnten, und das haben Sie ihnen gegeben. Und – ich gehöre auch
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dazu. Auch ich werde mich an Sie halten müssen. Wahrscheinlich mein ganzes Leben lang.« Mullen wandte sich verlegen ab. Seine Hand zupfte an seinen Ärmeln, obwohl sie völlig korrekt saßen. Sein Finger blieb auf der Weltkarte stehen. »Wissen Sie, ich bin in Richmond, Virginia, geboren. Hier liegt es. Das werde ich zuerst besuchen. Woher stammen Sie?« »Toronto.« »Das liegt genau hier. Auf der Karte ist es gar nicht weit auseinander, nicht?« »Beantworten Sie mir doch eine Frage«, sagte Stuart. »Wenn ich kann.« »Warum sind Sie wirklich da rausgegangen?« Mullen schürzte die förmlichen Lippen. »Würde mein eher prosaischer Grund nicht den inspiratorischen Effekt verderben?« »Nennen Sie es intellektuelle Neugier. Jeder von uns anderen hatte so offenkundige Motive. Porter hatte eine Heidenangst davor, interniert zu werden; Leblanc wollte zurück zu seiner Herzallerliebsten; Polyorketes wollte Kloros umbringen, und Windham gab sich Mühe, ein Patriot zu sein. Und ich selbst habe mich wohl für einen noblen Idealisten gehalten. Trotzdem ist bei keinem von uns das Motiv stark genug gewesen, daß wir in einen Raumanzug gestiegen und in den T-Schacht geklettert wären. Warum haben Sie es dann getan, ausgerechnet Sie?«
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»Wieso sagen Sie ›ausgerechnet‹?« »Seien Sie mir nicht böse, aber Sie scheinen ohne jede Emotion.« »So?« Mullens Stimme klang unverändert. Sie blieb präzise und leise, und doch schien sie plötzlich irgendwie gepreßt. »Das ist nur Übung, Mr. Stuart, und Selbstdisziplin, keine Charaktereigenschaft. Ein kleiner Mann kann keine achtbaren Emotionen haben. Können Sie sich etwas Lächerlicheres vorstellen als einen kleinen Mann wie ich in Wut? Ich bin einsvierundfünfzigeinhalb groß und wiege zweiundneunzigeinhalb Pfund, wenn Sie die exakten Zahlen interessieren. Ich bestehe auf dem halben Zentimeter und dem halben Pfund. Kann ich würdevoll sein? Stolz? Mich zu meiner vollen Größe aufrichten, ohne Gelächter auszulösen? Wo finde ich eine Frau, die mich nicht sofort mit einem Kichern abtut? Natürlich mußte ich lernen, damit fertigzuwerden, meine Gefühle nicht zu zeigen. Sie reden von Mißbildungen. Niemand würde Ihre Hände bemerken oder sehen, daß sie anders sind, wenn Sie es nicht so eilig hätten, allen Leuten davon zu erzählen. Glauben Sie, daß sich die zwanzig Zentimeter, die mir fehlen, verstecken lassen? Daß es nicht das erste und, in den meisten Fällen, das einzige ist, das den Leuten an mir auffällt?« Stuart schämte sich. Er hatte an etwas gerührt, an das er nicht hätte rühren dürfen. »Es tut mir leid.« »Warum?«
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»Ich hätte Sie nicht zwingen dürfen, darüber zu sprechen. Ich hätte selbst sehen müssen, daß Sie – daß Sie …« »Daß ich was? Daß ich versucht habe mir selbst etwas zu beweisen? Daß ich versucht habe, zu zeigen, daß ich zwar klein an Gestalt, aber groß an Mut bin?« »Ich hätte es nicht so ironisch ausgedrückt.« »Wieso nicht? Es ist eine alberne Idee, und sie hat überhaupt nichts mit dem wirklichen Grund zu tun, warum ich getan habe, was ich getan habe. Was hätte ich denn schon erreicht, wenn das der Grund gewesen wäre? Werden sie mich unten auf der Erde vor Fernsehkameras stellen – wobei sie sie natürlich herunterdrehen oder mich auf einen Stuhl stellen müssen, wenn sie mein Gesicht einfangen wollen – und mir Orden an die Brust hängen?« »Genau das wird man wahrscheinlich tun.« »Und was hätte ich davon? Sie würden sagen: ›Mensch, und dabei ist er nur so ein Kerlchen.‹ Und dann? Soll ich danach jedem, dem ich begegne, erzählen: ›Wissen Sie, ich bin der, dem sie letzten Monat einen Orden für besondere Verdienste verliehen haben?‹ Was meinen Sie, Mr. Stuart, wieviele Orden nötig wären, um mir mit zwanzig Zentimetern und sechzig Pfund auszuhelfen?« »So gesehen, verstehe ich, was Sie meinen.« Mullen redete jetzt eine Spur schneller; eine beherrschte Erregtheit war in seine Worte getreten, die sie gerade auf eine laue Zimmertemperatur erwärmte. »Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich gedacht, ich würde es ihnen schon zeigen, den mysteriösen ›ihnen‹, die die ganze Welt 171
einschließen. Ich wollte von der Erde fort und es den Welten zeigen. Ich würde ein neuer und noch kleinerer Napoleon werden. Also verließ ich die Erde und ging nach Arcturus. Und was konnte ich auf Arcturus tun, das ich auf der Erde nicht hätte tun können? Nichts. Ich mache Buchführung. Ich bin über jene Eitelkeit heraus, Mr. Stuart, daß ich versuchen würde, auf Zehenspitzen zu stehen.« »Warum haben Sie es dann getan?« »Ich verließ die Erde, als ich achtundzwanzig war, und kam in das Arcturus-System. Seitdem bin ich dort. Diese Reise sollte mein erster Urlaub, mein erster Besuch der Erde nach all der Zeit sein. Ich wollte sechs Monate auf der Erde bleiben. Doch dann nahmen uns die Kloros gefangen und hätten uns wer weiß wie lange interniert. Aber ich konnte – ich konnte einfach nicht zulassen, daß sie mich daran hinderten, zur Erde zu kommen. Ganz gleich, wie groß das Risiko auch war, ich mußte es verhindern. Es war nicht die Liebe zu einer Frau, oder Angst, oder Haß, oder irgendeine Art von Idealismus. Es war etwas viel Stärkeres.« Er brach ab und streckte eine Hand aus, als wollte er die Karte an der Wand streicheln. »Mr. Stuart«, fragte Mullen ruhig, »haben Sie schon einmal Heimweh gehabt?«
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Die Verschwender vom Mars (The Martian Way, 1952) Deutsch von Jürgen Saupe
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Unter der Tür zum kurzen Gang, der die beiden einzigen Räume in der Kapsel des Raumschiffs verband, stand Mario Esteban Rioz und sah mürrisch zu, wie Ted Long die Bedienungsknöpfe des Fernsehgeräts einstellte. Long versuchte es mit einer leichten Drehung im Uhrzeigersinn, dann mit einer Drehung in der Gegenrichtung. Das Bild war miserabel. Rioz wußte, daß das Bild miserabel bleiben würde. Sie waren von der Erde zu weit entfernt, und ihre Lage zur Sonne war auch schlecht. Aber man konnte nicht erwarten, daß Long dies wußte. Rioz blieb noch einen Augenblick unter der Tür stehen, hatte den Kopf gebeugt, um nicht an den oberen Türsturz anzustoßen, hatte den Körper halb zur Seite gedreht, um in die schmale Öffnung zu passen. Dann schnellte er wie ein Korken aus der Flasche in die Kombüse. »Was suchst du da?« fragte er. »Ich wollte sehen, ob ich Hilder kriege«, sagte Long. 173
Rioz lehnte sich an die Ecke eines Wandtischs. Er nahm eine kegelförmige Milchdose vom Regal dicht über seinem Kopf. Er drückte zu, und ihre Spitze sprang ab. Er schwenkte sie sacht im Kreis und wartete, daß sie warm wurde. »Wozu?« sagte er. Er hielt die Dose umgekehrt nach oben und sog geräuschvoll an ihr. »Ich wollte ihn mir anhören.« »Ich halte das für Energieverschwendung.« Long sah mit gerunzelter Stirn auf. »Üblicherweise dürfen persönliche Fernsehgeräte unbeschränkt benutzt werden.« »In vernünftigen Grenzen«, versetzte Rioz. Sie sahen sich herausfordernd in die Augen. Rioz hatte den strammen Körper, das hagere, hohlwangige Gesicht, die beinahe Kennzeichen der »Müllmänner« vom Mars waren, jener Raumleute, die sich geduldig neben den Routen zwischen Erde und Mars aufhielten. Hellblaue Augen leuchteten in einem braunen Gesicht, das von Runzeln überzogen war und sich dunkel vom umgebenden weißen Syntho-Pelz abhob, mit dem der aufgestellte Kragen seiner Ledik-Raumjacke überzogen war. Long sah blasser und sanfter aus. Er zeigte einige Merkmale der Bodenleute, obwohl kein Marsmensch der zweiten Generation noch in dem Sinn wie die Erdleute ein Bodenmensch sein konnte. Er hatte seinen Kragen umgelegt und sein dunkelbraunes Haar ganz freigelegt. »Was verstehst du unter vernünftigen Grenzen?« wollte Long wissen. 174
Rioz preßte die Lippen zusammen. Dann sagte er: »Wenn man daran denkt, daß wir auf dieser Fahrt nicht einmal die laufenden Unkosten hereinholen werden, so wie's jetzt aussieht, dann ist jede Entnahme von Energie unvernünftig.« Long sagte: »Wenn wir mit Verlust arbeiten, wäre es dann nicht besser, wenn du auf deinen Posten zurückgehst? Du hast Wache.« Rioz brummte und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Stoppeln an seinem Kinn. Er richtete sich auf und stapfte zur Tür, wobei die weichen Stiefel das Geräusch seiner Schritte dämpften. Er blieb stehen, um einen Blick auf den Thermostat zu werfen und fuhr in einem Wutanfall herum. »Mir ist es gleich heiß vorgekommen. Was meinst du eigentlich, wo wir sind?« Long sagte: »Zehn Grad sind nicht zuviel.« »Für dich vielleicht nicht. Aber wir sind hier im Raum und nicht in einem geheizten Büro der Eisenbergwerke.« Rioz stellte mit einer raschen Bewegung des Daumens den Thermostat so niedrig es ging. »Die Sonne ist warm genug.« »Die Kombüse ist nicht auf der Sonnenseite.« »Die Wärme wird schon bis hierher durchkommen, verdammt noch mal.« Rioz trat durch die Tür, und Long sah ihm lange nach, bevor er sich wieder dem Fernsehgerät widmete. Er stellte den Thermostat nicht wieder höher.
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Das Bild flimmerte immer noch arg, aber da war nichts zu machen. Long klappte einen Stuhl aus der Wand heraus. Er beugte sich vor, wartete die feierliche Ankündigung und die kurze Pause ab, bis sich der Vorhang langsam teilte und sich der Scheinwerfer auf die bekannte bärtige Gestalt richtete, die die Kamera heranholte, bis sie den Bildschirm füllte. Die Stimme war eindrucksvoll, auch wenn die dreißig Millionen Kilometer Entfernung mit ihren Elektronenstürmen sie mit Rauschen und Pfeifen entstellten. Die Stimme fing an: »Freunde! Mitbürger unserer Erde …«
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Als Rioz den Pilotenraum betrat, sah er das Funksignal aufblitzen. Für einen Augenblick wurden ihm die Hände feucht, weil er glaubte, es sei ein Radarzeichen. Aber da machte sich nur sein Schuldgefühl bemerkbar. Theoretisch hätte er auf Wache den Pilotenraum nicht verlassen dürfen, obwohl alle Müllmänner es taten. Trotzdem war das der klassische Alptraum, daß genau in den fünf Minuten ein Treffer kam, in denen man rasch raus war, um schnell etwas zu trinken, weil der Raum anscheinend ganz bestimmt leer war. Und man wußte, dieser Alptraum war manchmal Wirklichkeit geworden.
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Rioz schaltete das Rundumradar ein. Das war Energieverschwendung, aber wenn er sich schon Gedanken machte, dann wollte er es wenigstens ganz genau wissen. Bis auf die Bildspuren von den benachbarten Schiffen, die auf Raummüll warteten, war nichts zu sehen. Er schaltete das Funkgerät ein, und der blonde, langnasige Kopf Richard Swensons, der auf dem nächsten Schiff der marszugewandten Seite Kopilot war, kam in Sicht. »He, Mario«, sagte Swenson. »Hallo, was gibt's Neues?« Bis zur Antwort verging ein wenig mehr als eine Sekunde, da sich elektromagnetische Wellen nicht mit unendlicher Geschwindigkeit ausdehnen. »Ich hab vielleicht einen Tag hinter mir.« »Was ist passiert?« fragte Rioz. »Ich hatte einen Treffer.« »Na wunderbar.« »Klar, wenn ich ihn mir geangelt hätte«, sagte Swenson verdrießlich. »Was ist passiert?« »Verdammt, ich bin in die falsche Richtung los.« Rioz war klug genug, nicht zu lachen. »Wie hast du das angestellt?« fragte er. »Meine Schuld war's nicht. Die Schwierigkeit war, daß sich das Ding weit außerhalb der Ekliptik bewegte. Kannst du dir einen so blöden Piloten vorstellen, der das Abtrennungsmanöver nicht richtig durchführen kann? 177
Woher sollte ich das wissen? Ich hatte die Entfernung zu der Raketenstufe, und das genügte mir. Ich nahm einfach an, daß ihre Bahn zu der gewöhnlichen Gruppe von Flugbahnen gehört. Hättest du doch auch gedacht? Ich ging auf einen Kurs, bei dem ich glaubte, sie gut abfangen zu können, und es dauerte fünf Minuten, bevor ich merkte, daß sich die Entfernung weiter vergrößerte. Die Radarsignale ließen sich ganz schön Zeit, bis sie wieder da waren. Dann hab ich die Winkel zu dem Ding gemessen, und es war zu spät, es noch einzuholen.« »Hat's einer von den anderen Jungs erwischt?« »Nein, es ist ganz aus der Ekliptik raus und wird ewig weiterfliegen. Darüber mach ich mir keine großen Sorgen. Es war nur eine kleine Stufe. Aber ich will dir gar nicht sagen, wie viele Tonnen Antrieb ich vertan habe, als ich auf Geschwindigkeit und dann wieder in Wartestellung ging. Du hättest Knut hören sollen.« Knut war der Bruder und Partner von Richard Swenson. »Wütend, was?« »Wütend? Der hätte mich am liebsten umgebracht! Aber wir sind jetzt auch schon fünf Monate draußen, und es wird langsam ein bißchen kritisch. Du weißt schon.« »Und wie läuft's bei dir, Mario?« Rioz tat so, als ob er ausspuckte. »Nicht der Rede wert auf dieser Fahrt. Die beiden letzten Wochen nur zwei Stufen, und jeder mußte ich sechs Stunden lang nachjagen.« »Große?«
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»Willst wohl Witze machen? Die hätte ich freihändig zum Phobos schaffen können. Die schlechteste Reise, die ich je gemacht habe.« »Bleibst du noch länger draußen?« »Von mir aus könnten wir es morgen aufstecken. Wir sind erst zwei Monate draußen, und es ist schon so, daß ich dauernd auf Long herumhacke.« Die Pause dauerte länger als die elektromagnetische Verzögerung. Swenson sagte: »Wie ist der überhaupt? Der Long, meine ich.« Rioz sah über seine Schulter. Er konnte das Gemurmel des Fernsehers in der Kombüse hören. »Über den werd ich mir nicht klar. Ungefähr eine Woche nach Reisebeginn sagte er zu mir: ›Mario, warum bist du ein Müllmann?‹ Ich seh ihn einfach an und sagte: ›Um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Was glaubst du denn?‹ Ich meine, was soll das denn für eine Frage sein? Warum ist jemand denn Müllmann?« Rioz fuhr dann fort: »Auf jeden Fall sagt er: ›Das ist es nicht, Mario.‹ Verstehst du, er will es mir sagen. Sagt er: ›Du bist ein Müllmann, weil das eben die Art des Mars ist.‹ « Swenson sagte: »Und was hat er damit gemeint?« Rioz zuckte die Achseln. »Ich hab ihn nie gefragt. Im Augenblick hockt er da drüben und hört sich die Ultrakurzwelle von der Erde an. Er hört sich irgendeinen Bodenmenschen mit Namen Hilder an.« »Hilder? Ein Politiker von den Bodenleuten, ein Abgeordneter oder so was?« 179
»Genau. Auf jeden Fall glaube ich, du hast recht. Long macht immer solche Sachen. Er hat ungefähr fünfzehn Pfund Bücher mitgebracht, alle über die Erde. Nichts als Ballast, weißt du.« »Na ja, er ist dein Partner. Und weil wir gerade von Partnern reden, ich glaub', ich mach mich wieder an die Arbeit. Wenn ich noch einen Treffer verpasse, gibt's hier Mord und Totschlag.« Er war verschwunden, und Rioz lehnte sich zurück. Er blickte auf die gerade grüne Linie, die vom Impulsradar kam. Er versuchte es für einen Augenblick mit dem Rundumradar. Der Raum war immer noch leer. Er fühlte sich ein wenig besser. Eine Pechsträhne ist besonders schlimm, wenn alle Müllmänner um einen herum eine Stufe nach der anderen angeln, wenn die Stufen, die zu den Schrottwerken auf Phobos hinunterkreisen, jedermanns Brandmal und nur nicht das eigene eingeschmolzen tragen. Und dann hatte er es noch geschafft, etwas von seinem Groll auf Long loszuwerden. Es war falsch gewesen, sich mit Long zusammenzutun. Es war immer falsch, sich mit einem Anfänger zusammenzutun. Die glauben immer, man will eine Unterhaltung, vor allem Long mit seinen ewigen Theorien über den Mars und die große, neue Rolle, die er spiele, was den Fortschritt der Menschheit angehe. Genauso drückte er sich aus – Fortschritt der Menschheit: nach Art des Mars. Die neue, schöpferische Minderheit. Und Rioz wollte die ganze Zeit hindurch nicht das Gerede, sondern einen Treffer, ein paar Stufen, die ihnen gehörten. 180
Eigentlich hatte er wirklich keine andere Möglichkeit gehabt. Long war unten auf dem Mars ziemlich bekannt und verdiente als Bergwerksingenieur eine Menge Geld. Er war mit Regierungskommissar Sankov befreundet und war schon auf ein paar kurzen Müllfahrten draußen gewesen. Man kann einen Kerl nicht einfach abwimmeln, bevor man es nicht mit ihm versucht hat, auch wenn die Sache komisch aussah. Weshalb wollte sich wohl ein Bergwerksingenieur mit bequemer Stellung und guter Bezahlung im Raum herumtreiben? Rioz hatte Long die Frage nie gestellt. Partner unter den Müllmännern sitzen sich zwangsläufig so dicht auf der Haut, daß Neugierde nicht wünschenswert ist. Aber Long redete so viel, daß er die Frage von selbst beantwortete. »Ich muß hier rauskommen, Mario«, sagte er. »Die Zukunft des Mars liegt nicht in den Bergwerken. Sie liegt im Raum.« Rioz fragte sich, wie es wäre, eine Fahrt allein zu unternehmen. Alle sagten, das sei unmöglich. Selbst wenn man außer acht ließ, daß es verpaßte Gelegenheiten geben würde, wenn der eine Mann seinen Wachtposten verließ, um zu schlafen oder sich um andere Dinge zu kümmern, so wußte man doch genau, daß ein Mensch allein im Raum in verhältnismäßig kurzer Zeit unerträglich deprimiert sein würde. Eine Reise von sechs Monaten wurde dadurch möglich, daß man einen Partner mitnahm. Eine richtige Mannschaft wäre besser, aber kein Müllmann konnte mit einem Schiff, auf dem eine Mannschaft Platz genug hätte, genug Geld
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verdienen. Was man allein für den Antrieb ausgeben müßte! Aber auch zu zweit war es nicht eben das reinste Vergnügen im Raum. Gewöhnlich mußte man nach jeder Reise den Partner wechseln, und mit manchen konnte man länger draußen bleiben als mit anderen. Man brauchte sich nur Richard und Knut Swenson ansehen. Jede fünfte oder sechste Reise machten sie zusam men, weil sie Brüder waren. Und wenn sie es taten, nahmen trotzdem die Spannungen und Feindseligkeiten nach der ersten Woche ständig zu. Na ja. Der Raum war leer. Rioz würde sich ein bißchen besser vorkommen, wenn er wieder in die Kombüse gehen und das kleinliche Gezänk mit Long in Ordnung bringen würde. Er könnte ihm einfach zeigen, daß er ein alter Raumhase war, der die Reizzustände des Raums nahm, wie sie kamen. Er stand auf, machte die drei Schritte, die nötig waren, um den kurzen, engen Gang zu erreichen, der die beiden Räume des Schiffs miteinander verband.
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Wieder blieb Rioz beobachtend kurz unter der Tür stehen. Long war ganz in den Anblick der flimmernden Bildröhre versunken.
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Rioz sagte brummend: »Ich dreh den Thermostat rauf. Ist schon in Ordnung – wir können es uns leisten.« Long nickte. »Wenn du meinst.« Rioz machte zögernd einen Schritt nach vorn. Der Raum war leer, warum zum Teufel sollte er herumsitzen und eine gerade, grüne Linie ohne Radarecho ansehen? Er sagte: »Worüber hat der Bodenmensch geredet?« »Zum größten Teil über die Geschichte der Raumfahrt. Ein alter Hut, aber er macht es gut. Er arbeitet mit allen Mitteln, farbigen Zeichentrickfilmen, Trickaufnahmen, Standaufnahmen von alten Filmen und so weiter.« Die bärtige Gestalt verblaßte auf dem Bildschirm, als wolle sie Longs Bemerkung bestätigen, und auf dem Schirm erschien die Querschnittzeichnung eines Raumschiffs. Hilders Stimme ertönte weiter und wies auf interessante Einzelheiten hin, die durch Farbschemata hervorgehoben wurden. Das Nachrichtennetz des Schiffs leuchtete rot auf, während er darüber sprach, dann kamen die Laderäume, der Antrieb durch den abgeschirmten Kleinreaktor, die kybernetischen Schaltungen … Dann war Hilder wieder auf dem Bildschirm. »Aber das ist nur die Kapsel des Schiffes. Wodurch wird sie angetrieben? Wie kann sie die Erde verlassen?« Jedermann wußte, wodurch ein Raumschiff angetrieben wurde, aber Hilders Stimme wirkte wie ein Rauschgift. Bei ihm hörte sich der Antrieb eines Raumschiffs wie das Geheimnis der Jahrhunderte an, wie die letzte Offenbarung überhaupt. Selbst Rioz empfand einen leichten Kitzel der
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Spannung, obwohl er den größeren Teil seines Lebens im Raum verbracht hatte. Hilder fuhr fort: »Die Wissenschaftler haben verschiedene Namen dafür. Sie nennen sie es Newtons drittes Gesetz. Manchmal nennen sie es die Erhaltung des Kraftmoments. Aber diese Bezeichnungen brauchen wir gar nicht. Wir müssen nur unseren gesunden Menschenverstand fragen. Wenn wir schwimmen, drücken wir Wasser nach hinten und bewegen uns selbst vorwärts. Wenn wir gehen, stoßen wir uns vom Boden ab und bewegen uns vorwärts. Wenn wir einen kleinen GyroFlieger benutzen, stoßen wir Luft nach hinten und bewegen uns vorwärts. Nichts kann sich vorwärts bewegen, wenn sich nicht etwas anderes nach hinten bewegt. Es ist wie bei der alten Grundregel: aus nichts wird auch nichts. Stellen Sie sich jetzt ein Raumschiff vor, das hunderttausend Tonnen wiegt und von der Erde abhebt. Damit das möglich ist, muß etwas anderes nach unten bewegt werden. Dabei handelt es sich sogar um soviel Materie, daß an Bord des Schiffes gar kein Platz dafür ist. Man muß einen besonders konstruierten Behälter an das Schiff anhängen, der diesen Stoff aufnimmt.« Hilder verschwand erneut, und das Schiff wurde wieder sichtbar. Es schrumpfte zusammen, und hinter ihm tauchte ein Kegelstumpf auf. Auf ihm leuchteten gelb die Worte: STOFF ZUM WEGWERFEN. »Aber«, sagte Hilder, »das Gesamtgewicht des Schiffes ist noch viel größer. Man braucht mehr und mehr Antriebskraft.« 184
Das Schiff schrumpfte gewaltig, und eine weitere, größere Stufe und noch eine riesige wurden angefügt. Das eigentliche Fahrzeug, die Kapsel, war auf dem Bildschirm nur noch ein kleiner Punkt. Rioz sagte: »Teufel, das ist was für den Kindergarten.« »Für die Leute, zu denen er spricht, nicht, Mario«, antwortete Long. »Die Erde ist nicht der Mars. Es muß Milliarden von Erdleuten geben, die noch nie ein Raumschiff gesehen haben.« Hilder sagte eben: »Wenn der Stoff in der größten Stufe verbraucht ist, wird die Stufe abgetrennt. Sie wird weggeworfen.« Die unterste Stufe kam frei und taumelte über den Bildschirm. »Dann verschwindet die zweite«, sagte Hilder, »und wenn es sich um eine weite Reise handelt, wird auch die letzte abgestoßen.« Das Schiff war nur noch ein roter Punkt, während die drei Stufen davontrieben und sich im Raum verloren. Hilder sagte: »Diese Stufen stehen für hunderttausend Tonnen Wolfram, Magnesium, Aluminium und Stahl. Für die Erde sind sie für immer verloren. Müllmänner umringen den Mars. Sie warten in der Nähe von Raumreiserouten, warten auf abgestoßene Stufen, fangen sie ein, versehen sie mit Brandzeichen und retten sie für den Mars. Dafür bekommt die Erde auch nicht einen Cent Bezahlung. Die Stufen sind Bergungsgut. Sie gehören dem Schiff, das sie findet.«
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Rioz sagte: »Wir setzen unser Gerät und unser Leben aufs Spiel. Wenn wir sie uns nicht angeln, kriegt sie niemand. Welchen Verlust erleidet denn die Erde?« »Schau mal«, sagte Long, »er redet von nichts anderem als von der Belastung, die Mars, Venus und Mond für die Erde darstellen. Das hier ist nur eine von vielen Einbußen.« »Die kriegen doch ihre Entschädigung. Von Jahr zu Jahr fördern unsere Bergwerke mehr Eisen.« »Und das meiste davon bleibt gleich auf dem Mars. Wenn man diesen Zahlen Glauben schenken kann, dann hat die Erde zweihundert Milliarden Dollar in den Mars hineingesteckt und Eisen im Wert von nur fünf Milliarden Dollar zurückerhalten. Sie hat fünfhundert Milliarden Dollar in den Mond gesteckt und nur ein wenig mehr als fünfundzwanzig Milliarden Dollar in Form von Magnesium, Titan und anderen Leichtmetallen zurückbekommen. Sie hat fünfzig Milliarden Dollar in die Venus gesteckt und nichts wiederbekommen. Und dafür interessieren sich alle Steuerzahler auf der Erde wirklich: Steuergelder raus, nichts wieder herein.« Während er sprach, füllte sich der Bildschirm mit Zeichnungen von den Müllmännern, die auf dem Weg zum Mars waren. Kleine Karikaturen von Schiffen, die dünne Drahtarme ausstreckten und nach den taumelnden, leeren Stufen angelten, sie packten und heranzogen, ihnen EIGENTUM DES MARS aufbrannten, und die mit glühenden Buchstaben versehenen Stufen hinunter zum Phobos schickten.
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Dann war Hilder wieder da. »Man sagt uns, man wird uns einmal alles zurückerstatten. Einmal! Wenn ihre Unternehmen florieren! Wir wissen nicht, wann es soweit sein wird. In einem Jahrhundert? In tausend Jahren? Noch später? Nehmen wir sie beim Wort. Eines Tages werden sie uns alle unsere Metalle zurückgeben. Eines Tages werden sie ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen, ihre eigene Energieversorgung haben, ihre eigenen Leben leben. Aber eines können sie uns nie zurückgeben. Auch nicht in Millionen Jahren. Wasser! Auf dem Mars gibt es nur wenig Wasser, weil er zu klein ist. Auf der Venus findet sich kein Wasser, weil sie zu heiß ist. Der Mond hat auch keines. Die Erde muß also die Raumleute nicht nur mit Trinkwasser und Waschwasser versorgen, mit Wasser für ihre Industrien, mit Wasser für die Hydrokulturen, die man angeblich errichten will – und sogar mit Wasser, das in Hunderttausenden von Tonnen weggeschüttet wird. Worin besteht die Antriebskraft, die sich Raumschiffe zunutze machen? Was stoßen sie nach hinten aus, damit sie sich vorwärts bewegen können? Früher waren es Gase, die aus Explosivstoffen erzeugt wurden. Das war sehr teuer. Dann erfand man den Protonenkleinreaktor – eine billige Energiequelle, die jede Flüssigkeit aufheizen konnte, bis sie als Gas unter Höchstdruck stand. Was ist die billigste Flüssigkeit? Nun, natürlich Wasser. Jedes Raumschiff, das die Erde verläßt, hat etwa eine Million Tonnen Wasser an Bord. Es nimmt es nur deshalb mit in den Raum hinaus, um sich dort beschleunigen oder abbremsen zu können. 187
Unsere Vorfahren verheizten wie wahnsinnig das Öl der Erde. Rücksichtslos verbrauchten sie die Kohle. Wir verachten und verurteilen sie deswegen, aber sie hatten wenigstens eine Entschuldigung – sie dachten, im Notfall werde sich Ersatz finden lassen. Und sie hatten recht. Wir haben unsere Planktonfarmen und unsere Protonenkleinreaktoren. Aber für Wasser gibt es keinen Ersatz! Es kann keinen geben. Und wenn unsere Nachkommen die Wüste sehen, die wir aus der Erde gemacht haben, was werden sie zu unserer Entschuldigung anführen können? Wenn die Dürrezeiten kommen und immer länger werden …« Long beugte sich vor und schaltete das Gerät aus. Er sagte: »Das ärgert mich. Der blöde Kerl macht absichtlich … Was ist los?« Rioz war aufgestanden. »Ich sollte lieber die Radarechos überwachen.« Zum Teufel mit den Echos.« Long stand ebenfalls auf, ging Rioz durch den engen Gang nach und tat einen Schritt in den Pilotenraum. »Wenn Hilder so weitermacht, wenn er wirklich den Mumm hat, in der Sache richtig loszulegen … He!« Er hatte es auch gesehen. Ein erstklassiges Echo, das hinter dem ausgestrahlten Impuls wie ein Windhund hinter dem mechanischen Hasen her raste. Rioz sprudelte heraus: »Der Raum war leer, sag ich dir, leer. Um Mars willen, Ted, bleib nicht wie angefroren stehen. Schau, ob du sie optisch finden kannst.«
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Rioz machte sich schnell und mit einer Gründlichkeit an die Arbeit, die das Ergebnis einer fast zwanzigjährigen Tätigkeit als Müllmann war. Die Entfernung hatte er in zwei Minuten. Dann fiel ihm Swensons Erlebnis ein, und er maß sowohl den Deklinationswinkel wie auch die radiale Geschwindigkeit. Er rief Long zu: »Helligkeit eins Komma sieben sechs. Mann, du mußt sie einfach sehen können.« Long hielt den Atem an, während er an der Feineinstellung drehte. »Steht zu nah an der Sonne. Wird nur sichelförmig beleuchtet sein.« Er erhöhte den Grad der Vergrößerung, so schnell er es nur wagen konnte, und suchte den einen »Stern«, der seine Lage veränderte und einen Umriß annahm, der verraten würde, daß es sich nicht um einen Stern handelte. »Ich starte auf jeden Fall«, sagte Rioz. »Wir können nicht warten.« »Ich hab sie.« Die Vergrößerung reichte noch nicht aus, einen klaren Umriß erkennen zu lassen, aber der Punkt, den Long beobachtete, wurde rhythmisch heller und dunkler, weil sich die Stufe drehte und mit verschieden großen Querschnitten das Sonnenlicht einfing. »Halt dich fest.« Der erste vieler dünner Dampfstrahlen schoß aus seinem Auslaß und ließ eine lange Spur mikroskopisch winziger Eiskristalle zurück, die in den bleichen Strahlen der fernen Sonne nebelhaft glänzte. Die Spur wurde nach etwa hundertfünfzig Kilometern dünner. Ein Dampfstrahl, dann noch einer und wieder einer, während das Müllschiff seine 189
feste Kreisbahn verließ und auf einen Kurs ging, der die Bahn der Stufe tangential berühren würde. »Sie bewegt sich wie ein Komet in Sonnennähe!« schrie Rioz. »Diese verdammten Bodenpiloten stoßen die Stufen absichtlich so ab! Ich hätte gute Lust …« Er stieß seinen Fluch in wilder Verzweiflung aus, während er rücksichtslos den Dampf nach hinten jagte, bis das hydraulische Polster seines Sitzes dreißig Zentimeter eingesunken war, und es Long ganz unmöglich geworden war, sich noch weiter an einem Haltegriff festzuklammern. »Hab Erbarmen!« flehte er. Aber Rioz blickte fest auf die Echoimpulse. »Wenn du es nicht aushalten kannst, dann bleib auf dem Mars, Menschenskind!« Die Dampfstrahlen schossen weiter donnernd hinaus. Das Funkgerät schaltete sich ein. Long konnte sich mit Mühe und Not vorbeugen. Er kam sich vor, als bewege er sich durch Sirup. Er stellte die Verbindung her. Es war Swenson, mit wild blickenden Augen. Swenson schrie: »Zum Teufel, wo wollt ihr Kerle denn hin? In zehn Sekunden seid ihr in meinem Sektor.« Rioz sagte: »Ich verfolge eine Stufe.« »In meinem Sektor?« »Sie war erst in meinem, und du hast gar nicht die Ausgangsposition, um sie zu erwischen. Schalt das Funkgerät aus, Ted.« Das Schiff donnerte durch den Raum, wobei dies Donnern nur im Schiff zu hören war. Und dann stellte Rioz 190
den Antrieb in Phasen ab, die Long nach vorn rissen. Die plötzliche Stille war ohrenbetäubender als der Lärm, der ihr vorausgegangen war. Rioz sagte: »Na gut. Gib mir mal das Rohr.« Beide hielten Ausschau. Die Stufe war jetzt deutlich als Kegelstumpf auszumachen, der sich langsam drehte, während er an den Sternen vorüberzog. »Eine erstklassige Stufe, wirklich«, sagte Rioz zufrieden. Eine Riesenstufe, dachte er bei sich. Die würde sie wieder in die schwarzen Zahlen bringen. Long sagte: »Wir haben noch ein anderes Echo von der Antenne. Ich glaube, es ist Swenson, der hinter uns her ist.« Rioz blickte kaum hin. »Der erwischt uns nicht.« Die Stufe wurde immer größer und füllte den Sichtschirm. Die Hände von Rioz legten sich auf den Bedienungshebel für die Harpunen. Er wartete, stellte den Winkel zweimal peinlich genau ein und erledigte die Längenzuteilung. Dann zog er am Hebel und bediente die Auslösung. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann schlängelte sich ein geflochtenes Metallkabel über den Bildschirm und schoß wie eine Kobra auf die Stufe los. Es berührte sie, hielt die Stufe jedoch nicht fest. Wenn es das getan hätte, wäre es sofort wie ein Spinnwebfaden gerissen. Die Stufe drehte sich mit einem Drehmoment, das einige tausend Tonnen betrug. Das Kabel baute jedoch ein starkes Magnetfeld auf, das wie eine Bremse auf die Stufe wirkte. 191
Ein zweites Kabel und ein drittes wurden ausgeschleudert. Rioz schickte sie beinahe unbekümmert über den Energieverbrauch aus. »Die werd ich mir holen! Beim Mars, die hol ich mir!« Als sich etwa zwei Dutzend Kabel zwischen Schiff und Stufe spannten, ließ er es genug sein. Die Rotationsenergie der Stufe war durch den Bremsvorgang in Wärme umgewandelt worden, die ihre Temperatur in einem Maß erhöht hatte, daß die Wärmestrahlung von den Meßgeräten des Schiffes aufgenommen werden konnte. Long sagte: »Soll ich unser Brandzeichen anbringen?« »Von mir aus. Aber du mußt's nicht machen, wenn du nicht willst. Ich habe Wache.« »Mir macht's nichts aus.« Long kletterte in seinen Anzug und ging durch die Schleuse. Das sicherste Zeichen, daß er ein Neuling in dem Spiel war, war die Tatsache, daß er sagen konnte, wie oft er in einem Anzug im Raum gewesen war. Er war jetzt zum fünftenmal draußen. Er hangelte sich am nächsten Kabel entlang und spürte durch das Metall seines Handschuhs hindurch, wie das Drahtseil vibrierte. Er brannte ihre laufende Nummer in das glatte Metall der Stufe. In der Leere des Raums gab es nichts, was den Stahl oxydieren konnte. Er schmolz nur und verdampfte und schlug sich etwa einen Meter vom Energiestrahl entfernt nieder, wobei die Oberfläche, die er berührte, wie mit grauem Staub bedeckt aussah.
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Long hangelte sich zum Schiff zurück. Als er wieder drin war, nahm er seinen Helm ab, der sich mit dickem, weißem Rauhreif überzogen hatte, kaum daß er eingetreten war. Das erste, was er hörte, war Swensons Stimme, die so wutverzerrt aus dem Funkgerät schallte, daß man sie kaum wiedererkannte: » … direkt zum Regierungskommissar. Verdammt noch mal, in diesem Spiel gibt es Regeln!« Rioz lehnte sich ungerührt zurück. »Schau mal, sie trat in meinen Sektor ein. Ich hab sie etwas spät entdeckt und sie in deinen verfolgt. Und wenn der Mars selbst für dich Torwart gespielt hätte, du hättest sie nicht erwischt. Mehr ist da nicht zu sagen – bist du zurück, Long?« Er unterbrach die Verbindung. Die Empfangsanzeige leuchtete auf, aber er ließ sie unbeachtet. »Er will sich an den Regierungskommissar wenden?« fragte Long. »Nichts zu machen. Er führt sich nur so auf, weil das die Eintönigkeit unterbricht. Es ist ihm überhaupt nicht ernst damit. Er weiß, es ist unsere Stufe. Und wie hat dir dieser Materialbrokken gefallen, Ted?« »Ziemlich gut.« »Ziemlich gut? Der ist kolossal! Halt dich fest. Ich setze ihn in Bewegung.« Die seitlichen Düsen spuckten Dampf aus, und das Schiff fing langsam an, um die Stufe zu kreisen. Die Stufe machte die Bewegung mit. In dreißig Minuten waren sie
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eine riesige Bola, die durch die Leere kreiste. Long suchte in den Ephemeriden nach der Lage des Deimos. Zu einem genau berechneten Augenblick schaltete sich das Magnetfeld der Kabel ab, und die Stufe zog tangential auf einer Umlaufbahn davon, die sie in einem Tag etwa in die Reichweite der Stufenlagerplätze auf dem Marsmond bringen würde. Rioz blickte ihr nach. Er fühlte sich gut. Er drehte sich zu Long um. »Ein prächtiger Tag für uns.« »Was ist mit der Rede von Hilder?« fragte Long. »Was? Von wem? Ach so. Hör mal, wenn ich mir über alles, was so ein Bodenmensch sagt, Gedanken machen würde, könnte ich überhaupt nicht mehr schlafen. Denken wir nicht mehr dran.« »Ich glaube, wir werden doch darüber nachdenken müssen.« »Du spinnst. Laß mich bloß in Ruhe damit. Leg dich lieber ein bißchen schlafen.« 4
Ted Long machte die Weite und Höhe der Hauptstraße der Stadt fröhlich. Es war zwei Monate her, seit der Regierungskommissar die Müllverwertung durch einen Erlaß aufgehoben und alle Schiffe aus dem Raum abgezogen hatte, aber der Anblick dieser langgestreckten Galerie ließ Longs Herz noch immer höher schlagen. Selbst der Gedanke, daß dieser Erlaß von einer 194
Entscheidung der Erde abhängen sollte, die dadurch auf die Notwendigkeit eines Wasserhaushalts hinweisen wollte, daß sie sich für eine Begrenzung der Wassermengen bei Müllfahrten aussprach, konnte ihn nicht völlig niederschmettern. Das Dach der Straße war in einem leuchtenden Hellblau gehalten. Vielleicht eine altmodische Nachahmung des Erdhimmels. Ted war sich nicht sicher. In die Wände waren leuchtende Schaufenster eingelassen. Durch den summenden Verkehr hörte er ab und zu in der Ferne die Sprengungen, mit denen neue Gänge in die Marsrinde getrieben wurden. Ihm fiel ein, sein ganzes Leben lang hatte es diese Sprengungen gegeben. Der Boden, auf dem er jetzt ging, war zur Zeit seiner Geburt unversehrter Fels gewesen. Die Stadt wuchs und würde weiter wachsen – wenn die Erde sie nur ließe. Er bog an einer Kreuzung in eine engere, nicht so hell erleuchtete Straße ab, in der die Schaufenster Wohnhäusern wichen, deren Vorderseite alle mit einer Reihe von Lampen versehen waren. Langsamer gehende Menschen traten an die Stelle von Käufern und Verkehr, und man sah kreischende Kinder, die den mütterlichen Ruf, zum Abendessen zu kommen, bis jetzt überhört hatten. Im letzten Augenblick fiel Long die Pflicht zu gesellschaftlicher Höflichkeit ein, und er betrat einen kleinen Wasserladen. Er reichte seine Feldflasche weiter. »Vollmachen.« Der untersetzte Ladeninhaber schraubte den Verschluß ab und schielte in die Öffnung. Er schüttelte die Flasche 195
ein wenig und ließ es glucksen. »Nicht mehr viel drin«, sagte er. »Nein«, meinte Long. Der Ladeninhaber ließ Wasser hineintröpfeln und hielt dabei den Hals der Feldflasche dicht an den Zapfhahn, um einem Verschütten vorzubeugen. Die Wasseruhr schwirrte. Er schraubte den Verschluß wieder zu. Long reichte ihm die Münzen und nahm seine Feldflasche in Empfang. Sie schlug jetzt angenehm schwer gegen seine Hüfte. Es war ganz undenkbar, eine Familie ohne gefüllte Feldflasche zu besuchen. Wenn die Jungs sich untereinander besuchten, war es nicht so wichtig. Er trat in den Flur der Nummer 27, stieg ein paar Treppen hinauf, betätigte aber noch nicht die Klingel. Man konnte ziemlich klar Stimmen hören. Eine davon war die einer Frau, und sie klang ein wenig schrill. »Dir ist's also recht, daß deine Müllmännerfreunde herkommen? Ich kann dankbar sein, daß du es zwei Monate im Jahr schaffst, nach Hause zu kommen. Ach, es genügt ja schon, daß du ein oder zwei Tage mit mir zubringst. Dann kommen wieder die Müllmänner dran.« »Ich bin jetzt schon lange zu Hause«, sagte eine Männerstimme, »und heute geht es ums Geschäft. Um Mars willen, Dora, hör doch auf. Die werden gleich hier sein.« Long beschloß, mit dem Klingeln noch zu warten. Sie würden dann vielleicht Gelegenheit haben, ein neutraleres Gespräch zu finden.
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»Wie mir das gleich ist, ob die kommen!« versetzte Dora. »Die können mich ruhig hören. Und von mir aus kann der Kommissar den Erlaß für immer aufrechterhalten, hörst du mich?« »Und wovon sollen wir dann leben?« gab die Männerstimme erbittert zurück. »Sag mir das mal.« »Das sag ich dir. Du kannst hier auf dem Mars wie jeder andere auch anständig genug Geld verdienen. Ich bin die einzige in diesem Wohnblock, die eine Müllmannwitwe ist. Genau das bin ich, eine Witwe. Ich bin noch schlimmer als eine Witwe dran, denn wenn ich eine Witwe wäre, könnte ich wenigstens jemanden heiraten – was hast du gesagt?« »Nichts. Gar nichts.« »Ah, ich weiß schon, was du gesagt hast. Jetzt hör mal gut zu, Dick Swenson …« »Ich habe nur gesagt«, rief Swenson, »daß ich jetzt weiß, warum Müllmänner gewöhnlich nicht heiraten.« »Und du hättest auch nicht heiraten sollen. Mir reicht's, daß mich jeder in der Nachbarschaft bedauert und blöde grinst und mich fragt, wann du nach Hause kommst. Andere Leute sind Bergbauingenieure und Verwaltungsbeamte und sogar Tunnel bohrer. Frauen von Tunnelbohrern haben wenigstens ein richtiges Familienleben, und ihre Kinder wachsen nicht wie Vagabunden auf. Peter könnte genausogut keinen Vater haben …« Durch die Tür konnte man die hohe, dünne Stimme eines Jungen hören. Sie kam aus größerer Entfernung, als befinde er sich in einem anderen Zimmer. »He, Mama, was ist ein Vagabund?« 197
Doras Stimme wurde eine Spur lauter. »Peter! Du machst gefälligst deine Hausaufgaben weiter.« Swenson sagte mit leiser Stimme: »Es ist nicht gut, vor dem Kind so zu reden. Was wird er denn von mir denken?« »Dann bleib zu Haus, bring ihm bessere Gedanken bei.« Peter rief wieder etwas. »He, Mama, ich will Müllmann werden, wenn ich groß bin.« Man hörte rasche Schritte. Einen Augenblick blieb es still, dann tönte es durchdringend: »Mama, laß mein Ohr los! Was hab' ich denn getan?« Long machte sich die Gelegenheit zunutze. Er drückte kräftig auf die Klingel. Swenson machte auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. »Hallo, Ted«, sagte er gedämpft. Dann laut: »Dora, Ted ist da. Wo ist Mario, Ted?« Long sagte: »Der wird bald kommen.« Dora kam rasch aus dem nächsten Zimmer. Eine kleine, dunkle Frau mit Stupsnase, deren Haar aus der Stirn gekämmt war und eben anfing, ein wenig Grau zu zeigen. »Hallo, Ted. Hast du schon gegessen?« »Ja, danke. Ich störe euch doch nicht?« »Überhaupt nicht. Wir sind schon lange fertig. Möchtest du Kaffee?« »Ich glaub schon.« Ted machte seine Feldflasche los und hielt sie ihr hin. »Meine Güte, es ist schon in Ordnung. Wir haben eine Menge Wasser.« 198
»Ich bestehe darauf.« »Also dann …« Sprach's und ging in die Küche zurück. Durch die sich öffnende Tür konnte Long einen Blick auf Geschirr werfen, das im Secoterg stand, dem »Spüler ohne Wasser, der Schmutz und Fett in Sekundenschnelle aufweicht und löst. Ein bißchen Wasser spült über zwei Quadratmeter Geschirrfläche spiegelblank. Kaufen Sie Secoterg. Secoterg, der spült ganz schnell, macht Geschirr so strahlend hell, und kein Wasser wird vertan …« Long ging die Werbemelodie durch den Kopf, und er brachte sie durch Reden zum Schweigen. Er sagte: »Wie geht's Pete?« »Sehr gut. Der Junge ist jetzt in der vierten Klasse. Du weißt, daß ich nicht viel von ihm zu sehen kriege. Na ja, als ich das letztemal zurückkam, da guckt er mich an und sagt …« Das ging eine Weile so weiter und war nicht so arg, wie kluge Sprüche von klugen Kindern sein können, wenn sie von faden Eltern erzählt werden. Die Türglocke läutete, und Mario Rioz kam mit rotem Kopf und gerunzelter Stirn herein. Swenson trat rasch auf ihn zu. »Hör mal, kein Wort über das Wegschnappen von Stufen. Dora erinnert sich noch daran, wie du dir eine erstklassige Stufe aus meinem Gebiet geangelt hast, und heute ist wieder nicht mit ihr auszukommen.«
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»Wer will denn überhaupt von Stufen reden?« Rioz riß sich die pelzgefütterte Jacke vom Leib, warf sie über eine Stuhllehne und setzte sich. Dora kam durch die Tür, blickte den Neuankömmling mit einem aufgesetzten Lächeln an und sagte: »Hallo, Mario. Für dich auch Kaffee?« »Ja«, sagte er und griff automatisch nach seiner Feldflasche. »Nimm einfach ein bißchen mehr von meinem Wasser, Dora«, sagte Long schnell. »Er kann mir's dann zurückgeben.« »Ja«, sagte Rioz. »Was ist los, Mario?« fragte Long. Rioz erwiderte bedrückt: »Na los, heraus damit, daß du es mir gesagt hast. Als Hilder vor einem Jahr die Rede hielt, hast du es mir schon gesagt.« Long zuckte mit den Schultern. Rioz sagte: »Die haben die Quote festgesetzt. Vor fünfzehn Minuten kam die Nachricht.« »Und?« »Pro Reise fünfzigtausend Tonnen Wasser.« »Was?« schrie Swenson zornig. »Mit fünfzigtausend kommt man vom Mars nicht weg.« »Die Zahl steht fest. Eine bewußte Halsabschneiderei. Mit der Müllverwertung ist es aus.« Dora kam mit dem Kaffee herein und deckte den Tisch.
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»Was soll das heißen, keine Müllverwertung mehr?« Sie setzte sich entschlossen hin, und Swenson wirkte hilflos. »Anscheinend«, sagte Long, »legt man uns auf fünfzigtausend Tonnen fest, und das heißt, daß wir keine Reisen mehr unternehmen können.« »Na und?« Dora nippte an ihrem Kaffee und lächelte munter. »Wenn ihr meine Meinung hören wollt, ich finde es gut. Es wird Zeit, daß ihr Müllmänner euch eine feste Arbeit auf dem Mars hier sucht. Das meine ich wirklich. Ist doch kein Leben, sich dauernd im Raum herumzutreiben …« »Dora, bitte«, sagte Swenson. Rioz hätte beinah ein verächtliches Schnauben hören lassen. Dora hob die Augenbrauen. »Ich sag bloß meine Meinung.« Long sagte: »Bitte, rede frei von der Leber weg. Aber ich möchte ganz gern etwas sagen. Fünfzigtausend Tonnen ist nur ein Punkt. Wir wissen, daß die Erde – oder wenigstens die Partei von Hilder – aus einer Kampagne für Wassersparsamkeit politischen Nutzen ziehen will. Und da sitzen wir in einer bösen Klemme. Wir müssen uns irgendwie Wasser verschaffen, oder die machen uns den Laden ganz dicht, stimmt's?« »Na klar«, sagte Swenson. »Aber die Frage ist, wie?« »Wenn es nur um die Beschaffung von Wasser geht«, sagte Rioz in einem plötzlichen Sturzbach von Worten, »dann bleibt nur eins zu tun. Wenn uns die Bodenleute 201
kein Wasser geben wollen, dann nehmen wir es uns. Das Wasser gehört ihnen nicht einfach nur, weil ihre Väter und Großväter Angst hatten, ihren fetten Planeten je zu verlassen, verdammt noch mal. Das Wasser gehört allen Leuten, wo sie auch sein mögen. Wir sind Menschen, und das Wasser gehört uns genausogut. Wir haben ein Recht darauf.« »Und wie sollen wir uns das Wasser nehmen?« fragte Long. »Ist doch leicht! Die haben Ozeane voll Wasser auf der Erde. Die können nicht in jeden Quadratkilometer einen Wächter hinsetzen. Wir können jederzeit auf der Nachtseite des Planeten hinunterschweben, unsere Stufen füllen und dann abhauen. Wie wollen die uns aufhalten?« »Da gibt's viele Möglichkeiten, Mario. Wie machst du im Raum Stufen aus, die bis zu hundertfünfzigtausend Kilometer weit weg sind? Mit Hilfe des Radars. Glaubst du, die haben auf der Erde kein Radar? Und wenn die Erde daraufkommt, daß wir uns aufs Wasserschmuggeln verlegt haben, glaubst du nicht, daß es dann nicht einfach für die dort sein wird, ein Radarnetz aufzubauen, mit dem man die Schiffe orten kann, die vom Raum hereinkommen?« Dora mischte sich empört ein. »Eins sag ich dir, Mario Rioz. Mein Mann macht bei keinem einzigen Wasserdiebstahl mit, der ihm helfen soll, wieder als Müllmann zu arbeiten.« »Es geht nicht nur um die Müllverwertung«, sagte Mario. »Als nächstes werden sie alles andere auch einschränken. Wir müssen ihnen jetzt Einhalt gebieten.« 202
»Aber wir brauchen ihr Wasser doch gar nicht«, sagte Dora. »Wir sind doch nicht auf dem Mond oder auf der Venus. Was wir an Wasser brauchen, holen wir doch in Rohrleitungen von den Polkappen her. Wir haben hier in dieser Wohnung einen Wasserhahn. In diesem Block hat jede Wohnung einen.« Long sagte: »Was die Haushalte verbrauchen, macht den geringsten Teil aus. Die Bergwerke brauchen Wasser. Und was machen wir mit den Tanks der Wasserkulturen?« »Stimmt«, sagte Swenson. »Was ist mit den Tanks der Wasserkulturen, Dora? Die brauchen Wasser, und es ist Zeit, daß wir uns um unseren eigenen Anbau frischer Nahrungsmittel kümmern, anstatt von diesem eingedickten Zeug zu leben, das sie uns von der Erde herschicken.« »Hört ihn euch an«, sagte Dora spöttisch. »Was weißt du denn von frischen Nahrungsmitteln? Hast nie welche gegessen.« »Mehr als du glaubst. Erinnerst du dich an die Mohrrübe, die ich mal aufgegabelt habe?« »Und? Was soll an denen denn so herrlich gewesen sein? Wenn du mich fragst, gutes geröstetes Protomehl ist viel besser. Und gesünder auch. Mir kommt's vor, als ob es jetzt Mode ist, über Frischgemüse zu reden, weil die Steuern für diese Wasserkulturen jetzt angehoben werden. Außerdem wird das Ganze von selbst vorübergehen.« Long sagte: »Das glaube ich nicht. Auf jeden Fall nicht von selbst. Hilder wird vielleicht der nächste Koordinator sein, und dann wird's möglicherweise erst richtig schlimm
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werden. Wenn sie auch die Nahrungsmittelsendungen einschränken …« »Ja«, rief Rioz, »was machen wir dann? Ich bleib dabei, wir holen uns das Wasser!« »Und ich bleibe dabei, daß wir das nicht machen können, Mario. Begreifst du nicht, daß das, was du vorschlägst, ein Vorgehen nach Art der Bodenleute ist? Du versuchst, dich an der Nabelschnur festzuhalten, die den Mars an die Erde bindet. Kannst du dich davon nicht lösen? Verstehst du nicht, wie es nach Art des Mars geht?« »Nein, versteh ich nicht. Vielleicht erklärst du mir's mal.« »Mach ich, wenn du zuhören willst. Wenn wir an das Sonnensystem denken, was fällt uns dann ein? Merkur, Venus, Erde, Mond, Mars, Phobos und Deimos. Das wär's – nur sieben Gestirne. Aber das ist noch nicht mal ein Prozent des Sonnensystems. Wir Marsmenschen sitzen genau an der Grenze zu den restlichen neunundneunzig Prozent. Da draußen, weiter von der Sonne weg, gibt's unglaubliche Mengen von Wasser!« Die anderen starrten ihn an. Swenson sagte unsicher: »Du meinst die Eisschichten auf Jupiter und Saturn?« »Eigentlich nicht, aber du wirst zugeben, daß das auch Wasser ist. Tausend Kilometer dicke Wasserschichten.« »Aber die sind doch bedeckt von Ammoniak oder so was ähnlichem?« fragte Swenson. »Außerdem können wir auf den Riesenplaneten nicht landen.«
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»Weiß ich«, sagte Long. »Aber ich habe nicht gesagt, daß das die Antwort ist. Die Riesenplaneten sind nicht die einzigen Dinger da draußen. Wie steht's mit den Asteroiden und den Monden? Vesta ist ein Asteroid mit einem Durchmesser von dreihundertfünfzig Kilometern und ist kaum mehr als ein Brocken Eis. Einer der Monde des Saturn ist fast ganz aus Eis. Wie wär's denn damit?« Rioz sagte: »Bist du jemals im Raum gewesen, Ted?« »Das weißt du doch. Weshalb fragst du?« »Klar, ich weiß, du warst draußen, aber du redest noch immer wie ein Bodenmensch. Hast du an die Entfernungen gedacht, um die es dabei geht? Die nächsten Asteroiden sind durchschnittlich dreihundert Millionen Kilometer vom Mars entfernt. Das ist zweimal der Sprung von der Venus zum Mars, und du weißt, daß kaum je ein Linienschiff selbst diese Entfernung auf einen Ritt macht. Gewöhnlich legen sie auf der Erde oder dem Mond an. Mann, was glaubst du eigentlich, wie lange jemand im Raum bleiben kann?« »Ich weiß nicht. Was ist deine Grenze?« »Du kennst die Grenze. Brauchst mich doch nicht zu fragen. Sie ist sechs Monate. Das steht in den Handbüchern. Wenn du nach sechs Monaten immer noch im Raum bist, dann bist du reif für eine Psychotherapie. Stimmt doch, Dick?« Swenson nickte. »Und das sind erstmal nur die Asteroiden«, fuhr Rioz fort. »Vom Mars bis zum Jupiter sind es fünfhundert Millionen Kilometer und zum Saturn sind es über eine 205
Milliarde. Wer soll denn mit diesen Entfernungen fertig werden? Nehmen wir an, du erreichst Normalgeschwindigkeit, oder um eine runde Zahl zu nennen, du schaffst gute zweihunderttausend Kilometer die Stunde. Du würdest brauchen – schauen wir mal, mit Beschleunigungs- und Abbremszeit – ungefähr sechs oder sieben Monate bis zum Jupiter und fast ein Jahr bis zum Saturn. Theoretisch könntest du natürlich auf eine Geschwindigkeit von eineinhalb Millionen Kilometern pro Stunde kommen, aber wo willst du das Wasser hernehmen, das du dazu brauchst?« »Ui«, sagte eine dünne Stimme, zu der eine schmutzige Nase und runde Augen gehörten, »Saturn!« Dora fuhr auf ihrem Stuhl herum. »Peter, marsch zurück in dein Zimmer!« »Ach, Ma.« »Keine Widerrede!« Sie wollte sich vom Stuhl erheben, und Peter machte sich davon. Swenson sagte: »Hör mal, Dora, warum leistest du ihm nicht ein bißchen Gesellschaft? Er kann sich schwer auf seine Hausaufgaben konzentrieren, wenn wir alle hier draußen sitzen und reden.« Dora rührte sich nicht. »Ich bleib sitzen, bis ich weiß, was Ted Long im Kopf herumgeht. Und ich kann dir jetzt schon sagen, daß mir der Ton überhaupt nicht gefallen will.« Swenson sagte nervös: »Schön, lassen wir Jupiter und Saturn. Ich bin sicher, Ted hat es nicht auf die beiden abgesehen. Aber wie steht's mit Vesta? Dorthin könnten 206
wir es in zehn bis zwölf Wochen schaffen, und in der gleichen Zeit zurück sein. Und dreihundert Kilometer Durchmesser. Das sind sechs Millionen Kubikkilometer Eis!« »Na und?« sagte Rioz. »Was machen wir auf Vesta? Das Eis in Blöcken abbauen? Bergwerksmaschinen aufbauen? Hör mal, weißt du, wie lange das dauern würde?« Long sagte: »Ich rede vom Saturn, nicht von Vesta.« Rioz wandte sich an eine unsichtbare Zuhörerschaft. »Ich spreche von mehr als einer Milliarde Kilometer, und er redet weiter.« »Na schön«, sagte Long. »Vielleicht sagst du mir mal, woher du weißt, daß wir nur sechs Monate im Raum bleiben können, Mario?« »Das weiß doch jedes Kind, verdammt noch mal.« »Weil es im Handbuch der Raumfahrt steht. Das sind Daten, die Erdwissenschaftler auf Grund von Erfahrungen mit Erdpiloten und Erdraumleuten zusammengetragen haben. Du denkst immer noch wie ein Bodenmensch. Du willst einfach nicht wie ein Marsmensch denken.« »Ein Marsmensch ist vielleicht ein Marsmensch, aber vor allem eben doch ein Mensch.« »Wie kannst du nur so blind sein? Wie oft seid ihr Jungs ohne Unterbrechung über sechs Monate draußen geblieben?« Rioz sagte: »Das ist was anderes.«
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»Weil ihr Marsmenschen seid? Weil ihr von Beruf Müllmänner seid?« »Nein, weil wir nicht auf einem Flug sind. Wenn wir wollen, können wir jederzeit zum Mars zurück.« »Aber ihr wollt gar nicht. Genau darum geht es mir. Die Erdmenschen haben riesige Schiffe mit Filmbibliotheken, mit einer Mannschaft von fünfzehn Leuten, und dann noch Passagiere. Und trotzdem können sie höchstens sechs Monate draußen bleiben. Die Müllmänner vom Mars haben ein Schiff mit zwei Räumen und nur einen Partner. Aber wir können es mehr als sechs Monate aushalten.« Dora sagte: »Ich nehme an, du möchtest ein Jahr in einem Schiff bleiben und zum Saturn fliegen.« »Warum nicht, Dora?« sagte Long. »Wir können es tun. Siehst du nicht, daß wir es tun können? Die Erdmenschen können es nicht. Sie leben auf einer richtigen Welt. Sie haben einen offenen Himmel und Frischnahrung, soviel Luft und Wasser, wie sie nur wollen. Es ist eine schreckliche Umstellung für sie, auf einem Schiff zu leben. Genau aus dem Grund sind mehr als sechs Monate zuviel für sie. Marsmenschen sind anders. Wir leben unser ganzes Leben lang schon in einem Schiff. Mehr ist der Mars ja nicht – ein Schiff. Er ist einfach ein über sechstausend Kilometer langes Schiff mit einem winzigen Zimmer darin, das von fünfzigtausend Leuten bewohnt wird. Es ist abgeschlossen wie ein Schiff. Wir atmen abgepackte Luft, trinken abgepacktes Wasser, und beides wird wieder und wieder gereinigt. Wir essen dieselben Rationen, die wir an Bord eines Schiffes essen. 208
Wenn wir in ein Schiff steigen, finden wir dort nur das, was wir ein Leben lang schon kennen. Wenn es darauf ankommt, können wir es weit länger als nur ein Jahr aushalten.« Dora sagte: »Dick auch?« »Wir alle können es.« »Na schön, Dick aber nicht. Du, Ted Long, und dieser Stufendieb hier, dieser Mario, ihr habt leicht reden, ein Jahr lang auf einen Ausflug zu gehen. Ihr seid nicht verheiratet. Dick ist aber verheiratet. Er hat eine Frau und ein Kind und das muß ihm genügen. Er kann einfach hier auf dem Mars eine richtige Arbeit annehmen. Nehmt an, ihr fliegt zum Saturn und merkt, daß es dort kein Wasser gibt. Wie wollt ihr zurückkommen? Selbst wenn ihr noch Wasser habt, werdet ihr nichts mehr zu essen haben. Das Lächerlichste, was ich je gehört habe.« »Nein. Hör jetzt mal zu«, sagte Long unbeirrt. »Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Ich habe mit Regierungskommissar Sankov gesprochen, und er wird helfen. Wir brauchen jedoch Schiffe und Männer. Die kann ich nicht kriegen. Die Männer werden auf mich nicht hören. Ich bin ein Neuling. Euch zwei kennt und achtet man. Ihr seid alte Hasen. Wenn ihr mich unterstützt, auch wenn ihr nicht selbst fliegt, wenn ihr mir einfach helft, den anderen die Sache schmackhaft zu machen, Freiwillige anheuert …« »Zunächst einmal«, sagte Rioz bärbeißig, »mußt du noch eine ganze Menge erklären. »Wenn wir Saturn erreicht haben, wo ist das Wasser?«
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»Das ist ja gerade das Herrliche«, sagte Long. »Weshalb es der Saturn sein muß. Das Wasser treibt dort nur so im Raum herum, und man braucht es sich nur zu nehmen.« 5
Als Hamish Sankov auf den Mars gekommen war, gab es noch keine eingeborenen Marsmenschen. Jetzt gab es mehr als zweihundert Babys, deren Großväter schon auf dem Mars geboren waren – die dritte Generation von Einheimischen. Er war als Halbwüchsiger gekommen, und die Siedlung bestand damals aus einem Haufen gelandeter Raumschiffe, die durch abgedichtete unterirdische Gänge miteinander verbunden waren. Im Lauf der Jahre hatte er Gebäude wachsen und in die Tiefe sich ausdehnen sehen, die stumpfe Nasen in dünne Atmosphäre reckten, die nicht zu atmen war. Er hatte gesehen, wie riesige Lagerhallen errichtet wurden, in denen ganze Raumschiffe mit ihrer Ladung verschwinden konnten. Er hatte die Bergwerke aus dem Nichts zu riesigen Ausschürfungen in der Marsrinde wachsen sehen, während die Marsbevölkerung von fünfzig auf fünfzigtausend anstieg. Er fühlte sich alt mit diesen vielen Erinnerungen – mit ihnen und den noch blasseren Erinnerungen, die durch die Anwesenheit dieses Erdmenschen vor ihm wieder zum Leben erwachten. Sein Besucher brachte diese längst vergessenen Gedankenbruchstücke an eine weiche, warme
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Welt wieder zum Vorschein, die der Menschheit so gut und wohlgesinnt war wie der Mutterschoß. Der Erdmensch kam anscheinend frisch aus diesem Schoß. Er war nicht sehr groß, nicht sehr schlank. Er war eigentlich sogar rundlich. Dunkles Haar mit einer kleinen, kecken Welle, ein kleiner, hübscher Schnurrbart und sauber geschrubbte Haut. Seine Kleidung war geschmackvoll und so neu und gut gemacht, wie Plastek nur sein konnte. Sankovs Kleidung war Marsfabrikat, zweckmäßig und sauber, aber modisch viele Jahre zurück. Sein Gesicht war faltig und zerfurcht, sein Haar ganz weiß, und sein Adamsapfel wackelte beim Sprechen. Der Erdmensch hieß Myron Digby, Mitglied des Parlaments der Erde. Sankov sagte: »All das trifft uns hart, Herr Abgeordneter.« »Die meisten von uns hat es auch hart getroffen, Herr Kommissar.« »Mhm. Kann wirklich nicht sagen, daß ich es dann begreife. Sie verstehen natürlich, daß ich nicht so tun will, als könnte ich die Erdart verstehen, obwohl ich dort geboren wurde. Es ist nicht leicht, auf dem Mars zu leben, Herr Abgeordneter, und Sie müssen das verstehen. Man braucht viel Laderaum, nur um uns Essen, Wasser und die Rohstoffe zu bringen, damit wir leben können. Viel Platz ist dann nicht mehr für Bücher und Nachrichtenfilme. Von einem Monat abgesehen, wenn die Erde in Konjunktion steht, erreichen auch keine Fernsehprogramme den Mars,
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und wenn sie es tun, hat kaum jemand Zeit, sie sich anzusehen. Mein Amt bekommt wöchentlich eine Filmzusammenfassung von der Planetarischen Presse. Gewöhnlich habe ich nicht die Zeit, ihr Beachtung zu schenken. Sie nennen uns vielleicht provinziell, und Sie haben recht. Wenn so etwas wie jetzt geschieht, dann können wir uns gegenseitig nur hilflos ansehen.« Digby sagte langsam: »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Ihre Leute auf dem Mars noch nichts von Hilders Kampagne gegen die Verschwender gehört haben.« »Nein, kann ich eigentlich nicht sagen. Da ist ein junger Müllmann, der Sohn eines guten Freundes von mir, der im Raum umkam, dessen Steckenpferd es ist, über die Geschichte der Erde und so etwas nachzulesen. Wenn er draußen im Raum ist, empfängt er Fernsehsendungen, und er hat sich diesen Hilder angehört. Soviel ich weiß, war das die erste Rede, die Hilder über die Verschwender hielt. Der junge Mann kam damit zu mir. Ich nahm ihn natürlich nicht ernst. Eine Zeitlang danach behielt ich ein Auge auf die Filme der Planetarischen Presse, aber Hilder wurde nicht oft erwähnt und nach dem, was man sah, wirkte er recht komisch.« »Ja, Herr Kommissar«, sagte Digby, »als es anfing, sah es ganz wie ein Scherz aus.« Sankov streckte seine langen Beine neben dem Schreibtisch aus. »Mir kommt's noch immer eher wie ein Scherz vor. Worum geht's ihm? Wir verbrauchen Wasser. Hat er mal versucht, sich ein paar Zahlen anzusehen? Ich 212
habe sie alle hier. Habe sie mir bringen lassen, als dieser Ausschuß ankam. Die Erde hat eins Komma zwo fünf Milliarden Kubikkilometer Wasser in ihren Ozeanen, und jeder Kubikkilometer Wasser wiegt etwa eineinhalb Milliarden Tonnen. Das ist eine Menge Wasser. Etwas von dieser Menge verbrauchen wir für den Raumflug. Der größte Teil des Schubs wird im Schwerkraftfeld der Erde verbraucht, und das bedeutet, daß das ausgestoßene Wasser seinen Weg zurück in die Ozeane nimmt. Hilder hat das nicht berücksichtigt. Wenn er behauptet, daß pro Flug eine Million Tonnen Wasser verbraucht werden, dann lügt er. Es handelt sich um weniger als hunderttausend Tonnen. Nehmen wir jetzt einmal an, daß pro Jahr fünfzigtausend Flüge stattfinden. In Wirklichkeit sind es natürlich nicht so viele, kaum fünfzehnhundert. Aber sagen wir einmal, es wären fünfzigtausend. Ich nehme an, im Lauf der Zeit wird es ein beträchtliches Anwachsen der Flüge geben. Bei fünfzigtausend Flügen würden pro Jahr etwa drei Komma vier Kubikkilometer Wasser im Raum verloren gehen. Das bedeutet, daß die Erde in einer Million Jahre ein Viertelprozent ihres gesamten Wasservorrats verlieren würde!« Digby drehte die Handflächen nach oben, breitete die Hände aus und ließ sie dann fallen. »Herr Kommissar, die Interplanetarischen Metallwerke haben in ihrer Kampagne gegen Hilder ähnliche Zahlen benutzt, aber mit kalter Mathematik kann man keine riesige, gefühlsgeladene Bewegung aufhalten. Dieser Hilder hat einen Begriff geprägt: Verschwender. Er hat diesen Begriff langsam 213
aufgebauscht, bis es wie nach einer riesenhaften Verschwörung aussah. Eine Bande profitgieriger Schufte, die die Erde ausbeuten und dabei nur auf den eigenen unmittelbaren Vorteil bedacht sind. Er hat die Regierung beschuldigt, mit ihnen unter einer Decke zu stecken. Das Parlament soll unter ihrer Fuchtel stehen und die Presse ihnen gehören. Dem Durchschnittsmensch kommt das alles anscheinend nicht lächerlich vor. Er weiß nur zu gut, was eigennützige Menschen den Bodenschätzen der Erde anhaben können. Er weiß zum Beispiel, was im Zeitalter der Schwierigkeiten mit dem Öl passiert ist und wie der fruchtbare Boden ruiniert wurde. Wenn ein Bauer eine Dürreperiode erlebt, ist es ihm gleich, daß das Wasser, das beim Raumflug verlorengeht, ein winziger Tropfen ist, verglichen mit dem gesamten Wasservorrat der Erde. Mit Hilfe von Hilder kann er jetzt jemandem die Schuld geben, und in einer Katastrophe ist das der stärkste Trost, den man sich denken kann. Dafür läßt er sich nicht mit ein paar Zahlen abspeisen.« Sankov sagte: »Da komme ich nicht mit. Vielleicht deshalb, weil ich nicht weiß, wie es auf der Erde läuft, aber mir scheint, es gibt dort auch Bauern, die nicht auf dem Trocknen sitzen. Soweit ich aus den Nachrichtenzusammenfassungen sehen konnte, sind diese Leute um Hilder eine Minderheit. Wieso läßt sich die Erde auf das Spiel von ein paar Bauern ein, die durch einige Verrückte aufgehetzt worden sind?«
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»Herr Kommissar, weil es so etwas wie von Sorgen geplagte Menschen gibt. Die Stahlindustrie begreift, daß eine Epoche der Raumfahrt die Lage auf dem Markt für Leichtmetallegierungen immer mehr anspannen wird. Die verschiedenen Bergbaugewerkschaften machen sich wegen der außerirdischen Konkurrenz Sorgen. Jeder Erdmensch, der kein Aluminium kriegt, mit dem er sein Fertighaus bauen könnte, weiß ganz sicher, daß das daher kommt, weil alles Aluminium zum Mars geht. Ich kenne einen Archäologieprofessor, der gegen die Verschwender ist, weil er keinen Regierungszuschuß für seine Ausgrabungen bekommen kann. Er ist überzeugt, daß das ganze Regierungsgeld in die Raketenforschung und Raumfahrtmedizin gesteckt wird, und er ist voller Groll deswegen.« Sankov sagte: »Das klingt so, als ob die Erdleute nicht sehr verschieden von uns hier auf dem Mars sind. Aber was ist mit dem Parlament? Warum muß es auf das Spiel von Hilder eingehen?« Digby lächelte verbittert. »Es ist nicht angenehm, Politik zu erklären. Hilder hat diesen Antrag gestellt, einen Ausschuß zu berufen, der die Verschwendung auf Raumflügen untersuchen soll. Ungefähr dreiviertel oder mehr der Abgeordneten waren gegen eine solche Untersuchung, weil das ein unerträgliches und sinnloses Anwachsen der Bürokratie bedeuten würde – was es ja auch ist. Aber wie kann der Gesetzgeber gegen die bloße Untersuchung von Verschwendung sein? Das würde so aussehen, als müsse er etwas befürchten oder verbergen. Das würde so aussehen, als profitiere er selbst etwas bei der Verschwendung. Hilder scheut sich überhaupt nicht, 215
solche Anschuldigungen vorzubringen, und ob wahr oder falsch, für die Wähler wäre das bei der nächsten Wahl eine wichtige Sache. Der Antrag wurde angenommen. Und dann tauchte die Frage auf, wer dem Ausschuß angehören soll. Die, die gegen Hilder waren, drückten sich vor einer Teilnahme, weil sie ständig Entscheidungen hätten treffen müssen, die ihnen peinlich sind. Wenn man sich im Hintergrund hält, ist man nicht mehr die Zielscheibe Hilders. Was zur Folge hat, daß ich das einzige Mitglied des Ausschusses bin, das offen gegen Hilder ist, und das kann mich meine Wiederwahl kosten.« Sankov sagte: »Das würde mir leid tun, Herr Abgeordneter. Es sieht so aus, als habe der Mars nicht so viele Freunde, wie wir dachten. Wir würden nicht gerne einen verlieren. Aber wenn Hilder gewinnen sollte, worauf hat er es eigentlich abgesehen?« »Ich denke«, sagte Digby, »das ist ziemlich deutlich. Er möchte der nächste Weltkoordinator sein.« »Glauben Sie, er schafft's?« »Wenn nichts passiert, was ihn aufhalten könnte, dann schon.« »Und was dann? Wird er dann seinen Feldzug gegen die Verschwender aufgeben?« »Kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, ob er schon Pläne für die Zeit als Koordinator hat. Aber wenn Sie hören wollen, was ich vermute, so kann er die Kampagne gar nicht aufgeben, ohne seine Beliebtheit einzubüßen. Die Sache ist außer Kontrolle geraten.«
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Sankov kratzte sich am Hals. »Na schön. In dem Fall muß ich Sie um Ihren Rat bitten. Was können wir Marsleute machen? Sie kennen die Erde. Sie kennen die Lage. Wir nicht. Sagen Sie uns, was wir tun sollen.« Digby stand auf und trat ans Fenster. Er blickte auf die niedrigen Kuppen der anderen Gebäude hinaus. Dazwischen die rote, felsige, völlig einsame Ebene. Ein purpurner Himmel und eine eingeschrumpfte Sonne. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Gefällt es euch auf dem Mars wirklich?« Sankov lächelte. »Die meisten von uns kennen keine andere Welt, Herr Abgeordneter. Ich glaube, die Erde würde ihnen seltsam und ungemütlich vorkommen.« »Aber würden sich die Marsmenschen nicht an sie gewöhnen? Würden Ihre Leute nicht Gefallen daran finden, die Luft unter dem offenen Himmel zu atmen? Sie haben einmal auf der Erde gelebt. Sie erinnern sich, wie das war.« »Ich erinnere mich ein wenig. Es ist trotzdem nicht leicht zu erklären. Die Erde ist einfach da. Sie paßt für die Leute, und die Leute passen zu ihr. Die Leute nehmen die Erde, wie sie ist. Der Mars ist anders. Er ist irgendwie unfertig. Die Leute müssen aus ihm etwas machen. Sie müssen sich eine Welt bauen, können sie nicht nehmen, wie sie ist. Viel ist noch nicht auf dem Mars, aber wir bauen weiter, und wenn wir fertig sind, werden wir haben, was uns gefällt. Es ist irgendwie ein großartiges Gefühl, zu wissen, man baut eine Welt. Die Erde wäre danach gar nicht sehr aufregend.«
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Der Abgeordnete sagte: »Der gewöhnliche Marsmensch ist gewiß nicht so philosophisch veranlagt, daß er es zufrieden ist, im Namen der Zukunft, die noch Hunderte von Generationen entfernt ist, ein so furchtbar hartes Leben zu führen.« »Nein, so ist das auch nicht.« Sankov legte das rechte Fußgelenk auf das linke Knie und wippte damit, während er sprach. »Wie ich schon sagte, sind die Marsmenschen nicht sehr von den Leuten auf der Erde verschieden, was bedeutet, daß sie irgendwie Menschen sind, und die Menschen kümmern sich nicht viel um Philosophie. Auf jeden Fall hat es etwas für sich, in einer wachsenden Welt zu leben. Als ich auf den Mars kam, pflegte mein Vater mir Briefe zu schicken. Er war Buchhalter, und irgendwie blieb er Buchhalter. Als er starb, sah die Erde nicht viel anders aus als zu seiner Geburt. Vor seinen Augen hat sich nichts ereignet. Ein Tag war wie jeder andere, und das Leben war eine Art Zeitvertreib, bis es Zeit war zu sterben. Auf dem Mars ist es anders. Jeden Tag gibt es hier etwas Neues. Die Stadt ist größer, die Belüftungsanlage wird ein bißchen raffinierter, die Wasserleitungen von den Polen werden weiter verbessert. Im Augenblick haben wir vor, eine eigene Filmstelle für Nachrichten aufzubauen. Wir wollen sie Marspresse nennen. Wenn Sie es nicht erlebt haben, wie um Sie herum alles wächst, dann werden Sie nie verstehen, wie herrlich man sich dabei fühlt. Nein, Herr Abgeordneter, der Mars ist hart und schwierig, und die Erde ist um einiges gemütlicher, aber 218
mir scheint, wenn Sie unsere Jungs auf die Erde schaffen, werden die unglücklich sein. Die meisten würden wahrscheinlich sich verloren vorkommen, verloren und unnütz. Mir scheint, eine Menge von ihnen würde sich nicht eingewöhnen können.« Digby wandte sich vom Fenster ab, und die glatte, rosige Haut seiner Stirn war in Falten gelegt. »Herr Kommissar, wenn das so ist, dann bedauere ich Sie. Sie alle.« »Wieso?« »Weil ich nicht glaube, daß Ihre Leute auf dem Mars irgend etwas machen können. Und die Leute auf Mond und Venus auch nicht. Jetzt wird noch nichts passieren, in den nächsten beiden Jahren vielleicht auch noch nichts, es kann sogar fünf Jahre ruhig bleiben. Aber sie alle werden ziemlich bald zur Erde zurück müssen, es sei denn …« Sankovs weiße Augenbrauen zogen sich finster zusammen. »Nun?« »Es sei denn, Sie können eine andere Wasserquelle als die Erde auftun.« Sankov schüttelte den Kopf. »Wird nicht so leicht sein.« »Ganz und gar nicht.« »Und abgesehen davon kommt es Ihnen so vor, als gäbe es gar keine Hoffnung?« Gar keine.« Digby sprach es aus und ging, und Sankov starrte eine Zeitlang ins Leere, bevor er eine Ziffernfolge der örtlichen Televerbindung drückte. Nach einiger Zeit blickte ihn Ted Long an. 219
Sankov sagte: »Du hast recht gehabt, mein Junge. Die können nichts machen. Selbst die Wohlmeinenden sehen keinen Ausweg. Wie hast du das nur gewußt?« »Kommissar«, sagte Long, »wenn du alles über das Zeitalter der Schwierigkeiten und vor allem über das zwanzigste Jahrhundert gelesen hättest, dann würde dich in der Politik nichts mehr überrascht haben.« »Schön, kann sein. Auf jeden Fall, mein Junge, bedauert uns der Abgeordnete Digby. Er bedauert uns sogar sehr, kann man sagen, aber das ist auch alles. Er sagt, wir werden den Mars verlassen müssen – oder uns woanders Wasser beschaffen.« »Du weißt doch, daß wir das können?« »Ich weiß, daß wir es vielleicht können. Ein schreckliches Risiko.« »Wenn ich genug Freiwillige finde, ist das Risiko unsere Angelegenheit.« »Wie läuft die Sache?« »Nicht übel. Ein paar von den Jungs sind jetzt auf meiner Seite. Ich habe zum Beispiel Mario Rioz überredet, und du weißt, er ist einer der Besten.« »Das ist's ja genau – diese Freiwilligen werden die besten Männer sein, die wir haben. Ich gebe nur sehr ungern meine Zustimmung.« »Wenn wir zurückkommen, wird es sich gelohnt haben.« »Wenn! Ein großes Wort, mein Junge.« »Und eine große Sache, an der wir uns versuchen wollen.« 220
»Schön, ich habe mein Wort gegeben, wenn es auf der Erde keine Hilfe gibt, werde ich dafür sorgen, daß ihr von der Wassergrube auf Phobos die Menge bekommt, die ihr braucht. Alles Gute.«
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Beinahe eine Million Kilometer über dem Saturn wiegte sich Mario Rioz im Nichts, und der Schlaf war köstlich. Langsam wurde er munter, zählte eine Zeitlang die Sterne und zog imaginäre Linien von einem zum anderen. Er steckte in seinem Anzug und war allein. Als am Anfang die Wochen vorbeiflogen, war es wieder genau wie auf einer Müllfahrt, abgesehen von dem quälenden Gefühl, daß jede Minute bedeutete, noch ein paar tausend Kilometer weiter von der ganzen Menschheit weg zu sein. Das verschlimmerte die Sache. Sie hatten einen hohen Bogen aus der Ekliptik heraus gemacht, als sie sich durch den Raum der Asteroiden bewegten. Dabei hatten sie Wasser verbraucht, und wahrscheinlich war es nicht nötig gewesen. Obwohl Zehntausende von Planetenwinzlingen in zweidimensionaler Projektion auf eine photographische Platte wie ein Schwarm von Ungeziefer aussehen, sind sie doch so dünn in den Billiarden von Kubikkilometern verteilt, durch die ihre zusammengesetzten Bahnen führen, daß nur der lächerlichste Zufall zu einem Zusammenstoß geführt hätte.
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Trotzdem machten sie einen Bogen um diesen Raum, und jemand berechnete die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes mit einem Stück Materie, das groß genug war, um Schaden anzurichten. Der Wert war so unglaublich niedrig, daß es vermutlich unvermeidlich war, daß jemand auf die Idee mit dem »Schweben im Raum« kam. Es waren viele Tage, und sie waren lang, der Raum war leer, und man brauchte nur immer einen Mann für die Bedienungseinrichtungen. Die Idee kam wie selbstverständlich. Zuerst war es ein ganz besonders Mutiger, der sich fünfzehn Minuten hinauswagte. Dann versuchte er ein anderer eine halbe Stunde lang. Bevor man die Asteroiden noch gänzlich hinter sich gelassen hatte, hingen bei jedem Schiff die Besatzungsmitglieder, die keine Wache hatten, am Ende eines Kabels frei im Raum. Es war nichts dabei. Eines der Kabel, die am Ende der Reise ihre Verwendung finden sollten, wurde an beiden Enden magnetisch befestigt, zuerst einmal am Raumanzug. Dann kletterte man durch die Schleuse auf den Rumpf des Schiffes hinaus und machte dort das andere Ende fest. Man legte eine kleine Pause ein, wobei einen die Elektromagneten in den Stiefeln an der Metallhaut festhielten. Dann schaltete man sie aus und leistete kaum merkliche Muskelarbeit. Man hob ganz langsam vom Schiff ab, und das Schiff bewegte sich noch langsamer mit seiner größeren Masse 222
eine entsprechend kürzere Strecke nach unten. Unglaublich, wie man gewichtslos in tiefer, getüpfelter Schwärze schwebte. Wenn sich das Schiff weit genug von einem entfernt hatte, faßte die dick behandschuhte Hand, die das Kabel umschloß, fester zu. Zu fest, und man würde sich wieder auf das Schiff zu bewegen, und das Schiff auf einen zu. Gerade fest genug, und die Reibung würde einen zum Halten kommen lassen. Weil man sich so schnell wie das Schiff bewegte, lag es anscheinend bewegungslos unter einem, als sei es auf einen unglaublichen Hintergrund gemalt. Und das Kabel dazwischen bildete lockere Schlaufen, die keine Anstalten machten, sich zu strecken. Man sah nur Halbschiffe. Die eine Hälfte wurde von der Sonne beleuchtet, die noch immer so hell war, daß man sie ohne den Schutz der Polarisationsfilter im Helm nicht direkt ansehen konnte. Die andere Hälfte war schwarz vor schwarzem Hintergrund, unsichtbar. Der Raum schloß sich um einen, und es war wie Schlaf. Der Anzug war warm, die Luft in ihm wurde automatisch erneuert, er enthielt in besonderen Behältern Speise und Trank, die man mit der kleinsten Kopfbewegung in sich saugen konnte, und wurde auf angemessene Art mit den Ausscheidungen fertig. Und vor allem anderen war da dieses Wohlgefühl der Gewichtslosigkeit. Man hatte sich noch nie so gut in seinem Leben gefühlt. Die Tage hörten auf, lang zu sein. Etwa dreißig Grad vom Jupiter entfernt hatten sie seine Umlaufbahn gekreuzt. Monatelang war er das hellste Gestirn am Himmel, die gleißende Erbse der Sonne natürlich ausgenommen. Als er am hellsten war, bestanden 223
einige Müllmänner darauf, sie könnten den Jupiter als winzige Kugel sehen, die auf einer Seite durch den Nachtschatten eingedellt sei. Eine Reihe von Monaten hindurch wurde er schwächer, während ein anderer Lichtpunkt heller wurde, bis er den Jupiter überstrahlte. Es war der Saturn, erst ein lichter Punkt, dann ein ovaler, glühender Fleck. »Wieso oval?« fragte jemand, und nach einer Weile sagte jemand anderer: »Natürlich die Ringe«, was einleuchtend war. Später schwebte jeder im Raum, so oft es ging, und sah sich unablässig den Saturn an. »He, du Kniich, komm wieder rein, verdammt noch mal. Du hast Wache.« »Wer hat Wache? Meiner Uhr nach hab ich noch fünfzehn Minuten.« »Du hast deine Uhr zurückgestellt. Außerdem hab ich dir gestern zwanzig Minuten zugegeben.« »Du würdest nicht mal deiner Großmutter auch nur zwei Minuten zugeben.« »Verdammt noch mal, komm rein, oder ich komme raus.« »Na schön, ich komme. Heiliger Strohsack, so ein Getue wegen einer einzigen Minute.« Aber im Raum konnte man keinen Streit ernst nehmen. Man fühlte sich zu gut. Der Saturn wuchs an, bis er schließlich der Sonne den Rang ablief und sie ausstach. Die Ringe standen in weitem Winkel zu ihrer Flugbahn und umkreisten majestätisch den Planeten, von dem nur ein kleines Stück im Schatten lag. Als sie sich weiter näherten, wurde die Ausdehnung der Ringe immer größer, sie selbst jedoch flacher, weil der Winkel, in dem sie näher kamen, immer kleiner wurde. 224
Die großen Monde tauchten wie Glühwürmchen in der Umgebung des Planeten auf. Mario Rioz freute sich, wach zu sein, um wieder schauen zu können. Der orange gestreifte Saturn füllte den halben Himmel aus, und der Nachtschatten schob sich fast ein Viertel der Gesamtlänge verschwommen von rechts herein. Zwei kleine runde Flecken in der Helligkeit waren Schatten zweier Monde. Links hinter ihm – er konnte sich über seine linke Schulter umsehen, und als er es tat, bewegte sich der restliche Körper ein wenig nach rechts, um das Drehmoment zu erhalten – war der weiße Sonnendiamant. Am liebsten sah er sich die Ringe an. Von links her tauchten sie hinter dem Saturn auf, ein festes, helles, dreifaches Band orangefarbenen Lichtes. Rechts lagen ihre Anfänge im Nachtschatten, waren jedoch näher und breiter. Sie weiteten sich wie der Trichter eines Horns, je näher sie waren, wurden immer trüber, bis sie dem Auge, das ihnen folgte, den ganzen Himmel zu füllen und zu verschwinden schienen. Von der Stelle der Müllmännerflotte am äußersten Rand des äußeren Ringes aus zerlegten sich die Ringe und zeigten ihre wahre Form, zeigten sich als phänomenale Ansammlung fester Teilchen und nicht als das straffe, feste Lichtband, das sie zu sein schienen. Unter ihm, oder besser in der Richtung, in die seine Füße wiesen, befand sich etwa dreißig Kilometer entfernt eines dieser Ringteilchen. Es sah wie ein großer, unregelmäßiger Fleck aus, der die Symmetrie des Raumes
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störte. Dreiviertel waren hell bestrahlt, den Rest schnitt der Nachtschatten wie ein Messer ab. Andere Teilstücke waren weiter entfernt, glitzerten wie Sternenstaub, waren weniger hell und dichter, bis sie wieder zu Ringen wurden, wenn man das Auge an ihnen entlangwandern ließ. Die Teilstücke standen still, aber nur deshalb, weil die Schiffe in eine Umlaufbahn um den Saturn eingetreten waren, die mit dem äußersten Rand der Ringe zusammenfiel. Rioz dachte daran, daß er am Tag zuvor auf dem nächsten Stück gewesen war, um es mit vielen anderen zusammen in die gewünschte Form umzubauen. Morgen würde er wieder mitmachen. Heute – heute schwebte er im Raum. »Mario?« Die Stimme, die in seinem Kopfhörer erklang, hatte einen fragenden Ton. Einen Augenblick lang wurde Rioz ärgerlich. Verdammt noch mal, er war nicht in der Stimmung für Geselligkeit. »Am Apparat«, sagte er. »Ich wußte, daß es dein Schiff war. Wie geht's dir?« »Gut. Bist du das, Ted?« »Genau«, sagte Long. »Stimmt was nicht?« »Ich bin hier draußen und schwebe.« »Du?« »Manchmal packt's mich auch. Herrlich, was?« »Prächtig«, pflichtete ihm Rioz bei.
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»Weißt du, ich habe Erdbücher gelesen …« »Bücher der Bodenleute meinst du.« Rioz gähnte. » … und manchmal lese ich Beschreibungen von Leuten, die im Gras liegen«, fuhr Long fort. »Weißt du, in dem grünen Zeug, das wie dünne, lange Papierschnitzel aussieht, das sie dort überall auf dem Boden haben, und sie schauen in den blauen Himmel mit Wolken darin hinauf. Hast du mal Filme darüber gesehen?« »Klar. Anziehend fand ich's nicht. Sah mir kalt aus.« »Ich glaub nicht, daß es das ist. Schließlich ist die Erde ziemlich nahe an der Sonne, und man sagt, ihre Atmosphäre ist dicht genug, die Wärme zu halten. Ich muß zugeben, mir selbst wäre es unangenehm, ohne alles, nur so mit Kleider unter offenem Himmel zu sein. Aber ich kann mir trotzdem denken, daß sie es mögen.« »Die Bodenleute spinnen!« »Sie reden über Bäume, große, braune Stengel, und den Wind, Luftbewegungen, weißt du.« »Du meinst Luftzüge. Die können sie auch behalten.« »Ist auch gleich. Ich meine nur, sie beschreiben es so schön, fast leidenschaftlich. Ich hab mich oft gefragt: ›Wie mag das wohl sein? Werde ich das auch mal spüren, oder ist das etwas, was nur die Erdmenschen fühlen können?‹ Ich hatte oft das Gefühl, daß mir etwas Wichtiges entging. Jetzt weiß ich, wie es sein muß. Das ist es. Vollkommener Frieden in der Mitte eines vor Schönheit überfließenden Universums.« Rioz sagte: »Denen würde es keinen Spaß machen. Den Bodenleuten, meine ich. Die haben sich so an ihre kleine, 227
miese Welt gewöhnt, daß sie es gar nicht schätzen würden, so zu schweben und auf den Saturn hinabzublicken.« Er ruckte ein wenig mit dem Körper, und sein Schwerpunkt fing an, sich langsam hin und her zu bewegen. Long sagte: »Ja, glaub ich auch. Sie sind an ihren Planeten gefesselt. Selbst wenn sie zum Mars kommen, werden erst ihre Kinder frei sein. Eines Tages wird es Sternenschiffe geben. Riesendinger, die Tausende von Menschen aufnehmen und die vielleicht jahrzehntelang, vielleicht sogar jahrhundertelang unter wegs sein können. Die Menschheit wird sich in der ganzen Milchstraße ausbreiten. Aber die Menschen werden ihr ganzes Leben auf Schiffen zubringen, bis man neue Wege des interstellaren Reisens entdeckt haben wird. Und es werden Marsmenschen sein, die das Universum bevölkern. Das ist unvermeidlich. Es kann nur so sein. Das ist die Art des Mars.« Aber Rioz gab keine Antwort. Er war wieder eingeschlafen, wiegte sich sanft fast eine Million Kilometer über dem Saturn.
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Die Arbeitsschicht auf dem Ringteilstück war die Kehrseite der Medaille. Die Schwerelosigkeit, der Frieden und das Alleinsein des Schwebens im Raum wurde durch etwas ersetzt, bei dem es weder Frieden noch Alleinsein gab. Selbst die Gewichtslosigkeit, die weiter bestand, war unter den veränderten Bedingungen eher ein Fegefeuer als ein Paradies. Man mußte mal versucht haben, einen gewöhnlichen stationären Hitzestrahler zu bedienen. Man konnte ihn hochheben, obwohl er zwei Meter hoch und breit und fast ganz aus Metall war, da er nur den Bruchteil eines Kilos wog. Aber seine Massenträgheit war wie immer, und das hieß, wenn man ihn nicht sehr langsam in Stellung brachte, dann würde er sich weiterbewegen und einen mitziehen. Dann mußte man das künstliche Schwerkraftfeld des Anzugs verstärken und landete mit einem Plumps. Keralski hatte das Feld etwas zu sehr verstärkt und landete ein bißchen zu hart. Der Hitzestrahler kam dabei in einem gefährlichen Winkel mit ihm herunter. Sein gesplitterter Knöchel war das erste Unglück auf der Expedition. Rioz stieß fast unausgesetzt einen Schwall von Flüchen aus. Er fühlte sich immer wieder versucht, sich mit dem Handrücken über die Stirn zu fahren, um sich den Schweiß abzuwischen. Die paar Male, die er dem Drang nachgegeben hatte, waren Silizium und Metall mit einem Krachen zusammengestoßen, das laut in seinem Anzug 229
widerhallte, aber sonst zu nichts führte. Die Entfeuchtungsanlagen in seinem Anzug arbeiteten selbstverständlich mit höchster Kraft, gewannen das Wasser zurück und sammelten die ionenausgetauschte Flüssigkeit mit einem sorgsam bemesse nen Salzgehalt in den dafür vorgesehenen Behälter. Rioz schrie: »Verdammt noch mal, Dick, warte doch, bis ich dir Bescheid gebe.« Und Swensons Stimme dröhnte in seinen Ohren: »Und wie lange soll ich hier eigentlich rumsitzen?« »Bis ich dir Bescheid sage«, versetzte Rioz. Er verstärkte das künstliche Schwerkraftfeld und hob den Strahler ein wenig an. Er schwächte das Feld ab und wartete ein paar Minuten ab, ob er seine Lage beibehalten würde, wenn er jeden Halt wegnähme. Er stieß das Kabel aus dem Weg – es lief über den nahen »Horizont« zu einer Kraftquelle, die außer Sicht war – und drückte auf den Auslöser. Der Stoff, aus dem das Teilstück bestand, brodelte und verschwand, als der Kontakt hergestellt war. Ein Teil des Randes der riesigen Grube, die er schon in das Material gehöhlt hatte, zerschmolz, und eine Unebenheit seines Umrisses war beseitigt. »Versuch's jetzt einmal«, rief Rioz. Swenson war in dem Schiff, das dicht über dem Kopf von Rioz schwebte. Swenson rief: »Alles klar?« »Ich sagte doch, mach los.«
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Aus einer der vorderen Düsen des Schiffes löste sich eine dünne Dampfwolke. Das Schiff trieb auf das Teilstück des Ringes zu. Eine zweite Dampfwolke korrigierte ein seitliches Ausweichen. Es kam gerade herunter. Eine dritte Wolke am unteren Teil ließ es langsam wie eine Feder niederschweben. Rioz sah angespannt zu. »Nur weiter so. Du schaffst es.« Das Ende des Schiffes drang in die Grube ein und füllte sie fast aus. Die ausgebauchten Wände kamen dem Grubenrand immer näher. Das Schiff kam mit einem knirschenden Zittern zum Stillstand. Jetzt war es an Swenson zu fluchen. »Es paßt nicht«, sagte er. Rioz warf den Strahler in einem Anfall zu Boden und flog in den Raum hinauf. Der Strahler wirbelte überall weißen, kristallischen Staub auf, und als Rioz mit Hilfe seines künstlichen Schwerkraftfelds wieder herunterkam, tat er das gleiche. Er sagte: »Du bist schief rein, du blöder Bodenmensch.« »Ich bin gerade rein, du Schmutzfresser von einem Bauern.« Die nach hinten gerichteten Seitendüsen des Schiffes arbeiteten stärker als zuvor, und Rioz machte einen Satz, um aus dem Weg zu sein. Das Schiff schrammte aus der Grube heraus und schoß dann fast einen Kilometer in den Raum hinein, bevor es mit den Vorderdüsen zum Stoppen gebracht werden konnte.
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Swenson sagte nervös: »Wir bringen ein halbes Dutzend Platten zum Krachen, wenn wir das noch mal so machen. Bring das in Ordnung, ja?« »Ich mach's schon richtig. Nur keine Bange. Du mußt nur richtig reinkommen.« Rioz sprang in die Höhe und ließ sich dreihundert Meter steigen, um sich einen Überblick über die ganze Grube zu verschaffen. Die Schürfwunden des Schiffs waren deutlich zu sehen. Sie lagen alle an einer Stelle in halber Tiefe der Grube. Das würde er schon hinkriegen. Der Hitzestrahler brachte die Unebenheiten zum Schmelzen. Eine halbe Stunde später schlüpfte das Schiff sauber in seine Grube, und Swenson stieg in seinem Raumanzug aus und gesellte sich zu Rioz. Swenson sagte: »Wenn du einsteigen möchtest, um aus deinem Raumanzug rauszukommen, dann kümmere ich mich um das Einfrieren.« »Schon in Ordnung«, sagte Rioz. »Ich bleib genauso gern hier sitzen und schau mir den Saturn an.« Er ließ sich am Rand der Grube nieder. Der Zwischenraum zum Schiff war nur ein halber Meter. An manchen Stellen des Kreises war es nur ein halber Meter, und manchmal nur eine Sache von Zentimetern. Bei Handarbeit konnte man kein besseres Ergebnis erwarten. Zur endgültigen Einpassung würde man Eis sorgsam verdampfen und es zwischen Rand und Schiff festfrieren lassen.
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Man konnte sehen, wie sich der Saturn am Himmel bewegte, wie seine riesige Masse langsam unter den Horizont verschwand. Rioz sagte: »Wie viele Schiffe müssen noch eingefahren werden?« Swenson sagte: »Das letzte, was ich hörte, waren elf. Wir sind jetzt drin, das heißt also, nur noch zehn. Sieben von denen, die an Ort und Stelle sind, sind schon eingeeist. Zwei oder drei sind zerlegt worden.« »Wir kommen gut voran.« »Es ist noch eine Menge zu tun. Vergiß nicht die Hauptdüsen am anderen Ende. Und die Kabel und Stromverbindungen. Manchmal frage ich mich, ob wir's wohl schaffen werden. Auf der Herreise hab ich mir keine großen Sorgen gemacht, aber gerade saß ich an den Knöpfen und sagte mir: ›Wir schaffen es nicht. Wir sitzen hier draußen fest und verhungern.‹ Ich komme mir vor …« Er führte nicht aus, wie er sich vorkam. Er saß einfach nur da. Rioz sagte: »Verdammt, du denkst zuviel nach.« »Bei dir ist das anders«, sagte Swenson. »Ich denk dauernd an Peter – und an Dora.« »Wozu? Sie hat doch gesagt, du kannst gehen. Der Kommissar hat ihr eine Rede gehalten über Patriotismus und daß du ein Held sein würdest, ein gemachter Mann, wenn du zurückkommst, und sie hat gesagt, du kannst gehen. Du hast dich nicht weggeschlichen wie Adams.« »Mit Adams ist das etwas anderes. Seine Frau hätte man schon bei der Geburt wegwerfen sollen. Manche Frauen 233
können einem Mann das Leben wirklich zur Hölle machen. Sie wollte nicht, daß er fährt – aber jetzt ist es ihr wahrscheinlich lieber, er kommt nicht zurück, wenn sie nur das Geld kriegt, das ihm vertraglich zusteht.« »Was macht dir dann Sorgen? Dora will doch, daß du zurückkommst?« Swenson seufzte: »Ich hab sie nie richtig behandelt.« »Du hast ihr doch das ganze Geld gegeben. Ich würde das bei keiner Frau tun. Nur soviel Geld, wieviel sie wert ist, und keinen Cent mehr.« »Das Geld ist es nicht. Ich mach mir nur Gedanken. Eine Frau ist nicht gern allein. Ein Kind braucht seinen Vater. Was tu ich eigentlich hier draußen?« »Du bist dabei, die Heimreise vorzubereiten.« »Ach, du verstehst mich nicht.« 8
Ted Long streifte über die hügelige Oberfläche des Ringteilstücks, und seine Stimmung war so eisig wie der Boden, auf den er seine Füße setzte. Unten auf dem Mars hatte alles völlig logisch ausgesehen, aber das war eben auf dem Mars gewesen. Er hatte sich alles in seinem Kopf sorgsam und Schritt für Schritt zurechtgelegt. Er konnte sich noch genau erinnern, wie es gelaufen war. Man brauchte keine Tonne Wasser, um eine Tonne des Schiffes zu bewegen. Da stand nicht Masse gegen Masse,
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sondern es kam auf die Verhältnisse von Massen, Zeit und Geschwindigkeit an. Mit anderen Worten kam es nicht darauf an, ob man eine Tonne Wasser mit einem Kilometer pro Sekunde ausstieß, oder fünfzig Kilogramm Wasser mit zwanzig Kilometern pro Sekunde. Das Schiff erreichte so oder so die gleiche Erdgeschwindigkeit. Das bedeutete, daß man die Düsenmündungen enger machen und den Dampf höher erhitzen mußte. Aber dann bekam die Sache Haken. Je enger die Düse, desto mehr Energie ging durch Reibung und Turbulenzen verloren. Je heißer der Dampf, desto widerstandsfähiger mußte die Düse sein, und desto kürzer war ihre Lebensdauer. Die Grenze in dieser Richtung war schnell erreicht. Und da eine bestimmte Menge Wasser unter der Bedingung enger Düsen beträchtlich mehr Gewicht als das eigene bewegen konnte, zahlte es sich aus, groß zu planen. Je größer die Wasserbehälter, desto größer konnten im Verhältnis auch die Kapseln werden. Man fing also an, die Schiffe schwerer und größer zu bauen. Je größer die Stufen wurden, je schwerer die Verstrebungen waren, desto schwieriger wurden die Schweißarbeiten, desto höhere Anforderungen wurden an die technischen Voraussetzungen gestellt. Im Augenblick war die Grenze auch in dieser Richtung erreicht worden. Und dann hatte er auf das hingewiesen, was ihm der grundlegende Fehler zu sein schien – die ursprüngliche, unumstößliche Ansicht, daß der Treibstoff im Schiff aufbewahrt werden müsse. Das Metall, das man brauchte, um eine Million Tonnen Wasser einzuschließen.
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Wieso? Das Wasser brauchte nicht Wasser zu sein. Es konnte Eis sein, und Eis konnte man eine Form geben. Man konnte Löcher hineinschmelzen. Kapseln und Düsen konnten eingepaßt werden. Die Kapseln und Düsen konnten durch Kabel fest miteinander verbunden und durch magnetische Greifer gesichert werden. Long spürte, wie der Boden, auf dem er ging, unter ihm bebte. Er war an der Spitze des Teilstücks. Ein Dutzend Schiffe schossen in Gruben hinein und wieder heraus, die in seine Masse gegraben worden waren, und das Teilstück erzitterte unter den ständigen Stößen. Das Eis mußte nicht mühsam gebrochen werden. In den Ringen des Saturn fanden sich die richtigen Brocken. Daraus setzten sich die Ringe zusammen – aus fast reinen Eisstücken, die den Saturn umkreisten. Das war spektrographisch festgestellt worden, und es hatte sich als richtig erwiesen. Long stand jetzt auf einem solchen Stück, das über drei Kilometer lang und fast anderthalb Kilometer dick war. Es war beinahe eine halbe Milliarde Tonnen Wasser, in einem Stück, und er stand auf ihm. Aber jetzt sah er sich den nackten Tatsachen des Lebens gegenüber. Er hatte den Männern nie gesagt, wieviel Zeit er dafür veranschlagt hatte, das Teilstück als ein Schiff herzurichten, aber in seinen geheimsten Gedanken hatte er sich ausgemalt, es werde zwei Tage dauern. Jetzt war schon eine Woche vergangen, und er wagte es nicht, die noch benötigte Zeit abzuschätzen. Ihn hatte auch schon alle Zuversicht verlassen, daß die Sache überhaupt zu machen
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war. Würde es ihnen gelingen, die Düsen mit Hilfe von Leitungen, die sich über drei Kilometer Eis hin erstreckten, so feinfühlig zu bedienen, daß sie sich aus dem Schwerkraftfeld des Saturn würden lösen können? Der Trinkwasservorrat war geschrumpft, aber sie konnten sich ja Wasser destillieren. Um die Nahrungsvorräte stand es jedoch nicht zum besten. Er blieb stehen und sah mit angespannten Augen in den Himmel hinauf. Wurde das Ding eigentlich größer? Er sollte seine Entfernung messen. Eigentlich hatte er keine Lust, den anderen dieses Problem auch noch aufzubürden. Seine Gedanken kreisten wieder um Näherliegendes, Wichtigeres. Die Stimmung war wenigstens gut. Den Männern machte es anscheinend Spaß, in der Nähe des Saturn zu sein. Sie waren die ersten Menschen, die so weit vorgedrungen waren, die ersten, die die Asteroiden hinter sich gelassen hatten, die ersten, die Jupiter mit unbewaffneten Augen gesehen hatten, die ersten, die den Saturn so sahen. Er glaubte nicht, daß fünfzig geschickte, hartgesottene Müllmänner sich die Zeit nehmen würden, so ein Gefühl auf sich wirken zu lassen. Aber sie taten es doch. Als er weiterging, kamen über den Horizont zwei Männer und ein halb eingegrabenes Schiff zum Vorschein. Er rief frisch: »Hallo, ihr da!« Rioz antwortete: »Bist du das, Ted?« »Aber sicher. Ist das Dick neben dir?«
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»Klar. Komm her, setz dich. Wir wollten uns eben ans Einfrieren machen und suchten nach einem Grund, es ein bißchen aufzuschieben.« »Ich aber nicht«, sagte Swenson schnell. »Wann werden wir abfahren, Ted?« »Sobald wir fertig sind. Nicht gerade eine Antwort, was?« Swenson sagte niedergeschlagen: »Ich glaube nicht, daß es eine andere Antwort gibt.« Long blickte auf und starrte den unregelmäßigen, hellen Fleck am Himmel an. Rioz folgte seinem Blick. »Was ist los?« Einen Augenblick lang gab Long keine Antwort. Der Himmel war sonst schwarz, die Ringstücke hoben sich als oranger Staub von ihm ab. Der Saturn war zu mehr als drei Vierteln unter dem Horizont, und die Ringe mit ihm. Einen Kilometer entfernt fuhr ein Schiff über den Eisrand des Planetoiden hinaus in den Himmel hinauf, wurde vom Saturnlicht orange angestrahlt und senkte sich wieder. Der Boden bebte schwach. Rioz sagte: »Machst du dir irgendwelche Sorgen wegen dem Schatten?« Sie hatten ihm den Namen gegeben. Es war das nächste Teilstück der Ringe, und ziemlich nah, wenn man bedachte, daß man am äußeren Rand der Ringe war, wo die Teilchen sehr dünn verteilt waren. Es war vielleicht dreißig Kilometer entfernt. Ein zerklüfteter Berg, dessen Umrisse gut zu erkennen waren.
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»Was hältst du von ihm?« fragte Long. Rioz zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts Verkehrtes an ihm entdecken.« »Kommt dir's nicht so vor, als ob er größer wird?« »Warum sollte er größer werden?« »Na und, wird er das nicht?« versteifte sich Long. Rioz und Swenson starrten ihn nachdenklich an. »Er sieht größer aus«, sagte Swenson. »Du redest uns da nur etwas ein«, meinte Rioz. »Wenn er größer werden würde, müßte er ja näher kommen.« »Und warum soll das unmöglich sein?« »Diese Dinger sind auf festen Umlaufbahnen.« »Das waren sie, als wir herkamen«, sagte Long. »Da, hast du das gespürt?« Der Boden hatte wieder gebebt. Long sagte: »Seit einer Woche bohren wir uns jetzt in dieses Ding hinein. Vorher sind fünfundzwanzig Schiffe darauf gelandet. Dann haben wir Teile davon abgeschmolzen, und unsere Schiffe bohren sich hinein und schießen wieder heraus – alles noch dazu an einem Ende. In einer Woche haben wir vielleicht seine Umlaufbahn ein kleines bißchen geändert. Die beiden Teilstücke, dieses hier und der Schatten, laufen vielleicht aufeinander zu.« »Es ist soviel Platz, da wird er schon an uns vorbeikommen.« Rioz sah den Schatten nachdenklich an. »Übrigens, wenn wir nicht mal genau sagen können, ob er größer wird,
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wie schnell kann er sich dann bewegen. Im Verhältnis zu uns, meine ich.« »Er braucht sich gar nicht schnell zu bewegen. Sein Bewegungsmoment ist so groß wie unseres, und ganz gleich, wie sacht er mit uns zusammenstößt, wir werden aus unserer Bahn gedrängt, vielleicht zum Saturn hin, wo wir gar nicht hinwollen. Und Tatsache ist, daß das Eis eine sehr geringe Zugfestigkeit hat, und beide Planetoiden können in winzige Stückchen zerbrechen.« Swenson kam auf die Beine. »Verdammt noch mal, wenn ich sagen kann, wie sich eine Stufe bewegt, die tausend Kilometer weit weg ist, dann kann ich auch sagen, was ein Berg macht, der dreißig Kilometer entfernt ist.« Er ging zum Schiff hin. Long hielt ihn nicht auf. Rioz sagte: »Wie nervös der Kerl ist.« Ihr Nachbarplanetoid stieg zur Himmelsmitte, zog über ihre Köpfe hinweg und sank. Zwanzig Minuten später flammte der Horizont, der dem Teil gegenüberlag, hinter dem der Saturn verschwunden war, in orangem Licht auf, als der massige Großplanet wieder aufstieg. Rioz rief in sein Funkgerät: »He, Dick, bist du da drin gestorben?« »Ich prüfe nach«, kam gedämpft die Antwort. »Bewegt er sich?« fragte Long. »Ja.« »Auf uns zu?«
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Einen Augenblick war Stille. Swensons Stimme klang kläglich. »Direkt auf uns zu, Ted. Die Bahnen schneiden sich in drei Tagen.« »Du spinnst!« schrie Rioz. »Ich hab's viermal überprüft«, sagte Swenson. Long dachte mit leerem Kopf: Was machen wir jetzt?
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Einige der Männer hatten Schwierigkeiten mit den Kabeln. Die mußten genau ausgelegt werden. Ihre Anordnung mußte fast vollkommen sein, damit das Magnetfeld seine größte Stärke haben würde. Im Raum oder selbst in der Luft wäre es gleich gewesen. Die Kabel hätten sich automatisch ausgerichtet, sobald Saft in ihnen fließen würde. Hier sah es anders aus. Man mußte auf der Oberfläche des Planetoiden Gräben ziehen, in die man die Kabel legte. Wenn sie nur ein paar Bodenminuten von der berechneten Richtung abwichen, würde der ganze Planetoid ein Drehmoment bekommen, das zu einem Verlust an Energie führen würde, den man sich nicht leisten konnte. Dann mußten die Gräben neu gezogen werden, die Kabel verlegt und in der neuen Lage eingeeist werden. Die Männer mühten sich verdrossen mit der langweiligen Arbeit ab. Und dann hörten sie: 241
»Alle Mann an die Düsen!« Man konnte nicht sagen, daß die Müllmänner Menschen waren, denen Disziplin leichtfiel. Eine schimpfende, murrende Gruppe machte sich daran, die Düsen der Schiffe abzubauen, die noch unversehrt waren. Sie trugen sie zum anderen Ende des Planetoiden, rammten sie in die richtige Lage und verlegten Leitungen auf der Oberfläche. Es vergingen fast vierundzwanzig Stunden, bevor einer von ihnen zum Himmel hinaufsah und sagte: »Heiliges Kanonenrohr!«, dem dann etwas im Druck nicht Wiederzugebendes folgte. Sein Nachbar sah auf und sagte: »Verdammt noch mal!« Kaum hatten sie es gesehen, hatten es auch schon alle bemerkt. Es war die überraschendste Sache im ganzen Universum. »Schaut euch den Schatten an!« Wie eine aufgebrochene Wunde erstreckte er sich über den Himmel. Die Männer schauten sich ihn an, sahen, daß er doppelt so groß geworden war, und fragten sich, wieso ihnen das nicht schon eher aufgefallen war. Die Arbeit wurde tatsächlich eingestellt. Sie bestürmten Ted Long. Er sagte: »Wir können nicht fort. Unser Treibstoff reicht nicht aus, um zum Mars zurückzukommen, und wir haben nicht das Gerät, um einen anderen Planetoiden einzufangen. Wir müssen also bleiben. Der Schatten schleicht sich jetzt an uns ran, weil uns unsere Druckwellen aus der Bahn geworfen haben. Wir müssen das ändern, indem wir unsere Düsen weiterlaufen lassen. Da wir auf 242
das vordere Ende nicht weiter Druck ausüben können, ohne das Schiff zu gefährden, das wir bauen, müssen wir es auf andere Art versuchen.« Sie arbeiteten mit ungestümer Kraft an den Düsen weiter, die jede halbe Stunde neuen Auftrieb erhielt, wenn sich der Schatten größer und bedrohlicher als zuvor über den Horizont schob. Long konnte nicht sicher sein, ob es klappen würde. Selbst wenn die Düsen auf die Fernbedienung ansprechen würden, wenn der Wassernachschub ausreichte, der aus einem Speicher stammte, der direkt in den Eiskörper des Planetoiden hineinreichte und in den Hitzestrahler eingebaut waren, die die Antriebsflüssigkeit gleich in die Schubdüsen hineindampften, so gab es doch keine Gewißheit darüber, ob der Körper des Planetoiden ohne das Netz magnetischer Kabel unter den riesigen Spannungen zusammenhalten würde. »Fertig!« tönte es aus Longs Empfänger. Long rief: »Fertig!« und drückte auf den Knopf. Das Beben um ihn herum wurde stärker. Der Kreis von Sternen auf dem Bildschirm zitterte. Im hinteren Blickfeld zeigte sich ein glitzernder Gischt sich rasch bewegender Eiskristalle. »Es läuft!« ertönte ein Ruf. Und es lief weiter. Long wagte nicht, aufzuhören. Sechs Stunden lang lief es, zischte, brodelte, dampfte es in den Raum hinaus. Der Körper des Planetoiden wurde in Dampf umgewandelt und wirbelte davon.
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Der Schatten kam näher, bis die Männer nichts anderes taten, als den Berg am Himmel anzustarren, der eindrucksvoller als selbst Saturn war. Jede Senke, jedes Tal war als deutliche Narbe auf seinem Antlitz zu sehen. Aber als er die Bahn des Planetoiden kreuzte, lief er fast einen Kilometer hinter ihm vorbei. Der Dampfstrahl brach ab. Long beugte sich in seinem Sitz nach vorn und bedeckte die Augen. Er hatte seit zwei Tagen nichts gegessen. Jetzt konnte er jedoch etwas essen. Kein anderer Planetoid war nahe genug, sie zu stören. Draußen auf der Oberfläche des Planetoiden erklärte Swenson: »Die ganze Zeit, in der ich diesen verdammten Klotz runterkommen sah, sagte ich zu mir selber: ›Es kann nicht passieren. Wir können nicht zulassen, daß es passiert‹.« »Zum Teufel«, sagte Rioz, »wir waren alle nervös. Hast du Jim Davis gesehen? Er war ganz grün. Ich war selbst ein bißchen fahrig.« »Das war's nicht. Weißt du, es war nicht bloß das – Sterben. Ich dachte daran – ich weiß, es ist komisch, aber ich kann's nicht ändern – ich dachte daran, daß Dora mich wissen ließ, sie würde es mir nie und nimmer vorwerfen, wenn ich umkommen würde. Ist das in so einem Augenblick nicht eine ziemlich miese Einstellung?« »Hör mal«, sagte Rioz, »du hast heiraten wollen und hast es auch getan. Was willst du mit deinen Schwierigkeiten bei mir?« 10 244
Die Flotte war zu einer einzigen Einheit verbunden und kehrte in einem riesigen Bogen vom Saturn zum Mars zurück. Jeden Tag raste sie eine Strecke zurück, für die bei der Herfahrt neun Tage gebraucht worden war. Ted Long hatte für die gesamte Mannschaft Ausnahmezustand verhängt. Zwanzig Schiffe waren in den Planetoiden eingebettet, der aus den Ringen des Saturn stammte, und konnten unabhängig voneinander keine Manöver ausführen, wobei die Zusammenschaltung ihrer Kraftquellen zu einheitlichem Betrieb eine kitzlige Angelegenheit war. Das Gerüttel am ersten Reisetag hätte ihnen fast die Knochen aus dem Leib geschüttelt. Das legte sich schließlich, als die Geschwindigkeit unter dem steten Schub von hinten anstieg. Gegen Ende des zweiten Tages überschritten sie eine Geschwindigkeit von hundertfünfzigtausend Kilometern die Stunde und beschleunigten unaufhaltsam weiter, bis die Millionengrenze hinter ihnen lag. Longs Schiff war die Nadelspitze der eingefrorenen Flotte, war das einzige, das den Raum fünffach sehen konnte. Unter den Umständen eine unangenehme Lage. Long merkte, daß er angespannt Ausschau hielt, irgendwie sich einbildete, die Sterne würden bei der ungeheuren Reisegeschwindigkeit des zusammengesetzten Schiffes anfangen wegzurutschen und an ihnen vorbeiflitzen. Was sie natürlich nicht taten. Sie waren am schwarzen Hintergrund wie festgenagelt, und ihre Entfernung spottete in beharrlicher Unbewegtheit jeder Geschwindigkeit, die ein Mensch nur erreichen konnte.
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Nach den ersten paar Tagen beklagten sich die Männer bitter. Nicht nur, daß es für sie kein Schweben im Raum mehr gab. Auf ihnen lastete durch die wilde Beschleunigung, mit der sie lebten, ein viel größerer Druck als der, den die künstlichen Schwerkraftfelder der Schiffe gewöhnlich erzeugten. Long selbst war der gnadenlose Druck, der ihn gegen die hydraulischen Kissen preßte, längst schon unerträglich geworden. Sie gingen dazu über, alle vier Stunden den Schub der Düsen für eine Stunde abzustellen, und Long sorgte sich. Es war jetzt ein wenig länger als ein Jahr her, seit er von einem Beobachtungsfenster seines Schiffes aus den Mars hatte zusammenschrumpfen sehen. Der Mars war damals eine unabhängige Welt gewesen. Was war seitdem geschehen? Existierte die Kolonie noch? Es war beinahe eine ständig wachsende panische Furcht, mit der Long täglich mit der zusammengefaßten Energie von fünfundzwanzig Schiffen Funkzeichen zum Mars schickte. Keine Antwort. Er erwartete auch keine. Mars und Saturn waren von der Sonne aus gesehen in Opposition zueinander, und die Sonne würde jedes Durchkommen von Funkzeichen verhindern, solange er nicht hoch genug aus der Ekliptik hinausstieg und die Sonne nicht ein gutes Stück unter der Verbindungslinie von ihm zum Mars läge. Hoch über dem Rand des Raumes der Asteroiden erreichten sie Höchstgeschwindigkeit. Mit kurzen Stößen aus einer seitlichen Düse, dann aus einer anderen, drehte sich das riesige Fahrzeug um. Das zusammengesetzte
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Triebwerk am hinteren Ende setzte wieder brüllend ein, jetzt aber mit abbremsender Wirkung. Sie flogen hundertfünfzig Millionen Kilometer hoch über die Sonne hinweg und bogen dann ab, um die Umlaufbahn des Mars zu schneiden. Noch eine Woche vom Mars entfernt, wurden zum erstenmal Antwortzeichen empfangen. Sie waren bruchstückhaft, verzerrt und unverständlich, aber sie kamen vom Mars. Long atmete auf. Auf jeden Fall gab es noch Menschen auf dem Mars. Zwei Tage vom Mars entfernt war das Funkzeichen kräftig und deutlich, und am anderen Ende war Sankov. Sankov sagte: »Hallo, mein Junge. Hier ist es drei Uhr früh. Die Leute nehmen anscheinend keine Rücksicht auf einen alten Mann. Haben mich glatt aus dem Bett gezerrt.« »Denk dir nichts. Sie haben auf Befehl gehandelt.« »Ich habe Angst zu fragen. Jemand verletzt? Oder gar tot?« »Keine Todesfälle. Nicht ein einziger.« »Und – und das Wasser? Noch etwas übrig?« Long gab sich Mühe, gleichgültig zu wirken: »Genug.« »Komm in dem Fall so rasch wie möglich nach Hause. Laß dich dabei auf nichts ein.« »Ihr habt also Schwierigkeiten?« »Beträchtliche. Wann kommt ihr runter?« »In zwei Tagen. Kannst du so lange durchhalten?« »Ich kann durchhalten.« 247
Vierzig Stunden später war der Mars zu einer orangeroten Kugel angewachsen, der die Bullaugen ausfüllte, und sie durchliefen die Endspirale, die die Landung auf dem Planeten einleitete. »Langsam«, sagte sich Long. »Langsam.« Unter diesen Umständen konnte selbst die dünne Atmosphäre des Mars schrecklichen Schaden anrichten, wenn sie sich zu schnell durch sie hindurchbewegten. Da sie von weit oberhalb der Ekliptik hereinkamen, lief ihre Spirale von Nord nach Süd. Unter ihnen schoß weiß eine Polarkappe vorbei, dann die viel kleinere der sommerlichen Halbkugel, dann wieder die größere, wieder die kleinere in länger werdenden Abständen. Der Planet kam näher, und man konnte Einzelheiten der Landschaft unterscheiden. »Landung vorbereiten!« rief Long.
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Sankov gab sich alle Mühe, ruhig auszusehen, was nicht leicht war, wenn man in Betracht zog, wie knapp es mit der Rückkehr der Jungs geworden war. Und doch war alles recht glatt gegangen. Bis vor ein paar Tagen hatte er keine verläßliche Kenntnis darüber gehabt, daß sie mit dem Leben davongekommen waren. Fast zwangsläufig sah es so aus, als
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wären sie irgendwo im Raum zwischen Saturn und Mars verschollen. Bevor die Nachricht eingetroffen war, hatte der Ausschuß wochenlang mit ihm herumgefeilscht. Man hatte darauf bestanden, er müsse das Papier unterzeichnen, damit der Schein bewahrt bliebe. Es würde wie ein Abkommen aussehen, auf das sich beide Seiten freiwillig geeinigt hätten. Sankov wußte jedoch, daß man einseitig vorgehen würde, wenn er sich völlig halsstarrig zeigen würde. Anscheinend stand jetzt ziemlich sicher fest, daß Hilder gewählt werden würde, und man würde die Gelegenheit ergreifen, eine Welle des Mitgefühls für den Mars in die Wege zu leiten. Er zog die Verhandlungen also in die Länge und gab sich immer den Anschein, als stehe ein Einlenken kurz bevor. Und dann hörte er von Long und machte den Handel rasch perfekt. Die Papiere waren vor ihm gelegen, und er hatte für die anwesenden Reporter noch eine Erklärung abgegeben. Er sagte: »Insgesamt importieren wir zwanzig Millionen Tonnen Wasser pro Jahr von der Erde. Durch die Weiterentwicklung unseres Leitungssystems verringern sich diese Importe. Wenn ich diesen Vertrag unterzeichne und dem Embargo zustimme, wird unsere Industrie lahmgelegt werden und jede Möglichkeit zu ihrer Ausweitung undurchführbar sein. Mir scheint, das kann doch nicht im Interesse der Erde liegen?«
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Man blickte ihm in die Augen und hatte nur ein hartes Funkeln für ihn übrig. Der Abgeordnete Digby war schon ausgewechselt worden, und man war einmütig gegen Sanka. Der Vorsitzende des Ausschusses wies ihn auf etwas hin: »Das haben Sie alles schon zu Gehör gebracht.« »Ich weiß, aber jetzt bin ich dabei, mich ans Unterschreiben zu machen, und ich möchte, daß in meinem Kopf alles klar ist. Hat die Erde die Absicht, allem, was hier ist, ein Ende zu machen?« »Natürlich nicht. Die Erde hat nur ein Interesse daran, ihre unersetzlichen Wasservorräte zu schonen, sonst nichts.« »Ihr habt eineinhalb Trillionen Tonnen Wasser auf der Erde.« Der Vorsitzende des Ausschusses sagte: »Wir können kein Wasser abtreten.« Und Sankov hatte unterschrieben. Das war die rechtskräftige Feststellung, die er sich gewünscht hatte. Die Erde hatte eineinhalb Trillionen Tonnen Wasser und konnte nichts davon abtreten. Eineinhalb Tage später warteten der Ausschuß und die Reporter jetzt unter der Kuppel des Raumhafens. Sie konnten durch dicke, gebogene Scheiben die öde, leere Fläche des Marsraumhafens sehen. Der Vorsitzende des Ausschusses fragte verärgert: »Wie lange sollen wir denn noch warten? Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, worauf warten wir eigentlich?«
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Sankov sagte: »Ein paar unserer Jungs waren im Raum draußen, über die Asteroiden hinaus.« Der Ausschußvorsitzende nahm seine Brille ab und reinigte sie mit einem schneeweißen Taschentuch. »Und die kommen zurück?« »Allerdings.« Der Vorsitzende zuckte die Schultern und sah mit emporgezogenen Augenbrauen die Reporter an. In dem kleineren Raum daneben drängte sich ein Knäuel von Frauen und Kindern vor einem weiteren Fenster. Sankov trat einen Schritt zurück, um einen Blick in ihre Richtung zu werfen. Er wäre viel lieber unter ihnen gewesen, hätte lieber an ihrer Aufregung und Spannung teilgenommen. Er hatte wie sie über ein Jahr gewartet. Er hatte wie sie wieder und wieder gedacht, daß die Männer gestorben wären. »Da, sehen Sie das?« sagte Sankov und zeigte mit dem Finger. »He!« rief einer der Reporter. »Ein Schiff!« Es war weniger ein Schiff, als ein heller Punkt, der von einer wehenden weißen Wolke eingehüllt war. Die Wolke wurde größer und nahm langsam Gestalt an. Vom Himmel hob sich ein Doppelstreifen ab, dessen untere Enden auswichen und sich nach oben umbogen. Als sie tiefer sank, nahm der helle Punkt am oberen Ende eine grob zylindrische Form an. Er war unregelmäßig und zerklüftet, aber wo ihn das Sonnenlicht traf, schleuderte er leuchtende Lichtblitze.
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Der Zylinder sank mit der gewichtigen Langsamkeit zu Boden, die typisch für Raumfahrzeuge ist. Er wurde von den tosenden Düsen getragen und ließ sich auf den Tonnen ausgestoßener Materie, die hinabwirbelten, wie ein müder Mann nieder, der in seinen Sessel sinkt. Und während dieses Vorgangs legte sich Schweigen auf alle Anwesenden in der Kuppel. Die Frauen und Kinder in dem einen Raum, die Politiker und Reporter im anderen, blieben wie angewurzelt stehen und blickten mit zurückgelegten Köpfen ungläubig in die Höhe. Die Landebeine des Schiffes, die weit über die Düsen hinausragten, berührten den Boden und sanken in den steinigen Morast. Dann stand das Schiff bewegungslos, und die Düsen stellten ihre Tätigkeit ein. In der Kuppel herrschte jedoch weiter Schweigen. Es wurde noch geraume Zeit nicht unterbrochen. Über die Flanken des riesigen Fahrzeugs kletterten Männer herunter, bewegten sich langsam den drei Kilometer langen Pfad zum Boden hinunter entlang. Sie hatten Steigeisen an ihren Schuhen, und in den Händen hielten sie Eispickel. Sie sahen wie Mücken auf der blendenden Fläche aus. Einer der Reporter krächzte: »Was ist das?« »Das«, sagte Sankov ruhig, »ist ein Stück Materie, das als Teil eines der Saturnringe seine Kreise um den Planeten zog. Unsere Jungs haben es nach Hause geschafft. Denn es zeigte sich, daß die Teilstückchen der Saturnringe aus Eis bestehen.«
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Er sprach weiter in die Totenstille hinein. »Das Ding, das wie ein Raumschiff aussieht, ist einfach ein Berg aus festem Wasser. Wenn es so auf der Erde stünde, würde es zu einer Pfütze zerschmelzen oder unter seinem eigenen Gewicht in Stücke zerbrechen. Der Mars ist kälter und hat weniger Schwerkraft. Diese Gefahren bestehen hier also nicht. Wenn wir diese Sache einmal richtig in Angriff genommen haben werden, können wir selbstverständlich Wasserstationen auf den Monden von Jupiter und Saturn und auf den Asteroiden einrichten. Wir können Stücke aus den Sarurnringen holen und sie zu den einzelnen Stationen schicken. Unsere Müllmänner beherrschen so etwas vollkommen. Wir werden so viel Wasser haben, wie wir brauchen. Dieses Stück, das sie da sehen, ist etwas über drei Kubikkilometer groß ungefähr die Menge, die uns die Erde in zweihundert Jahren geschickt hätte. Die Jungs haben eine ziemliche Menge davon auf ihrem Rückweg vom Saturn verbraucht. Sie sagten mir, sie haben fünf Wochen gebraucht und etwa hundertfünfzig Millionen Tonnen verbraucht. Aber, mein Gott, das hat diesen Berg noch nicht einmal angekratzt. Habt ihr auch alles mitbekommen, Jungs?« Er wandte sich an die Reporter. Kein Zweifel, sie bekamen alles mit. Er sagte: »Dann schreibt noch folgendes auf. Die Erde sorgt sich um ihren Wasservorrat. Sie kann uns nicht eine einzige Tonne davon abtreten. Schreibt auf, daß wir Leute auf dem Mars uns Sorgen um die Erde machen und nicht wollen, daß den Erdleuten irgend etwas zustößt. Schreibt 253
auf, daß wir der Erde Wasser verkaufen werden. Schreibt auf, daß sie zu vernünftigen Preisen Millionen von Tonnen von uns haben können. Schreibt auf, daß wir glauben, in zehn Jahren das Wasser in Stücken von Kubikkilometern verkaufen zu können. Schreibt auf, daß die Erde sich keine Sorgen mehr machen muß, weil ihr der Mars soviel Wasser verkaufen kann, wie sie haben will.« Der Vorsitzende des Ausschusses hörte nichts mehr. Er konnte nur schwach erkennen, wie die Reporter grinsten, während sie wie wild schrieben. Sie grinsten. Er konnte hören, wie das Grinsen auf der Erde zu Gelächter wurde, weil der Mars den Spieß der AntiVerschwender so geschickt umgedreht hatte. Er konnte das Gelächter auf jedem Kontinent donnern hören, wenn sich die Kunde von dem Reinfall verbreitete. Und er konnte den Abgrund sehen, schwarz und tief wie der Raum, in den ein für allemal die politischen Aussichten John Hilders und aller Gegner der Raumfahrt, die es auf der Erde noch gab, stürzen würden – seine eigenen natürlich nicht ausgenommen. Im angrenzenden Raum schrie Dora Swenson vor Freude auf, und Peter, der fünf Zentimeter gewachsen war, sprang immer wieder hoch und rief: »Daddy, Daddy!« Richard Swenson war eben von dem Ausläufer eines Landebeins gestiegen und marschierte auf die Kuppel zu. Hinter dem durchsichtigen Silizium seines Kopfteils war sein Gesicht deutlich zu erkennen.
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»Hast du je einen Kerl gesehen, der so glücklich aussah?« fragte Ted Long. »Vielleicht ist an dieser Sache mit dem Heiraten doch was dran.« »Ach, geh', du bist nur zu lange im Raum draußen gewesen«, sagte Rioz.
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Die in der Tiefe (The Deep, 1952) Deutsch von Jürgen Saupe 1
Schließlich muß jeder einzelne Planet sterben. Der Tod kann rasch erfolgen, wenn die Sonne birst. Der Tod kann langsam sein, wenn die Sonne schwächer wird und erlischt und seine Meere sich mit Eis überziehen. Im zweiten Fall besteht wenigstens für vernunftbegabtes Leben eine Möglichkeit des Weiterlebens. Zum Weiterleben kann eine Richtung zu einem Planeten hin gewählt werden, der näher an der erkalteten Sonne liegt oder zu einem Planeten, der zu einer anderen Sonne gehört. Diese Wege stehen nicht offen, wenn der Planet unglücklicherweise der einzige bedeutende Himmelskörper ist, der sich um seinen Stern dreht, oder wenn kein anderer Stern in einem Umkreis von fünfhundert Lichtjahren zu finden ist. Zum Weiterleben kann eine Richtung nach innen in die Rinde des Planeten hinein gewählt werden. Das ist immer möglich. Man kann sich eine neue unterirdische Heimat bauen und die Hitze des Planetenkerns kann zur Energiegewinnung herangezogen werden. Dieses Vorhaben kann
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vielleicht Tausende von Jahren in Anspruch nehmen, aber eine sterbende Sonne erkaltet langsam. Doch im Lauf der Zeit vergeht auch die planetarische Wärme. Immer tiefere Höhlen müssen gegraben werden, bis der Planet durch und durch tot ist. Die Zeit kam näher. Auf der Oberfläche des Planeten wehten schwächliche Neonschwaden, die kaum die Sauerstoffteiche kräuseln konnten, die sich in den Niederungen angesammelt hatten. Während der langen Tage loderte manchmal die verkrustete Sonne auf, bis sie mattrot schimmerte, und in den Sauerstoffteichen stiegen einige Blasen auf. Während der langen Nächte überzog eine feste, blauweiße Schicht die Sauerstoffteiche, und auf dem nackten Fels schlug sich Neontau nieder. Zwölfhundert Kilometer unter der Oberfläche gab es eine letzte Blase der Wärme und des Lebens.
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Wendas Beziehung zu Roi war so eng, wie man sie sich nur denken konnte, bei weitem enger, als sie sich anständigerweise eingestehen durfte. Man hatte ihr in ihrem Leben nur einmal gestattet, das Ovarium aufzusuchen, und man hatte ihr ganz deutlich zu verstehen gegeben, daß es bei diesem einen Mal bleiben würde. 257
Der Rassenspezialist hatte gesagt: »Du erfüllst nicht ganz die Normen, Wenda, aber du bist fruchtbar, und wir versuchen es einmal mit dir. Vielleicht klappt es.« Sie wünschte sich, daß es klappen möge. Verzweifelt wünschte sie es sich. Sie hatte ziemlich früh in ihrem Leben eingesehen, daß es ihr an Intelligenz mangelte und daß sie nie mehr als ein Handlanger sein würde. Es war ihr peinlich, daß sie die Rasse im Stich lassen könnte, und sie sehnte sich nach einer einzigen Gelegenheit, bei der sie mithelfen konnte, ein neues Wesen zu schaffen. Sie wurde ganz besessen davon. Sie legte ihr Ei in einen Winkel der Anlage und kehrte dann zurück, um zuzusehen. Der »Zufallsprozeß«, der die Eier während der künstlichen Befruchtung leicht bewogte – um gleichmäßige Verteilung der Gene zu gewährleisten –, tat bei einigem Glück nicht mehr, als ihr festgeklemmtes Ei ein wenig ins Schwanken zu bringen. Sie paßte während der Reifezeit unauffällig weiter auf, beobachtete das Kleine, das aus dem einen Ei schlüpfte, das das ihre war, merkte sich seine körperlichen Kennzeichen und sah zu, wie es wuchs. Sie sagte einmal ganz beiläufig: »Schau dir den da an, der da drüben sitzt. Ist er krank?« »Welcher?« Der Rassenspezialist war erschrocken. Ein sichtlich krankes Kind würde ein schlechtes Licht auf seine Fähigkeiten werfen. »Du meinst Roi? Unsinn. Ich wollte, alle unsere Jungen wären so wie der.« Zuerst war sie nur mit sich zufrieden gewesen, dann erschrokken und schließlich entsetzt. Sie sah sich den 258
Jungen verfolgen, interessierte sich für seinen Unterricht, beobachtete ihn beim Spielen. Sie war glücklich, wenn er in der Nähe war, sonst teilnahmslos und unglücklich. So etwas war ihr noch nie vorgekommen, und sie schämte sich. Sie hätte den Geistesspezialisten aufsuchen sollen, war aber zu vernünftig dazu. So teilnahmslos war sie auch wieder nicht, daß sie nicht wußte, daß es sich nicht bloß um eine kleine Abweichung handelte, die in der Zuckung einer Hirnzelle behoben sein würde. Es war bestimmt ein Anzeichen für eine Geistesstörung. Sie war sich ganz sicher. Wenn man es merkte, würde man sie einsperren. Oder vielleicht sogar einschläfern, weil sie nutzlos die eng begrenzte Energie verbrauchte, die der Rasse zur Verfügung stand. Vielleicht würde man sogar die Nachkommenschaft aus ihrem Ei einschläfern, wenn man erfuhr, von wem es war. Sie kämpfte im Lauf der Jahre gegen die Überspanntheit und hatte in gewissem Umfang auch Erfolg. Dann hörte sie zum erstenmal die Neuigkeit, daß Roi für die lange Reise ausgewählt worden war, und sie wurde von tiefer Trübsal heimgesucht. Sie folgte ihm in einen der leeren Gänge der Höhle, einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Stadt! Es gab nur eine einzige. Diese bestimmte Höhle war zu einer Zeit geschlossen worden, die im Bereich von Wendas Erinnerungsvermögen lag. Die Alten hatten ihre Länge abgeschritten, die Bevölkerung und die Energie, die man für sie benötigte, in Betracht gezogen und beschlossen, sie abzudunkeln. Die 259
Bevölkerung, sicher nicht viele Leute, waren näher ans Zentrum gebracht und die Quote für die nächste Sitzung im Ovarium gekürzt worden. Wenda fand den Teil von Rois Denken, der der Unterhaltung gewidmet war, seicht, als hätte sich fast sein gesamter Geist meditativ nach innen gewandt. Hast du Angst? dachte sie ihn an. Weil ich hier herauskomme, um nachzudenken? Er zögerte ein wenig und sagte dann: »Ja, habe ich. Es ist die letzte Chance für die Rasse. Wenn ich versage …« Machst du dir Sorgen um dich? Er blickte sie erstaunt an, und Wendas Gedankenstrom wurde vor Scham über ihre Ungehörigkeit unruhig. Sie sagte: »Ich wollte, ich würde an deiner Stelle gehen.« Roi fragte: »Glaubst du, daß du die Sache besser erledigen kannst?« »Ach, nein. Aber wenn ich versagen und nie zurückkommen würde, dann wäre das ein geringerer Verlust für die Rasse.« »Der Verlust wäre der gleiche«, sagte er unerschütterlich. »Ob ich es wäre oder du. Verlorengehen kann nur das Dasein der Rasse.« Wenn Wenda überhaupt an das Dasein der Rasse dachte, dann nur ganz entfernt. Sie seufzte. »Es ist eine so weite Reise.« »Wie weit denn?« fragte er lächelnd. »Weißt du es?« Sie zögerte. Sie wollte ihm nicht dumm vorkommen. 260
Sie sagte spröde: »Man erzählt sich, es soll auf die erste Ebene hinaufgehen.« Als Wenda klein gewesen war, und sich die geheizten Gänge weiter aus der Stadt hinaus erstreckten, war sie hinausgezogen, hatte sich umgesehen, wie Kinder das tun. Eines Tages war sie weit gelaufen, bis die Luft schneidend kalt wurde. Sie war in eine Halle gekommen, die schräg nach oben verlief, aber nach einem kurzen Stück durch einen riesigen Pfropfen verschlossen war, der oben und unten und seitlich fest eingefügt war. Auf der anderen Seite nach oben, so hörte sie lange Zeit danach, lag die neunundsiebzigste Ebene, über ihr die achtundsiebzigste und so weiter. »Wir gehen über die erste Ebene hinaus, Wenda.« »Aber jenseits der ersten Ebene ist doch nichts.« »Du hast recht. Nichts. Alle festen Stoffe des Planeten hören auf.« »Aber wie kann es da was geben, das nichts ist? Hast du Luft gemeint?« »Nein, ich habe das Nichts gemeint. Das Vakuum. Du weißt doch, was ein Vakuum ist?« »Ja. Aber ein Vakuum muß doch ausgepumpt und luftdicht gehalten werden.« »Ja, wenn man etwas konservieren will. Aber nach der ersten Ebene kommt ein unendliches Vakuum, das sich überall hin erstreckt.« Wenda überlegte eine Weile. Sie sagte: »Ist dort schon mal jemand gewesen?«
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»Selbstverständlich nicht. Aber wir haben die Berichte.« »Vielleicht stimmen die Berichte nicht.« »Das kann nicht sein. Weißt du, wieviel Raum ich durchqueren werde?« Wendas Gedankenstrom zeigte ein überwältigendes Nein an. Roi sagte: »Ich nehme an, du weißt, wie groß die Lichtgeschwindigkeit ist?« »Natürlich«, versetzte sie eifrig. Sie war eine überall gültige Konstante. Die Kinder kannten sie schon. »In einer Sekunde tausendneunhundertvierundfünfzigmal die Länge der Höhle hin und zurück.« »Genau«, sagte Roi, »aber wenn das Licht die Strecke zurücklegen würde, die ich vor mir habe, so würde es zehn Jahre brauchen.« Wenda sagte: »Du machst dich über mich lustig. Du willst mir Angst einjagen.« »Warum solltest du Angst haben?« Er erhob sich. »Aber ich habe mich lange genug hier herumgedrückt …« Für einen Augenblick ließ er einen seiner sechs Greifarme mit gelassener Freundschaftlichkeit auf einem ihrer Arme ruhen. Wenda wurde von dem vernunftwidrigen Verlangen heimgesucht, ihn fest zu fassen und nicht gehen zu lassen. Einen Augenblick lang war sie erschrocken, weil sie fürchtete, er könne über die Unterhaltungsebene hinaus in ihren Geist eindringen; daß er Abscheu empfinden könne und sie nie wieder ansehen, ja sie vielleicht sogar melden 262
würde, damit man sie einer Behandlung unterzöge. Dann löste sich ihre Spannung. Roi war normal, nicht krank wie sie. Ihm würde nicht im Traum einfallen, tiefer als bis zur Unterhaltungsebene in den Geist eines Freundes einzudringen. Er ging, und in ihren Augen war er sehr gut aussehend. Seine Greifarme waren gerade und kräftig, er hatte viele zarte, zu Greifern ausgebildete Tasthaare, und seine Sehflecken schimmerten schöner, als sie es je gesehen hatte. 3
Laura ließ sich in ihrem Sitz nieder. Wie weich und bequem man die jetzt machte. Wie angenehm und beruhigend Flugzeuge innen waren, wie verschieden von dem harten, silbrigen Glanz der Außenhaut. Auf dem Sitz neben ihr stand der geflochtene Tragkorb. Sie blickte über die Decke hinweg zur kleinen, gerüschten Mütze hin. Walter schlief. Er hatte das leere, runde und weiche Gesicht des Säuglingsalters, und die Lider waren wie zwei mit Fransen besetzte Halbmonde über die Augen gezogen. Auf seiner Stirn ringelte sich eine Locke hellbraunen Haares, und mit unendlicher Zartheit strich Laura sie unter das Mützchen zurück. Es würde bald Zeit sein, Walter zu füttern, und sie hoffte, daß er noch zu klein sei, um durch die fremde Umgebung verstört zu werden. Die Stewardeß war wirklich
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sehr nett. Sie bewahrte seine Flaschen sogar in einem kleinen Eisschrank auf. Die Leute in den Sitzen auf der anderen Seite des Ganges hatten ihr auf diese bestimmte Art zugesehen, die darauf schließen ließ, daß sie sich liebend gern mit ihr unterhalten würden, wenn ihnen nur ein Vorwand einfiele. Dazu bot sich die Gelegenheit, als sie Walter aus dem Körbchen hob und das kleine rosige Fleisch, das in weißen Baumwollhüllen steckte, auf ihren Schoß legte. Unter Fremden ist ein Baby immer ein guter Grund, ein Gespräch anzuknüpfen. Die Dame auf der anderen Seite des Ganges sagte – ihre Worte waren voraussagbar: »So ein nettes Kind. Wie alt ist er denn, meine Liebe?« Laura sagte mit Sicherheitsnadeln zwischen den Lippen – sie hatte eine Decke über die Knie gelegt und legte Walter trocken –: »Nächste Woche wird er vier Monate.« Walters Augen waren offen, und er öffnete den feuchten, zahnlosen Mund und lächelte die Frau drüben mild an. Er hatte es gern, wenn man ihn trockenlegte. »Schau ihn nur an, George«, sagte die Dame. Ihr Gatte lächelte zurück und winkte mit feisten Fingern. »Tatata«, sagte er. Walter lachte mit hoher, sich überschlagender Stimme. »Wie heißt er denn, meine Liebe?« fragte die Frau. »Walter Michael«, sagte Laura und fügte dann hinzu: »Wie sein Vater.«
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Jetzt waren alle Hemmnisse gefallen. Laura erfuhr, daß das Paar George und Eleanor Ellis hieß, daß es Urlaub machte, drei Kinder hatte, zwei Mädchen und einen Jungen, alle schon erwachsen. Die beiden Mädchen waren verheiratet, und eines hatte zwei Kinder. Laura lauschte mit einem zufriedenen Ausdruck in ihrem schmalen Gesicht. Walter – senior, versteht sich – sagte immer, er habe sich anfänglich deshalb für sie interessiert, weil sie so gut zuhören konnte. Walter wurde unruhig. Laura befreite seine Arme, damit sich einige seiner Gefühle in Muskelarbeit umsetzen konnten. »Würden Sie bitte die Flasche warm machen?« bat sie die Stewardeß. Auf bestimmte, aber freundliche Fragen hin erklärte Laura, wie oft Walter jetzt gefüttert wurde, wie die Milch zusammengesetzt war und ob er wund war. »Ich hoffe nur, sein kleiner Magen ist heute nicht durcheinander«, sorgte sie sich. »Ich meine, wegen des Geschaukels im Flugzeug.« »Ach, mein Gott«, sagte Mrs. Ellis, »er ist zu klein, um darunter zu leiden. Außerdem sind diese großen Flugzeuge herrlich. Wenn ich nicht aus dem Fenster sehen würde, könnte ich meinen, wir seien gar nicht in der Luft. Geht's dir nicht genauso, George?« Aber Mr. Ellis war ein offenherziger Mann und sagte frei heraus: »Mich überrascht es, daß Sie ein Baby in dem Alter mit in ein Flugzeug nehmen.« Mrs. Ellis sah ihn mit gerunzelter Stirn an. 265
Laura legte Walter an ihre Schulter und klopfte ihm sanft den Rücken. Sein leichtes Weinen verstummte, als seine kleinen Finger auf das weiche, blonde Haar seiner Mutter stießen und sich in den losen Knoten in ihrem Nacken vergruben. Sie sagte: »Ich bringe ihn zu seinem Vater. Walter hat seinen Sohn bis jetzt noch nicht gesehen.« Mr. Ellis sah sie verblüfft an und wollte etwas sagen, aber Mrs. Ellis schaltete sich rasch ein. »Ich nehme an, Ihr Mann ist Soldat?« »Ja, das ist er.« Mr. Ellis öffnete den Mund zu einem lautlosen »O« und beruhigte sich. Laura fuhr fort: »Er ist gleich in der Nähe von Davao stationiert und er will sich mit mir in Nichols Field treffen.« Bis die Stewardeß mit der Flasche kam, hatten sie herausbekommen, daß ihr Mann Stabsfeldwebel bei den Versorgungstruppen war, daß er seit vier Jahren Soldat war, daß sie seit zwei Jahren verheiratet waren, daß seine Entlassung bevorstand und daß sie lange Flitterwochen verbringen wollten, bevor sie nach San Franzisko zurückkehrten. Dann hatte sie die Flasche. Sie legte Walter in die linke Armbeuge und setzte die Flasche an. Die Flasche glitt leicht zwischen die Lippen, und sein Zahnfleisch packte den Schnuller. In der Milch stiegen langsam kleine Blasen auf, und seine Hände patschten ohne große Wirkung gegen
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das warme Glas, und seine blauen Augen blickten unverwandt auf seine Mutter. Laura drückte den kleinen Walter an sich und dachte, daß es trotz aller Schwierigkeiten doch eine herrliche Sache war, so ein kleines Baby ganz für sich allein zu haben.
4
Theorie, dachte Gan, nichts als Theorie. Vor Millionen oder mehr Jahren konnte das Volk auf der Oberfläche das Universum tatsächlich sehen, es direkt fühlen. Die Rasse konnte jetzt mit tausendzweihundert Kilometern Fels über den Köpfen nur Rückschlüsse aus den zitternden Nadeln ihrer Meßinstrumente ziehen. Es war nur Theorie, daß die Hirnzellen außer den gewöhnlichen elektrischen Ladungen noch eine gänzlich andersgeartete Energie ausstrahlten. Eine Energie, die nicht elektromagnetischer Natur und deshalb nicht dem langsamen Kriechen des Lichtes unterworfen war. Eine Energie, die mit den höchsten Gehirntätigkeiten zusammenhing und daher typisch für vernunftbegabte, denkende Geschöpfe war. Es war nur eine zuckende Nadel, die ein solches Energiefeld aufspürte, das in ihre Höhle sickerte, und weitere Nadeln machten die Quelle des Feldes in der und der Richtung zehn Lichtjahre entfernt aus. Zumindest ein 267
Stern mußte in der Zeit, seit das Oberflächenvolk den nächstgelegenen fünfhundert Lichtjahre entfernt angenommen hatte, ziemlich nahe herangekommen sein. Oder stimmte die Theorie etwa nicht? »Hast du Angst?« Gan platzte ohne Warnung in die Unterhaltungsebene der Gedanken und stieß heftig auf die summende Oberfläche von Rois Geist. Roi sagte: »Es ist eine große Verantwortung.« Gan dachte: »Die anderen reden immer von Verantwortung.« Seit Generationen hatte Kopftechniker nach Kopftechniker an der Resonanzanlage und der Empfangsstation gearbeitet, und jetzt geschah es in seiner Amtszeit, daß der letzte Schritt getan werden mußte. Was wußten andere denn von Verantwortung. Er sagte: »Allerdings. Wir reden genug vom Aussterben der Rasse, aber wir nehmen immer an, es kommt einmal, nur nicht schon jetzt, nicht in unserer Zeit. Aber es wird kommen, verstehst du? Was wir heute tun wollen, wird zwei Drittel unseres gesamten Energievorrats aufbrauchen. Wir werden nicht genug haben, um es ein zweites Mal zu versuchen. Es wird nicht genug für diese Generation übrigbleiben, um ihr Leben zu Ende zu leben. Aber das hat keine Bedeutung, wenn du dich an die Befehle hältst. Wir haben an alles gedacht. Seit Generationen haben wir versucht, an alles zu denken.« »Ich werde tun, was mir aufgetragen wurde«, sagte Roi. »Dein Gedankenfeld wird sich mit denen vermischen, die aus dem Raum kommen. Alle Gedankenfelder sind typisch für ein Individuum, und die Wahrscheinlichkeit, 268
daß eines doppelt auftritt, ist ziemlich gering. Aber nach vorsichtiger Schätzung beläuft sich die Anzahl der Felder aus dem Raum auf Milliarden. Dein Feld wird höchstwahrscheinlich einem der ihren ähneln, und in dem Fall wird sich eine Resonanz ergeben, solange unsere Resonanzanlage arbeitet. Du weißt, auf welchen Grundlagen das beruht?« »Ja.« »Dann weißt du, daß sich während der Resonanz dein Geist auf dem Planeten X im Gehirn eines Geschöpfs befinden wird, dessen Gedankenfeld dem deinen entspricht. Das ist nicht der Vorgang, bei dem die Energie verbraucht wird. In Resonanz mit deinem Geist werden wir die Masse der Empfangsstation ebenfalls an Ort und Stelle bringen. Die Übertragung von Masse auf diese Art war der letzte Teil des Problems, das gelöst werden mußte, und dazu brauchen wir die ganze Energie, die die Rasse sonst in hundert Jahren verbraucht hätte.« Gan nahm den schwarzen Würfel auf, der die Empfangsstation darstellte und sah ihn melancholisch an. Vor drei Generationen hatte man es für unmöglich gehalten, eine solche Station kleiner als zwanzig Kubikmeter zu machen, wenn sie alle nötigen Einrichtungen enthalten sollte. Jetzt hatten sie sie, und sie war so groß wie seine Faust. Gan sagte: »Das Feld denkender Hirnzellen kann nur bestimmten, genau festgelegten Mustern folgen. Alle Lebewesen, ganz gleich, auf welchem Planeten sie sich entwickeln, müssen von einer Eiweißgrundlage ausgehen und eine Sauerstoff-Wasserchemie haben. Wenn sie sich in 269
ihrer Welt einrichten können, dann können wir es ebenfalls.« Auf einer tieferen Ebene dachte Gan: Theorie, nichts als Theorie. Er fuhr fort: »Das heißt nicht, daß der Körper, in dem du dich befinden wirst, dir mit seinem Geist und seinen Gefühlen nicht völlig fremd sein kann. Wir haben also für drei Arten gesorgt, auf die die Empfangsstation in Betrieb gesetzt werden kann. Wenn du starke Glieder hast, brauchst du nur mit einem Druck von fünfhundert Pfund irgendwo auf die Seiten des Würfels zu drükken. Wenn du zarte Glieder hast, brauchst du nur einen Knopf zu drücken, den du hier durch diese eine Öffnung im Würfel erreichen kannst. Wenn du keine Glieder hast oder dein Wirtskörper gelähmt oder sonst irgendwie hilflos ist, dann kannst du die Station allein durch geistige Energie in Gang setzen. Sobald die Station in Gang gesetzt ist, werden wir statt einem zwei Bezugspunkte haben, und die Rasse kann mit gewöhnlicher Teleportation zum Planeten X geschafft werden.« »Das bedeutet«, sagte Roi, »daß wir es mit elektromagnetischer Energie machen.« »Und?« »Wir werden zehn Jahre für die Übertragung brauchen.« »Die Zeitdauer wird uns nicht zu Bewußtsein kommen.« »Das sehe ich ein, aber das bedeutet, daß die Station zehn Jahre auf dem Planeten X bleiben wird. Und wenn sie in der Zwischenzeit zerstört wird?«
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»Wir haben auch daran gedacht. Sobald die Station in Gang gesetzt ist, erzeugt sie ein Paramassenfeld. Sie wird sich in Richtung der Schwerkraftanziehung bewegen und durch die gewöhnliche Materie gleiten, bis sie auf eine Umgebung stößt, die so dicht ist, daß die Reibung groß genug wird, um sie aufzuhalten. Dazu werden etwa sechs Meter Fels benötigt. Alles, was weniger dicht ist, wird ohne Wirkung auf sie bleiben. Sie wird zehn Jahre lang sechs Meter unter dem Boden bleiben, und dann wird sie durch ein Gegenfeld zurück zur Oberfläche gebracht werden. Dann wird die Rasse, einer nach dem anderen, auftauchen.« »Warum läßt man sich die Station nicht von selbst in Gang setzen? Sie hat schon soviel automatische Einrichtungen …« »Du hast das nicht zu Ende gedacht, Roi. Wir haben es jedoch getan. Möglicherweise werden nicht alle Stellen auf der Oberfläche des Planeten X geeignet sein. Wenn die Bewohner mächtig und weit entwickelt sind, mußt du dich möglicherweise nach einem unauffälligen Platz für die Station umsehen. Es wäre nicht gut für uns, wenn wir mitten auf einem Platz in einer Stadt auftauchten. Und du mußt sichergehen, daß die unmittelbare Umgebung nicht anderweitig gefährlich ist.« »Wie kann sie noch gefährlich sein?« »Das weiß ich nicht. Die alten Berichte von der Oberfläche sprechen von vielen Dingen, die wir nicht mehr verstehen. Sie erklären nichts, weil man die Dinge für selbstverständlich ansah. Aber wir sind seit fast hunderttausend Generationen von der Oberfläche fort und 271
wir stehen vor Rätseln. Unsere Techs haben sich nicht einmal über die physikalische Natur von Sternen einigen können, und die wird in den alten Berichten oft erwähnt und erörtert. Aber was sind ›Stürme‹, ›Erdbeben‹, Vulkane‹, ›Wirbelstürme‹, ›Graupeln‹, ›Erdrutsche‹, ›Überschwemmungen‹, ›Blitze‹ und so weiter. Das sind alles Ausdrücke, die Vorgänge auf der Oberfläche beschreiben, die gefährlich sind, wir wissen jedoch nicht, worum es sich handelt. Wir wissen nicht, wie wir uns vor ihnen vorsehen können. Über den Geist deines Wirts wird es dir vielleicht möglich sein, herauszubekommen, was angebracht ist und welche Schritte unternommen werden müssen.« »Wieviel Zeit wird mir zur Verfügung stehen?« »Die Resonanzanlage kann nicht länger als zwölf Stunden ununterbrochen in Betrieb sein. Mir wäre es lieb, wenn du deine Aufgabe in zwei Stunden erledigen könntest. Du wirst automa tisch hierher zurückkehren, wenn die Station in Gang gesetzt ist. Bist du soweit?« »Ich bin soweit«, sagte Roi. Gan führte ihn zu dem Gehäuse aus Milchglas. Roi nahm auf seinem Sitz Platz und legte seine Glieder in die passenden Vertiefungen. Seine Tasthaare tauchte er in Quecksilber, damit ein guter Kontakt gewährleistet war. Roi sagte: »Was dann, wenn ich mich in einem Körper wiederfinde, der eben stirbt?« »Das Gedankenfeld ist verformt, wenn ein Wesen kurz vor dem Tod steht. Ein gewöhnliches Gedankenfeld wie deins würde nicht in Resonanz sein.« 272
Roi sagte: »Und wenn es eben kurz vor einem Tod durch einen Unglücksfall steht?« Gan sagte: »Wir haben auch daran gedacht. Dagegen können wir keine Vorkehrungen treffen, aber die Wahrscheinlichkeit, daß der Tod so rasch eintritt, daß du keine Gelegenheit mehr hast, die Station geistig in Gang zu setzen, wird auf weniger als eins zu zwanzig Billionen geschätzt, es sei denn, die rätselhaften Gefahren der Oberfläche sind tödlicher, als wir sie uns denken. Du hast noch eine Minute.« Aus irgendeinem merkwürdigen Grund beschäftigte sich der letzte Gedanke Rois vor der Übertragung mit Wenda.
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Laura wachte mit einem plötzlichen Ruck auf. Was war los? Sie hatte ein Gefühl, als hätte man sie mit einer Nadel durchbohrt. Die Nachmittagssonne schien ihr ins Gesicht, und bei ihrem Gleißen mußte sie zwinkern. Sie zog den Sonnenschutz herunter und beugte sich gleichzeitig vor, um nach Walter zu sehen. Sie war ein wenig überrascht, seine Augen offen zu finden. Um diese Zeit war er sonst nicht wach. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Nein, wirklich nicht. Und bis zum nächsten Füttern war es noch eine gute Stunde. Sie folgte dem System, bei Bedarf zu füttern, das heißt, sie hielt sich 273
daran, »wenn du brüllst, dann kriegst du was«, doch für gewöhnlich hielt sich Walter ganz gewissenhaft an die Uhrzeit. Sie sah ihn mit gekräuselter Nase an. »Hast du Hunger, Häschen?« Walter reagierte überhaupt nicht, und Laura war enttäuscht. Sie hätte es gern gesehen, wenn er gelächelt hätte. Eigentlich wollte sie, er würde lachen und seine dicken Ärmchen um ihren Hals legen und sie liebkosen und »Mama« sagen, aber sie wußte, daß er das alles nicht konnte. Aber lächeln konnte er. Sie legte einen Finger leicht gegen sein Kinn und klopfte ein bißchen dagegen. »Da-da-da.« Er lächelte immer, wenn man das machte. Er kniff jedoch nur die Augen halb zu. Sie sagte: »Hoffentlich ist er nicht krank.« Sie sah beunruhigt Mrs. Ellis an. Mrs. Ellis legte eine Zeitschrift beiseite. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung, meine Liebe?« »Ich weiß nicht. Walter liegt einfach nur so da.« »Armes, kleines Ding. Er ist vielleicht müde.« »Dann müßte er doch schlafen?« »Die Umgebung ist fremd für ihn. Er möchte vielleicht gern wissen, was das alles soll.« Sie erhob sich, kam über den Gang herüber, beugte sich an Laura vorbei und sah Walter aus der Nähe an. »Du möchtest gern wissen, was los ist, du mit deinem winzigen kleinen Naschen. Jaja, das möchtest du wohl gern. Du sagst 274
dir: ›Wo ist meine hübsche kleine Wiege und wo sind die netten Bilderchen auf der Tapete?‹« Dann stieß sie kurze Quietschlaute für ihn aus. Walter wandte seine Augen von seiner Mutter ab und sah sich mit düsteren Blicken Mrs. Ellis an. Mrs. Ellis richtete sich plötzlich auf und sah aus, als habe sie Schmerzen. Sie legte kurz eine Hand an ihren Kopf und murmelte: »Meine Güte, so ein komischer Schmerz.« »Glauben Sie, er hat Hunger?« fragte Laura. »Mein Gott«, sagte Mrs. Ellis, und ihr Gesicht beruhigte sich wieder, »die melden sich doch sofort, wenn sie Hunger haben. Dem fehlt nichts. Ich hatte drei Kinder, meine Liebe. Ich kenne mich aus.« »Ich glaube, ich bitte die Stewardeß, noch eine Flasche zu machen.« »Nun, wenn Sie das beruhigt …« Die Stewardeß brachte die Flasche, und Laura hob Walter aus seinem Korb. Sie sagte: »Du kriegst deine Flasche, dann lege ich dich trocken und dann …« Sie legte seinen Kopf in ihrer Armbeuge zurecht, beugte sich vor, um ihm rasch die Wange zu tätscheln, drückte ihn sanft gegen ihren Leib, während sie die Flasche an seinen Mund brachte . Walter schrie los. Sein Mund klappte auf, seine Arme streckten sich mit weit gespreizten Fingern aus, sein ganzer Körper versteifte und verhärtete sich wie in einem Starrkrampf, und er 275
schrie. Die ganze Kabine hallte von seinem Geschrei wider. Laura stieß ebenfalls einen Schrei aus. Sie ließ die Flasche fallen, und sie zerschellte schaumig weiß. Mrs. Ellis sprang auf. Ein paar andere Leute ebenso. Mr. Ellis fuhr aus leichtem Schlummer auf. »Was ist los?« fragte Mrs. Ellis verdutzt. »Ich weiß nicht.« Laura schüttelte Walter verzweifelt, legte ihn an die Schulter, klopfte ihm den Rücken. »Ach, Babylein, schrei doch nicht. Was ist denn los? Baby …« Die Stewardeß kam den Gang entlang gerannt. Ihr Fuß näherte sich bis auf einen Zentimeter dem Würfel, der unter Lauras Sitz lag. Walter schlug jetzt wie wild um sich und brüllte mit der Lautstärke einer Dampfpfeife.
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Rois Geist war zutiefst erschrocken. Noch vor einem Augenblick war er in seinen Sitz geschnallt gewesen, in Berührung mit dem klaren Geist von Gan, und dann – er war sich keiner zeitlichen Unterbrechung bewußt geworden – tauchte er in einen Mischmasch seltsamer, barbarischer und unzusammenhängender Gedanken ein.
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Er kapselte seinen Geist vollständig ab. Er war weit geöffnet gewesen, um die Wirkung der Resonanz zu erhöhen, und die erste Berührung mit dem Fremden war … Nein, nicht schmerzhaft. Schwindelerregend, Übelkeit hervor rufend? Nein, auch das nicht. Es gab kein Wort dafür. Im stillen Nichts des abgekapselten Geistes sammelte er neue Spannkraft und bedachte seine Lage. Er spürte die schwache Berührung mit der Empfangsstation, mit der er geistig Verbindung hielt. Sie war also mit ihm angekommen. Schön! Für den Augenblick schenkte er seinem Wirt keine Beachtung. Möglicherweise brauchte er ihn später für durchgreifende Tätigkeiten, und für den Augenblick war es sicher klug, keinen Verdacht zu erregen. Er forschte. Er drang auf gut Glück in einen Geist ein und verschaffte sich einen Überblick über die Sinneseindrücke, die auf ihn einströmten. Das Geschöpf war für Teile des elektromagnetischen Spektrums, für Luftschwingungen und natürlich für körperliche Berührung empfindlich. Es besaß an bestimmten Stellen beschränkte chemische Sinne … Das war's ungefähr. Er sah sich erstaunt noch einmal um. Es gab nicht nur keinen direkten Sinn für Masse, keinen Sinn für elektrische Feldstärke, keinen der wirklich verfeinerten Deuter des Universums, und es gab auch überhaupt keine geistigen Kontakte. Der Geist des Geschöpfs war völlig isoliert.
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Wie standen die untereinander in Verbindung? Er sah sich weiter um. Sie verfügten über einen komplizierten Code geregelter Luftschwingungen. Hatten sie eine Intelligenz? Hatte er sich einen verstümmelten Geist ausgesucht? Nein, sie waren alle so. Mit seinen geistigen Fühlern tastete er die Gruppe von Intelligenzen in der Umgebung ab und suchte nach einem Tech, oder etwas, das unter diesen verkrüppelten Halbintelligenzen für so etwas angesehen wurde. Er fand einen Geist, der sich für einen Fahrzeuglenker hielt. Roi wurde von einer Anzahl Informationen durchspült. Er befand sich in einem Flugzeug, das sich durch die Luft bewegte. Auch ohne geistige Verbindung hatten sie also eine in ersten Anfängen steckende Maschinenzivilisation aufgebaut. Oder handelte es sich bei ihnen um die tierischen Werkzeuge der eigentlichen Intelligenzen, die sich anderswo auf dem Planeten befanden? Nein … ihre Geister sagten nein. Er zapfte den Tech an. Was war mit der engeren Umgebung? Mußte man die Schreckgespenster der Alten fürchten? Das war eine Frage der Auffassung. Die Umwelt barg Gefahren. Luftbewegungen. Temperaturwechsel. Stürzendes Wasser in der Luft, das entweder feste oder flüssige Form haben konnte. Elektrische Entladungen. Für jede dieser Erscheinungen gab es in dem Code Schwingungen, aber das war unwichtig. Die Verbindung zwischen diesen Erscheinungen und den Bezeichnungen herzustellen, die das antike Volk auf der Oberfläche ihnen 278
gegeben hatte, konnte mit Hilfe von Mutmaßungen bewerkstelligt werden. Keine Sorge. Bestand jetzt Gefahr? Gab es hier Gefahren? Gab es irgendeinen Grund für Angst oder Unruhe? Nein! Der Geist des Techs meinte nein. Das genügte. Er kehrte in den Geist seines Wirts zurück und ruhte sich einen Augenblick aus, dehnte sich dann vorsichtig aus … Nichts! Der Geist seines Wirts war leer. Es gab lediglich ein unbestimmtes Gefühl von Wärme und ein schwaches Aufblitzen unkontrollierten Reagierens auf einfache Reize. Lag sein Wirt etwa doch im Sterben? Hirngeschädigt? Er bewegte sich rasch zum nächsten Geist, kämmte ihn nach Hinweisen über seinen Wirt durch und fand sie. Sein Wirt war ein kleines Kind dieser Art von Lebewesen. Ein Kind? Ein normales Kind? Und so unentwickelt? Er gestattete seinem Geist, sich in das zu versenken, sich mit dem zu vermischen, was in seinem Wirt vorhanden war. Er suchte das Gehirn nach den Bewegungszentren ab und fand sie unter Schwierigkeiten. Ein behutsamer Reiz führte zu einer wirren Bewegung der Gliedmaßen seines Wirts. Er versuchte es mit einer feineren Steuerung, versagte jedoch. Er wurde wütend. Hatte man wirklich an alles gedacht? Hatte man an Intelligenzen gedacht, die nicht miteinander 279
in geistiger Verbindung standen? Hatten sie an junge Geschöpfe gedacht, die so gänzlich unterentwickelt waren, als steckten sie noch im Ei? Das bedeutete natürlich, daß er die Empfangsstation nicht über sein Wirtswesen in Gang setzen konnte. Muskeln und Geist waren zu schwach, bei weitem zu unkontrolliert, um eine der drei Methoden anzuwenden, auf die Gan hingewiesen hatte. Er dachte angestrengt nach. Er konnte kaum hoffen, mit Hilfe der unvollkommenen Konzentrationsfähigkeit der stofflichen Hirnzellen seines Wirtes eine größere Masse zu beeinflussen, aber wie stand es damit, das Gehirn eines Erwachsenen für indirekten Einfluß einzuspannen? Die direkte körperliche Einwirkung wäre geringfügig. Es würde darauf hinauslaufen, die richtigen Moleküle von Adenosintriphosphat und Acetylcholin aufzubrechen. Danach würde das Geschöpf von selbst handeln. Er zögerte mit einem Versuch, fürchtete ein Versagen und schalt sich einen Feigling. Er drang noch einmal in den nächsten Geist ein. Es war ein Weibchen der Art und war in diesem Zustand zeitweiliger Gehemmtheit, die er bei anderen schon bemerkt hatte. Es überraschte ihn nicht. Intelligenzen, die so am Anfang wie diese hier standen, brauchten eben regelmäßige Ruhepausen. Er betrachtete den Geist, der vor ihm lag und tastete geistig die Bereiche ab, die auf eine Reizung reagieren könnten. Er entschied sich für eine, stieß zu, und die bewußten Bereiche waren beinahe sogleich von Leben
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erfüllt. Sinneseindrücke strömten herein, und die Gedankentätigkeit nahm kräftig zu. Gut! Doch nicht gut genug. Es war nur zu einem winzigen Stich gekommen. Kein Befehl, etwas Bestimmtes zu unternehmen. Er wurde unruhig, als Gefühle auf ihn einstürzten. Sie stammten aus dem Geist, den er eben gereizt hatte und beschäftigten sich natürlich mit seinem Wirt und nicht mit ihm. Trotzdem fühlte er sich durch die primitiven Geschmacklosigkeiten belästigt und kapselte seinen Geist gegen die unangenehme Wärme ihrer nackten Gefühle ab. Ein zweiter Geist beschäftigte sich mit seinem Wirt, und wenn er materiell anwesend gewesen wäre oder einen zufriedenstellenden Wirt unter Kontrolle gehabt hätte, so hätte er voll Verdruß zugeschlagen. Heilige Höhlen, wollte man ihn nicht endlich in Ruhe lassen, damit er sich auf seine wichtige Aufgabe konzentrieren konnte? Er ging scharf auf den zweiten Geist los und regte Bereiche körperlichen Unbehagens an, und er entfernte sich. Er freute sich. Das war mehr als ein einfacher, unbestimmter Reiz gewesen, und es war glatt gegangen. Er hatte die geistige Atmosphäre gereinigt. Er kehrte zu dem Tech zurück, der das Fahrzeug lenkte. Der würde über die Einzelheiten der Oberfläche Bescheid wissen, die man überflog. Wasser? Er sichtete rasch die Angaben. 281
Wasser! Und noch viel mehr Wasser! Bei den ewigen Ebenen, das Wort »Ozean« hatte seinen Sinn. Das alte, überlieferte Wort »Ozean«. Wer hätte sich denken können, daß es soviel Wasser gab. Aber dann, wenn das »Ozean« war, dann hatte das überlieferte Wort »Insel« offensichtlich eine Bedeutung. Er setzte seinen ganzen Verstand ein, um geographische Informationen zu erhalten. Der »Ozean« war mit kleinen Landflecken übersät, aber er brauchte genaue … Er wurde ganz kurz dadurch überrascht, daß sich sein Wirt durch die Luft bewegte und an den Körper des benachbarten Weibchens gehalten wurde. Rois Geist war so beschäftigt, daß er offen und ungeschützt dalag. Mit voller Stärke drangen die Gefühle des Weibchens auf ihn ein. Roi zuckte zusammen. Bei dem Versuch, die ablenkenden tierischen Leidenschaften loszuwerden, ging er auf die Gehirnzellen seines Wirts los, durch die diese rohen Gefühle eindrangen. Er war dabei zu rasch, zu kräftig vorgegangen. Der Geist seines Wirtes war von durchdringendem Schmerz angefüllt, und sofort reagierte jeder Geist, den er erreichen konnte, auf die Luftschwingungen, zu denen das geführt hatte. Voller Verdruß versuchte er den Schmerz zu ersticken, was ihn jedoch nur noch größer werden ließ. Durch den klebrigen Dunst des Schmerzes hindurch, den sein Wirt empfand, durchforschte er den Geist des Techs
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und bemühte sich, die Konzentration auf diesen Kontakt nicht schwächer werden zu lassen. Sein Geist wurde frostig. Die beste Gelegenheit lag kurz vor ihm! Ihm blieben vielleicht noch zwanzig Minuten. Es würde später noch andere Gelegenheiten geben, aber sie waren nicht so günstig. Er wagte es nicht, die Handlungen eines anderen Wesens zu beeinflussen, solange der Geist seines Wirtes in einer derartigen Unordnung war. Er zog sich zurück, kapselte seinen Geist ab, hielt nur schwache Verbindung mit den Rückenmarkszellen seines Wirtes aufrecht und wartete ab. Die Minuten verstrichen, und Schritt für Schritt nahm er wieder stärkere Verbindung auf. Ihm blieben noch fünf Minuten. Er traf seine Wahl. 7
Die Stewardeß sagte: »Ich glaube, er fühlt sich wieder ein bißchen besser, der arme Kleine.« »Er hat sich noch nie so aufgeführt«, beteuerte Laura unter Tränen. »Noch nie.« »Vielleicht hat er einfach eine Kolik gehabt«, sagte die Stewardeß. »Vielleicht ist er zu fest eingepackt«, meinte Mrs. Ellis. »Kann sein«, sagte die Stewardeß.
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Sie schlug die Decke zurück und schob das Hemdchen hoch, wobei ein rosiger, runder Bauch zum Vorschein kam, der sich heftig hob und senkte. Walter weinte immer noch. Die Stewardeß sagte: »Soll ich Ihnen das Trockenlegen abnehmen? Er ist ganz naß.« »Wenn Sie das bitte machen würden.« Die meisten der in der Nähe sitzenden Passagiere waren auf ihre Plätze zurückgekehrt. Die weiter weg sitzenden hörten auf, ihre Hälse zu recken. Mr. Ellis blieb mit seiner Frau im Gang stehen. Er sagte: »Ach, schauen Sie mal.« Laura und die Stewardeß waren zu beschäftigt, um auf ihn zu achten, und Mrs. Ellis beachtete ihn aus schierer Gewohnheit nicht. Das war Mr. Ellis gewöhnt. Seine Bemerkung war sowieso rein rhetorisch gewesen. Er beugte sich nieder und zog an der Schachtel unter dem Sitz. Mrs. Ellis blickte unwillig hinunter. Sie sagte: »Meine Güte, George, zerr doch nicht am Gepäck von anderen Leuten herum. Setz dich hin. Du bist im Weg.« Mr. Ellis richtete sich verwirrt auf. Laura hatte gerötete und verweinte Augen und sagte: »Mir gehört sie nicht. Ich hab nicht mal gewußt, daß sie unter dem Sitz ist.« Die Stewardeß blickte von dem wimmernden Baby auf und sagte: »Was denn?« Mr. Ellis zuckte mit den Schultern: »Eine Schachtel.« 284
Seine Frau sagte: »Und was hast du damit zu schaffen?« Mr. Ellis suchte nach einer vernünftigen Erklärung. Was hatte er denn mit der Schachtel zu schaffen? Er murmelte: »Ich war nur neugierig.« Die Stewardeß sagte: »Na also! Der kleine Junge ist wieder ganz sauber und trocken. Wetten, daß er in zwei Minuten wieder glücklich und zufrieden ist? Mhmm, das wirst du doch sein, du kleiner Spatz.« Aber der kleine Spatz schluchzte noch immer. Als ihm wieder eine Flasche vor die Nase gehalten wurde, drehte er schnell den Kopf weg. Die Stewardeß sagte: »Geben Sie die Flasche her, ich mache sie noch einmal warm.« Sie nahm sie und ging den Gang hinunter. Mr. Ellis traf eine Entscheidung. Mit festem Griff nahm er die Schachtel auf und stellte sie auf die Armlehne seines Sitzes. Die gerunzelte Stirn seiner Frau übersah er. Er sagte: »Ich mache schon nichts kaputt. Ich schau sie mir nur an. Woraus besteht die überhaupt?« Er klopfte sie mit seinen Fingerknöcheln ab. Offensichtlich zeigte keiner der übrigen Passagiere Interesse. Niemand beachtete Mr. Ellis oder die Schachtel. Es war so, als hätte irgend etwas diese Art von Interesse völlig ausgeschaltet. Selbst Mrs. Ellis, die sich mit Laura unterhielt, hatte ihm den Rücken zugewendet. Mr. Ellis kippte die Schachtel um und fand die Öffnung. Er wußte, daß eine Öffnung da sein mußte. Sie war groß genug, um einen Finger hineinzustecken, obwohl natürlich
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kein vernünftiger Grund bestand, warum er einen Finger in eine unbekannte Schachtel stecken sollte. Vorsichtig führte er den Finger ein. Da gab es einen schwarzen Knopf, den er gern niedergedrückt hätte. Er legte den Finger darauf. Die Schachtel erzitterte, löste sich plötzlich aus seinen Händen und glitt durch die Armlehne. Er erhaschte einen Blick, wie sie durch den Fußboden sank, und dann war da nur ein unversehrter Teppichboden und sonst nichts. Langsam spreizte er die Hände und sah seine Handflächen an. Dann ließ er sich auf die Knie fallen und tastete den Fußboden ab. Die Stewardeß kam mit der Flasche zurück und sagte höflich: »Haben Sie etwas verloren, Sir?« Mrs. Ellis blickte hinunter und sagte: »George!« Mr. Ellis stemmte sich in die Höhe. Er glühte vor Aufregung. Er sagte: »Die Schachtel – sie rutschte weg und versank …« Die Stewardeß sagte: »Was für eine Schachtel?« Laura sagte: »Kann ich bitte die Flasche haben, Miss? Er hat zu weinen aufgehört.« »Aber natürlich. Hier.« Walter öffnete begierig den Mund und nahm den Schnuller zwischen die Lippen. Luftblasen stiegen in der Milch auf, und man hörte Schlucklaute. Laura blickte strahlend auf. »Anscheinend geht's ihm wieder gut. Vielen Dank, Miss. Vielen Dank, Mrs. Ellis.
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Eine Weile dachte ich schon, das sei gar nicht mehr mein kleiner Bub.« »Wird schon gut werden«, sagte Mrs. Ellis. »Vielleicht war es ein kleiner Anfall von Luftkrankheit. George, setz dich!« Die Stewardeß sagte: »Sie rufen mich, wenn Sie mich brauchen.« »Vielen Dank«, sagte Laura. Mr. Ellis sagte: »Die Schachtel …« Er verstummte. Welche Schachtel? Er konnte sich an keine Schachtel erinnern. Aber ein Geist an Bord des Flugzeugs konnte dem schwarzen Würfel folgen, während er in einer reinen Parabel fiel, die weder Wind noch Luftwiderstand veränderten. Er glitt durch die Gasmoleküle, die ihm im Weg waren. Unter ihm lag das Atoll wie das Schwarze einer riesigen Zielscheibe. Zu Kriegszeiten hatte es einmal einen Landestreifen und Kasernen aufgewiesen. Die Kasernen waren verfallen, die Landebahn war ein ausgefranster Strich, und das Atoll lag verlassen. Der Würfel traf das gefiederte Blattwerk einer Palme, und nicht ein Wedel rührte sich. Er glitt durch den Stamm hinunter in die Korallenfelsen. Er versank im Planeten, ohne auch nur die kleinste Staubwolke aufzuwirbeln, ohne eine Spur seines Eindringens zu hinterlassen. Sechs Meter unter der Erdoberfläche kam der Würfel zur Ruhe, wurde bewegungslos und vermischte sich eng mit den Gesteinsatomen und blieb doch etwas Eigenes. 287
Das war alles. Auf Tage folgten Nächte. Es regnete, der Wind blies, und die Wogen des Pazifiks brachen sich weiß schäumend an weißen Korallenriffen. Es war nichts geschehen. Und es würde nichts geschehen – zehn Jahre lang nicht.
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»Wir haben die Nachricht verbreitet«, sagte Gan, »daß du erfolgreich warst. Ich glaube, du solltest dich jetzt ausruhen.« Roi sagte: »Ausruhen? Jetzt? Wo ich bei gesundem Verstand zurückgekommen bin? Danke, das braucht es nicht. Ich bin mehr als froh.« »Hat es dir soviel ausgemacht? Intelligenz ohne geistige Verbindung?« »Ja«, sagte Roi knapp. Gan ließ sich taktvollerweise dazu verleiten, dem sich zurückziehenden Gedankenstrom zu folgen. Statt dessen sagte er: »Und die Oberfläche?« Roi sagte: »Einfach grauenhaft. Was die Alten ›Sonne‹ nannten, ist ein unerträglich heller Fleck hoch oben. Offensichtlich eine Lichtquelle, die sich periodisch verändert. Mit anderen Worten, ›Tag‹ und ›Nacht‹. Es gibt auch Veränderungen, die nicht vorherzusehen sind.« »Vielleicht Wolken«, sagte Gan. »Wieso ›Wolken‹?« »Du kennst doch den überlieferten Spruch: ›Wolken verdeckten die Sonne‹.« »Glaubst du? Ja, könnte sein.« »Nun erzähl weiter.« »Schauen wir mal. ›Ozean‹ und ›Insel‹ habe ich schon erklärt. ›Unwetter‹, dazu gehört Feuchtigkeit in der Luft, 289
die in Tropfen fällt. ›Wind‹ ist eine Luftbewegung von riesigen Ausmaßen. ›Donner‹ ist entweder eine plötzliche Entladung statischer Elektrizität in der Luft oder ein großer, plötzlicher Lärm. ›Graupel‹ sind fallende Eisstückchen.« Gan sagte: »Das ist aber merkwürdig. Von wo soll denn das Eis herunterfallen? Wie und warum?« »Überhaupt keine Ahnung. Alles ist sehr wechselhaft. Manchmal ist ein Unwetter, und dann wieder keins. Offenbar gibt es auf der Oberfläche Gegenden, wo es immer kalt ist, und solche, wo es immer heiß ist, und dann wieder andere, wo beides wechselt.« »Erstaunlich. Was glaubst du, wieviel davon müssen wir dem falschen Verständnis der Alten zuschreiben?« »Gar nichts. Da bin ich mir ganz sicher. Es war alles ziemlich eindeutig. Ich hatte genug Zeit, ihre wunderlichen Geister anzuzapfen. Zu viel Zeit.« Und wieder zogen sich seine Gedanken in private Bereiche zurück. Gan sagte: »Das ist nur gut. Ich habe unsere Neigung, das sogenannte Goldene Zeitalter unserer Vorfahren auf der Oberfläche romantisch zu sehen, immer nur mit Schrecken betrachtet. Ich spürte, es würde in unserer Gruppe den starken Drang geben, es wieder mit einem Leben auf der Oberfläche zu versuchen.« »Nein«, sagte Roi mit Nachdruck. »Ganz klar nein. Ich bezweifle, daß selbst die Kräftigsten von uns sich einfallen ließen, auch nur einen Tag in einer Umgebung zu leben, wie du sie beschreibst, 290
mit ihren Unwettern, Tagen, Nächten, ihren unpassenden und unvorhersehbaren Veränderungen.« Gans Gedanken zeigten Zufriedenheit an. »Morgen beginnen wir mit dem Vorgang der Übertragung. Wenn wir einmal auf der Insel sind – sie ist unbewohnt, sagst du?« »Völlig unbewohnt. Es war die einzige dieser Art, über die das Fahrzeug hinwegzog. Der Tech hatte Informationen über alle Einzelheiten.« »Schön. Dann werden wir uns an die Arbeit machen. Roi, es werden Generationen vergehen, aber schließlich werden wir in der Tiefe einer neuen, warmen Welt sein, in angenehmen Höhlen, wo eine Umgebung, die wir meistern, die Voraussetzung bieten wird, daß sich jede kulturelle Verfeinerung entfalten kann.« »Und«, fügte Roi hinzu, »überhaupt kein Kontakt mit den Geschöpfen auf der Oberfläche.« Gan sagte: »Warum? Sie sind zwar primitiv, aber sie könnten uns helfen, wenn wir einmal unseren Stützpunkt errichtet haben. Eine Rasse, die Luftfahrzeuge bauen kann, muß über irgendwelche Fähigkeiten verfügen.« »Darum geht es gar nicht. Es ist ein streitlustiger Haufen. Er würde mit tierischer Wildheit bei jeder Gelegenheit angreifen und …« Gan unterbrach ihn: »Mich stört dieser seelische Halbschatten, mit dem deine Hinweise auf die Fremden umgeben sind. Da ist etwas, was du für dich behältst.« Roi sagte: »Zuerst meinte ich, wir könnten sie für uns benutzen. Wenn sie uns nicht gestatten würden, Freunde zu werden, so könnten wir sie wenigstens lenken. Ich habe 291
einen dazu gebracht, den Kontakt innerhalb des Würfels zu schließen, und das war schwierig. Äußerst schwierig. Ihre Geister sind grundsätzlich anders.« »In welcher Hinsicht?« »Wenn ich das beschreiben könnte, so wäre der Unterschied kein grundsätzlicher. Aber ich kann dir ein Beispiel geben. Ich war in dem Geist eines kleinen Kindes. Sie haben keine Reifekammern. Die einzelnen Wesen kümmern sich um die Kinder. Das Geschöpf, das sich um meinen Wirt kümmerte …« »Ja?« »Sie – es war ein Weibchen – fühlte sich auf besondere Weise mit dem Jungen verbunden. Es war ein Gefühl von Besitzerschaft, ein Gefühl einer Beziehung, die den Rest ihrer Gesellschaft ausschloß. Mir schien, ich könne schwach so etwas wie das Gefühl entdecken, das einen Mann mit einem Gefährten oder Freund verbindet, aber das Gefühl war viel heftiger und ungezügelter.« »Nun«, sagte Gan, »ohne geistige Verbindung haben sie vielleicht keine wirkliche Vorstellung von Gesellschaft, und es können sich Ersatzbeziehungen einstellen. Oder war diese eine etwa krankhaft?« »Nein. Das war allgemein so. Das verantwortliche Weibchen war die Mutter des Kindes.« »Unmöglich. Die eigene Mutter?« »Notwendigerweise. Das Kleinkind hatte den ersten Teil seines Daseins im Innern der Mutter verbracht. Die Eier der Geschöpfe verbleiben im Körper. Sie werden im
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Körper befruchtet. Sie wachsen im Körper und kommen dann lebendig zum Vorschein.« »Heilige Höhlen«, sagte Gan schwach. Er fühlte heftigen Abscheu in sich. »Jedes Geschöpf würde sein eigenes Kind erkennen. Jedes Kind würde seinen besonderen Vater haben …« »Und man würde ihn auch kennen. Mein Wirt wurde siebentausend Kilometer weit gebracht, so gut ich die Entfernung schätzen konnte, um seinem Vater gezeigt zu werden.« »Unglaublich!« »Bedarf es noch mehr, um zu verstehen, daß es nie zu einem Treffen der Geister kommen kann? Der Unterschied ist so grundlegend, so absolut.« Melancholisches Bedauern färbte Gans Gedanken und machte sie unausgeglichen. Er sagte: »Das wäre zu schade. Ich hatte gedacht …« »Was?« »Ich hatte gedacht, daß sich zum erstenmal zwei Intelligenzen gegenseitig helfen würden. Ich hatte gedacht, wir könnten zusammen vielleicht einen größeren Fortschritt erreichen, als jeder von uns für sich allein. Selbst wenn sie eine primitive Technologie haben, so wie es der Fall ist, so ist Technologie doch nicht alles. Ich hatte gedacht, wir könnten auf jeden Fall etwas von ihnen lernen.« »Was?« fragte Roi roh. »Unsere Eltern zu kennen und sich mit unseren Kindern anfreunden?«
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Gan sagte: »Nein, nein. Du hast ganz recht. Die Grenze zwischen uns muß für immer und ewig undurchdringlich bleiben. Sie werden die Oberfläche für sich haben, und wir die Tiefe. So sei es.« Vor den Laboratorien traf Roi auf Wenda. Ihre Gedanken waren konzentriertes Vergnügen. »Ich bin froh, daß du zurück bist.« Roi hatte ebenfalls vergnügliche Gedanken. Es war sehr entspannend, in saubere geistige Verbindung mit einem befreundeten Wesen zu treten.
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Der Spaß, den sie hatten (The Fun They Had, 1954) Deutsch von Jürgen Saupe
Margie machte am Abend sogar eine Eintragung darüber in ihr Tagebuch. Sie schrieb auf die Seite mit der Überschrift: 17. Mai 2157: »Tommy fand heute ein richtiges Buch!« Es war ein sehr altes Buch. Margies Großvater hatte einmal gesagt, als er ein kleiner Junge war, hätte ihm sein Großvater erzählt, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der alle Geschichten auf Papier gedruckt wurden. Sie blätterten die Seiten um, die gelb und zerknittert waren, und es war schrecklich komisch, Wörter zu lesen, die stillstanden, anstatt sich zu bewegen, wie sie es hätten tun sollen. Du weißt schon, auf einem Bildschirm. Und als sie dann wieder zur vorhergehenden Seite zurückblätterten, standen dort immer noch die gleichen Worte, die sie beim ersten Lesen schon gesehen hatten. »Meine Güte!« sagte Tommy. »Was für eine Verschwendung. Wenn man mit dem Buch fertig ist, wirft man es einfach weg, glaub' ich. Auf unserem Fernsehschirm sind sicher schon eine Million Bücher gewesen, und noch viel mehr haben drauf Platz. Den würd' ich nicht wegwerfen.«
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»Meinen auch nicht«, sagte Margie. Sie war elf und hatte nicht so viele Telebücher wie Tommy gesehen. Er war dreizehn. Sie sagte: »Wo hast du es gefunden?« »Bei mir zu Hause.« Er war ins Lesen vertieft und machte eine Handbewegung, ohne hinzusehen. »Auf dem Dachboden.« »Worüber ist es?« »Über die Schule.« Margie sagte verächtlich: »Schule? Was gibt's über die Schule denn zu schreiben? Schule mag ich nicht.« Margie hatte die Schule nie leiden können, mochte sie jetzt aber noch weniger denn je. Der mechanische Lehrer hatte ihr eine Prüfung nach der anderen in Geographie vorgelegt, und sie hatte immer schlechter abgeschnitten, bis ihre Mutter bekümmert den Kopf schüttelte und den Bezirksinspektor holte. Der war ein kleiner, rundlicher Mann mit einem roten Gesicht und einem Werkzeugkasten voller Skalen und Drähte. Er lächelte Margie zu und gab ihr einen Apfel. Dann nahm er den Lehrer auseinander. Margie hatte gehofft, er würde nicht wissen, wie man ihn wieder zusammensetzt, aber er wußte es schon, und nach ungefähr einer Stunde war er wieder da, groß und schwarz und häßlich, mit einem großen Bildschirm, auf dem die Lektionen gezeigt und die Fragen gestellt wurden. Das war nicht so schlimm. Was Margie am wenigsten leiden konnte, war der Schlitz, in den Margie Hausaufgaben und Prüfungsarbeiten stekken mußte. Sie mußte sie in einem 296
Lochcode abfassen, den man ihr im Alter von sechs Jahren beigebracht hatte, und der mechanische Lehrer rechnete im Nu die Note aus. Nachdem der Inspektor fertig geworden war, lächelte er und tätschelte Margies Kopf. Zu ihrer Mutter sagte er: »Das kleine Mädchen kann nichts dafür, Mrs. Jones. Der Abschnitt Geographie war auf zu große Geschwindigkeit eingestellt. Das kommt manchmal vor. Ich habe ihn auf die durchschnittliche Rate für Zehnjährige abgebremst. Ihr Fortschritt macht eigentlich einen recht guten Gesamteindruck.« Und er tätschelte wieder Margies Kopf. Margie war enttäuscht. Sie hatte gehofft, daß der Lehrer fortgeschafft werden würde. Einmal war Tommys Lehrer fast einen Monat lang weg gewesen, weil sich sein Geschichtsabschnitt völlig geleert hatte. Sie sagte also zu Tommy: »Warum will jemand was über Schule schreiben?« Tommy warf ihr einen recht überlegenen Blick zu. »Weil es nicht unsere Art von Schule ist, Dummkopf. Das ist die alte Art Schule, die man vor Hunderten von Jahren hatte.« Hochtrabend und jede Silbe deutlich betonend, fügte er hinzu: »Jahrhunderte ist das her.« Margie war gekränkt. »Woher soll ich wissen, was die vor so langer Zeit für Schule hatten.« Eine Weile blickte sie ihm über die Schulter und las mit, dann sagte sie: »Auf jeden Fall gab es einen Lehrer.« »Klar hatten die einen Lehrer, aber keinen richtigen Lehrer. Es war ein Mensch.«
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»Ein Mensch? Wie kann denn ein Mensch ein Lehrer sein?« »Also, er hat den Jungs und Mädchen Sachen erzählt und Hausaufgaben aufgegeben und Fragen gestellt.« »Ein Mensch ist nicht gescheit genug.« »Klar ist er das. Mein Vater weiß soviel wie mein Lehrer.« »Kann er nicht. Ein Mensch kann nicht soviel wissen wie ein Lehrer.« »Er weiß fast soviel, wette ich.« Margie war nicht gewillt, das zu bestreiten. Sie sagte: »Ich würde nicht gern einen Fremden im Haus haben, der mir Unterricht gibt.« Tommy lachte laut los. »Du weißt überhaupt nichts, Margie. Die Lehrer haben nicht bei einem zu Hause gewohnt. Es gab ein besonderes Gebäude, und alle Kinder gingen dorthin.« »Und alle Kinder haben dasselbe gelernt?« »Klar, wenn sie gleich alt waren.« »Aber meine Mutter sagt, daß ein Lehrer so eingestellt werden muß, daß er zu dem Geist von den Jungen oder Mädchen paßt, die er unterrichtet, und daß jedes Kind anders unterrichtet werden muß.« »Trotzdem hat man es damals nicht so gemacht. Wenn's dir nicht paßt, brauchst du ja nicht das Buch zu lesen.« »Ich hab' nicht gesagt, daß es mir nicht paßt«, sagte Margie rasch. Sie wollte etwas über diese komischen Schulen lesen. 298
Sie hatten noch nicht einmal das halbe Buch gelesen, als Margies Mutter rief: »Margie! Schule!« Margie blickte auf. »Noch nicht, Mamma.« »Sofort!« sagte Mrs. Jones. »Und für Tommy wird's vielleicht auch Zeit.« Margie sagte zu Tommy: »Kann ich nach der Schule noch ein bißchen das Buch mit dir lesen?« »Schon möglich«, sagte er lässig. Er ging pfeifend fort und hatte sich das staubige alte Buch unter den Arm geklemmt. Margie ging in das Schulzimmer. Es war gleich neben ihrem Schlafzimmer, und der mechanische Lehrer war eingeschaltet und wartete auf sie. Er war jeden Tag bis auf Sonnabend und Sonntag um die gleiche Zeit eingeschaltet, weil ihre Mutter sagte, kleine Mädchen würden besser lernen, wenn sie feste Stunden einhielten. Auf dem leuchtenden Schirm stand: »Bei der heutigen Lektion im Rechnen geht es um die Addition echter Brüche. Stecke bitte die Hausaufgabe von gestern in den richtigen Schlitz.« Margie tat es seufzend. Sie dachte an die alten Schulen, die es gab, als der Großvater ihres Großvaters ein kleiner Junge war. Die Kinder aus der ganzen Nachbarschaft kamen lachend und schreiend in den Schulhof, setzten sich zusammen in das Schulzimmer und gingen gegen Ende des Tages zusammen nach Hause. Sie lernten das gleiche und konnten sich also bei den Hausaufgaben helfen und darüber reden. Und die Lehrer waren Menschen … 299
Der mechanische Lehrer ließ auf dem Bildschirm aufleuchten: »Wenn wir die Brüche ½ und ¼ addieren …« Margie dachte darüber nach, wie sehr es den Kindern früher gefallen haben mußte. Sie dachte an den Spaß, den sie hatten.
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Wenn die Sterne verlöschen (The Last Question, 1956) Deutsch von Jürgen Saupe
Die letzte Frage wurde halb zum Scherz das erste Mal am 21. Mai 2061 gestellt, zu einer Zeit, als die Menschheit zum erstenmal einen Schritt auf das Licht zu machte. Bei Whisky mit Soda war um fünf Dollar gewettet worden; die Frage tauchte dabei als Ergebnis auf, und es trug sich wie folgt zu: Alexander Adell und Bertram Lupov gehörten zu den treu ergebenen Bedienungsleuten von Multivac. Soweit es Menschen möglich war, wußten sie, was sich hinter der kalten, klickenden, leuchtenden Stirnfläche des riesenhaften Computers befand. Kilometer und Kilometer von Stirnfläche. Sie hatten zumindest eine schwache Vorstellung vom Übersichtsplan der Relais und Schaltkreise, der schon seit langem über den Punkt hinaus war, an dem sich ein einzelner Mensch noch einen deutlichen Begriff vom Ganzen machen konnte. Multivac regulierte und korrigierte sich selbst. Das mußte er, weil ihn kein Mensch mehr schnell oder auch nur angemessen genug einstellen und korrigieren konnte. – Adell und Lupov bedienten also den Riesen nur leichthin und oberflächlich, doch so gut es Menschen eben konnten. Sie fütterten ihn mit Daten, richteten die Fragen nach 301
seinen Erfordernissen ein und übersetzten die Antworten, die ausgegeben wurden. Sie und die anderen Mitarbeiter hatten sicherlich das Recht, teilzuhaben an der Herrlichkeit des Multivac. Jahrzehnte hindurch hatte Multivac geholfen, die Schiffe zu entwerfen und die Flugbahnen zu berechnen, mit deren Hilfe der Mensch Mond, Mars und Venus erreicht hatte, aber die dürftigen Rohstoffquellen der Erde reichten dann nicht mehr aus, die Schiffe zu versorgen. Die langen Reisen zehrten zuviel Energie auf. Die Erde verwertete ihre Kohle, ihr Uran immer rationeller, aber beides war nur begrenzt vorhanden. Multivac lernte jedoch langsam, tiefere Fragen gründlicher zu beantworten, und am 14. Mai 2061 wurde Wirklichkeit, was nur Theorie gewesen war. Die Sonnenenergie wurde gespeichert, umgewandelt und vom gesamten Planeten direkt verwendet. Die ganze Erde löschte brennende Kohle, hielt die Spaltung des Urans an und legte den Schalter um, der alles an eine kleine Station anschloß, die einen Durchmesser von eineinhalb Kilometern hatte und in halber Mondentfernung die Erde umkreiste. Die ganze Erde lief nun mit Sonnenkraft. Sieben Tage hatten nicht genügt, um der Herrlichkeit etwas von ihrem Glanz zu nehmen, und Adell und Lupov war es schließlich gelungen, der öffentlichen Veranstaltung zu entfliehen und sich in der Stille der unterirdischen Zimmer zu treffen, wo sie niemand suchen würde, wo Teile des mächtigen, eingegrabenen Körpers von Multivac zu sehen waren. Multivac war ohne Bedienung, lief vor 302
sich hin, sortierte mit zufriedenem Klicken Daten und hatte die Ruhepause auch verdient. Die Jungs waren ganz dieser Meinung. Sie hatten eigentlich nicht die Absicht gehabt, sie zu stören. Sie hatten eine Flasche mitgebracht und wollten sich im Augenblick nur gemeinsam mit Hilfe der Flasche entspannen. »Verblüffend, wenn man es sich überlegt«, sagte Adell. Sein breites Gesicht zeigte Spuren von Müdigkeit, und er rührte mit einem Glasstab langsam sein Getränk um und sah sich die Eiswürfel an, die sich schwerfällig streiften. »Die ganze Energie, die wir wahrscheinlich immer frei verwenden können. Wenn wir wollen, können wir genug Energie abzapfen, um die ganze Erde zu einem großen Tropfen von flüssigem Eisen zusammenzuschmelzen, und uns würde die Energie nie fehlen, die dabei verbraucht würde. All die Energie, die wir nur brauchen können, für immer und ewig.« Lupov legte den Kopf zur Seite. Das machte er aus Angewohnheit immer, wenn er widersprechen wollte, und jetzt wollte er widersprechen, zum Teil auch, weil er Gläser und Eis hatte tragen müssen. »Für immer und ewig nicht«, sagte er. »Ach, zum Teufel, beinahe für immer. Bis sich die Sonne erschöpft, Bert.« »Das ist nicht für immer.« »Also schön. Milliarden von Jahren. Vielleicht zwanzig Milliarden. Bist du zufrieden?«
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Lupov fuhr sich mit den Fingern durch das sich lichtende Haar, als wolle er sich davon überzeugen, daß noch welches vorhanden war und nippte leicht an seinem Getränk. »Zwanzig Milliarden Jahre ist nicht für immer und ewig.« »Na, solange wir leben, wird sie wohl reichen.« »Kohle und Uran aber auch.« »Na schön, aber jetzt können wir jedes einzelne Raumschiff an die Sonnenstation dranhängen, und es kann eine Million mal zum Pluto und zurück ohne Treibstoffsorgen. Mit Kohle und Uran schaffst du das nicht. Kannst ja Multivac fragen, wenn du mir nicht glaubst.« »Da brauch' ich Multivac nicht zu fragen. Ich weiß das.« »Dann hör auf damit, das schlechtzumachen, was Multivac für uns getan hat«, sagte Adell und wurde wütend. »Hat's schon gutgemacht.« »Wer streitet es denn ab? Ich sage nur, daß die Sonne nicht ewig reicht. Mehr sag' ich gar nicht. Für zwanzig Milliarden Jahre sind wir in Sicherheit. Aber was dann?« Lupov streckte seinem Gegenüber einen leicht zitternden Zeigefinger entgegen. »Und sag bloß nicht, daß wir dann auf eine andere Sonne umschalten.« Eine Weile herrschte Ruhe. Adell führte nur gelegentlich sein Glas an die Lippen, und Lupov fielen langsam die Augen zu. Dann riß Lupov die Augen auf. »Du denkst dir doch, daß wir auf eine andere Sonne umschalten, wenn unsere fertig ist?« 304
»Ich denke gar nichts.« »Klar denkst du das. Du bist schwach in Logik,, das ist das Problem mit dir. Du bist wie der Kerl in der Geschichte, der plötzlich von einem Regenguß überrascht wurde, in ein Wäldchen rannte und sich unter einen Baum stellte. Weißt du, er machte sich keine Sorgen, weil er meinte, wenn ein Baum ganz durchnäßt wäre, würde er sich einfach unter einen anderen stellen.« »Versteh' schon«, sagte Adell. »Brauchst nicht zu schreien. Wenn die Sonne fertig ist, werden die anderen Sterne auch weg sein.« »Das werden sie sein, verdammt noch mal«, murmelte Lupov. »Es fing alles mit der kosmischen Urexplosion an, was immer das auch gewesen war, und wird zu einem Ende kommen, wenn die Sterne verlöschen. Manche verlöschen schneller als andere. Zum Teufel, die Riesen überdauern nicht einmal hundert Millionen Jahre. Die Sonne wird zwanzig Milliarden Jahre überdauern, und die Zwerge vielleicht alles in allem hundert Milliarden. Aber nehmen wir eine Billion Jahre, und alles wird finster sein. Ganz einfach, die Entropie muß das Maximum erreichen.« »Über Entropie weiß ich ganz genau Bescheid«, sagte Adell, der sich nichts nachsagen lassen wollte. »Den Teufel weißt du.« »Ich weiß soviel wie du.« »Dann weißt du, daß eines Tages alles erschöpft sein wird.« »Na schön. Und wer behauptet das Gegenteil?«
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»Du, du armseliger Tropf. Du hast gesagt, wir haben all die Energie, die wir brauchen; für immer und ewig hast du gesagt.« Jetzt war es Adell, der widersprach. »Vielleicht können wir eines Tages wieder was aufbauen«, sagte er. »Niemals.« »Warum nicht? Eines Tages.« »Frag Multivac.« »Niemals.« »Frag doch Multivac. Du traust dich ja nicht. Fünf Dollar darauf, daß es nicht gemacht werden kann.« Adell war gerade betrunken genug, es zu versuchen, und nüchtern genug, die notwendigen Symbole und Vorgänge in eine Frage zu fassen, die, in Worten ausgedrückt, etwa so ausgesehen hätte: wird die Menschheit eines Tages fähig sein, ohne den Netto-Aufwand an Energie der Sonne wieder volle Jugendkraft zu geben, nachdem sie an Altersschwäche eingegangen war? Oder vielleicht konnte man es einfach ausdrücken: wie kann das Netto-Maß der Entropie des Universums in großem Umfang herabgesetzt werden? Multivac verstummte völlig. Das schwache Glitzern der Lampen verlosch, und die fernen Geräusche klickender Relais erstarben. Eben als die erschrockenen Techniker kaum noch den Atem anhalten konnten, kam plötzlich Leben in den Fernschreiber, der an diesen Teil von Multivac angeschlossen war. Fünf Wörter wurden ausgedruckt: 306
DATEN UNZUREICHEND FÜR SINNVOLLE ANTWORT. »Mit der Wette ist's nichts«, flüsterte Lupov. Sie machten sich rasch aus dem Staub. Am nächsten Morgen litten die beiden unter bohrendem Kopfschmerz und pelzigem Mund und hatten den Vorfall vergessen. Jerrodd, Jerrodine und Jerrodette I und II sahen zu, wie sich das sternenübersäte Bild auf der Sichtscheibe änderte, als die Reise durch den Hyperraum nach ihrem nichtzeitlichen Ablauf beendet war. Auf einmal wich die gleichmäßige Staubwolke von Sternen der Vorherrschaft einer einzelnen, hellen Marmorscheibe, die in der Mitte erschien. »Das ist X-23«, sagte Jerrodd voller Zuversicht. Die schmalen Hände verkrampften sich hinter seinem Rücken, bis sich die Knöchel weiß abzeichneten. Die kleinen Jerrodettes, beides Mädchen, hatten zum ersten Mal in ihrem Leben eine Reise durch den Hyperraum erlebt und waren auf Grund der vorübergehenden Empfindung, daß sich Inneres und Äußeres verkehre, etwas befangen. Sie unterdrückten ihr Kichern, tobten wie wild um ihre Mutter herum und kreischten: »Wir haben X-23 erreicht – wir haben X-23 erreicht wir haben …« »Ruhig, Kinder«, sagte Jerrodine scharf. »Bist du sicher, Jerrodd?«
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»Was soll ich denn sonst sein?« fragte Jerrodd und blickte zu dem unscheinbaren Metallwulst gleich unter der Decke hinauf. Er lief die ganze Länge des Zimmers entlang und verschwand auf beiden Seiten durch die Wände. Er war so lang wie das Schiff. Jerrodd wußte über den dicken Metallstab eigentlich nur, daß man ihn Microvac nannte, daß man ihm, wenn man wollte, Fragen stellen konnte, daß er, auch wenn man das nicht tat, die Aufgabe hatte, das Schiff zu einem vorbestimmten Ziel zu leiten, die Energie der verschiedenen untergalaktischen Kraftwerke aufzunehmen und die Gleichungen für die Sprünge durch den Hyperraum zu berechnen. Jerrodd und seine Familie brauchten nur abzuwarten, sie lebten in dem bequemen Wohnteil des Schiffs. Jemand hatte Jerrodd einmal erzählt, daß das »ac« am Ende von »Microvac« im alten Englisch die Abkürzung für »Analogcomputer« gewesen war, aber er war dabei, selbst das zu vergessen. Jerrodine blickte mit feuchten Augen zur Sichtscheibe. »Ich kann mir nicht helfen, mir kommt's komisch vor, die Erde zu verlassen.« »Warum, um Himmels willen?« wollte Jerrodd wissen. »Dort hatten wir nichts. Auf X-23 werden wir alles haben. Du wirst nicht allein sein. Du brauchst kein Pionier sein. Auf dem Planeten gibt es schon über eine Million Leute. Mein Gott, unsere Urenkel werden sich nach neuen Welten umsehen, weil X-23 überbevölkert sein wird.« Er schwieg nachdenklich und fuhr dann fort: »Ich sag' dir, so wie sich 308
das Geschlecht vermehrt, ist es ein Glück, daß die Computer interstellares Reisen gelöst haben.« »Weiß ich«, sagte Jerrodine kläglich. Jerrodette I sagte schnell: »Unser Microvac ist der beste Microvac in der Welt.« »Glaub ich auch«, sagte Jerrodd und zauste ihr das Haar. Es war wirklich ein gutes Gefühl, einen eigenen Microvac zu haben, und Jerrodd war froh, seiner Generation anzugehören und keiner anderen. Als sein Vater jung war, gab es nur Computer, die riesige Anlagen waren. Jeder einzelne bedeckte mehr als hundertfünfzig Quadratkilometer Land. Pro Planet gab es nur einen. Planetarische ACs nannte man sie. Tausend Jahre lang waren sie ständig gewachsen, und dann kam ganz plötzlich die Verfeinerung. An die Stelle von Transistoren traten Molekularröhren, so daß selbst der größte planetarische AC nur halb soviel Platz wie ein Raumschiff einnahm. Jerrodd erlebte ein Hochgefühl, wie es immer über ihn kam, wenn er daran dachte, daß sein eigener Microvac um ein Vielfaches komplizierter als der alte und primitive Multivac war, der die Sonne gezähmt hatte, und daß er fast so kompliziert wie der planetarische AC der Erde (der größte) war, der das Problem des Reisens durch den Hyperraum gelöst und Fahrten zu den Sternen ermöglicht hatte. »So viele Sterne, so viele Planeten«, seufzte Jerrodine, in ihre Gedanken vertieft. »Ich kann mir denken, so wie es jetzt um uns steht, werden Familien für immer und ewig zu neuen Planeten aufbrechen.« 309
»Nicht für immer«, sagte Jerrodd mit einem Lächeln. »Irgendwann wird alles aufhören, aber erst nach Milliarden von Jahren. Nach vielen Milliarden. Weißt du, selbst die Sterne verlöschen einmal. Die Entropie muß zunehmen.« »Was ist Entropie, Daddy?« gellte Jerrodette II. »Meine kleine Süße, Entropie ist einfach ein Wort, das das Maß bezeichnet, in dem das Universum sich erschöpft. Weißt du, alles erschöpft sich, wie dein kleiner Funksprechroboter, erinnerst du dich?« »Kannst du nicht einfach eine neue Kraftzelle reintun, wie in meinen Roboter?« »Die Sterne sind eben die Kraftzellen, Liebling. Wenn die weg sind, dann gibt's keine Kraftzellen mehr.« Jerrodette I stieß sofort ein Geheul aus. »Laß sie das nicht tun, Daddy. Laß die Sterne nicht verlöschen.« »Schau, was du wieder angestellt hast«, flüsterte die erzürnte Jerrodine. »Wie konnte ich denn wissen, daß es sie erschrecken würde?« flüsterte Jerrodd zurück. »Frag den Microvac«, jammerte Jerrodette I. »Frag ihn, wie man die Sterne wieder anmachen kann.« »Mach nur«, sagte Jerrodine. »Das wird sie beruhigen.« (Jerrodette II fing auch schon an zu weinen.) Jerrodd zuckte mit den Schultern. »Schon gut, ihr Süßen. Ich frag' Microvac. Macht euch keine Sorgen, er wird's uns sagen.« Er fragte den Microvac und fügte rasch hinzu: »Druck die Antwort aus.« 310
Jerrodd nahm den Streifen dünnen Cellufilms in die hohlen Hände und sagte fröhlich: »Schaut mal, der Microvac sagt, daß er sich um alles kümmern wird, wenn es an der Zeit ist. Macht euch also keine Gedanken.« Jerrodine sagte: »Und jetzt ist's Zeit fürs Bett, Kinder. Wir werden bald in unserer neuen Heimat sein.« Jerrodd las noch einmal die Worte auf dem Cellufilm, bevor er ihn vernichtete: DATEN UNZUREICHEND FÜR SINNVOLLE ANTWORT. Er zuckte mit den Schultern und blickte auf die Sichtscheibe. X-23 war nahe. VJ-23X von Lameth starrte in die schwarzen Tiefen der dreidimensionalen kleinen Karte der Milchstraße und sagte: »Ich frage mich, ob es nicht lächerlich ist, sich solche Sorgen wegen der Sache zu machen.« MQ-17J von Nicron schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Du weißt, daß die Milchstraße bei der jetzigen Geschwindigkeit der Ausbreitung in fünf Jahren voll sein wird.« Beide waren anscheinend Anfang zwanzig, beide waren groß und von vollendeter Gestalt. »Trotzdem«, sagte VJ-23X, »zögerte ich, dem Galaktischen Rat einen pessimistischen Bericht zu unterbreiten.« »Ich würde gar keinen anderen Bericht in Betracht ziehen. Rüttle sie ein wenig auf. Wir müssen sie aufrütteln.«
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VJ-23X seufzte. »Der Raum ist unendlich. Hundert Milliarden Milchstraßen gibt es, die in Besitz genommen werden können. Und mehr.« »Hundert Milliarden ist nicht unendlich, und mit der Zeit werden es immer weniger. Denk nach! Vor zwanzigtausend Jahren löste die Menschheit zum erstenmal das Problem, wie man sich die Energie der Sterne zunutze machen kann, und ein paar Jahrhunderte später wurden interstellare Reisen möglich. Die Menschheit brauchte eine Million Jahre, um eine kleine Welt zu füllen, und dann nur fünfzehntausend, um den Rest der Milchstraße zu füllen. Jetzt verdoppelt sich die Bevölkerung alle zehn Jahre …« VJ-23X unterbrach ihn. »Das haben wir der Unsterblichkeit zu verdanken.« »Sehr gut. Es gibt Unsterblichkeit, und wir müssen sie miteinbeziehen. Ich gebe zu, daß diese Unsterblichkeit auch ihre Schattenseiten hat. Der Galaktische AC hat viele Probleme für uns gelöst, aber in der Lösung der Frage, wie Alter und Tod zu überwinden seien, hat er all die anderen Lösungen übertroffen.« »Ich nehme aber an, daß du dennoch das Leben nicht aufgeben willst?« »Ganz und gar nicht«, stieß MQ-17J hervor und wurde sofort leiser. »Noch nicht. Ich bin auf keinen Fall alt genug. Wie alt bist du?« »Zweihundertdreiundzwanzig. Und du?« »Ich bin noch unter zweihundert. – Um aber zu meinem Punkt zurückzukommen. Die Bevölkerung verdoppelt sich alle zehn Jahre. Sobald diese Milchstraße voll ist, werden 312
wir die nächste in zehn Jahren gefüllt haben. Noch zehn Jahre, und wir werden zwei weitere gefüllt haben. Nach einem Jahrzehnt vier weitere. In hundert Jahren werden wir tausend Galaxien gefüllt haben. In tausend Jahren eine Million Milchstraßen. In zehntausend Jahren das ganze bekannte Universum. Und dann was?« VJ-23X sagte: »Als Nebenfrage erhebt sich das Transportproblem. Ich frage mich, wieviel Sonnenkrafteinheiten gebraucht werden, um eine Galaxie von Personen von einer Milchstraße zur nächsten zu schaffen.« »Ein guter Einwand. Die Menschheit verbraucht pro Jahr schon zwei Sonnenkrafteinheiten.« »Das meiste bleibt ungenutzt. Schließlich strahlt unsere Milchstraße allein schon tausend Einheiten Sonnenkraft pro Jahr aus, und wir verwenden nur zwei davon.« »Zugegeben, aber selbst bei hundertprozentiger Effektivität schieben wir das Ende nur auf. Unser Energiebedarf steigt in geometrischer Reihe sogar noch schneller als unsere Bevölkerung an. Noch bevor uns die Milchstraßen ausgehen, wird uns die Energie ausgehen. Ein guter Einwand. Ein sehr guter Einwand.« »Wir werden einfach aus interstellarem Gas neue Sterne bauen müssen.« »Oder aus Wärme, die sich verteilt hat?« fragte MQ-17J spöttisch. »Vielleicht gibt es einen Weg, die Entropie umzukehren. Wir sollten den Galaktischen AC fragen.«
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VJ-23X war es eigentlich nicht ernst damit, aber MQ17J zog seinen AC-Anschluß aus der Tasche und legte ihn vor sich auf den Tisch. »Ich habe beinahe Lust dazu«, sagte er. »Das Menschengeschlecht wird dem eines Tages ins Gesicht sehen müssen.« Er warf einen melancholischen Blick auf seinen kleinen ACAnschluß. Er war nur fünf Kubikzentimeter groß und stellte für sich allein genommen nichts dar, war aber über den Hyperraum mit dem großen Galaktischen AC verbunden, der der gesamten Menschheit diente. MQ-17J schwieg und fragte sich, ob er eines Tages in seinem unsterblichen Leben dazu käme, den Galaktischen AC zu sehen. Er befand sich auf einer eigenen kleinen Welt, ein Spinnennetz von Kraftstrahlen, die die Materie hielten, in der Wellen von Submesonen die Stelle der alten schwerfälligen Molekularröhren einnahmen. Man wußte, daß der Galaktische AC trotz seiner fast ätherischen Arbeitsweise volle dreihundert Meter Durchmesser aufwies. MQ-17J fragte plötzlich seinen AC-Anschluß: »Kann die Entropie jemals umgekehrt werden?« VJ-23X sah überrascht aus und meinte sofort: »Ach, hör mal, ich wollte dich das nicht wirklich fragen lassen.« »Warum nicht?« »Wir wissen beide, daß die Entropie nicht umgekehrt werden kann. Man kann Rauch und Asche nicht in einen Baum zurückverwandeln.« »Gibt es auf eurer Welt Bäume?« fragte MQ-17J. 314
Der Ton des Galaktischen AC ließ sie erstaunt verstummen. Seine Stimme drang aus dem kleinen ACAnschluß auf dem Schreibtisch. Sie sagte: DIE DATEN REICHEN FÜR EINE SINNVOLLE ANTWORT NICHT AUS. VJ-23X sagte: »Siehst du!« Darauf wandten sich die beiden Männer wieder der Frage des Berichts zu, den sie für den Galaktischen Rat abfassen wollten. Zee Primes Geist durchmaß die neue Milchstraße mit schwachem Interesse für die zahllosen Sternwirbel, die sie sprenkelten. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ob er wohl je alle sehen würde? So viele, jede mit ihrer Menschenfracht. – Aber eine Fracht, die fast nur Leergewicht war. Immer mehr traf man den Kern der Menschheit hier draußen im Raum. Geister, nicht Körper! Die unsterblichen Körper blieben auf den Planeten zurück, von einer Ewigkeit zur anderen getragen. Manchmal erhoben sie sich zu körperlicher Tätigkeit, doch wurde das seltener. Nur wenige neue Wesen entstanden, um sich der unglaublich riesigen Menge anzuschließen, aber was machte das? Im Universum war nur wenig Platz für neue Wesen. Als Zee Prime auf die zarten Ranken eines anderen Geistes stieß, wurde ihm das Träumen vertrieben. »Ich bin Zee Prime«, sagte Zee Prime. »Und du?« »Ich bin Dee Sub Wun. Deine Milchstraße?« »Wir nennen sie nur die Milchstraße. Und du?« 315
»Wir auch. Alle Menschen nennen ihre Galaxie ihre Milchstraße und sonst nichts weiter. Warum auch nicht?« »Richtig. Da sich alle Milchstraßen gleichen.« »Nicht alle Milchstraßen. Aus einer bestimmten Galaxie muß die Menschheit stammen. Das macht sie anders.« Zee Prime sagte: »Aus welcher?« »Kann ich nicht sagen. Der Universal-AC müßte es wissen.« »Sollen wir ihn fragen? Ich bin plötzlich neugierig.« Zee Primes Wahrnehmungsvermögen weitete sich, bis selbst die Milchstraßen schrumpften und vor einem viel größeren Hintergrund zu lose verstreutem Staub wurden. Viele Hunderte Milliarden von ihnen, alle mit ihren unsterblichen Wesen. Sie alle trugen ihre Fracht an Intelligenzen, deren Geister frei durch den Raum trieben. Und doch war eine unter ihnen als ursprüngliche Galaxie einzigartig. Für eine von ihnen hatte es in unbestimmter, ferner Vergangenheit eine Zeit gegeben, in der sie die einzige Milchstraße war, die von Menschen bevölkert war. Zee Prime packte die Neugier, diese Milchstraße zu sehen, und er rief: »Universal-AC! Aus welcher Milchstraße stammte die Menschheit?« Der Universal-AC hörte, da auf jeder Welt und durch den ganzen Raum seine Rezeptoren bereit waren, und jeder Rezeptor führte durch den Hyperraum zu einem unbekannten Punkt, an den sich der Universal-AC zurückgezogen hatte.
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Zee Prime kannte nur einen einzigen Menschen, dessen Gedanken bis in fühlbare Nähe zum Universal-AC vorgedrungen waren, und der berichtete nur von einer glänzenden Kugel, die einen Durchmesser von einem halben Meter hatte. »Aber wie kann die der ganze Universal-AC sein?« hatte Zee Prime gefragt. »Das meiste von ihm«, war die Antwort gewesen, »befindet sich im Hyperraum. Welche Form er dort hat, kann ich mir nicht vorstellen.« Niemand konnte es, da, wie Zee Prime wußte, der Tag schon lang vergangen war, an dem Menschen noch an der Herstellung eines Universal-AC beteiligt waren. Jeder Universal-AC entwarf und formte seinen Nachfolger. Jeder sammelte in den Millionen Jahren seines Daseins die notwendigen Daten, um einen besseren und komplizierteren, fähigeren Nachfolger zu bauen, in dem sein eigener Vorrat an Daten und seine Eigenart aufgehen konnten. Der Universal-AC unterbrach Zee Primes schweifende Gedanken. Nicht durch Worte, sondern durch Führung. Zee Primes Geist wurde in den blassen Ozean der Milchstraßen geführt, und eine bestimmte vergrößerte sich so, daß Sterne zu erkennen waren. Aus unendlicher Ferne, aber unendlich klar kam ein Gedanke. »DIE URSPRÜNGLICHE MILCHSTRASSE DES MENSCHEN.« Im Grunde glich sie allen anderen, und Zee Prime unterdrückte seine Enttäuschung. 317
Dee Sub Wun, dessen Geist den anderen begleitet hatte, sagte plötzlich: »Und ist einer dieser Sterne der ursprüngliche Stern des Menschen?« Der Universal-AC sagte: »DER URSPRÜNGLICHE STERN DES MENSCHEN WURDE ZU EINER NOVA. ER IST JETZT EIN WEISSER ZWERG.« »Sind die Menschen dort gestorben?« fragte Zee Prime verblüfft und ohne nachzudenken. Der Universal-AC sagte: »WIE IMMER IN SOLCHEN FÄLLEN WURDE FÜR IHRE LEIBLICHEN KÖRPER EINE NEUE WELT GESCHAFFEN.« »Ja, natürlich«, sagte Zee Prime, aber trotzdem überwältigte ihn das Gefühl, etwas verloren zu haben. Sein Geist ließ die ursprüngliche Milchstraße des Menschen los, ließ sie zurückspringen und zwischen den verschwommenen Pünktchen verschwinden. Er wollte sie nie wieder sehen. Dee Sub Wun sagte: »Was ist los?« »Die Sterne sterben. Der ursprüngliche Stern ist tot.« »Sie müssen alle sterben. Warum auch nicht?« »Aber wenn alle Energie verschwunden ist, werden unsere Körper schließlich sterben, und du und ich mit ihnen.« »Bis dahin sind es noch Milliarden von Jahren.« »Ich möchte aber, daß es selbst nach Milliarden von Jahren nicht geschieht. Universal-AC! Wie viele Sterne können vor dem Sterben bewahrt werden?«
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Belustigt sagte Dee Sub Wun: »Du fragst, wie die Richtung der Entropie umgekehrt werden kann.« Und der Universal-AC antwortete: »BIS JETZT REICHEN DIE DATEN NOCH IMMER NICHT FÜR EINE SINNVOLLE ANTWORT AUS.« Zee Primes Gedanken flohen zurück zu seiner eigenen Milchstraße. Kein weiterer Gedanke beschäftige sich mit Dee Sub Wun, dessen Körper vielleicht in einer Milchstraße wartete, die eine Billion Lichtjahre entfernt war, oder auf dem Stern neben dem von Zee Prime. Es war gleich. Zee Prime fing traurig an, interstellaren Wasserstoff zu sam meln, aus dem er seinen eigenen kleinen Stern bauen konnte. Wenn die Sterne eines Tages sterben mußten, so konnten einige wenigstens noch gebaut werden. Der Mensch bewegte die Gedanken in sich, und der Mensch war in geistiger Hinsicht eins. Er bestand aus Billionen und Aberbillionen altersloser Körper, die jeder an seinem Platz still und unzerstörbar ruhten, von vollkommenen Automaten versorgt, die ebenso unzerstörbar waren, während sich die Geister der Körper freiwillig und unterscheidbar ineinander verschmolzen. Der Mensch sagte: »Das Universum stirbt.« Der Mensch sah sich die verblassenden Milchstraßen an. Die Riesensterne, die Verschwender, waren schon seit langem verschwunden, in der dunkelsten aller dunklen Vergangenheiten. Fast alle Sterne waren weiße Zwerge und dämmerten dem Ende entgegen. 319
Zwischen den Sternen waren aus Staub neue Sterne gebaut worden, einige durch natürliche Vorgänge, andere durch den Menschen, und auch die schwanden. Weiße Zwerge mochten noch ineinandergeschleudert werden, und mit den riesigen Kräften, die dabei frei wurden, konnten neue Sterne gebaut werden, aber auf tausend zerstörte weiße Zwerge kam nur ein Stern, und auch die würden ihr Ende finden. Der Mensch sagte: »Geleitet vom Kosmischen AC wird mit der Energie, die noch im Universum ist, haushälterisch umgegangen, und sie wird noch für Milliarden von Jahren reichen.« »Aber auch so«, sagte der Mensch, »wird schließlich alles ein Ende finden. Wie haushälterisch auch mit ihr umgegangen wird, wie sie auch gestreckt wird, verbrauchte Energie kann nicht wiedergebracht werden. Die Entropie muß immerfort bis zu ihrem Höchstwert ansteigen.« Der Mensch sagte: »Kann die Entropie nicht umgekehrt werden? Fragen wir den Kosmischen AC.« Der Kosmische AC umgab sie, jedoch nicht räumlich. Nicht ein Stück von ihm befand sich im Raum. Er war im Hyperraum und bestand aus etwas, was weder Materie noch Energie war. Die Frage nach seiner Größe und Art hatte nach den Begriffen, die der Mensch verstand, längst keinen Sinn mehr. »Kosmischer AC«, sagte der Mensch, »wie kann die Entropie umgekehrt werden?«
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Der Kosmische AC sagte: »BIS JETZT REICHEN DIE DATEN NOCH IMMER NICHT FÜR EINE SINNVOLLE ANTWORT AUS.« Der Mensch sagte: »Sammle weitere Daten.« Der Kosmische AC sagte: »DAS WERDE ICH TUN. ICH TUE ES SEIT HUNDERT MILLIARDEN JAHREN. MEINEN VORGÄNGERN UND MIR WURDE DIESE FRAGE OFT GESTELLT. ALLE DATEN, ÜBER DIE ICH VERFÜGE, BLEIBEN UNZULÄNGLICH.« »Werden die Daten einmal reichen«, sagte der Mensch, »oder ist das Problem unter allen denkbaren Umständen unlösbar?« Der Kosmische AC sagte: »KEIN PROBLEM IST UNTER ALLEN DENKBAREN UMSTÄNDEN UNLÖSBAR.« Der Mensch sagte: »Wann wirst du genug Daten haben, um die Frage zu beantworten?« Der Kosmische AC sagte: »BIS JETZT REICHEN DIE DATEN NOCH IMMER NICHT FÜR EINE SINNVOLLE ANTWORT AUS.« »Wirst du weiter daran arbeiten?« fragte der Mensch. Der Kosmische AC sagte: »WERDE ICH.« Der Mensch sagte: »Wir werden warten.« Die Sterne und Milchstraßen starben und erloschen, und der Raum wurde nach zehn Billionen Jahren des Vergehens schwarz.
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Der Mensch verschmolz einer nach dem anderen mit dem AC. Jeder leibliche Körper verlor auf eine Art seine geistige Identität, daß es irgendwie kein Verlust, sondern ein Gewinn war. Der letzte Geist des Menschen hielt vor dem Verschmelzen inne, musterte einen Raum, der nichts als den Rest eines letzten dunklen Sterns und unglaublich feine Materie enthielt, die ganz zufällig durch die letzten Zuckungen vergehender Wärme bewegt wurde, die sich asymptotisch dem absoluten Nullpunkt näherte. Der Mensch sagte: »AC, ist das das Ende? Kann dieses Chaos nicht noch einmal in ein Universum umgekehrt werden? Kann das nicht gemacht werden?« AC sagte: »BIS JETZT REICHEN DIE DATEN NOCH IMMER NICHT FÜR EINE SINNVOLLE ANTWORT AUS.« Der letzte Geist des Menschen verschmolz, und es gab nur AC – und zwar im Hyperraum. Materie und Energie hatten ihr Ende gefunden, und mit ihnen Raum und Zeit. Selbst das AC existierte nur wegen der einen letzten Frage, die es seit der Zeit nie beantwortet hatte, als vor zehn Billionen Jahren ein halb betrunkener Computerfachmann einem Computer die Frage gestellt hatte, der, verglichen mit dem AC, viel weniger war als ein Mensch, verglichen mit dem Menschen. Alle anderen Fragen waren beantwortet worden, und bis diese letzte Frage nicht beantwortet war, mochte das AC seine Bewußtheit nicht aufgeben. 322
Alle zusammengetragenen Daten waren endgültig geworden. Es gab nichts mehr zusammenzutragen. Aber alle zusammengetragenen Daten mußten noch vollständig miteinander in Beziehung gesetzt werden und in alle möglichen Verhältnisse gebracht werden. Damit wurde ein zeitloser Zwischenraum zugebracht. Und dann begab sich, daß AC lernte, wie die Richtung der Entropie umgekehrt werden konnte. Aber jetzt gab es keinen Menschen mehr, dem AC die Antwort auf die letzte Frage mitteilen konnte. Es machte nichts. Die Antwort würde es durch ihr Beispiel zeigen und auch dafür Sorge tragen. Einen weiteren zeitlosen Zwischenraum hindurch dachte AC nach, wie es am besten zu machen sei. AC stellte sorgfältig einen Plan auf. Die Bewußtheit des AC umfaßte alles, was einst ein Universum gewesen war und schwebte über dem, was jetzt Chaos war. Es mußte Schritt für Schritt getan werden. Und AC sprach: »ES WERDE LICHT!« Und es ward Licht …
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Das Chronoskop (The Dead Past, 1956) Deutsch von Jürgen Saupe
Arnold Potterley, Ph. D., war Professor der Alten Geschichte. Das war für sich genommen nicht gefährlich. An der Tatsache, daß er wie ein Professor der Alten Geschichte aussah, lag es, daß sich die Welt so änderte, wie es sich niemand je hätte träumen lassen. Thaddeus Araman, der Leiter der Abteilung Chronoskopie, hätte vielleicht die richtigen Schritte unternommen, wenn Dr. Potterley ein großes, eckiges Kinn, blitzende Augen, Adlernase und breite Schultern gehabt hätte. Aber so sah sich Thaddeus Araman hinter seinem Schreibtisch einer wohlerzogenen Person gegenüber, deren matte blaue Augen ihn über eine flache Knopfnase hinweg wehmütig anblickten, deren kleine, ordentlich gekleidete Gestalt die reine Sanftmut darzustellen schien, angefangen vom schütter werdenden braunen Haar bis zu den ordentlich geputzten Schuhen, die die zurückhaltend bürgerliche Aufmachung vollendeten. Araman sagte zuvorkommend: »Und was kann ich jetzt für Sie tun, Dr. Potterley?«
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Dr. Potterley entgegnete mit leiser Stimme: »Mr. Araman, ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie in der Chronoskopie der oberste Mann sind.« Araman lächelte. »Nicht ganz. Über mir ist der Weltkommissar für Forschung, und über dem ist der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Und über beiden stehen natürlich die souveränen Völker der Erde.« Dr. Potterley schüttelte den Kopf. »Die interessieren sich nicht für Chronoskopie. Sir, ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich seit zwei Jahren versuche, im Zusammenhang mit meinen Forschungen über das alte Karthago die Genehmigung für etwas Zeitschau, ich meine Chronoskopie, zu erhalten. Ich kann diese Genehmigung nicht bekommen. Meine Forschungszuschüsse sind in bester Ordnung. Meine intellektuellen Bemühungen zeigen keinerlei Regelwidrigkeiten und doch …« »Ich bin sicher, daß von Regelwidrigkeit gar nicht die Rede sein kann«, besänftigte ihn Araman. Er blätterte in den dünnen reproduzierten Seiten der Akte, auf der Potterleys Name stand. Sie war von Multivac hergestellt worden, in dessen riesigem analogen Geist alle Unterlagen der Abteilung ruhten. Wenn das hier vorüber war, konnten die Seiten vernichtet und dann bei Bedarf in Minutenschnelle wieder hergestellt werden. Und während Araman die Seiten umblätterte, sprach Dr. Potterley mit leiser, monotoner Stimme weiter. Der Historiker sagte: »Ich muß Ihnen erklären, warum es sich bei meinem Problem um ein sehr wichtiges handelt. In Karthago hatte der antike Handelsgeist seinen Höhepunkt 325
erreicht. Das vorrömische Karthago hatte in der Antike die größte Ähnlichkeit mit dem voratomaren Amerika, wenigstens, was seine Neigung zu Handel, Wirtschaft und Geschäft angeht. Dort gab es die wagemutigsten Seeleute und Entdecker. Sie waren viel besser als die weit überschätzten Griechen. Karthago zu kennen, brächte großen Gewinn, aber das einzige Wissen, über das wir verfügen, beziehen wir aus den Werken seiner Todfeinde, der Griechen und Römer. Karthago hat sich nie schriftlich verteidigt, und wenn es das tat, so sind die Bücher nicht zu uns gekommen. Daher kommt es, daß die Karthager in der Geschichte mit die beliebtesten Bösewichter abgeben, und das vielleicht ungerechterweise. Eine Zeitschau kann die Überlieferung vielleicht berichtigen.« Er sagte noch sehr viel mehr. Araman sagte und blätterte dabei noch immer in den reproduzierten Seiten vor ihm: »Dr. Potterley, Sie müssen wissen, daß Chronoskopie oder Zeitschau, wenn Sie wollen, eine schwierige Angelegenheit ist.« Dr. Potterley runzelte die Stirn und sagte: »Ich bitte nur um eine Schau auf gewisse ausgewählte Zeitabschnitte und Orte, die ich angeben würde.« Araman seufzte. »Selbst ein paar Blicke, ein einziger … das ist eine unglaublich heikle Kunst. Da ist die Frage der Scharfeinstellung, wie die richtige Szene einfangen und sie halten. Dann die Synchronisation des Tons, was völlig unabhängige Schaltkreise verlangt.« »Mein Problem ist doch sicher wichtig genug, um beträchtlichen Aufwand zu rechtfertigen.« 326
»Ja, Sir, zweifellos«, sagte Araman sofort. Jemand die Bedeutung seines Forschungsvorhabens abzusprechen, wäre ein unverzeihlich schlechtes Benehmen gewesen. »Aber Sie müssen verstehen, wie lang sich selbst die einfachste Schau hinzieht. Und es gibt eine lange Warteliste für das Chronoskop, und die Warteliste für den Multivac ist noch länger, der uns beim Gebrauch unserer Regler leitet.« Potterley fuhr unglücklich auf: »Kann gar nichts getan werden? Zwei Jahre …« »Eine Frage der Dringlichkeit, Sir. Es tut mir leid … Zigarette?« Der Historiker fuhr bei dem Angebot mit plötzlich aufgerissenen Augen zurück und starrte auf die Schachtel, die ihm entgegengehalten wurde. Araman blickte ihn überrascht an, machte dann eine Bewegung, als wollte er sich selbst eine Zigarette nehmen, überlegte es sich dann jedoch. Potterley stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als die Schachtel außer Sichtweite gebracht wurde. Er sagte: »Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Sache noch einmal zu überprüfen und mich so weit wie möglich zum Anfang der Liste hin zu versetzen? Ich weiß nicht, wie ich erklären kann …« Araman lächelte. Manche hatten in ähnlicher Lage Geld angeboten, das sie selbstverständlich auch nicht weitergebracht hatte. Er sagte: »Die Festlegung der Dringlichkeit geschieht über Computer. Darauf kann ich von mir aus überhaupt keinen Einfluß nehmen.«
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Dr. Potterley erhob sich steifbeinig. Er war etwas über einen Meter siebzig groß. »Dann guten Tag, Sir.« »Guten Tag, Dr. Potterley. Und mein aufrichtiges Bedauern.« Er streckte die Hand aus, und Dr. Potterley berührte sie kurz. Der Historiker ging, und ein Druck auf den Klingelknopf brachte Aramans Sekretärin ins Zimmer. Er gab ihr die Akte. »Das hier«, sagte er, »kann beiseite geschafft werden.« Als er wieder allein war, lächelte er bitter. Ein weiterer Punkt in seinem fünfundzwanzigjährigen Dienst an der Menschheit erledigt. Dienst durch Ablehnung. Dieser Bursche war wenigstens leicht abzufertigen gewesen. Manchmal mußte Druck über die Universitäten ausgeübt oder sogar mit Streichung der Forschungszuschüsse gedroht werden. Fünf Minuten später hatte er Dr. Potterley vergessen. Und wenn er sich später zurückerinnerte, war es ihm auch nicht, als habe es irgendein Vorgefühl von Gefahr gegeben. Während des ersten Jahres seines Festsitzens war Arnold Potterley eben nur festgesessen, auf seiner Enttäuschung nämlich. Während des zweiten Jahres entsprang seiner Enttäuschung jedoch ein Einfall, der ihn zunächst entsetzte, dann aber in Bann schlug. Zwei Dinge hielten ihn davon ab, seinen Einfall in die Tat umzusetzen, doch war keins der beiden Hindernisse mit der eindeutigen Tatsache
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verknüpft, daß es sich bei seinem Gedanken um einen höchst unmoralischen handelte. Das erste war bloß die fortgesetzte Hoffnung, daß die Regierung schließlich die Genehmigung erteilen würde und er es nicht nötig hätte, etwas zu unternehmen. Diese Hoffnung war schließlich in der Unterredung zerstoben, die er eben mit Araman geführt hatte. Das zweite Hindernis hatte gar nichts mit Hoffnung zu tun, sondern bestand in der trostlosen Erkenntnis seiner eigenen Unfähigkeit. Er war kein Physiker und kannte keinen Physiker, der ihm hätte helfen können. Die Abteilung Physik an der Universität setzte sich aus Männern zusammen, die bestens mit Zuschüssen versehen waren und sich bestens hinter ihren Spezialgebieten verschanzt hatten. Im günstigsten Fall würden sie ihm gar nicht zuhören. Im schlimmsten Fall würden sie ihn wegen intellektueller Anarchie anzeigen, und man konnte ihm sogar den Grundzuschuß für seine karthagischen Forschungen streichen. Das durfte er nicht riskieren. Und doch war Chronoskopie der einzige Weg, sein Werk fortzusetzen. Ohne sie war er genauso schlecht dran wie nach einem Verlust seines Zuschusses. Der erste Hinweis darauf, daß das zweite Hindernis zu überwinden sei, war ihm eine Woche vor der Unterredung mit Araman zugekommen, war zu dem Zeitpunkt aber nicht erkannt worden. Er war auf einer der Teeladungen für den Lehrkörper gewesen. Potterley erschien treu bei diesen Treffen, weil er das Erscheinen als Pflicht ansah, und mit seinen Pflichten nahm er es ernst. Aber war er einmal da, 329
so sah er es nicht als seine Aufgabe an, leichte Konversation zu machen oder neue Freundschaften zu schließen. Enthaltsam nippend nahm er ein, zwei Gläser zu sich, wechselte ein freundliches Wort mit dem Fakultätsvorstand oder anderen Abteilungsleitern, die anwesend waren, bedachte die übrigen mit einem knappen Lächeln und ging. Normalerweise hätte er auf dem letzten Tee dem jungen Mann, der ruhig, ja sogar schüchtern in einer Ecke stand, keine Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht einmal im Traum wäre ihm eingefallen, ihn anzusprechen. Doch dies eine Mal brachte ihn ein Wirrwarr von Umständen dazu, sich über seine Veranlagung hinwegzusetzen. An jenem Morgen hatte Mrs. Potterley beim Frühstück melancholisch verkündet, daß sie wieder einmal von Laurel geträumt hatte. Aber diesmal von einer erwachsenen Laurel, die dennoch ihr dreijähriges Gesicht behalten hatte, dem anzusehen war, daß sie ihr Kind war. Potterley hatte sie reden lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da er dagegen ankämpfte, daß sie sich zu häufig mit nichts als der Vergangenheit und dem Tod beschäftigte. Laurel würde nicht zu ihnen zurückkehren, durch Träume nicht und durch Gespräche nicht. Wenn es Caroline Potterley jedoch beruhigte, so mochte sie nur träumen und reden. Aber als Potterley an jenem Morgen zum Unterricht ging, spürte er, daß ihn diesmal ihr dummes Geschwätz angesteckt hatte. Laurel erwachsen! Vor beinahe zwanzig Jahren war sie gestorben, ihr einziges Kind. Er hatte in der
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ganzen Zeit seither an sie immer nur als Dreijährige gedacht. Jetzt dachte er: aber wenn sie jetzt noch lebte, wäre sie nicht drei, sondern fast schon dreiundzwanzig. Er konnte sich nicht helfen, er versuchte sich vorzustellen, wie sie langsam älter wurde und schließlich dreiundzwanzig war. Es gelang ihm überhaupt nicht. Und dennoch versuchte er es. Laurel benützt Make-up. Laurel geht mit Jungs aus. Laurel – heiratet! Als er den jungen Mann am Rand der aneinander vorbeitreibenden Leute des Lehrkörpers herumstehen sah, geschah es, daß ihm die Donquichotterie unterlief, zu denken, ein junger Mann wie dieser könnte gut und gern Laurel geheiratet haben. Vielleicht sogar dieser junge Mann selbst … Laurel hätte ihn hier an der Universität oder eines Abends treffen können, wenn er bei den Potterleys zum Essen eingeladen gewesen wäre. Sie hätten sich füreinander interessieren können. Laurel wäre sicherlich hübsch gewesen, und dieser junge Mann sah gut aus. Er war dunkel, hatte ein entschlossenes Gesicht und gab sich lässig. Der Wachtraum riß ab, und Potterley merkte, daß er den jungen Mann törichterweise nicht wie einen Fremden, sondern wie einen möglichen Schwiegersohn seiner Einbildung anblickte. Er merkte, wie er sich zu dem Mann hin durchschlängelte. Fast wie in einer Art Selbsthypnose.
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Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Arnold Potterley und bin von der Abteilung Geschichte. Ich nehme an, Sie sind hier neu?« Der junge Mann wirkte leicht erstaunt und brachte ungeschickt sein Glas von der Rechten in die Linke, um ihm die Hand schütteln zu können. »Mein Name ist Jonas Foster, Sir. Ich bin ein neuer Dozent für Physik. Ich fange dieses Semester an.« Potterley nickte. »Ich wünsche Ihnen hier einen angenehmen Aufenthalt und viel Erfolg.« Das war dann damals auch das Ende. Potterley war nervös wieder zu sich gekommen. Es war ihm peinlich, und er ging weiter. Er blickte einmal über die Schulter zurück, aber der Eindruck einer Beziehung war verschwunden, und er ärgerte sich über sich selbst, daß er auf das dumme Gerede seiner Frau über Laurel hereingefallen war. Doch eine Woche später war ihm, während Araman noch sprach, der junge Mann wieder eingefallen. Ein Dozent für Physik. Ein neuer Dozent. War er denn taub gewesen? Gab es zwischen Ohr und Hirn einen Kurzschluß? Oder hatte er sich automatisch selbst zensiert, weil die Unterredung mit dem Vorsitzenden für Chronoskopie bevorstand? Die Unterredung war jedoch ein Mißerfolg, und der Gedanke an den jungen Mann, mit dem er ein paar Sätze gewechselt hatte, hielt Potterley davon ab, sich weiter auf ein Bitten um Überprüfung einzulassen. Er konnte es beinahe kaum erwarten, sich zu empfehlen. 332
Im Autogiroexpreß auf dem Weg zurück zur Universität wünschte er fast, abergläubisch zu sein. Dann könnte er sich nämlich mit dem Gedanken trösten, das zufällige, bedeutungslose Zusammentreffen sei vom wissenden und zielbewußten Schicksal wirklich eingerichtet worden. Das akademische Leben war für Jonas Foster nichts Neues. Der langwierige Kampf um die Doktorwürde hätte jeden zum Veteranen werden lassen. Zusätzliche Arbeit als Lehrbeauftragter hatte nach seiner Promotion wie eine Wiederholungsimpfung gewirkt. Aber jetzt war er der Dozent Jonas Foster. Vor ihm lag professorale Würde. Und jetzt stand er in einer neuen Art von Beziehung zu anderen Professoren. Zum einen würden sie über zukünftige Beförderungen bestimmen. Zum anderen sah er sich noch nicht in der Lage, das Spiel so zu überblicken, daß er hätte sagen können, welche Angehörigen des Lehrkörpers das Ohr des Fakultätsvorstands oder gar das des Universitätspräsidenten hatten oder nicht hatten. Er hielt sich für einen schlechten Universitätspolitiker, und es hatte keinen Sinn, sich die Füße wundzulaufen, nur um das bestätigt zu bekommen. Foster hörte also diesem wohlerzogenen Historiker zu, der dennoch irgendwie Spannung verbreitete, fuhr ihm nicht unvermittelt über den Mund, was seine erste Regung gewesen war. Er erinnerte sich durchaus an Potterley. Potterley hatte ihn bei diesem Tee (einer trüben Angelegenheit) angesprochen. Der Kerl hatte steif mit ihm zwei Sätze
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gewechselt, hatte irgendwie glasige Augen gehabt, war mit einem sichtlichen Ruck zu sich gekommen und davongeeilt. Foster fand es damals lustig, aber jetzt … Vielleicht hatte Potterley absichtlich mit ihm Bekanntschaft schließen oder sich ihm eher als eine Art komischer Kauz, exzentrisch, aber harmlos, aufdrängen wollen. Vielleicht wollte er jetzt in Fosters Ansichten eindringen und solche suchen, die ins Wanken gebracht werden könnten. Das hätte man freilich tun sollen, bevor man ihm die Stelle bewilligte. Und doch … Potterley meinte es vielleicht ernst, begriff möglicherweise wirklich nicht, was er tat. Oder begriff vielleicht ganz und gar, was er tat. Vielleicht war er nichts als ein gefährlicher Gauner. Foster murmelte: »Also nun …« Er wollte Zeit gewinnen und zog eine Schachtel Zigaretten heraus, wollte Potterley eine anbieten, sie anzünden und sich dann ganz langsam selbst eine anstecken. Aber Potterley sagte sofort: »Dr. Foster, bitte keine Zigaretten.« Foster sah ihn verblüfft an. »Entschuldigen Sie, Sir.« »Nein, ich muß mich entschuldigen. Ich kann den Geruch nicht ausstehen. Eine Überempfindlichkeit. Entschuldigen Sie.« Er war ausgesprochen bleich. Foster steckte die Zigaretten weg.
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Foster fehlte die Zigarette, nahm sich aber vor, nicht gleich in die Luft zu gehen. »Es schmeichelt mir, daß Sie mich um meinen Rat fragen und so weiter, Dr. Potterley, aber mit Neutrinik kenne ich mich nicht aus. Offiziell kann ich kaum etwas in dieser Richtung tun. Es ist sogar undenkbar, eine Meinung zu äußern, und rundheraus gesagt wäre es mir lieber, wenn Sie gar nicht erst auf die Einzelheiten eingingen.« Das spröde Gesicht des Historikers verhärtete sich. »Was soll das heißen, Sie kennen sich in Neutrinik nicht aus? Bis jetzt kennen Sie sich doch nirgendwo aus. Sie haben doch noch keinerlei Zuschüsse bewilligt bekommen?« »Das ist mein erstes Semester.« »Das weiß ich. Ich nehme an, Sie haben noch nicht einmal einen Zuschuß beantragt.« Foster lächelte leicht. In den drei Monaten an der Universität war es ihm noch nicht gelungen, seine ersten Gesuche für Forschungszuschüsse in eine so gute Form zu bringen, daß er sie einem wissenschaftlichen Schriftsteller, geschweige denn der Forschungskommission übergeben konnte. (Der Vorsitzende seiner Abteilung nahm es glücklicherweise recht gut auf. »Lassen Sie sich jetzt Zeit, Foster«, sagte er. »Bringen Sie Ihre Gedanken in Reih und Glied. Überzeugen Sie sich ganz genau von Ihrem Weg und wohin er führt, denn sobald Sie einen Zuschuß bekommen, ist damit Ihre Spezialisierung offiziell anerkannt, und Sie werden, komme, was da wolle, Ihre 335
ganze Laufbahn hindurch nicht mehr von ihr loskommen.« Ein banaler Rat, aber hinter Banalitäten verbirgt sich oft Wahrheit, und Foster war sich dessen bewußt.) Foster sagte: »Meiner Ausbildung und Neigung nach gehöre ich der Hyperoptik, bei einem Nebeninteresse an der Gravitik. So habe ich mich bei meiner Bewerbung um die Stelle hier dargestellt. Offiziell ist das vielleicht noch nicht mein Spezialgebiet, wird es aber einmal sein. Und nichts anderes. Was die Neutrinik angeht, so habe ich mich nie mit dem Gebiet befaßt.« »Warum nicht?« wollte Potterley sofort wissen. Foster starrte ihn an. Diese Art nackter Neugier, wie es mit der beruflichen Stellung anderer Menschen bestellt war, machte ihn immer gereizt. Er sagte mit kaum merklichem Nachlassen an Höflichkeit: »Weil an meiner Universität kein Kursus in Neutrinik gegeben wurde.« »Guter Gott, wo waren Sie denn?« »Auf dem Massachusetts Institute of Technology«, sagte Foster ruhig. »Und dort wird Neutrinik nicht gelehrt?« »Nein.« Foster spürte, wie er rot wurde und sah sich zu einer Verteidigung genötigt. »Das ist ein ganz besonderes Spezialgebiet, das keinen großen Wert hat. Die Chronoskopie hat vielleicht einen gewissen Wert, aber sie ist die einzige praktische Anwendung – und ist eine Sackgasse.« Der Historiker blickte ihn eindringend an. »Sagen Sie mir eins. Wissen Sie, wo ich jemand finden kann, der sich mit Neutrinik beschäftigt?« 336
»Nein, weiß ich nicht«, sagte Foster nur. »Schön. Kennen Sie dann eine Universität, an der Neutrinik gelehrt wird?« »Nein, kenne ich nicht.« Potterley lächelte knapp. Foster gefiel das Lächeln nicht, weil es ihm beleidigend vorkam, und er wurde so ärgerlich, daß er sagte: »Ich möchte darauf hinweisen, Sir, daß Sie gegen die Grundsätze verstoßen.« »Was?« »Ich meine, Ihr Interesse als Historiker an irgend etwas Physikalischem ist …« Er schwieg, weil er sich nicht überwinden konnte, das Wort auszusprechen. »Unmoralisch?« »Das ist das Wort, Dr. Potterley.« »Meine Forschungen haben mich dazu getrieben«, flüsterte Potterley. »Da müssen Sie sich an die Forschungskommission wenden. Wenn die zuläßt …« »Ich bin dort gewesen und habe nichts erreicht.« »Dann müssen Sie offensichtlich die Sache aufgeben.« Foster wußte, daß er wie ein Tugendbold von Spießer redete, aber er wollte sich von diesem Mann nicht zu einer intellektuell anarchistischen Äußerung verleiten lassen. Er stand zu sehr am Anfang seiner Laufbahn, als daß er sich Dummheit leisten konnte.
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Die Bemerkung tat ihre Wirkung bei Potterley. Ohne Vorwar nung brach aus ihm ein unverantwortlicher Schwall sich jagender Worte hervor. Gelehrte, sagte er, konnten nur frei sein, wenn sie frei ihrer frei schweifenden Neugier folgen konnten. Eine Forschung, sagte er, die von den Mächten, die über das Geld verfügten, in vorgeplante Bahnen gezwängt wurde, verfiel der Sklaverei und trat auf der Stelle. Kein Mensch habe das Recht, sagte er, einem anderen intellektuelle Neigungen vorzuschreiben. Foster hörte sich alles ungläubig an. Ihm war nichts davon fremd. Er hatte auf dem College Jungen so reden hören, die Professoren schockieren wollten, und hatte sich selbst auf diese Weise ein- oder zweimal vergnügt. Jeder, der Wissenschaftsgeschichte studierte, wußte, daß früher viele Menschen so gedacht hatten. Und doch kam es Foster merkwürdig vor, ja fast widernatürlich, daß ein moderner Wissenschaftler solchen Unsinn von sich geben konnte. Niemand würde dafür eintreten, eine Fabrik so zu leiten, daß jeder Arbeiter machen könne, was ihm eben einfiele, oder ein Schiff zu lenken und dabei ständig auf die sich widersprechenden Einfälle der Mannschaft einzugehen. In beiden Fällen wäre selbstverständlich, daß es eine Art zentralisierter Überwachung gäbe. Und warum sollte das, was für eine Fabrik und ein Schiff gut war, nicht auch für die wissenschaftliche Forschung gut sein? Man konnte sagen, daß sich der menschliche Geist qualitativ irgendwie von einem Schiff oder eine Fabrik 338
unterschied, aber die Geschichte der geistigen Anstrengungen bewiesen das Gegenteil. Als die Wissenschaft jung und das komplizierte Ineinander des Bekannten dem einzelnen Geist mehr oder weniger faßlich war, benötigte man vielleicht keine Führung. Blindes Wandern über die auf keiner Karte verzeichneten Gebiete der Unwissenheit konnte zu herrlichen Zufallsfunden führen. Aber als das Wissen zunahm, mußten immer mehr Daten verarbeitet werden, bevor man Reisen in die Unwissenheit unternehmen konnte, die sich lohnten. Der Mensch mußte sich spezialisieren. Der Forscher war auf die Mittel einer Bibliothek angewiesen, die er nicht zusammenbringen konnte, dann auf Instrumente, die er sich nicht leisten konnte. Der einzelne Forscher wurde immer mehr durch Forschungsgruppen und Institutionen ersetzt. So, wie das Werkzeug zunahm, wuchsen auch die Mittel an, die man benötigte. Welches College war heute noch so klein, daß es nicht mindestens einen Mikrokernreaktor und einen Dreistufencomputer brauchte? Schon vor Jahrhunderten konnten Einzelpersonen die wissenschaftliche Forschung nicht länger subventionieren. Gegen 1940 konnten nur noch die Regierung, große Industrieunternehmen und große Universitäten die Grundlagenforschung angemessen subventionieren. Gegen 1960 waren sogar die größten Universitäten ganz auf Regierungszuschüsse angewiesen, während Forschungsinstitutionen ohne Steuerbegünstigungen und öffentliche Spenden nicht hätten existieren können. Gegen
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2000 waren die Industriekonzerne ein Teil der Weltregierung geworden, und danach war die Forschungsfinanzierung und als Folge davon auch ihre Führung natürlich in einem Ministerium der Regierung zentral zusammengefaßt worden. Alles ging seinen natürlichen Gang. Jeder Zweig der Wissenschaft war den Erfordernissen der Öffentlichkeit füglich angepaßt, und die verschiedenen Wissenschaftszweige waren sauber aufeinander abgestimmt worden. Der materielle Fortschritt der letzten fünfzig Jahre war Beweis genug für die Tatsache, daß die Wissenschaft nicht in einen Stillstand verfiel. Foster versuchte, darüber ein wenig zu sagen. Potterley winkte aber ungeduldig ab und sagte: »Sie plappern nur die offizielle Propaganda nach. Sie haben ein Beispiel vor der Nase, das der offiziellen Anschauung völlig entgegengesetzt ist. Können Sie das überhaupt glauben?« »Offen gesagt, nein.« »Nun, warum sagen Sie dann, daß die Zeitschau eine Sackgasse ist? Warum ist Neutrinik unwichtig? Sie sagen, es sei so, und zwar ganz kategorisch. Und doch haben Sie sie nie studiert. Sie behaupten, das ganze Gebiet gar nicht zu kennen. An Ihrer Universität wird es nicht einmal gelehrt …« »Ist nicht die Tatsache, daß es nicht gelehrt wird, schon Beweis genug?« »Ach, ich verstehe. Es wird nicht gelehrt, weil es unwichtig ist. Und es ist unwichtig, weil es nicht gelehrt wird. Sind Sie mit diesem Argument zufrieden?« 340
Foster spürte wachsende Verwirrung. »So steht's in den Büchern.« »Das wär's dann. In den Büchern steht, Neutrinik ist unwichtig. Ihre Professoren erzählen Ihnen das, weil sie es in den Büchern lesen. Und in den Büchern steht es so, weil die Professoren sie schreiben. Wer sagt es auf Grund persönlicher Erfahrung, persönlichen Wissens? Wer forscht darüber? Kennen Sie jemanden?« Foster sagte: »Wir kommen, glaube ich, nicht weiter, Dr. Potterley. Ich habe zu tun …« »Einen Augenblick. Ich möchte nur, daß Sie sich folgendes überlegen. Ich sage, daß die Regierung in Wirklichkeit Grundlagenforschung in Neutrinik und Chronoskopie unterdrückt. Daß sie die Anwendung der Chronoskopie unterdrückt.« »Aber nein.« »Wieso nicht? Sie könnte es. Da haben Sie Ihre zentral gelenkte Forschung. Wenn sie irgendeinem Zweig der Wissenschaft die Zuschüsse sperrt, stirbt er ab. Man hat die Neutrinik erstickt. Man kann das machen, und man hat es getan.« »Aber warum?« »Ich weiß nicht, warum. Ich möchte, daß Sie das herausfinden. Ich würde es selbst tun, wenn ich genug wüßte. Ich kam zu Ihnen, weil Sie ein junger Bursche mit einer nagelneuen Ausbildung sind. Haben sich Ihre geistigen Adern schon verhärtet? Stecken Sie nicht voller Neugierde? Möchten Sie es nicht wissen?«
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Der Historiker sah Foster aufmerksam an. Ihre Nasen waren nur Zentimeter voneinander entfernt, und Foster war so in Gedanken versunken, daß er nicht daran dachte, zurückzuweichen. Es wäre sein gutes Recht gewesen, Potterley die Tür zu weisen. Es war nicht die Achtung vor Amt und Würden, die ihn hinderte. Und Potterleys Argumente hatten ihn ganz gewiß nicht überzeugt. Es handelte sich eher darum, daß er auf seine Universität ein bißchen stolz war. Warum gab das M.I.T. keinen Kursus in Neutrinik? Und da er gerade bei dem Gedanken war, bezweifelte er auch das Vorhandensein auch nur eines einzigen Buches über Neutrinik in der Bibliothek dort. Er konnte sich nicht erinnern, je eines gesehen zu haben. Er hielt inne, um darüber nachzudenken. Und das war der Untergang. Caroline Potterley war einst eine gutaussehende Frau gewesen. Bei Anlässen wie Abendessen oder Universitätsveranstaltungen konnten mit einigem Aufwand Reste dieses guten Aussehens wiederhergestellt werden. Für gewöhnlich ließ sie sich gehen. Im Laufe der Jahre war sie rundlich geworden, aber die Schlaffheit an ihr war nicht nur auf Verfettung zurückzuführen. Es war, als hätten ihre Muskeln aufgegeben, als seien sie kraftlos geworden, so daß sie beim Gehen schlurfte. Um ihre Augen hatten sich Säcke gebildet, und ihre Wangen waren schwammig geworden. Selbst ihr ergrauendes Haar schien müde zu werden.
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Caroline Potterley sah sich im Spiegel an und gestand sich ein, daß es einer ihrer schlechten Tage war. Sie wußte den Grund. Es war der Traum mit Laurel. Der seltsame, in dem Laurel erwachsen war. Seither war sie wie zerschlagen. Trotzdem tat es ihr leid, daß sie zu Arnold davon gesprochen hatte. Er sagte nie mehr etwas, aber es tat ihm nicht gut. Noch Tage danach war er ungewöhnlich verschlossen. Das lag vielleicht daran, daß er sich auf die wichtige Unterredung mit dem hohen Regierungsbeamten vorbereitete, aber es konnte genausogut an ihrem Traum liegen. Es war früher besser gewesen, wenn er sie laut anschrie: »Laß die tote Vergangenheit doch los, Caroline! Reden bringt sie nicht zurück!« Es war für beide schrecklich gewesen. Sie war nicht zu Hause gewesen und hatte sich seitdem Vorwürfe gemacht. Wenn sie zu Hause geblieben wäre, wenn sie nicht auf diesen unnötigen Einkaufsbummel gegangen wäre, dann wären sie zu zweit gewesen. Einem von ihnen wäre es gelungen, Laurel zu retten. Der arme Arnold hatte keinen Erfolg gehabt. Weiß Gott, er hatte es versucht. Er war beinahe selbst gestorben. Er war fast erstickt und halb blind mit der toten Laurel in den Armen aus dem brennenden Haus gekommen. Dieser Alptraum war immer gegenwärtig, wich nie ganz. Arnold kapselte sich danach langsam ein. Er sprach leise und pflegte eine Sanftmut, die nichts aufbrechen konnte. Er wurde puritanisch und gab sogar seine kleinen Laster wie 343
Zigaretten und seinen Hang zu gelegentlichen Flüchen auf. Der Zuschuß für die Vorbereitung einer neuen Geschichte Karthagos wurde ihm bewilligt, und alles andere war nur noch zweitrangig für ihn. Sie versuchte, ihm eine Hilfe zu sein. Sie forschte für ihn nach Quellen, tippte seine Aufzeichnungen für ihn ab und nahm sie auf Mikrofilm auf. Das fand plötzlich sein Ende. Eines Abends sprang sie plötzlich vom Schreibtisch auf, kam gerade noch rechtzeitig ins Bad und mußte sich übergeben. Ihr Gatte folgte ihr verwirrt und besorgt. »Caroline, was ist los?« Sie war nicht ohne einen Schluck Schnaps wieder auf die Beine zu bringen. Sie sagte: »Stimmt das? Was die getan haben?« »Wer?« »Die Karthager.« Er starrte sie an, und sie brachte es nur auf Umwegen heraus. Geradeheraus konnte sie es nicht sagen. Die Karthager verehrten Moloch anscheinend in der Gestalt eines hohlen, ehernen Standbilds, das in seinem Bauch einen Feuerofen hatte. In nationalen Krisenzeiten versammelten sich Priester und Volk, und kleine Kinder wurden nach gebührenden Zeremonien bei lebendigem Leibe in die Flammen geschleudert. Kurz vor dem entscheidenden Augenblick gab man ihnen Süßigkeiten, damit die Wirkung des Opfers nicht durch Schrekkensschreie gestört wurde. Gleich danach
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dröhnten die Trommeln, um die paar Sekunden Kindergeschrei zu übertönen. Die Eltern waren anwesend, freuten sich vermutlich, da das Opfer den Göttern wohlgefällig war … Arnold Potterley legte die Stirn in finstere Falten. Gehässige Lügen, sagte er, von Karthagos Feinden in Umlauf gebracht. Er hätte sie warnen sollen. Schließlich waren solche propagandistischen Lügen nicht selten. Die Griechen behaupteten, daß die Juden in ihrem Allerheiligsten einen Eselskopf anbeteten. Und die Römer gar, daß die Urchristen Menschenhasser waren, die in den Katakomben Heidenkinder opferten. »Dann haben sie's also nicht getan?« fragte Caroline. »Ich bin sicher, daß sie es nicht getan haben. Die primitiven Phönizier haben es vielleicht getan. In primitiven Kulturen sind Menschenopfer nichts Ungewöhnliches. Aber Karthago auf seinem Höhepunkt war keine primitive Kultur. Menschenopfer werden dann oft durch symbolische Handlungen wie zum Beispiel Beschneidung ersetzt. Die Griechen und Römer haben möglicherweise so eine symbolische Handlung als ursprüngliches Ritual mißverstanden, entweder aus Unwissenheit oder aus Böswilligkeit.« »Bist du sicher?« »Ich kann mir noch nicht sicher sein, Caroline, aber wenn ich genug Material gesammelt habe, will ich Antrag stellen, die Chronoskopie benutzen zu dürfen, was diese Sache dann ein für allemal klären wird.« »Chronoskopie?« 345
»Zeitschau. Wir können das Karthago einer Krisenzeit anpeilen, sagen wir zur Landung von Scipio Africanus um 202 vor Christus, und dann mit eigenen Augen genau sehen, was passiert. Und du wirst sehen, ich habe recht.« Er tätschelte sie und lächelte ihr ermutigend zu, aber danach träumte sie zwei Wochen lang jede Nacht von Laurel, und sie half ihm nie wieder bei seinem karthagischen Vorhaben. Und er bat sie nie wieder darum. Doch jetzt bereitete sie sich auf seine Ankunft vor. Er hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, daß er den Regierungsmann gesehen hatte, und daß es wie erwartet gelaufen war. Das hieß Mißerfolg, aber seiner Stimme hatte trotzdem jedes verräterische Zeichen von Niedergeschlagenheit gefehlt, und auf dem Bildtelefon hatte sein Gesicht recht ruhig gewirkt. Bevor er nach Hause käme, sagte er, hätte er noch etwas anderes zu erledigen. Das hieß, daß es spät werden würde, aber das machte nichts. Keiner von ihnen hielt strenge Essenszeiten ein. Als er jedoch kam, überraschte er sie. Ihm war gar keine Bedrücktheit anzumerken. Er küßte sie pflichtschuldigst und lächelte, nahm seinen Hut ab und fragte, ob alles gutgegangen war, während er weg gewesen sei. Es war alles beinahe ganz normal. Beinahe. Sie hatte aber gelernt, auf Kleinigkeiten zu achten, und er hatte sich bei allem ein wenig zu rasch bewegt. Genug, um ihrem geübten Auge zu zeigen, daß er in Spannung war. Sie sagte: »Ist etwas passiert?«
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Er sagte: »Wir werden übermorgen abend einen Gast zum Essen haben, Caroline. Du hast doch nichts dagegen?« »Nein, nein. Jemand, den ich kenne?« »Nein. Einen jungen Dozenten. Einen Neuankömmling. Ich habe mit ihm geredet.« Er wirbelte plötzlich auf sie zu und nahm sie bei den Ellbogen, hielt sie einen Augenblick fest und ließ sie dann verwirrt los, als habe ihn die Zurschaustellung seiner Gefühle aus der Fassung gebracht. Er sagte: »Ich bin beinahe nicht zu ihm durchgedrungen. Schrecklich, wie wir uns alle unter das Joch haben drücken lassen. Wie sehr wir die Zügel schätzen, die man uns angelegt hat.« Mrs. Potterley war sich nicht sicher, ob sie ihn verstand, aber seit einem Jahr beobachtete sie, wie er heimlich immer aufsässiger wurde, mehr und mehr Kritik an der Regierung wagte. Sie sagte: »Du hast doch nichts Dummes zu ihm gesagt?« »Was meinst du, Dummes? Er wird für mich etwas in Neutrinik machen.« »Neutrinik« war für Mrs. Potterley nichts als drei sinnlose Silben, aber sie wußte, daß es nichts mit Geschichte zu tun hatte. Sie sagte schwach: »Arnold, mir gefällt nicht, was du da machst. Du wirst deine Stellung verlieren. Es ist …« »Es ist intellektuelle Anarchie, meine Liebe«, sagte er. »Den Ausdruck suchst du doch. Na schön. Ich bin ein Anarchist. Wenn mir die Regierung nicht gestattet, meine Forschungen voranzutreiben, dann muß ich es eben auf eigene Faust tun. Und wenn ich den Weg zeige, werden 347
mir andere folgen … und wenn nicht, dann macht das auch nichts. Nur Karthago und das menschliche Wissen zählen, nicht du und ich.« »Aber du kennst diesen jungen Mann nicht. Und wenn er ein Spitzel der Forschungskommission ist?« »Glaube ich nicht, und ich lasse es darauf ankommen.« Er ballte die Rechte zur Faust und rieb sie sanft in der Handfläche der Linken hin und her. »Er ist jetzt auf meiner Seite. Da bin ich mir sicher. Er kann gar nicht anders. Ich erkenne geistige Neugierde, wenn ich sie in den Augen, auf dem Gesicht, in der Haltung eines Menschen sehe. Eine tödliche Krankheit für einen zahmen Wissenschaftler. Selbst heute dauert es seine Zeit, bis man sie einem Mann ausgetrieben hat, und die jungen Männer sind anfällig … Ach, warum sich denn überhaupt beschränken? Warum bauen wir uns nicht unser eigenes Chronoskop, dann kann uns die Regierung nämlich mal …« Er schwieg unvermittelt, schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Ich hoffe, daß alles in Ordnung ist«, sagte Mrs. Potterley und konnte sich des sicheren Gefühls nicht erwehren, daß gar nichts in Ordnung sein würde, und machte sich im voraus Sorgen um die Stellung ihres Mannes als Professor, um die Sicherheit ihres Alters. Von allen war sie die einzige, die ein heftiges Vorgefühl von Unannehmlichkeiten hatte. Nur irrte sie sich in der Art der Unannehmlichkeiten völlig.
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Jonas Foster erreichte mit fast einer halben Stunde Verspätung das Haus der Potterleys, das außerhalb des Campus lag. Bis zu dem Abend hatte er sich nicht entschließen können zu gehen. Im letzten Augenblick merkte er dann, daß er es nicht über sich bringen konnte, die gesellschaftliche Ungeheuerlichkeit zu begehen, in letzter Minute eine Einladung zum Abendessen abzusagen. Und dann war da noch quälende Neugier. Das Essen selbst zog sich endlos hin. Foster aß ohne Appetit. Mrs. Potterley saß kühl und gedankenversunken da und raffte sich nur ein einziges Mal zu einer Frage auf. Ob er verheiratet sei? Auf die Nachricht hin, daß er es nicht sei, gab sie ein mißbilligendes Geräusch von sich. Dr. Potterley fragte gleichgültig nach seiner Berufslaufbahn und nickte steif mit dem Kopf. Es war so gesetzt und schwerfällig, eigentlich sogar langweilig, wie es nur sein konnte. Foster dachte: er wirkt so harmlos. Foster hatte die letzten beiden Tage damit verbracht, sich über Dr. Potterley zu informieren. Natürlich ganz beiläufig, fast sogar heimlich. Er wollte nicht gerade in der Sozialwissenschaftlichen Bibliothek gesehen werden. Immerhin gehörte Geschichte zu diesen Randgebieten, und die breite Öffentlichkeit las zur Belustigung oder zur Erbauung gern in Geschichtswerken. Nur war ein Physiker nicht gerade die »breite Öffentlichkeit«. Angenommen, Foster würde sich auf Geschichte einlassen, dann würde man ihn für komisch halten, und nach einiger Zeit würde sich der Abteilungs-
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leiter fragen, ob sein neuer Dozent auch der richtige Mann für die Stelle war. Er hatte sich deshalb vorgesehen. Er setzte sich in die abgelegeneren Lesenischen und senkte den Kopf, wenn er zu ungewöhnlichen Zeiten kam oder ging. Wie sich zeigte, hatte Dr. Potterley drei Bücher und ein gutes Dutzend Aufsätze über die antike Welt des Mittelmeerraums geschrieben, und die späteren Aufsätze befaßten sich alle von einem wohlwollenden Standpunkt aus mit dem Karthago der vorrömischen Zeit. Das paßte wenigstens zu Potterleys Erzählung und hatte Fosters Argwohn ein wenig besänftigt … Und doch spürte Foster, daß es viel klüger, viel ungefährlicher gewesen wäre, sich der Sache gleich von Anfang an entgegengestellt zu haben. Ein Wissenschaftler sollte nicht zu neugierig sein, dachte er. Ein gefährlicher Zug. Nach dem Essen wurde er in das Arbeitszimmer des Professors geführt, und er blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Vor lauter Büchern konnte man buchstäblich die Wände nicht mehr sehen. Es gab nicht bloß Filme. Die gab es natürlich auch, aber sie wurden an Menge bei weitem durch die Bücher übertroffen Bücher auf Papier gedruckt. Er hätte nie gedacht, daß es noch so viele in brauchbarer Verfassung gab. Foster war unangenehm berührt. Wieso wollte jemand so viele Bücher zu Hause haben? Sie waren sicher alle in der Universitätsbibliothek zu haben, auf jeden Fall aber in 350
der Kongreßbibliothek, wenn man sich der kleinen Mühe unterzog, einen Mikrofilm anzusehen. Eine private Bibliothek sah nach Heimlichtuerei aus, roch nach intellektueller Anarchie. Merkwürdigerweise beruhigte der letzte Gedanke Foster. Potterley war ihm als wirklicher Anarchist lieber als in der Rolle eines Lockspitzels. Und jetzt fingen die Stunden an, auf erstaunliche Weise vorbeizufliegen. »Sehen Sie«, sagte Potterley mit ruhiger Stimme, »es ging darum, jemand zu finden, der bei seiner Arbeit die Chronoskopie eingesetzt hatte. Ich konnte natürlich nicht einfach drauflos fragen, weil das ja unbefugtes Forschen gewesen wäre.« »Ja«, sagte Foster trocken. Er war ein wenig überrascht, daß eine so kleine Bedenklichkeit den Mann aufhalten konnte. »Ich ging auf eine indirekte Art vor …« Und wie er das gemacht hatte. Foster verblüffte der Umfang des Briefwechsels, der sich um winzige strittige Fragen mittelmeerischer Kultur rankte und in dessen Folge es immer wieder gelungen war, beiläufige Bemerkungen herauszuholen, die etwa so aussahen: »Da ich nun freilich nie die Chronoskopie benutzt habe …« oder »Da es im Augenblick zweifelhaft ist, ob mein Antrag auf Verwendung chronoskopischer Daten berücksichtigt wird …« »Das waren nicht Fragen aufs Geradewohl«, sagte Potterley. »Das Institut für Chronoskopie gibt jeden Monat 351
ein Heft heraus, in dem Einzelheiten zur Vergangenheit abgedruckt werden, die durch Zeitschau entschieden wurden. Immer nur ein oder zwei Punkte. Was mich zunächst aufmerken ließ, war die Trivialität der meisten Punkte, ihre Abgeschmacktheit. Weshalb hatten solche Forschungen den Vorrang vor meiner? Ich schrieb also an Leute, die höchstwahrscheinlich in Richtungen forschten, über die in den Heften berichtet wurde. Wie ich Ihnen zeigte, hat keiner von ihnen das Chronoskop benutzt. Gehen wir es jetzt einmal Punkt für Punkt durch.« Schließlich drehte sich Foster bei all dem Material, das Potterley sauber zusammengetragen hatte, der Kopf, und er fragte: »Aber wieso?« »Ich weiß nicht, wieso«, sagte Potterley. »Ich habe jedoch eine Theorie. Das Chronoskop war ursprünglich von Sterbinski erfunden worden, soviel weiß ich wenigstens, wie Sie sehen, und es ist viel darüber geschrieben worden. Aber dann nahm die Regierung das Gerät an sich und beschloß, weitere Forschungen in der Richtung zu unterdrücken und keinen Gebrauch des Geräts zuzulassen. Aber dann mochten sich die Leute vielleicht fragen, warum es nicht benutzt wurde. Neugier ist ein großes Laster, Dr. Foster.« Der Physiker stimmte ihm im stillen zu. »Stellen Sie sich dann die Wirkung vor«, fuhr Potterley fort, »wenn man so tut, als benutze man das Chronoskop. Dann wäre es eine gewöhnliche Sache, von keinem Geheimnis umwittert. Es wäre nicht länger ein geeigneter
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Gegenstand erlaubter Neugier und auch kein anziehender mehr für unerlaubte Neugier.« »Sie waren aber neugierig«, machte ihn Foster aufmerksam. Potterley wirkte ein wenig unruhig. »In meinem Fall war das anders«, sagte er ärgerlich. »Bei mir gibt es etwas, was unbedingt getan werden muß, und ich wollte mich nicht auf so lächerliche Art abspeisen lassen, wie die es versucht haben.« Selbst ein bißchen paranoid, dachte Foster verdrießlich. Aber paranoid oder nicht, Potterley hatte doch etwas herausgefunden. Foster konnte nicht länger bestreiten, daß sich in Sachen Neutrinik merkwürdige Dinge abspielten. Aber worauf wollte Potterley hinaus? Das machte Foster noch Sorgen. Wenn Potterley nicht beabsichtigte, Fosters moralische Ansichten auf die Probe zu stellen, was wollte er dann? Foster dachte logisch nach. Wenn ein intellektueller Anarchist mit einem Hauch von Geistesgestörtheit ein Chronoskop benutzen wollte und überzeugt war, daß ihm dabei die herrschenden Mächte im Weg standen, was würde er wohl tun? Angenommen, dachte er, es handelt sich um mich. Was würde ich machen? Er sagte langsam: »Vielleicht gibt es überhaupt kein Chronoskop?« Potterley zuckte zusammen. Seine oberflächliche Gemütsruhe hätte beinahe einen Riß bekommen. Einen
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Augenblick lang sah sich Foster etwas gegenüber, was überhaupt nichts mit Ruhe zu tun hatte. Der Historiker behielt sich aber in der Gewalt und sagte: »Es muß ein Chronoskop geben.« »Wieso? Haben Sie es gesehen? Oder ich vielleicht? Vielleicht liegt da die Erklärung für alles. Vielleicht machen sie das Chronoskop, das sie haben, gar nicht absichtlich rar. Vielleicht haben sie überhaupt keins.« »Aber Sterbinski hat es gegeben. Er baute ein Chronoskop. Das ist eine Tatsache.« »So steht es in den Büchern«, sagte Foster kühl. »Hören Sie mal.« Potterley streckte tatsächlich die Hand aus und faßte ihn am Jackenärmel. »Ich brauche das Chronoskop. Ich muß es haben. Sagen Sie mir nicht, daß es nicht existiert. Was wir machen werden, ist, genug über Neutrinik herauszukriegen, um uns selbst …« Foster befreite seinen Jackenärmel. Er brauchte nichts weiter zu hören. Er konnte sich die Forsetzung denken. Er sagte: »Ein eigenes zu bauen?« Potterley sah verstimmt aus, als hätte er es lieber nicht so frei heraus gesagt. Trotzdem sagte er: »Wieso nicht?« »Weil das nicht in Frage kommt«, sagte Foster. »Wenn es stimmt, was ich gelesen habe, so brauchte Sterbinski zwanzig Jahre, um seinen Apparat zu bauen – und Millionenzuschüsse. Sie glauben doch nicht, daß Sie und ich das unerlaubt nachmachen können? Selbst wenn wir die Zeit hätten, was aber nicht so ist, und selbst, wenn ich genug aus Büchern lernen könnte, was ich bezweifele, wo bekämen wir denn Geld und Material her? Meine Güte, das 354
Chronoskop soll schließlich so groß wie ein fünfstöckiges Gebäude sein.« »Sie wollen mir also nicht helfen?« »Also gut, ich sage Ihnen was. Es gibt eine Möglichkeit, wie ich vielleicht etwas erfahren kann …« »Wie?« fragte Potterley sogleich. »Das ist unwichtig. Aber ich kann möglicherweise genug herausfinden, um Ihnen sagen zu können, ob die Regierung absichtlich Forschungen mit dem Chronoskop unterbindet. Ich kann möglicherweise das Beweismaterial stützen, das Sie schon haben, oder beweisen, daß es irreführend ist. Wieviel Ihnen das in jedem Fall nützen wird, weiß ich nicht, aber ich kann nur so weit gehen.« Potterley brachte den jungen Mann endlich zur Tür. Er war wütend auf sich selbst. Wieso hatte er es sich gestattet, so unvorsichtig zu sein, den Burschen erraten zu lassen, daß er ein eigenes Chronoskop im Auge hatte? Das war voreilig. Aber warum mußte der junge Narr auch davon sprechen, daß es möglicherweise gar kein Chronoskop gab? Es mußte es einfach geben. Was für einen Nutzen hatte es denn, das Gegenteil zu behaupten? Und wieso konnte man kein zweites bauen? In den fünfzig Jahren seit Sterbinski hatte sich die Wissenschaft weiterentwikkelt. Man benötigte nichts als das Wissen. Der junge Mann mochte das Wissen zusammentragen. Er mochte glauben, das bißchen Zusammentragen sei das Äußerste. Einmal auf dem Weg zur Anarchie, gab es kein 355
Halten. Wenn der Junge nicht von sich aus weitergetrieben würde, so wären die ersten Schritte Abweichung genug, um den Rest durchzusetzen. Potterley war sich ziemlich sicher, daß er vor einer Erpressung nicht zurückscheuen würde. Foster lenkte seinen Wagen durch die öden Randgebiete der Stadt und bemerkte kaum den Regen. Er sagte sich, er sei wirklich ein Idiot, aber er konnte die Sache bei dem Stand der Dinge nicht auf sich beruhen lassen. Er wollte Bescheid wissen. Er würde aber nicht weiter als bis zu Onkel Ralph gehen. Er schwor sich mit allem Nachdruck, daß es damit sein Bewenden hätte. Auf diese Weise würde man keine handfesten Beweise gegen ihn haben. Onkel Ralph würde schweigen. In gewisser Hinsicht schämte er sich heimlich seines Onkels. Zum Teil hatte er ihn Potterley gegenüber aus Vorsicht nicht erwähnt, zum Teil auch, weil er weder hochgezogene Augenbrauen noch das unvermeidliche leichte Lächeln sehen wollte. So nützlich auch Menschen waren, die als wissenschaftliche Schriftsteller ihr Brot verdienten, sie gehörten doch nicht ganz dazu und verdienten nichts als Herablassung und Geringschätzung. Die Tatsache, daß diese Gruppe von Leuten mehr Geld verdiente als, die Forschungswissenschaftler, machte die Sache natürlich nicht besser. Es gab immerhin Zeiten, wo es angenehm war, einen wissenschaftlichen Schriftsteller in der Familie zu haben. Da sie keine richtige Ausbildung besaßen, brauchten sie 356
sich nicht zu spezialisieren. Und folglich kannte sich ein guter wissenschaftlicher Schriftsteller praktisch auf allen Gebieten aus. Ralph Nimmo hatte keinen Collegeabschluß und war recht stolz darauf. »Ein Abschluß«, hatte er einst Jonas Foster mitgeteilt, als sie beide etliche Jahre jünger waren, »ist der erste Schritt, mit dem man sich auf einen verderblichen Weg begibt. Man möchte ihn nicht ungenutzt lassen und macht sich an seine Doktorarbeit. Man endet damit, bis auf diese winzige Unterabteilung von Nichts gar keine Ahnung von dem zu haben, was es auf der Welt gibt. Wenn man andererseits vorsichtig mit seinem Kopf umgeht und ihn nicht mit Einzelheiten vollstopft, bis man reif geworden ist, sondern es nur auf Verständnis abgesehen hat und sich in klarem Denken übt, so hat man dann ein mächtiges Werkzeug zur Verfügung und kann wissenschaftlicher Schriftsteller werden.« Nimmo bekam seinen ersten Auftrag mit fünfundzwanzig, als er seine Lehrzeit beendet hatte und kaum drei Monate auf dem Gebiet tätig war. Der Auftrag kam in Form eines Manuskripts, in dem alles wie Kraut und Rüben durcheinanderging, dessen Sprache keinem Leser auch nur einen Schimmer an Verständnis vermitteln konnte, ganz gleich, wie kompetent der Text auch war, es sei denn, man vertiefte sich sorgfältig in ihn und ließ sich auf schöpferische Mutmaßungen ein. Nimmo nahm ihn auseinander und setzte ihn wieder zusammen (nach fünf langen und erbitterten Unterredungen mit den Autoren, bei denen es sich um Biophysiker handelte), straffte die 357
Sprache, gab ihr Sinn und glättete den Stil, bis er angenehm glänzte. »Warum denn nicht?« teilte er wohl nachgiebig seinem Neffen mit, der seinen kritischen Bemerkungen dadurch zum Teil entgegentrat, daß er ihm vorhielt, sich allzu bereit auf die Grenzgebiete der Wissenschaft einzulassen. »Die Grenzgebiete sind wichtig. Deine Wissenschaftler können nicht schreiben. Warum sollte man es auch von ihnen erwarten? Man erwartet nicht von ihnen, daß sie große Schauspieler oder Geiger sind, warum also erwarten, daß sie mit der Sprache umgehen können? Warum das nicht auch Spezialisten überlassen? Meine Güte, Jonas, lies deine Literatur, die vor hundert Jahren geschrieben wurde. Laß die Tatsache beiseite, daß sie wissenschaftlich veraltet ist und daß ein paar Ausdrücke überholt sind. Versuch nur mal, sie zu lesen und zu verstehen. Zungenbrecherisches, dilettantisches Zeug. Seiten um Seiten umsonst veröffentlicht. Ganze Artikel, die unverständlich und auch umsonst sind.« »Aber du findest keine Anerkennung, Onkel Ralph«, protestierte der junge Foster, der eben seine Laufbahn auf dem College beginnen wollte und ziemlich romantische Vorstellungen hatte. »Du könntest ein phantastischer Forscher sein.« »Ich finde Anerkennung«, sagte Nimmo. »Denk bloß nicht, daß ich sie nicht kriege. Klar, ein Biochemiker oder Stratometeorologe würden nicht einmal einen Gruß für mich übrig haben, aber sie zahlen mich glänzend. Überleg dir nur mal, was passiert, wenn ein prima Chemiker sieht,
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daß ihm die Kommission das Jahresbudget für einen wissenschaftlichen Schriftsteller gestrichen hat. Er kämpft verbissener um das Geld, mit dem er mich oder jemand wie mich bezahlen kann, als um die Anschaffung eines automatischen Ionenschreibers.« Er grinste offen, und Foster grinste zurück. Er war eigentlich stolz auf seinen dickbäuchigen Onkel mit dem rundlichen Gesicht und den Wurstfingern, der sich eitel die letzten Haare vergebens über den Kahlkopf bürstete und der sich anzog, daß er wie ein umgeworfener Heuhaufen aussah, weil Nachlässigkeit sein Markenzeichen war. Er schämte sich und war gleichzeitig stolz. Und jetzt betrat Foster das vollgestopfte Appartement seines Onkels, und ihm war gar nicht nach Grinsen zumute. Er und Onkel Ralph waren jetzt neun Jahre älter. Neun Jahre lang hatten ihn alle möglichen wissenschaftlichen Aufsätze erreicht, um aufpoliert zu werden, und von jedem war ein bißchen in seinem geräumigen Geist zurückgeblieben. Nimmo verzehrte kernlose Trauben und steckte sich eine nach der anderen hastig in den Mund. Er warf Foster eine Traube zu, die er mit knapper Not fing. »Was ist los?« fragte Nimmo. »Hast du Schwierigkeiten mit der Abfassung deines Antrags auf Zuschußbewilligung?« »Daran habe ich mich eigentlich noch gar nicht gemacht.« »Wirklich nicht? Dann aber mal Bewegung, Junge. Wartest du auf mein Angebot, letzte Hand anzulegen?« 359
»Dich kann ich mir nicht leisten, Onkel.« »Ach, hör auf. Bleibt in der Familie. Überlaß mir die Rechte für populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, und es muß kein Geld den Besitzer wechseln.« Foster nickte. »Wenn du das ernst meinst, abgemacht.« »Abgemacht.« Das war natürlich ein Wagnis, aber Foster hatte genug von Nimmos wissenschaftlicher Schriftstellerei gesehen, um zu wissen, daß es sich lohnen konnte. Eine aufsehenerregende Entdekkung von allgemeinem Interesse über den Urmenschen oder eine neue chirurgische Technik oder in irgendeinem Zweig der Raumfahrt konnte einen geldbringenden Aufsatz in einem der Massenmedien bedeuten. Nimmo hatte zum Beispiel eine Reihe von Abhandlungen von Brace und seinen Mitarbeitern für wissenschaftliche Leser umgeschrieben, die die Feinstruktur zweier Krebsviren zum Inhalt hatten, wofür er die lächerliche Summe von fünfzehnhundert Dollar verlangte, vorausgesetzt, man überließe ihm die Rechte für populärwissenschaftliche Veröffentlichungen. Dann schrieb er allein dieselbe Arbeit in verständlicher Form für das Trimensionalfernsehen um, erhielt dafür einen Vorschuß von zwanzigtausend Dollar nebst Tantiemen, die nach fünf Jahren noch immer flossen. Foster sagte rundheraus: »Was weißt du über Neutrinik, Onkel Ralph?«
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»Neutrinik?« Nimmo sah ihn überrascht aus seinen kleinen Augen an. »Hast du damit zu tun? Ich dachte, es sei pseudogravitische Optik?« »Ja, es ist P.G.O. Ich frage dich nur zufällig nach Neutrinik.« »Das ist ja eine höllische Sache. Du scherst aus der Reihe. Das ist dir wohl klar?« »Ich glaube nicht, daß du die Kommission anrufen wirst, nur weil ich ein bißchen neugierig bin.« »Vielleicht sollte ich es, bevor du Schwierigkeiten bekommst. Neugier ist bei Wissenschaftlern ein Berufsrisiko. Ich hab's mitangesehen. Da verfolgt einer still ein Problem, und dann bringt ihn die Neugier in ein seltsames Fahrwasser. Und ehe man sich's versieht, haben sie so wenig an ihrem eigentlich Problem gearbeitet, daß sie keine Berechtigung mehr haben, ihr Projekt verlängern zu lassen.« »Ich möchte doch nur wissen«, sagte Foster geduldig, »was dir in letzter Zeit in Neutrinik unter die Finger gekommen ist.« Nimmo lehnte sich zurück und zerkaute nachdenklich eine Traube. »Nichts. Noch nie etwas. Ich erinnere mich nicht, jemals eine Schrift über Neutrinik bekommen zu haben.« »Was?« Foster war sichtlich überrascht. »Wer kriegt dann die Arbeiten?« »Wenn du mich so fragst«, sagte Nimmo, »ich weiß es nicht. Auf den jährlichen Tagungen habe ich nie jemand
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darüber sprechen hören. Ich glaub' nicht, daß auf dem Gebiet viel gearbeitet wird.« »Wieso nicht?« »He, schnauz mich nicht an. Ich tu ja gar nichts. Ich würde vermuten …« Foster war erbost. »Wissen tust du nichts?« »Hm. Ich sag' dir, was ich über Neutrinik weiß. Es dreht sich dabei um die Anwendung der Bewegung und Kräfte der Neutrinos …« »Aber sicher. So, wie sich Elektronik um die Anwendung der Bewegungen und Kräfte der Elektronen dreht, und Pseudeogravitik um die Anwendung künstlicher Schwerkraftfelder. Deshalb bin ich nicht zu dir gekommen. Mehr weißt du nicht?« »Und Neutrinik«, sagte Nimmo unerschütterlich, »ist die Grundlage für die Zeitschau, und das ist alles, was ich weiß.« Foster sank auf seinem Stuhl zusammen und rieb sich die mageren Wangen. Er fühlte sich enttäuscht. Ohne es sich deutlich einzugestehen, war er sich irgendwie sicher gewesen, daß Nimmo mit den neuesten Unterlagen über interessante Seiten der modernen Neutrinik aufwarten und ihn zu Potterley zurückschikken würde, um dem ältlichen Historiker zu sagen, er irre sich und seine Folgerungen seien verfehlt. Dann hätte er sich wieder richtig an seine Arbeit machen können. Aber so …
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Er sagte sich ärgerlich: Man arbeitet also nicht viel auf dem Gebiet. Heißt das schon absichtliche Unterdrückung? Und wenn Neutrinik ein unergiebiger Wissenszweig ist? Vielleicht doch. Ich weiß es nicht. Und Potterley auch nicht. Warum die geistigen Kräfte der Menschheit an ein Nichts verschwenden? Oder die Arbeit war möglicherweise aus gutem Grund geheim. Konnte sein … Die Schwierigkeit war, er mußte es wissen. Er konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Es ging nicht. Er sagte: »Gibt es einen Text über Neutrinik, Onkel Ralph? Ich meine einen einfachen und klaren. Eine Einführung.« Nimmo dachte nach, und seine dicken Backen blähten sich, während er eine Reihe Seufzer ausstieß. »Du stellst die blödesten Fragen. Der einzige, von dem ich je gehört habe, ist von Sterbinski und noch jemand. Ich hab' ihn nie gesehen, bin aber mal auf etwas darüber gestoßen … Sterbinski und LaMarr, das war's.« »Ist das der Sterbinski, der das Chronoskop erfunden hat?« »Denke ich mir. Dann müßte das Buch gut sein.« »Gibt es eine neue Ausgabe? Sterbinski ist vor dreißig Jahren gestorben.« Nimmo zuckte mit den Achseln und schwieg. »Kannst du das herauskriegen?« Einen Augenblick saßen sie still da, während Nimmo seine Massen unter dem Knarren des Stuhls, auf dem er
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saß, verlagerte. Dann sagte der wissenschaftliche Schriftsteller: »Willst du mir sagen, was das alles soll?« »Kann ich nicht. Wirst du mir trotzdem helfen, Onkel Ralph? Wirst du mir ein Exemplar des Textes verschaffen?« »Schön, du hast mir alles beigebracht, was ich über Pseudogra vitik weiß. Ich sollte dir Dank wissen. Ich sag' dir was – unter einer Bedingung werde ich dir helfen.« »Und die wäre?« Der Ältere war plötzlich sehr ernst. »Daß du vorsichtig bist, Jonas. Offenbar bist du weit ab von dem, was deine Aufgabe ist. Setz deine Karriere nicht aufs Spiel, nur weil du neugierig auf etwas bist, was mit deinem Auftrag nichts zu tun hat und dich auch nichts angeht. Du verstehst?« Foster nickte, hörte aber kaum hin. Er dachte angestrengt nach. Eine ganze Woche später bewegte Ralph Nimmo seine rundliche Figur vorsichtig in Jonas Fosters Zweizimmerwohung, die auf dem Campus lag, und wisperte heiser. »Ich hab' was.« »Was?« Foster war sofort gespannt. »Ein Exemplar von Sterbinski und LaMarr.« Er zog es hervor, ließ vielmehr unter seinem weiten Mantel ein kleines Eckchen blicken. Foster sah fast automatisch auf Tür und Fenster, ob sie geschlossen, beziehungsweise die Rollos herabgelassen waren, und streckte dann die Hand aus.
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Die Filmschachtel war vor Alter rissig, und als er sie aufklappte, war der Film verblaßt und spröd geworden. Er sagte hart: »Ist das alles?« »Wo bleibt die Dankbarkeit, mein Junge?« Nimmo setzte sich brummend und zog aus einer Tasche einen Apfel hervor. »Ach, ich bin dir dankbar, aber der Film ist so alt.« »Dabei kannst du noch von Glück reden. Ich wollte mir einen Film aus der Kongreßbibliothek zeigen lassen. Unmöglich. Das Buch ist nur für den Dienstgebrauch.« »Und wie bist du an den hier gekommen?« »Hab' ich gestohlen.« Er biß sich knackend zum Kerngehäuse durch. »Öffentliche Bibliothek, New York.« »Was?« »War einfach. Ich hatte natürlich Zugang zum Hauptmagazin. Als niemand in der Nähe war, stieg ich über eine Absperrkette, trieb das hier auf und spazierte damit davon. Die werden nach Jahren den Verlust noch nicht bemerkt haben … Nur, mein lieber Neffe, läßt du das besser keinen bei dir sehen.« Foster starrte auf den Film, als sei er buchstäblich zu heiß zum Anfassen. Nimmo ließ das Kerngehäuse fallen und griff nach einem zweiten Apfel. »Wirklich komisch. Auf dem ganzen Gebiet der Neutrinik gibt es keine neuere Veröffentlichung. Keine Monographie, keinen Aufsatz, keinen Forschungsbericht. Seit dem Chronoskop nichts mehr.« »Mhm«, sagte Foster abwesend.
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Foster arbeitete abends im Haus der Potterleys. In seinen Zimmern auf dem Campus fühlte er sich nicht sicher. Diese abendliche Arbeit wurde ihm wichtiger als die Erstellung seines Antrags auf Zuschuß. Manchmal bekümmerte ihn es, aber das legte sich auch. Am Anfang bestand seine Arbeit nur darin, sich den Film des Textes immer wieder anzusehen. Später bestand sie in Nachdenken, während manchmal ein Teil des Buches unbeachtet durch den Taschenprojektor lief. Manchmal kam Potterley zu ihm hinunter und sah ihm zu, saß mit starren, ungeduldigen Augen neben ihm, als erwarte er, die Gedankenarbeit werde feste Formen annehmen und in all ihren Windungen sichtbar werden. Er mischte sich nur in zweierlei Hinsicht ein. Er untersagte Foster das Rauchen, und manchmal redete er. Es ging dabei nicht um ein Gespräch. Es war eher ein leiser Monolog, bei dem er anscheinend kaum die Erwartung hegte, Aufmerksamkeit zu erregen. Es war vielmehr so, als wolle er so innere Spannungen loswerden. Karthago! Immer Karthago! Karthago, das New York des Mittelmeers der Antike. Karthago, Reich des Handels und Königin der Meere. Karthago alles das, was Syracus und Alexandria vorgaben zu sein. Karthago, von seinen Feinden verleumdet und keine Verteidigung vorbringend. Es war einmal von Rom zerstört worden, von Sizilien und Sardinien vertrieben worden, wurde aber durch neue Besitzungen in Spanien mehr als entschädigt und brachte
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Hannibal hervor, der sechzehn Jahre lang der Schrecken der Römer war. Schließlich verlor es ein zweites Mal, söhnte sich mit seinem Schicksal aus und baute sich mit zerbrochenem Werkzeug auf geschrumpftem Herrschaftsgebiet ein neues Leben auf, hatte dabei soviel Erfolg, daß das neidische Rom einen dritten Krieg vom Zaune brach. Und Karthago, das nichts als seine nackten Hände und seine Beharrlichkeit hatte, baute Waffen und zwang Rom einen zweijährigen Krieg auf, der erst mit der völligen Zerstörung der Stadt endete, wobei sich die Einwohner lieber in ihre brennenden Häuser stürzten, als sich den Römern zu ergeben. »Konnten die Leute so für eine Stadt und eine Lebensart kämpfen, die den antiken Schriftstellern nach nur schlecht gewesen waren? Hannibal war ein besserer Heerführer als irgendeiner der Römer, und seine Soldaten waren ihm absolut treu ergeben. Selbst seine bittersten Feinde priesen ihn. Ein Karthager. Es ist üblich zu sagen, er sei kein typischer Karthager gewesen, sei besser als die anderen, ein Diamant in einem Haufen Mist. Aber warum war er dann Karthago so treu ergeben, durch Jahre des Exils hindurch bis in den Tod? Man spricht vom Moloch …« Foster hörte nicht immer zu, konnte manchmal aber nicht anders. Er schauderte zusammen und fühlte sich unwohl bei der grausamen Geschichte vom Kinderopfer. Doch Potterley fuhr ernst fort: »Auf jeden Fall ist es nicht wahr. Eine Ente, die vor zweitausendfünfhundert Jahren von den Griechen und Römern in die Welt gesetzt
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wurde. Die hatten selbst ihre Sklaven, ihre Kreuzigungen und Foltern, ihre Gladiatorenkämpfe. Die waren selbst keine Heiligen. Diese Geschichte vom Moloch ist etwas, was man später Kriegspropaganda genannt hätte, eine Riesenlüge. Ich kann beweisen, daß es eine Lüge ist. Ich kann es beweisen. Himmel, ich werde es beweisen …« In seinem Eifer murmelte er dieses Versprechen immer wieder vor sich hin. Mrs. Potterley leistete ihm auch Gesellschaft, allerdings weniger häufig, gewöhnlich an Dienstagen und Donnerstagen, wenn sich Dr. Potterley um einen Abendkursus kümmern mußte und nicht anwesend war. Sie saß ruhig da, sagte kaum etwas, hatte ein teigiges, schlaffes Gesicht mit leeren Augen und wirkte abwesend und in sich versunken. Beim ersten Mal versuchte Forster nervös, ihr nahezulegen zu gehen. Sie sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Störe ich Sie?« »Nein, natürlich nicht«, log Foster unruhig. »Es ist nur, daß …« Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Sie nickte, als fasse sie es als Einladung zum Bleiben auf. Dann öffnete sie einen Beutel, den sie mitgebracht hatte, entnahm ihm eine Lage Vitrontücher, die sie mit raschen und zarten Bewegungen zweiter dünner, vierflächiger Depolarisatoren miteinander verwob. Sie hatten dünne, batteriebetriebene Drähte, und sie sah aus, als halte sie eine große Spinne in den Händen.
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Eines Abends sagte sie leise: »Meine Tochter Laurel ist so alt wie Sie.« Foster fuhr auf, weil ihn Laut und Bedeutung der Worte gleich getroffen hatten. Er sagte: »Ich wußte nicht, daß Sie eine Tochter hatten, Mrs. Potterley.« »Sie starb. Vor vielen Jahren.« Die Vitrontücher formten sich unter den gewandten Bewegungen zum unregelmäßigem Umriß eines Kleidungsstücks, über das Foster sich noch keinen Reim machen konnte. Es blieb ihm nichts übrig, als dumm zu murmeln: »Tut mir leid.« Mrs. Potterley seufzte. »Ich träume oft von ihr.« Sie hob ihre blauen Augen und sah ihn an. Foster zuckte zusammen und blickte weg. An einem anderen Abend fragte sie, während sie an einem Vitrontuch zog, das sich sanft an sie gelegt hatte: »Was ist Zeitschau überhaupt?« Diese Bemerkung platzte mitten in eine besonders verwickelte Gedankenkette, und Foster sagte barsch: »Dr. Potterley kann es Ihnen erklären.« »Er hat's versucht. Aber ich glaube, er hat nicht viel Geduld mit mir. Die meiste Zeit nennt er es Chronoskopie. Kann man wirklich Dinge wie im Trimensionalfernsehen sehen? Oder tauchen nur kleine Punktmuster wie bei Ihrem Computer auf?« Foster blickte mit Abscheu auf seinen Tischcomputer. Er arbeitete nicht schlecht, aber jeder Rechengang mußte von
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Hand überwacht werden, und die Antworten wurden in Code ausgegeben. Wenn er nur den Universitätscomputer benutzen könnte … nun, warum träumen. Er kam sich schon auffällig genug vor, wenn er jeden Abend mit dem Tischcomputer unter dem Arm sein Büro verließ. Er sagte: »Ich habe das Chronoskop nie selbst gesehen, aber ich habe den Eindruck, daß man tatsächlich Bilder sehen und Geräusche hören kann.« »Man kann Leute auch reden hören?« »Ich glaube schon.« Dann sagte er halb verzweifelt: »Hören Sie, Mrs. Potterley, das hier muß schrecklich langweilig für Sie sein. Ich verstehe, daß Sie einen Gast nicht allein lassen wollen, aber Mrs. Potterley, Sie müssen sich wirklich nicht gezwungen fühlen …« »Ich fühle mich zu nichts gezwungen«, sagte sie. »Ich sitze hier und warte.« »Sie warten? Worauf?« Sie sagte gelassen: »Ich habe Sie an jenem ersten Abend belauscht. Als Sie sich zum ersten Mal mit Arnold unterhielten. Ich habe an der Tür gelauscht.« Er sagte: »Wirklich?« »Ich weiß, ich hätte es nicht tun sollen, aber ich machte mir solche Sorgen um Arnold. Ich hatte das Gefühl, er wollte etwas tun, das nicht recht war, und wollte wissen, worum es ging. Und als ich dann hörte …« Sie schwieg, beugte sich über das Vitron und starrte es aus der Nähe an. »Was haben Sie gehört, Mrs. Potterley?« »Daß Sie kein Chronoskop bauen wollten.« 370
»Selbstverständlich will ich keins bauen.« »Ich dachte, vielleicht überlegen Sie es sich noch mal.« Foster sah sie wütend an. »Soll das heißen, daß Sie hier 'runterkommen, weil Sie hoffen, ich werde ein Chronoskop bauen, weil Sie es abwarten wollen?« »Ach, hoffentlich tun Sie es, Dr. Foster.« Es war, als sei ganz plötzlich ein blasser Schleier von ihrem Gesicht gefallen, so klar und bestimmt sah auf einmal ihr Gesicht aus. Ihre Wangen färbten sich, ihre Augen belebten sich, ihre Stimme klang fast erregt. »Wäre es nicht herrlich«, flüsterte sie, »eins zu haben? Menschen der Vergangenheit könnten wieder zum Leben erwachen. Pharaonen und Könige und – einfach Menschen. Ich hoffe, Sie bauen eins, Dr. Foster. Ich hoffe – wirklich …« Sie verschluckte sich offenbar an der Dringlichkeit ihrer Worte und ließ die Vitrontücher vom Schoß gleiten. Sie erhob sich und rannte die Kellertreppe hinauf, während Foster ihre unbeholfene Flucht mit erstaunten Augen verfolgte. Es drang jetzt bis in Fosters Nächte, machte ihn schlaflos und schmerzlich angespannt vor Gedanken. Es war beinahe, als hätte er geistige Verdauungsbeschwerden. Sein Antrag auf Zuschuß nahm dank Ralph Nimmo endlich schleppend Gestalt an. Er machte sich kaum Hoffnungen. Dumpf dachte er: man wird ihn zurückweisen. Wenn das geschah, würde es in der Abteilung natürlich einen Skandal geben und wahrscheinlich bedeuten, daß 371
seine Anstellung an der Universität nach Ablauf des akademischen Jahres ein Ende finden würde. Es kümmerte ihn kaum. Es ging um das Neutrino, nichts als das Neutrino. Seine Spur wand sich und schlug Haken, die ihn auf unbekannte Pfade führten, die selbst Sterbinski und LaMarr nicht betreten hatten. Er rief Nimmo an. »Onkel Ralph, ich brauche ein paar Sachen. Ich rufe von der Universität aus an.« Nimmos Gesicht auf der Sichtscheibe wirkte freundlich, aber seine Stimme klang hart. »Was du brauchst, ist ein Kurs im Schreiben. Ich habe Riesenschwierigkeiten, deinen Antrag in eine verständliche Form zu bringen. Wenn du deshalb anrufst …« Foster schüttelte ungeduldig den Kopf. »Deshalb rufe ich nicht an. Ich brauch' das hier.« Er kritzelte rasch etwas auf ein Stück Papier und hielt es vor den Empfänger. Nimmo stieß einen Schrei aus. »He, was soll ich denn noch alles deichseln?« »Du kannst dir das beschaffen, Onkel, das weiß ich.« Nimmo las die Liste von Gegenständen und blickte ernst drein. »Was geschieht, wenn du diese Dinger zusammenbaust?« fragte er. Foster schüttelte den Kopf. »Was dabei auch herauskommt, du hast die Exklusivrechte der populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, wie immer. Aber stell mir jetzt bitte keine Fragen.« »Ich kann keine Wunder tun, weißt du.«
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»Tu wenigstens das eine Wunder. Du mußt einfach. Du bist wissenschaftlicher Schriftsteller, kein Forscher. Du bist niemandem Rechenschaft schuldig. Du hast Freunde und Verbindungen. Die können doch ein Auge zudrücken, damit du dich dann bei ihrer nächsten Veröffentlichung besonders anstrengst?« »Dein Glaube, mein Neffe, ist rührend. Ich werd's versuchen.« Nimmo hatte Erfolg. Das Material und die Geräte wurden eines Abends spät in einem Privatwagen herübergebracht. Nimmo und Foster schafften es mit dem Stöhnen von Männern herein, die keine körperliche Arbeit gewohnt waren. Als Nimmo gegangen war, stand Potterley am Kellereingang. Er fragte leise: »Wofür ist das alles?« Foster strich sich das Haar aus der Stirn und rieb sich sanft das verstauchte Handgelenk. Er sagte: »Ich möchte ein paar einfache Versuche durchführen.« »Wirklich?« Die Augen des Historikers blitzten vor Aufregung. Foster fühlte sich ausgenutzt. Er fühlte sich einen gefährlichen Weg entlanggezogen. Obwohl er die Katastrophe am Ende des Pfades deutlich lauern sah, ging er doch eifrig und entschlossen weiter. Am schlimmsten war – er spürte, daß er es selbst war, der sich weiterzog. Potterley hatte angefangen, Potterley, der da drüben stand und alles mit den Augen verschlang. Der Zwang ging jedoch von ihm, von Foster selbst aus.
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Foster sagte verdrossen: »Ich würde von jetzt an gerne ungestört sein, Potterley. Sie und Ihre Frau können nicht dauernd herunterkommen und mich stören.« Er dachte: wenn ihn das beleidigt, soll er mich 'rauswerfen. Soll er allem ein Ende machen. Tief in seinem Innern wußte er jedoch, daß ein Hinauswurf nichts aufhalten könnte. Aber dazu kam es gar nicht. Potterley war offensichtlich nicht beleidigt. Sein sanfter Blick blieb unverändert. Er sagte: »Natürlich, Dr. Foster, selbstverständlich. So ungestört Sie sein wollen.« Foster sah ihm nach. Er marschierte immer weiter auf seinem Weg, freute sich perverserweise darüber und konnte es nicht ausstehen, daß er sich freute. Er gewöhnte Sich an, in Potterleys Keller auf einem Feldbett zu schlafen und verbrachte alle Wochenenden dort. Während dieser Zeit wurde ihm inoffiziell mitgeteilt, daß sein Antrag auf Zuschuß bewilligt worden sei. Der Abteilungsleiter teilte es ihm mit, er gratulierte ihm. Foster starrte ihn kühl an und murmelte: »Schön. Ich freue mich.« Dabei klang er so wenig überzeugt, daß sich der andere mit einem Stirnrunzeln wortlos abwandte. Foster verschwendete keinen Gedanken daran. Eine Nebensächlichkeit, die es nicht wert war, beachtet zu werden. Er hatte etwas vor, was wirklich zählen würde, wollte an diesem Abend den entscheidenden Versuch unternehmen.
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Ein Abend, ein zweiter und dritter, dann rief er übernächtigt und halb außer sich vor Erregung Potterley zu sich. Potterley kam die Treppe herunter und ließ seinen Blick über die selbstgebastelten Apparate schweifen. Er sagte mit seiner sanften Stimme: »Die Elektrizitätsrechnungen sind ziemlich hoch. Mich stört die Ausgabe nicht, aber die Stadtverwaltung wird vielleicht anfragen. Kann man da etwas tun?« Der Abend war warm, aber Potterley hatte den Kragen geschlossen und trug eine Weste. Foster war im Unterhemd und sagte zitternd, wobei er die trüben Augen hob: »Es dauert nicht mehr lange, Dr. Potterley. Ich habe Sie hergerufen, weil ich Ihnen etwas mitteilen möchte. Man kann ein Chronoskop bauen. Selbstverständlich nur ein kleines, aber es geht.« Potterley faßte nach dem Treppengeländer. Er sackte zusammen. Er konnte gerade noch flüstern: »Kann man es hier bauen?« »Hier im Keller«, sagte Foster matt. »Guter Gott. Sie sagten doch …« »Ich weiß, was ich gesagt habe«, rief Foster ungeduldig. »Ich sagte, es ginge nicht. Damals hab' ich überhaupt nichts gewußt. Selbst Sterbinski wußte gar nichts.« Potterley schüttelte den Kopf. »Sind Sie sicher? Sie irren sich nicht, Dr. Foster? Ich könnte nicht ertragen, wenn …« Foster sagte: »Ich irre mich nicht. Verdammt noch mal, Mann, wenn es nur auf die Theorie ankäme, hätten wir schon vor über hundert Jahren einen Zeitschauapparat 375
gehabt, als man zum erstenmal annahm, es müsse ein Neutrino geben. Die Schwierigkeit war, daß die damaligen Forscher es nur als geheimnisvolles Teilchen ohne Masse und ohne Ladung ansahen, das nicht nachzuweisen war. Mit seiner Hilfe konnte man einfach die Buchführung ausgleichen und das Gesetz der Erhaltung der MassenEnergie aufrechterhalten.« Er war sich nicht sicher, ob Potterley wußte, wovon er sprach. Es war ihm gleich. Er hatte eine Atempause nötig. Er mußte den Hintergrund darstellen, damit er Potterley die nächste Mitteilung machen konnte. Er fuhr fort: »Sterbinski entdeckte als erster, daß das Neutrino die Schranke des Raum-Zeit-Gitters durchbricht, daß es sich ebenso durch die Zeit wie durch den Raum bewegt. Sterbinski war der erste, der ein Verfahren erfand, Neutrinos aufzuhalten. Er entwickelte ein Aufnahmegerät für Neutrinos und lernte, wie das Muster des Neutrinostroms zu deuten war. Natürlich war der Strom durch die Materie, die er durchdrungen hatte, beeinflußt und abgelenkt worden, durch die Materie, durch die er auf seiner Reise durch die Zeit gestoßen war, und die Ablenkungen konnten analysiert werden, umgesetzt werden in Bilder der Materie, von der die Ablenkung herrührte. Damit war Zeitschau möglich. Selbst die Schwingungen der Luft konnten auf diese Weise aufgespürt und in Ton umgewandelt werden.« Potterley hörte zweifellos nicht zu. Er sagte: »Jaja. Aber bis wann können Sie ein Chronoskop bauen?«
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Foster sagte nachdrücklich: »Lassen Sie mich ausreden. Alles hängt von dem Verfahren ab, mit dem der Neutrinostrom aufgespürt und analysiert wird. Sterbinskis Methode war schwierig und umständlich. Er brauchte Riesenmengen Energie. Aber ich habe Pseudogravitik studiert, die Wissenschaft von künstlichen Schwerkraftfeldern. Ich habe mich auf das Verhalten von Licht in solchen Feldern spezialisiert. Eine neue Wissenschaft. Sterbinski wußte nichts darüber. Wenn er etwas gewußt hätte, würde er wie jeder andere auch auf eine viel bessere und wirkungsvollere Methode gekommen sein, mit Hilfe eines pseudogravitischen Feldes die Neutrinos aufzuspüren. Wenn ich von Anfang an gleich mehr über Neutrinik gewußt hätte, wäre es mir sofort aufgefallen.« Potterleys Miene hellte sich ein wenig auf. »Ich wußte es«, sagte er. »Selbst wenn man die Forschung in der Neutrinik aufhält, so kann die Regierung doch nicht sicher sein, daß Entdeckungen auf anderen Wissenschaftsgebieten nicht auch Erkenntnisse über Neutrinik zur Folge haben werden. Soviel über den Wert zentralisierter Führung der Wissenschaft. Ich denke seit langem so, Dr. Foster, noch bevor sie herkamen, um hier zu arbeiten.« »Da gratuliere ich Ihnen«, sagte Foster. »aber da ist noch ein Punkt …« »Ach, lassen wir das doch. Sagen Sie mir bitte, wann können Sie ein Chronoskop bauen?«
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»Ich versuche die ganze Zeit, Ihnen etwas zu sagen, Dr. Potterley. Ein Chronoskop nützt Ihnen überhaupt nichts.« Potterley kam langsam die Treppe herab. Er blieb vor Foster stehen. »Wie meinen Sie das? Wieso nützt es mir nichts?« fragte er gepreßt. »Karthago werden Sie nicht sehen. Das ist's, was ich Ihnen sagen muß. Ich bin da allmählich draufgekommen. Sie können Karthago nie sehen.« Potterley schüttelte leicht den Kopf. »Aber nein, Sie haben unrecht. Wenn Sie das Chronoskop haben, dann stellen Sie es nur richtig scharf ein …« »Nein, Dr. Potterley. Es hat mit Scharfeinstellung nichts zu tun. Es gibt Zufallsfaktoren, die den Neutrinostrom beeinflussen, wie sie alle subatomaren Teilchen beeinflussen. Was wir Unschärfeprinzip nennen. Wenn der Strom aufgenommen und gedeutet wird, dann treten die zufälligen Faktoren als Trübung oder als ›Rauschen‹ auf, wie es die Jungs von den Massenmedien nennen. Je tiefer man in die Zeit zurücktaucht, desto stärker die Trübung, desto größer das Rauschen. Nach einiger Zeit wird das Bild vom Rauschen verschluckt. Verstehen Sie?« »Mehr Energie«, sagte Potterley mit erloschener Stimme. »Das nützt nichts. Wenn das Rauschen die Einzelheiten verschluckt, wird bei einer Vergrößerung der Einzelheiten auch das Rauschen mitvergrößert. Ein von der Sonne überbelichteter Film wird doch durch Vergrößern auch nicht besser, oder? Merken Sie sich eines: Der physikalischen Natur des Universums sind Grenzen 378
gesetzt. Die zufällige Wärmebewegung der Luftmoleküle setzt dem Grenzen, wie schwach Töne sein können, daß man sie noch mit einem Instrument messen kann. Die Länge der Lichtwellen, der Elektronenwellen setzt der Größe von Objekten, die mit irgendeinem Gerät betrachtet werden können, Grenzen. Bei der Chronoskopie ist es das gleiche. Die Zeitschau reicht nur soundso weit.« »Wie weit?« Foster holte tief Luft. »Hundertfünfundzwanzig Jahre. Allerhöchstens.« »Aber die Monatsschrift der Kommission befaßt sich fast ausschließlich mit alter Geschichte.« Der Historiker lachte unsicher. »Sie müssen sich irren. Die Regierung hat Unterlagen, die bis ins Jahr 3000 vor Christus zurückreichen.« »Seit wann sind Sie denn dazu übergegangen, ihr Glauben zu schenken?« wollte Foster spöttisch wissen. »Sie haben die Sache durch den Beweis ins Rollen gebracht, daß sie lügt, daß kein Historiker das Chronoskop benutzt hat. Begreifen Sie nicht, warum? Kein Historiker hätte etwas davon, von dem abgesehen, der sich für zeitgenössische Geschichte interessiert. Unter gar keinen Umständen kann man mit einem Chronoskop weiter als bis 1920 in die Zeit zurückblicken.« »Sie irren sich. Sie wissen nicht alles«, sagte Potterley. »Auch wenn es Ihnen unangenehm ist, das bleibt die Wahrheit. Sehen Sie ihr ins Gesicht. Die Regierung macht dabei insoweit mit, daß sie eine Falschmeldung bestehen läßt.« 379
»Warum?« »Ich weiß nicht, warum.« Um Potterleys Stupsnase zuckte es. Die Augen traten ihm aus dem Kopf. »Das ist nichts als Theorie, Dr. Foster. Bauen Sie ein Chronoskop. Bauen Sie eins und versuchen Sie es.« Foster packte Potterley plötzlich fest an den Schultern. »Glauben Sie etwa, ich hab's noch nicht getan? Glauben Sie, ich würde Ihnen das sagen, bevor ich mich nicht auf jede Weise vergewissert hätte? Ich habe eins gebaut. Sie stehen mitten in ihm drin. Schauen Sie!« Er rannte zu den Schaltern an den Kabeln. Er legte einen nach dem anderen um. Er drehte an einem Widerstand, stellte einige Knöpfe ein, schaltete die Kellerbeleuchtung aus. »Warten Sie. Es muß erst warm werden.« In der Nähe der Wandmitte tauchte ein schwaches Glimmen auf. Potterley brabbelte unzusammenhängendes Zeug, und Foster rief noch einmal« »Schauen Sie!« Das Leuchten wurde schärfer und heller, teilte sich in ein Muster aus Helligkeit und Dunkelheit auf. Männer und Frauen! Verschwommen. Arme und Beine lediglich Striche. Ein altmodischer Wagen sauste vorbei, nicht genau zu sehen, aber doch als einer zu erkennen, der mit einem Benzinverbrennungsmotor, wie man sie früher hatte, ausgerüstet war. Foster sagte: »Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, irgendwo. Ich kann noch kein Tongerät dranhängen, deswegen ist alles stumm. In der Zukunft werden wir auch Ton haben. Mitte zwanzigstes Jahrhundert ist übrigens das 380
Äußerste, wie weit man zurück kann. Glauben Sie mir, schärfer kann man es nicht einstellen.« Potterley sagte: »Bauen Sie einen größeren, stärkeren Apparat. Verbessern Sie die Schaltkreise.« »Mann, gegen das Unschärfeprinzip kommen Sie nicht an. Das ist das gleiche, als ob Sie auf der Sonne leben wollten. Dem, was man tun kann, sind physikalische Grenzen gesetzt.« »Sie lügen. Ich glaube Ihnen nicht. Ich …« Eine weitere Stimme mischte sich schrill ein, um nicht überhört zu werden. »Arnold! Dr. Foster!« Sofort drehte sich der junge Physiker herum. Dr. Potterley verharrte einen langen Augenblick wie angewurzelt und sagte dann, ohne sich umzudrehen: »Was gibt's, Caroline? Laß uns allein.« »Nein.« Mrs. Potterley kam die Treppe herunter. »Ich hab' alles gehört. Es war nicht zu überhören. Dr. Foster, Sie haben hier ein Zeitschaugerät? Hier im Keller?« »Allerdings, Mrs. Potterley. Eine Art Zeitschaugerät. Kein sehr gutes. Ich kann noch keinen Ton kriegen, und das Bild ist verdammt unscharf, aber es funktioniert.« Mrs. Potterley schlug die Hände zusammen und preßte sie dann gegen die Brust. »Herrlich, so etwas Herrliches!« »Es ist überhaupt nicht herrlich«, schnauzte Potterley. Der idiotische junge Mann kann nicht weiter zurück als bis …« »Hören Sie mal«, fing Foster gereizt an. 381
»Hört mir bitte zu!« rief Mrs. Potterley. »Arnold, verstehst du denn nicht, wenn es auch nur zwanzig Jahre zurückreicht, dann können wir Laurel wieder sehen? Was kümmert uns denn Karthago? Wir können Laurel sehen. Sie wird wieder leben für uns. Lassen Sie uns den Apparat hier, Dr. Foster. Zeigen Sie uns, wie man ihn bedient.« Foster starrte erst sie, dann ihren Mann an. Dr. Potterleys Gesicht war weiß wie die Wand. Obwohl seine Stimme leise und gleichmäßig blieb, hatte sie doch ihre Ruhe verloren. Er sagte: »Du bist närrisch.« Caroline sagte schwach: »Arnold!« »Ich sage, du bist närrisch. Was wirst du sehen? Die Vergangenheit, die tote Vergangenheit. Laurel wird nichts tun, was sie nicht schon getan hat. Wirst du irgend etwas sehen, was du nicht schon gesehen hast? Willst du wieder und wieder drei Jahre betrachten, ein Baby ansehen, das nie erwachsen werden wird, ganz gleich, wie oft du zusiehst?« Er sprach mit fast gebrochener Stimme weiter. Er trat auf sie zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Weißt du, was mit dir passieren wird, wenn du das tust? Man wird kommen und dich abholen, weil du verrückt werden wirst. Willst du in eine Heilanstalt kommen, eingesperrt werden, die psychische Sondierung über dich ergehen lassen?« Mrs. Potterley riß sich los. »Arnold, ich möchte mein Kind sehen! Laurel ist in dem Apparat, und ich möchte sie haben.«
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»Sie ist nicht in dem Apparat. Es ist nur ein Bild. Kannst du denn nicht verstehen? Ein Bild! Etwas, was keine Wirklichkeit hat.« »Ich möchte mein Kind. Hörst du mich?« Mit hämmernden Fäusten warf sie sich kreischend auf ihn. »Ich will mein Kind.« Der Historiker zog sich unter dem wilden Angriff schreiend zurück. Foster wollte sich zwischen sie werfen, aber Mrs. Potterley stürzte schluchzend zu Boden. Potterley drehte sich um und blickte verzweifelt in die Runde. Mit einem plötzlichen Sprung packte er eine Lando-Antenne, riß sie aus ihrer Halterung und wirbelte davon, bevor ihn Foster, der von dem Geschehen wie betäubt war, noch zurückhalten konnte. »Bleiben Sie stehen!« keuchte Potterley. »Oder ich bring' Sie um, das schwör' ich Ihnen!« Er holte mit Macht aus, und Foster sprang zurück. Potterley stürzte sich wie wild auf jedes Teil der Anlage im Keller, und Foster schaute ihm benommen zu. Potterley tobte sich aus und blieb dann mit zerbrochener Lando-Antenne in den Händen inmitten von Scherben und Schrott stehen. Flüsternd sagte er zu Foster: »Und jetzt verschwinden Sie hier! Lassen Sie sich nie wieder blicken. Wenn Sie Unkosten hatten, schicken Sie mir eine Rechnung, und ich werde zahlen. Ich gebe Ihnen die doppelte Summe dafür.« Foster zuckte mit den Achseln, nahm sein Hemd an sich und ging die Kellertreppe hinauf. Er konnte Mrs. Potterley laut schluchzen hören, und als er sich oben an der Treppe 383
zu einem letzten Blick umdrehte, sah er Dr. Potterley sich über sie beugen. Als sich zwei Tage später der Unterrichtstag seinem Ende zuneigte und sich Foster müde umsah, ob er Material zu seinem frisch bewilligten Vorhaben entdecken konnte, das er mit in seine Wohnung nehmen wollte, tauchte Dr. Potterley noch einmal auf. Er stand vor der offenen Tür zu Fosters Büro. Wie immer war der Historiker ordentlich gekleidet. Er hob die Hand zu einer Geste, die zu unbestimmt war, daß sie als Gruß gelten konnte, zu kümmerlich, um sie als Bitte aufzufassen. Foster starrte ihn kalt an. Potterley sagte: »Ich wartete bis fünf Uhr, bis Sie … darf ich hereinkommen?« Foster nickte. Potterley sagte: »Ich nehme an, ich sollte mich für mein Betragen entschuldigen. Ich war schrecklich enttäuscht, nicht mehr Herr meiner selbst. Es ist dennoch nicht zu entschuldigen.« »Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, sagte Foster. »Sonst noch etwas?« »Ich glaube, meine Frau hat Sie angerufen.« »Ja, allerdings.« »Sie ist recht hysterisch gewesen. Sie hat es mir erzählt, aber ich konnte nicht sicher sein, ob …« »Sie hat mich angerufen.«
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»Könnten Sie mir sagen – würden Sie so liebenswürdig sein und mir sagen, was sie wollte?« »Sie wollte ein Chronoskop. Sie sagte, sie verfüge über etwas eigenes Geld. Sie wollte es bezahlen.« »Haben Sie – irgendwelche Zusagen gegeben?« »Ich sagte, daß ich keine Fabrik bin.« »Gut«, flüsterte Potterley, und seine Brust dehnte sich in einem Seufzer der Erleichterung. »Nehmen Sie bitte keine Anrufe von ihr entgegen. Sie ist nicht recht …« »Hören Sie, Dr. Potterley«, sagte Foster, »ich will mich nicht in einen Ehestreit einmischen, aber Sie machen sich besser etwas klar. Jedermann kann sich ein Chronoskop bauen. Ein paar einfache Teile vorausgesetzt, die man sich über ein elektronisches Einkaufszentrum beschaffen kann, ist es in einer Heimwerkerstätte zu bauen. Den Bildteil auf jeden Fall.« »Aber außer Ihnen denkt doch niemand in der Richtung. Bis jetzt niemand.« »Ich habe nicht vor, es geheimzuhalten.« »Aber Sie können darüber nicht veröffentlichen. Es ist unerlaubte Forschung.« »Das ist mir jetzt gleich, Dr. Potterley. Wenn ich meinen Zuschuß verliere, dann verliere ich ihn eben. Wenn es der Universität nicht paßt, kündige ich. Es ist mir gleich.« »Sie können das aber nicht tun!« »Bis jetzt«, sagte Foster, »machte es Ihnen nichts aus, daß ich Zuschüsse und Stellung aufs Spiel setzte. Woher auf einmal die Rücksichtnahme? Ich möchte Ihnen etwas 385
erklären. Als Sie zuerst zu mir kamen, glaubte ich an eine organisierte, gelenkte Forschung. Mit anderen Worten an die Gegebenheiten, wie sie waren. Ich hielt Sie, Dr. Potterley, für einen intellektuellen Anarchisten und für gefährlich. Aber aus irgendeinem Grund bin ich selbst seit Monaten ein Anarchist und habe viel erreicht. Diese Sachen wurden nicht erreicht, weil ich ein glänzender Wissenschaftler bin. Ganz und gar nicht. Es war nur, daß die Forschung von oben gelenkt wurde und Löcher entstanden waren, die jeder füllen konnte, der in die richtige Richtung sah. Jeder hätte das tun können, hätte die Regierung nicht absichtlich versucht, es zu verhindern. Verstehen Sie mich richtig. Ich glaube immer noch, daß gelenkte Forschung nützlich sein kann. Ich bin nicht dafür, die totale Anarchie wieder einzuführen. Aber es muß einen Mittelweg geben. Die gelenkte Forschung kann geistige Beweglichkeit unterstützen. Einem Wissenschaftler muß wenigstens in seiner Freizeit gestattet sein, seiner Neugier zu folgen.« Potterley setzte sich. Mit einschmeichelnder Stimme sagte er: »Reden wir darüber, Foster. Ich schätze Ihren Idealismus. Sie sind jung. Sie wollen nach den Sternen greifen. Aber Sie können sich nicht durch Phantasievorstellungen darüber, wie die Forschung sein sollte, selbst zerstören. Ich habe Sie da hineingezogen. Ich bin dafür verantwortlich und mache mir die bittersten Vorwürfe. Ich handelte gefühlsbetont. Mein Interesse an Karthago machte mich blind, und ich war ein entsetzlicher Narr.«
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Foster unterbrach ihn: »Soll das heißen, daß Sie sich in zwei Tagen völlig geändert haben? Karthago bedeutet nichts? Unterdrückung der Forschung durch die Regierung auch nichts?« »Selbst ein verdammter Idiot wie ich kann dazulernen, Foster. Durch meine Frau habe ich etwas gelernt. Ich verstehe jetzt, warum die Regierung die Neutrinik unterdrückt hat. Vor zwei Tagen tat ich das nicht. Sie sahen, wie meine Frau auf die Neuigkeit reagierte, im Keller sei ein Chronoskop. Ich hatte an ein Chronoskop gedacht, das der Forschung nützlich sein sollte. Sie konnte nur an das persönliche Vergnügen denken, neurotisch, eine persönliche Vergangenheit wieder aufzusuchen, eine tote Vergangenheit. Foster, der reine Forscher ist in der Minderzahl. Leute wie meine Frau würden überwiegen. Wenn die Regierung die Chronoskopie gefördert hätte, hätte man Einblick in die Vergangenheit von jedermann nehmen können. Die Regierungsbeamten wären Erpressungen und ungebührlichem Druck ausgesetzt gewesen. Wer auf Erden hat denn eine Vergangenheit, die absolut sauber wäre? Eine organisierte Regierungsarbeit würde vermutlich ganz unmöglich werden.« Foster fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Die Regierung war in eigener Sache vielleicht dazu berechtigt. Und trotzdem geht es hierbei um eine wichtige Grundtatsache. Wer weiß, was sonst noch für wissenschaftliche Fortschritte vereitelt werden, weil die Wissenschaftler auf einen schmalen Pfad gezwungen werden. Wenn das Chronoskop für ein paar Politiker zum Schrecken wird, so ist das ein Preis, der gezahlt werden 387
muß. Die Öffentlichkeit muß einsehen, daß die Wissenschaft frei sein muß, und das kann ihr nicht dramatischer klargemacht werden, als meine Entdeckung irgendwie zu veröffentlichen, auf erlaubtem oder unerlaubtem Wege.« Potterleys Stirn war feucht vor Schweiß, seine Stimme blieb jedoch ruhig. »Oh, nicht nur ein paar Politiker, Dr. Foster. Glauben Sie das ja nicht. Es würde auch für mich zu einem Schrecken werden. Meine Frau würde ihre Zeit damit zubringen, mit unserer toten Tochter zu leben. Sie würde sich weiter aus der Wirklichkeit zurückziehen. Sie würde verrückt werden, wenn sie sich dieselben Szenen immer wieder ansieht. Es würde nicht nur mein Schrecken sein. Es würde viele wie sie geben. Kinder, die ihre toten Eltern suchen würden, oder ihre eigene Jugend. Die ganze Welt würde in der Vergangenheit leben. Der Gipfel des Wahnsinns.« Foster sagte: »Moralische Überlegungen können nicht berücksichtigt werden. Die ganze Geschichte hindurch gibt es nicht einen einzigen Fortschritt, den die schlaue Menschheit nicht verdreht hätte. Die Menschheit muß auch schlau genug sein, das zu verhindern. Und was das Chronoskop betrifft, wird es den Leuten, die in die tote Vergangenheit zurücktauchen, bald langweilig werden. Sie werden ihre geliebten Eltern bei etwas Unschönem erwischen und werden ihre Begeisterung für die ganze Sache los sein. Aber das ist alles unerheblich. Für mich ist das eine wichtige Sache, bei der es um das Prinzip geht.«
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Potterley sagte: »Zum Teufel mit Ihrem Prinzip. Können Sie außer dem Prinzip nicht auch Männer und Frauen verstehen? Verstehen Sie nicht, daß sich meine Frau das Feuer ansehen wird, daß unser Baby getötet hat? Sie wird es nicht lassen können. Ich kenne sie. Sie wird es sich Schritt für Schritt ansehen, versuchen, es zu verhindern. Sie wird es sich immer wieder ansehen und dabei jedesmal hoffen, daß es nicht passieren wird. Wie oft wollen Sie Laurel töten?« Seine Stimme war heiser geworden. Foster kam ein Gedanke. »Was wird sie eigentlich entdecken, Dr. Potterley, vor dem Sie so große Angst haben? Was an dem Abend geschah, als das Feuer ausbrach?« Der Historiker nahm rasch die Hände hoch, um sein Gesicht zu verdecken. Sie zitterten, während er trocken schluchzte. Foster wandte sich ab und blickte unbehaglich aus dem Fenster. Nach einiger Zeit sagte Potterley: »Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal daran denken mußte. Caroline war nicht da. Ich paßte auf das Kind auf. Später am Abend ging ich in das Schlafzimmer des Babys, um nachzusehen, ob es sich nicht freigestrampelt hatte. Ich hatte meine Zigarette bei mir. Damals rauchte ich. Ich muß sie ausgedrückt haben, bevor ich sie in den Aschenbecher auf der Kommode legte. Ich paßte immer auf. Mit dem Kind war alles in Ordnung. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und schlief vor dem Fernseher ein. Ich wachte hustend auf, und um mich herum brannte es. Ich weiß nicht, wie das Feuer ausgebrochen ist.« 389
»Aber Sie glauben, daß die Zigarette vielleicht der Grund war, oder?« sagte Foster. »Die Zigarette, die Sie vielleicht einmal nicht ausgedrückt haben?« »Ich weiß nicht. Ich versuchte, Laurel zu retten, aber sie lag tot in meinen Armen, als ich draußen war.« »Ich nehme an, Sie haben Ihrer Frau nie von der Zigarette erzählt?« Potterley schüttelte den Kopf. »Aber ich habe damit gelebt.« »Aber mit einem Chronoskop kann sie jetzt darauf kommen. Vielleicht war es gar nicht die Zigarette. Vielleicht haben Sie sie ausgedrückt. Wäre das nicht möglich?« Die wenigen Tränen auf Potterleys Gesicht waren getrocknet. Er sagte: »Das Risiko kann ich nicht eingehen. Aber es geht nicht nur um mich selbst, Foster. Die Vergangenheit hat für die meisten Leute Schrecken. Lassen Sie diese Schrecken nicht auf die Menschheit los.« Foster lief auf und ab. Irgendwie erklärte das Potterleys fanatischen, unvernünftigen Wunsch, die Karthager zu preisen, zu vergöttern, und vor allem die Berichte über ihre Feueropfer an Moloch zu widerlegen. Wenn er sie vom Vorwurf der Kinderverbrennung befreite, befreite er sich symbolisch vom selben Vorwurf. Dasselbe Feuer, das ihn dazu getrieben hatte, den Grund zum Bau eines Chronoskops zu legen, trieb ihn jetzt dazu, es zu vernichten. Foster sah den Älteren traurig an. »Ich verstehe Ihre Lage, Dr. Potterley, aber das alles hat mit persönlichen 390
Gefühlen nichts zu tun. Ich werde den Würgegriff an der Kehle der Wissenschaft nicht hinnehmen.« Potterley sagte bösartig: »Das soll wohl heißen, Sie wollen den Ruhm und den Reichtum, der mit einer solchen Entdeckung verbunden ist.« »Reichtum? Ich weiß nicht, aber wahrscheinlich den auch. Ich bin kein Übermensch.« »Sie werden Ihr Wissen nicht für sich behalten?« »Unter keinen Umständen.« »Nun, dann …« Foster erlebte einen merkwürdigen Moment der Furcht. Der Mann war älter als er, kleiner und zarter, und sah unbewaffnet aus. Und doch … Foster sagte: »Wenn Sie an so etwas Wahnsinniges denken, wie mich umzubringen, dann lassen Sie sich sagen, daß das Material in einem Stahlfach liegt, wo es die richtigen Leute finden werden, sollte ich verschwinden oder sterben.« Potterley sagte: »Seien Sie kein Idiot.« Dann ging er steif hinaus. Foster machte die Tür zu, schloß sie ab, und setzte sich, um nachzudenken. Er kam sich lächerlich vor. Natürlich hatte er kein Material in einem Stahlfach liegen. Gewöhnlich wäre ihm etwas so Überspanntes nicht eingefallen. Aber jetzt war es geschehen. Er kam sich noch lächerlicher vor, als er eine Stunde damit zubrachte, die Gleichungen für die Anwendung pseudogravitischer Optik auf das neutrinische
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Aufnahmeverfahren und einige Zeichnungen technischer Konstruktionsdetails niederzulegen. Er versiegelte sie in einem Umschlag und kritzelte Ralph Nimmos Namen darauf. Er verbrachte eine reichlich unruhige Nacht und gab den Umschlag am nächsten Morgen auf dem Weg zur Universität in der Bank ab. Dem Angestellten erteilte er besondere Anweisungen. Der ließ ihn ein Papier unterschreiben, daß das Schließfach nach seinem Tod geöffnet werden durfte. Foster rief Nimmo an und berichtete ihm von dem Umschlag, weigerte sich aber, etwas über den Inhalt zu sagen. Diese Nacht und die folgende fand Foster nur wenig Schlaf. Er sah sich dem Problem gegenüber, wie man Daten veröffentlichen konnte, die man auf unmoralische Art gesammelt hatte. Die Abhandlungen der Gesellschaft für Pseudo-Gravitik, die Zeitschrift, die er am besten kannte, würde gewiß keinen Aufsatz nehmen, bei dem die zauberische Fußnote fehlte: »Die Arbeit, die dieser Aufsatz beschreibt, wurde durch Zuschuß Nr. Soundso der Forschungskommission der Vereinten Nationen ermöglicht.« Und die Zeitschrift für Physik würde zweifellos genauso verfahren. Es gab immerhin kleinere Zeitschriften, die der Sensation halber den Artikel nicht so genau ansehen würden, aber das würde eine kleine finanzielle 392
Verhandlung erfordern, auf die einzugehen er Bedenken hatte. Vielleicht wäre es besser, die Druckkosten einer kleinen Broschüre zu übernehmen, die dann an alle Gelehrten verteilt werden könnte. In dem Fall wäre es ihm sogar möglich, auf die Dienste eines wissenschaftlichen Schriftstellers zu verzichten, den Glanz der Schnelligkeit zu opfern. Er müßte einen verläßlichen Drucker finden. Vielleicht kannte Onkel Ralph einen. Er ging den Flur hinunter zu seinem Büro und fragte sich unruhig, ob er das Risiko eingehen könne, von seinem Büro aus Ralph Nimmo anzurufen. Er war so tief in seine Gedanken versunken, daß er nicht merkte, daß jemand in seinem Zimmer war, bis er seinem Schrank den Rücken zukehrte und zum Schreibtisch ging. Dr. Potterley war da, und noch ein Mann, den Foster nicht kannte. Foster starrte sie an. »Was soll das?« Potterley sagte: »Es tut mir leid, aber ich mußte Ihnen Einhalt gebieten.« Foster starrte ihn immer noch an. »Wovon reden Sie?« Der Unbekannte sagte: »Ich möchte mich vorstellen.« Er hatte große, unregelmäßige Zähne, die deutlich in Erscheinung traten, wenn er lächelte. »Ich bin Thaddeus Araman, Leiter der Abteilung für Chronoskopie. Ich bin hier, um mich über eine Mitteilung mit Ihnen zu unterhalten, die uns Professor Arnold Potterley machte, und die uns eigene Quellen bestätigt haben …«
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Potterley sagte außer Atem: »Ich habe alle Schuld auf mich genommen, Dr. Foster. Ich erklärte, daß ich es war, der Sie gegen Ihren Willen zu dem unmoralischen Vorgehen überredet hat. Ich habe mich bereiterklärt, jede Verantwortung und jede Strafe auf mich zu nehmen. Ich möchte nicht, daß Ihnen irgend etwas angetan wird. Es ist nur so, daß keine Chronoskopie gestattet werden darf.« Araman nickte. »Wie er sagt, hat er die Schuld auf sich genommen, Dr. Foster, aber die Sache ist seinen Händen jetzt entglitten.« Foster sagte: »Und? Was wollen Sie machen? Mich bei der Verteilung von Forschungszuschüssen ganz übergehen?« »Das liegt in meiner Macht«, sagte Araman. »Der Universität befehlen, mich zu entlassen?« »Auch das liegt in meiner Macht.« »Na schön, nur zu. Betrachten Sie es als schon getan. Ich verlasse jetzt mit Ihnen mein Büro. Meine Bücher kann ich später holen lassen. Wenn Sie darauf bestehen, lasse ich meine Bücher sogar zurück. Genügt das?« »Nicht ganz«, sagte Araman. »Sie müssen sich verpflichten, auf dem Gebiet der Chronoskopie keine Forschung mehr zu betreiben, nichts von Ihren Entdeckungen in der Chronoskopie zu veröffentlichen und natürlich auch, kein Chronoskop zu bauen. Sie werden auf unbestimmte Zeit unter Aufsicht gestellt, damit wir sichergehen, daß Sie die Zusage einhalten.«
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»Angenommen, ich gebe diese Zusage nicht? Was können Sie tun? Außerhalb meines Gebiets zu forschen, mag unmoralisch sein, es ist jedoch kein Verbrechen.« »Mein junger Freund, im Fall der Chronoskopie«, sagte Ara man geduldig, »ist es ein Verbrechen. Wenn nötig, steckt man Sie ins Gefängnis und behält Sie dort.« »Weshalb?« schrie Foster. »Was ist denn so Geheimnisvolles an der Chronoskopie?« Araman sagte: »Es ist eben so. Wir können keine weitere Entwicklung auf dem Gebiet zulassen. Meine Aufgabe besteht vor allem darin, dafür zu sorgen, und ich habe vor, meine Aufgabe zu erfüllen. Leider wußte niemand in unserer Abteilung, auch ich nicht, daß sich die Optik pseudo-gravitischer Felder so direkt auf die Chronoskopie anwenden läßt. Da hat die allgemeine Unwissenheit eines ausgewischt bekommen, aber von jetzt an wird die Forschung auch in dieser Hinsicht richtig gelenkt werden.« Foster sagte: »Das wird nichts nützen. Etwas anderes kann vielleicht Verwendung finden, von dem weder Sie noch ich uns etwas träumen lassen. Die ganze Wissenschaft hängt zusammen. Sie ist ein Ganzes. Wenn Sie einen Teil aufhalten wollen, müssen Sie das Ganze aufhalten.« »Das ist zweifellos wahr«, sagte Araman, »in der Theorie. In der Praxis ist es uns doch ziemlich gut gelungen, die Chronoskopie auf dem ursprünglichen Stand zu halten, auf den sie Sterbinski vor fünfzig Jahren brachte. Da wir Sie zur rechten Zeit erwischt haben, Dr. Foster,
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hoffen wir, auch unbegrenzt so weitermachen zu können. Und wir hätten uns der Katastrophe nicht so weit genähert, wenn ich Dr. Potterley nicht nur nach seinem Aussehen beurteilt hätte.« Er wandte sich dem Historiker zu und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Sir, ich fürchte, ich betrachtete Sie kurzerhand als Geschichtsprofessor und nichts weiter, als wir uns zu unserer ersten Unterredung trafen. Wenn ich Sie hätte überprüfen lassen, dann wäre das nicht passiert.« Foster sagte plötzlich: »Darf das RegierungsChronoskop von jemand benutzt werden?« »Unter keinen Umständen darf es jemand benutzen, der nicht unserer Abteilung angehört. Ich sage das, weil mir klar ist, daß Sie es sich bestimmt schon gedacht haben. Ich warne Sie aber. Jede Verbreitung dieser Tatsache ist nicht nur unmoralisch, sondern ein Verbrechen.« »Und Ihr Chronoskop reicht auch nicht weiter zurück als hundertfünfundzwanzig Jahre?« »Genau.« »Dann ist Ihr Heft mit Geschichten über Zeitschau bis in die Antike zurück ein Schwindel?« Araman sagte kühl: »Bei dem Wissen, das Sie haben, sind Sie sich dessen doch ganz sicher. Trotzdem bestätige ich es Ihnen. Das Monatsheft ist ein Schwindel.« »In dem Fall«, sagte Foster, »werde ich mich nicht verpflichten, meine Kenntnis der Chronoskopie für mich zu behalten. Wenn Sie mich festnehmen wollen, nur zu.
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Meine Verteidigung vor Gericht wird ausreichen, das verwerfliche Kartenhaus gelenkter Forschung zum Einsturz zu bringen. Lenkung der Forschung ist eine Sache, sie zu unterdrücken und der Menschheit ihre Wohltaten vorzuenthalten, ist eine ganz andere.« Araman sagte: »Ach, seien wir doch ganz offen miteinander, Dr. Foster. Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten, verschwinden Sie sofort im Gefängnis. Sie werden keinen Anwalt und keine Anklageschrift sehen und auch keine Verhandlung vor Gericht bekommen. Sie werden einfach im Gefängnis bleiben.« Vor dem Büro rührte sich etwas, man hörte Schuhe klappern und einen schrillen Schrei, der Foster bekannt vorkam. Die Tür krachte mit splitterndem Schloß auf, und drei ineinander verknäulte Gestalten stürzten herein. Dabei hob einer der Männer einen Strahler in die Höhe und ließ seinen Kolben hart auf den Schädel eines der anderen Männer niedersausen. Man hörte ein pfeifendes Ausatmen, und der, dessen Kopf getroffen worden war, sackte zusammen. »Onkel Ralph!« schrie Foster. Araman runzelte die Stirn. »Legen Sie ihn in den Stuhl dort«, befahl er, »und holen Sie Wasser.« Ralph Nimmo rieb sich den Kopf und sagte: »Es bestand kein Anlaß, grob zu werden, Araman.« Araman sagte: »Der Wächter hätte eher grob sein müssen und Sie von hier fernhalten sollen, Nimmo. Wäre besser für Sie gewesen.« »Ihr kennt euch?« fragte Foster. 397
»Ich hatte mit dem Mann zu tun«, sagte Nimmo, der sich noch immer den Kopf rieb. »Mein lieber Neffe, wenn der hier in deinem Büro ist, dann steckst du in Schwierigkeiten.« »Und Sie auch«, sagte Araman erzürnt. »Ich weiß, daß Dr. Foster sich von Ihnen über Literatur zur Neutrinik beraten ließ.« »Na und?« sagte Nimmo. »Was wissen Sie denn noch von mir?« »Von Ihnen werden wir bald genug alles wissen. In der Zwischenzeit genügt die eine Sache, um Sie mit in den Fall hineinzuziehen. Was machen Sie hier?« »Mein lieber Dr. Araman«, sagte Nimmo, »dieser Esel von Neffe rief mich vorgestern an. Er hatte irgendwelches geheimnisvolles Material …« »Sag's ihm nicht!« rief Foster. Araman warf ihm einen kühlen Blick zu. »Wir wissen darüber Bescheid, Dr. Foster. Das Stahlfach in der Bank wurde geöffnet und sein Inhalt herausgenommen.« »Aber wie können Sie wissen …« Foster verstummte in wilder Verzweiflung. »Auf jeden Fall«, sagte Nimmo, »dachte ich mir, daß sich das Netz um ihn schließen würde, und nachdem ich ein paar Dinge erledigt hatte, kam ich her, um ihm zu sagen, er solle die ganze Sache fallenlassen. Seine Karriere ist wichtiger.« »Soll das heißen, Sie wissen, was er macht?« fragte Araman.
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»Er hat mir nie etwas gesagt«, sagte Nimmo, »aber ich bin ein wissenschaftlicher Schriftsteller, der höllisch Bescheid weiß. Ich weiß, wo das Atom seine Elektronen holt. Der Junge spezialisiert sich auf pseudo-gravitische Optik und hat mich selbst in sie eingeführt. Er brachte mich dazu, ihm ein Lehrbuch über Neutrinik zu besorgen, und ich habe selbst ein bißchen drin geblättert, bevor ich es weiterreichte. Ich kann die beiden Gebiete miteinander in Verbindung bringen. Er bat mich, bestimmte physikalische Sachen zu besorgen, und die waren mir auch Beweis. Unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre, aber mein Neffe hat ein zum Teil tragbares, niedergespanntes Chronoskop gebaut. Ja?« »Ja.« Araman griff gedankenverloren nach einer Zigarette und schenkte Dr. Potterley keine Beachtung, der stumm wie in einem Traum alles beobachtete und jetzt keuchend vor der Zigarette zurückwich. »Wieder ein Fehler. Ich sollte zurücktreten. Ich hätte auch Sie in die Zange nehmen müssen, Nimmo, anstatt mich zu sehr auf Potterley und Foster zu konzentrieren. Ich hatte natür lich nicht viel Zeit, und Sie sind ja auch sicher hier eingetrudelt, aber das ist keine Entschuldigung für mich. Sie sind verhaftet, Mr. Nimmo.« »Weshalb?« wollte der wissenschaftliche Schriftsteller wissen. »Unerlaubte Forschung.« »Hab' ich nicht gemacht. Kann ich gar nicht, da ich kein eingeschriebener Forscher bin. Und selbst wenn ich es getan hätte, ist es kein Verbrechen.«
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Foster sagte wütend: »Hat keinen Zweck, Onkel Ralph. Dieser Bürokrat macht seine eigenen Gesetze.« »Wie zum Beispiel?« wollte Nimmo wissen. »Ohne Verhandlung lebenslänglich Gefängnis.« »Blödsinn«, sagte Nimmo. »Wir leben nicht im zwanzigsten Jahrhundert …« »Hab' ich schon versucht«, sagte Foster, »Das stört ihn nicht.« »Also so ein Blödsinn«, schrie Nimmo. »Hören Sie mal, Araman, mein Neffe und ich, wir haben Verwandte, die mit uns noch in Verbindung stehen, wissen Sie. Ich nehme an, der Professor hat auch welche. Sie können uns nicht einfach verschwinden lassen. Es wird Fragen geben und einen Skandal. Wir leben wirklich nicht im zwanzigsten Jahrhundert. Wenn Sie versuchen wollen, uns Angst einzujagen, wird Ihnen das nicht gelingen.« Die Zigarette zwischen Aramans Fingern zerbrach, und er warf sie zornig fort. Er sagte: »Verdammt, ich weiß nicht, was ich tun soll. So etwas ist mir noch nie passiert … Hören Sie! Sie Narren wissen nicht, was Sie da vorhaben. Sie verstehen überhaupt nichts. Wollen Sie mir jetzt vielleicht zuhören?« »Wir hören schon«, sagte Nimmo verbissen. Foster saß schweigend da, biß die Zähne zusammen. Potterleys Hände bildeten ein Knäuel. Araman sagte: »Für Sie ist die Vergangenheit die tote Vergangenheit. Wenn Sie sich jemals darüber unterhalten haben, ist dieser Ausdruck gefallen, darauf möchte ich 400
wetten. Die tote Vergangenheit. Wenn Sie wüßten, wie oft ich diese drei Worte gehört habe, dann würde Ihnen dabei auch schlecht werden. Wenn die Leute an die Vergangenheit denken, dann denken sie, sie sei tot, weit entfernt und schon lange vorbei. Wir unterstützen sie in diesem Denken. Wenn wir über Zeitschau berichten, dann schreiben wir immer über vergangene Jahrhunderte, obwohl Sie, meine Herren, wissen, daß man etwas mehr als ein Jahrhundert zurückschauen kann. Die Leute schlucken es. Die Vergangenheit heißt Griechenland, Rom, Karthago, Ägypten, die Steinzeit. Je toter, desto besser. Sie wissen jetzt aber, daß über ein Jahrhundert etwa die Grenze ist. Was heißt für Sie also Vergangenheit? Ihre Jugend. Ihr erstes Mädchen. Ihre tote Mutter. Was vor zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren war. Je toter, desto besser … Aber wann fängt denn die Vergangenheit wirklich an?« Wütend hielt er inne. Die anderen starrten ihn an, und Nimmo machte eine unruhige Bewegung. »Schön«, sagte Araman. »Wann fängt sie an? Vor einem Jahr? Vor fünf Minuten? Vor einer Sekunde? Es ist doch offensichtlich, daß die Vergangenheit nur einen Augenblick von uns entfernt beginnt. Die tote Vergangenheit ist nur eine andere Bezeichnung für die lebendige Gegenwart. Und wenn Sie das Chronoskop auf die Vergangenheit richten, die ein Hundertstel einer Sekunde zurückliegt, beobachten Sie dann nicht die Gegenwart? Fangen Sie langsam an zu begreifen?«
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Nimmo sagte: »Verdammt noch mal.« »Verdammt noch mal«, äffte ihn Araman nach. »Als Potterley vorgestern abend mit der Geschichte zu mir kam, was glauben Sie wohl, wie ich Sie beide überprüft habe? Ich tat es mit dem Chronoskop und spähte bis zur Gegenwart die maßgeblichen Augenblicke aus.« »Deshalb wußten Sie von dem Schließfach?« sagte Foster. »Und über jede andere wichtige Sache. Was, glauben Sie, würde passieren, wenn wir die Öffentlichkeit erfahren lassen, daß es ein Heimchronoskop gibt? Die Leute könnten damit anfangen, ihre Jugend, ihre Eltern und so weiter anzusehen, aber es würde nicht lange dauern, bis sie auf alle Möglichkeiten kommen würden. Die Hausfrau wird ihre arme, tote Mutter vergessen und dazu übergehen, sich ihren Nachbarn in seinem Heim und ihren Mann im Büro anzusehen. Der Geschäftsmann wird seinen Konkurrenten, der Arbeitgeber seinen Angestellten überwachen. Es wird keine Privatsphäre mehr geben. Der Gemeinschaftstelefonanschluß, der Neugierige hinter dem Vorhang werden nichts dagegen sein. Die Fernsehstars werden unaufhörlich von jedermann genau beobachtet werden. Jeder sein Fenstergucker, und vor den Beobachtern gibt es kein Entrinnen. Selbst in die Dunkelheit wird man sich nicht flüchten können, da die Chronoskopie auf Infrarotstrahlung einstellbar ist, und menschliche Gestalten auf Grund ihrer Körperwärme sichtbar sind. Die Gestalten werden natürlich verschwommen sein, die Umgebung dunkel, aber das wird
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vielleicht den Kitzel des Ganzen nur noch erhöhen … Hm, die Männer, die für die Maschine verantwortlich sind, experimentieren jetzt manchmal, obwohl das gegen die Bestimmungen verstößt.« Nimmo fühlte sich anscheinend schlecht. »Sie können doch eine private Fabrikation verbieten …« Araman ging hitzig auf ihn los: »Das kann man, aber glauben Sie, es hilft etwas? Kann man mit Erfolg gesetzlich gegen Trinken, Rauchen, Ehebruch und Hinterhofklatsch vorgehen? Und diese Mischung aus Neugier und Lüsternheit kann man nicht stärker in die Zange nehmen als jene anderen Dinge. Mein Gott, in tausend Jahren ist es uns nicht einmal gelungen, den Heroinhandel zu zerschlagen, und Sie reden davon, gesetzlich ein Gerät zu verbieten, mit dem man jederzeit jeden Beliebigen beobachten kann, und das man zu Hause im Bastelraum herstellen kann.« Foster sagte plötzlich: »Ich werde nichts veröffentlichen.« Potterley platzte halb schluchzend heraus: »Keiner von uns wird reden. Ich bedaure …« Nimmo unterbrach ihn. »Araman, Sie sagten, daß Sie mich nicht mit dem Chronoskop überprüft haben.« »Keine Zeit«, sagte Araman matt. »Im Chronoskop läuft alles nicht schneller ab als im wirklichen Leben. Man kann es nicht schneller laufen lassen wie den Film in einem Buchbetrachter. Wir brachten ganze vierundzwanzig Stunden damit zu, die wichtigen Augenblicke der letzten sechs Monate im Leben von Potterley und Foster 403
herauszufinden. Wir hatten keine Zeit für etwas anderes, und es reichte uns auch.« »Es genügte nicht«, sagte Nimmo. »Wovon sprechen Sie?« Aramans Gesicht sah plötzlich unendlich besorgt aus. »Ich sagte Ihnen, daß mich mein Neffe Jonas angerufen hatte, um mir mitzuteilen, daß er wichtiges Material in ein Schließfach gelegt hatte. Er benahm sich so, als sei er in Schwierigkeiten. Er ist mein Neffe. Ich mußte versuchen, ihn aus der Klemme zu ziehen. Das dauerte seine Zeit. Dann kam ich her, um ihm zu sagen, was ich getan hatte. Als ich hier war, sagte ich Ihnen gleich, nachdem mich Ihr Mann niedergeschlagen hatte, daß ich ein paar Dinge erledigt habe.« »Was? So reden Sie doch …« »Nur das: ich habe die Einzelheiten über das tragbare Chronoskop an ein halbes Dutzend der Abnehmer meiner Veröffentlichungen geschickt.« Kein Wort. Kein Laut. Kein Atemzug. Sie hatten alle nichts mehr zu sagen. »Starrt mich nicht so an«, schrie Nimmo. »Könnt ihr mich nicht verstehen? Ich hatte die Rechte für populärwissenschaftliche Veröffentlichungen. Jonas wird es bestätigen. Ich wußte, daß es ihm gesetzlich unmöglich war, wissenschaftlich zu veröffentlichen. Ich war mir sicher, daß er heimlich veröffentlichen wollte und deshalb 404
das Schließfach brauchte. Ich dachte, wenn ich die Einzelheiten vorzeitig durchgebe, wird alle Verantwortung mich treffen. Seine Karriere wäre gerettet. Und wenn man mir dann meine Lizenz als wissenschaftlicher Schriftsteller nehmen würde, hätte ich durch meinen Alleinbesitz der chronometrischen Daten für mein Leben ausgesorgt. Ich nahm an, daß Jonas wütend sein würde, aber ich konnte ihm mein Motiv erklären, und wir würden halbe-halbe machen … Starrt mich nicht so an. Wie konnte ich wissen …« »Niemand wußte etwas«, sagte Araman bitter, »aber Sie alle nahmen stillschweigend an, daß die Regierung nichts als bürokratisch, idiotisch, niederträchtig, tyrannisch sei und einfach zum Spaß die Forschung unterdrücke. Keinem von Ihnen kam je der Gedanke, daß wir die Menschheit schützen wollten, so gut wir konnten.« »Was soll das Herumsitzen und Reden«, heulte Potterley. »Rufen Sie die Leute an, die die Mitteilung erhalten haben …« »Zu spät«, sagte Nimmo achselzuckend. »Die hatten mehr als einen Tag Zeit. Zeit, um es weiterzuerzählen. Meine Leute werden eine Reihe Physiker angerufen haben, um die Daten überprüfen zu lassen, bevor sie weitere Schritte unternehmen, und einer wird den nächsten anrufen, um die Sache herumzuerzählen. Sobald die Wissenschaftler Neutrinik und Pseudo-Gravitik zusammentun, wird die Heimchronoskopie offensichtlich. Bevor die Woche um ist, werden fünfhundert Leute wissen, wie man ein kleines Chronoskop bauen kann, und wie wollen Sie die alle schnappen?« Seine Pausbacken wurden 405
schlaff. »Ich nehme an, man kann die Atompilzwolke nicht wieder in diese hübsche, glänzende Urankugel zurückbringen.« Araman stand auf. »Wir werden es versuchen, Potterley, aber ich bin einer Meinung mit Nimmo. Es ist zu spät. Ich weiß nicht, wie die Welt von jetzt an sein wird, aber die Welt, die wir kennen, ist völlig zerstört. Bis jetzt konnte man bei jeder Gewohnheit, jeder kleinsten Lebensäußerung mit einer gewissen Menge privater Ungestörtheit rechnen, aber das ist jetzt alles vorüber.« Er grüßte jeden der drei mit ausgesuchter Höflichkeit. »Sie haben ganz allein eine neue Welt geschaffen. Meine Glückwünsche. Auf Ihr, auf mein, auf jedermanns ganz Spezielles und mögen Sie für immer in der Hölle braten. Verhaftung aufgeben.«
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Die schwindende Nacht (The Dying Night, 1956) Deutsch von Jürgen Saupe 1
Es war fast ein Klassentreffen, und obwohl es sich durch Freudlosigkeit auszeichnete, gab es noch keinen Grund zu der Annahme, es werde von einer Tragödie überschattet sein. Edward Talliaferro, frisch vom Mond und noch ohne Schwerkraftbeine, traf mit den beiden anderen im Zimmer von Stanley Kaunas zusammen. Kaunas erhob sich und grüßte ihn matt. Battersley Ryger blieb einfach sitzen und nickte nur. Talliaferro ließ seinen mächtigen Leib vorsichtig auf das Sofa sinken. Er war sich des ungewohnten Gewichts wohl bewußt. Er verzog leicht das Gesicht, und seine prallen Lippen zuckten inmitten des Haarkranzes, der seinen Mund auf Oberlippe, Kinn und Wangen umrahmte. Sie hatten sich an diesem Tag unter feierlicheren Umständen schon getroffen. Jetzt waren sie zum erstenmal allein, und Talliaferro sagte: »Das nenne ich ein Ereignis. Wir treffen uns seit zehn Jahren zum erstenmal seit unserer Promotion.«
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Die Nase von Ryger zuckte. Er hatte sie sich kurz vor jener Promotion gebrochen und hatte seinen akademischen Titel als Astronom mit einem Gesicht entgegengenommen, das durch einen Verband entstellt war. Er sagte mürrisch: »Hat jemand Champagner bestellt? Oder sonst was?« Talliaferro sagte: »Hör mal! Der erste große interplanetarische astronomische Kongreß ist nicht der Platz, um Trübsal zu blasen. Und dann mitten unter Freunden!« Kaunas sagte plötzlich: »Es ist die Erde. Man fühlt sich nicht wohl. Ich kann mich nicht an sie gewöhnen.« Er schüttelte den Kopf, doch sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck war nicht abzustreifen. Er blieb. Talliaferro sagte: »Ich weiß. Ich bin so schwer. Es zehrt meine ganze Kraft auf. Dabei bist du noch besser dran als ich, Kaunas. Die Schwerkraft auf dem Merkur ist 0,4 vom Normalwert. Auf dem Mond beträgt sie nur 0,16.« Ryger wollte sich eben äußern, aber er unterbrach ihn und sagte: »Und auf Ceres hat man künstliche Schwerkraftfelder, die auf 0,8 eingestellt sind. Du hast überhaupt keine Schwierigkeiten, Ryger.« Der Astronom von Ceres wirkte verärgert. »Das Freie ist es. Ohne einen Anzug unter freiem Himmel herumzulaufen, das schafft mich.« »Genau«, stimmte ihm Kaunas zu, »und die Sonne auf sich herunterbrennen lassen. Einfach so.« Talliaferro spürte, wie er unmerklich in die Vergangenheit abglitt. Sie hatten sich nicht sehr verändert. Er selbst auch nicht, meinte er. Selbstverständlich waren 408
sie alle zehn Jahre älter. Ryger war etwas dicker geworden, und das schmale Gesicht von Kaunas war leicht ledern geworden, aber er hätte beide wiedererkannt, wenn er sie überraschend getroffen hätte. Er sagte: »Ich glaube nicht, daß uns die Erde schafft. Sehen wir der Sache doch ins Auge.« Kaunas blickte mit einem Ruck auf. Er war ein kleiner Bursche mit raschen, nervösen Handbewegungen. Er trug gewöhnlich Sachen, die eine Spur zu groß für ihn wirkten. Er sagte: »Villiers! Ich weiß. Manchmal denke ich über ihn nach.« Dann, mit einem Anflug von Verzweiflung: »Ich habe einen Brief von ihm bekommen.« Ryger setzte sich kerzengerade auf, seine olivenfarbene Haut wurde noch dunkler, und er sagte mit Nachdruck: »Wirklich? Wann?« »Vor einem Monat.« Ryger wandte sich an Talliaferro: »Und du?« Talliaferro blinzelte gelassen und nickte. Ryger sagte: »Er ist verrückt geworden. Er behauptet, er habe eine brauchbare Methode gefunden, Masse durch den Raum zu übertragen. – Hat er das euch beiden auch mitgeteilt? – Da haben wir's also. Er war immer ein bißchen überspannt. Jetzt ist er übergeschnappt.« Er rieb sich heftig die Nase, und Talliaferro dachte an den Tag, an dem Villiers sie eingeschlagen hatte. Zehn Jahre lang hatte Villiers sie wie der undeutliche Schatten einer Schuld verfolgt, mit der sie eigentlich nichts zu tun hatten. Sie hatten sich zusammen auf die Promotion
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vorbereitet, vier ausgewählte und hingebungsvolle Männer, die für einen Beruf ausgebildet wurden, der in diesem Zeitalter interplanetarischen Reisens neue Höhepunkte erreicht hatte. Auf anderen Welten, die vom Vakuum umgeben waren, wo keine Luft die Sicht verdarb, wurden Observatorien eröffnet. Es gab das Mondobservatorium, von dem aus die Erde und die inneren Planeten beobachtet werden konnten. Eine Welt des Schweigens, in deren Himmel der heimische Planet hing. Das Merkurobservatorium, der Sonne am nächsten, saß auf dem Nordpol des Merkur, wo sich die Grenzlinie zwischen Tagund Nachtseite so gut wie gar nicht bewegte. Und die Sonne saß am Horizont fest und konnte auf alle kleinsten Einzelheiten hin beobachtet werden. Das Observatorium auf Ceres war das neueste, das modernste, hatte eine Reichweite vom Jupiter bis zu den entferntesten Milchstraßensystemen hinaus. Es gab natürlich auch Nachteile. Das interplanetarische Reisen war noch schwierig. Es gab nur wenig Urlaub, und so etwas wie ein normales Leben war praktisch unmöglich, aber es war eine glückliche Generation. Das Feld der Wissenschaft wurde jetzt so gut beackert, daß zukünftige Gelehrte nicht mehr viel Arbeit vorfinden würden, bis nicht durch die Erfindung eines interstellaren Antriebs neue Horizonte eröffnet wurden, die so ergiebig wie diese hier waren.
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Jeder dieser glücklichen vier, Talliaferro, Ryger, Kaunas und Villiers würde in der Lage Galileis sein, der als Besitzer des ersten richtigen Fernrohrs dieses Instrument nur auf irgendeine Stelle des Himmels zu richten brauchte, um eine bedeutende Entdekkung zu machen. Aber dann war Romero Villiers erkrankt, und es war Gelenkrheumatismus gewesen. Sein Herz war danach schwach und schlapp. Er war der Allerbegabteste der vier, der Eifrigste – und er konnte nicht einmal sein Studium abschließen und seinen Doktor machen. Noch schlimmer war, daß er die Erde nie verlassen konnte: die Beschleunigung beim Start eines Raumschiffs würde ihn getötet haben. Talliaferro war für den Mond vorgemerkt, Ryger für Ceres, Kaunas für den Merkur. Allein Villiers blieb zurück, ein lebenslänglicher Gefangener der Erde. Sie hatten versucht, ihm ihr Mitgefühl auszudrücken, doch Villiers hatte es beinahe haßerfüllt zurückgewiesen. Er hatte sie beschimpft und verflucht. Als Ryger die Beherrschung verlor und eine Faust schüttelte, hatte ihn Villiers schreiend angesprungen und Ryger die Nase eingeschlagen. Offensichtlich hatte Ryger das noch nicht vergessen, da er sich mit einem Finger vorsichtig das Nasenloch rieb. Kaunas wirkte unsicher, und seine Stirn hatte sich in ein Waschbrett von Falten verwandelt. »Wißt ihr, er nimmt am Kongreß teil. Er hat hier im Hotel ein Zimmer, Nummer vierhundertfünf.« 411
»Ich werde ihn nicht aufsuchen«, sagte Ryger. »Er kommt hierher. Er sagte, er möchte uns besuchen. Ich dachte – er sagte, um neun. Er wird jeden Augenblick hier sein.« »In diesem Fall«, sagte Ryger, »werde ich gehen, wenn es euch nichts ausmacht.« Er erhob sich. Talliaferro sagte: »Ach, warte doch. Was ist denn dabei, wenn du ihn siehst?« »Es hat keinen Sinn. Er ist verrückt.« »Und wenn schon. Wir sollten da nicht so kleinlich sein. Hast du vor ihm Angst?« »Angst!« Ryger warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Dann eben nervös. Was gibt es denn für einen Grund, nervös zu sein?« »Ich bin nicht nervös«, sagte Ryger. »Und wie nervös du bist. Wir haben alle ein Gefühl der Schuld wegen ihm, und das ohne Grund. Was auch passiert ist, es war nicht unsere Schuld.« Er sprach aber, als wolle er sich verteidigen, und es war ihm auch bewußt. Und als in diesem Augenblick die Türglocke ertönte, fuhren alle drei zusammen, drehten sich um und starrten unruhig auf die Schranke, die sich noch zwischen ihnen und Villiers befand. Die Tür ging auf, und Romero Villiers spazierte herein. Die anderen erhoben sich unbeholfen, um ihn zu begrüßen, blieben dann verlegen stehen, und nicht eine Hand wurde ausgestreckt. 412
Er starrte sie spöttisch an, bis sie die Fassung verloren. Er hat sich verändert, dachte Talliaferro. Allerdings. Er war in jeder Hinsicht zusammengeschrumpft. Ein gekrümmter Rücken ließ ihn noch kleiner aussehen. Unter sich lichtendem Haar glänzte die Kopfhaut, die Haut auf seinen Handrücken zeigte ein Geringel bläulicher Adern. Er sah schlecht aus. Es war anscheinend nichts mehr zu erkennen, was die Erinnerung an die Vergangenheit wieder wachrief, von seiner Angewohnheit abgesehen, die Augen mit einer Hand abzuschirmen, wenn er angestrengt schaute. Und wenn er sprach, so war da noch die gleichmäßige, beherrschte Baritonstimme. Er sagte: »Meine Freunde! Meine sich im Raum tummelnden Freunde! Wir haben uns aus den Augen verloren.« Talliaferro sagte: »Hallo, Villiers.« Villiers musterte ihn. »Dir geht's gut?« »Es geht.« »Und ihr beiden?« Kaunas schaffte es, leicht zu lächeln und murmelte etwas. Rygers platzte heraus: »Gut, Villiers. Was gibt's?« »Der zornige Ryger«, sagte Villiers. »Was macht Ceres?« »Der ging's gut, als ich abflog. Was macht die Erde?« »Da kannst du selbst nachsehen.«
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Er fuhr fort: »Ich hoffe, der Grund, warum ihr an dem Kongreß teilnehmt, ist der, daß ihr meinen Vortrag übermorgen hören wollt.« »Deinen Vortrag? Was für einen Vortrag?« fragte Talliaferro. »Ich habe euch alles darüber geschrieben. Mein Verfahren der Massenübertragung.« Ryger verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. »Ja, das hast du. Du hast zwar nichts von einem Vortrag erwähnt, und ich erinnere mich auch nicht daran, daß du als einer der Redner aufgeführt bist. Mir wäre das sicher aufgefallen.« »Du hast recht. Ich bin nicht aufgeführt. Ich habe auch keinen Abriß davon zur Veröffentlichung vorbereitet.« Villiers war rot geworden, und Talliaferro sagte beschwichtigend: »Immer mit der Ruhe. Du siehst nicht gut aus.« Villiers wirbelte mit verzerrten Lippen herum. »Mein Herz schafft's schon, besten Dank.« Kaunas sagte: »Hör mal, Villiers, wenn du nicht aufgeführt bist, und kein Abriß …« »Hör du mal lieber zu. Ich habe zehn Jahre lang gewartet. Ihr habt eure Stellen im Raum, und ich muß auf der Erde Unterricht geben, aber ich bin besser als jeder einzelne von euch oder ihr alle zusammengenommen.« »Zugegeben …« fing Talliaferro an. »Und deine herablassende Art kannst du dir auch sparen. Mandel war Zeuge. Ich hoffe, ihr habt von Mandel schon 414
gehört. Nun, er ist Vorsitzender der astronautischen Gruppe hier bei dem Kongreß, und ich habe ihm die Massenübertragung vorgeführt. Die Anlage war primitiv und brannte nach einmaligem Gebrauch durch, aber … Hört ihr überhaupt zu?« »Wir hören zu«, sagte Ryger kühl, »wenn das überhaupt wichtig ist.« »Er wird mich auf meine Weise darüber reden lassen. Darauf könnt ihr Gift nehmen. Keine Vorankündigung. Keine Anzeige. Ich werde es wie eine Bombe loslassen. Wenn ich ihnen die grundlegenden Gleichungen vorlege, um die es dabei geht, dann wird der Kongreß platzen. Sie werden zu ihren heimatlichen Plätzen auseinanderstieben, um meine Angaben zu überprüfen und Anlagen zu bauen. Und sie werden merken, es geht. Ich habe in meinem Labor eine lebendige Maus an einer Stelle verschwinden und an einer anderen wieder auftauchen lassen. Mandel war Zeuge.« Er blickte sie an, stierte erst in ein Gesicht, dann in ein anderes. Er sagte: »Ihr glaubt mir nicht, was?« Ryger sagte: »Wenn du keine Vorankündigung willst, warum erzählst du es uns dann?« »Mit euch ist das etwas anderes. Ihr seid meine Freunde, meine Studienfreunde. Ihr seid in den Raum hinaus und habt mich zurückgelassen.« »Das war nicht Absicht, widersprach Kaunas mit leiser, hoher Stimme.«
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Villiers ging nicht darauf ein. Er sagte: »Ich möchte also, daß ihr es jetzt wißt. Was mit einer Maus geht, wird auch mit einem Menschen gehen. Wenn etwas in einem Labor drei Meter weit bewegt werden kann, so wird es im Raum eine Million Kilometer weit bewegt werden können. Ich werde auf dem Mond und auf dem Merkur und auf Ceres sein und überall, wo ich hin will. Ich werde es mit jedem von euch aufnehmen, und noch mehr. Beim Unterrichten und Nachdenken habe ich mehr für die Astrono mie getan, als ihr alle mit euren Observatorien und Fernrohren und Kameras und Raumschiffen.« »Schön«, sagte Talliaferro, »freut mich. Mehr Einfluß für dich. Kann ich eine Abschrift des Vortrages sehen?« »Nein.« Villiers preßte seine Hände an die Brust, als hielte er eingebildete Blätter und schirme sie vor Blicken ab. »Du wartest wie alle anderen auch. Es gibt nur eine einzige Reinschrift, und niemand wird sie sehen, bis ich nicht soweit bin. Nicht einmal Mandel.« »Eine Reinschrift«, rief Talliaferro. »Wenn du sie verlegst …« »Das werde ich nicht. Und wenn, ich habe alles im Kopf.« »Wenn du …« Talliaferro hätte den Satz beinahe mit »stirbst« beendet, unterbrach sich aber. Statt dessen fuhr er nach einer fast unmerklichen Pause fort: » .. nur ein bißchen Vernunft hast, dann machst du wenigstens eine Aufnahme mit dem Schnellblikker. Aus Gründen der Sicherheit.«
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»Nein«, sagte Villiers barsch. »Ihr werdet mich übermorgen hören. Ihr werdet den menschlichen Gesichtskreis mit einem Schlag erweitert sehen, wie er nie zuvor erweitert wurde.« Wieder schaute er angestrengt in jedes Gesicht. »Zehn Jahre«, sagte er. »Auf Wiedersehen.« »Er ist verrückt«, explodierte Ryger und schaute auf die Tür, als stünde Villiers noch immer dort. »Wirklich?« sagte Talliaferro nachdenklich. »Auf gewisse Art schon, glaube ich. Er haßt uns aus völlig irrationalen Gründen. Und dann, seinen Vortrag aus Sicherheitsgründen nicht einmal mit dem Schnellblicker …« Talliaferro faßte nach seinem eigenen kleinen Schnellblicker, während er das sagte. Ein unauffällig gefärbter, einfacher Zylinder, etwas dicker und etwas kürzer als ein gewöhnlicher Bleistift. In den letzten Jahren war er zum Kennzeichen des Wissenschaftlers geworden, so wie das Stethoskop zum Arzt und der Mikrocomputer zum Statistikfachmann gehörten. Den Schnellblicker trug man in einer Jackentasche, an einen Ärmel gesteckt oder an einer Schnur baumelnd. Wenn Talliaferro manchmal zum Nachdenken aufgelegt war, dann fragte er sich, wie es war, als die Männer der Forschung sich mühselig Notizen über das Gelesene machen mußten oder Ab drucke in Normalgröße aufzubewahren hatten. Wie unbeholfen!
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Heute brauchte man nur alles Gedruckte oder Geschriebene mit dem Schnellblinker aufnehmen, dann hatte man einen Mikrofilm, der bei Gelegenheit entwickelt werden konnte. Talliaferro hatte schon jeden Abriß, den das Programmheft des Kongresses enthielt, aufgenommen. Die anderen beiden, so nahm er mit Sicherheit an, hatten das gleiche getan. Talliaferro sagte: »So, wie die Dinge liegen, ist es verrückt, keine Aufnahme mit dem Schnellblicker zu machen.« »Du lieber Raum!« sagte Ryger heftig. »Es gibt keinen Vortrag. Es gibt keine Entdeckung. Ihm käme jede Lüge gelegen, uns eins auszuwischen.« »Aber was wird er dann übermorgen machen?« fragte Kaunas. »Woher soll ich das wissen? Er ist verrückt.« Talliaferro spielte noch mit seinem Schnellblicker und fragte sich so nebenbei, ob er nicht ein paar der winzigen Filmstückchen herausnehmen und entwickeln solle, die in seinem Innern warteten. Er entschied sich dagegen. Er sagte: »Unterschätze Villiers nicht. Er ist ein kluger Kopf.« »Vor zehn Jahren war er das vielleicht«, sagte Ryger. »Jetzt spinnt er. Ich schlage vor, wir denken nicht mehr an ihn.« Er redete laut, als wolle er Villiers und alles, was mit ihm zusammenhing, durch die schiere Lautstärke dessen, was er vorbrachte, austreiben. Er sprach über Ceres und seine Arbeit Messung der Radiostrahlung der Milchstraße
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mit neuen Radioteleskopen, die Einzelsterne auflösen konnten. Kaunas hörte zu und nickte, meldete sich dann mit Einzelheiten, die sich mit der Radiostrahlung von Sonnenflecken und seinem Vortrag befaßten. Der Vortrag sollte auch gedruckt werden. Er behandelte den Zusammenhang zwischen Protonenstürmen und den riesigen Protuberanzen der Sonnenoberfläche. Talliaferro trug nur wenig zur Unterhaltung bei. Die Arbeit auf dem Mond war vergleichsweise uninteressant. Die letzten Neuigkeiten über Langzeitwettervoraussagen auf Grund direkter Beobachtungen der Jet-Strömungen der Erde konnten Radioteleskope und Protonenstürme nicht ausstechen. Und außerdem konnte er nicht aufhören, über Villiers nachzudenken. Villiers war der Kopf. Sie wußten das alle. Auch Ryger mußte trotz seines Schimpfens spüren, daß Villiers ein wahrer Entdecker war. Bei der Besprechung ihrer eigenen Arbeit mußten sie schließ lich unruhig zugeben, daß keiner von ihnen viel erreicht hatte. Talliaferro hatte sich an die Fachliteratur gehalten und war sich dessen bewußt. Seine eigenen Arbeiten waren zweitrangiger Natur. Die beiden anderen hatten nichts recht Bedeutendes hervorgebracht. Wenn man den Tatsachen ins Auge blickte, so hatte keiner von ihnen sich zu einem entwickelt, der den Raum aus den Angeln heben konnte. Die Träume ihrer Universitätszeit waren nicht Wirklichkeit geworden. Da war nichts zu machen. Sie waren fähig, Routinearbeiten geschickt zu erledigen. Das wenigstens konnten sie. Leider aber auch nicht mehr. 419
Villiers hätte mehr sein können. Das wußten sie auch. Und auf Grund dieses Wissens und ihrer Schuldgefühle blieben sie ihm feindlich gesinnt. Talliaferro spürte unruhig, daß Villiers trotz allem noch immer mehr sein würde. Die anderen dachten sicher auch so, und Mittelmäßigkeit konnte rasch unerträglich werden. Der Vortrag über Massenübertragung würde gehalten werden, und Villiers würde endlich der große Mann sein, der er anscheinend immer werden sollte, während man seine Studienkollegen vergessen würde. Ihnen würde nur noch die Rolle zufallen, aus der Menge Beifall zu spenden. Er spürte seinen Neid, seine Enttäuschung und schämte sich, aber spürte sie deshalb nicht weniger. Die Unterhaltung erstarb, und Kaunas sagte mit abgewandten Augen: »Hört mal, warum schauen wir nicht beim alten Villiers vorbei?« Da schwang falsche Herzlichkeit mit, da merkte man ein gar nicht überzeugendes Bemühen, gleichgültig zu scheinen. Er fügte hinzu: »Hat keinen Sinn, daß wir uns im Unguten trennen unnötigerweise …« Talliaferro dachte: Er möchte genau Bescheid über die Massenübertragung wissen. Er hofft, daß es nur der Alptraum eines Verrückten ist, damit er heute nacht schlafen kann. Er war jedoch selbst neugierig und hatte nichts dagegen einzuwenden. Ryger zuckte mißmutig mit den Schultern und sagte: »Teufel, warum nicht?« Es war eben kurz vor elf.
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Talliaferro wurde durch das hartnäckige Klingeln seiner Türglocke aufgeweckt. Er stützte sich in der Dunkelheit auf einen Ellbogen und war unverkennbar empört. Das sanfte Leuchten der Uhr an der Decke zeigte, daß es noch nicht einmal vier Uhr morgens war. Er rief: »Wer ist da?« Die Glocke gab weiter hartnäckig Klingelzeichen. Talliaferro schlüpfte brummend in seinen Morgenmantel. Er öffnete die Tür und blinzelte in das Licht des Flurs hinaus. Er kannte den Mann, der ihm gegenüberstand, von den dreidimensionalen Fernsehsendungen. Der Mann sagte nichtsdestoweniger in barschem Flüsterton: »Ich heiße Hubert Mandel.« »Ja, Sir«, sagte Talliaferro. In der Astronomie war Mandel einer der großen Namen, so berühmt, daß er eine wichtige leitende Stelle im Weltbüro für die Astronomie bekleidete, so tatkräftig, daß er hier auf dem Kongreß Vorsitzender der astronautischen Gruppe war. Talliaferro fiel plötzlich ein, daß Villiers behauptet hatte, Mandel die Massenübertragung vorgeführt zu haben. Der Gedanke an Villiers wirkte irgendwie ernüchternd. Mandel sagte: »Sie sind Dr. Edward Talliaferro?« »Ja, Sir« »Dann ziehen Sie sich an und kommen Sie mit. Es ist sehr wichtig. Es geht um einen gemeinsamen Bekannten.« »Dr. Villiers?«
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Mandels Blick wurde ein wenig unruhig. Seine Augenbrauen und Wimpern waren so blond, daß seine Augen nackt und ungesäumt aussahen. Er hatte dünnes, seidiges Haar, und er war etwa fünfzig. Er sagte: »Wie kommen Sie auf Villiers?« »Er sprach gestern abend von ihnen. Ich weiß von keinem anderen gemeinsamen Bekannten.« Mandel nickte, wartete, bis Talliaferro in seine Sachen geschlüpft war, drehte sich dann um und ging voraus. In einem Zimmer einen Stock über dem von Talliaferro warteten Ryger und Kaunas. Die Augen Kaunas waren gerötet. Er sah besorgt aus. Ryger paffte aufgeregt eine Zigarette. Talliaferro sagte: »Wir sind alle da. Schon wieder ein Klassentreffen.« Man ging nicht darauf ein. Er setzte sich, und die drei starrten sich an. Ryger zuckte mit den Achseln. Mandel schritt auf und ab und hatte die Hände tief in den Taschen vergraben. Er sagte: »Meine Herren, es tut mir leid, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten mußte, und ich danke Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft. Mir wäre es lieb, wenn Sie mir noch weiter helfen würden. Ihr Freund Romero Villiers ist tot. Vor etwa einer Stunde wurde seine Leiche aus dem Hotel getragen. Nach ärztlicher Ansicht starb er an einem Herzversagen.« Alles schwieg verblüfft. Ryger führte seine Zigarette nicht bis zum Mund, ließ sie auf halbem Weg langsam sinken. »Der arme Teufel«, sagte Talliaferro. 422
»Schrecklich«, flüsterte Kaunas heiser. »Er war …« Seine Stimme brach. Ryger schüttelte sich. »Nun, er hatte ein schwaches Herz. Da ist nichts zu machen.« »Bis auf eine Kleinigkeit«, stellte Mandel richtig. »Es kann noch etwas gutgemacht werden.« »Was soll das heißen?« fragte Ryger heftig. Mandel sagte: »Wann haben Sie ihn alle zuletzt gesehen?« Talliaferro antwortete. »Gestern abend. Es war ein richtiges Klassentreffen. Seit zehn Jahren sahen wir uns zum erstenmal wieder. Leider muß ich sagen, daß es kein angenehmes Treffen war. Villiers meinte, mit gutem Grund wütend auf uns sein zu können, und er war wütend.« »Wann – war das?« »Das erste Treffen so gegen neun.« »Das erste?« »Wir haben ihn dann später noch einmal gesehen.« Kaunas blickte besorgt drein. »Er hatte uns im Zorn verlassen. Wir konnten es nicht dabei bewenden lassen. Wir mußten es versuchen. Schließlich waren wir alle einmal Freunde gewesen. Wir gingen also zu seinem Zimmer und …« Mandel platzte los: »Sie waren alle in seinem Zimmer?« »Ja«, sagte Kaunas überrascht. »Wann war das etwa?« »Ich glaube, um elf.« Er sah die anderen an. Talliaferro nickte. 423
»Und wie lange sind Sie geblieben?« »Zwei Minuten«, warf Ryger ein. »Er wies uns hinaus, als wären wir hinter seinem Vortrag her.« Er schwieg, als erwarte er, Mandel würde fragen, was für ein Vortrag gemeint sei, aber Mandel sagte nichts. Er fuhr fort: »Ich glaube, er hatte ihn unter seinem Kopfkissen, während er uns zuschrie, wir sollten verschwinden.« »Vielleicht lag er da schon im Sterben«, sagte Kaunas vor Entsetzen flüsternd. »Da noch nicht«, sagte Mandel barsch. »Sie haben wahrscheinlich also alle Fingerabdrücke hinterlassen.« »Wahrscheinlich«, sagte Talliaferro. Etwas von dem Respekt, den er automatisch Mandel gegenüber verspürt hatte, verschwand jetzt, und er spürte langsam Ungeduld aufsteigen. Mandel ging hin oder her, es war vier Uhr morgens. Talliaferro sagte: »Worum geht es hier eigentlich?« »Also, meine Herren«, sagte Mandel, »es geht beim Tod von Villiers um mehr als nur die Tatsache, daß er tot ist. Der Vortrag von Villiers, die einzige Reinschrift davon, war in den elektrischen Zigarettenschlucker gestopft worden, und es waren nur noch ein paar Fetzen übrig. Ich habe den Vortrag nie gesehen oder gelesen, aber ich weiß genug über die Materie Bescheid, um, wenn nötig, vor Gericht beschwören zu können, daß die Reste des unverbrannten Papiers in dem Schlucker zu dem Vortrag gehörten, den er auf diesem Kongreß halten wollte. – Sie haben anscheinend Zweifel, Dr. Ryger.«
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Ryger lächelte mürrisch. »Ich bezweifle, daß er ihn gehalten haben würde. Sir, wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich glaube, er war verrückt. Zehn Jahre lang war er ein Gefangener der Erde, und er flüchtete sich in den Traum von einer Massenübertragung. Das war vielleicht das einzige, was ihn am Leben erhielt. Er hat irgendeine betrügerische Vorführung zustande gebracht. Ich behaupte nicht, es war absichtlicher Betrug. Ihm war wahrscheinlich wahnsinnig ernst damit, und er war ernsthaft wahnsinnig. Gestern abend kam es zum Höhepunkt. Er kam in unser Zimmer – er haßte uns, weil wir der Erde entkommen waren – und feierte seinen Triumph über uns. Zehn Jahre lang hatte er dafür gelebt. Vielleicht hat ihn dieses Ereignis in eine Art geistige Gesundheit zurückgestoßen. Er wußte, daß er den Vortrag gar nicht wirklich halten konnte. Es gab nichts, worüber er hätte reden können. Er verbrannte ihn also, und sein Herz setzte aus. Wirklich zu schade.« Mandel hörte sich den Astronomen von Ceres mit dem Gesichtsausdruck deutlichen Mißfallens an. Er sagte: »Sehr schlag fertig, Dr. Ryger, aber ganz und gar falsch. Ich lasse mich nicht so leicht durch betrügerische Vorführungen täuschen, wie Sie vielleicht glauben mögen. Ich war gezwungen, die Angaben, die Sie bei der Anmeldung im Hotel gemacht haben, rasch nachzusehen, und danach waren Sie auf dem College seine Studienkollegen. Stimmt das?« Sie nickten. »Sind hier auf dem Kongreß noch weitere Studienkollegen von Ihnen anwesend?«
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»Nein«, sagte Kaunas. »In der Astronomie waren wir damals die einzigen, die für eine Doktorarbeit zugelassen wurden. Auch er wäre zugelassen worden, wenn er nicht …« »Ja, ich verstehe«, sagte Mandel. »Nun, in diesem Fall hat einer von Ihnen dreien um Mitternacht Villiers noch ein letztes Mal in seinem Zimmer aufgesucht.« Es herrschte kurzes Schweigen. Dann sagte Ryger kühl: »Ich nicht.« Kaunas schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. Talliaferro sagte: »Worauf wollen Sie hinaus?« »Einer von Ihnen kam gegen Mitternacht zu ihm und verlangte, den Vortrag zu sehen. Den Beweggrund kenne ich nicht. Es ist vorstellbar, daß die Absicht bestand, einen Herzanfall herbeizuführen. Als Villiers zusammenbrach, war der Verbrecher, wenn ich ihn so nennen darf, bereit. Er riß den Vortrag an sich, der vermutlich unter dem Kopfkissen lag und nahm ihn mit seinem Schnellblicker auf. Dann vernichtete er den Vortrag im Zigarettenschlucker. Er war jedoch in Eile, und die Vernichtung gelang nicht vollkommen.« Ryger unterbrach ihn. »Woher wissen Sie das alles? Waren Sie dabei?« »Beinahe«, sagte Mandel. »Villiers war bei seinem ersten Zusammenbruch noch nicht gleich tot. Als der Verbrecher ging, gelang es Villiers, ans Telefon zu kommen und mein Zimmer anzurufen. Er würgte ein paar Sätze heraus, die genügten, um den Vorfall zu umreißen. Leider war ich nicht auf meinem Zimmer. Eine späte 426
Besprechung hielt mich auf. Aber mein Telefonadapter hat das Gespräch aufgenommen. Ich spiele das Band immer ab, wenn ich auf mein Zimmer oder in mein Büro zurückkomme. Eine Beamtenangewohnheit. Ich rief zurück. Er war tot.« »Also dann«, sagte Ryger, »wen hat er als Täter angegeben?« »Niemanden. Oder wenn es es tat, so war es nicht zu verstehen. Ein Wort jedoch war deutlich zu verstehen. Es hieß ›Studienkollege‹.« Talliaferro nahm seinen Schnellblicker aus einer Jackeninnentasche und hielt ihn Mandel hin. Er sagte ruhig: »Wenn Sie den Film in meinem Schnellblicker entwickeln wollen, hier bitte. Villiers Vortrag werden Sie darauf nicht finden.« Kaunas tat sofort desgleichen, und Ryger schloß sich ihm mit gerunzelter Stirn an. Mandel nahm die drei Schnellblicker an sich und sagte trocken: »Es ist anzunehmen, daß derjenige, der es gewesen ist, das belichtete Stück Film mit dem Vortrag schon beiseite geschafft hat. Trotzdem …« Talliaferro zog die Augenbrauen in die Höhe. »Sie können mich oder mein Zimmer durchsuchen.« Rygers Stirn hatte sich nicht geglättet. »Einen Augenblick, warten Sie, verdammt noch mal. Sind Sie von der Polizei?« Mandel starrte ihn an. »Wollen Sie die Polizei? Wollen Sie einen Skandal und eine Mordanklage? Wollen Sie den Kongreß auffliegen lassen? Ein Festschmaus für die Presse, 427
die sich auf die Astronomie und die Astronomen stürzen kann. Villiers kann wirklich zufällig gestorben sein. Er hatte schließlich ein schwaches Herz. Wer von Ihnen auch dort war, kann gut auf eine Eingebung hin gehandelt haben. Es war vielleicht kein vorher geplantes Verbrechen. Wenn derjenige, der es war, das Negativ herausrückt, dann ersparen wir uns eine Menge Schwierigkeiten.« »Das gilt auch für den Verbrecher?« fragte Talliaferro. Mandel zuckte mit den Achseln. »Für ihn kann es Schwierigkeiten geben. Ich kann keine Straffreiheit versprechen. Aber welche Schwierigkeiten es auch gibt, es wird sich auf jeden Fall nicht um öffentliche Schande und lebenslänglich Gefängnis handeln, worauf es hinauslaufen könnte, wenn die Polizei eingeschaltet wird.« Schweigen. Mandel sagte: »Einer von Ihnen dreien ist es.« Schweigen. Mandel fuhr fort: »Ich glaube, ich kann mir die ursprünglichen Überlegungen des Schuldigen vorstellen. Der Vortrag würde vernichtet sein. Nur wir vier wußten etwas von der Massenübertragung, und nur ich hatte eine Vorführung gesehen. Außerdem hatten Sie nur sein Wort – möglicherweise das Wort eines Wahnsinnigen –, daß ich sie gesehen hatte. Villiers an Herzversagen gestorben und der Vortrag verschwunden – da könnte man leicht Dr. Rygers Theorie Glauben schenken, daß es keine Massenübertragung gab, daß es sie nie gegeben hatte. Ein oder zwei Jahre konnten verstreichen, und unser Verbrecher im Besitz der Unterlagen über Massen428
übertragung könnte sie Schritt für Schritt veröffentlichen, Experimente durchführen und schließlich als der wirkliche Entdecker dastehen, mit all dem Drum und Dran an Geld und Ruhm, was dazugehört. Selbst seine Studienkollegen würden keinen Verdacht schöpfen. Sie würden höchstens glauben, daß ihn die längstvergangene Geschichte mit Villiers angeregt hatte, Untersuchungen auf dem Gebiet anzustellen. Mehr nicht.« Mandel blickte scharf von einem zum anderen. »Aber das alles geht jetzt nicht mehr. Wenn irgendeiner von Ihnen mit der Massenübertragung aufkreuzt, zeigt er sich selbst als der Verbrecher an. Ich habe die Vorführung gesehen. Ich weiß, daß sie in Ordnung war. Ich weiß, daß einer von Ihnen eine Aufnahme des Vortrags besitzt. Die Unterlagen sind daher nutzlos für Sie. Geben Sie also auf.« Schweigen. Mandel ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Es wäre mir lieb, wenn Sie hierblieben, bis ich zurück bin. Ich werde nicht lange brauchen. Ich hoffe, der Schuldige wird es sich in der Zwischenzeit überlegen. Wenn er Angst hat, daß er bei einem Schuldgeständnis seine Stellung verliert, so soll er daran denken, daß eine Sitzung mit der Polizei ihn seine Freiheit kosten und ihn der Psychischen Sondierung aussetzen kann.« Er nahm die drei Schnellblicker und sah wütend und etwas übermüdet aus. »Ich entwickle sie.« Kaunas versuchte es mit einem Lächeln. »Und was, wenn wir durchbrennen, während Sie fort sind?«
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»Nur einer von Ihnen hat einen Grund, das zu versuchen«, sagte Mandel. »Ich glaube, ich kann mich darauf verlassen, daß die beiden Unschuldigen den dritten in Schach halten, und sei es nur, weil sie sich selbst schützen wollen.« Er ging. Es war fünf Uhr morgens. Ryger blickte ungehalten auf seine Uhr. »Eine verdammte Sache. Ich möchte schlafen.« »Wir können uns hier hinlegen«, sagte Talliaferro gleichmütig. »Ist jemand bereit zu einem Geständnis?« Kaunas blickte weg, und Rygers verzog den Mund. »Hatte ich auch nicht erwartet.« Talliaferro schloß die Augen, lehnte seinen großen Kopf an den Stuhl und sagte mit müder Stimme: »Oben auf dem Mond ist gerade die langweilige Zeit. Wir haben eine Nacht von zwei Wochen, und dann geht's rund. Dann scheint wieder zwei Wochen lang die Sonne, und es gibt nichts als Berechnungen, Vergleiche und nichts als Herrengesellschaften. Das ist die schlimme Zeit. Mir geht sie auf die Nerven. Wenn mehr Frauen da wären, wenn sich eine feste Verbindung arrangieren ließe …« Kaunas berichtete flüsternd darüber, daß es noch immer unmöglich war, die Sonne über den Horizont zu bekommen, sie mit dem Teleskop auf dem Merkur einzufangen. Aber man wollte bald drei Kilometer Gleise für das Observatorium verlegen – wißt ihr, die ganze Sache einfach weiterrollen, unheimliche Kräfte einsetzen, Sonnenenergie direkt anwenden, es könnte gelingen. Es würde sicher gelingen. 430
Selbst Ryger ließ sich herbei, über Ceres zu reden, nachdem er dem leisen Gemurmel der anderen Stimmen gelauscht hatte. Das Problem dort war, daß die Umdrehungsdauer zwei Stunden betrug. Das bedeutete, daß die Sterne mit einer Winkelgeschwindigkeit über den Himmel flitzten, die zwölfmal so groß wie die des Erdhimmels war. Ein Netz von drei gewöhnlichen Teleskopen und drei Radioteleskopen war zur Beobachtung einer bestimmten Himmelsgegend eingesetzt, und eine Station übernahm die Gegend von der anderen, während sie vorüberwirbelte. »Könntet ihr nicht an einen der Pole gehen?« fragte Kaunas. »Du denkst an den Merkur und die Sonne«, sagte Ryger ungeduldig. »Selbst an den Polen würde sich der Himmel noch drehen, und die Hälfte von ihm wäre immer unsichtbar. Wenn die Ceres – wie der Merkur – der Sonne nur eine Seite zukehren würde, dann hätten wir einen beständigen Nachthimmel, in dem sich die Sterne langsam einmal in drei Jahren vorbeidrehen würden.« Der Himmel wurde heller. Langsam kam die Dämmerung. Talliaferro war halb eingeschlafen, bewahrte sich aber fest dieses halbe Bewußtsein. Er sollte nicht einschlafen und die anderen wach zurücklassen. Talliaferros Augen klappten auf, als Mandel wieder eintrat. Der Himmel vor dem Fenster war blau geworden. Talliaferro war froh, daß das Fenster geschlossen war. Das 431
Hotel hatte natürlich eine Klimaanlage, aber in dieser milden Jahreszeit konnten die Fenster von solchen Erdleuten geöffnet werden, die sich etwas auf frische Luft einbildeten. Talliaferro dachte an das Vakuum auf dem Mond und fuhr bei dem Gedanken mit echtem Unbehagen zusammen. Mandel sagte: »Hat jemand von Ihnen etwas zu sagen?« Sie blickten ihn alle ruhig an. Ryger schüttelte den Kopf. Mandel sagte: »Ich habe die Filme in Ihren Schnellblickern entwickelt, meine Herren, und mir die Ergebnisse angesehen.« Er warf die Schnellblicker und die entwickelten Filmstückchen auf das Bett. »Nichts! – Ich fürchte, Sie werden sich die Mühe machen müssen, die Filme auszusortieren. Tut mir leid. Und jetzt besteht nach wie vor die Frage, wo der fehlende Film ist.« »Wenn es ihn überhaupt gibt«, sagte Ryger und gähnte gewaltig. Mandel sagte: »Meine Herren, ich möchte vorschlagen, wir gehen hinunter in das Zimmer von Villiers.« Kaunas sah ihn verblüfft an. »Wieso?« Talliaferro fragte: »Versuchen Sie es mit Parapsychologie? Man bringe den Verbrecher an den Schauplatz des Verbrechens, und Reue wird ihm ein Geständnis entlocken.« »Ein weniger aufregender Grund besteht darin«, sagte Mandel, »daß ich die beiden von Ihnen, die unschuldig sind, bitten möchte, mir bei der Suche nach dem Film mit dem Vortrag von Villiers zu helfen.«
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»Sie glauben, er befindet sich dort?« fragte Ryger. »Möglich. Es ist ein Anfang. Dann können wir Ihre Zimmer durchsuchen. Die Tagung über Astronautik fängt erst morgen früh um zehn an. Bis dahin haben wir Zeit.« »Und dann?« »Müssen wir vielleicht die Polizei einschalten.« Sie traten zögernd in Villiers Zimmer ein. Ryger hatte einen roten Kopf, Kaunas war bleich. Talliaferro versuchte, ruhig zu bleiben. Gestern nacht hatten sie das Zimmer bei künstlichem Licht gesehen. Villiers war mit gerunzelter Stirn und ganz zerzaust dagelegen, hatte sein Kopfkissen umklammert, sie mit seinen Blicken in Verlegenheit gebracht und sie hinausgewiesen. Jetzt hing der Geruch des Todes im Zimmer. Mandel fingerte an dem Fensterpolarisator herum, um mehr Licht hereinzulassen, und drehte ihn zu weit auf. Die im Osten stehende Sonne drang herein. Kaunas riß einen Arm hoch, um seine Augen abzuschirmen und schrie: »Die Sonne!« Die anderen blieben wie erstarrt stehen. Seine Miene drückte so etwas wie Entsetzen aus, als hätte er einen Blick in die merkurische Sonne getan, der ihn erblinden lassen würde. Talliaferro fiel die eigene Reaktion auf die Möglichkeit ein, sich unter freiem Himmel zu befinden, und er knirschte mit den Zähnen. Die zehnjährige Abwesenheit von der Erde hatte sie angeknackst.
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Kaunas rannte zum Fenster, tastete nach dem Polarisator, und dann atmete er unter schwerem Keuchen aus. Mandel trat an seine Seite. »Was ist los?« Die beiden anderen stellten sich neben sie. Unter ihnen erstreckte sich das Bruchstein- und Ziegelmauerwerk der Stadt bis zum Horizont, in das Licht der aufgehenden Sonne getaucht, die im Schatten liegenden Teile ihnen zugekehrt. Talliaferro warf einen verstohlenen Blick hinaus. Kaunas hielt die Luft so an, daß er nicht einmal mehr einen Schrei ausstoßen konnte, und starrte etwas an, das viel näher lag. Da draußen auf dem Fensterbrett, eine Ecke in einem Mauersprung befestigt, befand sich ein zwei Zentimeter langer Streifen eines milchgrauen Films, und auf ihm die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Mandel riß mit einem zornigen Schrei das Fenster hoch und packte den Filmstreifen. Er barg ihn in der hohlen Hand und blickte die Männer aus wütenden, geröteten Augen an. Er sagte: »Warten Sie hier!« Es gab nichts zu reden. Als Mandel ging, setzten sie sich hin und starrten einander benommen an. Mandel kehrte nach zwanzig Minuten zurück. Er sagte ruhig, mit einer Stimme, die irgendwie den Eindruck aufkommen ließ, daß sie nur ruhig war, weil ihr Eigentümer weit über jeden Wutausbruch hinaus war: »Die in der Mauer festgeklemmte Filmecke war nicht überbelichtet. Ein paar Worte konnte ich erkennen. Es 434
handelt sich um den Vortrag von Villiers. Der Rest ist ruiniert. Da ist nichts zu machen.« »Was nun?« fragte Talliaferro. Mandel zuckte müde mit den Schultern. »Mir ist es im Augenblick gleich. Die Massenübertragung ist weg, bis jemand, der so hochbegabt wie Villiers ist, sie wieder entdeckt. Ich werde mich daranmachen, mache mir aber keine Illusionen, was meine Fähigkeit anlangt. Da der Vortrag weg ist, nehme ich an, Sie drei sind nicht mehr wichtig, schuldig oder nicht. Was macht das schon aus?« Sein ganzer Körper schien vor Verzweiflung zusammengesunken zu sein. Talliaferro sagte jedoch mit harter Stimme: »Moment mal. In Ihren Augen kann jeder von uns dreien schuldig sein. Zum Beispiel ich. Auf unserem Gebiet sind Sie ein großer Mann, und Sie werden nie ein gutes Wort für mich übrig haben. Vielleicht denkt man sich dann, ich sei unfähig oder noch etwas Schlimmeres. Ich lasse mich durch den Schatten eines Verdachts nicht ruinieren. Wir suchen jetzt nach der Lösung.« »Ich bin kein Detektiv«, sagte Mandel matt. »Dann rufen Sie die Polizei, verdammt noch mal.« Ryger sagte: »Warte mal, Tal. Willst du damit sagen, ich sei der Schuldige?« »Ich sage nur, ich bin unschuldig.« Kaunas sagte laut vor Schreck: »Das bedeutet, jeder von uns muß die Psychische Sondierung über sich ergehen lassen. Das kann zu einem Gehirnschaden …«
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Mandel hob beide Hände hoch. »Meine Herren! Bitte! Bevor wir die Polizei rufen, können wir noch eines tun, und Sie haben recht, Dr. Talliaferro, es wäre den Unschuldigen gegenüber ungerecht, die Sache hier auf sich beruhen zu lassen.« Die drei Männer wandten sich ihm zu. »Was schlagen Sie vor?« fragte Ryger. »Ich habe einen Freund mit Namen Wendell Urth. Sie haben möglicherweise schon von ihm gehört, und ich kann es vielleicht so einrichten, daß wir ihn heute abend aufsuchen.« »Und wenn Sie das können?« wollte Talliaferro wissen. »Was wird dabei herauskommen?« »Er ist ein sehr merkwürdiger Mensch«, sagte Mendel zögernd. »Und auf seine Art besonders begabt. Er hat schon der Polizei geholfen und kann uns jetzt vielleicht helfen.«
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Edward Talliaferro konnte nicht umhin, den Raum und seinen Insassen mit größtem Erstaunen anzugaffen. Beide schienen losgelöst von allem zu existieren, zu keiner bekannten Welt zu gehören. Die Geräusche der Erde drangen nicht bis in dieses gut gepolsterte, fensterlose Nest. Licht und Luft der Erde wurden durch künstliche Beleuchtung und Klimaanlage ferngehalten. 436
Ein großer, halbdunkler und vollgestopfter Raum. Sie waren über einen unaufgeräumten Boden zu einem Sofa gestakst, von dem ohne Zögern Buchfilme zusammengeschoben und an einer Seite zu einem wirren Haufen aufgetürmt wurden. Der Mann, der den Raum bewohnte, hatte auf einem gedrungenen, runden Körper ein großes, rundes Gesicht. Er bewegte sich auf seinen kurzen Beinen geschwind umher, ruckte beim Sprechen mit dem Kopf, daß die Brille fast von dem unauffälligen Knubbel sprang, der als Nase diente. Die leicht vorstehenden Augen mit den schweren Lidern strahlten sie mit dem Wohlwollen der Kurzsichtigen an, als er sich in den Sessel seiner Schreibtischkombination setzte, die von der einzigen hellen Lampe im Zimmer beleuchtet wurde. »So gütig von Ihnen, meine Herren, herzukommen. Ich ersuche Sie, den Zustand meines Zimmers entschuldigen zu wollen.« Er beschrieb mit seinen Stummelfingern einen weiten Bogen durch die Luft. »Ich bin eben dabei, eine Liste der vielen Gegenstände anzulegen, die von außerirdischem Interesse sind und die ich hier zusammengetragen habe. Eine gewaltige Arbeit. Zum Beispiel …« Er schlüpfte rasch aus seinem Sessel und wühlte in einem Haufen von Gegenständen neben dem Schreibtisch, bis er mit einem rauchgrauen, halb durchsichtigen und etwa zylindrischen Gegenstand wieder auftauchte. »Das«, sagte er, »ist ein Gegen stand von Kallisto, der ein Überbleibsel vernunftbegabter nichtmenschlicher Wesen sein könnte. Man ist sich noch nicht sicher. Man hat nur 437
ein Dutzend entdeckt, und das hier ist das beste Einzelstück, das ich kenne.« Er warf es zur Seite, und Talliaferro zuckte zusammen. Der untersetzte Mann schaute in seine Richtung und sagte: »Es ist unzerbrechlich.« Er setzte sich wieder hin, faltete die dicken Finger fest vor seinem Bauch, wo sie sich mit den Atemzügen langsam hoben und senkten. »Und was kann ich für Sie tun?« Hubert Mandel hatte das Vorstellen übernommen, und Talliaferro dachte angestrengt nach. Ganz gewiß gab es einen Mann namens Wendeil Urth, der kürzlich ein Buch mit dem Titel Vergleichbare Evolutionsvorgänge auf Wasser-Sauerstoff-Planeten geschrieben hatte, und das hier war sicher nicht der Mann. Er fragte: »Sind Sie der Verfasser des Buches Vergleichbare Evolutionsvorgänge, Dr. Urth?« Auf dem Gesicht von Urth breitete sich ein glückseliges Lächeln aus. »Sie haben es gelesen?« »Nein, eigentlich nicht …« Urth sah ihn augenblicklich kritisch an. »Das sollten Sie aber. Ich habe hier ein Exemplar …« Er sprang sofort wieder aus seinem Sessel auf, und Mandel rief: »Urth, warte doch. Alles der Reihe nach. Die Sache ist ernst.« Er drängte Urth tatsächlich in den Sessel zurück und begann rasch zu sprechen, als wolle er es zu weiteren Einwürfen nicht mehr kommen lassen. Er erzählte die ganze Geschichte in bewundernswert wenigen Worten.
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Urth wurde beim Zuhören langsam rot. Er packte seine Brille und schob sie höher die Nase hinauf. »Massenübertragung!« rief er aus. »Ich sah es mit eigenen Augen«, sagte Mandel. »Und du hast mir nichts davon erzählt.« »Ich hatte versprochen, zu schweigen. Der Mensch war sonderlich. Habe ich doch gesagt.« Urth trommelte auf den Schreibtisch. »Wie konntest du zulassen, daß solch eine Entdeckung im Besitz eines Exzentrikers blieb, Mandel? Man hätte ihm das Wissen, wenn nötig, mit der Psychischen Sondierung entreißen müssen.« »Das hätte ihn getötet«, verwahrte sich Mandel. Aber Urth schaukelte vor und zurück und hatte die Hände an die Wangen gelegt. »Massenübertragung. Die einzige Art, wie ein anständiger, zivilisierter Mensch reisen sollte. Die einzig mögliche Art. Die einzig denkbare Art. Wenn ich das nur gewußt hätte. Wenn ich nur dort gewesen wäre. Das Hotel ist aber fast fünfzig Kilometer weit weg.« Ryger hatte mit leicht verärgertem Gesichtsausdruck zugehört und warf jetzt ein: »Soviel ich weiß, gibt es eine Schnellinie, die genau bis zur Kongreßhalle geht. Sie hätten in zehn Minuten dort sein können.« Urth erstarrte und warf Ryger einen seltsamen Blick zu. Seine Backen blähten sich. Er sprang auf und eilte aus dem Zimmer. Ryger sagte: »Was zum Teufel …«
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Mandel murmelte: »Verdammt. Ich hätte Sie warnen sollen. Dr. Urth benützt überhaupt keine Verkehrsmittel. Eine Phobie. Er bewegt sich nur zu Fuß.« Kaunas sah sich blinzelnd im düsteren Zimmer um. »Aber er ist doch ein Extraterrologe? Ein Experte, was Lebensformen auf anderen Planeten angeht?« Talliaferro war aufgestanden und stand jetzt vor einer Galaktischen Linse auf einem Gestell. Er blickte auf den Glanz im Innern des Sternensystems. Er hatte noch nie eine so große und fein gearbeitete Linse gesehen. Mandel erwiderte: »Er ist Extraterrologe, aber er hat noch nie einen der Planeten, über die er genau Bescheid weiß, besucht und wird das auch nie tun. Ich bezweifle, daß er in den letzten dreißig Jahren weiter als zwei Kilometer von diesem Zimmer weg gewesen ist.« Ryger lachte auf. Mandel lief vor Zorn rot an. »Sie finden das vielleicht komisch, aber mir wäre es lieb, Sie würden aufpassen, was Sie sagen, wenn Dr. Urth zurück ist.« Urth schlich einen Augenblick danach herein. »Sie entschuldigen, meine Herren«, sagte er flüsternd. »Und jetzt machen wir uns an unser Problem heran. Vielleicht möchte einer von Ihnen ein Geständnis ablegen.« Talliaferro verzog bitter die Lippen. Dieser dicke, in freiwilliger Gefangenschaft lebende Extraterrologe war kaum eindrucksvoll genug, jemandem ein Geständnis abzupressen. Glücklicherweise brauchte man auch gar nicht seine Künste als Detektiv in Anspruch zu nehmen.
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Talliaferro fragte: »Dr. Urth, haben Sie Verbindungen zur Polizei?« Eine gewisse Verschmitztheit breitete sich auf dem rotbackigen Gesicht von Urth aus. »Offiziell habe ich keine Verbindungen, Dr. Talliaferro, aber meine inoffiziellen sind allerdings sehr gut.« »Wenn das so ist, werde ich Ihnen eine Mitteilung machen, die Sie an die Polizei weitergeben können.« Urth holte den Bauch ein und zog an einem Hemdzipfel. Er holte ihn hervor und säuberte sich damit langsam die Brille. Als er ganz fertig war und sie sich wieder sorgfältig auf die Nase gesetzt hatte, sagte er: »Um was handelt es sich dabei?« »Ich werde Ihnen sagen, wer dabei war, als Villiers starb, und wer seinen Vortrag aufgenommen hat.« »Sie haben das Kriminalrätsel gelöst?« »Ich habe mir den ganzen Tag darüber den Kopf zerbrochen. Ich glaube, ich habe es gelöst.« Talliaferro genoß das Aufsehen, das er erregte. »Nun, also?« Talliaferro holte tief Luft. Leicht würde es ihm nicht fallen, obwohl er es seit Stunden vorhatte. »Der Schuldige«, sagte er, »ist offenkundig Dr. Hubert Mandel.« Mandel starrte Talliaferro an und mußte vor plötzlicher Entrüstung schwer atmen. »Hören Sie mal, Herr Doktor«, fing er mit lauter Stimme an, »wenn Sie Grund haben, eine so lächerliche …«
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Die Tenorstimme von Urth übertönte die Unterbrechung. »Laß ihn ausreden, Hubert, hören wir ihn an. Du hast ihn verdächtigt, und kein Gesetz kann ihm verbieten, dich zu verdächtigen.« Talliaferro erklärte mit fester Stimme: »Es ist mehr als nur ein Verdacht, Dr. Urth. Der Beweis liegt klar auf der Hand. Wir vier wußten von der Massenübertragung, aber nur einer von uns, nämlich Dr. Mandel, hat wirklich eine Vorführung gesehen. Er wußte, daß es sie tatsächlich gibt. Er wußte, daß es die Niederschrift eines Vortrags zu dem Thema gab. Wir drei wußten nur, daß Villiers mehr oder weniger aus dem Gleichgewicht war. Nun, wir nahmen vielleicht an, daß er etwas entdeckt haben könnte. Ich glaube, wir besuchten ihn um elf, um das herauszubekom men, obwohl es keiner von uns offen sagte – er aber führte sich verrückter denn je auf. Denken Sie nun an das Spezialwissen und an das Motiv von Dr. Mandel. Und noch etwas anderes, Dr. Urth. Wer auch immer um Mitternacht vor Villiers hintrat, ihn zusammenbrechen sah und seinen Vortrag aufnahm, mußte schrecklich verwirrt sein, als er Villiers offenbar wieder zu sich kommen sah und ihn telephonieren hörte. In dem plötzlichen Schrecken begriff unser Verbrecher eins: er mußte das belastende Material los werden. Er mußte den noch nicht entwickelten Film mit dem Vortrag los werden, und zwar so, daß man ihn nicht finden konnte und er ihn an sich nehmen konnte, wenn kein Verdacht auf ihn fiel. Das äußere Fensterbrett war ideal. Er machte rasch Villiers' Fenster auf, klemmte den Filmstreifen in die Mauerritze und ging. Selbst wenn 442
Villiers überlebte oder sein Telefongespräch Folgen zeitigte, würde lediglich Villiers' Aussage gegen seine stehen, und es war leicht zu zeigen, daß Villiers seelisch nicht im Gleichgewicht war.« Talliaferro schwieg triumphierend. Das war nicht zu widerlegen. Wendeil Urth sah ihn blinzelnd an und drehte die Daumen seiner gefalteten Hände, daß sie sich an seiner breiten Hemdbrust rieben. Er sagte: »Und was soll das alles beweisen?« »Der Beweis liegt darin, daß das Fenster geöffnet und der Film unter freiem Himmel aufbewahrt wurde. Und Ryger lebt nun seit zehn Jahren auf Ceres, Kaunas auf dem Merkur, ich auf dem Mond – wenn man die kurzen und nicht sehr häufigen Urlaube außer acht läßt. Wir haben gestern mehrmals darüber geredet, wie schwer es uns fällt, uns auf der Erde zu akklimatisieren. Die Welten, auf denen wir arbeiten, sind Himmelskörper ohne Lufthüllen. Wir gehen niemals ohne einen Anzug ins Freie. Uns dem freien Raum auszusetzen, ist undenkbar. Keiner von uns hätte das Fenster ohne harten inneren Kampf öffnen können. Dr. Mandel hat jedoch ausschließlich auf der Erde gelebt. Ein Fenster öffnen heißt für ihn, nur ein bißchen Muskelarbeit leisten. Er konnte es tun. Wir nicht. Also ist er es gewesen.« Talliaferro lehnte sich zurück und lächelte leicht. »Genau, der Raum!« rief Ryger begeistert. »Das ist aber noch nicht alles«, tobte Mandel und erhob sich halb, als sei er versucht, sich auf Talliaferro zu 443
stürzen. »Ich weise die ganze erbärmliche erfundene Geschichte zurück. Was ist mit der Aufnahme, die ich vom Telefonanruf von Villiers habe? Er gebrauchte das Wort ›Studienkollege‹. Aus dem ganzen Band wird deutlich …« »Er lag im Sterben«, sagte Talliaferro. »Sie gaben selbst zu, daß viel von dem, was er sagte, unverständlich ist. Ohne das Band gehört zu haben, frage ich Sie, Dr. Mandel, ob es nicht stimmt, daß die Stimme von Villiers bis zur Unkenntlichkeit verzerrt ist.« »Also …« begann Dr. Mandel verwirrt. »Ich bin mir sicher, daß sie es ist. Es besteht also Grund zur Annahme, daß Sie das Band möglicherweise schon vorher mit dem vernichtenden Wort ›Studienkollege‹ zurechtgebastelt haben.« Mandel sagte: »Mein Gott, woher sollte ich denn wissen, daß Studienkollegen am Kongreß teilnahmen? Woher sollte ich wissen, daß sie von der Massenübertragung wußten?« »Villiers kann es Ihnen gesagt haben. Ich nehme an, er tat es.« »Also, hören Sie mal zu«, sagte Mandel. »Sie haben Villiers um elf am Leben gesehen. Der Leichenbeschauer untersuchte den Toten kurz nach drei Uhr morgens und erklärte, er sei mindestens schon zwei Stunden tot. Das war sicher. Der Tod muß also zwischen elf Uhr nachts und ein Uhr morgens eingetreten sein. Gestern nacht war ich auf einer späten Besprechung. Ich kann angeben, wo ich zwischen zehn und zwei Uhr war, nämlich Kilometer vom Hotel entfernt, und ein Dutzend Zeugen haben mich 444
gesehen, von denen alle über jeden Zweifel erhaben sind. Genügt Ihnen das?« Talliaferro schwieg einen Moment. Dann fuhr er hartnäckig fort: »Und wenn schon. Nehmen wir an, Sie kamen gegen halb drei ins Hotel zurück. Sie gingen auf das Zimmer von Villiers, um über seinen Vortrag zu reden. Sie fanden die Tür offen, oder Sie hatten einen zweiten Schlüssel. Auf jeden Fall sahen Sie, daß er tot war. Sie packten die Gelegenheit beim Schopf, den Vortrag aufzunehmen …« »Und wenn er schon tot war und nicht mehr telefonieren konnte, warum sollte ich dann wohl den Film verstecken?« »Um jedem Verdacht zu entgehen. Vielleicht haben Sie einen zweiten Abzug des Films in Ihrem Besitz. Außerdem haben wir nur Ihr Wort, daß der Vortrag selbst vernichtet wurde.« »Das genügt«, rief Urth. »Eine interessante Vermutung, Dr. Talliaferro, aber sie stürzt unter ihrem eigenen Gewicht zusammen.« Talliaferro runzelte die Stirn. »Das ist vielleicht Ihre Ansicht …« ' »Jeder wäre dieser Ansicht. Das heißt jeder, dem menschliche Vernunft zur Verfügung steht. Sehen Sie denn nicht, daß Hubert Mandel zuviel des Guten getan hat, um der Verbrecher zu sein?« »Nein«, sagte Talliaferro. Wendel Urth lächelte mild. »Dr. Talliaferro, als Wissenschaftler sind Sie doch gescheit genug, sich nicht auf Kosten von Tatsachen und Vernunft in Ihre Theorien 445
zu verlieben. Tun Sie mir den Gefallen, als Detektiv das gleiche Verhalten an den Tag zu legen. Bedenken Sie, wie wenig Dr. Mandel zu tun brauchte, wenn er den Tod von Villiers herbeigeführt und ein Alibi gefälscht, oder wenn er Villiers tot aufgefunden und die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hätte. Warum überhaupt den Vortrag aufnehmen oder so tun, als habe jemand das getan? Er hätte ganz einfach den Vortrag nehmen können. Wer wußte denn von seinem Vorhandensein? Eigentlich niemand. Es gibt keinen Grund zur Annahme, Villiers habe irgend jemand von ihm erzählt. Villiers war krankhaft geheimnistuerisch. Es gab allen Grund zur Annahme, er habe niemandem etwas von ihm erzählt. Bis auf Dr. Mandel wußte niemand, daß er einen Vortrag halten würde. Er war nicht angekündigt. Man hatte keinen Abriß veröffentlicht. Dr. Mandel hätte mit größter Zuversicht mit dem Vortrag davonspazieren können. Selbst wenn er entdeckt hätte, daß Villiers sich mit seinen Studienkollegen über die Sache unterhalten hatte, was wäre dann schon gewesen? Welchen Beweis hätten die Studienkollegen gehabt, vom Wort eines der ihren abgesehen, den sie sowieso als halb verrückt ansahen? Indem Dr. Mandel statt dessen bekanntgab, daß Villiers' Vortrag vernichtet worden war, indem er sagte, sein Tod sei nicht ganz natürlich gewesen, indem er nach einem Schnellblickerfilm suchte kurz, mit allem, was er tat, hat er Verdacht erweckt, den eben nur er erwecken konnte, wobei er sich nur hätte still verhalten müssen, und das vollkommene Verbrechen wäre perfekt gewesen. Wenn er 446
der Verbrecher ist, dann hat er sich unendlich dumm verhalten. Und schließlich ist Dr. Mandel alles andere als das.« Talliaferro dachte angestrengt nach. Ryger sagte: »Wer ist es denn dann gewesen?« »Einer von Ihnen dreien. Das ist offensichtlich.« »Aber wer?« »Das ist ebenfalls offensichtlich. Im Augenblick, als Dr. Mandel seinen Bericht der Ereignisse beendet hatte, wußte ich, wer von Ihnen der Schuldige ist.« Talliaferro starrte widerwillig den untersetzten Extraterrologen an. Der Bluff jagte ihm keinen Schrecken ein, aber auf die beiden anderen hatte er seine Wirkung getan. Ryger hatte die Lippen vorgeschoben, und der Unterkiefer von Kaunas war wie bei einem Schwachsinnigen herabgefallen. Er sagte: »Also wer dann? Sagen Sie es uns.« Urth blinzelte. »Ich möchte zuerst deutlich darauf hinweisen, daß das Wichtige die Massenübertragung ist. Sie kann noch immer zurückgewonnen werden.« Mandel fragte mit gerunzelter Stirn: »Zum Teufel, wovon redest du, Urth?« »Der Mann, der den Vortrag aufnahm, sah sich wahrscheinlich an, was er aufnahm. Ich bezweifle, daß er die Zeit hatte oder geistesgegenwärtig genug war, ihn zu lesen, und wenn er es tat, dann bezweifle ich, ob er sich erinnern kann – sich bewußt erinnern kann. Doch immerhin gibt es die Psychische Sondierung. Selbst wenn
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er nur einen Blick auf den Vortrag geworfen hat, kann das, was sich seinen Netzhäuten einprägte, sondiert werden.« Es entstand Unruhe. Urth sagte sofort: »Man braucht sich vor der Sondierung nicht zu fürchten. Bei richtiger Anwendung kann nichts passieren, vor allem dann, wenn sich ein Mensch freiwillig zur Verfügung stellt. Wenn Schädigungen auftreten, dann deshalb, weil unnötigerweise Widerstand geleistet wird, eine Art geistiges Zerren. Wenn also der Schuldige freiwillig gestehen will, sich in meine Hände begeben will …« Talliaferro lachte auf. Das plötzliche Geräusch erschütterte die düstere Stille im Zimmer. Diese Art von Psychologie war so durchsichtig und ungeschickt. Wendel Urth war beinahe erstaunt über diese Reaktion und sah Talliaferro ernst über seine Brille hinweg an. Er sagte: »Ich habe genug Einfluß auf die Polizei, um die Sondierung geheimzuhalten.« Ryger sagte wütend: »Ich bin's nicht gewesen.« Kaunas schüttelte den Kopf. Talliaferro enthielt sich jeder Antwort. Urth seufzte. »Dann muß ich zeigen, wer der Schuldige ist. Das wird seelische Erschütterungen zur Folge haben. Dadurch wird alles schwieriger.« Er legte die Arme fester um den Bauch, und die Finger zuckten. »Dr. Talliaferro hat darauf hingewiesen, daß der Film auf dem äußeren Fensterbrett versteckt wurde, damit er vor Entdeckung und Beschädigung sicher war. Ich bin seiner Meinung.«
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»Besten Dank«, sagte Talliaferro trocken. »Aber wieso glaubte jemand, daß ein äußeres Fensterbrett ein besonders sicheres Versteck ist? Die Polizei würde dort auf jeden Fall nachsehen. Selbst ohne Polizei wurde es entdeckt. Wer würde zu der Überlegung neigen, daß etwas außerhalb eines Gebäudes besonders sicher sei? Offenbar jemand, der lange auf einer luftlosen Welt gelebt hat, dem es in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß niemand ohne genau festgelegte Vorsichtsmaßnahmen einen luftdicht verschlossenen Bau verläßt. Zum Beispiel wäre für jemanden auf dem Mond alles, was außerhalb einer Mondkuppel versteckt wäre, verhältnismäßig sicher. Die Menschen würden sich nur selten hinauswagen und nur, um ganz bestimmte Dinge zu tun. Er würde also die Schwierigkeiten, die mit dem Öffnen eines Fensters verbunden sind, überwinden und sich dem aussetzen, was er unbewußt für ein Vakuum ansieht, um zu einem sicheren Versteck zu kommen. Der vorgeprägte Gedanke ›das Äußere eines bewohnten Baus ist sicher‹ würde das zuwege bringen.« Talliaferro sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Wieso erwähnen Sie den Mond, Dr. Urth?« Urth erwiderte sanft: »Ach, er ist nur ein Beispiel. Was ich bis jetzt gesagt habe, paßt auf jeden von Ihnen. Aber jetzt kommen wir zum Kernpunkt, zur Sache mit der schwindenden, sterbenden Nacht.« Talliaferro legte die Stirn in Falten. »Sie meinen die Nacht, in der Villiers starb?«
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»Ich meine jede Nacht. Sehen Sie mal, selbst wenn man ein äußeres Fensterbrett als sicheres Versteck ansieht, wer von Ihnen wäre verrückt genug, es als sicheres Versteck für ein Stück unentwickelten Films anzusehen? Filme für Schnellblicker sind nicht sehr lichtempfindlich, und man kann sie bei allen möglichen passenden und unpassenden Gelegenheiten entwickeln. Das geringe Licht nächtlicher Beleuchtung würde einem solchen Film nicht viel anhaben, diffuses Tageslicht würde ihn jedoch in ein paar Minuten vernichten, und direktes Sonnenlicht zerstört ihn sofort. Das weiß jedes Kind.« Mandel sagte: »Nur zu, Urth. Worauf willst du hinaus?« »Du willst, daß ich schneller mache«, sagte Urth und zog einen großen Schmollmund. »Ich möchte, daß ihr es klar begreift. Der Verbrecher wollte vor allem den Film in Sicherheit haben. Er trug die einzige Aufzeichnung von etwas, das von größtem Wert für ihn und die Welt war. Warum legte er ihn dann dorthin, wo er zwangsläufig von der Morgensonne vernichtet werden würde? Nur deshalb, weil er gar nicht mit der Morgensonne rechnete. Er dachte, die Nacht sei sozusagen unsterblich. Aber die Nächte sind nicht unsterblich. Auf der Erde schwinden sie und machen dem Tag Platz. Selbst die sechs Monate währende Polarnacht wird schließlich zu einer schwindenden Nacht. Die Nächte auf Ceres dauern nur zwei Stunden, die auf dem Mond, zwei Wochen. Sie sind auch schwindende Nächte, und die Doktoren Talliaferro und Ryger wissen, daß immer ein Tag kommen muß.« Kaunas war aufgestanden: »Aber warten Sie …« 450
Wendell Urth blickte ihm voll ins Gesicht. »Wir brauchen nicht weiter zu warten, Dr. Kaunas. Der Merkur ist der einzige größere Himmelskörper im Sonnensystem, der der Sonne nur eine Seite zukehrt. Auch wenn man die Libration mit in Betracht zieht, sind ganze drei Achtel der Oberfläche reine Nachtseite und sehen nie die Sonne. Das Polobservatorium liegt am Rand dieser Nachtseite. Zehn Jahr lang haben Sie sich daran gewöhnt, daß Nächte unsterblich sind, daß die Nachtseite ewig dunkel bleiben wird, und so haben Sie der Erdnacht einen unentwickelten Film anvertraut, wobei Sie in Ihrer Erregung vergaßen, daß diese Nacht schwinden muß …« Kaunas taumelte auf ihn zu. »Warten Sie …« Urth fuhr unerbittlich fort: »Wie ich höre, schrien Sie beim Anblick des Sonnenlichts auf, als Mandel den Polarisator im Zimmer von Villiers einstellte. War das die eingeprägte Angst vor der merkurischen Sonne, oder merkten Sie plötzlich, was die Sonne für Ihre Pläne bedeutete? Sie stürmten los. Um den Polari sator zurückzudrehen oder um auf den vernichteten Film zu starren?« Kaunas brach in die Knie. »Ich hab's nicht gewollt. Ich wollte nur mit ihm reden, und er schrie und brach zusammen. Ich glaubte, er sei tot, und der Vortrag war unter seinem Kopfkissen, und eins führte zum anderen. Ich machte einen Schritt nach dem anderen, und ehe ich mich's versah, steckte ich so tief drin, daß ich nicht mehr herauskam. Aber ich habe das alles nicht gewollt. Das schwöre ich.«
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Sie standen jetzt im Halbkreis vor ihm, und Wendell Urth blickte mit mitleidigen Augen auf den stöhnenden Kaunas. Ein Krankenwagen war gekommen und wieder abgefahren. Talliaferro brachte es endlich über sich, steif zu Mandel zu sagen: »Sir, ich hoffe, daß auf Grund dessen, was hier gesagt wurde, keine unguten Gefühle zurückbleiben.« Und Mandel hatte genauso steif geantwortet: »Ich glaube, wir vergessen lieber so viel wie möglich von dem, was in den letzten vierundzwanzig Stunden vorgefallen ist.« Sie standen unter der Tür und wollten gehen, und Wendell Urth beugte lächelnd den Kopf und sagt: »Da bleibt nur noch mein Honorar zu regeln, wißt ihr.« Mandel sah ihn verwirrt an. »Ich will kein Geld«, sagte Urth sofort. »Aber wenn die erste Anlage für Massenübertragung für Menschen steht, dann möchte ich mich gern für eine Reise vormerken lassen.« Mandel sah ihn noch immer besorgt an. »Weißt du, Reisen in den äußeren Raum hinaus liegen noch in weiter Zukunft.« Urth schüttelte rasch den Kopf. »Nicht der äußere Raum. Ich möchte gern nach Lower Falls, New Hampshire.« »Na schön. Aber wieso?«
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Urth blickte auf. Zu Talliaferros gänzlicher Überraschung sah das Gesicht des Extraterrologen äußerst schüchtern wie auch sehr ungeduldig aus. Urth sagte: »Ich kannte dort einmal ein Mädchen. Es sind viele Jahre vergangen – aber ich frage mich manchmal …« Nachwort Manchen Lesern mag aufgefallen sein, daß diese Geschichte, die zum erstenmal 1956 veröffentlicht wurde, vom Lauf der Ereignisse eingeholt worden ist. 1965 entdeckten die Astronomen, daß der Merkur nicht immer die gleiche Seite der Sonne zukehrt, sondern eine Rotationsdauer von etwa vierundfünfzig Tagen hat, so daß also alle seine Teile irgendwann einmal dem Sonnenlicht ausgesetzt sind. Nun, was kann ich da machen? Ich kann nur sagen, ich wünschte, die Astronomen würden von Anfang an die Dinge richtig sehen. Und ich weigere mich ganz einfach, die Geschichte so abzuändern, daß sie mit den launischen Einfällen der Astronomen übereinstimmt.
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Jahresfeier (Anniversary, 1959) Deutsch von Jürgen Saupe
Die Vorbereitungen zur jährlichen Feier waren abgeschlossen. Dieses Mal war Moores Haus an der Reihe, und Mrs. Moore hatte nachgegeben und war mit den Kindern für den Abend zu ihrer Mutter gegangen. Warren Moore sah sich mit einem leichten Lächeln in dem Zimmer um. Zu Anfang war es nur wegen der Begeisterung von Mark Brandon weitergegangen, aber dann hatte er Gefallen an diesen harmlosen Gedenktagen gefunden. Er nahm an, daß das mit dem Alter gekommen war. Zwanzig Jahre waren vergangen. Er hatte einen Bauch bekommen, das Haar hatte sich gelichtet. Die Backen waren schlaff, und, was am schlimmsten war, er war sentimental geworden. Und so waren die Polarisatoren aller Fenster ganz dunkel gestellt, und die Vorhänge waren zugezogen. Nur wenige Stellen der Wand waren angeleuchtet, zur Erinnerung der erbärmlichen Beleuchtung und der schrecklichen Einsamkeit damals, als der Schiffbruch erfolgt war.
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Auf dem Tisch lagen Raumschiffsrationen in Stangen und Tuben, und in der Mitte stand natürlich eine ungeöffnete Flasche mit dem leuchtendgrünen Jabrawasser, dem starken Gebräu, das nur die chemische Aktivität der Pilze auf dem Mars erzeugen konnte. Moore sah auf die Uhr. Brandon würde bald kommen. Zu diesem festlichen Ereignis kam er nie zu spät. Ihn störte nur die Erinnerung an die Stimme Brandons, die so aus der Röhre getönt hatte: »Warren, heute habe ich eine Überraschung für dich. Wart's nur ab, du wirst schon sehen.« Moore kam es immer so vor, als ob Brandon kaum älter würde. Der jüngere Mann war schlank geblieben, und kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag nahm er noch immer intensiv alles auf, was ihm das Leben brachte. Er hatte sich die Fähigkeit bewahrt, über alles Gute so in Erregung zu geraten, wie ihn alles Üble in tiefe Verzweiflung stürzte. Sein Haar ergraute langsam, aber davon abgesehen brauchte Moore kaum die Augen zu schließen, wenn Brandon hin und her lief und mit lauter Stimme über dieses und jenes redete, um wieder den entsetzten jungen Mann im Wrack der Silver Queen vor sich zu sehen. Der Türsummer ertönte, und Moore drückte auf den Öffner, ohne sich umzusehen. »Komm rein, Mark.« Es antwortete jedoch eine fremde Stimme, leise und stockend: »Mr. Moore?« Moore drehte sich rasch um. Klar war Brandon da, nur stand er grinsend im Hintergrund. Vor ihm stand jemand 455
anderer, kurz, breit, ziemlich kahlköpfig, nußbraun und nach Weltraum riechend. Moore sagte fragend: »Mike Shea – Mike Shea, Himmel und Raum!« Sie schüttelten sich lachend die Hände. Brandon sagte: »Er hat sich über das Büro mit mir in Verbindung gesetzt. Ihm fiel ein, daß ich bei Atomic Products bin …« »Es ist Jahre her«, sagte Moore. »Moment mal, Sie waren vor zwölf Jahren auf der Erde …« »Er ist nie zu einer Jahresfeier hier gewesen«, sagte Brandon. »Wie findest du das? Jetzt zieht er sich zurück. Läßt den Raum sein und geht auf ein Grundstück, das er sich in Arizona kauft. Er wollte guten Tag sagen, bevor er fährt – kam nur deshalb in die Stadt, und ich dachte schon, er kommt wegen der Jahresfeier. ›Was für eine Jahresfeier?‹ sagte der alte Kniich.« Shea nickte und grinste. »Er sagt, Sie haben jedes Jahr so eine Art Feier gemacht.« »Darauf können Sie sich verlassen«, sagte Brandon begeistert. »Und das wird, wo wir alle drei hier sind, das erste richtige Jubiläum. Zwanzig Jahre ist es her, Mike. Zwanzig Jahre, seit Warren über das kletterte, was vom Wrack noch übrig war und uns zur Vesta hinunterbrachte.« Shea sah sich um. »Raumration, was? Da komme ich mir ja gleich wie zu Hause vor. Und Jabra. Klar, jetzt fällt es mir wieder ein. Zwanzig Jahre. Ich verschwende nie auch nur einen Gedanken daran, und jetzt kommt es mir
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plötzlich vor, als wär's gestern gewesen. Erinnern Sie sich, wie wir schließlich zur Erde zurückkamen?« »Und ob ich mich erinnere!« rief Brandon. »Die Umzüge, die Reden. Warren war bei der ganzen Sache der einzige wirkliche Held gewesen, und wir sagten das immerzu, und niemand hörte darauf. Erinnert ihr euch?« »Ach was«, sagte Moore. »Wir waren die drei ersten Menschen, die je ein Raumschiffunglück überlebt hatten. Wir waren etwas Besonderes, und alles Besondere ist eine Feier wert. Da ist mit Vernunft nichts zu machen.« »He«, sagte Shea, »erinnert sich einer von euch noch an die Schlager, die geschrieben wurden? Dieser eine Marsch? ›Wir singen von den Bahnen durch den Weltraum, vom schweren, irren Flug, der wie ein Alptraum …‹« Brandon fiel mit seinem hellen Tenor ein; und selbst Moore sang den Refrain mit, so daß die letzte Zeile so laut wurde, daß die Vorhänge wackelten. »Auf dem Wrack der Silver Que-e-en«, brüllten sie hinaus und brachen in heftiges Lachen aus. Brandon sagte: »Los, machen wir die Jabraflasche für den ersten kleinen Schluck auf. Diese eine Flasche muß die ganze Nacht reichen.« Moore sagte: »Mark besteht darauf, daß alles ganz echt ist. Ich wundere mich, daß er von mir nicht erwartet, daß ich zum Fenster hinausklettere und um das Gebäude herumfliege.« »Also, das nenne ich einen Einfall«, sagte Brandon. »Erinnert ihr euch an unseren letzten Trinkspruch?« Shea hob sein leeres Glas in die Höhe und stimmte an: 457
»Meine Herren, auf den Jahresvorrat von gutem, altem Wasser, das wir mal hatten. Bei der Landung kamen drei Besoffene an. Na ja, wir waren jung. Ich war dreißig und kam mir alt vor. Und jetzt«, sagte er plötzlich wehmütig, »hat man mich pensioniert.« »Trinken Sie!« sagte Brandon. »Heute sind Sie wieder dreißig, und wir begehen den Tag auf der Silver Queen, wenn es auch sonst niemand tut. Undankbares Publikum.« Moore lachte. »Was erwartest du denn? Jedes Jahr einen Nationalfeiertag mit Raumration und Jabra als Festessen?« »Hör mal, wir sind immer noch die einzigen Menschen, die ein Raumschiffunglück überlebt haben, und was sind wir jetzt? Wir sind in Vergessenheit geraten.« »Eine ziemlich gute Vergessenheit. Uns ging's von Anfang an gut, und die Tatsache, daß wir so bekannt waren, hat uns bei unserem Aufstieg kräftig geholfen. Uns geht's gut, Mark. Und mit Mike Shea wäre es auch so, wenn er nicht in den Raum zurück gewollt hätte.« Shea grinste und zuckte mit der Achsel. »Dort gefällt's mir eben. Ich bereu's auch nicht. Und mit der Versicherungssumme, die ich gekriegt hab, da hab ich ein hübsches Stück Geld, mit dem ich mich zur Ruhe setzen kann.« Brandon sagte nachdenklich: »Das Wrack hat die Transraum Versicherung einen schönen Batzen Geld gekostet. Trotzdem geht mir etwas ab. Wenn man heutzutage zu jemand Silver Queen sagt, dann fällt dem nur Quentin ein, wenn ihm überhaupt jemand einfällt.« »Wer?« fragte Shea. 458
»Quentin. Dr. Horace Quentin. Er gehörte zu denen auf dem Schiff, die nicht überlebten. Und wenn man sagt: ›Was ist mit den drei Männern, die überlebten?‹, dann wird man nur angestarrt. ›Was?‹ heißt es dann.« Moore sagte ruhig: »Komm, Mark, finde dich damit ab. Dr. Quentin war einer der größten Wissenschaftler der Welt, und wir drei gehören eben zu den Nullen.« »Wir haben überlebt. Wir sind immer noch die drei einzigen in der Geschichte, die überlebt haben.« »Na und? Hör mal, John Hester war auf dem Schiff, und er war ebenfalls ein bedeutender Wissenschaftler. Er war nicht vom Kaliber Quentins, aber doch bedeutend. Beim letzten Abendessen, bevor uns der Steinbrocken traf, saß ich sogar neben ihm. Und weil eben Quentin im selben Wrack umkam, nahm niemand Notiz vom Tod Hesters. Niemand erinnert sich, daß Hester auf der Silver Queen starb. Man denkt nur an Quentin. Uns hat man auch vergessen, aber wir leben wenigstens noch.« »Ich sag dir mal was«, sagte Brandon nach einem Schweigen, wobei Moores vernünftige Erklärung offenkundig wirkungslos geblieben war, »wir sitzen wieder allein da. Heute vor zwanzig Jahren waren wir allein vor Vesta. Heute sind wir allein der Vergessenheit anheim gegeben. Aber jetzt sind wir drei endlich wieder vereint, und was sich einmal zugetragen hat, kann wieder geschehen. Vor zwanzig Jahren hat uns Warren zur Vesta gebracht. Machen wir uns also jetzt an die Lösung dieses neuen Problems.«
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»Du meinst, der Vergessenheit zu entrinnen?« sagte Moore. »Berühmt werden?« »Klar. Warum nicht? Kannst du dir was Besseres ausdenken, um einen zwanzigsten Jahrestag zu begehen?« »Nein, aber mich würde interessieren, wovon du dabei ausgehen willst. Ich glaube kaum, daß die Leute überhaupt noch an die Silver Queen denken, es sei denn im Zusammenhang mit Quentin, du mußt dir also etwas einfallen lassen, wie du den Leuten das Wrack wieder ins Gedächtnis rufen willst. Damit fängt's überhaupt erst an.« Shea wurde unruhig, und sein offenes Gesicht wurde nachdenklich. »Einige Leute denken noch an die Silver Queen. Zum Beispiel die Versicherungsgesellschaft, und es ist komisch, wissen Sie, daß Sie davon reden. Ich war vor ungefähr zehn oder elf Jahren auf Vesta und fragte, ob der Wrackteil, den wir runtergebracht haben, noch da war, und man sagte, klar, wer soll den schon wegschaffen? Ich dachte also, ich schau ihn mir mal an und schoß mit einem Rückstoßmotor rüber, den ich mir an den Rükken geschnallt hatte. Wissen Sie, bei der Schwerkraft der Vesta genügt so ein Rückstoßmotor. Auf jeden Fall konnte ich ihn aber nur aus der Ferne sehen. Er war durch ein Kraftfeld abgeschirmt.« Brandon riß die Augenbrauen himmelweit in die Höhe. »Unsere Silver Queen? Aus welchem Grund?« »Ich flog zurück und fragte, wie das kommt. Man sagte es mir nicht und sagte, man habe nicht gewußt, daß ich dort sei. Man sagte, das Wrack gehöre der Versicherungsgesellschaft.« 460
Moore nickte. »Klar. Die übernahmen es, als sie gezahlt hatten. Ich habe eine Verzichtserklärung unterschrieben und gab all meine Bergungsrechte auf, als ich den Scheck für die Abfindung entgegennahm. Ich bin mir sicher, das haben Sie auch getan.« Brandon sagte: »Aber warum das Kraftfeld? Warum die Geheimhaltung?« »Weiß ich nicht.« »Das Wrack ist nicht mal als Altmetall etwas wert. Der Transport käme zu teuer.« Shea sagte: »Stimmt. Trotzdem komisch. Man holte nämlich Stücke aus dem Raum zurück. Da lag ein ganzer Haufen dort. Ich konnte ihn sehen, und er sah nach Gerümpel aus, verbogene Rahmenteile, Sie wissen schon. Ich fragte nach, und es hieß, es landen dauernd Schiffe, die noch mehr Schrott ausladen, und die Versicherungsgesellschaft bezahlte einen festen Preis für jedes Stück von der Silver Queen, das zurückgebracht wurde. Die Schiffe, die in der Nähe der Vesta waren, schauten also immer nach. Und dann, auf meiner letzten Fahrt dorthin, sah ich wieder nach der Silver Queen, und der Haufen war um einiges größer.« »Das heißt, die suchen immer noch?« Brandons Augen glitzerten. »Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie aufgehört. Aber der Haufen war größer, als er vor zehn oder elf Jahren war, also haben sie damals noch gesucht.« Brandon lehnte sich in seinen Stuhl zurück und legte die Beine übereinander. »Also, das ist ja wirklich komisch. 461
Eine hartgesottene Versicherungsgesellschaft gibt eine Menge Geld aus, sucht den Raum in der Nähe der Vesta ab, versucht, Stücke eines zwanzig Jahre alten Wracks aufzutreiben.« »Vielleicht versuchen die zu beweisen, daß es Sabotage war«, sagte Moore. »Nach zwanzig Jahren? Die kriegen ihr Geld nicht zurück, selbst wenn ihnen der Beweis gelingt. Die Sache ist verjährt.« »Die haben möglicherweise vor Jahren mit der Suche aufgehört.« Brandon stand entschlossen auf. »Fragen wir mal. An der Sache ist etwas faul, und ich habe genug Jabra in mir und bin so aufgelegt, daß ich es wissen möchte.« »Klar«, sagte Shea, »aber wen sollen wir fragen?« »Fragen wir Multivac«, sagte Brandon. Shea riß die Augen weit auf. »Multivac! Sagen Sie, Mr. Moore, haben Sie hier einen Multivac-Anschluß?« »Ja.« »Ich hab nie einen gesehen und wollte das immer mal.« »Da gibt's nichts zu sehen, Mike. Sieht einfach aus wie eine Schreibmaschine. Sie dürfen einen Multivac-Anschluß nicht mit dem Multivac selbst verwechseln. Ich kenne niemand, der Multivac gesehen hat.« Moore mußte bei dem Gedanken lächeln. Er bezweifelte, daß er in seinem Leben je einen der wenigen Techniker treffen würde, der fast den ganzen Arbeitstag an einer verborgenen Stelle im Bauch der Erde zubrachte, wo er 462
sich um einen kilometerlangen Supercomputer kümmerte, der alles enthielt, was der Mensch wußte, der die menschliche Wirtschaft führte, die Forschung lenkte, den Menschen bei politischen Entscheidungen half und noch Millionen von Schaltkreisen übrig hatte, um persönliche Fragen zu beantworten, die die Privatsphäre nicht verletzten. Brandon sagte, als sie die automatische Treppe in den ersten Stock hinauffuhren: »Ich habe mir überlegt, ob ich einen kleinen Multivac-Anschluß für die Kinder einbauen lasse. Hausaufgaben und so was, du weißt schon. Ich möchte es aber nicht nur zum Spaß machen; es soll nicht bloß eine teure Krücke für sie sein. Wie machst du es, Warren?« Moore sagte kurz und bündig: »Sie zeigen mir zuerst die Fragen. Wenn ich sie nicht zulasse, kriegt sie Multivac nicht zu sehen.« Der Multivac-Anschluß war tatsächlich eine einfache Schreibmaschine mit etwas Drum und Dran. Moore stellte die Koordinaten ein, die ihn an seinen Teil des weltweiten Netzes von Stromkreisen anschlossen und sagte: »Jetzt hör mal, ich möchte feststellen, daß ich dagegen bin und daß ich nur mitmache, weil es die Jahresfeier ist und weil ich eselhaft genug bin, neugierig zu sein. Wie soll ich jetzt die Frage formulieren?« Brandon sagte: »Frag einfach: Sucht die Transraum Versicherung in der Nähe der Vesta noch nach Teilstücken des Wracks der Silver Queen? Da muß nur mit ja oder nein geantwortet werden.«
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Moore zuckte mit den Schultern und tippte es, während Shea ehrfürchtig zusah. Der Raummann sagte: »Wie kommt die Antwort? Gesprochen?« Moore lachte. »Soviel Geld gebe ich nicht aus. Dieses Modell druckt die Antwort auf einen Streifen, der aus diesem Schlitz dort kommt.« Während er sprach, kam ein kurzer Streifen zum Vorschein. Moore nahm ihn an sich, warf einen Blick darauf und sagte: »Multivac sagt ja.« »Ha!« rief Brandon. »Hab ich's euch nicht gesagt. Jetzt frag, warum.« »Das ist doch blöd. So eine Frage ist doch offensichtlich eine Verletzung der Privatsphäre. Da kriegst du nur das gelbe GebenSie-Ihren-Grund-an.« »Frag und probier's mal. Die Suche nach den Stücken hat man nicht geheimgehalten. Vielleicht ist der Grund auch nicht geheim.« Moore zuckte mit den Achseln. Er tippte: Warum verfolgt die Transraum Versicherung ihr Suchvorhaben Silver Queen weiter, auf das sich die vorhergehende Frage bezog? Fast gleich darauf kam klickend ein gelber Streifen zum Vorschein: Geben Sie Ihren Grund für die gewünschte Auskunft an. »Na gut«, sagte Brandon unerschrocken. »Sag ihm, wir sind die drei Überlebenden und haben ein Recht darauf, es zu wissen. Nur zu. Sag's ihm.«
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Moore tippte das in Worten nieder, die völlig frei von Emotionen waren, und wieder kam ein gelber Streifen zum Vorschein: Ihre Begründung ist unzureichend. Auskunft kann nicht erteilt werden. Brandon sagte: »Ich sehe nicht ein, warum die ein Recht haben sollen, das geheimzuhalten.« »Das entscheidet Multivac«, sagte Moore. »Er prüft die angegebenen Gründe, und wenn er entscheidet, daß die Gesetze zum Schutz der Privatsphäre gegen eine Antwort sprechen, dann hat es sich damit. Selbst die Regierung kann diese Gesetzte nicht brechen, ohne einen Gerichtsentscheid zu haben, und die Gerichte entscheiden vielleicht einmal in zehn Jahren gegen Multivac. Was willst du jetzt also tun?« Brandon sprang auf die Füße und tat das, was so typisch für ihn war: er lief hastig im Zimmer auf und ab. »Na gut, dann müssen wir es selber herausbekommen. Es ist irgend etwas Wichtiges, weswegen sie sich all die Mühe machen. Wir sind einer Meinung, daß sie nicht versuchen, Beweise für Sabotage zu finden, nach zwanzig Jahren nicht mehr. Aber die Transraum muß nach irgend etwas suchen, das so wertvoll ist, daß die Suche sich lohnt. Was könnte denn so wertvoll sein?« »Mark, du bist ein Träumer«, sagte Moore. Offensichtlich hörte ihn Brandon nicht. »Juwelen, Geld oder Wertpapiere können es nicht sein. Davon könnte gar nicht so viel da sein, um ihnen das Geld wiederzubringen, das sie die Suche schon gekostet hat. Nicht einmal, wenn
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die Silver Queen aus purem Gold wäre. Was könnte denn noch wertvoller sein?« »Auf den Wert kannst du nicht kommen, Mark«, sagte Moore. »Ein Brief könnte als Altpapier ein Hundertstel Cent und einer Gesellschaft hundert Millionen Dollar wert sein, je nach dem, was in dem Brief steht.« Brandon nickte heftig mit dem Kopf. »Dokumente. Wertvolle Papiere. Wer könnte auf dieser Reise am ehesten Papiere bei sich gehabt haben, die Milliarden wert sind?« »Wer kann das schon sagen?« »Und wie steht's mit Dr. Horace Quentin? Wie wär's damit, Warren? Er ist der einzige, an den sich die Leute noch erinnern, weil er ein so bedeutender Mann war. Wie steht's mit den Papieren, die er vielleicht bei sich hatte? Vielleicht Einzelheiten einer neuen Entdeckung? Verdammt, wenn ich ihn auf der Reise gesehen hätte, hätte er mir bei einer Unterhaltung möglicherweise etwas gesagt, weißt du. Hast du ihn je gesehen, Warren?« »Nicht, daß ich mich erinnere. Eine Unterhaltung mit mir fällt also auch flach. Ich bin natürlich vielleicht an ihm vorübergegangen, ohne es zu wissen.« »Nein, das sind Sie nicht«, sagte Shea, der plötzlich nachdenklich wurde. »Ich glaube, mir fällt etwas ein. Es gab einen Passagier, der nie seine Kabine verließ. Der Steward sprach darüber. Er kam nicht mal zum Essen heraus.« »Und das war Quentin?« fragte Brandon, blieb stehen und sah den Raummann eindringlich an.
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»Könnte sein, Mr. Brandon. Er könnte es gewesen sein. Ich glaube nicht, daß jemand gesagt hat, er wäre es. Ich erinnere mich nicht. Aber es muß ein Prominenter gewesen sein, weil man auf einem Raumschiff nicht jemand das Essen auf die Kabine bringt, es sei denn, er ist ein Prominenter.« »Und auf der Reise war Quentin der Prominente«, sagte Brandon zufrieden. »Er hatte also etwas in seiner Kabine. Etwas sehr Wichtiges. Etwas, das er versteckt hielt.« »Er war vielleicht nur raumkrank«, sagte Moore, »nur daß …« Er runzelt die Stirn und verstummte. »Nur zu«, sagte Brandon mit Nachdruck. »Fällt dir auch noch etwas ein?« »Kann sein. Ich hab dir gesagt, ich saß beim letzten Abendessen neben Dr. Hester. Er sagte so etwas wie, er hoffe, Dr. Quentin auf der Reise zu treffen, habe jedoch kein Glück dabei.« »Klar«, reif Brandon, »weil Quentin nie aus seiner Kabine kam.« »Das hat er nicht gesagt. Wir redeten aber trotzdem weiter über Quentin. Was sagte er gleich?« Moore legte die Hände an die Schläfen, als wolle er durch den Druck der Hände die Erinnerung an etwas, das zwanzig Jahre her war, aus sich herauspressen. »Den genauen Wortlaut kann ich natürlich nicht sagen, aber es hatte damit zu tun, daß Quentin sich sehr theatralisch aufführte oder dramatischen Auftritten verfallen sei oder so etwas ähnliches, und man war auf dem Weg zu irgendeiner wissenschaftlichen
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Tagung auf dem Ganymed, und Quentin wollte nicht einmal das Thema seines Vortrags angeben.« »Das paßt alles zusammen.« Brandon lief wieder rasch auf und ab. »Er hatte etwas Neues, Großes entdeckt und hielt das vollkommen geheim, weil er bei der Tagung auf Ganymed die Katze aus dem Sack lassen wollte, um höchste dramatische Wirkung zu erzielen. Er verließ deshalb nicht seine Kabine, weil er vermutlich annahm, daß Hester ihn ausquetschen würde, und ich möchte wetten, daß Hester das auch getan hätte. Und dann knallte das Schiff mit dem Steinbrocken zusammen, und Quentin verlor sein Leben. Die Transraum Versicherung stellte Nachforschungen an, hörte gerüchterweise von seiner neuen Entdeckung und dachte sich, wenn sie die in ihre Hände bekäme, könnte sie ihren Verlust wettmachen und noch eine ganze Menge dazuverdienen. Sie haben sich also in den Besitz des Wracks gesetzt und sind seitdem auf der Jagd nach den Papieren von Quentin.« Moore lächelte. »Mark, das ist eine prächtige Theorie. Der ganze Abend lohnt sich allein deswegen. Wie du da aus nichts etwas machst.« »Ach, wirklich? Ich mache aus nichts etwas? Fragen wir noch mal Multivac. Ich übernehme die Monatsrechnung.« »Ist schon in Ordnung. Aber wenn es dir nichts ausmacht, hole ich die Flasche Jabra herauf. Ich brauche noch einen Schluck, um mit dir gleichzuziehen.« »Ich auch«, sagte Shea. Brandon setzte sich an die Schreibmaschine. Seine Finger zitterten vor Übereifer, als er tippte: Womit hat sich 468
Dr. Horace Quentin in seinen letzten Untersuchungen beschäftigt? Moore war mit Flasche und Gläsern zurückgekehrt, als die Antwort kam, diesmal auf weißem Papier. Die Antwort war lang und klein gedruckt und bestand zum größten Teil aus Hinweisen auf wissenschaftliche Abhandlungen, die vor zwanzig Jahren in Zeitschriften erschienen waren. Moore las alles durch. »Ich bin kein Physiker, aber mir scheint, er interessierte sich für die Optik.« Brandon schüttelte ungeduldig den Kopf. »Das ist doch alles veröffentlicht. Wir wollen etwas, das er noch nicht veröffentlicht hatte.« »Darüber werden wir nie etwas herauskriegen.« »Der Versicherungsgesellschaft ist es aber gelungen.« »Das ist nichts als deine Theorie.« Brandon massierte sich das Kinn. »Ich werde Multivac noch eine letzte Frage stellen.« Er setzte sich wieder hin und tippte: Bitte Namen und Röhrennummer der noch lebenden Kollegen von Dr. Horace Quentin, die mit ihm an der Universität zusammenarbeiteten, zu deren Lehrpersonal er gehörte.« »Woher weißt du, daß er zum Lehrpersonal einer Universität gehörte?« fragte Moore. »Wenn das nicht der Fall war, wird Multivac uns das mitteilen.« Ein Streifen kam heraus. Auf ihm stand nur ein einziger Name.
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Moore sagte: »Hast du vor, diesen Menschen anzurufen?« »Aber klar doch«, sagte Brandon. »Otis Fitzsimmons, mit einer Röhrennummer in Detroit. Warren, darf ich mal …« »Du bist herzlich eingeladen, Mark. Das gehört noch mit zu dem Spiel.« Brandon stellte die Zahlenfolge auf der Tastatur von Moores Apparat ein. Eine Frauenstimme antwortete. Brandon fragte nach Dr. Fitzsimmons und mußte ein wenig warten. Dann sagte eine leise Stimme: »Hallo.« Sie klang alt. Brandon sagte: »Dr. Fitzsimmons, ich bin von der Transraum Versicherung, und ich rufe in der Sache des verstorbenen Dr. Horace Quentin an …« »Um Himmels willen, Mark«, flüsterte Moore, aber Brandon hielt rasch abweisend die Hand hoch. Es gab eine Pause, die so lang war, daß man schon fast an eine Unterbrechung der Verbindung glauben konnte, dann sagte die alte Stimme: »Nach all den Jahren noch einmal?« Brandon konnte ein triumphierendes Fingerschnippen nicht unterdrücken. Er sagte dann aber glatt und recht schlagfertig: »Herr Doktor, wir versuchen noch immer herauszubekommen, ob Ihnen vielleicht nicht noch weitere Einzelheiten dazu eingefallen sind, was Dr. Quentin möglicherweise auf seiner letzten Reise bei sich gehabt und
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was mit seiner letzten unveröffentlichten Entdeckung in Zusammenhang stand.« »Nun …«, hörte man mit einem ungeduldigen Zungenschnalzen, »ich glaube, ich habe es Ihnen schon mitgeteilt. Ich möchte damit nicht wieder belästigt werden. Ich weiß nicht, ob es da überhaupt etwas gab. Der Mann machte Andeutungen, aber er machte dauernd Andeutungen über irgendeinen Apparat oder so was.« »Über was für einen Apparat, Sir?« »Ich sage Ihnen doch, ich weiß es nicht. Er hat einmal einen Namen gesagt, und ich habe Ihnen den mitgeteilt. Ich glaube nicht, daß er von Wichtigkeit ist.« »Wir haben diesen Namen nicht in unseren Unterlagen, Sir.« »Nun, das sollten Sie aber. Hm, wie war doch gleich der Name? Ein Optikon, das war's.« »Mit K?« »C oder K. Ich weiß es nicht, und mir ist es auch gleich. Und bitte, ich möchte damit nicht wieder belästigt werden. Auf Wiederhören.« Bis zur Unterbrechung der Verbindung hörte man ihn noch verdrossen weitermurmeln. Brandon war zufrieden. Moore sagte: »Mark, das war das Dümmste, was du machen konntest. Über die Röhre eine falsche Identität vorspiegeln, ist ungesetzlich. Wenn er dir Schwierigkeiten macht …« »Warum sollte er? Er hat es schon wieder vergessen. Aber verstehst du denn nicht, Warren? Die Transraum hat
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ihn über die Sache ausgefragt. Er sagte mehrmals, daß er schon alles mitgeteilt hat.« »Na gut. Aber du warst von selbst schon darauf gekommen. Was weißt du noch?« »Wir wissen noch«, sagte Brandon, »daß Quentins Apparat Optikon genannt wurde.« »Fitzsimmons schien das aber nicht genau zu wissen. Und da wir sowieso schon wissen, daß er sich gegen Ende seines Lebens mit der Optik befaßte, bringt uns ein Name wie Optikon auch nicht weiter.« »Und die Transraum Versicherung sieht sich entweder nach dem Optikon um oder nach Papieren, die damit zu tun haben. Vielleicht hatte Quentin die Einzelheiten im Kopf und hatte nur ein Modell des Instruments dabei. Schließlich sagte Shea, daß man Metallgegenstände zusammentrug. Stimmt doch?« »Zu dem Haufen gehörte auch eine Menge Metallzeug«, bekräftigte Shea. »Das würden sie im Raum lassen, wenn die hinter Papieren her wären. Dahinter sind wir also her, hinter einem Instrument, das möglicherweise Optikon heißt.« »Selbst wenn alle deine Theorien richtig sind, Mark, und wir ein Optikon suchen, so ist die Suche doch jetzt völlig hoffnungslos«, erklärte Moore. »Ich bezweifle, daß mehr als zehn Prozent der Trümmer in einer Umlaufbahn um Vesta geblieben sind. Die Geschwindigkeit, um von der Vesta wegzukommen, ist praktisch gleich Null. Ein glücklicher Stoß in einer glücklichen Richtung mit einer glücklichen Geschwindigkeit, das war's, was unseren Teil 472
des Wracks in eine Umlaufbahn brachte. Der Rest ist verschwunden, hat sich im ganzen Sonnensystem ausgebreitet, umkreist auf allen erdenklichen Bahnen die Sonne.« »Man hat Stücke eingesammelt«, sagte Brandon. »Ja, die zehn Prozent davon, die in eine Umlaufbahn um Vesta gekommen waren. Mehr nicht.« Brandon gab nicht auf. Er sagte nachdenklich: »Nehmen wir an, es war da, und man hat es nicht gefunden. Sind sie vielleicht von jemand ausgestochen worden?« Mike Shea lachte. »Wir waren doch mitten drin, und wir sind mit nichts als unserer heilen Haut abspaziert und waren noch froh drum. Wer soll das denn gewesen sein?« »Stimmt«, pflichtete ihm Moore bei. »Und wenn es jemand anderer an sich genommen hat, warum hält man es dann geheim?« »Vielleicht weiß man nicht, was man da hat.« »Wie sollen wir dann weiter …« Moore unterbrach sich und wandte sich an Shea: »Was haben Sie gesagt?« Shea sah ihn verständnislos an. »Wer? Ich?« »Gerade eben, daß wir dort gewesen sind.« Moores Augen verengten sich. Er schüttelte den Kopf, als wolle er ihn klar bekommen, dann flüsterte er: »Große Milchstraße!« »Was ist los?« fragte Brandon gespannt. »Was gibt's, Warren?« »Ich bin mir nicht sicher. Du machst mich ganz verrückt mit deinen Theorien. So verrückt, daß ich anfange, sie ernst 473
zu nehmen, glaube ich. Weißt du, wir haben Sachen aus dem Wrack mit uns genommen. Ich meine, abgesehen von unseren Sachen und den persönlichen Dingen, die wir noch hatten. Oder ich zumindest habe etwas mitgenommen.« »Was?« »Das war, als ich mich über die Außenseite des Wrackteils vorarbeitete – im Raum, mir kommt vor, ich sei dort, so deutlich sehe ich es vor mir – ich habe ein paar Sachen aufgehoben und sie in die Tasche meines Raumanzugs gesteckt. Ich weiß nicht, warum. Ich war wirklich nicht ganz bei mir. Ich tat es, ohne nachzudenken. Und dann hab ich sie aufgehoben. Als Andenken. Ich nahm sie mit auf die Erde zurück.« »Wo sind sie?« »Ich weiß nicht. Wißt ihr, wir sind nicht immer an einem Ort geblieben.« »Du hast sie doch nicht weggeworfen?« »Nein, aber bei Umzügen geht so einiges verloren.« »Wenn du sie nicht weggeworfen hast, dann müssen sie irgendwo hier im Haus sein.« »Wenn sie nicht verschwunden sind. Ich schwöre, ich erinnere mich nicht, sie in den letzten fünfzehn Jahren gesehen zu haben.« »Was waren das für Sachen?« Warren Moore sagte: »Da war ein Füllfederhalter, erinnere ich mich. Eine richtige Antiquität, die Sorte, die eine Tintensprühpatrone hatte. Aber was mich wirklich schafft, ist die Tatsache, daß das andere Ding ein kleiner 474
Feldstecher war, kaum länger als fünfzehn Zentimeter. Verstehst du, was ich meine? Ein Feldstecher!« »Ein Optikon«, rief Brandon. »Klar!« »Das ist einfach Zufall«, sagte Moore, der nüchtern bleiben wollte. »Einfach ein merkwürdiger Zufall.« Aber Brandon wollte sich so nicht abspeisen lassen. »Ein Zufall, Blödsinn! Die Transraum konnte das Optikon in dem Wrack nicht finden und im Raum auch nicht, weil du es die ganze Zeit über hattest.« »Du bist verrückt.« »Komm, wir müssen das Ding jetzt finden.« Moore atmete tief aus. »Schön, ich sehe nach, wenn du das möchtest, aber ich bezweifle, daß ich es finden werde. Okay, fangen wir mit dem Speicher an. Das ist am vernünftigsten.« Shea lachte in sich hinein. »Der vernünftigste Ort ist meistens der, wo am schwersten was zu finden ist.« Sie gingen jedoch alle wieder zur automatischen Treppe, und dann stiegen sie die zusätzlichen Stufen hinauf. Der Speicher roch muffig und unbenutzt. Moore schaltete den Entstauber ein. »Ich glaube, wir haben hier seit zwei Jahren nicht mehr entstaubt. Das zeigt euch, wie oft ich hier heraufkomme. Also, schauen wir mal – wenn das Zeug überhaupt wo ist, dann bei der Sammlung aus Junggesellentagen. Ich meine das Gerümpel, das ich seit meiner Zeit als Junggeselle aufbewahrt habe. Hier können wir anfangen.«
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Moore fing an, den Inhalt zusammenlegbarer Kunststoffkoffer durchzuwühlen, während ihm Brandon aufgeregt über die Schulter sah. Moore sagte: »Was sagst du jetzt? Mein Jahrbuch vom College. Damals hab ich mich mit Sonik beschäftigt, hatte wirklich was los. Ich hab's geschafft, daß jedes Bild der Absolventen in diesem Buch eine Stimmaufzeichnung enthält.« Er pochte verliebt auf den Bucheinband. »Ihr würdet schwören, daß da nichts als die üblichen dreidimensionalen Photos zu sehen ist, aber jedes einzelne hat …« Er bemerkte Brandons gerunzelte Stirn und sagte: »Okay, ich sehe weiter nach.« Er ließ die zusammenlegbaren Koffer beiseite und öffnete einen, der aus schwerem, altmodischem Kunstholz gemacht war. Er sortierte den Inhalt der verschiedenen Fächer aus. Brandon sagte: »He, ist das das Ding?« Er deutete auf eine kleine Walze, die mit einem leichten Klicken auf den Boden hinunterrollte. Moore sagte: »Ich weiß nicht – ja! Das ist der Füller. Das ist er. Und hier ist der Feldstecher. Beide funktionieren natürlich nicht. Beide sind kaputt. Zumindest glaube ich, daß der Füller kaputt ist. Irgend etwas ist locker und klappert. Hört ihr's? Ich habe auch nicht die leiseste Ahnung, wie man ihn füllt, damit ich ausprobieren könnte, ob er wirklich noch funktioniert. Und schon seit Jahren werden keine Tintensprühpatronen mehr hergestellt.« Brandon hielt ihn ans Licht. »Er hat Initialen drauf.« 476
»Ach? Daran erinnere ich mich gar nicht.« »Sie sind ziemlich abgewetzt. Sehen aus wie J. K. Q.« »Q?« »Genau. Und das ist ein ziemlich ungewöhnlicher Anfangsbuchstabe für einen Familiennamen. Dieser Füller kann Quentin gehört haben. Ein Erbstück, der als Talisman oder aus Sentimentalität behalten hat. Hat vielleicht in den Tagen, als man so etwas benutzte, einem Urgroßvater gehört. Einem Urgroßvater, der Jason Knight Quentin oder Judah Kent Quentin oder so ähnlich geheißen hat. Wir können über Multivac die Namen der Vorfahren von Quentin nachprüfen.« Moore nickte. »Wir sollten das vielleicht tun. Siehst du, jetzt hast du mich schon so verrückt gemacht, wie du selber bist.« »Und wenn das so ist, beweist das, daß du ihn in Quentins Zimmer an dich genommen hast. Und den Feldstecher hast du ebenfalls dort eingesteckt.« »Einen Augenblick mal. Ich erinnere mich nicht, daß ich sie beide an derselben Stelle zu mir genommen habe. Ich erinnere mich nicht so genau an die Kletterpartie über die Außenseite des Wracks.« Brandon drehte den kleinen Feldstecher unter dem Licht hin und her. »Hier sind keine Initialen.« »Hast du welche erwartet?« »Ich sehe eigentlich überhaupt nichts, von dieser engen Fuge hier abgesehen.« Er fuhr die dünne Kerbe, die am dickeren Ende um das Glas herumlief, mit einem Daumennagel nach. Er versuchte ohne Erfolg, daran zu 477
drehen. »Aus einem Stück.« Er setzte es ans Auge. »Das Ding funktioniert nicht.« »Ich hab dir doch gesagt, es ist kaputt. Keine Linsen …« Shea meldete sich zu Wort. »Man kann schon einigen Schaden erwarten, wenn ein Raumschiff mit einem Riesenmeteor zusammenstößt und auseinanderbricht.« »Wenn es das Ding also wirklich ist«, sagte Moore und war wieder pessimistisch, »wenn das das Optikon ist, dann hilft es uns auch nichts.« Er nahm Brandon den Feldstecher ab und betastete die leeren Ränder. »Man kann nicht einmal sagen, wo die Linsen hingehörten. Ich kann keine Vertiefung finden, in der sie vielleicht mal gesessen sind. Es ist so, als hätte es da nie – he!« Er stieß die Silbe so aus, daß es wie eine Explosion klang. »Was ›he‹?« sagte Brandon. »Der Name! Der Name von dem Ding!« »Du meinst Optikon?« »Optikon meine ich nicht! Wir dachten, Fitzsimmons sagte ›ein Optikon‹.« »Das hat er doch aber gesagt«, sagte Brandon. »Klar«, sagte Shea, »ich habe ihn gehört.« »Ihr habt nur geglaubt, daß ihr das gehört habt. Er sagte ›Anoptikon‹. Versteht ihr? Nicht ›ein Optikon‹, zwei Worte, sondern ›Anoptikon‹ in einem Wort.« »Und?« sagte Brandon verdutzt. »Was ist da der Unterschied?«
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»Ein Riesenunterschied ist da! ›Ein Optikon‹ hieße ein Instrument mit Linsen, aber ›Anoptikon‹ ein Wort, hat die griechische Vorsilbe ›an-‹, die ›un-, nicht-‹ bedeutet. Es kommt in Wörtern, die aus dem Griechischen abgeleitet sind, vor. Anarchie heißt ›keine Regierung‹, Anämie heißt ›kein Blut‹, anonym heißt ›kein Name‹ und Anoptikon heißt …« »Keine Linsen«, rief Brandon. »Genau! Quentin muß an einem optischen Instrument ohne Linsen gearbeitet haben, und das hier kann es sein, und es ist möglicherweise gar nicht kaputt.« Shea sagte: »Aber man sieht nichts, wenn man durchguckt.« »Vielleicht ist es auf Null eingestellt«, sagte Moore. »Man muß es irgendwie einstellen können.« Er nahm es wie Brandon in beide Hände und versuchte, es an der Stelle mit der durchlaufenden Kerbe zu drehen. Brummend versuchte er es mit mehr Kraft. »Mach's nicht kaputt«, sagte Brandon. »Es bewegt sich. Entweder soll es so fest gehen, oder es ist eingerostet.« Er hörte auf und setzte das Instrument wieder ans Auge. Er wirbelte herum, drehte den Polarisator eines Fensters auf und blickte auf die Lichter der Stadt hinaus. »Der tiefste Raum soll mich …«, brachte er heraus. Brandon sagte: »Was? Was?« Moore reichte Brandon wortlos das Instrument. Brandon setzte es ans Auge und rief laut: »Es ist ein Fernrohr.«
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Shea sagte sofort: »Lassen Sie mich mal sehen.« Sie brachten fast eine ganze Stunde mit dem Gerät zu, verwandelten es durch Drehungen in einer Richtung in ein Fernrohr, durch entgegengesetzte Drehungen in ein Mikroskop. »Wie funktioniert es?« fragte Brandon immer wieder. »Ich weiß nicht«, sagte Moore immer wieder. Schließlich sagte er: »Ich bin mir sicher, es arbeitet mit konzentrierten Kraftfeldern. Wenn wir drehen, müssen wir beträchtlichen Feldwiderstand überwinden. Bei größeren Instrumenten wird man Hilfsmotoren für die Einstellung brauchen.« »Ein hübscher Kniff«, sagte Shea. »Und noch mehr als das«, sagte Moore. »Ich wette, das gibt der theoretischen Physik eine völlig neue Wendung. Es sammelt Licht ohne Linsen, und es kann eingestellt werden, mit immer größerem Winkel Licht zu sammeln, ohne daß dabei die Brennweite verändert wird. Ich möchte wetten, wir könnten das ZwölfMeter-Teleskop auf Ceres in einer Richtung und ein Elektronenmikroskop in der anderen nachmachen. Und außerdem sehe ich keine Abbildungsfehler, keine Farbabweichungen; das Licht aller Wellenlängen muß also gleichmäßig gebrochen werden. Vielleicht bricht es auch Funkwellen und Gammastrahlen. Vielleicht beugt es auch die Schwerkraft, wenn die Schwerkraft eine Art Strahlung sein sollte. Möglicherweise …«
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»Schaut dabei Geld heraus?« unterbrach ihn Shea trocken. »Eine ganze Menge, wenn jemand drauf kommt, wie es funktioniert.« »Dann gehen wir damit nicht zur Transraum Versicherung. Zuerst gehen wir mal zu einem Rechtsanwalt. Haben wir mit unseren Bergungsrechten auch auf diese Sachen verzichtet oder nicht? Sie waren schon in deinem Besitz, bevor wir das Papier unterzeichneten. Und gilt deshalb das Papier etwas, wenn wir nicht wußten, worauf wir verzichteten? Vielleicht legt man es als Betrug aus.« »Eigentlich weiß ich nicht genau«, sagte Moore, »ob eine private Gesellschaft so etwas überhaupt besitzen soll. Wir sollten uns mit einer Regierungsstelle in Verbindung setzen. Wenn Geld dabei herausschaut …« Brandon trommelte jedoch mit beiden Fäusten auf die Knie. »Zum Teufel mit dem Geld, Warren. Ich meine, ich nehme das Geld mit, das mir in den Schoß fällt, aber darum geht es doch gar nicht! Mensch, wir werden berühmt sein, berühmt! Stell dir die Geschichte vor. Ein phantastischer Schatz im Raum verlorengegangen. Eine Riesengesellschaft durchkämmt zwanzig Jahre lang den Raum, um ihn zu finden, und die ganze Zeit über haben wir, die Vergessenen, ihn in unserem Besitz. Und dann, am zwanzigsten Jahrestag des damaligen Verlusts, finden wir ihn wieder. Wenn die Sache klappt, wenn die Anoptik eine große neue wissenschaftliche Methode wird, dann wird man uns nie vergessen.«
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Moore grinste und fing dann an zu lachen. »Stimmt. Du hast es geschafft, Mark. Du hast getan, was du dir vorgenommen hattest. Du hast uns davor gerettet, in der Vergessenheit unterzugehen.« »Wir alle haben es geschafft«, sagte Brandon. »Mike Shea hat uns mit den nötigen grundlegenden Einzelheiten auf die Spur gebracht. Ich hab die Theorie ausgearbeitet, und du hast das Instrument gehabt.« »Okay. Es ist spät, und meine Frau wird bald zurückkommen, lassen wir die Feier also weiter steigen. Multivac wird uns mitteilen, welche Stelle die richtige ist und wer …« »Nein, nein«, sagte Brandon. »Erst die Feierlichkeit. Bitte den Schlußtrinkspruch der Jahresfeier, und bitte mit den richtigen Abänderungen. Würdest du uns nicht den Gefallen tun, Warren?« Er reichte ihm die Jabraflasche, die noch halb gefüllt war. Behutsam schenkte Moore die kleinen Gläser genau randvoll. »Meine Herren«, sagte er feierlich, »ein Trinkspruch.« Die drei hoben einträchtig die Gläser. »Meine Herren, auf die Andenken an die Silver Queen, die wir mal hatten.«
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Das Nullfeld (The Billiard Ball, 1967) Deutsch von Jürgen Saupe
Professor James Priss sprach immer langsam. Ich weiß das. Ich interviewte ihn oft genug. Er hatte den größten Kopf seit Einstein, aber er arbeitete nicht rasch. Er gab seine Schwerfälligkeit oft zu. Vielleicht arbeitete sein Kopf deshalb nicht so rasch, weil er so großartig war. Er sprach zum Beispiel langsam in abstrakten Begriffen, dachte nach und sprach dann weiter. Sein riesiger Verstand brütete auch über banalen Dingen voller Ungewißheit, bemühte sich hier und dann dort um den letzten Schliff. Ich kann mir vorstellen, wie er darüber nachdachte, ob morgen die Sonne aufgehen würde. Was meinen wir, wenn wir »aufgehen« sagen? Können wir sicher sein, daß das Morgen kommt? Ist der Ausdruck »Sonne« in diesem Zusammenhang völlig unzweideutig? Denkt man sich zu dieser Sprechweise noch ein höfliches Gesicht, ein wenig bleich und bis auf einen allgemeinen Eindruck von Ungewißheit ausdruckslos, dazu schütteres graues Haar, doch sauber gekämmt, und Straßenanzüge bescheidenen Zuschnitts, dann hat man Professor James Priss, wie er war – ein sich zur Ruhe setzender Mensch, dem jede Anziehungskraft fehlte.
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Deshalb würde ihn auch niemand auf der Welt, mich ausgenommen, für einen Mörder halten. Und selbst ich bin mir nicht sicher. Er war immerhin ein langsamer Denker gewesen, er dachte immer langsam. Kann man annehmen, daß es ihm in einem entscheidenden Augenblick gelang, rasch zu denken und sofort zu handeln? Es ist gleich. Sollte er auch gemordet haben – er kam ungestraft davon. Es ist jetzt viel zu spät, den Lauf der Dinge aufzuhalten, und es würde mir nicht gelingen, selbst wenn ich mich entschließen würde, dies hier veröffentlichen zu lassen. Edward Bloom war auf dem College Klassenkamerad von Priss und danach ein Menschenalter lang auf Grund der Verhältnisse sein Gefährte. Sie waren beide gleich alt und gleich dem Junggesellenleben ergeben, in allem anderen, worauf es ankam, jedoch grundverschieden. Bloom war ein wahrer Lichtblick. Er war lebhaft, groß, breit, laut, keck und selbstbewußt. Er hatte einen Verstand, der in der plötzlichen und unerwarteten Art, wie er das Wesentliche begriff, einem funkensprühenden Meteor glich. Er war kein Theoretiker wie Priss. Bloom hatte weder die Geduld dazu, noch die Fähigkeit, sich durch angestrengtes Nachdenken auf einen einzigen abstrakten Punkt zu konzentrieren. Er gab es zu und brüstete sich damit. Was er hatte, war eine unheimliche Art, die Anwendung einer Theorie zu erfassen, den Weg zu erfassen, auf dem sie nutzbar gemacht werden konnte.
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Er konnte offensichtlich mühelos in dem kühlen Marmorblock abstrakter Konstruktionen den verwickelten Plan zu einem herrlichen Gerät sehen. Auf seine Berührung hin fiel der Block auseinander und gab das Gerät frei. Alle Welt weiß, und es ist nicht übertrieben, daß nichts, was Bloom je baute, versagt hätte oder nicht zu patentieren oder zu Geld zu machen wäre. Als er fünfundvierzig war, gehörte er zu den reichsten Männern der Erde. Und der Techniker Bloom hatte sich nie auf eine Sache besser eingestellt als auf die Denkweise des Theoretikers Priss. Die großartigsten Apparate Blooms wurden auf Grund der großartigsten Gedanken von Priss gebaut, und während Bloom reich und berühmt wurde, erlangte Priss unter seinen Kollegen einen phänomenalen Ruf. Als Priss seine Zwei-Felder-Theorie vortrug, erwartete man natürlich, daß sich Bloom sofort daran machen werde, das erste brauchbare Anti-Schwerkraft-Gerät zu bauen. Es war meine Aufgabe, für die Abonnenten der Tele-News Press menschlich Interessantes an der Zwei-FelderTherorie aufzuspüren, und darauf stößt man, wenn man sich mit menschlichen Wesen und nicht mit abstrakten Ideen beschäftigt. Menschlich Interessantes in einem Interview mit Professor Priss herauszuarbeiten, war keine leichte Sache. Natürlich wollte ich ihn über die Möglichkeiten der AntiSchwerkraft fragen, für die sich jeder interessierte, und nicht über die Zwei-Felder Theorie, die niemand verstehen konnte. 485
»Anti-Schwerkraft?« Priss preßte die bleichen Lippen aufeinander und überlegte. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie je möglich sein wird. Ich habe die Sache noch nicht zu meiner Zufriedenheit gelöst. Ich sehe nicht genau, ob die Gleichungen der Zwei-Felder-Theorie eine endliche Lösung haben, die sie selbstverständlich haben müßten, wenn …« Und dann versank er in seinen Gedanken. Ich stachelte ihn an. »Bloom sagt, er glaubt, daß solch ein Gerät gebaut werden könne.« Priss nickte. »Jaja, aber ich überlege noch. Ed Bloom hat in der Vergangenheit die verblüffende Gabe gehabt, Dinge zu sehen, die nicht gleich zu bemerken waren. Er hat einen ungewöhnlichen Kopf. Er ist damit ja auch reich genug geworden.« Wir saßen in der Wohnung von Priss. Gewöhnlich und bürgerlich. Ich konnte mir nicht verkneifen, rasch hierhin und dorthin zu schauen. Priss war nicht reich. Ich glaube nicht, daß er meine Gedanken las. Er sah meine Blicke. Und ich glaube, seine Gedanken beschäftigten sich damit. Er sagte: »Der reine Wissenschaftler wird gewöhnlich nicht mit Reichtum belohnt. Der auch gar nicht erstrebenswert wäre.« Ich dachte dabei, das kann schon sein. Priss war gewiß auf seine Weise belohnt worden. Er war der dritte Mensch in der Geschichte des Nobelpreises, der ihn zweimal erhalten hatte, und der erste, der beide für wissenschaftliche Leistungen bekam, und
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zwar ungeteilt. Da kann man sich nicht beschweren. Wenn er nicht reich war, so war er auch nicht arm. Aber er hörte sich nicht wie ein zufriedener Mensch an. Vielleicht ärgerte Priss nicht nur der Reichtum Blooms, vielleicht auch die Berühmtheit Blooms. Vielleicht war es die Tatsache, daß Bloom gefeiert wurde, wohin er auch kam, während Priss außerhalb wissenschaftlicher Kongresse und Vereinigungen weithin unbekannt war. Ich kann nicht sagen, wieviel davon in meinen Augen oder den Falten meiner Stirn anzusehen war, aber Priss fuhr fort: »Aber wir sind Freunde, wissen Sie. Ein-, zweimal die Woche spielen wir zusammen Billard. Ich schlage ihn regelmäßig.« Ich sagte: »Möchten Sie sich dazu äußern, ob es Bloom gelingen wird, ein Anti-Schwerkraft-Gerät zu bauen?« »Sie meinen, ob ich mich auf etwas festlegen will? Hm. Nun, lassen Sie mich nachdenken, junger Mann. Was verstehen wir überhaupt unter Anti-Schwerkraft? Unsere Auffassung von Schwerkraft gründet sich auf Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, die jetzt einhundertfünfzig Jahre alt ist, die sich innerhalb ihrer Grenzen aber als fest erwiesen hat. Wir können uns eine Vorstellung von ihr machen …« Ich lauschte höflich. Ich hatte Priss schon darüber reden hören; es war gar nicht sicher, ob ich etwas aus ihm herausbekommen würde; ich mußte ihn jedoch bis dahin seinen eigenen Weg gehen lassen. »Wir können uns eine Vorstellung von ihr machen«, sagte er, »wenn wir uns das Universum als eine flache, 487
dünne, superelastische und unzerreißbare Gummidecke vorstellen. Wenn wir uns Masse mit Gewicht verknüpft vorstellen, wie es auf der Erdoberfläche ist, dann würden wir erwarten, daß eine Masse, die auf der Gummidecke ruht, eine Vertiefung hervorruft. Je größer die Masse, desto tiefer die Vertiefung.« Er fuhr fort: »Im wirklichen Universum gibt es alle Arten von Massen, und man muß sich unsere Gummidecke als übersät mit Vertiefungen vorstellen. Jeder Gegenstand, der über die Decke rollen würde, müßte auf seinem Lauf in Vertiefungen hinein und wieder hinaus und dabei ziellos seine Richtung ändern. Dieses Schwanken und Richtungswechseln deuten wir als Beweis für die Existenz der Schwerkraft. Wenn der sich bewegende Gegenstand der Mitte einer solchen Vertiefung nahe genug kommt und sich langsam genug bewegt, dann wird er eingefangen und wirbelt in dieser Vertiefung herum. Bei Abwesenheit von Reibungskräften wirbelt es im Kreis herum. Anders ausgedrückt, was Isaac Newton als Kraft deutete, hat Albert Einstein als geometrische Verzerrung betrachtet.« Er hielt an diesem Punkt inne. Er hatte verhältnismäßig flüssig gesprochen, da er Dinge sagte, über die er schon oft geredet hatte. Aber jetzt kam er nur noch zögernd voran. Er sagte: »Wenn wir also versuchen, Anti-Schwerkraft herzustellen, versuchen wir, die Geometrie des Universums zu ändern. Um unseren Vergleich fortzusetzen, versuchen wir, die eingedellte Gummidecke glattzuziehen. Wir könnten uns auch denken, wir begeben uns unter die Masse, die die Vertiefung verursacht, heben sie hoch und
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tragen sie, damit sie keine Vertiefung hervorrufen kann. Wenn wir die Gummidecke auf diese Weise glatt bekommen, schaffen wir ein Universum – oder zumindest einen Abschnitt des Universums, in dem es keine Schwerkraft gibt. Ein rollender Körper würde an der Masse, die keine Vertiefung hervorruft, ohne eine Richtungsänderung vorbeikommen, und wir könnten das so deuten, daß diese Masse keine Schwerkraft hätte. Um das bewerkstelligen zu können, brauchten wir allerdings eine Masse, die der entspricht, die die Vertiefung verursacht. Um auf der Erde so Anti-Schwerkraft herstellen zu können, müßten wir eine Masse benutzen, die der der Erde entspräche, und sie sozusagen über unsere Köpfe heben.« Ich unterbrach ihn. »Aber Ihre Zwei-Felder-Theorie …« »Eben. Die Allgemeine Relativitätstheorie erklärt Schwerkraftfeld und elektromagnetische Felder nicht in einem einzigen Satz von Gleichungen. Einstein brachte sein halbes Leben damit zu, diesen einzigen Satz für eine einheitliche Feld-Theorie zu suchen – und versagte. Alle, die Einstein folgten, versagten ebenfalls. Ich begann jedoch mit der Annahme, daß es zwei Felder gäbe, die sich nicht vereinigen ließen und kam zu Schlußfolgerungen, die ich zum Teil mit Hilfe des Bildes der Gummidecke erklären kann.« Wir kamen jetzt auf etwas, was ich, glaube ich, noch nie zuvor gehört hatte. »Wie geht das?« fragte ich. »Nehmen wir an, wir versuchen, anstatt die Masse aus ihrer Vertiefung zu heben, die Decke selbst zu versteifen, sie weniger nachgiebig zu machen. Sie würde sich zumindest in einem kleinen Gebiet zusammenziehen und 489
glatter werden. Schwerkraft und Masse würden geschwächt, weil die beiden in Anbetracht des Universums, das aus Vertiefungen besteht, im wesentlichen dasselbe sind. Wenn wir die Gummidecke völlig flach bekämen, würden Schwerkraft und Masse völlig verschwinden. Unter den richtigen Voraussetzungen könnte man das elektromagnetische Feld dazu benutzen, dem Schwerkraftfeld entgegenzuwirken und so das eingedellte Gebilde des Universums versteifen zu helfen. Das elektromagnetische Feld ist enorm stärker als das Schwerkraftfeld, und man könnte das erstere dazu bringen, letzteres zu überwinden.« Ich sagte unsicher: »Aber Sie sagten, ›unter den richtigen Voraussetzungen‹. Herr Professor, können diese richtigen Voraussetzungen, von denen Sie sprechen, geschaffen werden?« »Eben das weiß ich nicht«, sagte Priss langsam. »Wenn das Universum wirklich eine Gummidecke wäre, dann müßte ihre Versteifung einen unendlich großen Grad erreichen, bevor man erwarten könnte, daß sie unter einer drückenden Masse völlig glatt bliebe. Wenn das im wirklichen Universum auch so ist, dann benötigte man ein unendlich starkes elektromagnetisches Feld, und das würde heißen, daß Anti-Schwerkraft unmöglich ist.« »Aber Bloom sagt …« »Ja, ich kann mir denken, daß Bloom meint, ein endliches Feld würde genügen, wenn man es richtig einsetzt. Trotzdem, wie genial er auch sein mag«, sagte Priss und lächelte mit schmalen Lippen, »müssen wir nicht 490
denken, er sei unfehlbar. Er hat kein sehr gutes Verständnis der Theorie. Er hat nie seinen Collegeabschluß gemacht, wußten Sie das?« Ich wollte schon sagen, daß ich es wisse. Schließlich wußte es jeder. Aber der Stimme von Priss war ein Eifer anzumerken, als sei er erfreut, diese Neuigkeit unter die Leute zu bringen. Ich nickte also, als würde ich es mir für eine spätere Erwähnung merken. »Sie würden also sagen, Professor Priss«, versuchte ich es wieder, »daß Bloom wahrscheinlich unrecht hat und daß AntiSchwerkraft unmöglich ist?« Und Priss nickte und sagte: »Das Schwerkraftfeld kann natürlich geschwächt werden, aber wenn wir unter AntiSchwerkraft ein echtes Schwerkraftfeld mit dem Wert Null verstehen – gar keine Schwerkraft in einem bedeutenden Raumabschnitt –, dann fürchte ich, daß sie sich als vielleicht unmöglich herausstellen wird.« Und ich hatte mehr oder weniger, was ich wollte. Danach vergingen fast drei Monate, bevor es mir gelang, Bloom zu sehen, und als ich ihn sah, hatte er schlechte Laune. Er war natürlich sofort verärgert gewesen, als die Erklärung von Priss bekannt wurde. Er ließ wissen, daß er Priss zur Vorführung des Anti-Schwerkraft-Geräts eingeladen würde, und man werde ihn sogar bitten, bei der Vorführung mitzuwirken. Ein Reporter erwischte ihn zwischen seinen Terminen und bat ihn, sich ausführlich darüber zu äußern, und er sagte: 491
»Ich werde das Gerät vielleicht schon bald haben. Und Sie und jeder kann dabeisein, den die Presse dabeihaben will. Und Professor James Priss kann auch dabeisein. Er kann die theoretische Wissenschaft vertreten, und nachdem ich die Anti-Schwerkraft vorgeführt haben werde, kann er seine Theorie berichtigen. Ich bin mir sicher, daß er seine Berichtigungen in meisterlicher Art vornehmen und genau zeigen wird, warum ein Versagen meinerseits überhaupt nicht möglich war. Er könnte das jetzt schon tun und sich Zeit sparen, aber ich nehme an, er wird das nicht tun.« Es war alles sehr höflich gesagt, aber durch den rasch ausgestoßenen Wortschwall hindurch war ein bösartiges Knurren zu bemerken. Er setzte dennoch seine gelegentlichen Billardspiele mit Priss fort, und wenn sich die beiden trafen, benahmen sie sich äußerst anständig. Man konnte ihrem Verhalten der Presse gegenüber den Fortschritt ansehen, den Bloom machte. Bloom wurde wortkarg und hochfahrend, während Priss sich immer besser gelaunt gab. Als meine soundsovielte Bitte um ein Interview mit Bloom endlich erhört wurde, fragte ich mich, ob Bloom vielleicht bei seinem Vorhaben einen Durchbruch erzielt habe. Ich baute schon an dem kleinen Luftschloß, er werde mir seinen endgültigen Erfolg verkünden. Es kam anders. Wir trafen uns in seinem Büro der Bloom Enterprises im Staat New York. Eine herrliche Anlage, fernab aller bewohnten Gegenden, inmitten wunderbar gestalteter Landschaft.
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Bloom war nicht gut gelaunt. Er kam zehn Minuten zu spät hereingestürmt, lief knurrend am Tisch seiner Sekretärin vorbei und nickte kaum in meine Richtung. Er hatte einen weißen Arbeitskittel an, der nicht zugeknöpft war. Er warf sich in seinen Stuhl und sagte: »Tut mir leid, daß ich Sie warten ließ, aber ich hatte weniger Zeit als ich dachte.« Bloom beherrschte die Kunst, sich in Szene zu setzen und war klug genug, die Presse nicht zu verprellen. Ich hatte aber den Eindruck, daß er im Augenblick große Schwierigkeiten hatte, sich an diesen Grundsatz zu halten. Ich sprach aus, was offensichtlich war. »Sir, ich nehme an, daß Ihre letzten Versuche ohne Erfolg geblieben sind.« »Wer sagt Ihnen das?« »Ich möchte sagen, es ist allgemein bekannt, Mr. Bloom.« »Nein, das ist es nicht. Sagen Sie das nicht, junger Mann. Es ist nicht allgemein bekannt, was in meinen Laboratorien und Werkstätten vor sich geht. Sie geben die Meinung des Professors wieder, nicht wahr? Ich meine die von Priss.« »Nein, ich …« »Aber natürlich. Sind Sie nicht der, dem er erklärte, AntiSchwerkraft sei unmöglich?« »So glatt hat er es nicht gesagt.« »Er drückt sich nie glatt aus, aber für ihn war es glatt genug, aber doch nicht so glatt, wie ich sein verflixtes GummideckenUniversum haben werde, wenn ich soweit bin.« 493
»Heißt das etwa, daß Sie Fortschritte machen, Mr. Bloom?« »Sie wissen, ich mache Fortschritte«, schnauzte er. »Oder Sie sollten es wissen. Waren Sie nicht letzte Woche bei der Vorführung?« »Ja ich war dort.« Ich vermutete Bloom in Schwierigkeiten, sonst hätte er diese Vorführung nicht erwähnt. Es klappte alles, aber es geschah nichts Aufregendes. Zwischen den beiden Polen eines Magneten wurde ein Bereich verringerter Schwerkraft hergestellt. Es war sehr geschickt gemacht. Man benutzte ein Meßverfahren für den Mössbauer-Effekt, um den Raum zwischen den Polen zu untersuchen. Eine solche M-EWaage besteht in der Hauptsache aus einem engen, monochromatischen Bündel von Gammastrahlen, die durch das Feld niederer Schwerkraft geschossen werden. Unter dem Einfluß des Schwerkraftfeldes ändern die Gammastrahlen schwach, aber meßbar die Wellenlänge, und wenn durch irgend etwas die Stärke des Felds verändert wird, verlagert sich auch entsprechend die Veränderung der Wellenlänge. Ein äußerst empfindliches Verfahren, um ein Schwerkraftfeld zu untersuchen, und es ging alles wie am Schnürchen. Kein Zweifel, Bloom hatte die Schwerkraft verringert. Das Problem war nur, daß es andere vor ihm schon geschafft hatten. Sicher, Bloom hatte Schaltungen verwendet, die die Hervorbringung einer solchen Wirkung bedeutend vereinfacht hatte – sein System war auf typische 494
Weise genial und war gleich patentiert worden – und er behauptete, daß auf Grund dieser Methode die AntiSchwerkraft nicht nur eine wissenschaftliche Kuriosität bleiben, sondern zu einer praktischen Sache werde, die sich industriell verwerten lasse. Möglich. Aber es war keine ganze Arbeit, geleistet worden, und für gewöhnlich machte er keinen Wirbel um Unfertiges. Auch diesmal hätte er es nicht getan, wenn er nicht verzweifelt irgend etwas gesucht hätte, was sich herzeigen ließ. Ich sagte: »Ich habe den Eindruck, Sie haben bei dieser einstweiligen Vorführung nur 0,82 g erreicht, und in Brasilien ist man letztes Frühjahr weitergekommen.« »Wirklich? Nun, berechnen Sie mal den Energieverbrauch in Brasilien und hier, und dann sagen Sie mir den Unterschied in der Verminderung der Schwerkraft pro Kilowattstunde. Da werden Sie überrascht sein.« »Aber der springende Punkt ist doch, ob Sie Schwerkraft vom Wert Null erreichen werden. Professor Priss meint, das sei unmöglich. Alle sind seiner Meinung, daß es keine große Sache ist, die Stärke des Feldes herabzusetzen.« Bloom ballte die Fäuste. Ich hatte das Gefühl, daß an diesem Tag ein maßgebendes Experiment fehlgeschlagen war, was für ihn ein fast unerträgliches Ärgernis war. Bloom konnte es nicht ausstehen, vom Universum Hindernisse in den Weg gelegt zu bekommen. Er sagte: »Bei Theoretikern wird mir schlecht.« Er sagte es, als wolle er endlich seine Meinung deutlich sagen. »Priss hat zwei Nobelpreise bekommen, weil er ein paar 495
Gleichungen durcheinandergemischt hat, aber was hat er mit ihnen angefangen? Nichts! Ich habe mit ihnen etwas angefangen, und ich werde auch noch mehr mit ihnen machen, ob es Priss nun paßt oder nicht. Ich bin derjenige, an den sich die Leute erinnern werden. Ich bin der, der Anerkennung findet. Er kann seinen blöden Titel und seine Preise und sein Renommee unter den Gelehrten behalten. Hören Sie, ich sage Ihnen, was ihm Bauchweh macht. Nichts als altmodische Mißgunst. Es bringt ihn um, daß mein Tun mir etwas einbringt. Er möchte, daß ihm das Denken das gleiche einbringt. Ich sagte einmal zu ihm – wissen Sie, wir spielen zusammen Billard …« An diesem Punkt gab ich Priss' Äußerung über Billard zum besten, und Bloom machte seine Gegendarstellung. »Wir spielen Billard«, sagte Bloom, als er sich wieder beruhigt hatte, »und ich habe genug Spiele gewonnen. Wir bleiben dabei ganz freundlich. Zum Teufel, wir sind Schulkameraden – obwohl ich nie begreife, wie er auf dem College durchgekommen ist. In Physik und Mathematik hat er's selbstverständlich geschafft, aber in den Geisteswissenschaften hat man ihn, glaube ich, nur aus purem Mitleid durchrutschen lassen.« »Sie haben Ihren Collegeabschluß nicht gemacht, nicht wahr, Mr. Bloom?« Das war reine Boshaftigkeit von mir. Sein Ausbruch machte mir Spaß. »Ich hab' aufgehört, um ins Geschäftsleben einzutreten, verdammt noch mal. Die drei Jahre, die ich dort war, hatte ich im Durchschnitt immer eine gute Zwei. Was anderes brauchen Sie gar nicht zu glauben, hören Sie. Zum Teufel, 496
als Priss seinen Doktor machte, war ich dabei, meine zweite Million zu machen.« Deutlich gereizt fuhr er fort: »Wir spielten jedenfalls Billard, und ich sagte zu ihm: ›Jim, der Mann auf der Straße wird nie verstehen, warum du den Nobelpreis kriegst, wenn ich derjenige bin, der die Erfolge hat. Warum brauchst du zwei? Gib mir einen!‹ Er stand da, schmierte Kreide an sein Queue und sagte dann auf seine leise, alberne Art: ›Du hast zwei Millionen, Ed. Gib mir eine.‹ Sehen Sie, er möchte das Geld.« Ich sagte: »Ich nehme an, es macht Ihnen nichts aus, daß er die Ehrungen einheimst.« Einen Augenblick lang glaubte ich, er werde mir die Tür weisen. Er tat es aber nicht. Statt dessen lachte er, wedelte er mit der Hand, als wollte er auf einer unsichtbaren Tafel etwas auswischen. Er sagte: »Ach, lassen Sie's. Das ist alles nicht für die Öffentlichkeit. Hören Sie, Sie wollen eine Erklärung? Okay. Heute ist was schiefgegangen, aber das wird sich ändern. Ich glaube, ich weiß, was nicht stimmt. Und wenn nicht, dann werde ich es wissen. Hören Sie, Sie können schreiben, ich sage, wir brauchen kein unendlich starkes Magnetfeld. Wir werden die Gummidecke flach kriegen. Wir werden den Nullpunkt erreichen. Und wenn wir dort sind, werden wir die tollste Vorführung machen, die es je gab, und Sie werden auch dazu eingeladen. Und Sie können schreiben, daß es nicht mehr lange dauern wird.« Mir blieb danach noch Zeit, jeden der beiden ein- oder zweimal zu sehen. Ich sah sie sogar zusammen, als ich bei
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einem ihrer Billardspiele anwesend war. Wie ich vorhin schon sagte, waren beide wirklich gut. Aber die Einladung zur Vorführung kam nun doch nicht so schnell. Nur sechs Wochen fehlten, dann wäre es ein Jahr her gewesen, daß mir Bloom seine Erklärung abgegeben hatte. Wobei es wahrscheinlich ungerecht war, schnellere Arbeit zu erwarten. Ich erhielt eine besonders fein gedruckte Einladung, auf der versichert wurde, daß zuerst Cocktails gereicht würden. Bloom ließ sich auf keine halben Sachen ein. und beabsichtigte, eine Gruppe zufriedener Reporter zur Hand zu haben. Es gab auch eine Vereinbarung über eine trimensionale Fernsehübertragung. Offenbar fühlte sich Bloom sicher genug, um die Vorführung in jedes Wohnzimmer auf dem Planeten tragen zu lassen. Ich rief Professor Priss an, um mich zu vergewissern, daß er auch eingeladen war. Er war es. »Haben Sie vor zu kommen, Sir?« Es herrschte Schweigen, und das Gesicht des Professors auf der Sichtscheibe war ein Musterbeispiel an Ungewißheit und Zögern. »Eine Vorführung dieser Art ist höchst unangebracht, wenn eine ernste wissenschaftliche Frage zur Debatte steht. Solche Sachen unterstütze ich nicht gern.« Ich fürchtete, er werde absagen, und die Situation würde sehr an Spannung zu wünschen übrig lassen, wenn er nicht anwesend wäre. Aber dann wurde ihm vielleicht klar, daß er es nicht wagte, vor allen Augen einen Rückzieher zu machen. Mit deutlichem Widerwillen sagte er: »Ed Bloom 498
ist natürlich kein echter Wissenschaftler und muß seinen Spaß haben. Ich werde anwesend sein.« »Glauben Sie, daß Mr. Bloom den Nullpunkt der Schwerkraft erreicht, Sir?« »Mhm … Mr. Bloom hat mir eine Kopie seines Plans zu dem Gerät geschickt und ich … bin mir nicht sicher. Vielleicht gelingt es ihm, wenn … mhm … er sagt, er schafft es. Selbstverständlich …« Er machte wieder eine ziemlich lange Pause. »Selbstverständlich würde ich es gern sehen, glaube ich.« Und ich und viele andere auch. Die Inszenierung war tadellos. Im Hauptgebäude der Bloom Enterprises war ein ganzes Stockwerk frei gemacht worden. Es gab die versprochenen Cocktails, ein blendend aufgebautes kaltes Büfett, leise Musik, sanfte Beleuchtung und einen sorgsam geklei deten und jovialen Edward Bloom, der den vollkommenen Gastgeber spielte, während ihm dabei eine Reihe höflicher und unauffälliger Diener zur Hand gingen. Es herrschte eitel Freude und Zuversicht. James Priss verspätete sich, und ich ertappte Bloom, wie er verbittert den Blick über die Menge schweifen ließ. Dann kam Priss und brachte seine ganze Langweiligkeit mit. Bloom sah ihn, und sein Gesicht hellte sich sofort auf. Er sprang auf ihn zu, nahm die Hand des kleineren Mannes und zog ihn zur Bar. »Jim! Erfreut, dich zu sehen. Was magst du? Mensch, ich hätte alles abgeblasen, wenn du nicht gekommen wärst. Ohne den Star geht es nun mal nicht, weißt du.« Er 499
schüttelte Priss die Hand. »Weißt du, es ist deine Theorie. Wir armen Sterblichen können nichts machen, wenn ihr wenigen nicht den Weg zeigen würdet.« Er schäumte vor lauter Schmeicheleien über, weil er sie sich jetzt leisten konnte. Er wollte Priss für das Schlachtfest mästen. Priss wollte das Getränk ausschlagen, aber man drückte ihm ein Glas in die Hand, und Bloom ließ seine Stimme anschwellen. »Meine Herren! Einen Augenblick Ruhe bitte! Auf Professor Priss, den größten Kopf seit Einstein, zweifacher Nobelpreisträger, Vater der Zwei-Felder-Theorie und geistiger Anreger der Vorführung, die wir sehen werden – auch, wenn er glaubte, es würde nicht funktionieren und den Mut hatte, das öffentlich zu sagen.« Man hörte vernehmliches Gelächter, das aber rasch verstummte. Priss blickte so verbissen drein, wie es zu erwarten war. »Aber da jetzt Professor Priss hier ist«, sagte Bloom, »und wir unseren Trinkspruch angebracht haben, soll es weiter gehen. Folgen Sie mir, meine Herren!« Der Schauplatz befand sich diesmal im obersten Stock des Gebäudes. Es waren andere Magneten aufgebaut – noch kleinere, du lieber Himmel – aber soweit ich sehen konnte, war wieder dieselbe M-E-Waage im Einsatz. Eins war auf jeden Fall neu und verblüffte jeden. Es war ein Billardtisch, den man unter den einen Pol des Magneten gestellt hatte. Unter ihm befand sich der Gegenpol. Genau 500
in der Mitte des Tisches hatte man ein Loch von etwa dreißig Zentimeter Durchmesser gemacht, und offensichtlich sollte das Feld ohne Schwerkraft, sollte es herzustellen sein, durch das Loch in der Mitte des Billardtisches gehen. Es war, als wollte man durch die surrealistisch inszenierte Vorführung den Sieg Blooms über Priss besonders deutlich zeigen. Es war eine Abwandlung ihrer ewigen Billardwettkämpfe, und Bloom war auf dem Weg zum Gewinn. Ich weiß nicht, ob die anderen Presseleute die Sache so auffaßten, aber Priss, glaube ich, tat es. Ich drehte mich um und sah ihn an und bemerkte, daß er das Glas noch in der Hand hielt, das man ihm aufgezwungen hatte. Ich wußte, daß er selten trank, aber jetzt hob er das Glas an die Lippen und leerte es mit zwei Schlucken. Er starrte auf die Billardkugel, und ich brauchte keine übersinnlichen Fähigkeiten, um zu merken, daß er es als absichtliche Spitze gegen ihn aufnahm. Bloom führte uns zu den zwanzig Sitzen, die an drei Seiten des Tisches aufgestellt waren. Die vierte war für Hantierungen freigelassen worden. Priss wurde aufmerksam zu dem Sitz geleitet, der die beste Sicht bot. Priss warf einen raschen Blick auf die trimensionalen Kameras, die jetzt liefen. Ich fragte mich, ob er ans Gehen dachte, dann aber merkte, daß es vor den Augen der ganzen Welt nicht möglich war. Die Vorführung war eigentlich einfach. Es kam alles auf die Regie an. Es gab deutlich sichtbare Skalen, die den Aufwand an Energie anzeigten. Es gab andere, die die 501
Meßdaten der M-EWaage so wiedergaben, daß sie für alle sichtbar waren. Alles war so angeordnet, daß ohne weiteres trimensional übertragen werden konnte. Bloom erklärte freundlich jeden Schritt, schwieg ein-, zweimal, um sich an Priss zu wenden und eine Bestätigung einzuholen, die einfach kommen mußte. Er tat es, um Priss im eigenen Saft braten zu lassen, doch nicht so oft, daß die anderen etwas merkten. Von meinem Sitzplatz aus konnte ich Priss auf der anderen Seite des Tisches sitzen sehen. Er sah aus, als stecke er in der Hölle. Wie wir alle wissen, erreichte Bloom sein Ziel. Während das elektromagnetische Feld verstärkt wurde, zeigte die ME-Waage an, daß die Stärke des Schwerkraftfelds ständig abnahm. Beifallsrufe erklangen, als sie unter den Wert von 0,52 g fiel, der auf dem Anzeigegerät durch einen roten Strich hervorgehoben war. »Wie Sie wissen«, sagte Bloom zuversichtlich, »stand der Rekord für den tiefsten Wert der Schwerkraft bei 0,52 g. Wir liegen jetzt tiefer, und das bei einem Stromverbrauch, der nur zehn Prozent von dem ausmacht, der beim letzten Rekord benötigt wurde. Und wir werden noch weiter hinuntergehen.« Bloom verlangsamte am Ende das Fallen – ich glaube absichtlich, um die Spannung zu steigern. Die trimensionalen Kameras schwenkten vom Loch im Billardtisch zum Anzeigegerät, das die weiter absinkenden Werte der M-E-Waage angab, und zurück. Bloom sagte plötzlich: »Meine Herren, in der Tasche neben jedem Stuhl finden Sie dunkle Schutzbrillen. Setzen 502
Sie die jetzt bitte auf. Der Nullpunkt des Schwerkraftfelds ist bald erreicht, und es wird ein Licht aussenden, das in hohem Maß ultraviolette Strahlen enthält.« Er setzte selbst eine Schutzbrille auf, und es entstand ein allgemeines Geraschel, als man es ihm nachmachte. Ich glaube, während der letzten Minute wagte niemand zu atmen, als der Zeiger auf Null fiel und dort verharrte. Und im gleichen Augenblick bildete sich zwischen den beiden Polen durch das Loch im Billardtisch hindurch ein Zylinder aus Licht. Zwanzig Menschen hielten die Luft an. Dann rief jemand: »Mr. Bloom, wodurch entsteht das Licht?« »Es ist typisch für den Nullpunkt der Schwerkraft«, sagte Bloom ruhig, was natürlich keine Antwort war. Einige Reporter standen jetzt auf und drängten zum Tisch. Bloom scheuchte sie weg. »Meine Herren, treten Sie bitte zurück.« Nur Priss blieb sitzen. Er schien in Gedanken versunken, und ich war die ganze Zeit danach sicher, daß es an den Schutzbrillen lag, daß die mögliche Bedeutung dessen, was dann folgte, nicht klar zu erkennen war. Ich sah seine Augen nicht, konnte sie nicht sehen. Und das hieß, weder ich noch sonst jemand konnte noch nicht einmal auf eine Vermutung kommen, was sich in diesen Augen abspielte. Nun, wir wären auf eine solche Vermutung vielleicht nicht einmal gekommen, wenn es keine Schutzbrillen gegeben hätte, aber wer kann das schon sagen? Bloom ließ wieder seine Stimme erschallen. »Bitte! Die Vorführung ist noch nicht beendet. Bis jetzt haben wir nur 503
wiederholt, was ich früher schon gemacht habe. Ich habe jetzt ein Schwerkraftfeld mit dem Wert Null hergestellt und gezeigt, daß das praktisch möglich ist. Aber ich möchte etwas davon vorführen, was dieses Feld machen kann. Was wir als nächstes sehen werden, hat noch niemand gesehen, auch ich nicht. Ich habe in dieser Richtung noch keine Experimente unternommen, so gern ich es auch getan hätte, weil ich der Ansicht bin, Professor Priss gebührt die Ehre …« Priss riß den Kopf in die Höhe. »Was …?« »Professor Priss«, sagte Bloom und lächelte offen, »ich hätte gern, daß Sie das erste Experiment durchführen, bei dem es um die Wirkung des Nullfeldes auf einen festen Körper geht. Sie sehen, daß sich das Feld in der Mitte eines Billardtisches gebildet hat. Die Welt weiß von Ihren phänomenalen Fähigkeiten als Billardspieler, Professor, ein Talent, das nur noch von Ihrer Begabung für theoretische Physik übertroffen wird. Möchten Sie nicht eine Billardkugel in den Bereich des Nullfelds stoßen?« Eifrig reichte er dem Professor Kugel und Queue. Priss, dessen Augen durch die Schutzbrille verdeckt waren, starrte auf beides nieder und nahm sie nur langsam und zögernd an sich. Ich frage mich, was seine Augen zeigten. Ich frage mich auch, wie weit der Entschluß, Priss bei der Vorführung Billard spielen zu lassen, auf Blooms Ärger über die Bemerkung von Priss zurückzuführen war, mit der er ihre regelmäßigen Spiele bedacht hatte, die Bemerkung, die ich
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weitergegeben hatte. War ich auf meine Weise für das Folgende verantwortlich? »Kommen Sie, stehen Sie auf, Professor«, sagte Bloom, »und lassen Sie mich Ihren Platz einnehmen. Von jetzt ab ist die Bühne frei für Sie. Nur zu!« Bloom setzte sich und sprach mit dröhnender Stimme weiter. »Wenn Professor Priss die Kugel in den Bereich des Nullfelds schickt, wird sie nicht länger vom Schwerkraftfeld der Erde beeinflußt sein. Sie wird wahrscheinlich bewegungslos bleiben, während sich die Erde um ihre Achse dreht und um die Sonne kreist. Ich habe ausgerechnet, daß sich die Erde in dieser Breite und zu dieser Tageszeit nach unten bewegt. Wir werden uns mit ihr bewegen, und die Kugel wird stillstehen. Uns wird es vorkommen, als bewege sie sich nach oben, weg von der Erdoberfläche. Passen Sie auf.« Priss war vor dem Tisch anscheinend zur Bewegungslosigkeit erstarrt. Vor Überraschung? Erstaunen? Ich weiß es nicht. Ich werde es nie wissen. Wollte er mit einer Geste Blooms kleine Rede unterbrechen, oder bemühte er sich nur verzweifelt, der schmählichen Rolle zu entrinnen, die ihm sein Widersacher aufzwang? Priss wandte sich dem Billardtisch zu, warf zuerst einen Blick auf ihn, dann einen auf Bloom. Die Reporter hatten sich alle erhoben und drängten so nah wie möglich herbei, um gut zusehen zu können. Nur Bloom blieb allein auf seinem Sitz und lächelte. Er sah natürlich weder Tisch, noch Kugel, noch Nullfeld an. Soweit ich durch die Schutzbrille erkennen konnte, sah er sich Priss an.
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Priss drehte sich zum Tisch um und setzte seine Kugel auf. Er sollte das Werkzeug abgeben, das Bloom den endgültigen Triumph bringen und sich selbst – den Mann, der sagte, es sei unmöglich – zum Gespött der ganzen Welt machen sollte. Vielleicht glaubte er, es gäbe keinen Ausweg. Vielleicht aber … Mit einem sicheren Stoß seines Queue setzte er die Kugel in Bewegung. Sie lief nicht rasch, und jedes Auge folgte ihr. Sie berührte die Bande und prallte ab. Sie bewegte sich jetzt noch langsamer, als erhöhe Priss selbst die Spannung und gestaltete so den Triumph Blooms noch erregender. Ich konnte bestens sehen, da ich an der Seite des Tisches stand, die Priss gegenüberlag. Ich konnte sehen, wie die Kugel auf die Strahlen des Nullfeldes zulief, und dahinter konnte ich auf dem Sitz die Körperpartien Blooms sehen, die nicht durch diese Strahlen verdeckt wurden. Die Kugel näherte sich dem Bereich des Nullfelds, schien für einen Augenblick an seinem Rand stehenzubleiben und war mit einem Lichtblitz, einem Donnerschlag und dem plötzlichen Geruch nach verbranntem Tuch verschwunden. Wir schrien. Wir schrien alle auf. Ich habe mit dem Rest der Welt zusammen die Szene inzwischen im Fernsehen gesehen. Ich kann mich auf dem Film selbst sehen, während dieser fünfzehn Sekunden wildesten Durcheinanders, aber ich kann mein Gesicht wirklich nicht wiedererkennen. 506
Fünfzehn Sekunden! Und dann entdeckten wir Bloom. Er saß immer noch auf dem Stuhl, seine Arme waren immer noch verschränkt, aber durch Unterarm, Brust und Rücken ging ein Loch von der Größe einer Billardkugel. Wie die Autopsie später zeigte, war der größte Teil seines Herzens sauber herausgestanzt worden. Man schaltete das Gerät ab. Man rief die Polizei. Man schleppte Priss fort, der völlig zusammengebrochen war. Ich war nicht besser dran, und wenn irgendein Reporter, der mit dabei war, je sagen sollte, er sei kaltblütig geblieben, dann ist er ein kaltblütiger Lügner. Es vergingen einige Monate, bevor ich mit Priss wieder zusammentraf. Er war schlanker geworden, wirkte aber gesund. Seine Wangen waren gerötet, und er strahlte so etwas wie Entschlußfreudigkeit aus. Er war besser gekleidet, als ich ihn je gesehen hatte. Er sagte: »Ich weiß jetzt, was geschehen ist. Wenn ich Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, wäre es mir damals schon eingefallen. Aber ich bin ein langsamer Denker, und der arme Ed Bloom war so darauf erpicht, eine große Schau abzuziehen und machte das so gut, daß ich mitgerissen wurde. Ich habe natürlich versucht, den Schaden, den ich unabsichtlich verursacht habe, zum Teil wiedergutzumachen.« »Sie können Bloom nicht wieder zum Leben erwecken«, sagte ich ernst.
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»Nein, das kann ich nicht«, sagte er genauso ernst. »Aber man muß auch an die Bloom Enterprises denken. Was vor den Augen der Welt bei der Vorführung passierte, war die denkbar schlechteste Reklame für die NullSchwerkraft, und es ist wichtig, daß die Sache geklärt wird. Deshalb habe ich Sie hergebeten.« »Ja?« »Wenn ich hätte schneller denken können, würde ich gewußt haben, daß Ed reinen Blödsinn erzählte, als er sagte, daß die Billardkugel in dem Nullfeld langsam in die Höhe steigen würde. Es konnte nicht sein. Wenn Bloom die Theorie nicht so verachtet hätte, wenn er sich nicht so in seinen Stolz, von Theorie nichts zu wissen, verrannt hätte, wäre er selbst darauf gekommen. Schließlich ist die Bewegung der Erde nicht die einzige Bewegung, die da mit hereinspielt, junger Mann. Die Sonne bewegt sich auch in einer riesigen Kreisbahn um die Mitte der Galaxis, die wir Milchstraße nennen. Und die Galaxis bewegt sich selbst auf eine Art, die wir nicht genau bestimmen können. Man könnte meinen, wenn die Billardkugel einem Nullfeld ausgesetzt wird, bliebe sie von all diesen Bewegungen unbeeinflußt und würde plötzlich in einen Zustand absoluter Ruhe fallen – obwohl es so etwas wie absolute Ruhe nicht gibt.« Priss schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube, die Schwierigkeit mit Ed war, daß er an die Art von NullSchwerkraft dachte, die in einem Raumschiff auftritt, wenn es sich im freien Fall befindet, wenn die Leute durch die Luft schweben. Er erwartete, daß die Kugel durch die Luft
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schweben würde. Die Null-Schwerkraft in einem Raumschiff kommt nicht zustande, weil die Schwerkraft abwesend ist, sondern nur, weil zwei Objekte, das Raumschiff und der Mensch in ihm, gleich schnell fallen und auf genau gleiche Weise auf die Schwerkraft reagieren, so daß jedes Objekt in bezug auf das andere bewegungslos ist. In dem Nullfeld, das Ed hervorbrachte, wurde das Gummidecken-Universum glattgemacht, was einen echten Verlust der Masse bedeutet. Alles, was sich in diesem Feld befand, die Luftmoleküle darin und die Kugel, die ich hinterließ, war völlig masselos, solange es sich in ihm befand. Ein völlig masseloses Objekt kann sich nur auf eine Art bewegen.« Er schwieg und forderte eine Frage heraus. Ich stellte sie. »Auf welche Art?« »Mit Lichtgeschwindigkeit. Jedes masselose Objekt wie ein Neutrino oder ein Photon muß sich, solange es existiert, mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Das Licht bewegt sich nur deshalb mit dieser Geschwindigkeit, weil es sich aus Photonen zusammensetzt. Sobald die Billardkugel in dem Nullfeld war und ihre Masse verlor, nahm sie sogleich auch Lichtgeschwindigkeit an und verschwand.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber hatte sie nicht sofort ihre Masse wieder, sobald sie den Bereich des Nullfelds verlassen hatte?« »Sicher, und geriet sofort unter den Einfluß des Schwerkraftfeldes und verlangsamte sich auf Grund der Reibung mit Luft und der Fläche des Billardtisches. Aber überlegen Sie, wieviel Reibungskraft nötig wäre, ein Objekt von der Masse einer Billardkugel, das sich mit 509
Lichtgeschwindigkeit bewegt, abzubremsen. In einem Tausendstel einer Sekunde war es durch die hundertfünfzig Kilometer dicke Luftschicht der Erde hindurch, und ich glaube nicht, daß es sich um mehr als ein paar Kilometer pro Sekunde der ganzen 299 792 Kilometer pro Sekunde verlangsamt hat. Auf seinem Weg versengte es die Tischfläche, durchbrach glatt seinen Rand, fuhr durch den armen Ed wie auch durch das Fenster und stanzte saubere Löcher aus, weil es schon durch war, bevor das Material der Umgebung auch noch Gelegenheit hatte zu brechen und zu splittern, und das selbst bei einem so spröden Stoff wie Glas. Es war ein besonderer Glücksfall, daß wir uns im obersten Stock eines Gebäudes befanden, das mitten auf dem Land steht. Wenn wir in der Stadt gewesen wären, hätte es eine Reihe von Gebäuden durchschlagen und eine Menge Leute töten können. Inzwischen ist die Billardkugel tief in den Raum eingedrungen und hat den Rand des Sonnensystems schon weit hinter sich gelassen und wird so lange weiter fliegen, bis sie auf ein Objekt trifft, das groß genug ist, um sie aufzuhalten. Und dann wird sie einen ansehnlichen Einschlagkrater aufwerfen.« Ich ließ mir die Sache durch den Kopf gehen und war mir nicht sicher, ob sie mir gefiel. »Wie ist das möglich? Die Billardkugel war fast zum Stillstand gekommen, als sie in das Nullfeld eintrat. Ich sah es. Und Sie sagen, daß sie es mit einer unvorstellbaren Menge an kinetischer Energie wieder verließ. Wo kam die Energie her?« Priss zuckte die Achseln. »Sie kam nirgendwo her! Das Gesetz der Erhaltung der Energie gilt nur unter den Bedingungen, unter denen die Allgemeine Relativitäts510
theorie ihre Gültigkeit behält, das heißt, in einem eingedellten Gummidecken-Universum. Wo auch die Eindellung glattgemacht wird, gilt die Allgemeine Relativität nicht mehr, und Energie kann frei geschaffen und zerstört werden. Das erklärt auch die Strahlung, die an der zylindrischen Außenseite des Nullfelds auftrat. Wie Sie sich erinnern, erklärte Bloom diese Strahlung nicht, und ich fürchte, er konnte sie auch nicht erklären. Hätte er nur erst weiterexperimentiert. Wenn er nicht so verrückt darauf gewesen wäre, seine Schau abzuziehen …« »Sir, wodurch erklärt sich diese Strahlung?« »Durch die Luftmoleküle innerhalb des Bereichs. Jedes nimmt Lichtgeschwindigkeit an und bricht nach draußen. Es handelt sich nur um Moleküle, nicht um Billardkugeln. Sie werden deshalb abgebremst, aber ihre kinetische Energie wird dabei in energiegeladene Strahlung verwandelt. Das geht ununterbrochen vor sich, weil ständig neue Moleküle in den Bereich geraten, Lichtgeschwindigkeit annehmen und nach draußen brechen.« »Dann wird ununterbrochen Energie geschaffen?« »Genau. Und das müssen wir der Öffentlichkeit klarmachen. Die Anti-Schwerkraft ist keine Sache, mit der man hauptsächlich Raumschiffe anhebt oder mechanische Fortbewegung revolutioniert. Sie ist vielmehr die Quelle unaufhörlicher freier Energiezufuhr, da ein Teil der erzeugten Energie dazu verwendet werden kann, das Feld aufrechtzuerhalten, das diesen Abschnitt des Universums glatthält. Ohne es zu wissen, hat Ed Bloom nicht nur die erste Anti-Schwerkraft erzeugt, sondern auch das erste
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erfolgreiche Spitzenmodell eines Perpetuum mobile erfunden, eins, das Energie aus dem Nichts erschafft.« Ich sagte langsam: »Professor, stimmt es, daß jeder von uns durch die Billardkugel hätte getötet werden können? Sie hätte in jeder Richtung herauskommen können.« Priss sagte: »Nun, bei jeder Lichtquelle treten die masselosen Photonen in jeder Richtung mit Lichtgeschwindigkeit aus. Deshalb breitet sich das Licht einer Kerze in alle Richtungen aus. Die masselosen Luftmoleküle verlassen den Bereich des Nullfelds in alle Richtungen, weshalb auch der ganze Zylinder strahlt. Die Billardkugel war jedoch nur ein Einzelobjekt. Es hätte in jeder Richtung herauskommen können, aber es mußte in irgendeiner Richtung herauskommen, die dem Zufall unterworfen war, und zufällig war es die, die Ed erwischte.« Das war's dann. Über die Folgen weiß jeder Bescheid. Die Menschheit hatte freie Energie, und so wurde die Welt zu dem, was sie jetzt ist. Der Aufsichtsrat der Bloom Enterprises vertraute Professor Priss ihre Entwicklung an, und nach einiger Zeit war er so reich und berühmt, wie es Edward Bloom nur je gewesen war. Und Priss erhielt zwei weitere Nobelpreise. Nur … Ich mache mir weiter Gedanken. Aus einer Lichtquelle brechen Photonen in allen Richtungen hervor, weil sie in einem Augenblick erzeugt werden und es keinen Grund für sie gibt, irgendeine Richtung zu bevorzugen. Luftmoleküle
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verlassen ein Nullfeld in allen Richtungen, weil sie aus allen Richtungen eintreten. Aber wie steht es mit einer einzelnen Billardkugel, die aus einer bestimmten Richtung in ein Nullfeld dringt? Verläßt sie es in derselben Richtung oder in irgendeiner Richtung? Ich habe vorsichtig nachgeforscht, aber die theoretischen Physiker sind sich anscheinend nicht sicher, und ich kann keine Hinweise darauf finden, daß die Bloom Enterprises, die als einzi ge Organisation mit Nullfeldern arbeitet, jemals auf dem Gebiet experimentiert hat. Jemand von der Organisation sagte mir einmal, daß das Unschärfeprinzip gewährleistet, daß ein Objekt, das in beliebiger Richtung eintritt, in ganz zufälliger Richtung auch wieder austritt. Aber warum läßt man sich dann dort nicht auf dieses Experiment ein? Könnte es also sein, daß Priss' Verstand einmal rasch gearbeitet hat? Könnte es sein, daß Priss unter dem Druck dessen, was Bloom ihm anzutun versuchte, plötzlich alles verstanden hatte? Er hatte die Strahlung betrachtet, die den Bereich des Nullfelds umgab. Er war ihr vielleicht auf den Grund gekommen und sich über die Lichtgeschwindigkeit dessen im klaren, was in den Bereich eindrang. Wieso hatte er dann nichts gesagt? Eins ist sicher. Nichts von dem, was Priss am Billardtisch machte, konnte Zufall sein. Er war ein Könner, und die Billardkugel machte genau das, was er wollte. Ich stand direkt dort. Ich sah, wie er Bloom und dann den Tisch ansah, als schätze er die Winkel ab.
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Ich beobachtete, wie er die Kugel anstieß. Ich beobachtete sie, wie sie an der Bande abprallte und aus einer ganz bestimmten Richtung in den Bereich des Nullfelds rollte. Als nämlich Priss die Kugel zum Bereich des Nullfeldes hinschickte – und die Tri-di-Filme bestätigten es –, zielte sie schon direkt auf Blooms Herz! Ein Unglücksfall? Oder Zufall? Mord? Nachwort Nachdem ein Freund diese Geschichte gelesen hatte, schlug er vor, daß ich den Titel ändern und sie »Dirty Pool« (schmutziges Billard) nennen sollte. Ich war versucht, das zu tun, habe es mir dann aber verkniffen, denn mir schien der Titel für eine so ernste Geschichte zu salopp zu sein vielleicht war ich auch nur ein bißchen neidisch, daß mir dieser Gedanke nicht selbst gekommen war. Trotzdem – nun, da ich alle Geschichten in diesem Buch noch einmal durchgegangen bin, und all die Erinnerungen durchlebt habe, die sie in mir weckten, kann ich nur sagen: Mann, es ist großartig, ein Science Fiction-Autor zu sein!
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Spiegelbild (The Mirror Image, 1972) Deutsch von Jürgen Saupe
Die drei Robot-Gesetze 1. Ein Roboter darf einen Menschen nicht verletzen oder durch Untätigkeit einen Menschen Schaden nehmen lassen. 2. Ein Roboter muß den Befehlen gehorchen, die ihm Menschen erteilen, es sei denn, sie stehen mit dem ersten Gesetz in Widerspruch. 3. Ein Roboter muß sein eigenes Dasein bewahren, soweit diese Bewahrung nicht in Widerspruch mit dem ersten und zweiten Gesetz steht. Lije Baley hatte sich eben entschlossen, seine Pfeife wieder anzuzünden, als sich die Tür zu seinem Büro ohne einleitendes Klopfen, ohne irgendeine Ankündigung öffnete. Baley sah ausgesprochen verärgert auf und ließ dann seine Pfeife fallen. Seine Geistesverfassung drückte sich deutlich in dem Umstand aus, daß er sie liegen ließ, wo sie hingefallen war. »R. Daneel Olivaw«, sagte er verblüfft und aufgeregt. »Jehoshaphat! Du bist es doch?« »Du hast ganz recht«, sagte der große, gebräunte Ankömmling, und die ebenmäßigen Gesichtszüge wurden 515
nicht einmal durch das leiseste Zucken aus ihrer gewohnten Ruhe gebracht. »Ich bedaure, dich durch mein Eintreten ohne jede Warnung überrascht zu haben, aber die Lage ist verwickelt, und selbst die Menschen und Roboter hier dürfen nur so wenig wie möglich mit der Angelegenheit in Berührung kommen. Auf jeden Fall bin ich erfreut, dich wiederzusehen, Freund Elijah.« Und der Roboter streckte seine rechte Hand mit einer Geste aus, die so ganz und gar menschlich wie seine Erscheinung war. Es war Baley, der ob seines Erstaunens menschliches Fehlverhalten bewies, indem er die Hand nur anstarrte. Aber dann faßte er sie mit beiden Händen und spürte ihre Wärme und Festigkeit. »Aber Daneel, wieso? Du bist jederzeit gern gesehen, aber – was hat es mit dieser verwickelten Lage auf sich? Sind wir wieder in Schwierigkeiten. Ich meine wir, die Erde?« »Nein, Freund Elijah, mit der Erde hat es nichts zu tun. Die Lage, die ich als verwickelt bezeichne, sieht für Außenstehende wie eine Kleinigkeit aus. Ein Streit zwischen Mathematikern, nichts weiter. Da wir ganz zufällig leicht die Möglichkeit hatten, einen Sprung zur Erde zu machen …« »Der Streit spielte sich also auf einem Sternenschiff ab?« »Ja, allerdings. Ein kleiner Streit, aber für die Menschen, die in ihn verwickelt sind, erstaunlich weitreichend.«
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Baley konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Es überrascht mich nicht, daß du Menschen erstaunlich findest. Sie gehorchen nicht den drei Gesetzen.« »Das ist allerdings eine Unzulänglichkeit«, sagte R. Daneel ernst, »und ich denke, die Menschen selbst sind von den Menschen verwirrt. Es kann sein, daß du weniger verwirrt bist als die Menschen anderer Welten, weil auf der Erde soviel mehr Menschen leben als auf den Welten der Raumleute. Wenn das so ist, und ich denke, es ist so, könntest du uns helfen.« R. Daneel schwieg für einen Augenblick und sagte dann vielleicht eine Spur zu rasch: »Und doch gibt es Regeln menschlichen Verhaltens, die ich gelernt habe. Es sieht zum Beispiel so aus, als ließe ich es nach menschlichen Maßstäben an guten Umgangsformen fehlen, da ich noch nicht nach dem Ergehen deiner Frau und deines Kindes gefragt habe.« »Es geht ihnen gut. Der Junge geht aufs College, und Jessie ist mit Lokalpolitik beschäftigt. Es sind genug Liebenswürdigkeiten ausgetauscht. Und jetzt sag mir, was dich herführt.« »Wie ich sagte, konnten wir leicht einen Sprung zur Erde machen«, erklärte R. Daneel, »und ich schlug dem Kapitän vor, dich um Rat zu fragen.« »Und der Kapitän war einverstanden?« Baley wunderte sich, daß ein stolzer und selbstherrlicher Kapitän eines Sternenschiffs der Raumleute sich bereit erklärte, unter allen Welten ausgerechnet auf der Erde zu landen und 517
unter allen Leuten ausgerechnet einen Erdenmenschen um Rat zu fragen. »Ich glaube«, sagte R. Daneel, »daß er sich in einer Lage befand, in der er mit allem einverstanden gewesen wäre. Außerdem habe ich dich in den höchsten Tönen gepriesen, obwohl ich dabei sicher nur die Wahrheit gesagt habe. Und schließlich war ich einverstanden, alle Verhandlungen zu führen, so daß keiner der Mannschaft oder Passagiere die Städte der Erdenmenschen betreten muß.« »Ja, und niemand mit einem Erdenmenschen reden muß. Was ist eigentlich passiert?« »Zu den Passagieren des Sternenschiffs Eta Carina gehören auch zwei Mathematiker, die auf der Reise nach Aurora sind, wo sie an einer interstellaren Tagung über Neurobiophysik teilnehmen wollen. Es geht um diese beiden Mathematiker, Alfred Barr Humboldt und Gennao Sabbat. Um die dreht sich der Streit. Freund Elijah, hast du von einem, oder auch von beiden, schon einmal etwas gehört?« »Von keinem«, sagte Baley bestimmt. »Ich habe keine Ahnung von Mathematik. Hör mal, Daneel, du hast doch nicht etwa gesagt, ich sei ein begeisterter Freund der Mathematik …« »Überhaupt nicht, Freund Elijah: Ich weiß, daß du das nicht bist. Außerdem ist das gleich, weil es bei dem strittigen Punkt gar nicht auf die genaue Art der Mathematik ankommt, die dabei betroffen ist.« »Schön, dann erzähl weiter.« 518
»Da du keinen der beiden kennst, Freund Elijah, laß dir sagen, daß Dr. Humboldt gut und gern in seinem siebenundzwanzigsten Jahrzehnt steht – entschuldige, Freund Elijah?« »Nichts, nichts«, sagte Baley nervös. Er hatte in einer natürlichen Reaktion auf die weiten Lebensspannen der Raumleute etwas mehr oder weniger Unzusammenhängendes vor sich hin gemurmelt. »Und er ist trotz seines Alters geistig immer noch rege? Wenn die Mathematiker auf der Erde über dreißig sind …« Daneel sagte ruhig: »Dr. Humboldt genießt seit langem den Ruf, zu den drei Spitzenmathematikern der Milchstraße zu gehören. Er ist freilich geistig noch rege. Dr. Sabbat wiederum ist recht jung, noch nicht fünfzig, hat sich aber auf den schwierigsten Gebieten der Mathematik bereits einen Namen als das bemerkenswerteste Nachwuchstalent gemacht.« »Sie sind also beide großartig«, sagte Baley. Ihm fiel seine Pfeife ein, und er hob sie auf. Er fand es sinnlos, sie jetzt anzuzünden und klopfte die Asche aus. »Was ist geschehen? Ist es ein Mordfall? Hat einer den anderen umgebracht?« »Einer der beiden Männer, die sich eines so guten Rufes erfreuen, versucht, den des anderen zu zerstören. Ich glaube, mit menschlichen Maßstäben gemessen ist das schlimmer als wirklicher Mord.« »Manchmal schon, nehme ich an. Wer versucht, den anderen zu vernichten?«
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»Aber das, Freund Elijah, ist doch genau der Punkt, um den es geht. Wer?« »Erzähl weiter.« »Dr. Humboldts Bericht ist klar. Kurz bevor er an Bord des Sternenschiffs ging, begriff er die Möglichkeit einer Methode, wie man Nervenbahnen aufgrund der Veränderungen der Muster, nach denen begrenzte Stellen der Großhirnrinde Mikrowellen absorbieren, untersuchen kann. Er begriff es in einem rein mathematischen Prozeß, der außergewöhnlich scharfsinnig war, dessen Einzelheiten ich natürlich weder verstehen noch verständlich wiedergeben kann. Auf die kommt es daher auch nicht an. Dr. Humboldt ließ sich die Sache durch den Kopf gehen und war von Stunde zu Stunde mehr davon überzeugt, daß er auf etwas Epochemachendes gestoßen war, auf etwas, das alles, was er früher in der Mathematik geleistet hatte, in den Schatten stellen würde. Dann entdeckte er, daß sich Dr. Sabbat an Bord befand.« »Aha. Und er legte seinen Fund dem jungen Sabbat vor.« »Genau. Die beiden hatten sich beruflich schon auf Tagungen getroffen und waren einander durchaus keine Unbekannten. Humboldt hat sich mit Sabbat bis in die Einzelheiten hinein vertieft. Sabbat bestätigte voll und ganz die Untersuchung Humboldts und sparte nicht mit Lob darüber, wie wichtig der Fund, wie genial der Finder sei. Dadurch ermutigt und gestärkt, bereitete Humboldt einen schriftlichen Abriß vor, ganz und gar sein Werk, und wollte ihn zwei Tage später subätherisch seinen 520
Mitvorsitzenden der Konferenz auf Aurora übermitteln lassen, um dadurch offiziell seine Priorität anzumelden und eine Diskussion in die Wege zu leiten, die nach Möglichkeit noch vor Ende der Tagung stattfinden soll. Zu einer Überraschung sah er, daß Sabbat eine eigene schriftliche Fassung angefertigt hatte, die im wesentlichen mit der von Humboldt übereinstimmte, und die Sabbat ebenfalls subätherisch nach Aurora übermitteln lassen wollte.« »Ich nehme an, Humboldt war wütend.« »Und wie!« »Und Sabbat? Was hat der berichtet?« »Genau dasselbe wie Humboldt. Wort für Wort.« »Wo liegt denn also die Schwierigkeit?« »Nur in der spiegelbildlichen Vertauschung der Namen. Sabbat zufolge war er es, der den Einfall hatte und ihn Humboldt vorlegte. Humboldt war es, der mit der Auslegung einverstanden war und sie lobte.« »Jeder behauptet also, daß der Gedanke ihm gehört und daß ihn der andere gestohlen hat. Ich kann da keine Schwierigkeit sehen. Wenn es um etwas Wissenschaftliches geht, braucht man doch anscheinend nur die datierten und unterzeichneten Forschungsunterlagen vorzulegen, auf Grund derer man dann die Priorität feststellen kann. Selbst wenn sie in einem Fall gefälscht sein sollten, kann man das durch innere Widersprüchlichkeit vielleicht herausfinden.« »Unter normalen Umständen hättest du recht, Freund Elijah, aber hier geht es um Mathematik und nicht um eine 521
experimentelle Wissenschaft. Dr. Humboldt behauptet, das Wesentliche im Kopf ausgearbeitet zu haben. Es ist nichts niedergeschrieben worden, bis diese schriftliche Fassung angefertigt wurde. Dr. Sabbat sagt natürlich genau dasselbe.« »Na schön, dann greife härter durch und bringe es ein für allemal hinter dich. Unterziehe beide einer psychischen Sondierung und sieh nach, wer von den beiden lügt.« R. Daneel schüttelte langsam den Kopf. »Freund Elijah, du verstehst diese Männer nicht. Beide sind berühmte Wissenschaftler, Mitglieder der Reichsakademie. Als solche können sie nur durch einen Ausschuß ihresgleichen – von Leuten, die die gleiche Stellung einnehmen – einem Verfahren ausgesetzt werden, das sich mit ihrem beruflichen Verhalten befaßt, es sei denn, sie verzichten von sich aus freiwillig auf dieses Vorrecht.« »Dann schlag' ihnen das vor. Der Schuldige wird auf dieses Vorrecht nicht verzichten, weil er es sich nicht leisten kann, sich der psychischen Sondierung zu unterziehen. Der Unschuldige wird sofort darauf verzichten. Du wirst nicht einmal zur Sondierung greifen müssen.« »So geht es nicht, Freund Elijah. In einem solchen Fall auf das Vorrecht zu verzichten – Laien übernehmen dann die Ermittlung! – stellt einen ernsten und vielleicht irreparablen Schlag für das Prestige dar. Aus Gründen des Stolzes weigern sich beide Männer standhaft, ihr Recht auf ein Sonderverfahren aufzugeben. Die Frage nach Schuld oder Unschuld ist ganz nebensächlich.« 522
»Laß es in dem Fall für jetzt gut sein. Leg die Angelegenheit auf Eis, bis ihr auf Aurora seid. Auf der neurobiophysikalischen Tagung wird es eine Menge gleichgestellter Berufskollegen geben, und dann …« »Freund, Elijah, das würde der Wissenschaft selbst einen fürchterlichen Schlag versetzten. Beide Männer würden dafür büßen, einen Skandal heraufbeschworen zu haben. Man würde es auch dem Unschuldigen verübeln, in eine so verabscheuungswürdige Lage gekommen zu sein. Man würde der Ansicht sein, es hätte um jeden Preis eine Lösung ohne Gerichte gefunden werden müssen.« »Schön. Ich bin kein Raummensch, aber ich versuche mir vorzustellen, daß diese Einstellung ihren Sinn hat. Was sagen die beiden Betroffenen?« »Humboldt sagt, wenn Sabbat zugibt, den Gedanken gestohlen zu haben, und Humboldt die Übermittlung des Schriftstücks in Angriff nehmen läßt – oder zumindest zuläßt, daß es auf der Tagung abgegeben wird, dann wird er nicht auf ein Verfahren drängen. Er wird Sabbats Missetat für sich behalten. Der Kapitän selbstverständlich auch, der der einzige weitere Mensch ist, der mit dem Streit zu tun hat.« »Aber der junge Sabbat wird nicht dieser Meinung sein?« »Ganz im Gegenteil. Er stimmte Dr. Humboldt in allen Einzelheiten zu, von einer Umkehrung der Namen abgesehen. Immer noch das Spiegelbild.« »Die rühren sich also nicht aus ihrer Sackgasse?«
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»Freund Elijah, ich glaube, jeder wartet darauf, daß der andere nachgibt und sich schuldig bekennt.« »Nun, dann warte ab.« »Der Kapitän hat beschlossen, daß das nicht geht. Beim Warten gibt es zwei Möglichkeiten, verstehst du. Erstens, daß beide halsstarrig bleiben und dann, wenn das Sternenschiff auf Aurora landet, der Skandal losgeht. Der Kapitän, der für die Rechtssprechung an Bord verantwortlich ist, wird sich mit Schimpf beladen, weil es ihm nicht gelungen ist, die Sache im Stillen zu erledigen, und das ist ihm unerträglich.« »Und die zweite Möglichkeit?« »Ist, daß einer der beiden Mathematiker wirklich sein Vergehen eingestehen wird. Aber wird der, der es beichtet, das auf Grund wirklicher Schuld tun – oder aus dem edlen Bestreben heraus, den Skandal zu verhindern? Wäre es richtig, einen um seinen Lohn zu bringen? Einen, der moralisch genug denkt, um lieber auf seinen Lohn verzichten, als die Wissenschaft als Gesamtheit in Mitleidenschaft gezogen zu sehen? Oder vielleicht wird der Schuldige im letzten Augenblick beichten und so den Anschein erwecken, er tue es nur der Wissenschaft zuliebe, wobei er der Strafe für sein Handeln entgeht und den anderen in ein schlechtes Licht setzt? Der Kapitän wird der einzige Mensch sein, der es weiß, aber er möchte nicht den Rest seines Lebens damit verbringen, sich zu fragen, ob er nicht an einem grotesken Versagen der Justiz Anteil hatte.« Baley seufzte auf. »Ein intellektuelles Spiel, wer zuerst Angst bekommt und sich in die Hosen macht, wenn Aurora 524
immer näher kommt. Ist das jetzt die ganze Geschichte, Daneel?« »Nicht ganz. Bei der Verhandlung waren Zeugen anwesend.« »Jehoshaphat! Warum hast du das nicht gleich gesagt. Was für Zeugen?« »Dr. Humboldts Privatdiener …« »Ein Roboter, nehme ich an.« »Ja, selbstverständlich. Er wird R. Preston genannt. Dieser Diener R. Preston war während der ersten Unterredung anwesend und bestätigt in allen Einzelheiten, was Dr. Humboldt sagt.« »Du meinst, er sagt, es war von Anfang an Dr. Humboldts Idee. Und Dr. Humboldt redete ausführlich mit Dr. Sabbat über sie. Und Dr. Sabbat pries sie, und so weiter.« »Ja, Übereinstimmung in allen Einzelheiten.« »Verstehe. Erledigt sich dadurch die Sache oder nicht? Vermutlich nicht.« »Du hast recht. Die Sache erledigt sich nicht, weil es einen zweiten Zeugen gibt. Dr. Sabbat hat ebenfalls einen Privatdiener, R. Idda, ein Roboter, der zufällig vom gleichen Typ wie R. Preston ist, im selben Jahr in derselben Fabrik hergestellt. Beide sind gleich lang in Betrieb.« »Ein merkwürdiges Zusammentreffen. Sehr merkwürdig.«
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»Eine Tatsache, fürchte ich, und sie erschwert ein Urteil, das sich auf offenkundige Unterschiede zwischen den Dienern stützt.« »R. Idda erzählt also dieselbe Geschichte wie R. Preston?« »Genau dieselbe Geschichte, von der spiegelbildlichen Vertauschung der Namen abgesehen.« »R. Idda erklärte also, daß der junge Sabbat, der noch nicht fünfzig ist« – Lije Baley konnte seine Stimme nicht ganz frei von Zynismus halten, er war selbst noch nicht fünfzig und kam sich alles andere als jung vor –, »von Anfang an die Idee hatte. Und er redete ausführlich mit Dr. Humboldt über sie, der in lautes Lob ausbrach, und so weiter.« »Ja, Freund Elijah.« »Dann lügt also ein Roboter.« »Es scheint so.« »Das festzustellen, sollte nicht schwer sein. Ich kann mir vorstellen, selbst eine oberflächliche Untersuchung durch einen Roboterfachmann …« »Ein Roboterfachmann genügt in diesem Fall nicht, Freund Elijah. Nur ein befähigter Roboterpsychologe hätte genug Einfluß und Erfahrung, in einem so wichtigen Fall eine Entscheidung zu treffen. An Bord des Schiffes befindet sich niemand mit solchen Fähigkeiten. Eine solche Untersuchung kann nur durchgeführt werden, wenn wir auf Aurora sind …«
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»Und dann ist die Bescherung da. Nun, ihr seid hier auf der Erde. Wir können einen Roboterpsychologen auftreiben, und alles, was auf der Erde passiert, wird die Ohren auf Aurora bestimmt nie erreichen, und es wird keinen Skandal geben.« »Nur, daß weder Dr. Humboldt noch Dr. Sabbat erlauben werden, daß ihre Diener von einem Roboterpsychologen der Erde untersucht werden. Der Erdenmensch würde den Roboter …« Er schwieg. Lije Baley sagte gleichmütig: »Er müßte den Roboter anfassen.« »Es handelt sich um alte Diener, von denen man viel hält …« »Und die durch die Berührung eines Erdenmenschen nicht befleckt werden sollen. Verdammt, was soll ich dann deiner Meinung nach tun?« Er schwieg und verzog das Gesicht. »Tut mir leid, R. Daneel, aber ich begreife nicht, warum du mich mit in die Sache hineingezogen hast.« »Ich war mit einem Auftrag auf dem Schiff, der mit dem jetzigen Problem überhaupt nichts zu tun hat. Der Kapitän wandte sich an mich, weil er sich an irgend jemand wenden mußte. Anscheinend war ich Mensch genug, um angesprochen werden zu können, und Roboter genug, um einen sicheren Empfänger für vertrauliche Mitteilungen abgeben zu können. Er erzählte mir die ganze Geschichte und fragte, was ich tun würde. Ich sah, daß unser nächster Sprung leicht die Erde zum Ziel haben könnte. Obwohl es mir so unmöglich wie ihm war, das Spiegelbild aufzulösen, 527
sagte ich dem Kapitän, daß es auf der Erde jemand gäbe, der helfen könnte.« »Jehoshaphat!« murmelte Baley. »Bedenke, Freund Elijah, wenn es dir gelingt, dieses Puzzle zu lösen, würde das deiner Karriere förderlich sein, und die Erde selbst könnte vielleicht Nutzen davon haben. Die Sache könnte natürlich nicht veröffentlicht werden, aber der Kapitän verfügt in seiner Heimatwelt über einigen Einfluß und würde sich dankbar erweisen.« »Du setzt mich nur einer noch größeren Belastung aus.« »Ich bin völlig überzeugt«, sagte R. Daneel gleichmütig, »daß du schon eine Vorstellung hast, welcher Weg eingeschlagen werden muß.« »Wirklich? Ich denke, der offenkundigste Weg wäre, die beiden Mathematiker zu befragen, von denen einer anscheinend ein Dieb ist.« »Freund Elijah, ich fürchte, daß keiner der beiden in die Stadt kommen wird. Und keiner von beiden wird wollen, daß du zu ihnen kommst.« »Und es gibt keine Möglichkeit, ganz gleich, wie groß die Not ist, einen Raummenschen dazu zu zwingen, mit einem Erdenmenschen Kontakt aufzunehmen. Ja, ich verstehe das, Daneel aber ich dachte an eine Befragung über Kabelfernsehen.« »Das geht auch nicht. Eine Vernehmung durch einen Erdenmenschen werden sie nicht über sich ergehen lassen.«
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»Was wollen die dann von mir? Kann ich mit den Robotern sprechen?« »Die würden auch nicht zulassen, daß die Roboter herkommen.« »Jehoshaphat, Daneel. Du bist aber doch hergekommen?« »Aus eigenem Entschluß. Während ich an Bord des Schiffes bin, ist mir gestattet, solche Entschlüsse zu fassen, ohne daß ein menschliches Wesen, vom Kapitän abgesehen, Einspruch dagegen erheben kann – und der Kapitän wollte unbedingt den Kontakt herstellen. Da ich dich kannte, wußte ich, daß ein Fernsehkontakt nicht genügen würde. Ich wollte dir die Hand schütteln.« Lije Baley war gerührt. »Ich weiß das zu schätzen, Daneel, aber ich wünsche ehrlich, du hättest in diesem Fall davon Abstand genommen, an mich zu denken. Kann ich wenigstens über Fernsehen mit den Robotern sprechen?« »Das ist, glaube ich, zu machen.« »Wenigstens etwas. Das bedeutet, ich werde mich auf ziemlich ungehobelte Art als Roboterpsychologe betätigen.« »Du bist doch Detektiv, Freund Elijah, kein Roboterpsychologe.« »Schön, reden wir nicht mehr davon. Denken wir ein bißchen nach, bevor ich sie jetzt sehe. Sag mal, ist es möglich, daß beide Roboter die Wahrheit sagen? Vielleicht war die Unterhaltung der beiden Mathematiker zweideutig. Vielleicht war sie von einer Art, daß jeder Roboter mit 529
gutem Gewissen behaupten konnte, sein Herr sei der Eigentümer des Gedankens. Oder vielleicht hörte ein Roboter nur einen Teil des Gesprächs, und der zweite einen anderen Teil, so daß jeder annehmen konnte, sein Herr sei der Eigentümer des Gedankens.« »Das ist ganz unmöglich, Freund Elijah. Beide Roboter geben das Gespräch auf gleiche Weise wieder. Und beide Wiederholungen widersprechen einander von Grund auf.« »Es ist also völlig sicher, daß einer der Roboter lügt?« »Ja.« »Ist es möglich, daß ich auf eigenen Wunsch hin die Abschrift der Zeugenaussagen, die bis jetzt vor dem Kapitän gemacht worden sind, einsehen kann?« »Ich wußte, das würdest du fragen, und habe Kopien bei mir.« »Noch ein Lichtblick. Sind die Roboter einem Kreuzverhör unterzogen worden, und enthält die Abschrift dieses Kreuzverhör?« »Die Roboter haben nur ihre Geschichten wiederholt. Nur Roboterpsychologen könnten ein Kreuzverhör durchführen.« »Oder ich?« »Du bist Detektiv, Freund Elijah, kein …« »Schon gut, R. Daneel. Ich versuche, mir die Psychologie der Raumleute klarzumachen. Weil ein Detektiv kein Roboterpsychologe ist, kann er es tun. Denken wir weiter. Für gewöhnlich lügt ein Roboter nicht, aber er wird es tun, wenn die Befolgung der drei Gesetze es 530
erfordert. Er könnte lügen, um sein Dasein zu schützen, wozu er nach dem dritten Gesetz berechtigt ist. Er wird noch eher lügen, wenn das nötig ist, um in Übereinstimmung mit dem zweiten Gesetz einen berechtigten Befehl auszuführen, den ihm ein Mensch erteilt hat. Er wird am ehesten lügen, wenn es in Übereinstimmung mit dem ersten Gesetz nötig ist, um ein Menschenleben zu schützen oder einen Menschen vor Schaden zu bewahren.« »Ja.« »Und in diesem Fall würde jeder Roboter das berufliche Ansehen seines Herrn schützen und lügen, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergäbe. Unter den gegebenen Umständen könnte das berufliche Ansehen fast soviel wie das Leben bedeuten, und die Dringlichkeit zu lügen wäre beinahe die des ersten Gesetzes.« »Jeder Diener würde jedoch durch die Lüge dem beruflichen Ansehen des Herrn des anderen Schaden zufügen, Freund Elijah.« »Allerdings, aber jeder Roboter hat vielleicht eine klarere Vorstellung von der Bedeutung des Ansehens seines Herrn und hält sie in aller Aufrichtigkeit für größer als die des anderen. Er würde annehmen, daß seine Lüge geringeren Schaden anrichtet als die Wahrheit.« Als er das gesagt hatte, schwieg Lije Baley einen Augenblick. Dann sagte er: »Na schön, kannst du es einrichten, daß ich mit einem der Roboter sprechen kann – ich denke, zuerst mit R. Idda?« »Dr. Sabbats Roboter?« 531
»Ja«, sagte Baley trocken, »mit dem Roboter des jungen Burschen.« »Ich werde nur ein paar Minuten brauchen«, sagte R. Daneel. »Ich habe einen Mikroempfänger mit einem Projektor. Ich brauche nur eine leere Wand, und ich denke, die hier reicht, wenn du mir gestattest, ein paar dieser Filmschränke beiseite zu rücken.« »Nur zu. Werde ich in eine Art Mikrophon sprechen müssen?« »Nein, du kannst wie gewöhnlich sprechen. Entschuldige, Freund Elijah, daß es noch eine weitere Verzögerung geben wird. Ich muß erst mit dem Schiff in Verbindung treten und das Gespräch mit R. Idda vorbereiten lassen.« »Wenn das seine Zeit braucht, Daneel, wie wär's, wenn du mir die Abschrift der bisherigen Zeugenaussagen gibst?« Lije Baley zündete sich die Pfeife an, während R. Daneel die Geräte aufbaute, und blätterte in den dünnen Bögen, die ihm übergeben worden waren. Die Minuten verstrichen, und R. Daneel sagte: »Freund Elijah, wenn du soweit bist, R. Idda ist bereit. Oder möchtest du lieber noch ein paar Minuten über der Abschrift zubringen?« »Nein«, seufzte Baley. »Ich erfahre nichts Neues. Her mit ihm, und sorge dafür, daß die Unterredung aufgenommen und abgeschrieben wird.« R. Idda sah in der zweidimensionalen Projektion auf der Wand unwirklich aus. Er war zum größten Teil aus Metall 532
– gar nicht das menschenähnliche Geschöpf wie R. Daneel. Sein Körper war groß, doch eckig, und bis auf winzige Konstruktionsunterschiede glich er fast aufs Haar den vielen Robotern, die Baley gesehen hatte. Baley sagte: »Ich grüße dich, R. Idda.« »Ich grüße Sie, Sir«, sagte R. Idda mit gedämpfter Stimme, die erstaunlich menschenähnlich klang. »Du bist also der Privatdiener von Gennao Sabbat?« »Bin ich, Sir.« »Seit wann, Boy?« »Seit zweiundzwanzig Jahren, Sir.« »Und das Ansehen deines Herrn bedeutet dir etwas?« »Ja, Sir.« »Würdest du es für wichtig ansehen, dieses Ansehen zu schützen?« »Ja, Sir.« »So wichtig, um sein Ansehen wie sein Leben zu schützen?« »Nein, Sir.« »So wichtig, um sein Ansehen wie das eines anderen zu schützen?« R. Idda zögerte. Er sagte: »Solche Fälle müssen je nach Lage der Dinge entschieden werden. Man kann keine allgemeine Regel aufstellen.« Baley zögerte. Diese Roboter der Raumleute sprachen geschickter und intellektueller als die Typen auf der Erde.
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Er war sich gar nicht sicher, ob er einen im Denken schlagen konnte. Er sagte: »Wenn du finden würdest, daß das Ansehen deines Herrn wichtiger ist als das eines anderen, sagen wir, Alfred Barr Humboldt, würdest du lügen, um das Ansehen deines Herrn zu schützen?« »Ja, Sir.« »Hast du in deiner Zeugenaussage zu dem Streitfall zwischen deinem Herrn und Dr. Humboldt gelogen?« »Nein, Sir.« »Aber wenn du gelogen hättest, würdest du es leugnen, um diese Lüge zu schützen, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Also schön«, sagte Baley, »überlegen wir folgendes. Dein Herr, Gennao Sabbat, ist ein junger Mann, der als Mathematiker großes Ansehen genießt. Er ist jedoch jung. Wenn er in diesem Streitfall mit Dr. Humboldt der Versuchung erlegen wäre und unmoralisch gehandelt hätte, würde sein Ansehen etwas geschmälert werden, aber er ist jung und hätte genug Zeit, das wieder in Ordnung zu bringen. Er hätte noch viele geistige Triumphe vor sich, und man würde schließlich seinen Versuch des Plagiats als den Fehler eines heißblütigen Jugendlichen ansehen, dem es an Urteilskraft mangelte. Es wäre etwas, was in der Zukunft wiedergutzumachen wäre. Wenn es aber andererseits Dr. Humboldt war, der der Versuchung erlag, wäre die Sache viel ernster. Er ist ein alter Mann, dessen große Taten sich über Jahrhunderte erstrecken. Sein Ansehen ist bis jetzt frei von jedem Makel. In Anbetracht 534
dieses einen Vergehens in seinem Alter würde man all das jedoch vergessen, und er hätte in der vergleichsweise kurzen Zeit, die ihm noch bleibt, keine Gelegenheit, das wiedergutzumachen. Er könnte nur noch wenig erreichen. Und im Fall von Humboldt würden, verglichen mit deinem Herrn, so viele Jahre der Arbeit ausgelöscht sein und könnte soviel weniger Gelegenheit sein, sein Ansehen zurückzuerlangen. Du siehst sicher ein, daß die Lage Humboldts schlechter ist und er größere Rücksichtnahme verdient?« Es wurde lange geschwiegen. Dann sagte R. Idda mit unbewegter Stimme: »Meine Aussage war eine Lüge. Die Arbeit ist die Dr. Humboldts, und mein Herr hat unrechterweise versucht, den Ruhm für sich in Anspruch zu nehmen.« Baley sagte: »Sehr schön, Boy. Ich gebe dir die Anweisung, mit niemand darüber zu reden, bis es dir nicht vom Kapitän des Schiffs gestattet wird. Du kannst gehen.« Das Bild verschwand, und Baley paffte seine Pfeife. »Glaubst du, daß der Kapitän das gehört hat, Daneel?« »Da bin ich sicher. Er ist der einzige Zeuge, bis auf uns.« »Schön. Jetzt zum anderen.« »Aber Freund Elijah, ist das in Anbetracht dessen, was R. Idda gestanden hat, überhaupt notwendig?« »Natürlich. R. Iddas Geständnis bedeutet gar nichts.« »Gar nichts?« »Überhaupt nichts. Ich wies darauf hin, daß sich Dr. Humboldt in einer schlimmeren Lage befindet. Wenn er 535
log, um Sabbat zu schützen, würde er natürlich zur Wahrheit umschwenken, wie er vorgab, es zu tun. Wenn er andererseits die Wahrheit gesagt hat, würde er zur Lüge umschwenken, um Humboldt zu schützen. Es ist noch immer das Spiegelbild, und wir haben nichts erreicht.« »Aber was erreichen wir dann durch die Befragung von R. Preston?« »Nichts, wenn das Spiegelbild vollkommen wäre – was es aber nicht ist. Schließlich sagt einer der Roboter von Anfang an die Wahrheit, und einer lügt von Anfang an, und an diesem einen Punkt ist die Sache nicht symmetrisch. Führ mir R. Preston vor. Und wenn die Abschrift der Befragung R. Iddas fertig ist, gib sie mir.« Der Projektor wurde wieder angestellt. R. Preston starrte ihnen entgegen. Bis auf ein paar unwesentliche Unterschiede in der Gestaltung der Brust glich er in jeder Hinsicht R. Idda. Baley sagte: »Ich grüße dich, R. Preston.« Während er sprach, hatte er die Aufzeichnung der Befragung R. Iddas vor sich. »Ich grüße Sie, Sir«, sagte R. Preston. Seine Stimme glich der von R. Idda. »Du bist also der Privatdiener von Alfred Barr Humboldt?« »Bin ich, Sir.« »Seit wann, Boy?« »Seit zweiundzwanzig Jahren, Sir.« 536
»Und das Ansehen deines Herrn bedeutet dir etwas?« »Ja, Sir.« »Würdest du es für wichtig ansehen, dieses Ansehen zu schützen?« »Ja, Sir.« »So wichtig, um sein Ansehen wie sein Leben zu schützen?« »Nein, Sir.« »So wichtig, um sein Ansehen wie das eines anderen zu schützen?« R. Preston zögerte. Er sagte: »Solche Fälle müssen je nach Lage der Dinge entschieden werden. Man kann keine allgemeine Regel aufstellen.« Baley sagte: »Wenn du finden würdest, daß das Ansehen deines Herrn wichtiger ist als das eines anderen, sagen wir, Gennao Sabbat, würdest du lügen, um das Ansehen deines Herrn zu schützen?« »Ja, Sir.« »Hast du in deiner Zeugenaussage zu dem Streitfall zwischen deinem Herrn und Dr. Sabbat gelogen?« »Nein, Sir.« »Aber wenn du gelogen hättest, würdest du es leugnen, um diese Lüge zu schützen, nicht wahr?« »Ja, Sir.« »Also schön«, sagte Baley, »überlegen wir folgendes. Dein Herr, Alfred Barr Humboldt, ist ein Mann, der als Mathematiker großes Ansehen genießt. Er ist jedoch alt. Wenn er in diesem Streitfall mit Dr. Sabbat der 537
Versuchung erlegen wäre und unmoralisch gehandelt hätte, würde sein Ansehen etwas geschmälert werden, aber sein großes Alter und die Jahrhunderte, in denen er etwas erreichte, würden mehr ins Gewicht fallen und den Sieg davontragen. Man würde seinen Versuch des Plagiats als den Fehler eines vielleicht kranken alten Mannes ansehen, dem es an Urteilskraft mangelte. Wenn es andererseits Dr. Sabbat war, der der Versuchung erlegen ist, wäre die Sache viel ernster. Er ist ein junger Mann, dessen Ansehen auf viel schwächeren Füßen steht. Eigentlich lägen Jahrhunderte vor ihm, in denen er möglicherweise Wissen ansammeln und große Dinge erreichen könnte. All das wäre ihm jetzt verlegt, durch eine Jugendsünde ausgelöscht. Die Zukunft, die er zu verlieren hat, ist viel länger als die deines Herrn. Du siehst sicher ein, daß die Lage Sabbats viel schlechter ist, und er größere Rücksichtnahme verdient?« Es wurde lang geschwiegen. Dann sagte R. Preston mit unbewegter Stimme: »Meine Aussage war, wie ich …« An dieser Stelle brach er ab und sagte nichts mehr. Baley sagte: »Fahr bitte fort, R. Preston.« Keine Antwort. R. Daneel sagte: »Freund Elijah, ich fürchte, daß R. Preston in Stasis ist. Er ist außer Betrieb.« »Also schön«, sagte Baley, »dann haben wir endlich eine Asymmetrie zustande gebracht. Von hier aus können wir sehen, wer der Schuldige ist.« »Wie, Freund Elijah?«
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»Denk nach. Nimm an, du bist jemand, der kein Verbrechen begangen hat, und dein Privatroboter ist Zeuge. Du brauchtest nichts zu tun. Dein Roboter würde die Wahrheit sagen und dich bestätigen. Wenn du aber jemand bist, der das Verbrechen begangen hat, dann wärest du abhängig von der Lüge deines Roboters. Du wärest in einer etwas gefährlichen Situation, denn obwohl der Roboter, wenn nötig, lügen würde, wäre er doch eher geneigt, die Wahrheit zu sagen, und damit wäre die Lüge weniger sicher als die Wahrheit. Um dem vorzubeugen, müßte der verbrecherische Jemand höchstwahrscheinlich dem Roboter zu befehlen haben, eine Lüge zu sagen. So wäre das erste Gesetz durch das zweite verstärkt, vielleicht sogar ganz bedeutend gestärkt.« »Das wäre sicher vernünftig«, sagte R. Daneel. »Nimm an, wir haben für die beiden Verhaltensweisen je einen Roboter. Ein Roboter würde von der nicht abgesicherten Wahrheit zur Lüge übergehen, und könnte das ohne große Schwierigkeiten nach einigem Zögern tun. Der andere Roboter würde von der stark abgesicherten Lüge zur Wahrheit übergehen und könnte das nur auf die Gefahr hin tun, dabei in seinem Gehirn viele Positronschaltungen durchzubrennen und in Stasis zu fallen.« »Und da R. Preston in Stasis verfiel …« »Der Herr von R. Preston, Dr. Humboldt, ist der Mann, der sich des Plagiats schuldig gemacht hat. Wenn du das dem Kapitän übermittelst und ihn drängst, die Sache unverzüglich Dr. Humboldt vorzulegen, dann kann er ihn
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vielleicht zu einem Geständnis bringen. Ich hoffe, du wirst mir sofort Nachricht geben, wenn das geschieht.« »Das werde ich sicher tun. Du entschuldigst mich, Freund Elijah? Ich muß unter vier Augen mit dem Kapitän sprechen.« »Sicher. Geh in den Tagungsraum. Er ist abgeschirmt.« Während R. Daneels Abwesenheit konnte sich Baley überhaupt keine Arbeit vornehmen. Vom Wert seiner Untersuchung hing eine Menge ab, und er war sich deutlich seines Mangels an Fachkenntnis in Robotik bewußt. Nach einer halben Stunde kam R. Daneel zurück – beinahe die längste halbe Stunde in Baleys Leben. Es war selbstverständlich unmöglich, dem gelassenen Gesichtsausdruck des menschenähnlichen Wesens etwas darüber zu entnehmen, wie es ausgegangen war. Baley versuchte, gelassen auszusehen. »Nun, R. Daneel?« fragte er. »Genau, wie du gesagt hast, Freund Elijah. Dr. Humboldt hat gestanden. Er rechnete damit, sagte er, daß Dr. Sabbat nachgeben würde und er seinen letzten Triumph feiern könnte. Die Krise ist vorbei, und du wirst den Kapitän dankbar finden. Er hat mir gestattet, dir mitzuteilen, daß er dein umsichtiges Vorgehen sehr bewundert, und ich glaube, daß man mir wohlwollen wird, weil ich auf dich hingewiesen habe.« »Schön«, sagte Baley mit feuchter Stirn, jetzt, da sich seine Entscheidung als richtig herausgestellt hatte. »Aber
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Jehoshaphat, R. Daneel, bring mich bitte nicht wieder in eine solche Lage.« »Freund Elijah, ich werde es versuchen. Es wird natürlich davon abhängen, wie bedeutend die Krise, wie nah du bist, und auch von gewissen anderen Faktoren. Ich habe aber noch eine Frage …« »Ja?« »War es nicht möglich anzunehmen, daß der Übergang von einer Lüge zur Wahrheit leicht war, während der Übergang von der Wahrheit zu einer Lüge schwierig war? Und würde in dem Fall nicht der Roboter in Stasis dabei gewesen sein, von der Wahrheit zu einer Lüge überzugehen, und da R. Preston sich in Stasis befand, hätte man nicht zu dem Schluß kommen können, daß Dr. Humboldt unschuldig und Dr. Sabbat schuldig war?« »Ja, R. Daneel, so hätte man auch folgern können, doch der andere Schluß erwies sich als richtig. Humboldt hat doch gestanden?« »Allerdings. Aber da in beiden Richtungen geschlossen werden konnte, wie hast du, Freund Elijah, so rasch den richtigen Schluß gefunden?« Einen Augenblick zuckte es um Baleys Lippen. Dann entspannte er sich, und sie verzogen sich zu einem Lächeln. »Weil ich menschliches Verhalten berücksichtigte, nicht das von Robotern. Ich weiß mehr über Menschen als über Roboter, mit anderen Worten: Bevor ich überhaupt die Roboter befragte, hatte ich eine Ahnung, welcher Mathematiker der Schuldige ist. Als ich bei den Robotern asymmetrische Reaktionen hervorbrachte, habe 541
ich sie einfach so gedeutet, daß die Schuld auf den fallen mußte, den ich sowieso schon für schuldig hielt. Die Reaktionen der Roboter waren aufregend genug, um den Schuldigen zusammenbrechen zu lassen. Meine eigene Untersuchung des menschlichen Verhaltens hätte dazu vielleicht nicht ausgereicht.« »Ich bin neugierig, wie deine Untersuchung menschlichen Verhaltens ausgesehen hat.« »Jehoshaphat, R. Daneel, denk nach, und du brauchst nicht zu fragen. Abgesehen von der Sache mit wahr und unwahr gibt es in dieser spiegelbildlichen Geschichte noch eine Asymmetrie. Die Tatsache des Alters der beiden Mathematiker. Einer ist ziemlich alt, und einer ist ziemlich jung.« »Ja, natürlich. Aber was ist damit?« »Nun, folgendes. Ich kann mir einen jungen Mann vorstellen, den eine plötzliche revolutionäre Idee erfüllt, und der in der Sache einen alten Mann zu Rat zieht, den er seit seinen Tagen als Student als Halbgott auf seinem Gebiet kennt. Ich kann mir keinen mit Ehrungen überhäuften und Triumphe gewohnten alten Mann vorstellen, dem eine plötzliche revolutionäre Idee kommt, und der einen Jahrhunderte jüngeren Mann zu Rat zieht, den er als jungen Springinsfeld ansehen muß. Und dann noch: Wenn ein junger Mann die Gelegenheit hätte, würde er versuchen, einen verehrten Halbgott einen Gedanken zu stehlen? Es wäre undenkbar. Andererseits würde ein alter Mann, dem bewußt ist, wie seine Kräfte schwinden, vielleicht gut und gern die letzte Gelegenheit, Ruhm zu 542
erlangen, beim Schopf ergreifen und denken, daß ein Neuling auf dem Gebiet kein Recht habe, Dinge zu bemerken, die eigentlich ihm zustünden. Kurzum, es war undenkbar, daß Sabbat Humboldts Gedanken stiehlt. Von beiden Gesichtspunkten aus war Dr. Humboldt schuldig.« R. Daneel überlegte lange. Dann streckte er die Hand aus. »Ich muß jetzt gehen, Freund Elijah. Es war schön, dich zu sehen. Mögen wir uns bald wieder treffen.« Baley drückte freundlich die Hand des Roboters. »Wenn's dir nichts ausmacht, R. Daneel«, sagte er, »nicht so bald wieder.«
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Quellennachweis
THE FUN THEY HAD. Used by permission of Newspaper Enterprise Association, Inc.; THE LAST QUESTION, Copyright © 1956 by Columbia Publications, Inc.; THE DEAD PAST, Copyright © 1956 by Street & Smith Publications, Inc.; THE DYING NIGHT, Copyright © 1956 by Fantasy House, Inc.; ANNIVERSARY, Copyright © 1959 by Ziff-Davis Publishing Co.; THE BILLIARD BALL, Copyright © 1967 by Galaxy Publishing Corporation; MIRROR IMAGE, Copyright © 1972 by Conde Nast Publications, Inc.; MAROONED OFF VESTA, Copyright 1938 by Ziff-Davis Publishing Co.; Copyright renewed 1966 by Isaac Asimov; NIGHTFALL, Copyright 1941 by Street & Smith Publications, Inc.; Copyright renewed 1968 by Isaac Asimov;
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C-CHUTE, Copyright Corporation;
1951
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THE MARTIAN WAY, Copyright 1952 by Galaxy Publishing Corporation; THE DEEP, Copyright 1952 by Galaxy Publishing Corporation.
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