Volker Krämer
Bibleblack Professor Zamorra Hardcover Band 35
ZAUBERMOND VERLAG
Starless – er ist ein Söldner, ein K...
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Volker Krämer
Bibleblack Professor Zamorra Hardcover Band 35
ZAUBERMOND VERLAG
Starless – er ist ein Söldner, ein Killer, der seine Fähigkeiten immer dem anbietet, der den besten Preis zu zahlen bereit ist. Doch stets waren da auch seine ureigenen Ziele, die er nie aus den Augen ließ – genährt von einem brennenden Hass, der ihm nicht versiegende Energie spendete. So diente er sich durch die Jahrhunderte, diente Königen, Fürsten, den Herren der Schwefelklüfte, ja, selbst der ERHABENEN der DYNASTIE DER EWIGEN. Doch im Grunde diente er stets nur einer Person – sich selbst. Als Tan Morano sich zum Herrn über alle Vampire aufschwang, war Starless an seiner Seite. Professor Zamorra und sein Team mussten schmerzlich erkennen, dass sie es mit einem mächtigen Gegner zu tun hatten, der seinem Herrn in nichts nachstand. Zamorra wird schnell klar, dass er hier keinem normalen Vampir gegenübersteht. Ein dunkles Geheimnis umgibt Starless. Zamorra ahnt nicht, wie weit er in die Vergangenheit blicken müsste, um die Lösung des Rätsels zu finden – in eine Zeit, in der Europa in Seuchen, Armut, Hunger und Krieg zu ersticken droht. Eine Zeit, die geprägt ist vom Glauben, gegeißelt von der Pest und vom Gestank des Todes. Die Zeit, in der man einen bestimmten Namen nur flüsterte, weil man sein Kommen mehr als jede Seuche fürchtete. Der Name lautete: Bibleblack …
1. Einer von acht Und wenn sie träumen … wovon? Er ertappte sich dabei, sich diese doch törichte Frage immer wieder zu stellen. Töricht – denn er konnte sie ja nicht beantworten. Doch das änderte nichts daran, dass sie durch seine Gedanken schwirrte und sich immer wieder in den Vordergrund drängte: Können Vampire träumen? Er konnte sich selbst eine ichbezogene Antwort geben, doch die durfte keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, nein, wirklich nicht. Er träumte sehr wohl – und er war ein Vampir, ein Upir, ein Blutsauger, ein Kind des Nachtvolkes. Sicher war er das, doch da war noch mehr in ihm. Die andere Seite, wie er es für sich selbst nannte, mochte ihm im Schlaf die Bilder schicken, er konnte es wirklich nicht genau sagen. Er wusste nur, dass ihm diese Bilder lästig waren, lästig, aber nicht zu vermeiden. Sie sprachen von den vergangenen Zeiten, zeigten ihm das, was er längst zu vergessen gelernt hatte. Sie schwemmten Dinge zurück an die Oberfläche seines Bewusstseins, die er dort vor langer Zeit mit massiven Gewichten behaftet versenkt hatte. Kurz löste er sich von diesen Gedankengängen, denn seine Raumjacht näherte sich dem Planeten – der Anflug auf eine Welt war immer eine knifflige Sache, auch wenn die Technik die meisten Operationen komplett automatisch erledigte. Das war auch gut so, denn eine manuelle Landung hätte er nur sehr ungern durchführen mögen. In seinen Jahren im Dienst der ERHABENEN hatte er gelernt mit jeglicher Technik umzugehen, die aus der Entwicklung der DYNASTIE DER EWIGEN hervorgegangen war. Dazu gehörte auch der Umgang mit den Raumschiffen, die er allerdings für reichlich plumpe Vehikel hielt, geschaffen um Welten in die Knie zu zwingen, um Macht zu demonstrieren. Für schnelle Operationen waren die aller-
meisten von ihnen gänzlich untauglich. Da er jedoch bevorzugte, seine Aufträge allein zu erledigen, konnte er auf diese Raumjachten zurückgreifen, die in den letzten Jahrzehnten innerhalb der DYNASTIE immer beliebter wurden. Sie waren schnell, wendig, leicht zu handhaben und im Ernstfall einfach zu tarnen. Er blickte auf den Monitor, der sich direkt vor seinem Pilotensitz nahezu über die gesamte Breite des Raumes ausdehnte. Dieser Planet war wirklich eine Perle im All, ein Schmuckstück, gebettet auf schwarzem Samt. Was für eine kitschige Metapher, doch sie drängte sich dem Betrachter geradezu auf. Ausgerechnet auf diese Welt musste er fliehen … Und ausgerechnet er, Starless, war ausgesandt worden, den flüchtigen Alpha zu finden, ihn zu eliminieren. Andere Optionen, wie eine etwaige Gefangennahme und Rückführung zur Kristallwelt, dem Hauptplaneten der DYNASTIE, waren nicht einmal als Alternativen erwähnt worden. Starless hätte sich darüber auch sehr gewundert, denn sein Auftraggeber, der neue ERHABENE der DYNASTIE, war ein rachsüchtiges Wesen. Starless musste allerdings zugeben, dass dies im Falle des Alphas absolut nachvollziehbar war, denn er hatte ein Attentat auf den ERHABENEN verübt. Er und weitere sieben Alphas … Starless betrachtete nachdenklich die Konsole vor sich – die Reihe der kleinen Monitore, auf denen ständig die Entfernung zum Anflugziel, dessen geologische Beschaffenheit oder die Messdaten zu Temperatur, Sauerstoffgehalt und etlichen weiteren Umweltbedingungen angezeigt wurden, die für Pilot und Besatzung eines Raumschiffs nun einmal äußerst wichtig waren. Starless' Blick glitt allerdings durch diese Datenfülle hindurch, denn sie war in diesem Fall für ihn überflüssig. Er kannte diese Welt – immerhin war sie seine Heimat: die Erde, Terra oder Gaia, wie die Menschenwelt bei den Ewigen genannt wurde. Seine Augen wanderten zum Hauptbildschirm. Er veränderte den Zoomfaktor so, dass der Screen Europa, einen großen Teil Afrikas und den Teil der Erde zeigte, den Starless auch in so vielen Jahrhunderten nie wirklich bereist hatte – er sah Jordanien, den Irak, die Vereinigten Arabischen Emirate.
Dennoch blieb er am europäischen Kontinent regelrecht kleben. Ein stilles Lächeln glitt über seine Lippen. Natürlich … war es denn nicht logisch sich ausgerechnet hier einer Verfolgung entziehen zu wollen? Die Welt platzte aus allen Nähten. 6,9 Milliarden Wesen wimmelten auf ihr – wie sollte da ein einzelnes Individuum zu finden sein, das sich in dieser unvorstellbaren Masse verkroch? Starless würde den Renegaten finden. Da war er absolut sicher. Finden und auslöschen – exakt dazu hatte der ERHABENE ihn ausgesandt, exakt das war es aber auch, was den Vampir ins Grübeln gebracht hatte. Was war er in den Augen des Mannes, der erst durch ihn, Starless, zu der Macht gekommen war, über die er nun verfügte? Ein Jäger? Ein Killer? Nicht weniger, doch anscheinend auch nicht mehr. Das allerdings war überhaupt nicht das, worauf Starless hingearbeitet hatte. Er war ein gewaltiges Risiko für sich selbst eingegangen, als er die ehemalige ERHABENE Nazarena Nerukkar betrogen und verraten hatte. Ihm war klar gewesen, was ihm blühte, würde er damit scheitern und in die Hände Nazarenas fallen. Es gab nicht unendlich viele Methoden um einen Vampir zu vernichten, doch die ERHABENE hätte sich sicher speziell für ihn noch ein paar neue Feinheiten ausgedacht. Nerukkar hatte stets auf Starless zurückgegriffen, wenn es Dinge zu erledigen gab, bei denen die Ewigen überfordert gewesen wären. Schon immer war es so gewesen, dass sich die ERHABENEN der DYNASTIE neben dem normalen Geheimdienst ihre Spezialisten gehalten hatten. Einige von ihnen waren posthum zu regelrechten Legenden geworden – etwa Aiwa Taraneh, die Attentäterin mit der Figur eines Kindes und dem Gesicht eines Engels, die ihren Tod auf der Erde gefunden hatte. Im Gegensatz zu ihr, die nach einer ganz eigenen Lehre gelebt und gehandelt hatte, war Starless der Typ Söldner, was ihn nicht weniger effizient machte. Irgendwann jedoch hatte er sich entscheiden müssen und hatte gewählt: Er hatte sich Tan Morano angeschlossen, dem uralten Vampir, der sich anschickte, die Herrschaft über alle Vampire zu übernehmen. Das Machtmittel dazu besaß jedoch ein anderer mit Namen Ted
Ewigk. Er nannte den zweiten Machtkristall sein Eigen, den Dhyarra der 13. Ordnung, der stets wie eine düstere Wolke über Nazarena Nerukkar zu schweben schien, denn Ewigk hätte ihr damit die Macht in der DYNASTIE DER EWIGEN entreißen können. Doch der war nicht interessiert. Morano um so mehr, und als Starless ihm den Kristall übergab, wähnte der Vampir sich am Ziel seiner Wünsche. Er hatte durch eine harte Schule gehen müssen, ehe er den Kristall dann letztendlich beherrschte … und er hatte dafür eine Menge Opfer bringen müssen. Allerdings hatte es Morano nicht gereicht, die Führung der Vampire zu übernehmen. Jetzt hatte er mehr gewollt … und bekommen! Als Nazarena Nerukkar sich mit einem Alpha messen musste, der ihre Führungsposition für sich beanspruchte, hatte sich Morano eingemischt. Die ERHABENE hatte gegen ihn keine Chance gehabt, nicht in dem angeschlagenen Zustand, in dem sie sich befunden hatte. Und plötzlich hatte die DYNASTIE DER EWIGEN einen neuen ERHABENEN: Tan Morano! Starless war dicht bei ihm gewesen, als der Vampir seinen Einzug in den Kristallpalast auf der Zentralwelt der DYNASTIE zelebrierte. Die Ewigen hatten ihm einen reichlich unterkühlten Empfang bereitet, der sich allerdings von einer Sekunde zur anderen in eine feurige Angelegenheit wandelte. 10 der Men in Black, der halborganischen Cyborgs, die als Leibwache des jeweiligen ERHABENEN im Palast fungierten, waren manipuliert worden. Die Explosion, in denen die Men in Black vergingen waren verheerend und brachten einen großen Teil der Anlage zum Einsturz. Erneut war es Starless gewesen, der Morano rechtzeitig vor der Gefahr gewarnt hatte – erneut stand der frisch gekürte ERHABENE in seiner Schuld. Starless war überzeugt, dass er den Lohn dafür bald genießen konnte. Als rechte Hand Moranos, als Machtfaktor im Hintergrund, würde er sich endlich das Leben ermöglichen können, das ihm schon so lange vorschwebte. Starless lehnte sich in die Polsterung zurück. Im Nachhinein hatte sich herausgestellt, dass es sich bei den Attentätern um eine Gruppe von acht Alphas handelte, die sich selbst Sampi nannten. Acht Hard-
liner, die sich mit Gewalt an die Macht bringen wollten, um dann die alte Linie der DYNASTIE wieder einzuführen, die aus Eroberung um jeden Preis bestanden hatte. In erster Linie ging es ihnen darum, endlich die verhasste Erde unter die Knute zu bringen. Mehr als ein Invasionsversuch war bereits gescheitert, doch das würde sich unter ihrem Befehl ändern. Der Handstreich war gescheitert, doch Morano handelte rasch. Natürlich hatten die Mitglieder der Sampi zu fliehen versucht. Vier von ihnen hatte man daran hindern können die Kristallwelt zu verlassen, die anderen jedoch waren mit ihren Fluchtschiffen im All verschwunden. Die Sampi, die einfach nicht schnell genug gewesen waren, starben keinen leichten Tod, denn der neue ERHABENE demonstrierte an ihnen, was jedem blühen würde, der sich gegen ihn stellte. Morano machte aus dieser Exekution ein Spektakel, wie es selbst die Ewigen so noch nie erlebt hatten. Starless hielt sich während dieser Prozedur sehr im Hintergrund. Er kümmerte sich um den Kristallpalast, denn von dem war mehr als ein Drittel in Schutt und Asche gegangen. Er beaufsichtigte die Aufräumarbeiten und plante im Geiste bereits den Neuaufbau. Das war eine Sache, die ihm lag, die ihn wirklich fesseln konnte. In seinem Jahrhunderte währenden Leben hatte er so viel zerstört und vernichtet, hatte getötet … oft sinnlos … nun war es an der Zeit die andere Seite zu bedienen. Etwas schaffen, erschaffen! Genau so, wie sein Vater es einst getan hatte. War es der Blick auf die Erde, dieser unbeschreibliche Anblick aus dem All heraus, der ihm plötzlich diesen Gedanken zugetragen hatte? Wie lange hatte er nicht mehr an seinen Vater gedacht? Bittersüße Erinnerungen, die er sich einfach nicht gestatten wollte, denn die bitteren Aspekte würden überwiegen … und Bitternis fühlte er auch so mehr als genug in sich. Eine seltsame Emotion, mit der Starless irgendwie überhaupt nicht umzugehen wusste. Sie hatte ihn befallen, als Tan Morano ihm klar machte, was er von Starless erwartete. »Ich will alle acht Sampi – alle, hörst du?« Starless ahnte, was nun kommen musste. »Der Kopf der Renegatenbande heißt Miso Vorrog. Du wirst ihn suchen und lebendig zu mir bringen. Lebend, ich hoffe,
das hast du verstanden.« Starless hatte keinen Widerspruch gewagt. Offenbar wollte Morano hier erst einmal ohne ihn auskommen – die Kristallwelt der DYNASTIE würde einen drastischen Wandel erleben, denn Tan Morano war ganz sicher mit keinem der früheren ERHABENEN zu vergleichen. Starless jedoch verließ diese Welt noch am gleichen Tag mit der Raumjacht, nachdem er Erkundigungen eingezogen hatte, die ihm seine alten Informanten mehr oder minder bereitwillig gaben. Vorrogs Fluchtpunkt war also die Erde. Logisch und unlogisch zugleich, unkonventionell auf alle Fälle. Dort würden die Kriegsschiffe der DYNASTIE ganz sicher nicht nach ihm suchen, denn der Raum um Gaia war zur Tabuzone ernannt worden. Zu heftig waren die Niederlagen gewesen, die sich die DYNASTIE DER EWIGEN dort hatte abholen müssen. Starless fühlte ganz deutlich, wie saure Wut langsam in ihm hochstieg. Sollte er sich mit dem zufriedengeben, was Tan Morano offensichtlich für ihn plante? Einmal ein Jäger – immer ein Jäger? Sicher hätte jeder andere Vampir die Ehre eines direkten Auftrags von Morano zu schätzen gewusst. Doch Starless war nicht jeder andere … das war er nie gewesen. Starless aktivierte die speziellen Ortungssysteme, die er mit an Bord genommen hatte. Sie waren für die Jacht absolut überdimensioniert, hätten eher auf Schlachtschiffe gepasst. Doch selbst die besaßen sie nicht standardmäßig. Sie waren speziell für einen winzigen Teil der DYNASTIE-Flotte erschaffen worden – für die Schiffe, die sich auf die Suche nach verschollenen Raumern der Ewigen begaben, die havariert oder abgeschossen worden waren. Die Dhyarra-Kristalle, die in diesen Geräten verbaut waren, besaßen eine spezielle Eichung, die auf jedes noch so kleine Fragment von EwigenTechnik ansprach. Vorrog mochte in der Menschenmasse auf Gaia eintauchen und sich verstecken können, doch er würde sich sicher nicht von den kleinen Vorteilen trennen, die ihm die Technik seines Volkes hier bringen würde. Jetzt musste Starless also nur noch warten … ein für ihn wohlbe-
kannter Zustand. Er schloss die Augen. Es gab für ihn nichts zu tun, absolut nichts. Die Vision kam sofort, auch wenn er sich in einem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen befand. Und sie lief so ab, wie sie es immer tat. Die Straße war breit und gut ausgebaut, was mehr als ungewöhnlich für diese Zeit war. Der Junge sah Menschen um sich herum. Sie alle folgten ihm. Oder folgte er ihnen? Hektisch blickte er sich um, doch er konnte einfach nicht erkennen, wo er sich hier befand. Wohin führte diese Straße? Wohin brachte sie all diese Menschen? Wenn der Junge seinen Blick auf den Horizont vor sich richtete, dann sah er eine Dunkelheit, die ihm kalte Angst brachte … dieser Ort, den alle zu erreichen versuchten, war die Zukunft. Und die war schwarz, schwärzer als Tod und Hölle. Die Schreie Sterbender kamen immer näher … Weinen und Wehklagen waren schon beinahe zum Greifen nahe. Ein süßlicher Geruch wehte heran, ekelhaft süß … die schiere Verwesung … Bei jedem weiteren seiner Schritte stieg der bald schon unwiderstehliche Drang sich umzuwenden, umzuwenden und zu laufen … zurück, dorthin, wo kein Klagen, kein Gestank drohte. Doch noch konnte er sich beherrschen, denn er war ja nicht alleine. Er war doch nicht alleine … oder? Der Junge streckte die Arme seitlich von sich, doch da war keine feste Hand zu finden, die ihn hielt und führte. Voller Panik blieb er stehen, während die Menschen an ihm vorbei in die Dunkelheit stürmten, als läge dort das Paradies. Langsam wandte er sich um und sah, dass die Straße hinter ihm verschwunden war; dort klaffte nur ein bodenloses Loch. Es gab keinen Weg mehr zurück. Er war alleine – und es gab für ihn nur die eine Richtung direkt hinein in die böse Nacht, die sich über die Welt zu legen drohte. Alleine mit sich … und sich … Starless öffnete seine Augen. Schluss damit! Er hatte diese Vision satt, denn sie zeigte ihm nie ihren wahren Sinn. Er wollte sich ganz einfach nicht in eine wahrscheinlich sinnlose Sache hineinsteigern. Mit ziemlicher Sicherheit war das alles nur ein Gespinst, das sich in seinem Unterbewusstsein geballt hatte und sich nun immer neu ent-
lud. Die Vision besaß keinen wirklichen Anfang, kein echtes Ende. Wahrscheinlich würde sie ihn wieder verlassen wie sie gekommen war. Starless hoffte, dass dies nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Er beobachtete die Anzeigen der Ortung, die unbestechlich und mit absoluter Präzision den europäischen Kontinent abtastete. Der erste Durchlauf war bereits beendet – ohne jedes Ergebnis. Doch Starless war überzeugt, dass er den Alpha hier finden konnte. Automatisch startete der zweite Umlauf mit leicht veränderten Parametern, der nun viel langsamer ablief, weil die Intensität nahezu verdoppelt war. Was auch immer dort unten auf die Anwesenheit eines Ewigen deuten mochte – Starless wollte es finden, auch wenn das hier noch Stunden und Tage dauern mochte. Er entschied sich, dass er die Jacht nicht auf der Erde landen wollte. Zu riskant, denn eine Entdeckung war in einem solchen Fall nie ausgeschlossen. Wenn er den Alpha geortet hatte, konnte er sich mit seiner ureigenen Vampirmagie ganz in dessen Nähe bringen; also würde die Raumjacht hier sicher in einem Orbit bleiben. Es konnte ja nicht lange dauern, Vorrog zu überwältigen – möglichst lebend … Morano wollte es so haben. Der Scan hatte soeben Großbritannien erreicht. Doch auch hier schlug der Ortungsalarm nicht an. Starless gestand sich ein, dass der Anblick auf die britische Insel ihn viel mehr packte, als er es vermutet hätte. Wie wäre das Bild wohl für einen außerirdischen Raumfahrer ausgefallen, wenn er im 14. Jahrhundert den Anflug auf die Erde gewagt hätte? Sicher ein wenig anders – klarer noch als jetzt, da die Industrialisierung ihre Glocke rund um den Planeten gelegt hatte. Die Farben wären anders verteilt gewesen, sicher, denn dort, wo heute die riesigen Städte prangten, hatte damals noch die Natur die Oberhand gehabt. Im Südwesten der Insel ragte ein dürrer Arm in das Meer hinein, an dessen Ende sich eine Art Klaue befand, die an die Backen einer Zange erinnerten. Cornwall – die Grafschaft, die so lange von den Kelten gehalten worden war, während der Rest Britanniens schon den Angelsachsen gehörte. Fischer und Bauern und Bergleute …
einfache Menschen, die freiheitsliebend waren und sich nur nach und nach der Christianisierung ergaben; der ständig steigende Einfluss der Kirche brachte dann große Veränderungen, die auch Starless zu spüren bekommen hatte. Ja, dort war er geboren worden. In welchem Jahr genau, das konnte er heute nicht mehr sagen, doch es musste so um 1335 herum gewesen sein. Der Vampir fühlte die Verkrampfung, die ihm diese beginnende Erinnerung einbrachte. Er wehrte sich dagegen. Wozu sollte es denn wohl gut sein, den ganzen Wust der vergangenen Jahrhunderte noch einmal an sich heran zu lassen? Er hatte sich stets voller Ärger und Unverständnis abgewandt, wenn irgendwo irgendwer damit begann sein ganzes Leben vor anderen auszubreiten – womöglich noch vor Fremden, die sich im Stillen köstlich über den alten Trottel amüsierten. Oder … schlimmer noch … der alte Großvater, der sich vor seinen Enkeln aufbaut und die bereits x-mal gehörte Geschichte mit dem folgenden Satz begann: »Also damals … da hatten wir ja nichts …« Wieso hatten Menschen anscheinend den großen Ehrgeiz mit dem Elend ihrer Kindheit zu punkten, regelrecht zu prahlen? Warum begannen sie immer und immer wieder den Wettstreit, dessen Ziel es war, die schrecklichen Geschichten der Vorgeneration noch zu übertreffen? Es steckte wohl ganz einfach in ihnen, entschied der Vampir für sich. Seine Geschichte würde in Cornwall beginnen, wenn er sie denn erzählen würde. Doch ihr Anfang hätte sich entscheidend von denen unterschieden, die ja nichts gehabt hatten … Sie würde nicht mit Hunger, Angst, Gewalt, Schmerz oder Tod starten. Irgendwann würde sie diese Aspekte des Grauens erreichen, sicherlich … und noch weit darüber hinaus gehen, aber der Beginn sähe doch ganz anders aus. Denn am Beginn stand ein kleiner Junge, der mehr als glücklich war. Einer von acht … auch er war einmal der achte Teil einer Gemeinschaft gewesen. Der verschworenen Gemeinschaft von Geschwistern …
Cedric stieß einen spitzen Jubelschrei aus, als er das prachtvoll geschnitzte Holzschwert in seinen Kinderhänden hielt. Wie sehr hatte er sich so etwas gewünscht? Ihm kam es wie eine Ewigkeit vor, doch nun hatte Vater ihm seinen Herzenswunsch ja erfüllt. Stolz betrachtete Cedric die mächtige Waffe, die einem Keltenkrieger alle Ehre machte. Die Klinge des Schwertes war lang und besaß ausreichend Fleisch in der Breite, um selbst Bäume mit ihr fällen zu können. Ein guter Krieger war stets darauf bedacht, dass seine Waffen nicht nur für den Kampf, sondern auch für Arbeiten im Alltag tauglich waren. Der Griff war dicht mit einer purpurnen Kordel umwickelt – das garantierte ein sicheres Zupacken … und sah ausnehmend hübsch aus. Cedrics Gesicht glühte vor Selbstsicherheit, denn der Besitz dieser Waffe würde ihn ganz automatisch zum ersten Krieger im FynnClan machen, der aus seinen vier Brüdern und den drei Schwestern bestand, die – da waren die Jungen großzügig – durchaus mit in die großen Schlachten ziehen durften, die der Clan zu bestreiten hatte. Niamh und Kendra, die achtjährigen Zwillinge, hatten die Wildheit ihrer Brüder in sich, gingen also ohne Probleme als Krieger durch. Einzig die sanftmütige Brianna wurde mit Schwertkämpfen und wilden Flüchen ganz einfach nicht warm. Die anderen hatten sie dazu verpflichtet, sich ausschließlich um die Verwundeten zu kümmern, die es nun einmal immer wieder gab. Sie machte das ausgezeichnet – Cedric erinnerte sich an den Verband, den sie ihm kürzlich angelegt hatte, und den er nur mit Hilfe der Mutter wieder von seinem Handgelenk entfernen konnte. Wenn Cedric Brianna mit ihren neun Jahren so anblickte, erkannte er zweifellos die Ähnlichkeit mit der Mutter, die ganz bestimmt die sanftesten Hände auf der ganzen weiten Welt besaß. Cedric schaffte es kaum seine Blicke von dem Holzschwert zu reißen, das Vater für ihn gemacht hatte. Vater war ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern, der einen fein ausrasierten Backenbart trug, um den er sich höchstpersönlich jeden Tag eine geschlagene Stunde lang kümmerte. Connor Fynn legte wirklich großen Wert
auf eine makellose Erscheinung – und das musste er auch, denn schließlich stand er im Licht der Öffentlichkeit. Er war einer der besten Baumeister von ganz Cornwall – der beste von allen, wie Cedric für sich beschlossen hatte. Cedric sah, wie seine Brüder verstohlen bei der Tür standen und ihn mit neidvollen Augen ansahen. So ein prächtiges Schwert hätte jeder von ihnen nur zu gerne besessen, doch sie wussten genau, dass der zwölfjährige Cedric es ihnen nicht einmal für einen winzigen Augenblick ausleihen würde. Im Gegenteil … er würde es auf ihren Rücken tanzen lassen, denn sie hatten mit ihren Stöcken und Ästen, die ihnen als Schwerter dienten, dagegen doch absolut keine Chance. Cedric war eh der Größte und Älteste von ihnen, war den Brüdern an Kraft und Geschicklichkeit also voraus. Das bekamen die anderen im Spiel zu spüren, und manchmal, wenn Cedric mal wieder ein wenig übertrieb, sogar recht schmerzhaft. Dennoch erkannten sie ihn als Anführer ihrer kleinen Bande voll und ganz an. Cedric gab zu, dass er in diesem Moment sogar ein wenig Mitleid mit den Zwillingen hatte, doch das hielt sich dann doch in engen Grenzen. Vater hingegen musste lachen, als er seine Söhne so sah. Er war stolz auf jedes einzelne seiner Kinder und machte keine Unterschiede, wenn er seine Liebe über ihnen ausschüttete. Wie eigentlich immer standen Cedrics Brüder bei ihrem jeweiligen Zwilling – Owen und Gael waren jetzt sieben Jahre alt, Lennox und Kai hatten das zehnte Lebensjahr erreicht. Wenn man noch die Schwestern Niamh und Kendra dazu nahm, so hatte die Mutter das Kunststück fertig gebracht, drei Zwillingspaare in die Welt zu setzen. Einzig Brianna und Cedric waren Einzelgeburten. Zwillinge waren in diesen Zeiten nicht unbedingt außergewöhnlich zu nennen, aber im Hause Fynn hatte das schon eine erstaunliche Tradition. Connor Fynn streichelte über die Köpfe seiner jüngeren Söhne. »Aber, aber – keine langen Gesichter, wenn ich bitten darf. Draußen hat es doch erst die ersten Sonnenstrahlen des jungen Jahres gegeben. Ihr werdet noch viele schwere Kämpfe im kommenden Sommer zu bestehen haben.« Er musste lächeln, denn er wusste genau, wie ernst seine kleine Bande hier ihr Tun nahm. Sie waren Verteidi-
ger des Landes – das war mehr als nur ein Spiel für sie. »Ich werde ganz sicher die Zeit finden, für jeden von euch ein ordentliches Schwert zu schnitzen.« »Zeit? Du?« Alle Köpfe ruckten zur Fensterfront des Zimmers, vor der Juna Fynn es sich auf einem gepolsterten Stuhl bequem gemacht hatte. Bislang hatte sie sich an der ganzen Szenerie nicht beteiligt, doch nun war es aus ihr herausgeplatzt. »Kinder, nun habt ihr euren Vater in der Falle. Wir alle haben sein Versprechen gehört, sich Zeit für euch … und mich … zu nehmen.« Ein spitzbübisches Lächeln huschte über ihr Gesicht und traf sich in ihren Augen mit einem nicht zu übersehenden Schalk, der dort nur so sprühte. Connor Fynn erstarrte zu einer Salzsäule. Dann machte er ein paar bedrohlich wirkende Schritte auf seine Frau zu. »Weib, du wagst es meine Kinder gegen mich aufzubringen? Warte, wenn ich dich kriege.« Juna sprang hoch und machte ein paar Fluchtbewegungen, pendelte mit ihrem Oberkörper den Angriff ihres Mannes aus … um ihm dann mit einem raschen Satz zu entschlüpfen. Doch Connor war hartnäckig und folgte ihr geschickter, als man es dem breitschultrigen Mann zugetraut hätte. Und nun hatte er Erfolg. Er bekam seine Frau bei den Schultern zu fassen. Cedric lächelte still in sich hinein, während die Geschwister ihre Mutter anfeuerten. Sie alle wussten genau, was für ein Spiel hier ablief. Die Eltern waren ein wenig, nun, verrückt. Sie führten sich oft auf, als wären sie nicht älter als ihre eigenen Kinder – und die liebten diese Situationen sehr! Connor Fynn hob Juna spielerisch in die Höhe, ließ sie dann wieder sanft zu Boden gleiten. Doch das reichte ihm natürlich nicht. Er drückte seine Frau fest an sich und die zwei küssten einander innigst und lang. Cedric hatte nicht bemerkt, dass seine älteste Schwester Brianna den Raum betreten hatte und nun dicht hinter ihm stand. Die Sanftmütigste der gesamten Fynn-Bande seufzte. Cedric wollte sich zu ihr umdrehen und sie für ihre Gemütswallungen ein wenig necken, doch dann ließ er es bleiben. Brianna hatte
ja recht – ihre Eltern waren ein außergewöhnliches Paar, besonders, wenn man sich die Welt so betrachtete. Cedric fühlte sich nicht erwachsen und weise, doch er hatte Augen. Und mit denen konnte er sehen, wie hart das Leben in diesen Tagen des Jahres 1348 hier nahe der Küste war. Die Menschen in Cornwall kämpften einen niemals endenden Kampf um ihr Überleben. Das Land, die Küste und die Schätze tief unter dem Erdboden ermöglichten ihnen dies, doch hier fiel niemandem etwas in den Schoß. Alles musste erkämpft werden – die Bauern wurden von Missernten heimgesucht, die Fischer stellten sich Tag für Tag gegen die raue See, die ihnen den Lohn ihrer Arbeit einfach nicht preisgeben wollte – und die Bergleute schälten das Zinn unter ständiger Bedrohung ihres Lebens aus dem Erdenbauch. Cedric kannte hier niemanden, dem man Müßiggang oder Trägheit hätte vorwerfen können. Zu all dem kam noch hinzu, dass immer mehr und mehr der Menschen hier erkrankten. Schon wurde von einer Seuche geflüstert, die vom Festland her auch den Weg nach Cornwall suchte. Connor und Juna waren bemüht, ihre Familie vor den übelsten Dingen dieser Zeit zu behüten, doch die Kinder waren nicht blind oder dumm. Sie sahen und hörten – und legten sich ihre eigene Sicht der Dinge zurecht. Auch wenn Vater ein wichtiger Mann war, so waren auch die Fynns nicht reich. Aber sie lebten in einem ordentlichen Haus, das ausreichend Platz für alle bot; Mutter hatte zwei Hilfen für den Haushalt, die Kinder wurden von einem Lehrer privat unterrichtet – niemand musste Hunger leiden, wurde jemand krank, so schickte man nach einem Heiler. Das alles war so viel mehr, als der größte Teil der anderen Menschen im Land hatte. Cedric sah wie Owen und Gael den Versuch starteten, ihre Mutter aus den starken Armen des Vaters zu befreien. Es sah lustig als, als sie sich wie kleine Hunde um Vaters Beine wanden, ihn dabei jedoch um keinen Deut von der Stelle brachten. Schließlich war es Juna, die diese Szene beendete. »So, Schluss jetzt. Raus mit euch allen. Ein wenig Zeit habt ihr noch, um draußen zu spielen, dann bricht Noprichts Stunde an. Also los … sputet euch.«
Leise murrend verließen die Kinder das Haus, an dessen Rückfront die Mutter einen ansehnlichen Garten angelegt hatte, der die ganze Familie mit Gemüse versorgte. Dahinter jedoch schloss sich freies Land an, das den Kindern als Spielgelände alles bot, was sie sich nur wünschen konnten. Alle scharten sich um Cedric, um sein wundervolles Schwert zu betrachten, doch irgendwie waren selbst die Kleinen nicht so richtig bei der Sache. Es lohnte sich einfach nicht, jetzt noch ein neues Spiel zu beginnen. Mutter hatte es ja gesagt – Noprichts Stunde kam näher. Es war ja nicht so, als würden die Fynn-Kinder ihren alten Lehrer nicht mögen, doch wenn man lieber toben, miteinander ringen und fechten wollte, dann störte auch der netteste Mentor gewaltig. Zudem hatte Nopricht gedroht, dass heute die Geschichte Cornwalls an der Reihe sein würde. Cedric sah es in den Gesichtern seiner Geschwister deutlich geschrieben stehen: langweilig, öde und schal! Wenn Nopricht ihnen wenigstens etwas über tapfere Krieger erzählt hätte, von mächtigen Kämpfen und Heldentum, doch der Mentor blieb stets bei der Besiedlung Cornwalls hängen, bei den ersten Versuchen, die hier lebenden Kelten zu christianisieren. Das hatte auch einen gewissen Reiz, wie Cedric gerne eingestehen wollte, aber immer und immer wieder dasselbe Thema? Da verging wohl jedem Kind der Spaß am Lernen. Doch noch ehe Nopricht erschien, nahm dieser Tag doch noch eine angenehme Wende für Cedric. Vater wollte ihn am kommenden Morgen mit zur Küste nehmen, dorthin, wo Connor Fynn über den Bau der mächtigsten Kathedrale wachte, die Cornwall je gesehen hatte. Doch, alles in allem war dies ein guter Tag gewesen, befand Cedric für sich. Erst das wunderschöne Schwert, dann die Aussicht auf einen enorm spannenden Tag. Cedric war zufrieden mit sich und seiner kleinen Welt …
Der nächste Morgen war grau wie altes Blei. Und kalt dazu … Cedric hielt es plötzlich für gar keine so gute Idee mehr mit sei-
nem Vater zur Küste zu fahren. Die Fahrt würde gut zwei Stunden in Anspruch nehmen, daher brach Connor Fynn vor dem Morgengrauen auf, denn es war der Tag des neuen Bauabschnittes der Kathedrale. Es galt Entscheidungen zu treffen, die für den gesamten Bau ganz entscheidend sein würden. Da es Cedric nicht schaffte, sich rechtzeitig aus seinem warmen Bett zu schälen, musste er auf ein Frühstück verzichten, was dem stets hungrigen Jungen als bittere Strafe erschien. Nun saß er – eingehüllt in ein dickes Fell – zitternd und müde neben seinem Vater, der es sich nicht nehmen ließ, den Zweispänner persönlich in Richtung Küste zu lenken. Cedric konnte überhaupt nicht mehr verstehen, warum er sich so sehr auf diesen Ausflug gefreut hatte? Aber so war er nun einmal … flatterhaft hatte Brianna ihn einmal genannt. Heute so, morgen so – und dann wieder ganz anders. Manchmal verstand der Junge sich ja selbst nicht, denn seine Eltern waren absolut nicht so. Eine vererbte Eigenart konnte es also kaum sein. Natürlich hatte Cedric sein neues Holzschwert dabei, doch auch daran kam in diesen frühen Stunden keine wirkliche Freude auf. Dennoch bedankte er sich noch einmal ausführlich bei seinem Vater, um den nicht zu enttäuschen. Zwei Ansiedlungen hatten sie bereits durchquert. Im Morgengrauen sahen sie fremd für Cedric aus, der sich hier ja gut auskannte. Er hatte in diesen Siedlungen, die man nicht einmal Dorf nennen konnte, einige gute Freunde, die zum erweiterten Kreis der Fynn-Bande zählten. Ab und zu kamen einer oder zwei dieser Jungen dazu, wenn die Kinder der Fynns ihre Spielabenteuer erlebten. Die jungen Burschen waren die Söhne von Bergmännern, die in der nahen Mine arbeiteten. Cornwalls Erde deckelte riesige Vorräte an Kupfer und in erster Linie Zinn. Den Bergleuten in dieser Gegend machte niemand etwas vor – an Erfahrung und Können waren sie nicht zu übertrumpfen. Stolze Menschen, auch wenn sie von ihrem kärglichen Lohn kaum die Familien ernähren konnten. Mutter war zunächst nicht sonderlich begeistert gewesen, als Cedric sich mit diesen Kindern angefreundet hatte, doch Vater hatte dann ein Machtwort gesprochen. Ob jemand in luftiger Höhe beim Bau einer Kathedrale seinen Lebensunterhalt sicherte oder ob er –
dem Maulwurf gleich – in den Bauch der Erde krauchen musste, das machte für Connor keinen Unterschied. Jetzt wirkten die wenigen Hütten, die es hier gab auf Cedric wie lauernde Tiere der Nacht, die man besser nicht reizen sollte. Eine ganze Weile blieben Vater und Sohn schweigsam, dann strich Connor Fynn seinem Sohn zärtlich über die wild wuchernden schwarzen Locken. »Ich habe dich lange nicht mehr danach gefragt, Cedric.« Irgendwie klang die Stimme des Baumeisters, als wäre es ihm peinlich, was er nun vorbringen wollte. »Vermutlich fragt deine Mutter öfter als es dir lieb ist … nun, aber du weißt ja, dass ich mir immer Sorgen um meine Kinder mache.« Cedric schaute den Vater an und brachte es fertig, trotz der Kälte ein freches Grinsen aufzulegen. »Sorgen solltest du dich um die Zwerge. Ich meine die Küken unserer Familie, denn Owen und Gael sind für ihre sieben Jahre erstaunlich frech.« Vater und Sohn lachten einander an. »Na, von wem haben die beiden denn das wohl gelernt? Sie haben ja einen ganz großen Bruder als Vorbild – ich glaube, der heißt Cedric.« Doch Connor wurde schnell wieder ernst. »Aber du weißt schon, was ich dich fragen wollte, nicht wahr?« Cedric nickte. Natürlich wusste er das, doch ihm war nicht ganz klar, was er seinem Vater antworten sollte. Connor Fynn machte sich Sorgen um die Gesundheit seines Erstgeborenen. Instinktiv griff Cedric mit der linken Hand an seinen Hinterkopf. Er hatte dichtes Haar, das verhinderte, dass irgendjemand das Narbengeflecht entdecken konnte. Es hatte die Größe eines Handtellers und sah alles andere als angenehm aus, doch Cedric kannte es nicht anders, denn laut seinen Eltern war er so geboren worden. Sie hatten damals gefürchtet, ihren ersten Sohn zu verlieren, doch Cedric war schon als Baby ein Kämpfer gewesen. Mehr hatten Connor und Juna ihm nie berichtet – Cedric hatte sich damit zufrieden gegeben. Doch die Schmerzen, die sich Tag für Tag in seinem Nacken ausbreiteten, sorgten schon dafür, dass er seine Behinderung niemals vergessen konnte. Manchmal waren sie durchaus erträglich, oft so
schwach, dass der Junge sie einfach ignorierte; eine Methode, die er sich selbst beigebracht hatte. An anderen Tagen jedoch brannte der Schmerz wie loderndes Feuer … und dann gab es für Cedric nur die eine Möglichkeit, um sich nicht in sein Elend zu verkriechen. Er musste sich ablenken, aktiv werden, spielen … wilde Spiele, die seine Pein wie eine dicke Decke zuhüllten. Ohne seine Geschwister hätte er nicht gewusst, wie er mit dem allem umgehen sollte. Sie spürten, wenn Cedric ihre Spiele überdrehte, wenn er bis ans Limit ging, doch sie sprachen nicht darüber, sondern machten einfach mit, weil sie ihrem Bruder helfen wollten. Doch selbst das gelang nicht immer. Es gab Tage, da zog er sich vollständig zurück, in einen dunklen Raum oder verschwand gar für viele Stunden im nahen Wald, der wie ein Schirm war, der keinen Sonnenstrahl bis zum Boden kommen ließ. Meist schlief er dort dann ein. Wenn er erwachte fühlte er sich anders. Besser konnte er es nicht beschreiben. Cedric sprach nicht gerne über all diese Dinge, doch er konnte natürlich auch verstehen, dass seine Eltern auf dem Laufenden sein wollten. »Vater, heute geht es mir gut, zumindest jetzt noch. Ich freue mich auf den Tag mit dir. Aber noch viel besser ginge es mir mit einem ordentlichen Frühstück im Bauch und einem bollernden Ofen in meinem Rücken.« Connor gab sich mit dieser kargen Auskunft zufrieden. Konzentriert lenkte er das Gespann in den dichten Wald, der jetzt noch zwischen ihnen und der Küste lag. Irgendwo war nun schon eine Vorahnung auf die aufgehende Sonne zu spüren, doch die vor ihnen liegende Waldpassage ließ keinen eiligen Lichtstrahl zu; viel zu dicht standen hier die Bäume beieinander, fast wie eine geschlossene Reihe von Kriegern, die dem Feind kein Schlupfloch zugestanden, und die schmalen Lücken, die sich zwischen ihnen auftaten, wurden von wabernden Nebeln gefüllt, die ein Eigenleben führten. Cedric gab zu, dass dies der Teil der Fahrt zur Küste war, der ihm selbst bei Tageslicht und strahlendem Sonnenschein noch nie sonderlich behagt hatte. Er blickte in das Gesicht seines Vaters. Was er dort erkennen konnte, überraschten den Jungen – Connor Fynn schien es nicht viel besser zu gehen als seinem Sohn. Als der Baumeister
bemerkte, dass er beobachtet wurde, zuckte er entschuldigend mit den Schultern. »Niemand fühlt sich sicher und wohl, wenn er diesen Wald durchquert. Ich habe schon Priester gesehen, die laut zu beten begannen und Krieger, die panisch ihre Waffe zogen, wenn sie der Finsternis gewahr wurden, die einen hier umgibt. Ich mache da keine Ausnahme, aber sorge dich nicht, denn wir haben den Wald schon bald hinter uns.« Cedric setzte sich plötzlich kerzengerade auf, denn was seine Augen links von ihnen gesehen hatten, war sicher keine Ausgeburt seiner Fantasie gewesen – dort, weit in die Baumreihen hineinreichend, brannte eine Flamme. Nur ein winziger Punkt, dann zwei, dann drei … und mit jedem Atemzug kamen sie näher und wurden größer. Mit ihnen kamen die Stimmen, aufgeregte Stimmen. Connor Fynn hatte es auch gesehen was seinen Sohn so erschrak. Mit einem Ruck zog er den langen Dolch aus der Scheide, den er stets als Waffe bei sich trug. Er war kein Kämpfer, doch durchaus in der Lage, sein Leben zu verteidigen. Mehr als einmal hatte er das schon unter Beweis gestellt, denn ein Baumeister hatte nicht nur Freunde. Es gab Neider und es gab unzufriedene und aggressive Arbeiter, die ihre Wut über schlechte Arbeitsbedingungen oder zu geringen Lohn am Baumeister auslassen wollten. Connor wollte seinen Sohn mit irgendwelchen Belanglosigkeiten beruhigen, doch dazu kam er nicht mehr. Irgendetwas sprang von links aus dem Wald heraus – direkt auf den schmalen Pfad, direkt vor das Gespann der Fynns! Die Pferde scheuten und Connor hatte große Mühe, sie einigermaßen ruhig zu bekommen. Cedric war aufgesprungen und starrte das Etwas an, das nur einige Schritte vor ihm stand und ihn mit großen Augen ansah. Es war eine Frau … nein, ein Kind, ein Mädchen, doch eher Frau als Kind, wie Cedric sofort bemerkte. Heißes Blut schoss ihm in den Kopf, denn die junge Frau war splitternackt. Der Junge sah offene Wunden an ihren Schultern und den Hüften – man hatte sie gefoltert, keine Frage. Doch es gab noch andere Punkte an ihrem Körper, von denen er einfach nicht die Augen lassen konnte. Nie zuvor hatte Ce-
dric so wundervolle Brüste zu Gesicht bekommen … so wundervoll geschwungene Hüften … und die zarte Scham zwischen ihren Schenkeln. Auch wenn es das war, was einen jungen Burschen wie ihn total faszinieren konnte, so schafften es ihre Augen die Aufmerksamkeit von ihrer Nacktheit abzulenken. So große Augen hatte Cedric wirklich noch nie zuvor gesehen. Die Farbe war nur schwer zu definieren, denn das nur fahle Licht des Waldes verhinderte das. Unübersehbar war jedoch die Farbe ihrer Lockenpracht – ein grelles Rot, wie man es hier in Cornwall nur äußerst selten zu sehen bekam. Wie alt mochte sie sein? Cedric war nicht gut beim Schätzen, aber sie war sicher nicht mehr als zwei Jahre älter als er selbst. Wie ein junges Reh verharrte sie vor dem Gespann, unfähig, sich zu bewegen – so unfähig wie Cedric, denn der brachte kein einziges Wort über die Lippen. Connor Fynn hingegen analysierte die ganze Szene in nur wenigen Augenblicken. Er wusste, was hier ablief. »Los, lauf weiter – dort in den Wald hinein. Keine Angst, wir halten sie auf. Worauf wartest du? Lauf, Mädchen. Es geht um dein Leben. Lauf!« Seine Stimme hatte so eindringlich geklungen, dass die Kleine ganz einfach reagieren musste. Und wahrscheinlich hatte sie auf eine solche Chance nur gewartet, erhofft hatte sie sich wohl kaum. Ein kurzes Nicken war die einzige Reaktion, die zeigte, dass sie verstanden hatte. Dann war sie verschwunden, wie sie gekommen war. Der Wald und der Nebel schluckten sie wie ein Opfer, das man ihnen zugeworfen hatte. Connor Fynn registrierte, wie nahe die Stimmen und die Fackeln jetzt schon waren. Er fasste seinen Sohn hart beim Oberarm um ihn aus seiner Trance zu reißen. Cedric verzog schmerzhaft sein Gesicht und starrte den Vater nicht verstehend an. »Hör mir gut zu, Cedric. Ganz egal was auch geschieht, wer dich fragt, was man dich fragt – du schweigst. Stell dich schlafend und lass mich reden. Hast du verstanden?« Cedric nickte. Er ließ sich wieder auf dem Bock nieder und zog die Felle dichter um sich. Er hatte keine Ahnung, was hier geschah. Also vertraute er seinem Vater voll und ganz. Doch das Bild dieses Mäd-
chens ging ihm einfach nicht mehr aus dem Sinn. Als plötzlich ein Dutzend Männer mit Fackeln, Knüppeln, Dolchen und Mistgabeln aus dem Wald gestürmt kamen, verschlug es ihm endgültig die Sprache. Plötzlich kam er sich vor wie ein hilfloses Baby. Connor Fynn richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Der blitzende Dolch in seiner rechten Hand tat ein Übriges, um die Männer auf Distanz zu halten. Fynns Stimme klang nun schneidend und befehlsgewohnt. »Was soll das hier? Wollt ihr mich überfallen – das wird euch schlecht bekommen. Macht den Weg frei! Ich bin Connor Fynn, Baumeister der heiligen Kirchen, also fort mit euch.« Die Männer – allesamt einfache Leute wie Bauern und Bergmänner – wichen vor der Autorität zurück, die von diesem Mann ausging. Einer fasste sich ein Herz. In seiner Hand hielt er einen langstieligen Pickel, den man hier in den Minen als Werkzeug nutzte. »Herr, wir wollen nichts von euch. Aber sagt uns, ob ihr eine Frau gesehen habt, deren Haare wie das Höllenfeuer lodern? Bitte sagt es uns …« Fynn senkte seine Waffe. »Was hat sie euch getan? Warum jagt ihr sie?« Wieder war es der Bergmann der antwortete. »Sie ist eine Hexe, jawohl – eine Hexe, die Unglück und Tod über uns alle gebracht hat. Mir sind zwei Schweine verreckt.« Bergleute hielten sich meist ein paar Nutztiere, mit denen sie ihre vielköpfigen Familien auch in den harten Wintermonaten am Leben erhalten konnten. »Cabby hier …« Er wies auf einen grobschlächtigen Burschen. »Cabby ist das Feld verdorrt. Und der alte Biggs ist vor drei Tagen gestorben, einfach so. Das alles ist die Schuld der Hexe. Und jetzt soll sie dafür brennen.« Cedric kauerte eingeschüchtert in seinen Fellen, doch er war sicher, dass der alte Biggs einfach so an Altersschwäche gestorben war; er kannte den Mann, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und in dessen Maul es keinen einzigen Zahn mehr gab. Wenn Biggs also gestorben war, dann an schlechter Ernährung, Untergewicht … und dem Alkoholkonsum, von dem wirklich jeder in
der Gegend wusste. »Habt ihr sie gesehen, Herr? Wohin ist sie gelaufen? Dorthin … in den Wald hinein?« Connor Fynn sah in die Gesichter der Männer, die wilde Entschlossenheit ausdrückten. Er würde das Mädchen dieser Horde hier ganz sicher nicht ausliefern. »Ja, ich habe sie gesehen. Aber ob Hexe oder nicht, scheint sie ein schlaues Mädchen zu sein. Sie hat euch gefoppt.« Er ließ ein möglichst echt klingendes Lachen folgen. »Sie lief an meinem Gespann vorbei, vielleicht hundert Schritte, dann bog sie wieder in die Richtung ein, aus der sie gekommen ist. Wenn ihr euch sputet, schnappt ihr sie vielleicht noch. Und nun macht Platz, denn Arbeit wartet auf mich.« Ohne auf die Reaktion der Männer zu warten, gab Connor den Pferden die Zügel frei, und die trotteten weiter auf dem Pfad, der vor ihnen lag. Die Männer machten Platz. »Nicht umdrehen …« Connor zischte die Worte seinem Sohn zu. Die Geräusche hinter ihm verrieten, dass die Männer ihm die Geschichte abgenommen hatten. Sie machten sich auf den Rückweg. Das Mädchen sollte diesen Vorsprung nutzen können, den er ihr verschafft hatte. Wohin sie allerdings fliehen wollte – nackt, wie der Herr sie geschaffen hatte und mit Wunden übersät – konnte sich Connor Fynn nicht ausmalen. »Vater, das Mädchen … es …« Connor Fynn legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Ob sie wirklich eine Hexe ist, willst du sicherlich wissen? Ich kann es dir nicht sagen. Im Grunde glaube ich ja nicht an solche Dinge, die von den Leuten benutzt werden, um sich irgendein Opfer, ein Ventil für ihre Wut zu suchen. Allerdings gibt es sicherlich viele Dinge, die wir nicht sehen, die aber dennoch existieren. Aber die Kleine vorhin – die halte ich eher für eine Streunerin, die zufällig rote Haare hat. Ich hoffe, sie entkommt dem Pöbel.« Fynn warf einen kurzen Blich zu Cedric. Das Mädchen hatte den Jungen schwer beeindruckt. Connor lächelte still. Das war durchaus verständlich, denn die Kleine hatte so ganz anders gewirkt, als alle weiblichen Wesen, die Cedric in seinem noch
jungen Leben kennengelernt hatte. Als sie schließlich das Ende des Waldstücks erreicht hatten, atmete der Baumeister auf. Endlich trafen die Strahlen der aufgehenden Sonne auf Vater und Sohn. Bis zum Bauplatz war es nun nicht mehr weit.
Die Steilküste ragte gut 300 Schritte über der Wasseroberfläche in schwindelnde Höhe. Nahezu jedes Schiff, dass sich Cornwall näherte, ganz gleich, welchen Hafen es anlaufen wollte, musste hier vorüber ziehen. Dabei spielte es auch keine Rolle, mit welchen Zielen die Herzen der Seeleute angefüllt waren. Wollten sie friedlichen Handel treiben? Wollten sie vielleicht die kleinen Hafenstädte besuchen, die durchaus auch fern von Cornwall berühmt und berüchtigt waren? Oder kamen sie unter schwarzer Flagge, wollten Tod und Verderben über die Menschen an dieser Küste bringen? Auch Piraten kamen kaum umhin, die Spitze der Steilküste zumindest flüchtig zu betrachten. Künftig sollten sie wissen, dass sie in das Land einer gefestigten Christenheit kamen! Sie sollten das Zeichen des Kreuzes erkennen und fürchten. So zumindest hatte Pater Gwydion den Willen der Mutter Kirche formuliert, als er Connor Fynn zum Baumeister der Kathedrale machte. Die Kirche wollte es so – sie würde es auch genau so bekommen. Die Zeltstadt rund um den Bauplatz war schon mit Aktivitäten angefüllt. Die meisten der Arbeiter, die täglich zum Einsatz kamen, wohnten hier. Nur wenige machten sich nach Sonnenuntergang in die umliegenden Dörfer auf, um die Nacht bei ihren Familien zu verbringen. Zusätzlich gab es natürlich Wanderarbeiter, die auf bestimmte Tätigkeiten spezialisiert waren, die nur zu ganz bestimmten Bauphasen gebraucht wurden. Der Bau einer solch großen Kathedrale sprach sich im ganzen Land natürlich herum – Fynn musste sich um diese Spezialisten also nicht erst bemühen, denn sie kamen ganz von alleine hierher. Oft schien es so, als hätten diese Leute einen ganz besonderen Riecher, denn in den meisten Fällen erschie-
nen sie nur wenige Tage vor dem Zeitpunkt, da sie mit ihrer Arbeit beginnen konnten. Cedric war nun hellwach, denn es war für ihn immer wieder aufregend zu sehen, was sich auf einer so großen Baustelle alles abspielte. Die Begegnung mit der Kindfrau im Wald schwirrte nach wie vor durch seinen Kopf, doch nun wurde er davon auf die prächtigste Weise abgelenkt. Alleine schon die vielen Händler, die sich für die Bauzeit hier niedergelassen hatten, reichten aus, um dem Jungen einen ganzen Tag zu vertreiben. Die meisten der Händler kannten Cedric gut, denn sie waren alle bemüht, sich mit dem Sohn des Baumeisters gut zu stellen. Connor Fynn war – neben dem Pater Gwydion – die Autorität, die frei entscheiden konnte. Händler, die sich nicht an gewisse Spielregeln hielten, konnte er jeder Zeit von diesem Ort entfernen lassen … und das war auch bereits geschehen. Die Kathedrale selbst war an diesem Morgen für Cedric nicht von großem Interesse. Der Bau ging gut voran, was sicher auch daran lag, dass sie äußerst schlicht gehalten wurde. Ihr Sinn und Zweck war es, aus der Ferne zu wirken. Cedric wusste, dass sein Vater damit nicht sehr glücklich war, denn er trachtete immer nach Perfektion – auch im Detail. Als Cedric sich von seinem Vater trennte, um seine Runde bei den Händlern zu machen, was ihm stets Süßigkeiten, Saft und andere Leckereien einbrachte, sah er, wie Connor sich in Richtung der schroffen Abbruchkante bewegte. Der Baumeister hatte dort eine einsame Gestalt ausgemacht, auf die er sich zu bewegte. Connor Fynn wusste, dass Pater Gwydion oft stundenlang hier stand und auf das Meer blickte, auf die heranrasenden Wellen, die schließlich am Fuß des Felsens wütend ihre ganze Kraft entluden. Connor näherte sich dem Mann, dem er und seine vielköpfige Familie so etwas wie einen bescheidenen Wohlstand verdankten – der Auftrag zum Bau der Kathedrale sicherte ihm jetzt schon seit fünf Jahren das Einkommen. Sicher würden bis zur Fertigstellung noch zwei weitere vergehen, was für ein so gewaltiges Bauwerk im Grunde keine Zeitspanne war. Einzig die Tatsache, dass die Kirche offenbar nur Wert auf den äußeren Effekt legte, machte dies möglich. Gwydion hatte Fynn bereits Folgeaufträge zugesichert, die ihm
auch die weitere Zukunft sichern konnten. All dies wäre ein Bündel an Gründen gewesen, Pater Gwydion in tiefer Freundschaft zugeneigt zu sein, doch dem war einfach nicht so. Connor sah den groß gewachsenen Mann, dessen Kutte im rauen Wind der Küste wehte. Was wusste er eigentlich über ihn? Nur das, was die Leute in der Umgebung sich so erzählten – und auf den Wahrheitsgehalt solcher Geschichten konnte man ja bekanntlich nicht viel geben. Gwydion war demnach hier in Cornwall geboren worden und nach dem Tod seines Vaters als kleines Kind mit seiner Mutter zu Verwandten nach Frankreich ausgewandert. Dort wurde er zum Priester, genoss hohes Ansehen und mehr Einfluss, als sein Amt erahnen ließ. Dass er schließlich den Weg zurück nach Cornwall fand, war für die Menschen hier kaum erwähnenswert, denn wer hier das Weltenlicht erblickt hatte, würde immer zurück in die Heimat wollen. Mehr wusste Connor Fynn nicht, denn Pater Gwydion war verschlossen, einsilbig und unnahbar. Vier Schritte trennten die beiden Männer noch voneinander, als die sonore Stimme des Paters erklang. Er hatte sich in keiner Sekunde zu dem Mann umgedreht, der ihm sich näherte. »Guten Morgen, Baumeister Fynn. Ich hoffe, die Arbeit geht heute etwas zügiger voran als sie das am gestrigen Tag getan hat.« Mehr als nur einmal hatte Fynn schon den Verdacht gehegt, Gwydion habe Augen im Hinterkopf oder könne Gedanken lesen. Connor räusperte sich, als er nun direkt neben den Pater trat. Der Ausblick war überwältigend, denn die Natur spielte heute wieder ein Stück, das von Wildheit und Freiheit handelte. Die Wellen rollten heran, brachen sich und zerstoben in unendlich feine Partikel, die in den ersten Sonnenstrahlen wie ein ewiger Regenbogen zu leuchten begannen. Fynn fragte sich ob Gwydion die Schönheit dessen, was sich hier vor seinen Augen abspielte, überhaupt wahrnahm. Connors Stimme hatte mehr Schärfe in sich, als er es eigentlich beabsichtigt hatte, als er antwortete. »Wenn ihr damit andeuten wollt, dass der Tod von vier unserer Arbeiter den Tagesablauf gehemmt hat, dann gestehe ich das natürlich ein.« Am vergangenen Tag war ein Gerüst zusammengebro-
chen, das vier Männer in den Tod gerissen hatte. Connor fühlte sich für jeden auf dieser Baustelle verantwortlich. Er musste sich zusammennehmen, um nicht noch heftiger zu reagieren. Gwydion wandte sein schmales Gesicht dem Baumeister zu. Seine Augen – so fand Fynn – sprachen Bände, denn sie blickten stechend, flankierten eine schmale Nase unter der sich ein Mund anschloss, der wie ein einziger Strich wirkte; die Wangen erschienen eingefallen, die Ohren lagen flach am Kopf an. Die Farbe von Gwydions Augen war ein Graugrün, das einfach nur verwaschen zu nennen war. Kein schöner Mensch, doch fehlende Schönheit glichen andere durch Charakter aus, der sich durchaus im Gesicht abzeichnen konnte. Gwydion hingegen wirkte eher wie ein angriffslustiges Tier … ganz sicher nicht wie ein Priester, dem die Menschen ihr Vertrauen schenken sollten. »So empfindlich, Baumeister Fynn? Wie auch immer – die Zeit ist knapp bemessen für unseren Bau. Die Kirche kann eine sehr ungeduldige Mutter sein, wenn man sich nicht an das hält, was sie einem vorgibt. Dies hier soll ein deutliches Zeichen für jeden sein, der sich Cornwalls Küste nähert.« Gwydion hatte sich umgewandt und deutete mit ausgestreckten Armen auf das Bauwerk. »Eine Kathedrale – und zu der gehört für gewöhnlich ein Bischof, nicht wahr? Die Amtseinführung ist für den Spätsommer geplant. Ihr und ich werden dafür sorgen, dass dem dann nichts im Wege stehen wird.« Er ließ Connor einfach stehen und bewegte sich mit raschen Schritten auf die Baustelle zu. Fynn war überrascht, denn mit nur wenigen Worten hatte Gwydion ihm mehr verraten, als die ganzen Jahre davor. Der Bischofssitz in Cornwall war seit langem verwaist. Die Menschen hier waren gläubige Christen, doch sie waren keine Schäflein, die sich so leicht führen ließen, wie die Kirche es gerne hatte. Mehr als ein Würdenträger hatte hier verzweifelt aufgegeben. Und nun nahte die Ernennung eines neuen Bischofs. Connor betrachtete den Bau eindringlich. Man konnte nur hoffen, dass dieser Bischof keinen Wert auf Eleganz und Prunk legte, denn davon würde er hier nicht sehr viel vorfinden. Connor Fynn ging langsam auf sein Werk zu. Er hatte sich voll und
ganz an die Pläne gehalten, also konnte man ihn auch später nicht für fehlendes Beiwerk verantwortlich machen. All das sollte nicht sein Problem sein. Von denen hatte er auch so schon mehr als genug. Das größte davon war die Lage der Kathedrale. So nahe der Abbruchstelle hätte er niemals ein dermaßen bombastisches Objekt geplant. Doch auch das war ihm so von Pater Gwydion vorgegeben worden. Immer wieder konnten die Arbeiter sehen, wie Connor die täglich in die Höhe wachsende Kathedrale umrundete, dabei oft auf die Knie ging und prüfend auf den Felsboden klopfte. Gwydion mochte Recht haben wenn er sagte, dass die Kirche eine ungeduldige Mutter sein konnte, doch wie leichtsinnig sie anscheinend handelte, das überraschte Fynn allerdings doch. Er ging zu der Stelle, an der das gestern eingestürzte Gerüst neu aufgebaut wurde. Er wollte persönlich dafür sorgen, dass dies ordentlich und sicher erledigt wurde. Er wollte nicht noch mehr Männer verlieren …
Cedric war bei seiner zweiten Runde durch die Reihen der Händler bei der alten Disa hängen geblieben. Ganz in Gedanken stopfte er sich jetzt sicher schon die zehnte Nuss in den Mund. Disa verkaufte einfach die besten Nusssorten weit und breit … und Cedric liebte Nüsse über alles. Ja, und die alte Disa liebte Cedric, also ließ sie ihn gewähren und beobachtete den Jungen mit einem stillen Lächeln. »Woran denkst du, mein großer Junge?« Disa sprach mit einem merkwürdigen Akzent, den im Grunde niemand richtig einzuordnen wusste. Als junge Frau hatte sie das bei den Männern als interessant erscheinen lassen. Heute war sie alt und fett, doch sie rückte nach wie vor nicht mit der Sprache heraus, woher sie denn wohl stammte. Dabei war die Antwort auf dieses Geheimnis ernüchternd – Disa war im Norden Cornwalls geboren worden und der Akzent war nichts weiter als ein Sprachfehler, den sie für sich kultiviert hatte.
Aber das ging schließlich niemanden etwas an. Cedric blickte in das aufgedunsene Gesicht Disas. Sie würde keine Ruhe geben, ehe er ihr keine zufriedenstellende Auskunft erteilt hatte. In unbeholfenen Worten berichtete er Disa von der morgendlichen Begegnung mit dem rothaarigen Mädchen und deren Jägern. Die Alte hörte geduldig zu. Als Cedric geendet hatte, schüttelte sie behäbig den Kopf. »Das ist schlimm. Diese Hexenjagd wird wohl nie ein Ende finden. Immer, wenn die Menschen glauben, ihnen sei zu unrecht Böses geschehen, suchen sie nach jemandem, der sich dafür verantworten soll. Wie wird es wohl erst werden, wenn das große Unglück über uns kommt?« Cedric verstand die letzte Bemerkung nicht. »Das große Unglück? Wovon sprichst du, Disa?« Die Alte blickte den Jungen mit einer Mischung aus Nachdenklichkeit und Überraschung an. »Ja hört ihr Fynns da draußen in eurem Haus denn nichts von dem, was die Leute sich erzählen? Ich meine natürlich den schwarzen Tod. Die Pest … sie tobt schon lange auf dem Festland, doch nun hat sie auch England erreicht. Sogar in London soll es schon die ersten Toten gegeben haben. Sie wird über uns herfallen und niemanden verschonen, mein Junge. Glaube mir.« Cedric winkte ab. »Was die Leute erzählen … mein Vater sagt, das ist alles sehr übertrieben. Kürzlich hat ihm jemand berichtet, er habe einen Hund mit drei Köpfen gesehen. Stell dir das doch nur vor, Disa! So ein Unfug. Der schwarze Tod kommt sicher nicht bis nach Cornwall, ganz bestimmt nicht.« Disa sah ihren jungen Freund mitleidig an, doch in Cedrics Kopf war jetzt kein Platz für die nahende Pest. Darin nahm ein gewisses Mädchen einen viel zu großen Raum ein. Disa nickte verstehend. »Beschreib mir die Kleine doch noch einmal, ja?« Das musste sie Cedric nicht zweimal sagen, denn das Bild des Mädchens stand noch ganz präsent vor seinem inneren Auge. Wie hätte er sie auch vergessen sollen? Als er schwärmerisch geendet hatte, strich Disa mit der rechten Hand über ihr Doppelkinn. »Ich glaube, ich kenne die Kleine. Ja, ich bin beinahe sicher, sie
hier schon einmal gesehen zu haben. Sie strich um den Bauplatz herum. Die Händler haben sie von ihren Tischen verjagt, denn sie war wohl eine kleine Diebin.« Cedric wollte aufbegehren, doch Disa stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Warum regst du dich auf? Wahrscheinlich ist sie ein Waisenkind, das schließlich sehen muss, wie es überlebt. Nicht alle Kinder haben es so gut wie du, kleiner Freund. Aber sie war hier, ich bin jetzt sicher. Würdest du sie gerne wiedersehen?« Cedric sprang von Boden hoch, auf dem er es sich bequem gemacht hatte. Ihm war plötzlich ganz warm geworden – dass er einen hochroten Kopf bekommen hatte, war ihm aber nicht bewusst. »Wo denkst du hin? Nein, für solche Mädchen habe ich doch überhaupt keine Zeit, denn ich führe schließlich die Fynn-Bande. Meine Geschwister machen mir schon ausreichend Probleme.« Disa lachte, was eher dem Meckern einer Ziege glich als dem Lachen einer alten Frau. »Gut gesprochen, mein Held! So, und nun such deinen Vater. Ich denke, er wird sich schon Sorgen machen, wo du wohl abgeblieben bist.« Nein, Sorgen machte Connor Fynn sich nicht um seinen Sohn, doch er freute sich, als Cedric sich zu ihm gesellte. Pater Gwydion war bei seinem Bauherrn, doch wie immer ignorierte er Cedric vollkommen. Der Junge hielt stets einen sicheren Abstand zu dem Kirchenmann, denn der war ihm nicht geheuer. Connor hatte das längst bemerkt und beglückwünschte sich zu einem Sohn mit so großem Gespür. Der Tag zog sich in die Länge. Cedric lernte eine Menge über die Schwierigkeiten, die beim Bau eines so großen Objektes immer wieder auftraten. Er bewunderte seinen Vater noch mehr als zuvor, als sie schließlich beim einsetzen der Dämmerung den Heimweg antraten. Der Baumeister hatte an nur einem einzigen Tag so viele Entscheidungen treffen müssen, dass Cedric davon ganz schwindelig geworden war. Als sie wieder das Waldstück erreichten, hielt Cedric für Sekunden den Atem an. Es war ihm nicht geheuer zu Mute. Vielleicht
streunten die Männer von heute Morgen noch immer hier herum? Vielleicht hatten sie ja begriffen, dass Connor Fynn sie in eine ganz falsche Richtung geschickt hatte? Connor selbst fühlte sich auch nicht behaglich, doch das ließ er seinen Sohn natürlich nicht spüren. Unmerklich beschleunigte er die Gangart der Pferde – je eher das Waldgebiet durchquert war, je besser. Doch nirgendwo war der Schein einer Fackel zu erkennen. Offenbar hatte der aufgebrachte Mob die Jagd auf das Mädchen aufgegeben … oder sie hatten sie doch noch erwischt. Cedric mochte darüber überhaupt nicht nachdenken. Ein Dumpfer Knall ließ Connor die Pferde ruckartig zum Stehen bringen. Es hatte geklungen, als wäre etwas aus der Höhe auf den Wagen gefallen – besser gesagt hinter den Kutschbock auf dem sich Vater und Sohn befanden. Connor riss das lange Messer hoch, doch er hielt inne, als er die leise Stimme in seinem Rücken vernahm. »Bitte nicht anhalten. Weiterfahren, bitte … sie sind noch hier … drei Männer, die mich den ganzen Tag lang gejagt haben. Bitte …« Vater und Sohn wechselten einen langen Blick, dann waren sie sich ohne ein gesprochenes Wort einig. Connor Fynn ließ den Pferden die Zügel frei. Langsam rollte das Gefährt weiter den Waldweg entlang. Cedric wunderte sich darüber, wie kaltblütig er in dieser Situation blieb, denn er fing an, recht lautstark – und auch reichlich schräg – ein Lied zu summen, dass er heute bei den Bauarbeitern gelernt hatte. Connor fiel beim Refrain mit brummiger Stimme ein, und gemeinsam beendeten die zwei die Ballade, um sich anschließend laut lachend zu ihren schrecklichen Gesangsorganen zu beglückwünschen. Niemand, der diese Szene sah, wäre auf die Idee gekommen, dass Vater und Sohn die Herzen tief in die Beinkleider gerutscht waren. Auch die drei Augenpaare nicht, die hinter dem Gespann her sahen und es verfolgten, bis es das Waldstück schließlich gemächlich rollend verließ. Erst als der düstere Wald mit dem Horizont verschmolz, wagten sie aufzuatmen. »Bitte nicht umdrehen … ich bin noch immer nackt.« Die Stimme des Mädchens klang zitternd auf. Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Tag über frierend auf irgendeinem Baumwipfel
verbracht. Cedric zog den warmen Umhang von seinen Schultern, den Mutter ihm mitgegeben hatte, und reichte ihn ohne nach hinten zu sehen dem Mädchen. Für zwei Minuten war nichts von ihr zu hören, dann seufzte sie tief. »Tut das gut. Ich danke dir. Aber nun will ich euch keine Scherereien mehr machen. Hinter der nächsten Biegung springe ich ab. Ich kann euch überhaupt nicht genug für eure Hilfe danken, ich …« Connor Fynns Stimme stoppte die Dankesrede. »Den Teufel wirst du tun, Mädchen. Du bleibst, wo du bist und verhältst dich still, bis wir bei unserem Haus angekommen sind. Die kommende Nacht schläfst du mir nicht in der Kälte. Und nun keine Widerrede.« Cedric sah seinen Vater von der Seite her an. Damit hatte nicht einmal der Sohn des Baumeisters gerechnet. Er konnte wahrhaftig stolz auf seinen Vater sein.
Juna Fynn betrachtete das Mädchen mit dem roten Haarschopf eindringlich, die verzweifelt versuchte, ihren unbändigen Hunger zumindest einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Doch diesen Kampf konnte sie nur verlieren, denn der Tisch der Fynns war so reichlich gedeckt, dass sie gar nicht anders konnte, als von jedem zumindest ein wenig – oder auch mehr – zu kosten. Die achtköpfige Fynn-Bande saß und stand um sie herum und konnte sich an diesem Gast überhaupt nicht sattsehen. Juna hatte dem Mädchen zuerst ein Kleid von Brianna gegeben, das zwar ein wenig eng saß, doch wie Cedric fand, exakt an den richtigen Stellen. Im Halblicht des Waldes hatte er sie nicht genau betrachten können, doch nun war ihm klar, dass er ein schöneres Wesen nie zuvor gesehen hatte. Als die Kindfrau ihren unglaublichen Appetit zumindest halbwegs gestillt hatte, setzte sich Juna neben sie. »Nun sag uns doch erst einmal deinen Namen, mein Kind.« Die Angesprochene legte hastig das Stück Käse aus der Hand, das sie sich zum Abschluss der Mahlzeit hatte einverleiben wollen. Sie legte sittsam die Hände vor sich auf den Tisch und blickte ihre Gastgeberin mit großen Augen an.
»Ceridwen lautet mein Name.« Cedric horchte hocherfreut auf, denn dieser Name war dem seinen nicht unähnlich. War das ein Omen? »Ich stamme aus dem Norden. Ich bin mit meinen Eltern hierher nach Cornwall gekommen, weil Vater sich hier eine neue Existenz aufbauen wollte. Doch nichts wollte ihm gelingen. Er hat immer wieder alles versucht, doch dann wurden er und Mutter krank und starben.« Juna horchte auf. »Wie lange ist das her?« Sie fürchtete, Connor habe mit dem Mädchen einen Krankheitsträger ins Haus gebracht, doch Ceridwens Antwort beruhigte sie. »Mehr als ein halbes Jahr. Seither versuche ich mich irgendwie alleine durchzuschlagen, doch nun hält man mich sogar für eine Hexe.« Sie sackte regelrecht in sich zusammen, als ihr wieder klar wurde, in welcher Situation sie sich befand. »Was soll nur aus mir werden?« Connor mischte sich ein. »Waren es wirklich nur noch drei Männer, die dich am Abend gejagt haben?« Ceridwen nickte. »Die anderen sind auf ihre Höfe gegangen. Sie haben gesagt, die Hexe würde man nicht in der Dunkelheit fangen können, doch morgen wären sie bei der Jagd wieder dabei. Ich glaube, die drei, die mir auf der Spur blieben, die …« Juna strich mit der Hand über den Rotschopf des Mädchens. »Schon gut, wir haben verstanden und wissen wohl auch, was die mit dir vor hatten.« Die Jüngeren der Fynn-Kinder verstanden nicht, doch Cedric und Brianna blickten einander wissend an. Ceridwen war ein schlimmes Schicksal erspart geblieben. Juna lächelte Ceridwen milde an – Cedric kannte dieses Mutterlächeln sehr gut. Es war der Beweis, wie sehr Juna die Kleine bereits in ihr Herz geschlossen hatte. »Jetzt schläfst du dich erst einmal aus. Morgen schauen wir mal, was wir mit deinem Haar machen können, denn daran erkennen diese abergläubischen Narren dich natürlich sofort wieder. Und dann schauen wir weiter. So, und die anderen – ab in die Betten. Der Tag ist um.« Leises Murren erklang, doch schon kurz darauf wurde es still im
Fynn-Haus. Cedric allerdings lag noch lange wach und lauschte. Er konnte einige Wortfetzen von dem mithören, was seine Eltern besprachen. Aus dem meisten davon wurde er nicht recht schlau, doch eines war für den Jungen ganz klar: Juna und Connor Fynn würden das Mädchen auf keinen Fall schutzlos ziehen lassen. Und genau so kam es ja dann auch …
Der Sensoralarm zog Starless ruckartig aus den Tiefen seiner Erinnerung hoch in die Realität. Cedric Fynn … wie endlos weit war das entfernt … Starless betrachtete das Ergebnis der Suche mit der gebotenen Skepsis. Die Erde war schon immer ein bevorzugtes Ziel der DYNASTIE DER EWIGEN gewesen. Was die Sensoren also entdeckt hatten, mochte die Spur zu dem gesuchten Alpha sein … oder irgendein Überbleibsel von einem Besuch, der 1.000 oder mehr Jahre zurücklag. Das musste nun exakt überprüft werden. Starless betrachtete sich den Bereich, in dem die Sensoren angeschlagen hatten. Europa natürlich … alles andere hätte ihn auch sehr verwundert. Er forderte exaktere Daten an und bekam sie nahezu ohne Zeitverzögerung auf den kleinen Bildschirm, der direkt vor seiner Konsole lag. Frankreich? Genauer gesagt – das Tal der Loire. Starless forderte weitere Daten an, denn exakt dort konnte es sich um Material der DYNASTIE handeln, das bereits seit einer kleinen Ewigkeit hier existierte. Doch die Ergebnisse, die er klar und deutlich auf dem Screen zu sehen bekam, sprachen eine deutliche Sprache. Was immer die Sensoren geortet hatten, befand sich erst seit wenigen Stunden oder Tagen dort. Das Tal der Loire … Welche Sternenteufel mochten diesen Alpha geritten haben, sich als Versteck ausgerechnet diese Region auszusuchen? Zufall? Unwissenheit? Das alles schloss Starless aus, denn dieser Miso Vorrog war einer der Alphas gewesen, der direkt im Kristallpalast eng mit
der früheren ERHABENEN Nazarena Nerukkar zusammengearbeitet hatte – der Mann wusste genau, was sich im Loire-Tal befand: Château Montagne, der Hauptsitz, die Zentrale und Lebensmitte von Professor Zamorra! In der gesamten DYNASTIE gab es wohl niemanden, der bei Nennung dieses Namens keine Mordgelüste bekam. Zamorra hatte den Ewigen so oft in ihr Handwerk gepfuscht, dass sie ihn zu so etwas wie dem Staatsfeind Nummer eins ernannt hatten. Also warum floh ein gesuchter Attentäter auf die Erde und exakt in den unmittelbaren Wirkungskreis Zamorras? Er konnte doch nicht so dumm sein und Hilfe oder gar Schutz vom Meister des Übersinnlichen zu erhoffen? Oder etwa doch? Starless konnte der Grund ja gleichgültig sein, doch den Alpha ausgerechnet aus der Höhle des Löwen herauszupicken, machte die Sache nicht eben leichter. Die Ortungsdaten waren nun perfekt. Das gefundene Objekt hatte in etwa die Masse und Abmessungen wie Starless' Raumjacht. Der Alpha hatte es also riskiert, mit einem ganz ähnlichen Schiff dort unten zu landen. Der Vampir lehnte sich zurück. Gut, das würde es einfach machen, Vorrog zu finden und ihn zu Morano zu bringen. Starless würde mit seiner Vampirmagie nur das Schiff anspringen müssen – der Rest würde sich dann ergeben. Doch nicht jetzt – noch nicht jetzt. Im Zielgebiet war es nun kurz vor Mitternacht. Nach Anfrage meldete ihm der Rechner, dass es dort wolkenverhangen war und regnete. Kein einziger Stern am Himmel zu sehen … Starless – sternenlos. Nein, in der Dunkelheit zu agieren brachte nichts. Also würde er warten, bis die Nacht sich verzog. Starless … er lächelte. So intensiv war die Erinnerung an den Tag, an dem man ihm diesen Spitznamen gegeben hatte. Alles stand noch klar und deutlich vor seinem inneren Auge. Es war jedoch ein Tag gewesen, der wahrlich nicht nur gute Erinnerungen beinhaltete …
Die Kinder standen in dem kleinen Raum, der zur Stube des Hauses
führte. Wie furchtsame Mäuse drückten sie sich dicht an dicht und lauschten den Worten, die aus dem Nebenraum drangen … und ganz einfach nicht zu überhören waren. Cedric hielt fest die Hand seiner neuen Schwester, die nun auf den Tag genau seit einem Jahr bei ihnen war. Ceridwens pechschwarzes Haar war nur wenige Zentimeter von Cedrics Nase entfernt. Er war nicht weniger furchtsam als seine Geschwister, doch der Geruch des Färbemittels, das aus einem feurigen Rot dieses nahezu perfekte Schwarz zaubern konnte, faszinierte ihn immer wieder. Was Mutter genau verwendete um den verräterischen Haarschopf Ceridwens zu verwandeln, wusste Cedric nicht, doch sie benutzte dazu unter anderem den Extrakt der Spitzklette und Saft verschiedener Beeren. Alles zusammen ergab einen betörenden Duft, der Cedric fesselte. Oder lag es doch in erster Linie daran, dass es Ceridwens Kopf war, an dem er so gerne seine Nase rieb? Sie erwiderte den Druck seiner Hand. Seit dem Abend vor einem Jahr, als Vater und Sohn die Hexe ins Haus gebracht hatten, hingen Cedric und Ceridwen zusammen, als hätten sie sich schon immer gekannt. Es war für die Fynns überhaupt kein Problem gewesen, die Anwesenheit eines zusätzlichen Kindes in ihrer Gemeinschaft zu erklären. Das Mädchen wurde einfach als Tochter von einer der Cousinen Junas vorgestellt, die Cornwall verlassen hatte und nicht alle ihrer Kinder mit sich nehmen konnte. Keine unübliche Handlung in diesen Zeiten, seine Kinder bei einem solchen Notfall in der Familie zu verteilen. Alle Kinder der Familie hatten das Mädchen rasch akzeptiert, besonders Brianna war begeistert, weil sie nun nicht mehr die große Schwester zu spielen hatte. Doch zwischen Cedric und Ceridwen war ganz einfach noch mehr … was die Eltern natürlich mit einer gewissen Skepsis beobachteten. Ceridwen war weit für ihr Alter, sehr weit, und Cedric stand vor dem Schritt vom Wechsel zwischen Junge und Mann. Doch Connor und Juna fanden keine Anhaltspunkte, die ihnen Sorgen machen mussten. Cedric hörte, wie die Stimme seines Vaters an Lautstärke zunahm. »Und wie glaubt ihr soll das wohl geschehen? Sagt es mir – bietet
mir eine Lösung an, dann will ich die gerne annehmen.« Die Kinder wussten genau, mit wem Vater sprach und worum es ging. Pater Gwydion war wieder einmal unangemeldet erschienen. Noch vor einem Jahr war das Verhältnis zwischen dem Baumeister und dem Pater kühl, aber sachlich gewesen, denn man war mit der Fertigung der Kathedrale im Zeitplan. Das hatte sich geändert, auf drastische Art und Weise, denn die Kathedrale hätte bereits vor über einem halben Jahr geweiht und eröffnet werden sollen, doch davon konnte zur Zeit keine Rede sein. Der Grund war schnell genannt – die Welt hatte ein entsetzliches Jahr hinter sich. Vielleicht eines der schlimmsten der gesamten Historie dieses Planeten. Der schwarze Tod – die Pest – wütete ungehindert und ungehemmt in Europa. Britannien war noch mit am längsten verschont geblieben, doch nun regierten auch hier Tod, Angst und Hysterie. Religiöse Fanatiker wiegelten das Volk gegen jeden auf, der irgendwie fremd wirkte – Mann, Frau oder Kind, da wurden keine Unterschiede gemacht, denn sie alle konnten die Seuche ins Land gebracht haben. Es war schrecklich zu sehen, wie überall die Scheiterhaufen scheinbar aus dem Boden wuchsen. Die Unschuldigen starben voller Qualen im Feuer. Selbstgeißelungen waren an der Tagesordnung, Sekten entstanden und verlangten von ihren Mitgliedern die obskursten Handlungen. Andere Kreise gingen mit dem drohenden Ende vollkommen anders um und verbrachten ihre vermeintlich letzten Tage in Völlerei und Orgien. Die Welt stand auf dem Kopf … In den großen Städten häuften sich die Leichenberge an den Straßenrändern, während auf dem Lande jeder versuchte, sich gänzlich von allen anderen räumlich zu distanzieren. Die Angst vor der schrecklichen Krankheit brachte so auch noch die Einsamkeit mit sich. Die Arbeiten an der Kathedrale waren bereits vor vielen Monaten ins Stocken geraten, denn die Fachleute vom europäischen Festland erschienen einfach nicht mehr. Connor Fynn war rasch klar geworden, dass es keinen Sinn hatte auf die Männer zu warten. Sie wür-
den nicht mehr kommen … kommen können. Auf Ersatz war nicht zu hoffen. Als die Pest schließlich Cornwall wie eine böse Welle überflutete, blieben immer mehr der Arbeiter der Baustelle fern. Die einen erkrankten, die anderen fürchteten sich vor der dort herrschenden Menschenansammlung. Vor drei Monaten dann kam die Arbeit zum Erliegen. Connor hatte Verständnis für die Arbeiter und die Händler, die längst das Weite gesucht hatten. Sie flohen vor der Seuche, nicht wissend, dass die sie bereits an einem anderen Ort erwartete. Einer jedoch ließ jedes Verständnis vermissen – Pater Gwydion. Seine Stimme klang beinahe hysterisch, als er Connor antwortete. »Wie das geschehen soll? Das ist dein Problem, Baumeister Fynn, nicht meines! Die heilige Kirche will nicht länger warten – die Kathedrale muss fertiggestellt werden.« Connor schüttelte den Kopf. »Ja, begreift ihr das denn nicht? Es gibt keine Arbeiter mehr, die bereit wären, den Bau zu vollenden. Selbst die Kirche wird akzeptieren müssen, dass die Menschen sich voller Furcht in ihren Hütten verkrauchen und auf das Wunder hoffen, von der Seuche verschont zu bleiben.« Gwydion lief wütend durch das Zimmer. Er wollte nicht hören, was Connor ihm hier erzählte. »Das ist nicht von Interesse – such dir andere Arbeiter, wo auch immer. Die Kathedrale muss in kürzester Zeit vollendet werden. Sie wird wie ein Schutzschild die Küste Cornwalls vor der Pest behüten, sie wird …« Cedric zuckte zusammen, als er den dumpfen Knall hörte. Sein Vater hatte voller Wut mit der Faust auf den grob gezimmerten Tisch geschlagen. »Genug, Gwydion! Ihr seid verbohrt, wollt die Wahrheit nicht sehen. Die Seuche ist doch längst da! Unser aller Leben sind in Gefahr. Und ihr schwafelt von der schützenden Macht eines Gebäudes aus Stein? Gott selbst muss ein großes Wunder schicken, wenn die Seuche nicht alles Leben dahinraffen soll. Doch dieses Wunder ist ganz sicher nicht die Kathedrale. Und nun verschwindet aus meinem Haus – und kommt erst wieder, wenn ihr euren gesunden Men-
schenverstand wiedergefunden habt!« So energisch und laut hatte Cedric seinen Vater noch nie erlebt. Und Connor Fynn hatte Erfolg mit seinem Ausbruch. Die Kinder hörten wie die Haustür wütend zugeschlagen wurde. Pater Gwydion hatte verstanden, zumindest für den Augenblick. Als die Kinder vorsichtig die Tür zur Stube öffneten, sahen sie, dass Mutter beruhigend auf ihren Mann einredete. Der nickte immer wieder. »Aber in einem kann ich Gwydion nicht widersprechen, Juna. Ich bin der Baumeister, also muss ich mich um die Kathedrale kümmern. Ich war nun schon vier Tage nicht mehr dort. Das soll sich ändern.« Sein Blick fiel auf die Kinderschar. »Cedric und Ceridwen – begleitet ihr mich? Wir fahren zur Kathedrale. Ich muss auf dem Laufenden sein, was sich dort tut, auch wenn dort niemand arbeitet.« Natürlich wollten die beiden Connor begleiten und nur Minuten später saßen sie hinten auf der Ladefläche des Karrens, der von zwei nicht mehr sehr jungen Pferden gezogen wurde. Connor enterte den Kutscherbock und sie fuhren los. Überrascht registrierte Cedric, dass Vater sein Schwert und mehrere lange Dolche mitgenommen hatte, die jetzt hinter den Kindern lagen. Connor bemerkte den fragenden Blick seines Sohnes. »Die Zeiten sind mehr als unsicher.« Connor Fynn wollte die Kinder nicht beunruhigen, doch er war immer dafür ihnen die Wahrheit zu sagen. »Wir wissen nicht, wer oder was uns beim Bauplatz erwartet.« Ceridwen knuffte Cedric in die Seite. »Zumindest entgehen wir durch diese Fahrt dem zweiten Badedurchgang deiner Mutter.« Cedric grinste. Juna Fynn hatte instinktiv eine Waffe gegen die drohende Seuche für sich und ihre Familie entdeckt, die man ganz einfach mit Reinlichkeit umschreiben konnte. Irgendetwas in ihr glaubte fest daran, dass die unsäglichen hygienischen Verhältnisse, in denen die meisten Menschen in diesen Zeiten lebten, für jede Krankheit eine Einladung sein mussten. Sie konnte ja nicht ahnen, wie richtig sie damit lag. Die Kinder fanden es überhaupt nicht lustig plötzlich zweimal am Tag in den Badebottich gesteckt zu werden
… aber wie hätten sie sich wehren können? Allerdings teile Cedric Ceridwens Hoffnung da nicht so richtig. »Da kennst du aber meine Mutter schlecht. Ganz sicher wartet der Zuber auf uns, wenn wir zurückkehren. Darauf darfst du ruhig wetten.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die Ceridwen zum Lachen brachte. Connor Fynn fiel in das Kichern der Kinder mit ein. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte es jemand geschafft, ihn von seinen Sorgen abzulenken. Als sie das Waldstück durchquerten, das Ceridwen in keiner guten Erinnerung hatte, versiegte die Fröhlichkeit für einige Minuten. Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Die Steilküste schien den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel beinahe anzukratzen, doch nichts kam dem so bedrohlich nahe wie die Spitze der Kathedrale, die auf ihre Vollendung wartete. Das mächtige Steinkreuz, das oben aufgesetzt werden sollte, war nicht geliefert worden; es war von einem Steinmetz in Frankreich gefertigt worden und sollte per Schiff an diese Küste gebracht werden. Doch der Warenverkehr zwischen Festland und Insel war nahezu zum Erliegen gekommen. Handelsschiffe mussten sich über mehrere Wochen in Quarantäne auf offener See gedulden, bis sie endlich anlegen durften. So sollte verhindert werden, dass noch mehr Pestkranke ins Land kamen. Wie sinnlos das war, ahnte in diesen Schreckenszeiten niemand, denn Seeleute konnte man von der Küste fernhalten … Ratten jedoch nicht, und die trugen in ihrem Fell die Pest an Land. Connor Fynn lenkte den Wagen bis dicht vor das steinerne Monument. Er spürte einen Stich im Herzen, denn er war Baumeister durch und durch. Etwas unvollendet zu sehen, das war ein böser Traum für ihn. Bevor er vom Kutschbock stieg, griff er hinter sich und fasste den Griff seines Schwertes. Cedric und Ceridwen verstanden den Blick des großen Mannes sehr gut. Wortlos bemächtigten sie sich der langen Dolche. Noch vor einem Jahr wäre Cedric vor Stolz geplatzt, hätte sein Vater ihm erlaubt, eine solche Waffe auch nur in die Hand zu nehmen. Ein Jahr … und alles war so anders geworden … Der kalte Griff der Waffe fühlte sich überhaupt nicht gut an. Ced-
ric sehnte sich nach seinem Holzschwert und der abenteuerlichen Fantasie, die er und seine Geschwister für sich entdeckt hatten. Wilde Krieger, hart umkämpfte Schlachten … Feinde aus fernen Landen … Freibeuter … Alles schien nur ein Spaß zu sein, ein buntes Abenteuer. Doch nun war er mitten in der Realität gelandet. Sie gefiel ihm nicht, nein, ganz und gar nicht. Wie viele Tote hatte er in den vergangenen 12 Monaten sehen müssen? Wie viele Hungernde, Kranke und wie viele weinende Kinder? Das alles hatte seine eigene Kindheit brutal beendet. Er nickte Ceridwen zu, dann folgten beide mit gezückten Klingen Connor Fynn in das Gebäude hinein. Durch die unverglasten Fenster fiel das Tageslicht ein und sorgte für ausreichende Helligkeit. Vorsichtig bewegten sich der Mann und die Kinder vorwärts. Bei seinem vorletzten Besuch war Connor hier von zwei Männern angegriffen worden, die sich anscheinend häuslich in der Kathedrale niedergelassen hatten. Den einen hatte der Baumeister in die Flucht schlagen können, doch der andere war mit einer schweren Eisenstange wie ein wilder Stier auf ihn losgegangen … Connor hatte keine andere Wahl gehabt, als ihn zu töten. Heute jedoch blieb alles ruhig. Nur das Trippeln von Rattenfüßen störte die absolute Stille, die sich hier ausgebreitet hatte. Cedric schlug nach einem halben Dutzend der Nager, die keinerlei Scheu vor Menschen besaßen. Fiepend suchten sie das Weite. Connor Fynn begann seinen Rundgang durch das Gebäude. Cedric wusste genau, wie pedantisch sein Vater die Bausubstanz untersuchen würde, denn Fynn musste exakt wissen, ob eine plötzliche Baufortführung problemlos gestartet werden konnte. Und von der musste er als Baumeister immer ausgehen. Vielleicht geschah ja ein Wunder und schon morgen traf ein Trupp Wanderarbeiter ein, die dringend Arbeit suchten. Eine Wunschvorstellung, doch eine andere hatte Fynn nicht. Vater würde die Kinder nun für mehr als eine Stunde überhaupt nicht wahrnehmen. Cedric gab Ceridwen einen Wink. Sie folgte ihm aus dem Kirchenschiff nach draußen. Das Mädchen schüttelte sich. »Da drin bekomme ich immer eine Gänsehaut. Ich weiß, das ist
Unfug, aber es gruselt mich in diesen Mauern.« Cedric ging nicht darauf ein, doch insgeheim gab er Ceridwen Recht. Irgendetwas war in dieser Kathedrale, dass Tod und Zerstörung ausatmete. Nein, kein Wesen, kein Gespenst oder was sonst auch immer – es waren die Steine, perfekt gemauert, doch nicht für die Ewigkeit! Das war verrückt, Cedric wusste es, doch er glaubte nicht, dass der Bau je zu einer geweihten Kathedrale werden konnte. Etwas würde geschehen, dass dies verhinderte. Cedric verfügte über keine seherischen Fähigkeiten, hatte keine Gesichter, doch dieses Gefühl täuschte ihn nicht. Da war er sicher. Die Kinder hatten Zeit, also schlenderten sie gemächlich zur Abrisskante der Steilküste. Cedric wusste sehr wohl, wie sehr Ceridwen den Blick auf das offene Meer liebte. Knapp vor dem gähnenden Abgrund hockten die beiden sich auf den kahlen Boden. Lange Minuten genossen sie den Ausblick, doch dann unterbrach Ceridwen die Stille. »Was wird nur geschehen, Cedric?« Der Junge war verwirrt. »Mit der Kathedrale? Oder was wolltest du fragen?« Ceridwen schüttelte den Kopf und ihre geschwärzten Haare, die im vergangenen Jahr gewachsen waren, wehten um ihr schönes Gesicht, das Cedric am liebsten immer und immer berührt hätte. Doch das tat er natürlich nicht. Ceridwen hätte für ihn nun etwas wie eine zusätzliche Schwester sein sollen, doch das war sie nicht, würde sie auch niemals sein. Da war weit mehr! Sollte er ihr das vielleicht sagen? Entweder würde sie ihn auslachen oder eine schallende Backpfeife verpassen. Auf beides verzichtete Cedric nur zu gerne. Also schwieg er über diese merkwürdigen Gefühle, die in ihm brodelten, wenn er nur in Ceridwens Nähe war. Ceridwen blickte ihn an – und wieder einmal fragte sie sich, was sie am Blick in Cedrics Augen so irritierte. Irgendetwas war dort … mal so, mal so … sie fand einfach keinen passenden Begriff für das Phänomen. Er war Cedric, natürlich, doch von einem Tag auf den anderen schien es ihr manchmal, als hätte er sich innerlich einmal um sich selbst gedreht. Ceridwen schalt sich selbst eine Närrin, denn das klang nach einem riesengroßen Blödsinn, den sie sich da
selbst einredete. Andererseits hatte sie schon so oft bemerkt, wie Juna und Connor Fynn sich merkwürdige Blicke zuwarfen, wenn sie ihren ältesten Sohn beobachteten. Ceridwen wagte jedoch nicht, ihre Wohltäter darauf anzusprechen. Mit keinem einzigen unbedachten Wort wollte sie diese großartigen Menschen verärgern – niemals! Sie hatten ihr das Leben gerettet, ihr ein Dach über dem Kopf gegeben und noch viel, viel mehr: eine Familie. Ceridwen lächelte Cedric an. »Nicht mit der Kathedrale, nein. Ich muss nur immerzu darüber nachdenken, was geschieht, wenn diese furchtbare Krankheit auch vor uns nicht Halt machen sollte. Soll denn die ganze Welt sterben? Viele Leute reden von der Rache Gottes, der so vollenden will, was er damals mit der Arche und Noah begonnen hatte. Was glaubst du? Werden alle an der Pest sterben? Ich will euch aber nicht verlieren …« Cedric wusste nun überhaupt nicht mehr wie er reagieren sollte. Linkisch streichelte er Ceridwens Hände, die das Mädchen wie zum Gebet zusammengeführt hatte. »Nein, hab keine Angst. Du wirst uns nicht verlieren. Ich denke, wenn man nur gut aufpasst, dann kann einem die Seuche nichts anhaben. Wir müssen versuchen, so wenig wie möglich dorthin zu gehen, wo sich viele Menschen aufhalten.« Er war sich nicht sicher, ob das irgendeine rettende Wirkung haben konnte, doch etwas Besseres fiel ihm dazu nicht ein. Wenn die halbe Welt für Rettung betete, die andere Hälfte nach einer Lösung suchte – wie sollte ausgerechnet ein dreizehnjähriger Junge das Patentrezept parat haben? Doch das wollte die junge Frau ja auch überhaupt nicht von ihm haben – sie wollte Trost, ein wenig das Gefühl geborgen zu sein. Und da Cedric den ersten Schritt nicht machte, tat das Ceridwen. Geschickt lehnte sie ihren Kopf so an Cedrics Schulter, dass der gar nicht anders konnte, als einen Arm um Ceridwens Schulter zu legen. Ein Beobachter hätte über diese vorsichtige Art der Annäherung wahrscheinlich amüsiert gelächelt, doch für die zwei Akteure war das ein großer Augenblick. Um sie herum schien sich eine Luft-
blase gelegt zu haben, die beide von allem abschnitt, was um sie herum geschah. Beide hätten später nicht sagen können, wie lange sie so da gesessen hatten. Cedric erinnerte sich nicht einmal mehr an alles, was sie sich zugeflüstert hatten, doch eine Sache vergaß er nie. Ceridwen hatte ihm lange und intensiv in die Augen geschaut. »Deine Augen sind für mich ein großes Rätsel, Cedric. An manchen Tagen sprühen sie vor Leben, so, als könnten sie überhaupt nicht genug zu sehen bekommen – und dann wieder sind sie wie eine Nacht ohne Sterne … Starless … das wäre ein passender Beiname für dich.« Dann hatte sie ihren Kopf wieder an Cedrics Schulter gelegt und einfach nur diese Momente genossen, die in diesen verunsichernden Zeiten so wertvoll waren. Es war Ceridwens Schrei, der diese merkwürdige Atmosphäre mit einem Schlag beendete. Sie löste sich von Cedric und streckte den rechten Arm in Richtung der See aus. Die Stimme der blutjungen Frau überschlug sich. »Sieh hin, sieh doch hin! Segel … schwarze Segel am Horizont!« Lange Sekunden starrte Cedric in die angegebene Richtung und konnte nichts erkennen, doch dann wurde ihm klar, dass Ceridwen eindeutig die besseren Augen von ihnen beiden hatte. Denn nun sah er es ja auch. Segel von einem … zwei, nein drei Schiffen. Ein kalter Schauer lief über Cedrics Rücken, denn die Segel waren tatsächlich schwarz eingefärbt. Jeder, der in Küstennähe lebte, wusste, was das zu bedeuten hatte: Piraten! Was da auf die Steilküste zu kam, bedeutete Tod und Verderben. Drei Schiffe – also eine der organisierten Freibeuterbanden, die blitzartig auftauchten, an einsamen Stellen der Küste eines Landes vor Anker gingen und wie die Heuschrecken über Städte und Dörfer herfielen. Cedric versuchte abzuschätzen, wie weit die Schiffe noch entfernt waren, wie viel Zeit noch blieb, bis die Katastrophe nicht mehr abzuwenden war. Vielleicht drei, höchstens vier Stunden, dann würden die Schiffe in sicherem Abstand zur Steilküste Anker werfen und ihre mordlüsterne Besatzung mit den Beibooten an Land spucken.
Cedric blickte nach rechts. Dort gab es eine winzige Bucht, die für große Kähne nicht zu erreichen war, doch die Beiboote mit den Freibeutern konnten dort landen. Dann mussten die gesetzlosen Männer und Frauen – denn die gab es unter den Piraten in größerer Zahl, als man es glauben konnte – nur noch den relativ schmalen Pfad nach oben überwinden, der exakt hier vor dem Kathedralenbau endete. Hatten sie das geschafft, konnte sie nichts und niemand mehr aufhalten. Und wer wollte bezweifeln, dass sie es schaffen würden? Cedric hatte überhaupt nicht bemerkt, dass Ceridwen zur Kathedrale gelaufen war, um Connor Fynn zu holen. Cedrics Vater legte seinem Sohn die Hände schwer auf dessen Schultern. »Der Himmel möge uns beistehen. Was da auf uns zukommt, dass ist die Pest in Menschengestalt.« Cedric wies mit der Hand auf den Steilpfad. »Sie können nur dort hoch, nicht wahr?« Connor nickte. Er begriff, was sein Sohn andeuten wollte. »Gut erkannt, Cedric.« Er warf einen Blick voller Bewunderung und Bestätigung auf seinen Ältesten. Cedric war immer etwas ganz Besonderes gewesen, oftmals mehr, als es Connor und Juna lieb gewesen war. Der Baumeister gab sich einen Ruck. »Wenn wir sie noch aufhalten wollen, dann in dem Augenblick, wenn sie an Land gehen und diesen Pfad betreten. Hört mir zu.« Die Kinder wandten sich dem Baumeister zu. »Ich fahre los, werde versuchen, alle Männer, die eine Waffe tragen können, hierher zu holen. Ihr bleibt hier und beobachtet. Nicht mehr! Habt ihr verstanden? Noch ehe sie ihre Boote aussetzen, bin ich wieder zurück. Und ich werde nicht alleine kommen.« Connor Fynn rannte zu dem Pferdewagen und holte aus Material und Tieren alles heraus, was nur möglich war. Sekunden später nur war er verschwunden. Cedric und Ceridwen blickten einander an. Für sie begannen nun die längsten Stunden ihres Lebens. Vielleicht auch schon die letzten …
Die Schiffe sahen aus, als hätte die Hölle sie selbst ausgespuckt.
Cedric und Ceridwen lagen bäuchlings bei der Abrisskante und waren darauf bedacht, immer ausreichend Deckung zu haben. Beide hatten keine Lust darauf, von den Piraten entdeckt zu werden, auch wenn die sich noch an Bord ihrer Schiffe befanden. Die Kinder konnten sehen, wie die Mannschaften der Kähne sich an den Beibooten zu schaffen machten. »Vielleicht haben wir ja Glück und sie müssen die Boote erst einmal ausbessern. Könnte doch sein, dass bei ihrem letzten Überfall einiges zu Bruch gegangen ist?« Ceridwen flüsterte, obwohl das wirklich nicht nötig war. Sie waren von den Schiffen so weit entfernt, dass man sie dort nicht einmal gehört hätte, wenn sie lauthals geschrien hätten. Cedric wiegte den Kopf hin und her. Vielleicht hatte Ceridwen Recht … das würde zumindest eine oder zwei zusätzliche Stunden bringen. Der Anblick der drei Galeeren flößte ihm Furcht ein, doch er faszinierte ihn auch gleichermaßen. Alles schien schwarz zu sein – von den Segeln bis zum Schiffsrumpf, der mit Teer bestrichen war. Der erste Augenschein ließ vermuten, dass die drei Schiffe in keinem guten Zustand waren. Vieles schien verwahrlost zu sein, so wie die Mannschaften, die man nicht anders als bunten Haufen beschreiben konnte. Cedric konnte über die Entfernung hinweg nicht alles erkennen, doch an Bord schien sich eine Mischung aus Menschen der ganzen Welt zu befinden, was bei Freibeutern allerdings nicht weiter verwunderlich war. Ceridwen stieß Cedric an. »Schau da – o nein …« Cedric erkannte sofort, was Ceridwen so panisch machte. Auf der Reling des ersten Schiffes stand ein Mann, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Hinter ihm konnte Cedric gut zwei Dutzend Piraten erkennen, die ihn anzufeuern schienen. Dem Jungen wurde klar, was diese Szenerie zu bedeuten hatte. Sie schickten einen Kundschafter los, noch ehe sie überhaupt ein einziges Beiboot zu Wasser gebracht hatten. Der Mann war athletisch gebaut und scheinbar absolut unbehaart. Wie ein Fisch ließ er sich ins Wasser gleiten und teilte die Wellen spielerisch. Noch nie zuvor hatte Cedric einen Menschen so schwimmen sehen. Das Meer war an dieser Küste immer wild und aufbrau-
send, doch auch wenn der Pirat mehrmals unter Wasser gedrückt wurde, so tauchte er immer wieder auf. Cedric konnte nicht anders, als ihn zu bewundern. Minuten verstrichen und noch immer hielt der Pirat den Wassergewalten stand. Ceridwen löste sich als Erste aus der Starre, die beide Kinder befallen hatte. »Wir müssen uns Deckung suchen. Er wird über den Steilpfad hierher kommen, um seinen Kumpanen ein Zeichen zu geben. Los, schnell …« Geduckt entfernten sich die Kinder von der Kante. Natürlich würde der Kundschafter zunächst in der unfertigen Kathedrale nach vermeintlichen Gegnern suchen, die einen Landetrupp angreifen konnten. Die Piraten waren schlau. Sie vermieden jedes Risiko. Zudem, da war Cedric ganz sicher, hatte der Bau der mächtigen Kirche wohl ihre Aufmerksamkeit erregt; bestimmt glaubten sie, in so einem Prachtbau sei eine Menge zu holen. Ihnen stand eine Enttäuschung bevor, denn außer rohen Steinen gab es hier keine Kostbarkeiten. Um so wütender würden sie sich auf den Weg in die Ortschaften machen, die im Umkreis lagen. Cedric wurde heiß und kalt zugleich, denn auch das Haus seiner Familie war nicht sonderlich weit entfernt. Nein, die Freibeuter durften das Felsplateau niemals erreichen! Hinter dem unfertigen Bau schloss sich ein kleines Waldstück an, das zwar nicht so dicht bewachsen war, wie der Wald durch den sie hierher gekommen waren, aber noch immer ausreichend an Deckungsmöglichkeiten bot. Cedric und Ceridwen kletterten geschickt an einem Baum hoch, dessen Krone sie wie ein dichter Mantel empfing. Sie hier zu entdecken, dürfte nahezu unmöglich sein. Die zwei hielten sich bei den Händen und wagten kaum zu atmen. Es dauerte einige Minuten, dann hörten sie ihn. Der Kundschafter gab sich keine Mühe leise zu sein. Er ging davon aus, hier eh niemanden vorzufinden. Daher hielt er sich auch nicht lange in der Kirche auf – dort war keine Menschenseele, das konnte er rasch überblicken. Es schien ihn auch nicht zu verwundern, warum hier niemand arbeitete. Cedric konnte an den Schritten hören, wie der Pirat
die Kathedrale einmal umrundete. Dann drang er in das Waldstück ein. Die Kinder hielten die Luft an und Cedric hoffte, der Freibeuter würde sein Herz nicht schlagen hören können, das in diesen Augenblicken wie eine Trommel in den Ohren des Jungen wummerte. Durch das Laubdach hindurch konnte Cedric den Mann sehen. Seine Haut glänzte – wahrscheinlich hatte er sich von Kopf bis Fuß mit Fett eingerieben, um dem Wasser so wenig Widerstand wie nur möglich zu bieten. Der Zweck heiligte die Mittel, denn schließlich hatte der Schwimmer es ja geschafft, die Strecke vom Schiff bis zum Fuß der Klippe zu überwinden. Bis auf den Lendenschurz war er nackt; den Dolch hatte er beim Schwimmen sicher zwischen den Zähnen transportiert. Er war ein Freibeuter, ein Mörder und Brandstifter, doch Cedric konnte nicht anders – er bewunderte den Mann für seine Leistung. Unter dem Baum, auf dem die Kinder hockten, blieb er stehen und lauschte. Als er endlich seine Erkundungen fortsetzte, hätte Cedric am liebsten laut geschrien, denn er barst regelrecht vor Anspannung. Er fühlte den kalten Schweiß, der sich unangenehm wie ein nasses Tuch um seinen Körper legte. Ein Blick in Ceridwens Augen sagte ihm, dass es ihr nicht anders erging. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Pirat endlich das kleine Waldstück wieder verließ. Sein Weg würde ihn zur Abrisskante führen, denn seine Kumpanen warteten sicher schon ungeduldig auf das verabredete Zeichen. Wie zwei Katzen ließen sich Cedric und Ceridwen am Baumstamm zu Boden gleiten. Vorsichtig folgten sie dem Kundschafter, der dabei war, einen Holzstoß aufzuschichten. Nun kannte Cedric das Zeichen, dass die Piraten vereinbart hatten – ein Feuer oben auf der Klippe! Wenn die Flamme in die Höhe züngeln würde, bedeutete das übersetzt: Kommt! Die Luft ist rein – kein Widerstand zu erwarten! Und dann würden sie auf den Schiffen die Landungsboote zu Wasser lassen … Cedric wurde brutal deutlich, dass sein Vater dann nicht mehr rechtzeitig mit möglichen Verteidigern der Küste zurück sein würde. Das bedeutete … diese Flamme durfte ganz einfach nicht ent-
zündet werden, koste es was es wolle. Ceridwen blickte ihn an. Der Pirat war weit genug von den Kindern entfernt, dass er ihr Flüstern nicht hören konnte. »Wir müssen ihn töten.« Aus Ceridwens Mund klang das so befremdlich, doch Cedric konnte nicht widersprechen. »Ich werde ihn ablenken und weg locken – und du greifst ihn dann von hinten an. Schnell, wir dürfen jetzt nicht zögern.« Cedric traute seinen Augen nicht, als er sah, was Ceridwen noch im gleichen Augenblick tat. Mit einer fließenden Bewegung schlüpfte sie aus dem Kleid und stand plötzlich splitternackt vor ihm. Cedric schoss das Blut in den Kopf. So hatte er sie schon vor einem Jahr gesehen, als sein Vater und er durch das dunkle Waldgebiet gefahren waren. Cedric wollte aufbegehren, doch Ceridwen legte ihre Hand auf seinen Mund. »Sei still – wir müssen nun tun, was getan werden muss. So lenke ich die Aufmerksamkeit des Kerls garantiert auf mich.« Dann drückte sie sich heftig gegen Cedric, dem die Luft wegblieb. Ihr Mund war ganz dicht bei seinem Ohr. »So sollst du mich in Zukunft noch oft sehen, mein kleiner Held.« Dann wandte sie sich um und lief in Richtung der Klippe. Cedric hatte alle Mühe wieder klar denken zu können, doch dazu musste er sich nun zwingen. Er blieb in Deckung und beobachtete, was dort vorne ablief. Der Freibeuter hatte sich zwei Feuersteine gesucht, die in all dem Gerümpel, das die Arbeiter achtlos hatten liegen lassen, rasch gefunden waren. Immer wieder schlug er sie gegeneinander, doch der raue Wind, der hier seine Heimat hatte, machte ihm einen Strich durch die Rechnung – vorläufig zumindest. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Mann Erfolg haben würde. Er schrak zusammen, als hinter ihm eine Stimme erklang. »Könntest du dir keine schönere Beschäftigung vorstellen als hier zwei Steine gegeneinander zu schlagen?« Blitzschnell kam der Mann aus der Hocke hoch und wirbelte herum. Seine Kinnlade fiel bei dem, was er dort zu sehen bekam, nach unten und wollte überhaupt nicht mehr in ihre angestammte Lage
zurückkehren. Das Mädchen war nackt … irgendwie schon ganz Frau, doch gleichzeitig auch noch Kind. Noch nie hatte er so wundervoll geformte Brüste gesehen, auf die er ganz einfach seine Hände legen musste. Ihre Kopfhaare schimmerten in einem tiefen Schwarz – ihre Scham hingegen wies rote Härchen auf, doch das interessierte den Pirat nicht. Ihn interessierte jetzt nur noch eines! Drei Monate war er nicht mehr an Land gewesen, keine Bucht, kein Hafen … keine Huren … er musste dieses Kind ganz einfach haben. Zudem bot sie sich ihm ja förmlich an. Klackernd fielen die Feuersteine zu Boden. Das konnte warten, und mehr als ein paar Minuten würde er sicher nicht brauchen, um seine Lust zu befriedigen. Er fühlte, wie der Druck in seinen Lenden bereits jetzt übermächtig groß wurde. Er bewegte sich wie eine Raubkatze auf das Mädchen zu, die plötzlich anfing zu laufen – in Richtung der unfertigen Kathedrale. Sie wollte ihn necken … sie sollte es nicht übertreiben, denn nach Schäferspielchen stand ihm ganz sicher nicht der Kopf. Mit langen Schritten hetzte er hinter ihr her. Als sie in dem Bau verschwand, war er nur noch wenige Schritte hinter ihr. Gleich würde sein Spaß beginnen!
Cedric hatte aus der Deckung der Mauer heraus beobachtet, wie Ceridwen der Freibeuter binnen wenigen Augenblicken aus der Fassung gebracht hatte. Er gab zu, dass auch er bei dem Anblick Ceridwens um die seine rang. Dann lief das Mädchen … nein, sie war längst eine Frau … in die Kathedrale hinein, den Piraten hart auf den Fersen. Jetzt war er an der Reihe. Cedric blickte auf das überlange Messer, das er in der rechten Hand hielt. Und diese Hand zitterte wie im Fieber! Er wartete noch ein paar Sekunden, dann folgte er dem Freibeuter in das Gebäude hinein. Was er sah, ließ ihn beinahe erstarren. Der Kerl machte kein großes Federlesen und schien vollständig auf die eine Sache fixiert zu sein. Ceridwen schrie voller Angst auf, als der Mann sie zu Boden warf und sich seines Lendenschurzes entledigte.
Cedric fasste den Griff des Messers mit beiden Händen, dann war er mit wenigen Schritten hinter dem Pirat, der sich in dieser Sekunde auf Ceridwen warf … wie ein Tier, für das es nur seine Instinkte gab. Cedric sah, wie Ceridwens Schenkel mit Gewalt auseinander gedrückt wurden. Ceridwens Stimme überschlug sich. »Cedric … schnell, tu es!« Der Pirat schien die Gefahr in seinem Rücken zu fühlen. Er sprang hoch und schlug dem zögernden Cedric den Handrücken ins Gesicht. Der Junge spürte, wie Blut an seiner Wange entlang lief. Halb ohnmächtig fiel er zu Boden. Das hämische Lachen des Freibeuters drang wie durch Watte zu ihm. »Das habt ihr euch ja fein ausgedacht. Aber nicht mit mir! Um dich kümmere ich mich gleich, Bürschlein, doch zunächst nehme ich mir deine kleine Freundin vor.« Wieder klang Ceridwens Schrei in die Höhe und brach sich an den Wänden. Ich habe versagt … ich kann es nicht … bin kein Mörder … Ceridwen … Wie hatte es Ceridwen ausgedrückt? »Dann wieder sind deine Augen wie eine Nacht ohne Sterne … Starless …« Genau in diesem Augenblick war es, als sein Blick zu brechen schien. Die andere Seite meldete sich so deutlich wie nie zuvor. Dann verstecke dich – lass mich tun, was du nicht konntest. Lass mich Starless sein … Cedric erhob sich, die Schmerzen in seinem Kopf ignorierend. Seine Hand fand das Messer, das ihm entglitten war. Mit unheimlicher Ruhe wandte er sich der Stelle zu, an der Ceridwen sein Versagen zu büßen hatte. Der Freibeuter war viel zu sehr mit dem Mädchen beschäftigt, als dass er auf den reagieren konnte, den er ja zu Boden geschickt hatte. Cedrics Hände erhoben sich zur unfertigen Kuppel der Kathedrale – dann sausten sie nach unten. Die lange und schmale Klinge drang machtvoll in den Nacken des Freibeuters und trat schließlich vorne unter seinem Adamsapfel wieder aus. Mit einem Tritt beförderte Cedric den Toten von Ceridwens Körper. Das Mädchen weinte hysterisch und presste ihre Schenkel zu-
sammen. Ein feiner Blutfaden war nicht zu übersehen. Wie ein kleines Tier lag sie dort, unfähig sich zu bewegen. Cedric hatte das Bedürfnis, sie in seine schützenden Arme zu nehmen, doch dann realisierte er, wie schön sie wirklich war. Für einen winzigen Augenblick stieg die Gier in ihm hoch. Cedric ballte die Hände zu Fäusten, bis sich die Fingernägel tief in das Fleisch gruben. Dann streckte er Ceridwen beide Arme entgegen und zog sie in die Höhe. Ihr Körper zitterte wie Espenlaub, doch nun war die Versuchung von ihm gegangen. Wer war er denn wirklich? War er … Cedric? Gab es ihn noch einmal? Ohne Gefühlsregung zog er das Messer aus dem Nacken des Freibeuters. Er hatte diesen Tod tausendfach verdient, keine Frage. Ceridwen verschwand aus der Kathedrale, um sich ihr Kleid wieder anzuziehen. Cedric konnte sich nicht einmal entfernt ausmalen, wie sie sich nun fühlen musste. Er rannte zur Abrisskante und blickte vorsichtig nach unten. Die Schiffe lagen unverändert dort vor Anker. Sie warteten auf das vereinbarte Zeichen. Am Bug des mittleren Kahnes schwenkte ein Mann eine Fackel. Wahrscheinlich wollte er die Aufmerksamkeit des Kundschafters damit wecken. Wie würden die Piraten reagieren, wenn das Zeichen nicht kam? Cedric bemerkte, wie sich Ceridwen neben ihn schob. Ihre Gesicht wirkte verschlossen. Mit keinem Wort ging sie auf das ein, was in der Kathedrale geschehen war. »Wie lange werden sie zögern? Was glaubst du?« Cedric wusste keine Antwort auf diese Frage, also schwieg er. Er hoffte, sein Vater würde hier bald mit entsprechender Verstärkung eintreffen. Er selbst wartete darauf, dass sein Gewissen ihn zu attackieren begann, denn er hatte einen Menschen getötet – eiskalt und voller entschlossener Brutalität. Doch wie tiefer auch in sich hinein hörte, konnte er dort keinerlei Regung erkennen. Es war so einfach gewesen, so leicht. Ein Kinderspiel … Ceridwen blickte ihn schon seit einiger Zeit an. »Deine Augen … ohne Sterne, Cedric, was ist los mit dir? Was geschieht in dir?« Er schüttelte nur den Kopf und konzentrierte sich wieder auf die drei Schiffe. Und dann war ihm, als setze sein Herz für einen Au-
genblick lang aus. Sie hatten die Geduld verloren. Sie kamen! Alle drei Galeeren ließen ihre großen Landungsboote zu Wasser. Jedes Schiff besaß davon drei Stück. Cedric zählte mit, als die Piraten das erste Boot bemannten. 20 bis an die Zähne bewaffnete Freibeuter besetzten die Ruderbänke und legten sich sofort mächtig in die Riemen. Cedric musste nicht lange rechnen – das waren also mindestens 180 mordlüsterne Männer, die kein Problem damit hatten, die Bevölkerung der kleinen Ansiedlungen komplett auszurotten. Die einzige Chance, die Cedric noch sah, war die Tatsache, dass die Piraten den Steilpfad hinauf mussten, wenn sie die Küstenregion entern wollten. Es sei denn, sie könnten wie Fliegen senkrecht an der Steilwand nach oben klettern, doch das glaubte der Junge nun doch nicht. Cedric sah mit Schrecken, wie schnell die Boote sich der Stelle näherten, an dem der Steilpfad seinen Anfang nahm. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, die Piraten dort an Land zu setzen, doch solche Aktionen waren denen nicht fremd. Sie würden schneller hier sein, als es Cedric lieb sein konnte. Und von Connor Fynn war weit und breit noch nichts zu sehen. Cedric sprang hoch – die Zeit des Versteckens war nun eh vorüber. Ceridwen folgte ihm, als er scheinbar wahllos über die Baustelle lief. Irgendetwas musste es hier doch geben, was als Waffe gegen die Freibeuter taugte. Sein Blick blieb auf den äußerst stabil gebauten Karren haften, mit denen man Steine und andere Baumaterialien direkt vor Ort bringen konnte. Einfache Fahrzeuge, die meist von einem Pferd oder einem Ochsen gezogen wurden. Sie hatten weder das eine noch das andere … doch ein solcher Karren von hier oben über die Kante des Pfades geschoben … die Wirkung auf die, die sich nach oben mühten musste verheerend sein. Ceridwen begriff sofort, was Cedric da plante. Doch das war nur durchführbar, wenn Verstärkung käme. Die junge Frau wagte einen Blick den Pfad hinunter. Ein Schrei kam über ihre Lippen. Dort unten konnte sie tatsächlich schon die Köpfe der ersten Freibeuter ausmachen, die sich an den Aufstieg machten.
Sie blickte zu Cedric, der ebenfalls gesehen hatte, dass ihnen die Zeit nun mehr als knapp wurde. »Wir brauchen irgendetwas, mit denen wir ihren Aufstieg bremsen können, bis Hilfe kommt.« Cedric deutete auf den Steinhaufen, der sich nur wenige Schritte von ihnen entfernt befand. Bei der Arbeit zerbrochene Steine, Reststücke … alles Mögliche ließ sich dort finden, doch der größte Teil war noch immer zu schwer, als dass man ihn als Wurfgeschoss verwenden konnte. »Wir nehmen den dort.« Cedric hatte sich für einen Brocken entschieden, der für einen Mann alleine zu groß und zu schwer sein musste, doch gemeinsam konnten sie ihn vielleicht doch bewegen. Cedric und Ceridwen setzten hölzerne Balken als Hebel ein. Nur langsam, quälend langsam, gab der Stein seinen Widerstand schließlich auf. Die Kinder schwitzten und fluchten, doch schließlich hatten sie es geschafft. Cedric blickte über die Kante. Sie waren schon viel näher, als er es erwartet hätte. Gut 10 Mann konnte er erkennen, die sich mit erstaunlichem Tempo nach oben arbeiteten. Die Kinder zögerten keine Sekunde mehr. Tief setzen sie die Stangen als Hebel an und gaben dem Stein den notwendigen Schwung. Rumpelnd und polternd nahm der Stein Fahrt auf, wobei er Geröll, Äste und jede Menge Staub mit sich riss. Es dauerte einige Sekunden, doch dann drang von unten ein wütender Schmerzschrei zu den Kindern hoch. Ein zweiter folgte beinahe zeitgleich. Wilde Flüche stiegen in die Höhe, die Cedric und Ceridwen längst nicht alle verstanden, denn eine Bande von Freibeutern setzte sich oft aus Männern und auch Frauen aus aller Herren Länder zusammen. Sie pflegten eine eigene Sprache, doch das hinderte keinen daran, die wüstesten Beschimpfungen in der Muttersprache von sich zu geben. Die Kinder legten sofort nach, um die Verwirrung bei den Angreifern überhaupt nicht erst zur Ruhe kommen zu lassen. Steine, so groß wie Kinderköpfe, Balkenabschnitte, ein Bottich mit abgebrochenen Nägeln … selbst längst vergammelte Essensreste … sie bewarfen die Freibeuter mit allem, was sie in die Finger bekamen und heben konnten. Die Flüche tief unter ihnen verstummten allmählich. Die Seeräuber
hatten sich zunächst einmal zurückgezogen und warteten ab. Irgendwann würde denen da oben sicher das Material ausgehen, mit dem sie die Freibeuter auf Distanz hielten. Wenn sie nicht mehr hatten als Steine und Gerümpel, dann konnte es mit ihrer Bewaffnung nicht sehr weit her sein. Schwer atmend hielten Cedric und Ceridwen inne. Lange würden sie das hier nicht mehr durchhalten können. Cedric dachte an Flucht, doch wohin sollten sie sich wenden? Die Piraten würden sie verfolgen. Die Lage war verzweifelt. Sie waren so erschöpft, dass sie den derben Klang der Pferdehufe erst spät registrierten. Ceridwen stieß einen triumphierenden Schrei aus, als das Gespann von Connor Fynn auf das Plateau jagte. Cedric blickte seinem nahenden Vater eher entsetzt entgegen, denn er realisierte sofort, wen der Baumeister auf seinem Wagen mitbrachte. Ein Dutzend Raufbolde und Säufer, die allesamt in der ganzen Gegend bekannt waren. Ein zweites Gespann folgte, auf dem sich in etwa die gleiche Anzahl Männer befand, die Cedric eher als Jugendliche denn als Kämpfer einstufte. Connor Fynn brachte die Pferde hart zum Stehen und sprang vom Kutschbock. Cedric deutete mit der Hand auf die magere Ausbeute, die anscheinend bereit war, die Küste zu verteidigen. Connor blickte seinen Sohn an, in dessen Augen deutlich eine Frage zu lesen war: Und wo bleiben die anderen? Die Bauern, die Bergmänner … wo sind sie? Connor schüttelte den Kopf. »Das sind alle, die bereit waren, mir zu folgen. Die anderen verkriechen sich lieber in ihren Häusern, auf ihren Höfen und hoffen, dass der Sturm über sie hinwegzieht. Schildere mir die Lage, Sohn.« In knappen Sätzen gab Cedric seinen Bericht ab. Connor Fynn nickte nur. »Ihr habt das großartig gemacht, doch nun müsst ihr hier verschwinden.« Cedric öffnete den Mund um zu protestieren, doch Connor schnitt ihm einfach das Wort ab. »Ihr werdet mit dem Gespann nach Hause fahren und euch um Mutter und die Geschwister kümmern. Seht zu, dass ihr so schnell wie nur möglich das Haus und die Gegend verlasst. Erinnert ihr euch noch an die Höhlen, die wir vor ein paar Monaten besucht haben?«
Ceridwen und Cedric blickten einander an. Natürlich erinnerten sie sich. Es waren riesige Gewölbe, die bis tief unter den Berg führten. Aus Spaß hatten Juna und Connor damals gesagt, dass man hier doch glatt ein paar Wochen lang leben könnte. Aus Spaß war Ernst geworden, denn genau das wies Connor den Kindern nun an. »Versteckt euch alle dort für ein oder zwei Wochen. Länger werden die Freibeuter nicht hier bleiben. Wenn sie alles ausgeraubt haben, dessen sie habhaft werden können, dann verschwinden sie wieder. Ich werde euch dort finden – keine Sorge, wenn klar ist, dass wir die Piraten hier nicht halten können, dann bringe auch ich mich in Sicherheit. Und nun keine Diskussion. Ihr seid meine ältesten Kinder, ich muss mich auf euch verlassen können.« Connor drückte die beiden fest an sich, dann reihte er sich bei dem armseligen Haufen mit ein, der sich anschickte, Cornwalls Küste gegen die Seeräuber zu verteidigen. Ceridwen blickte Cedric an. »Er hat Recht. Komm, wir müssen uns beeilen. Nun komm doch …« Sie zerrte Cedric zu dem Gespann. Widerwillig ließ er es geschehen. Er sah ja ein, dass dies die logische und vernünftige Lösung war, doch er wollte einfach seinen Vater nicht verlassen, nicht hier in einer solchen Situation. Irgendwie schaffte es Ceridwen, ihren Freund auf den Kutschbock zu manövrieren. Dann griff sie nach dem Zügel und trieb die Pferde hart voran. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie den Mann, der sich hinter den düsteren Mauern der Kathedrale versteckte. Sie kannte ihn – natürlich, wer kannte ihn denn nicht? Noch vor Stunden war er im Haus der Fynns gewesen … Es war Pater Gwydion, der das Geschehen aus sicherer Deckung betrachtete. Wie ein von Gott verlassener Feigling. Oder wie einer, der nur sehen wollte, ob alles so verlief, wie er es sich wünschte …
Starless schreckte hoch, doch es war nur der monotone Piepton der Ortungsanlage, der ihn aus seinen Erinnerungen gerissen hatte. Für
einen Moment glaubte er, der Alpha würde sich anschicken, die Position seiner gelandeten Raumjacht zu verändern, doch die Kontrollanzeigen bewiesen ihm, dass dem nicht so war. Der Vampir fühlte sich müde und erschöpft. Langsam meldete sich sein Blutdurst, doch damit konnte er umgehen. Die Nacht war noch lange nicht um, also schloss er erneut die Augen. Die Gefahr weiterer Erinnerungen nahm er in Kauf. Jahrhunderte hatte er sie verdrängt. Vielleicht verlangte sein Geist nun, sie nachzuholen. Nichts und niemand würde ihn hier stören. Also gab er sich dem hin, was die Menschen heute so schwülstig als Vergangenheitsbewältigung bezeichneten. Aber nein – wirklich zu bewältigen war es nicht, was damals geschehen war …
Es lag eine merkwürdige Stille über dem Land, eine Spannung, die einfach nicht zu greifen war. Der kleine Zug der Fynn-Familie bewegte sich langsam voran, viel zu langsam für Cedrics Geschmack. Der Junge drehte sich immer wieder um, denn ihm war, als höre er die Schritte der Freibeuter bereits hinter sich. Doch da war niemand. Auch niemand von der Bevölkerung. Cedric hatte fest damit gerechnet, dass sie hier viele Menschen aus der Umgebung treffen würden, die alle ihr Heil in der Flucht suchten. Doch nur vereinzelt bekamen sie andere Gespanne mit Flüchtlingen zu sehen. Juna Fynn saß oben auf dem Kutschbock, neben ihr der alte Nopricht – Lehrer, Arzt, Berater und Freund in einer Person, der wirklich zur Familie gehörte. Dahinter drängten sich auf der Ladefläche die Kinder zwischen und um die Lebensmittel und Habseligkeiten, die Mutter nicht hatte zurücklassen wollen. Brianna lief hinter dem Wagen her, denn auf ihm war das Gedränge schon groß genug. Cedric und Ceridwen flankierten das Gespann vorne. Juna und die beiden Ältesten hatten sich mit langen Klingen bewaffnet, um alle notfalls verteidigen zu können. Niemand wünschte sich diesen Fall herbei, doch er konnte natürlich eintreten. Als dann die Nacht über Cornwall hereinbrach, suchten sie den
Schutz eines kleinen Waldes, denn in der Finsternis konnten sie ihren Weg nicht fortsetzen. Es wurde eine lange Nacht, in der Cedric kein Auge zutat. Er hielt Wache, doch an seiner Seite war Ceridwen, die dann doch in den Morgenstunden einschlief – den Kopf an Cedrics Schulter gelehnt. Als die Sonne durch das Dach des Waldes brach, da fragte sich Cedric, ob Vater wohl noch lebte. Er riss sich zusammen, denn er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, einen Auftrag, den Vater ihm auf den Weg gegeben hatte. Gegen Mittag kam der Gebirgszug in Sicht, in dessen Bauch sich die Höhlen befanden. Das Ziel war also ohne Zwischenfall erreicht. Der Eingang zu der Höhle, die sie vor kurzer Zeit hier besucht hatten, lag zwar versteckt, doch Cedric hatte keine Probleme damit, ihn sofort zu finden. Als alle im Berginneren verschwunden waren, versteckten Cedric und Ceridwen das Gespann so gut wie nur möglich. Vielleicht würden marodierende Freibeuter es dennoch entdecken, doch mit einem solchen Verlust würde man leben können. Wichtig waren die Menschen … war Cedrics Familie. Ehe Ceridwen vor Cedric in die Höhle schlüpfte, warf sie noch einen Blick zurück. Rauch stieg über den Baumwipfeln auf. Es brannte! Wahrscheinlich eine der kleinen Ansiedlungen, die sie bei ihrem Weg hierher durchquert oder umfahren hatten. Also war es jetzt so weit – sie kamen! Und sie machten keine Gefangenen, es sei denn, der Sklavenmarkt hatte ausreichend Bedarf. Doch selbst dann suchten sie sich die kräftigsten Männer aus, was Frauen und Kindern blühte, das wusste ein jeder. Im Inneren der ersten Höhle hatten es sich die Fynns rasch so bequem wie möglich gemacht. Nopricht sprach intensiv mit Juna. In Cedrics Vorstellung lebte Nopricht seit einer Ewigkeit, denn als er zu Connor und Juna Fynn gekommen war, musste er schon so ausgesehen haben wie heute – ein uralter Mann, klein, mit runzeligem Gesicht und schlohweißen Haaren; zumindest hatte Mutter ihm das so berichtet. Nopricht wusste so viele Dinge und konnte über sie sprechen, als hätte er sie allesamt selbst miterlebt, auch wenn sie in der Zeit vor
Jesus Christus geschehen waren. Cedric hörte immer genau zu, wenn der alte Lehrer sprach – so auch in diesem Fall. »Die Piraten sind für gewöhnlich außerordentlich gut informiert. Sie mussten ganz einfach wissen, dass die Pest nun auch Cornwall in ihrer Gewalt hat. Warum landen sie dann hier? Sie lieben das Leben, wie kaum ein anderer Menschenschlag. Doch nun riskieren sie Krankheit und Tod. Für Beute? Das sieht ihnen nicht ähnlich, trotz aller Gier. Kein Piratenkapitän riskiert leichtsinnig Leben und Gesundheit seiner Mannschaft.« »Was willst du damit andeuten, Nopricht?« Juna ahnte, dass der Alte eine Theorie hatte. »Man muss sie falsch informiert haben – absichtlich, wie ich vermute. Irgendwer hat sie hierher gelockt. Doch auch dieses Wissen hilft uns in dieser Situation nicht weiter. Wir können nur hoffen, dass sie uns hier nicht finden werden.« Cedric setzte sich neben seine Mutter. »Vielleicht fürchten sie sich nicht vor der Seuche?« Er sah, wie Nopricht amüsiert das Gesicht verzog. »Lieber Cedric, ich weiß, dass es die wildesten Geschichten gibt, die sich um die Freibeuter ranken. Manche davon mag sogar der Wahrheit entsprechen, doch die, dass sie vor der Pest gefeit sind, ist ein glattes Ammenmärchen. Kein Mensch ist das, und auch wenn die Piraten sich oft eher wie Bestien benehmen, so sind sie durchaus Menschen wie du und ich.« Nopricht erhob sich ein wenig umständlich. Ständig klagte er über Schmerzen in seinen Gelenken, doch Cedric wusste genau, wie beweglich der Mann im Ernstfall noch sein konnte. »Nein, nein … hätten sie die Wahrheit gewusst, wären sie jetzt irgendwo vor der Küste Afrikas, auf einer ihrer Inseln. Irgendwer benutzt sie wie Figuren in einem Brettspiel – sie und uns.« Ohne weitere Worte zog Nopricht sich in eine Ecke der Höhle zurück und kauerte sich auf ein Fell, das er dort für sein Nachtlager bereit gelegt hatte. Juna sah ihren ältesten Sohn an. »Es wird für alle Zeit zu schlafen. Müssen wir am Eingang eine Wache aufstellen?«
Cedric nickte. »Natürlich müssen wir das. Unliebsamen Besuch wollen wir schließlich vermeiden. Keine Sorge, Mutter, schare du die Kleinen um dich. Ceridwen, Brianna und ich teilen uns die Nachtwache untereinander auf.« Juna umarmte Cedric und drückte ihm einen feuchten und warmen Mutterkuss auf die Wange. »Ich bin stolz auf euch alle. Schlaf gut … wenn du Freiwache hast.« Sie zwinkerte ihm zu und ging zu den drei Zwillingspaaren, die so langsam zu realisieren schienen, dass dies alles hier kein Spiel war. Sie brauchten den Zuspruch ihrer Mutter nun ganz besonders. Brianna und Ceridwen hatten es sich dicht neben dem Eingang auf Fellen so bequem wie nur möglich gemacht. Ceridwen lächelte Cedric zu. »Ich übernehme die erste Wache, du die zweite, dann ist Brianna an der Reihe.« Einige Minuten lang flüsterten die drei noch miteinander, dann hörte Cedric, dass Brianna schon eingeschlafen war. Als wäre dies ein Zeichen für seinen eigenen Körper gewesen, konnte er plötzlich die Augenlider nicht mehr offen halten. Er schlief so tief – so traumlos und zufrieden, als gäbe es keine Mordbanden, keine drohenden Seuchen, die sein Leben bedrohten. Der Schlaf war großartig und erfrischend … doch währte er leider nicht sehr lange.
Eine Hand berührte Cedrics Schulter. Er war sofort hellwach. Sein Gefühl sagte ihm, dass seine Wache noch nicht an der Reihe sein konnte, also musste etwas geschehen sein. Waren sie von den Freibeutern aufgespürt worden? Seine rechte Hand ging sofort an den Griff des langen Dolches. »Leise …« Die Stimme kam flüsternd an seine Ohren. Es war Ceridwen, die ihn geweckt hatte. »Sind wir entdeckt?« Er raunte ihr die Worte zu. Es war viel zu dunkel, als dass Cedric ihr Gesicht hätte deutlich erkennen können. Mehr als der Umriss ihres Kopfes war nicht zu sehen. Doch es war eindeutig, dass sie ihren Kopf verneinend schüttelte.
»Da ist etwas … aber nicht am Eingang … es kommt aus den hinteren Höhlen. Komm mit mir.« Cedric stand auf, doch er fürchtete, in der Finsternis wohl kaum auch nur einen sicheren Schritt machen zu können. Zu seinem Erstaunen war das gar nicht so unmöglich. Ein wenig Mondlicht fiel durch Risse in der Höhlendecke ein, das mit viel gutem Willen eine Orientierung möglich machte. Vorsichtig schlichen die beiden an den Schlafenden vorbei. Anscheinend ging es allen richtig gut, denn Cedric vernahm die leisen Schnarchgeräusche seiner Geschwister … und die allerdings nicht ganz so leisen von Nopricht. Ceridwen legte eine Hand auf Cedrics Brust und brachte ihn so zum Stehen. Ihre Hand wies auf die hintere Höhlenwand, in der es den Durchgang zur nächsten Kaverne gab. Cedric starrte lange Sekunden in das Dunkel – dann sah er es. Ein kurzes Flackern, wie von einer beinahe heruntergebrannten Fackel. Im nächsten Moment war es wieder verschwunden. Die Kinder blickten einander an. Wahrscheinlich gingen in Ceridwens Kopf ganz ähnliche Dinge um wie in Cedrics. Connor Fynn war vor Monaten gemeinsam mit seiner ganzen Familie in diese Höhlen gegangen, um den Kindern zu beweisen, dass nichts, aber auch wirklich absolut nichts an den ganzen Schauergeschichten der Wahrheit entsprach, die man sich Land auf, Land ab von diesem Berg erzählte. Was es hier nicht alles geben sollte – Dämonen, Bestien mit Hundeköpfen, die bis zu zehn Fuß groß werden konnten; Untote, Leichenfresser und Vampire. Man ließ wirklich nichts aus. Die Kinder – besonders Lennox und Kai, die 10jährigen Zwillinge – waren dann reichlich enttäuscht und ernüchtert aus dieser Führung herausgekommen. Nicht einmal einen Knochen hatten sie gefunden … keine Monster mit oder ohne Hundekopf. Doch jetzt standen Cedric und Ceridwen hier in der Höhle und fühlten, wie sich ihre Nackenhaare hochstellten. Dieses Licht – wer trug es? Wer oder was? Ceridwen bewies echten Mut und setzte trotz ihrer Furcht einen Fuß vor den anderen. Das Licht verschwand. Cedrics Neugierde siegte über seine Angst vor dem Unbekannten, als er Ceridwen folgte.
Der Eingang zur zweiten Höhle war breit und hoch genug, um einem ganzen Pferdewagen Platz zu bieten. So sehr Cedric seine Augen auch anstrengte, konnte er das Licht hier nirgendwo entdecken. Ceridwen hatte die kurze Kaverne bereits durchquert und stand schon in der Verbindung zur dritten. Sie schüttelte den Kopf, als Cedric neben sie trat. »Verschwunden … einfach so. Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, oder?« Der Junge wusste darauf keine Antwort, also schwieg er. Dann entschied er sich. »Komm, wir gehen zurück zu den anderen. Vielleicht folgt uns das Licht dann ja wieder. Wenn nicht, dann sind wir wohl einer Täuschung erlegen.« »Täuschung?« Ceridwen glaubte nicht daran. »Niemals. Und komm mir nicht mit irgendwelchen Glühwürmchen-Geschichten. Das war eine Fackel, kein Zweifel.« Später dann übernahm Cedric die zweite Wache und ließ Brianna schlafen, als sie an der Reihe gewesen wäre. Er war eh hellwach. Wie konnte man auch schlafen, wenn vor einem vielleicht die Piraten lauerten und im Rücken eine unbekannte Gefahr drohte? Der folgende Tag war nicht einfach zu bewerkstelligen, denn es war wichtig die Kinder so ruhig wie nur möglich zu halten. Niemand von ihnen wusste ja, wie weit oder nah die Marodeure entfernt waren. Juna und Nopricht taten alles, um die Kinder still und leise zu beschäftigen. Nopricht brachte es sogar fertig, eine Art Schulunterricht abzuhalten, doch den gestaltete er an diesem Tag lustig und lange nicht mit der ihm sonst eigenen Ernsthaftigkeit. Mutter erzählte Geschichten, man aß von den mitgebrachten Vorräten und hielt einen ausgedehnten Mittagsschlaf. Nur die drei Ältesten der Fynn-Kinder verbrachten diesen Tag wachend vor dem Höhlenausgang. In der Dämmerung wagte Cedric einen kurzen Erkundungsgang außerhalb der schützenden Kaverne. Alles schien ruhig zu sein. In der Ferne war erneut Rauch am Himmel zu erkennen, doch von den Freibeutern keine Spur. Etwas wie ein Hoffnungsschimmer keimte in Cedric auf. Jetzt
musste nur noch Vater erscheinen und seine Familie aus ihrem Versteck holen. Schwermütige Gefühle drückten auf Cedric, als er zurück in die Höhle ging. Vater … eine schreckliche Vorahnung sagte ihm, dass Connor Fynn niemals hier ankommen würde. Der Junge konnte dieses Gefühl nicht begründen, doch es lastete schwer und düster auf ihm. Der Abend wurde zu einer Replik des vorherigen. Doch als schließlich alle schliefen war es Brianna, die wie selbstverständlich die Wache am Ausgang übernahm. Cedric und Ceridwen hatten sich da schon lange unbemerkt abgesetzt. Sie waren in die hinteren Höhlen eingedrungen und hatten sich dort versteckt. Wenn die Ereignisse der vergangenen Nacht sich wiederholen sollten, dann würden sie vor Ort sein und das Rätsel um das Licht lösen können. Cedric lag hinter einem natürlichen Felsvorsprung, der ihn für den Rest der Höhle unsichtbar machte. Er kämpfte … es war die Müdigkeit, die ihn zu überwältigen drohte. In den vergangenen Nächsten hatte er kaum Schlaf gefunden, was sich nun rächte. Mit Gewalt hielt er sich wach, doch da war ganz einfach nicht mehr genügend Kraft in seinem noch jungen Körper; keine Reserven mehr, mit denen er sich gegen den drohenden Schlaf zur Wehr setzen konnte. Cedric schlief ein, doch der Schlaf fiel nicht tief in ihn hinein, blieb an der Oberfläche. Er schrak hoch, als er Ceridwens Stimme hörte. »Keinen Schritt mehr weiter. Bleibt wo ihr seid!« Ceridwens Stimme verriet nichts von der Angst, die sie in dieser Sekunde mit Sicherheit verspürte. Cedric sprang hoch und eilte in die nächste Höhle, die dem Ausgang näher lag. Er sah Ceridwen, die ihre Waffe erhoben hatte … und er sah sie. All die Mythen und Legenden, die Horrorgeschichten, die man Kindern erzählte, kamen ihm in den Sinn. Es waren vier Gestalten. Untote, Leichenfresser … Kinderkauer … die ganzen Namen vielem ihm ein. So hatte er sich diese Wesen immer vorgestellt. Gekleidet in Fetzen, schwankender Gang, übler Gestank, der von ihnen ausging. Eine der Gestalten brach plötzlich zusammen und blieb schmerzverkrümmt liegen. Ein Wimmern drang an Cedrics Ohren – ein nur
zu menschliches Wimmern. Am liebsten wäre er helfend dazu gesprungen, doch er blieb an seinem Platz. Das Größte der Wesen hatte ihn bemerkt und wusste nun, dass sie von zwei Seiten bedrängt wurden. Verzweifelt hob es beide Arme. Die Stimme kam brüchig, aber durchaus deutlich bei Cedric und Ceridwen an. »Bitte, wir wollen euch doch nichts tun. Kommt uns nicht zu nahe … bitte.« »Sie haben die Pest! Bleibt von ihnen weg!« Die Stimme kam aus der ersten Höhle. Cedric konnte seine Mutter sehen, die seine Geschwister um sich geschart hatte. Der Lärm hatte alle aufgeweckt. Juna scheuchte die Kleinen zurück in die Kaverne. Nur Nopricht hielt sich nicht an die Warnung. Der Alte stellte sie direkt neben Ceridwen. »Wo kommt ihr her?« Noprichts Worte klangen beruhigend und nahmen den Stress aus der ganzen Situation heraus. Der Sprecher der Untoten ließ die Arme sinken. Jetzt wirkte er auf Cedric eher wie ein Häuflein Elend als wie ein Monster. »Ein kleiner Ort, fünf Wegstunden von hier, ist unsere Heimat. Doch als wir die ersten Anzeichen der Seuche aufwiesen, jagten uns die restlichen Bewohner fort. Wir waren 44 Männer, Frauen und Kinder … jetzt leben noch 21 von uns. Nirgendwo wollte man uns haben, also sind wir in diesen Höhlen gelandet. Hier werden wir sterben. Erst gestern ließen drei ihr Leben. Wir wollten sie in der Nacht draußen begraben, doch dann haben wir euch entdeckt und uns zurückgezogen.« Nopricht nickte. Was der Mann da berichtete, war in diesen Tagen das Schicksal vieler. Die Angst vor der Pest war grenzenlos – wer sich angesteckt hatte, der wurde verjagt, selbst wenn es die eigenen Eltern, ja, die eigenen Kinder waren. Niemand wusste, wie die Seuche sich verbreitete. Es gab unzählige Theorien: durch die Luft, durch das Trinkwasser … vielleicht durch Berührung eines Erkrankten oder war der Grund eher in Schmutz und mangelnder Hygiene zu suchen? »Ihr habt euch in der hintersten Höhle verkrochen?« Der Mann nickte. Nopricht wollte diese elenden Menschen nicht auch noch bestrafen. »Bleibt dort, bis wir wieder fort sind. Aber gebt Acht – wir
sind auf der Flucht vor marodierenden Freibeutern. Verhaltet euch also still. Und nun, denke ich, sollten wir alle versuchen, diese Nacht noch ein wenig zu schlafen. Morgen werden wir euch Wasser und ein paar Lebensmittel hier in diese Höhle bringen.« Nopricht drehte sich um und verließ die Kaverne. Cedric schloss sich seinem alten Lehrer an. Nur selten hatte er den Mann so konsequent und bestimmend erlebt wie hier. Cedric war froh, dass er es nicht war, der diese Entscheidung fallen musste. Cedric war hellwach und übernahm freiwillig die nächste Wache. Ganz sicher würde es ihm nicht noch einmal passieren, dass ihn der Schlaf übermannte. Kurz vor Sonnenaufgang allerdings glaubte Cedric für einen kurzen Augenblick, dass er einen Wachtraum hatte. Er hörte Stimmen … grölender Gesang, so schief, so schräg, wie er nur aus den Kehlen von betrunkenen Männern kommen konnte. Wie versteinert lauschte er, bis er ganz sicher war: Die Stimmen kamen näher. Wenn er sich nicht vollkommen irrte, dann würden sie in wenigen Minuten hier sein. Cedric kannte das Lied nicht, dass dort zum Besten gegeben wurde, doch auch wenn er die Worte nicht verstehen konnte, klang das für ihn nach Salzwasser, nach brausender Gischt, Stürmen und Rum. Genau diese Lieder ordnete man den Freibeutern zu – und die kümmerte es nicht, ob sie nun singen konnten oder auch nicht. Sie taten es einfach. Cedric weckte Ceridwen und Brianna. Die Mädchen waren geschockt, denn sie alle hatten gehofft, hier tatsächlich unbehelligt bleiben zu können. »Vielleicht ziehen sie ja auch vorüber.« Brianna glaubte selbst nicht so ganz, was sie da sagte. Aber es konnte durchaus so kommen, denn der Höhleneingang war nicht einfach zu entdecken. Cedric wollte auf einen so großen Glücksfall nicht vertrauen. »Weckt die anderen, bringt sie in die dritte Höhle. Sie sollen sich absolut still verhalten. Niemand darf auch nur einen Laut von sich geben, denn sonst sind wir alle verloren.« Brianna und Ceridwen verschwanden im Dunkel der Höhle. Cedric lauschte gebannt. Er konnte fünf oder sechs verschiedene Stimmen ausmachen, doch es mochten durchaus weit mehr Männer sein,
die jetzt ganz dicht bei der Höhle angekommen waren. Geht weiter … einfach weiter … Ein dumpfer Schlag ließ Cedric die Luft anhalten. Das hatte geklungen, als wäre jemand reichlich unkontrolliert zu Boden gegangen. Und in der folgenden Sekunde bestätigte sich dieser Verdacht. »Hah, Glenn … bist du so besoffen, dass du über die eigenen Stiefel stolperst?« Das hämische Lachen der Kerle dröhnte bis tief in die Höhlen hinein. Der so mit Spott Überschüttete stimmte sogar mit ein, doch dann wurde er ernst. »Ich will euch mal was sagen. Mir stinkt die ganze Sache hier gewaltig.« Zustimmendes Knurren antwortete ihm. »Was sollten wir hier vorfinden? Reiche Geldsäcke, prall gefüllte Vorratskammern und die schönsten Weiber von ganz Britannien? Und was haben wir bisher gefunden? Arme Schlucker, Bauern, Bergmänner, die allesamt nichts als Motten in ihren Sparstrümpfen haben. Es macht ja nicht einmal richtigen Spaß, denen die Kehlen durchzuschneiden. Und die Weiber … na ja …« Ein tiefer Rülpser beendete den Vortrag. Eine andere Stimme klang auf. »Glenn hat Recht. Man hat uns unter falschen Behauptungen hier an diese Küste gelockt. Unser Käpt'n wird das hoffentlich auch so sehen, damit wir hier wieder verschwinden können. Außerdem … ich glaube nicht, dass die verfluchte Pest hier wirklich noch nicht angekommen ist. Leute, das alles hier bringt uns nur Ärger.« Der noch immer am Boden liegende Glenn versuchte nun doch langsam wieder auf die Beine zu kommen. »Egal, wir führen die Order vom Käpt'n aus – morgen treffen wir ihn ja, mal sehen, ob er nicht auch die Schnauze von dieser öden Gegend voll hat.« »Wir sollten rasch wieder in See stechen.« Ein dritter Mann mischte sich ein. »Außer dem Schwarzen Tod werden wir hier nichts erbeuten können.« Erneut wurde zustimmendes Knurren laut. Cedrics Gedanken rasten. Man hatte die Freibeuter also tatsächlich an diese Küste gelockt. Aber wer? Und wer hatte die Unverfrorenheit besessen den Männern auch noch zu sagen, Cornwall wäre noch immer frei von der Pest? Der Junge schickte ein Stoßgebet zum Himmel …
wenn die doch jetzt nur weiterzögen … Doch das Glück war nicht auf der Seite derer, die sich hier versteckt hielten. Glenn rappelte sich hoch und schwankte dabei verdächtig. Keiner seiner Kameraden kam auf die Idee, dem reichlich Alkoholisierten eine Hilfestellung zu geben. Wer alleine saufen konnte, der konnte auch alleine laufen. Glenn machte einen unbeholfenen Schritt nach links – und unter seinem rechten Fuß befand sich plötzlich kein Untergrund mehr. Es sah reichlich dumm aus, als er erneut auf die Nase fiel. Das Gejohle der anderen Piraten war dementsprechend laut und mit Schadenfreude durchtränkt. Doch nun lachte Glenn nicht mehr mit. »Ruhe! Schaut doch mal hier … was habe ich denn da entdeckt?« Er versuchte seinen Fuß aus dem Loch zu ziehen, in das er getreten war. »Der Eingang zu einer Höhle. Schau einer an. Also gibt es ja doch vielleicht noch etwas Spannendes in dieser tumben Gegend zu entdecken. Wollen mal nachsehen, ob da unten nicht einer seine Habseligkeiten vor ehrlichen Piraten versteckt hält.« Die anderen johlten vor Vergnügen und halfen Glenn den Eingang freizulegen. Von dort war Cedric bereits geflohen. Er folgte seiner Familie in die hinteren Höhlen. Im Geiste verfluchte er die eigene Dummheit. Sie hätten niemals die Erste der Höhlen als Lagerplatz benutzen dürfen, denn nun würden die Freibeuter sofort sehen, dass sich hier Menschen versteckt hielten. Es war genau das geschehen, was er hätte verhindern müssen – er, denn ihn hatte Vater als Verantwortlichen auserkoren. Und nun hatte er nicht einmal den Ansatz einer Idee, wie sie alle aus dieser Situation herauskommen sollten. Die Seeleute waren betrunken, frustriert und blutrünstig … das alles würden sie an den Fynns auslassen. Cedrics Hand krallte sich um den Messergriff. Er fühlte sich so hilflos. Ceridwen erwartete ihn bereits am Durchgang zur zweiten Höhle. »Was nun?« Cedric sah die Verzweiflung in ihren Augen und die Angst. Was Piraten Frauen antaten, das hatte sie bereits am eigenen Leib erfahren müssen. Cedric nahm sich in dieser Sekunde vor, das Mädchen davor zu behüten – und wenn es seine Klinge sein musste,
die ihrem Leben ein Ende setzen würde. Lebend sollten die Freibeuter sie nicht in ihre dreckigen Finger bekommen. Cedric dachte an seine Schwestern, an Mutter. Er konnte jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen. »Ich weiß nicht – einfach weiter in die hinteren Höhlen. Wir können nur hoffen, dass die Piraten die nicht entdecken.« Cedric wusste genau, dass er da nur auf Sand baute, doch eine Alternative fiel ihm nicht ein. Er drängte Ceridwen nach hinten. Genau in diesem Augenblick platzen die Freibeuter wie ein Rudel Ratten in die Höhle. »Los, Fackeln entzünden.« Das war die Stimme von Glenn. Und der schien hier auch das Kommando übernommen zu haben. Aus der Deckung heraus sahen die Kinder, wie mehrere Fackeln aufloderten. Glenn stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er die Habseligkeiten der Fynns entdeckte. »Wusste ich's doch gleich. Mal sehen, ob wir hier keine fette Beute machen können.« In Sekunden verteilten sich die Ratten der See in der Kaverne, leuchteten jeden Winkel aus. Nichts entging ihnen. Cedric und Ceridwen begannen zu laufen. In der dritten Höhle wartete Juna mit ihren Kindern. Sie wusste genau, was nun geschehen würde. »Los, Kinder, weiter in den Berg hinein.« Cedric fing einen Blick des alten Nopricht auf, in dem glasklar geschrieben stand, dass der Lehrer mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Plötzlich stoppte die hastige Flucht. Die Fynns standen den Pestkranken gegenüber. 21 Gestalten, die aus einer anderen Welt zu stammen schienen. Ihr Sprecher wandte sich an Juna und Nopricht. »Bleibt mit den Kindern hier und verhaltet euch still. Lasst uns das machen. Ihr seid freundlich zu uns gewesen … und nun wollen wir versuchen eure Leben zu retten.« Die wandelnden Leichen warteten keine Erwiderung ab, sondern gingen in einer Reihe an den Fynns vorbei. Die Prozession der Todgeweihten bewegte sich auf die Freibeuter zu – was gab es noch, das sie zu verlieren hatten? Ihre Leben? Cedric spürte den Schauer, der ihm bei diesem Anblick über den Rücken lief. Und er fühlte die Nähe der Seuche … viel zu nahe an Mutter und seinen Geschwistern. Die Fynns hockten sich auf den Boden und lauschten. Wieder war es die alkoholgeschwängerte Stimme Glenns, die sie bis weit hinein
in das Höhlensystem laut und deutlich vernehmen konnten. »Halt – keinen einzigen Schritt weiter.« Offenbar hatten die Piraten die Pestkranken entdeckt. Cedric hielt es nicht aus, er musste sehen, was dort vorne geschah. Wie ein Schatten huschte er vor und hielt erst an, als er den Schein der Fackeln erkennen konnte. Er blickte in verwilderte Piratengesichter, die auf Raub und Mord aus waren. »Was für Gestalten seid denn ihr? Los, raus damit, ehe wir euch die Kehlen durchschneiden.« Er erhielt zustimmendes Brummen seiner Kameraden. Der Sprecher der Kranken sprach ruhig und ohne jede Angst in seiner Stimme. »Wir sind hier, um in Frieden zu sterben. Überall hat man uns verjagt, erst hier fanden wir die Ruhe, die wir uns ersehnt haben. Und nun kommt ihr. Wollt ihr uns töten? Wozu? Wir sind doch bereits tot.« Die Freibeuter scharten sich alle hinter Glenn. Was sie hier erlebten, das war ihnen nicht geheuer – es passte zu sehr in die Schauergeschichten, die man sich auf See erzählte. Sie spuckten in die Stürme, lachten über Könige und Generäle … doch die Welt der Schatten fürchteten sie. Glenns Stimme zeigte eine Spur Verunsicherung. »Sterben? Warum? Seid ihr … krank? Oder einfach nur lebensmüde? Sprich schnell, denn mein Messer schreit nach Blut.« »Ob wir krank sind?« Der Mann machte zwei Schritte auf Glenn zu, der instinktiv nach hinten ausweichen wollte, doch dort standen seine Kameraden. Sein Gegenüber wirkte auf einmal bedrohlich und schien in die Höhe zu wachsen. Die Fackeln warfen die Schatten zuckend an die Wand, was das ganze Bild noch irrealer werden ließ. Mit einer raschen Bewegung schob der Mann die Kapuze seiner zerschlissenen Kutte in den Nacken und öffnete das Gewand über seiner Brust. »Siehst du es nun? Muss ich dir den Namen der Geißel wirklich noch nennen, die in diesem Land tobt? Schau nur gut hin, denn vielleicht siehst auch du bald so aus – schau hin!« Für lange Sekunden herrschte absolute Stille in der Kaverne. Die
Freibeuter starrten auf den Mann, auf seinen Hals, seine Arme, an denen die hässlichen blauschwarzen Beulen nicht zu übersehen waren, aus denen eitriger Ausfluss rann. Dann, wie auf ein stilles Kommando hin, wirbelten die Piraten herum und stürzten aus der Höhle; manche schrien vor Angst, anderer versuchten sich an Gebete zu erinnern, die ihnen einst die Mutter beigebracht hatte. Nur Glenn stand mit noch immer erhobenem Dolch da und hatte die Augen weit aufgerissen. »Die Pest … aber die soll es hier nicht geben … man hat uns belo…« Weiter kam er nicht, denn die Klinge rutschte ihm aus den plötzlich schweißnassen Fingern und fiel klirrend zu Boden. Glenn rannte wie von Teufeln gehetzt zum Ausgang. Als Letzter der Freibeuter floh er aus der Höhle. Langsam verebbten die Schreie der Piraten. Cedric atmete tief durch. Hier waren sie von nun an vor den Mordbuben sicher. Doch etwas anderes schnürte ihm regelrecht die Kehle zu. Waren er und seine Familie den Verseuchten zu nahe gekommen? Wie übertrug die Pest sich von einem Menschen zum anderen? Juna und die Kinder waren in die erste Höhle zurückgekehrt und standen den Erkrankten gegenüber. »Ihr habt uns gerettet, wie können wir euch danken?« Der Mann hatte sein Gewand wieder geschlossen und seinen Kopf verhüllt. »Überhaupt nicht. Ihr schuldet uns nichts, denn ihr wolltet uns helfen, wozu kein anderer zuvor bereit war. Wir kehren in den hinteren Teil des Berges zurück, denn in unserer Nähe seid ihr gefährdet.« Wortlos kehrte die Gruppe zurück. Ceridwen trat zu Cedric. »Wie lange sollen wir hier bleiben? Wenn dein Vater nicht bald kommt, dann müssen wir es alleine wagen. Wir können mit den Kindern nicht noch ein paar Tage hier unten bleiben. Das halten die nicht durch.« Cedric nickte, denn natürlich stimmten Ceridwens Aussagen exakt. Aber sollten sie auf eigene Faust handeln? Und wohin sollten sie sich wenden? Zurück in ihr Haus? Nicht ehe die Freibeuter die Küste wieder verlassen hatten. Es gab
nur eine Möglichkeit. Cedric wollte nun nicht mehr zögern. »Ich werde zurück zum Bauplatz gehen.« Ceridwen wollte protestieren, aber Cedric legte ihr sanft die Hand auf die Lippen. »Alleine … denn du musst hier wachsam bleiben. Halte die Familie zusammen – die Kleinen werden immer unruhiger. Ich brauche dich hier. Ich werde Vater suchen. Und ich werde ihn finden … wo auch immer. Wenn die Piraten abziehen – und das werden sie, wenn sie von der Pest erfahren – komme ich sofort zurück. Und nun werde ich gehen, ohne Abschied. Erkläre du Mutter, was ich tun will.« Ceridwen sagte kein einziges Wort, als Cedric seine Hand von ihrem Mund nahm. Doch sie tat etwas anderes. Sie schmiegte sich an ihn an und ihre Lippen trafen auf die seinen. Etwas schien in Cedrics Kopf zu explodieren, als er den ersten richtigen Kuss seines Lebens erhielt. So weich, so süß – er wollte, dass dies hier nie ein Ende finden musste. Als Ceridwen sich langsam von ihm löste, da wusste Cedric genau, dass er nur mit ihr sein Leben verbringen wollte. Mit Gewalt zwang er sich sein Vorhaben nun in die Tat umzusetzen. Am Ausgang drehte er sich noch einmal um. Ceridwen leuchtete wie von innen heraus, wie ein Wesen einer anderen, einer besseren Welt. »Ich komme wieder. Ich komme zu dir zurück … nur zu dir.« Dann stand er außerhalb der Höhle und orientierte sich. Dann holte er das Pferdegespann aus dem Versteck und spannte die Tiere vor den Karren. Zur Küste würde er so nicht viel mehr als eine Stunde brauchen.
Im Licht der Sonne erschien die halb fertige Kathedrale wie ein mächtiges Bollwerk des Herrn. Wer sich ihr jedoch näherte, dem wurde schnell klar, in welchem Zustand sie sich noch befand. Cedric hatte dafür keinen Blick übrig. Aus seiner Deckung heraus sondierte er das Territorium um den Bau herum. Die Schiffe lagen noch immer vor Anker, doch dort, wo der Steilpfad nach unten führte, gab es hektische Aktivitäten. Die Freibeuter waren bemüht, all ihre Beute – so mager sie auch
ausgefallen war – in geschlossenen Kisten an dicken Tauen nach unten zu transportieren; links und rechts davon sicherte je ein Pirat, in abenteuerlicher Weise an dem Fels hängend und ebenfalls nur mit einem Seil gesichert, den korrekten Ablauf dieser Aktion. An Geschicklichkeit waren diese Leute wirklich kaum zu überbieten. Wie Cedric es sich schon gedacht hatte, war der Rohbau der Kathedrale zum Stützpunkt der Freibeuter geworden. Vor dem Eingang sah der Junge Glenn stehen. Der Mann wirkte nun stocknüchtern. Der Schreck, der ihm in die Glieder gefahren war, hatte wahrscheinlich jeden Tropfen Alkohol neutralisiert. Neben ihm stand ein großer Mann, der Glenn beinahe um Haupteslänge überragte. Er hatte kein einziges Haar auf dem Kopf, wirkte durchaus muskulös, doch man konnte einen leichten Fettansatz nicht übersehen. Er war nicht edler oder aufwendiger gekleidet als die anderen Piraten, doch seine ganze Haltung ließ nur einen Schluss zu – er war der Kapitän der drei Schiffe. Cedric konnte sich so nahe heranschleichen, dass er jedes Wort verstehen konnte, das die beiden miteinander wechselten. Glenn schien sich von seinem Schrecken erholt zu haben. »Ein Reinfall sondergleichen, Käpt'n. Was, wenn sich einige der Männer diesen verfluchten Schwarzen Tod irgendwo hier geholt haben? Können wir denn in See stechen, ehe wir das sicher wissen?« Der andere antwortete mit einer enorm tiefen Stimme. »Wir müssen. Jeder weitere Tag hier kann uns die Seuche bringen. Wer weiß denn wo sie lauert?« Cedric jubelte innerlich. Sie wollten tatsächlich verschwinden. Die Seuche war ein Gegner, dem man seinen Säbel nicht in den Leib jagen konnte, sie hatte keine Kehle, die es aufzuschlitzen galt. Sie war nicht greifbar, nicht zu ermorden. Damit konnten die Freibeuter nicht umgehen. Glenn widersprach einem Kapitän natürlich nicht. Dennoch konnte er seine unbändige Wut nicht bei sich behalten. »Käpt'n, wo finden wir den Kerl, der uns hierher gelockt hat. Noch nie hat einer gewagt, uns so zu betrügen. Wo ist er? Ich würde ihn nur zu gerne für dich auf kleiner Flamme rösten!« Das war eine der bevorzugten Foltermethoden der Freibeuter in
diesen Jahren. Doch der Kapitän ging nicht weiter darauf ein. Vielleicht war es ihm einfach nur peinlich, falschen Informationen aufgesessen zu sein. Er schickte Glenn an die Abrisskante der Steilküste. »Gib Signal, dass wir schon in einer Stunde ablegen können. Alles soll bereit sein, wenn die letzte Kiste an Bord gebracht ist. Vor allem – alle Kanonen schussfertig machen! Los, geh schon.« Als er alleine war, wandte er sich dem unfertigen Kirchenbau zu. Cedric hörte die Worte, die der Mann wie zu sich selbst sprach, doch er konnte deren Sinn nicht einordnen. »So, du hast mich also betrogen. Nicht mehr sehr lange, dann wirst du erkennen, was das bedeutet. Du hast gelogen, mich und meine Schiffe hierher gelockt. Für uns alle würde sich dies lohnen, sagtest du. Und nun schleppen wir vielleicht die Pest mit an Bord … und die Beute ist lächerlich gering ausgefallen. Aber glaube mir – auch du wirst deinen Teil dafür bezahlen.« Dann wandte er sich dem steil nach unten führenden Pass zu und war Augenblicke später verschwunden. Cedric wartete geduldig ab, bis auch der letzte der Freibeuter seinem Kapitän gefolgt war. Ganz zum Schluss ging Glenn, der sich noch einmal umschaute, als warte er auf jemanden. Doch da war niemand mehr. Cedric schlich zur Abrisskante. Die Landungsboote legten schon bald darauf bei den Galeeren an und wurden an Bord geholt. Dann vergingen nur noch wenige Minuten, bis bei allen drei Schiffen die Anker gelichtet wurden. Cedric stieß einen triumphierenden Schrei aus. Ja, es war vorbei … nun konnte alles wieder so werden, wie zuvor. Jetzt musste er nur noch seinen Vater finden. Er wartete noch einige Minuten, bis wirklich klar wurde, dass die Schiffe sich von der Küste entfernten, dann sprang er hoch. Irgendetwas zog ihn zu der Kathedrale. Es war einfach ein Gefühl, ein dumpfes und bedrückendes Gefühl. Vorsichtig betrat er den Bau. Die Piraten hatten hier gelagert und entsprechend sah es auch aus. Zurückgelassen hatten sie nur Abfall, Essensreste und in den Ecken der Kathedrale ihre Exkremente. Anscheinend war es ihnen selbst zu viel gewesen, ein paar Schritte bis in den Wald zu laufen. Cedric wollte schon wieder gehen, denn hier gab es sicher nichts,
was für ihn interessant gewesen wäre, doch dann hielt ihn ein Wimmern auf, das an ein verletztes Tier erinnerte. Im hinteren Teil des sakralen Bauwerks, dort, wo einmal ein prunkvoller Altar hätte stehen sollen, konnte Cedric ein Holzgerüst erkennen, das die Piraten offenbar hochkam mit eisernen Krampen an der Wand befestigt hatten. Cedric näherte sich der Stelle vorsichtig und mit Bedacht. Piraten machten keine Gefangenen, es sei denn, sie versprachen sich etwas davon. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, der arme Teufel dort wäre bereits tot, doch noch schien Leben in ihm zu sein. Als Cedric nur noch drei Schritte von dem Gequälten entfernt war, schrie er entsetzt auf. Der Mann auf dem Holzgerüst war sein Vater! Cedric stürzte nach vorne. »Vater, ich mache dich los … alles wird wieder gut.« Doch als er direkt bei Connor Fynn angekommen war, da erkannte Cedric, dass nichts und niemand seinen Vater mehr würde retten können. Sie hatten ihn furchtbar zugerichtet. Drei Finger waren abgeschnitten worden, das linke Ohr fehlte … ganze Hautbahnen an seinen Armen und Beinen waren abgeschält. Cedric musste sich bemühen, um sich nicht zu übergeben. Connors Haare waren abgesengt worden, überall entdeckte Cedric tiefe Schnitte und Stichwunden, die allesamt so geschickt gesetzt worden waren, dass der Baumeister zwar leiden musste, aber keine Gefahr für sein Leben bestand. »Bei allen Teufeln der Hölle, Vater … warum haben sie dir das angetan?« Mit großer Vorsicht löste Cedric die Fesseln seines Vaters. Connor glitt schließlich zu Boden. Cedric beugte sich tief über ihn, damit er seine Worte verstehen konnte. »Sie glaubten ich könne ihnen verraten, wo in der Gegend große Schätze zu holen seien. Als sie merkten, dass ich das nicht wusste, haben sie aus Spaß weitergemacht. Sohn, hör mir zu.« Connors spuckte Blut und brauchte lange, bis er wieder sprechen konnte. Hilflos sah Cedric zu, wie das Leben aus seinem Vater floh. »Hör zu. Du musst von hier verschwinden. Sie werden … ich hatte immer Angst vor diesem Bauplatz …« Erneut schüttelte ihn blutiger
Husten. »Dann geh zu Nopricht und sage ihm, er soll dir das Geheimnis nun verraten, denn du bist alt genug. Sage meinen Kinder … sage Juna … dass ich sie alle …« Connor Fynns Kopf fiel haltlos zur Seite. Cedric saß lange so da und hielt seinen Vater fest. Er hätte schreien sollen, weinen, toben … doch nichts davon vermochte er zu tun. Er starrte nur auf den geschundenen Körper seines Vaters und konnte nicht fassen, was in so kurzer Zeit aus seiner heilen Welt geworden war – sie war fort, mit Vaters Tod endgültig verweht. Immer wieder gingen ihm die letzten Worte des Baumeisters durch den Kopf. Was hatte er gemeint? »Sie werden … ich hatte immer Angst vor diesem Bauplatz …« Connor hatte seinen Sohn warnen wollen. Er hatte ihn gedrängt, aus der Kathedrale zu verschwinden, doch warum? Natürlich wusste Cedric, dass Vater die Kathedrale nur unter Zwang so nahe an der Abrisskante errichtet hatte, doch so wirklich verstanden hatte er die Bedenken des Baumeisters nie. Ein hässlicher Pfeifton riss Cedric aus seiner Lethargie. Zunächst noch kaum zu vernehmen, wurde der Klang rasend schnell lauter, wie das bösartige Summen eines angreifenden Wespenvolkes. Dann kam der Einschlag. Cedric warf sich seitlich zu Boden, denn er fürchtete, der gesamte Bau würde über seinem Kopf einstürzen. Die Kanonenkugel hatte den nach Westen liegenden Teil des Kirchenbaus getroffen und schlug ein riesiges Loch in das Mauerwerk. Ehe Cedric überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, kam das zweite Geschoss, doch das verfehlte sein Ziel. Dennoch war es nahe genug eingeschlagen, um die Kathedrale erneut ins Wanken zu bringen. Der Junge handelte instinktiv wie ein gejagtes Tier. Blitzschnell war er auf den Beinen und sprang über alle Hindernisse dem Ausgang zu. Nun begriff er auch den Befehl, den der Kapitän gegeben hatte: alle Geschütze feuerbereit. Das war also die Rache des Freibeuters, sein Abschiedsgeschenk der ganz besonderen Art. Cedric war kein Experte, wenn es um das Feuern aus Geschützen ging, doch ihm war klar, dass es sicher nicht leicht war von einem Schiff aus präzise Treffer zu erzielen, wenn
das Ziel so weit oben lag. Doch die Freibeuter mussten die Kathedrale ja überhaupt nicht direkt treffen. Das wurde Cedric bewusst, als die dritte und vierte Kugel kamen. Sie trafen den Felsen dicht unterhalb der Abrisskante. Die Wirkung war verheerend. Cedric wurde durch die Einschlagenergie zu Boden geworfen. Dann sah er den Riss im Felsboden … und er begriff die Mahnung seines Vaters an ihn. Connor musste gewusst haben, was die Freibeuter planten. Die nächsten Kugeln schlugen in den Fels und die Welt um Cedric herum vibrierte. Er erinnerte sich an das, was Vater bei jedem Besuch der Baustelle getan hatte. Connor hatte akribisch genau den Boden um die Kathedrale untersucht. Die Arbeiter und Händler hatten sich schon über ihn lustig gemacht, doch nun zeigte sich, wie richtig die Befürchtungen Connors gewesen waren. Sicher hatte er nicht an Kanonenkugeln gedacht, vielleicht eher an ein Schiff, das bei Sturm gegen den Felsen geworfen wurde – oder auch an den Zahn der Zeit, der auch vor dem Fels keinen Halt machte. Auf jeden Fall hatte ihm das enorme Gewicht der Kathedrale Kummer gemacht, doch das spielte in diesem Moment auch keine Rolle mehr, denn die Freibeuter machten die schrecklichsten Befürchtungen Connor Fynns wahr. Cedric war kein Baufachmann, wie sein Vater es gewesen war, doch er konnte es sich an den Fingern einer Hand abzählen, was hier geschehen musste. Wie zur Bestätigung begann die Kathedrale zu schreien – ja, es klang, als würden die Mächte der Hölle ein schreckliches Wehklagen anstimmten. Die Steine begannen sich zueinander zu verschieben. Cedric starrte wie ein von seinen Jägern gestelltes Kaninchen auf den Bau. Er konnte es sehen – ganze Steinreihen veränderten ihre Lage, drücken sich von innen nach außen oder umgekehrt. Die Stabilität schwand mit jeder Sekunde und jeder neuen Kanonenkugel, die gegen den Fels donnerte. Der Boden schwankte und mit ihm das Bauwerk, das zum Grab für seinen Vater geworden war. Dann plötzlich schien Cedrics Hirn endlich den Impuls umzusetzen, den Worten seines Vaters Folge zu leisten. Der Wald hinter der Kathedrale, dort musste sein Ziel liegen, denn dort endete das felsige Gebiet. Cedric war sicher, dass ihm nur
noch sehr wenig Zeit blieb. Ein zweiter Riss war entstanden, und der lief bis weit unter den Kirchenbau. Das konnte nur die Katastrophe bedeuten. Cedric Fynn lief um sein Leben. Als er exakt auf der Mitte der Längsseite war, kam der Todesstoß für die Kathedrale an Cornwalls Küste. Ein letzter cannon ball, abgefeuert von einem wahren Meisterschützen in Reihen der Freibeuter, flog in perfekter ballistischer Kurve exakt vor das große Hauptportal. Die Explosion war verheerend. Cedric beschleunigte seinen Lauf noch einmal, dann sah er die erste Baumreihe. Wie in Trance realisierte er alles zur gleichen Zeit, auch wenn der wahre Zeitablauf verlangsamt schien. Die Bäume kamen näher – neben Cedric platzte der Kirchenbau, als wäre er eine hohle Nussschale. Steine regneten vom Himmel, einem großen konnte der Junge noch ausweichen, doch ein weiterer, groß wie eine Faust, traf ihn im Genick. Noch ehe er die Besinnung verlieren konnte, sprang Cedric. Hart schlug er auf dem Rücken auf. Etwas schlug brutal hart auf sein linkes Bein, doch er konnte sich nicht aufrichten, um zu sehen, was geschehen war. Er konnte es nur ahnen, denn auch links und rechts neben ihm gruben sich Steinsegmente in den Waldboden. Er hatte es geschafft die Felsplattform hinter sich zu lassen, doch zu welchem Preis? Cedric spürte sein linkes Bein nicht mehr, vor seinen Augen tanzten Feuerfunken, die ihn einluden, sich seinem Ende zu ergeben. Die Schmerzen füllten seinen kompletten Körper aus. Geh zurück – geh nach hinten – ich halte das aus … Erneut klang diese Stimme in ihm auf, erneut ergab er sich ihrer Logik – er glaubte ihr … wollte ihr ganz einfach glauben. Infernalischer Lärm machte ihn taub. Es war der Moment, in dem der Felsvorsprung nachgab und samt dem Bauwerk in die Tiefe raste. Die See nahm alle in sich auf – die See machte da keine Unterschiede, ob man ihr Dinge der Hölle oder des Himmels übergab. Sie fraß sie alle. Das allerdings erlebte Cedric nicht mehr mit …
Das Wesen lief geduckt; es schien ganz so, als hätte es vor langer Zeit seinen aufrechten Gang abgelegt und sich entschieden, die Nase immer nahe am Boden zu haben. Es hüpfte durch die eng beieinanderstehenden Bäume und stoppte dann abrupt, denn vor ihm tat sich der Abgrund auf, der in einer wütend peitschenden See sein Ende fand. Das Wesen kicherte und klatschte heftig in die Hände. »Hey, da hat sich der Teufel aber einen feinen Spaß gemacht. Einen riesigen Tempel wollten sie ihrem Gott errichten, oh ja, wie dumm. Wie dumm, dies hier zu versuchen, ausgerechnet hier!« Sein Kichern wollte einfach nicht enden. Mit dem Fuß schob er einen Steinbrocken über die Kante, der lange fiel, bis er das Wasser erreicht hatte. »Plumps – weg ist er! Wie eitel dieses Christenpack doch ist. Doch schließlich kam es wie es kommen musste – plumps – weg ist die schöne, schöne Kathedrale.« Plötzlich wurde das Wesen übergangslos ernst und wandte sich dem Wald zu. Es hatte gesehen, was es sehen wollte. Der Spaß war vorüber. Doch plötzlich stutzte die Kreatur. Zwei drei Hüpfer nach links brachten sie an ihr Ziel. »Schau an, schau an … ein junges Menschlein. Hier, so nahe am Abgrund? Aber das wird dir gleich sein, denn du hast es ja bereits hinter dir, wie ich sehe.« Sie duckte sich noch ein wenig tiefer zu dem vermeintlich toten Mensch hinunter. Dann kicherte sie erneut laut auf. »Aber nein – du lebst ja noch … irgendwie zumindest. Seltsam, seltsam. Ach je, und der Hinterkopf … dein Bein … das sieht alles gar nicht gut aus, kleiner Mann. Weißt du was? Ich habe ziemlich großen Durst. Da kommst du mir ja eigentlich sehr zu pass. Heute habe ich aber auch wirklich großes Glück.« Die Kreatur ging auf die Knie und näherte ihren Kopf dem des Jungen. »Ein hübscher Hals, ja wirklich, sehr fein.« Dann hielt sie inne. »Was schaust du mich denn so traurig an? Glaubst du vielleicht, diese Wunden könntest du überleben, kleiner Freund? Nein, niemals! Dazu seid ihr Menschen doch viel zu schwach gebaut. Ein
bisschen Haut und Knochen … ein wenig Fleisch … und zum Glück viel schmackhaftes Blut. Doch wenn man euch auch nur ein wenig ankratzt, dann fallt ihr gleich um und verreckt. Gar nicht gut, nein, gar nicht gut. Oh, ich war ja auch einmal so schwach wie du, aber ich hatte Glück. Die Hölle schickte mir einen Engel ihrer ureigenen Nacht, und der machte mich stark.« Das Wesen erhob sich, blickte auf den Jungen, dessen Augen so voller Leben waren, auch wenn sie wie Seen aussahen, in die die Sonne nie hinein geschienen hatte. »Irgendetwas ist mit dir, nicht wahr? Du bist anders, oh, ich kann das spüren. Du glaubst, dein Leben sei noch nicht vorbei, du glaubst, da gibt es noch Dinge, die du unbedingt erledigen musst. Aber dein Leben ist beendet, glaube mir.« Das Wesen umrundete den Jungen einige Male, unentschlossen, was es nun tun sollte. Dann blieb es stehen und stampfte wütend mit einem Bein auf. »Ich bin einfach zu gut, zu nett. Das war ja schon immer so. Ich ändere mich bestimmt nie.« Noch einmal umkreiste die Kreatur den mehr toten als lebendigen Körper des Jungen. Schließlich zuckte das Wesen die knochigen Schultern hoch, ging erneut auf die Knie und näherte sich dem Gesicht des jungen Menschen. »Also gut, mein Kleiner. Ich werde dich nicht auslutschen und deine leere Hülle in den Abgrund werfen. Was dann von dir übrig wäre, das würde den Fischen auch keine große Freude mehr bereiten.« Er kicherte über seine Bemerkung, die er für einen wirklich gelungenen Spaß hielt. »Ich werde etwas anderes tun. Du denkst, da harren deiner wichtige Aufgaben in dieser Welt? Ich gebe dir die Chance, sie zu erledigen. Bin ich nicht ein Netter? Ach ja, du redest ja nicht mit mir.« Übergangslos wurde das Wesen ernst. »Ich mache dich zu einem von uns – zu einem Kind der Nacht … einem dunklen Engel, wie ich einer bin. Zu einem Vampir! Vielleicht gefällt dir diese Vorstellung ja nicht, aber die Alternative ist der Tod. Nun, du wirst mir noch dankbar sein, glaube mir. Nutze die Nacht, meide den hellen Tag. Irgendwann wirst du auch mit ihm umgehen können, so wie ich, aber glaube mir, die Sonne ist nicht unser
Freund. Doch genug geschwätzt – ans Werk!« Die Kreatur senkte ihre langen Fangzähne in den Hals des Jungen, dessen Körper keinerlei Reaktion zeigte. Lange Sekunden verharrten die beiden so, dann löste sich die Kreatur vom Menschen. Es waren nur zwei winzige Bluttropfen, die an ihren Zähnen hafteten, mehr nicht. Der Vampir erhob sich und sah auf den Menschen hinab. »Der Keim ist gesetzt – er wird aufgehen. Nun wünsche ich dir noch viel Glück, Bruder. Ich muss nun weiter, denn jetzt habe ich erst wirklich Durst auf den roten Saft bekommen.« Das Wesen wandte sich um und ging in den Wald hinein, der irgendwo nahe mehrerer kleinerer Ortschaften endete. Der Vampir kicherte. »Ach ja, ich sollte mir ein Schiff suchen, das mich in meine alte Heimat bringt. Ja, das werde ich machen. Britannien – welcher Höllenbraten hat mich denn nur geritten, ausgerechnet hierher zu kommen? Diese Leute … nein, ihr Blut ist nicht so gut für mich … zu kalt … wie ihre Soßen … bah!« Der Junge bekam das alles nicht mit, denn er hatte nun die Augen geschlossen, träumte einen Traum zwischen Schlaf und Tod … Oder träumte er einer ganz neuen Existenz entgegen?
2. Starless and Bibleblack Oder träumte er einer ganz neuen Existenz entgegen? Starless hatte wirklich große Mühe, sich aus seinen Erinnerungen zu lösen. Er tat es nur sehr widerwillig, denn so sehr er sich zunächst dagegen gesträubt hatte, so sehr wollte er sie nun nicht mehr unterbrechen. Vater, Mutter … die Geschwister … Ceridwen. Starless schüttelte über sich selbst den Kopf, doch er gestand sich ein, wie sehr ihm dieses bittersüße Erinnern gut tat. Er wusste, was auf den kommenden Seiten im Buch seiner Vergangenheit stehen würde, doch auch das wollte er noch einmal nahe an sich heran lassen. Es gehörte einfach zu ihm. Zu dem, was er einmal gewesen war, was aus ihm wurde. Der Blick auf die mit der Erdzeit synchronisierte Digitalanzeige verriet ihm, dass es jetzt nicht mehr sehr lange dauern würde, bis er seinen Einsatz starten konnte. Die Sonne würde aufgehen. Die Sonne ist nicht unser Freund … das waren die Worte dieser merkwürdigen Kreatur gewesen, die dem Vampirkeim in ihm verankert hatte. Starless hatte nie etwas über dieses Wesen erfahren. War es wirklich nur Zufall gewesen, dass – nachdem die Kathedrale in die See gestürzt war – ausgerechnet hier diese Mischung aus Blutsauger und Hofnarr aufgetaucht war? Er würde das sicher nie in Erfahrung bringen können. Die Sonne war nicht der Freund der Nachtkinder, doch Starless hatte schnell gemerkt, dass dies für ihn keine Bedeutung hatte. Noch konnte er seine Raumjacht nicht verlassen – es würde ihm nichts bringen, in der Dunkelheit nach einem Alpha zu suchen, der sich weiß Gott wo versteckt halten mochte. Er hatte es nicht mehr sonderlich eilig damit, Tan Moranos Auftrag zu erledigen. Und so schloss Starless erneut die Augen. Er ließ die Bilder zu sich kommen …
Immer wieder kam Cedric kurz zu sich, nur um dann wieder in dieses seltsame Stadium zu versinken, das er nicht betiteln konnte. Dreimal sah er die Sonne aufgehen, doch wie lange er tatsächlich so dagelegen hatte, konnte er nicht sagen. Noch immer fühlte er keine Schmerzen, doch ihm war natürlich klar, dass seine Wunden tödlich waren. Der große Brocken hatte wahrscheinlich seine Beine zerfetzt, der kleinere Stein sein Genick gebrochen … oder die Wirbelsäule. Warum aber starb er dann nicht? Cedric hatte der Kreatur das mit dem Vampirkeim natürlich nicht abgenommen. So jung er auch noch war, so genau konnte er zwischen Wahrheit und Märchen unterscheiden. Käfer krabbelten über sein Gesicht, Ratten setzten sich auf seinen Körper, doch sie bissen nicht zu. Irgendetwas hielt sie davon ab. Niemand schien es zu wagen, sich der Katastrophenstelle zu nähern. Also würde er hier so lange liegen, bis Durst und Schwäche ihn endlich sterben lassen würden. Wahrscheinlich ging die Bevölkerung der Gegend einfach davon aus, dass dieses Desaster niemand hatte überleben können. Sie alle hatten ihre eigenen Sorgen, lebten in ständiger Angst vor der Seuche. Da blieb keine Zeit um nach Leichen zu suchen. Irgendwann registrierte Cedric das Kribbeln in seinem linken Bein. Er sagte sich, dass dies eine Einbildung gewesen sein musste, doch kurz darauf wiederholte sich das Phänomen. Cedric konzentrierte sich, lauschte in sich hinein, doch er fand keine Erklärung. Von dieser Sekunde an zwang er sich dazu, nicht wieder in Traumwelten abzugleiten. Keinen einzigen Moment dieser Entwicklung wollte er versäumen. Noch ein weiteres Mal sah er die Sonne aufgehen, dann war das Kribbeln in seinem ganzen Körper. Es dauerte noch eine Weile, bis er einen Versuch wagte. Cedric setzte sich auf, stützte seinen Oberkörper links und rechts mit den Armen am Boden ab. Schließlich stand er auf, zunächst noch wackelig in Knien und auf den Füßen, doch das legte sich binnen Sekunden. Der Junge blickte an sich herab. Sein Körper war unversehrt!
Natürlich hatten die Treffer seine Kleidung gründlich ruiniert, doch durch die klaffenden Löcher schien heiles, gesundes Fleisch – Haut, die nicht einmal einen Kratzer aufwies. Cedric machte ein paar Schritte von der Abbruchstelle weg, bei der er gefährlich nahe stand. Er hätte längst nicht mehr leben dürfen, erst recht nicht unversehrt sein. Seine Gedanken überschlugen sich, als er jede Erinnerung hervorkramte, die mit den Schauergeschichten zu tun hatte, die er von seinem Vater oder dem alten Nopricht gehört hatte. Vampire … man sagte ihnen die unglaublichsten Eigenschaften und Fähigkeiten nach. Unter anderem eine magische Selbstheilungskraft ihrer Körper. Cedric taumelte, als die Erkenntnis zu ihm durchdrang. Er stützte sich an einem Baum ab, weil er fürchtete, seine Füße würden ihn im Stich lassen. Es ist die Wahrheit – das Wesen hat mich zu einem Blutsauger gemacht. Warum aber verspürte er nichts von diesem Blutdurst in sich, der Vampire umtrieb? Er fühlte Hunger, die Leere seines Magens, doch ihm war nach einem Stück Fleisch, einem Kanten Brot zumute, nicht aber nach warmem Menschenblut. Cedric riss sich zusammen. Was nun mit ihm geschehen würde, das musste er abwarten. Doch nun konnte er sich damit nicht befassen. Vater war tot – was aus Mutter, Ceridwen und seinen Geschwistern geworden war, konnte er nicht einmal erahnen. Wie viele Tage waren vergangen, seit er sie in der Höhle zurückgelassen hatte? Dorthin musste er nun gehen. Große Angst beschlich ihn … Die Pferde waren sicher mit in den Abgrund gerissen worden, also war er jetzt auf die Kraft seiner Beine angewiesen. Cedric orientierte sich kurz, dann ging er los. Er wunderte sich, dass nicht einmal Nopricht oder Ceridwen nach ihm gesucht hatten, doch vielleicht hatten sie die anderen nicht alleine lassen können. Mit dem Wagen war für Cedric der Weg kein Problem gewesen, doch nun musste er sich auf seine Füße verlassen, die das Gewicht des Jungen nur widerwillig nach vorne brachten. Zu geschwächt war er noch, so stark, dass er immer wieder eine Rast einlegen musste.
Als er schließlich die Höhlen erreichte, hatte die Dunkelheit das Land wieder in ihrem Griff. Das fahle Licht des Mondes besaß nicht genug Kraft um die Höhlen durch die Risse in den Decken auch nur annähernd auszuleuchten. Cedric passierte ungehindert den Eingang. Niemand hielt Wache. Das war ein schlechtes Zeichen. Er hatte erwartet von Ceridwen oder Brianna in Empfang genommen zu werden. Waren sie nur unvorsichtig geworden – oder … Als er in der ersten Höhle stand, warf auch Cedric alle Vorsicht über Bord. Seine Stimme brach sich unheimlich an den Wänden, der Decke. »Ceridwen! Mutter! Nopricht! Seid ihr hier? Ich bin es, Cedric!« Es vermittelte einen schrecklichen Eindruck von Einsamkeit, wenn die einzige Antwort der Widerhall der eigenen Stimme war. Vorher war Cedric das so noch nie klar geworden. Nackte Angst kroch in ihm hoch. Sie waren nicht mehr hier, doch wohin hätten sie ziehen sollen – zu Fuß und ohne den Pferdekarren? Cedric hastete zurück vor den Höhleneingang. Aus einem dünnen Ast und Gräsern bastelte er sich eine mehr als provisorische Fackel, die er tatsächlich mit Hilfe zweier Steine entzünden konnte. Lange würde sie nicht brennen, doch die Zeit musste einfach ausreichen. Als er zurück in der Kaverne war, enthüllte ihm der Feuerschein, dass seine Familie nur das Notwendigste mitgenommen hatte. Cedric stürmte in die zweite und dritte Höhle. Leichengestank schlug ihm entgegen. Was er fand, war einfach nur grausame Gewissheit, was die Pestkranken anging. Sie waren tot – alle. Nun konnte er sich denken, dass seine Mutter hier nicht länger mit den Kindern hatte bleiben wollen. Und ihn hielt hier jetzt auch nichts mehr. Sie alle hatten sich sicherlich in Richtung ihres Hauses aufgemacht, es konnte ja überhaupt nicht anders sein. Cedric durchwühlte die Dinge, die seine Familie zurückgelassen hatte. Juna hatte sicher entschieden mit leichtem Gepäck den Heimweg anzutreten. Er fand ein Stück Brot, wirklich nicht mehr frisch, aber durchaus noch verzehrbar. Mit Heißhunger aß er es, denn sein Magen knurrte nun doch gewaltig. Cedric schüttelte den Kopf. Vampire tranken Blut, sie aßen ganz sicher kein Brot. Also war das alles doch nur Un-
sinn gewesen, was der seltsame Kauz ihm da hatte einreden wollen. Dennoch – etwas hatte sich ganz sicher in ihm verändert, denn sonst würde er jetzt nicht hier sein. Es lag ein gutes Stück Weg vor Cedric, doch seltsamerweise fühlte er sich nicht müde. Er musste jetzt Gewissheit bekommen, wie es seiner Familie ging. Und er musste ihnen allen die schmerzliche Mitteilung über Connor Fynns Tod überbringen. Davor fürchtete er sich sehr. Es kam ihm merkwürdig vor, sein Elternhaus wieder zu sehen. Wie viele Tage war es her, seit er es mit seiner Familie verlassen hatte? Fünf, vielleicht sechs? Dennoch schien es Cedric, als wäre eine kleine Ewigkeit vergangen. Nichts war mehr so, wie es gewesen war – das sagte man oft leicht daher, aber in diesem Fall stimmte es ja. Cedric wollte niemanden erschrecken, denn vielleicht glaubten Mutter und die anderen schon nicht mehr daran, dass er zurückkehren würde. Also ging er nicht frontal auf das Haus zu, sondern machte einen Bogen darum und kam von der Rückseite, dort, wo er mit seinen Brüdern und Schwestern so viele kindliche Abenteuer erlebt hatte. In Mutters kleinem Garten hatten offenbar die Vandalen gewütet – alles war zertrampelt. Sinnlose Zerstörungswut hatte hier gewirkt. Wahrscheinlich waren das die Freibeuter gewesen, die im Haus nichts Wertvolles hatten finden können. Dann stutzte Cedric. Ein kleines Stück neben den Gemüsebeeten entdeckte er etwas, das dort vor wenigen Tagen noch nicht existiert hatte. Es waren zwei kleine Hügel, mit Erde aufgeworfen und von kleinen Steinen umringt, wie man ein hübsches Bild mit einem Rahmen einfasst. Cedrics Beine bewegten sich automatisch weiter, doch er wäre am liebsten fort gerannt. Zu oft hatte er solche Hügel in den vergangenen Monaten gesehen. An Wegesrändern, mitten im Wald, auf weitläufigen Wiesen, denn die Menschen wussten oft nicht mehr, wo sie ihre Toten noch beisetzen sollten. Ihre Toten … Diese Worte hallten in seinen Gedanken nach. Wie eine Marionette ging er zu den frischen Gräbern und kniete sich davor hin. Auf je-
dem der beiden Hügel steckte eine Holzplatte, in die jemand liebevoll einen Namen eingebrannt hatte. Cedric glaubte ersticken zu müssen, als er die Namen las. Niamh Owen Er wartete auf die Tränen, doch die kamen nicht. Er war nicht fähig zu weinen, so wie er nicht fähig war wieder aufzustehen. Eine sanfte Stimme erklang direkt hinter ihm. Es war Ceridwen, die Cedric vom Haus aus gesehen hatte. »Drei Tage nachdem du uns verlassen hattest, begann es. Wir wagten es noch immer nicht, die Höhle zu verlassen, denn wir hatten keinerlei Nachricht, ob die Piraten verschwunden waren. Niamh und Owen bekamen plötzlich Fieber. Die beiden waren die Schwächsten von uns allen. Sie waren schon wenige Stunden danach nicht mehr ansprechbar. Noch in der kommenden Nacht konnte man die Beulen an ihren Hälsen und in den Achselhöhlen deutlich erkennen. Wenige Stunden später starb Niamh … Owen folgte ihr kurz darauf nach.« »Sie haben sich bei den Pestkranken angesteckt … niemals hätten wir in diese Höhlen gehen dürfen.« Cedrics Stimme klang seltsam verändert. »Nopricht behauptet, die Ratten übertragen die Pest, und von denen gab es in den Höhlen ja mehr als genug. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Cedric nickte schwach. Sicher hatte Ceridwen Recht. »Sind die anderen gesund? Und … Mutter?« Ceridwen legte ihren Kopf an Cedrics Schulter. Vielleicht irrte er sich ja, aber ihm war, als würde sie eine große Hitze ausstrahlen. Sie ließ ihn lange auf Antwort warten. »Nein, sie alle haben sich angesteckt. Cedric … deine – unsere – Familie stirbt.« Der Junge versuchte verzweifelt zu schlucken, doch der angesammelte Speichel blieb ihm wie ein Kloß im Hals stecken. Hektisch hustete er ab. »Bring mich zu ihnen. Ich habe ihnen allen eine weitere schlimme Nachricht mitgebracht.« Sie hielten einander bei den Händen und ihr Gang war schlep-
pend, als sie auf das ehemals mit Glück gefüllte Haus zu gingen.
Am nächsten Tag begruben sie Gael, Lennox und Kai. Brianna und Kendra waren nicht mit dabei, denn die Mädchen hatten hohes Fieber und konnten ihre Betten nicht mehr verlassen. Cedric sah zu, wie Mutter mit zitternden Händen die Namen ihrer Kinder in Holzplatten einbrannte. Sie tat das mit viel Geschick, dachte Cedric und wurde sich schmerzhaft bewusst, welch unsinnige Gedanken man sich selbst in den schlimmsten Stunden des Lebens doch machen konnte. Die Nachricht von Connors Tod hatte Juna mit einem Gesichtsausdruck hingenommen, der an eine wächserne Maske erinnerte. Der Schmerz ging hindurch, doch nach außen veränderte sie sich nicht mehr. Juna war dabei, ein furchtbares Spiel gegen den Schwarzen Tod zu verlieren … und der Einsatz waren ihre Kinder. Nopricht war nicht mit zurück zum Haus gegangen. Er hatte sich vor der Höhle von den Fynns getrennt um nach Connor und Cedric zu suchen. Sie alle vermissten den alten Mentor schmerzhaft in diesen grausamen Tagen, doch niemand rechnete noch mit seiner Rückkehr. Juna steckte die drei Holzplättchen auf die Grabhügel, dann erhob sie sich stumm und wandte sich wieder dem Haus zu. Brianna und Kendra brauchten ihre Mutter jetzt dringender als die toten Kinder. So grausam das auch klang, so sehr war es in diesen Zeiten Realität. Cedric sah der Mutter hinterher, deren Gang unsicher geworden war. Auch in ihr tobte die Seuche schon wild. Cedric wusste jedoch, dass Juna dagegen ankämpfen würde, solange es noch eines ihrer Kinder gab, das sie brauchte. Ceridwen sah genau, wie es in Cedrics Kopf arbeitete. »Du alleine scheinst der Pest entkommen zu sein. Was wirst du tun, wenn hier niemand mehr lebt?« Cedric blickte Ceridwen an. »Grausame Worte, die du da sprichst. Sie passen nicht zu deinem schönen Mund.« Ceridwen lächelte. »Um so schöner sind deine. Doch wir wollen ehrlich zueinander sein. Es wird so kommen, denn …«
Sie öffnete die oberen Schnallen ihres Kleides, so dass Cedric ihren Hals sehen konnte. Er schloss die Augen, denn auch wenn sie es ja bereits geahnt hatten, so tat die Bestätigung dennoch weh. Die hässlichen Beulen waren nicht zu übersehen. In der vergangenen Nacht hatten sie das Lager miteinander geteilt. Sie waren jung, viel mehr Kinder als Erwachsene, doch was bedeutete das in dieser Zeit denn noch? Der Schwarze Tod, das sichere Ende, hob all diese Gesetze einfach auf. »Also – was wirst du tun?« Cedric wusste nur eine Antwort. »Ich will wissen, wer dafür verantwortlich war, dass die Piraten an unserer Küste gelandet sind. Und dann werde ich denjenigen bestrafen, wenn die Pest das nicht schon für mich erledigt hat. Ohne diesen Verräter hätten wir alle dieses Haus nie verlassen müssen, Vater würde noch leben … und dann gibt es noch etwas, das ich erledigen muss. Vater gab mir zur Aufgabe, Nopricht nach dem Tag meiner Geburt zu befragen. Ich werde den alten Lehrer finden.« Er nahm Ceridwen in seine Arme. Sie war eine zum Tode verurteilte Frau … und dennoch machte sie sich Sorgen um ihn. Das alles war so wirr, so bizarr, dass Cedric langsam zu glauben begann, dass eine höhere Macht die Menschheit ausrotten, die wenigen Überlebenden ihrer Art jedoch um den Verstand bringen wollte. Wie sollte man denn mit solchen Erinnerungen ein irgendwie normal geartetes Leben führen? Cedric war nie besonders gläubig gewesen, doch nun begann er zumindest an die Existenz einer Hölle auf Erden zu glauben, denn er war ja schon mitten in ihr. Der Tag verlief mit heftigen Fieberanfällen der beiden Mädchen. Brianna wehrte sich tapfer gegen die Krankheit, doch Kendra schüttelte sich nur noch in Albträumen, die Kleine litt unsäglich. Nach Mitternacht war Juna an den Krankenlagern der Kinder eingeschlafen, Ceridwen hatte sich in einer Ecke des Zimmers auf einen Stuhl gekauert und schwebte zwischen Wachen und Schlafen. Cedric wusste, dass er in dieser Nacht kein Auge würde schließen können. Hier im Haus hielt er es aber auch nicht mehr aus. Er brauchte Luft, musste den Sternenhimmel über sich sehen, denn die
Zimmer hier wollten ihn erdrücken. Er hatte kein Ziel – nur ein wenig laufen, die alte Straße hinunter, die sich am Horizont gabelte und dem Wanderer die Wahl ließ: Links ging es in Richtung der Küste, rechts gelangte man in eine der ungezählten Ansiedlungen, die es in Cornwall gab. Zur Küste zog ihn absolut nichts mehr hin, also schlug Cedric den anderen Weg ein. Ihm war klar, was er hier tat. Er floh vor dem Anblick des Sterbens. Der Junge ertrug den Ablauf einfach nicht mehr. Hilflos zuzusehen, wie seine Geschwister, seine Mutter und Ceridwen der Pest erlagen, war mehr, als er aushalten konnte. Die ersten Häuser der Ansiedlung wurden im Mondlicht sichtbar. Cedric erkannte, dass der Mond ein großer Lügner sein konnte – in seinem weichen Licht schien hier eine heile Welt zu schlafen, idyllisch und weit entfernt von Tod und Verderben. Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus, denn Ceridwen hatte ihm erzählt, dass einige dieser Ansiedlungen in der Zwischenzeit nahezu menschenverlassen waren. So auch diese, in der jeder zweite Bewohner den Schwarzen Tod als Gast begrüßt hatte. Die Überlebenden hatten den Ort verlassen, als könne man der Pest entfliehen … Vielleicht waren ein paar alte Menschen noch hier geblieben, die sich einfach weigerten, ihr Glück an einer anderen Stelle zu versuchen. Doch die Gestalt, die Cedric nun im Mondlicht klar und deutlich erkennen konnte, war alles andere als greisenhaft. Plünderer … Der Mann wusste offenbar, dass er sich in einem Geisterdorf befand, denn er gab sich keine Mühe, leise und unauffällig zu agieren. Mit einem kräftigen Fußtritt öffnete er die Tür des Hauses, vor dem er sich befand. Cedric suchte sich eine Deckung und wartete ab. Lärm drang aus dem Haus zu ihm, gefolgt von wilden Flüchen. Die erhoffte fette Beute war wohl nicht vorhanden. Etwas flog durch eines der Fenster, wohl eine kleine Fußbank, auch wenn Cedric das nicht genau erkennen konnte. Verwundert bemerkte der Junge, dass sich seine Atmung beschleunigt hatte. Er ging in die Hocke, versuchte sich zu beruhigen, aber das half auch nicht. Hatte er sich nun auch angesteckt? Nein … das kommt vom Durst … Cedric zuckte zusammen. Wieder war da diese Stimme in ihm – er
hatte Ceridwen davon erzählt, doch seine Beschreibung war unverständlich geblieben. Wie hätte es auch anders sein können, denn er begriff das ja selbst nicht. Seine andere Seite meldete sich, doch in diesem Fall war sie so intensiv wie nie zuvor. Und da waren auch wieder diese drückenden Kopfschmerzen … die beißende Pein, die von der Narbe auf Cedrics Schädel aus ihren Weg durch seinen ganzen Körper suchte. Als er ein kleines Kind gewesen war, hatte Cedric diese Momente vor anderen möglichst geheim gehalten. Er fürchtete wie ein Sonderling behandelt zu werden, wenn die Kinder bemerkten, wie er mit sich selbst rang. Imbecile … so würden sie ihn nennen … und er wollte doch dazugehören, wie alle anderen Kinder auch. Cedric kauerte sich in seiner Deckung am Boden zusammen – er musste nur warten, dann ginge das vorüber, wie immer. Es ist nie vorübergegangen, du hast es nur stets ignoriert, wenn ich an der Reihe war. Andere haben es immer bemerkt. Cedric presste beide Hände gegen die Ohren, als würde er die Stimme so zum Schweigen bringen können. Doch sie schwieg nicht so, wie sie es sonst stets getan hatte. Sie war da, blieb präsent … übermächtig präsent! Hast du denn wirklich ignoriert, was die Kreatur gesagt hat, die uns zu dem machte, was wir nun sind? Hast du geglaubt, die Heilung unseres zerschlagenen Körpers wäre ein freundliches Geschenk gewesen? So dumm kannst du nicht sein! Nichts ist umsonst – für alles zahlt man einen Preis. Und du … wir … werden nun damit beginnen. Zieh dich zurück! Und plötzlich konnte Cedric ihn fühlen – den roten Durst. Er kam nicht langsam zu ihm, nicht in kleinen Schritten, er sprang ihn an wie ein verwundetes Tier. Vor seinen Augen verschwamm für lange Momente die Umgebung, dann sah er wieder alles klar und deutlich, besser, als er je zuvor in der Dunkelheit gesehen hatte. Die Häuser schienen nun von innen heraus zu strahlen, zeigten scharf umrissene Konturen. Cedric hörte mit einem Mal Dinge, die er sonst – wenn überhaupt – nur unterbewusst wahrgenommen hatte. Irgendwo hinter ihm konnte er die trippelnden Pfoten von Ratten hören … selbst deren Herzschlag. Und die Kehle zog sich ihm zusammen, als hätte er Sand ge-
schluckt! Durst! Entsetzlicher Durst, der seine Eingeweide zusammenzog, seine Augen weit aus ihren Höhlen hervortreten ließ. Durst … saufen! Es würde ihn umbringen, wenn er nicht sofort das bekam, wonach ihm gelüstete. Menschenblut. Cedric erhob sich und registrierte die enorme Kraft, die plötzlich in ihm war. Die Kraft des Vampirs, dem Menschen weit überlegen, fähig, jedes Wesen in die Knie zwingen zu können. Plötzlich stand der Plünderer mitten auf offener Straße. Cedric fixierte die Gestalt, wie der Jäger sein nächstes Opfer betrachtete. Kühl, abschätzend, auf den richtigen Moment wartend. Ja, er sah den Kerl nicht als menschliches Wesen, sondern als Hülle, in der sich befand, was er zum Überleben benötigte. Dann sprang er … Er überwand die Entfernung zu dem Mann mit Leichtigkeit, beinahe so, als würde er Flügel besitzen. Sein Opfer bemerkte ihn erst, als Cedric ihn bereits zu Boden geworfen hatte und den Kopf des Plünderers mit roher Gewalt auf den harten Boden rammte. Die Augen des Burschen brachen … so wie sein Genick, denn Cedric hatte in seiner schmerzhaften Gier zu heftig zugelangt. Es interessierte ihn nicht – es spielte keine Rolle. Der Saft in dem Mann war warm und wartete auf ihn. Der Junge hörte sich selbst lustvoll stöhnen, so, als könne er sich von außerhalb seines Körpers vernehmen, sich beobachten. Das erste Mal, das erste Stillen des Durstes – es gab kein Erforschen, kein Testen, keine Unsicherheit. Alles lag in dem Keim verborgen, den die Kreatur auf der Klippe in ihn gepflanzt hatte. Seine Zähne bohrten sich in den Hals des Plünderers. Cedric erwartete, dass er sich sofort würde übergeben müssen, als er die ersten Bluttropfen schmeckte, doch das geschah nicht. Kurz löste er sich von dem Mann und stieß einen Schrei in die Nacht, der nichts von einem menschlichen Klang an sich hatte. Dann trank er, bis auch der allerletzte rote Tropfen den toten Körper verlassen hat-
te. Als es endlich vorbei war, rollte er sich von der Hülle, die einmal ein Mensch gewesen war und blieb regungslos liegen. Unmerklich zog sich seine andere Seite wieder zurück. Cedric hoffte auf die Gnade zu sterben. Er hoffte auf die Pest! Und wenn sie ihn nicht heimsuchen würde, dann war es an ihm, seinem Dasein ein Ende zu setzen. Ganz leise, wie aus weiter Entfernung kam das Flüstern zu ihm. Keine Seuche kann uns etwas anhaben. Du wirst es nicht schaffen, unsere Existenz zu beenden, denn ich werde es zu verhindern wissen … immer. Cedric blieb neben der blutleeren Leiche liegen, bis die Sonnenstrahlen ihm unangenehm in die Augen stachen. Erst das brachte ihn dazu, sich endlich zu erheben. Vielleicht hatte er ja gehofft, dass irgendwer kam und ihn so vorfand, ihn sofort und hart zur Rechenschaft zöge, doch hier gab es niemanden mehr, der dazu bereit und fähig war. Mit schleppendem Gang wandte er sich in Richtung seines Elternhauses. Die Nacht war lang gewesen und Cedric war sicher, dass ihn dort nur weitere Verzweiflung und tiefe Trauer erwartete.
Auch auf der Straße traf er keine Menschenseele. Die ganze Region um die Küste herum schien sich in einen riesigen Friedhof zu verwandeln. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Cedric den Wunsch in sich wachsen, dies alles weit hinter sich lassen zu können. Den merkwürdigen Geruch, der in der Luft lag, registrierte er erst, als er den dunklen Rauch erkannte, der in den Himmel stieg. Der Geruch war eine Mischung aus brennendem Holz, Lehm, glühenden Steinen und … verkohltem Menschenfleisch, den man mit Worten nicht beschreiben konnte. Die Menschen in Cornwall hatten ihn in dem hinter ihnen liegendem Jahr genau kennengelernt, denn immer häufiger gingen Häuser, ja, ganze Ansiedlungen in Flammen auf. Die Gründe dafür waren oft nicht nachvollziehbar. Brandstiftung fanatischer Sektierer war sicher einer davon, denn diese verblendeten Menschen glaubten, nur so sei der Schwarze Tod auszurotten. Sie zündeten die Häuser derer an, die der Pest erlegen waren. Das
sie dabei so manchem nicht erkranktem Menschen einen schrecklichen Tod bescherten, kümmerte sie nicht. Gott strafte die Menschheit – da gab es keine Ausnahme. Cedric konnte nur ahnen, wo in etwa der Brand ausgebrochen war. Dennoch wusste er augenblicklich was ihn erwartete. Er lief los, als wären tausend Furien hinter ihm her. Trotzdem war ihm klar, dass er zu spät kommen würde. Als er das Haus erreicht hatte, schlugen die Flammen lichterloh aus dem Dachstuhl, der teilweise bereits eingestürzt war. Dutzende von Gaffern standen in sicherem Abstand um das Anwesen herum und schienen ihre Freude an dem Spektakel zu haben. Cedric drängte sich durch die Leute hindurch, doch als er die Umzäunung erreicht hatte, zwang ihn die intensive Hitze keinen Schritt näher zu gehen. Der Junge brach schluchzend zusammen. Das Ende seiner kompletten Familie manifestierte sich im schwarzen Rauch, der in den wolkenlosen Himmel stieg. Ohne Gegenwehr ließ sich Cedric vom direkten Nachbarn, einem Freund seines Vaters, in dessen Haus bringen, das weit genug entfernt war, um nicht auch noch ein Raub der Flammen zu werden. Die Frau des Hauses versuchte Cedric einen Teller mit Suppe einzuflößen, als ob die heiße Brühe alle Schmerzen aus seiner Seele würde vertreiben können. »Wir wissen nicht, wer das Feuer gelegt hat. Vielleicht waren es die Sektierer?« Cedric schüttelte lethargisch den Kopf. »Nein, ich glaube, Mutter hat das getan. Niemand sollte sie und ihre Kinder so sehen, ja, ich bin mir beinahe sicher.« Der Nachbar legte Cedric eine Hand auf dessen Schulter. »Und du? Was wirst du nun tun?« Cedric wusste keine Antwort zu geben. Juna Connor hatte wohl gewusst, dass ihr ältester Sohn nicht alleine in diesem Haus der Toten würde verbleiben wollen. Cedric verstand ihre Handlung, ja, er hätte es nicht anders gemacht. In der kommenden Nacht blieb er im Haus der Freunde seiner Eltern. Lange lag er wach. Wohin konnte ihn sein Weg nun führen? Fort aus Cornwall? Nichts hielt ihn hier noch. Vielleicht würde er in einem anderen Land Ceridwens Augen
vergessen können, ihre Lippen … vielleicht irgendwann einmal. Wir haben zwei Leben – du und ich gemeinsam – wir können wählen, wie es uns beliebt … Seine andere Seite meldete sich mit diesem einen Satz kurz bevor Cedric in traumlosen Schlaf fiel. Die Kräfte verließen ihn ganz einfach. Das alles war zu viel für ihn gewesen. Morgen wollte er entscheiden, welche Richtung er einschlug. Doch zuvor wollte er Nopricht finden, wenn der denn noch lebte. Der alte Lehrer war ihm noch eine Erklärung schuldig. Drei Tage darauf verschwand Cedric aus dem winzigen Dorf seiner Jugend. Die Leute fragten sich, was wohl aus ihm werden würde, doch niemand machte sich auf den Weg ihn zu suchen. Jeder stand sich selbst am nächsten … und keiner unter ihnen war frei von der Angst, dass der Schwarze Tod schon auf seiner Türschwelle warten konnte.
Cedric bewegte sich entlang der Küste. Überall fand er das gleiche Bild vor – Menschen voller Angst, voller Misstrauen gegenüber dem Nächsten – erst recht gegenüber einem Fremden. Es fiel ihm schwer, überhaupt jemanden zu finden, der bereit war ihm eine Auskunft zu geben. Nopricht zu beschreiben war einfach – markant genug sah der alte Mentor ja aus. Doch Cedric blickte immer wieder in nicht verstehende Gesichter, die ihm nicht helfen konnten oder wollten. Am schlimmsten jedoch waren die Nächte, in denen seine andere Seite ihr Recht forderte. Das gnadenlose Morden, der Rausch, den das Blut ihm dann verschaffte – Cedric würde sich wohl niemals daran gewöhnen können. Doch er musste es ertragen. An einem regnerischen Morgen erreichte er ein verschlafenes Dorf, das ganz in der Nähe von West Penwith lag; ein kleiner Hafen war ihm angeschlossen. Cedrics Gefühl sagte ihm, dass er auch hier nichts würde erfahren können, doch er wollte nicht aufgeben. In seinen Taschen befand sich nicht die kleinste Münze, also machte er direkt einen Bogen um den einzigen Gasthof, den es hier gab. Er hatte Hunger, doch er musste verzichten. Die nächtlichen Opfer, die er als
Vampir ums Leben brachte, mochten sogar Geld in ihren Beuteln haben, doch etwas in Cedric weigerte sich standhaft, ihre Taschen zu durchwühlen, nachdem er sie ausgesaugt hatte. Wie lange würde sich diese Standhaftigkeit noch aufrecht erhalten lassen? Das Blut stillte seinen schrecklichen Durst, doch er war ja auch Mensch … und dessen Magen knurrte unablässig. Waren denn alle Geschichten, die sich um Vampire rankten, so grundlegend falsch? Oder war er eine Ausnahme? Cedric drückte sich auf dem winzigen Marktplatz herum, der die größte Attraktion dieses Dörfchens zu sein schien. Es waren nicht mehr als ein Dutzend Händler anwesend und sicher auch nicht viel mehr Kunden. In erster Linie bot man hier Meeresfrüchte feil, wie hätte es auch anders sein können. Vielleicht, so hoffte Cedric, würde er den einen oder anderen noch genießbaren Abfallbrocken ergattern können, den die Händler achtlos beiseite warfen. Eine laute Stimmte ertönte hinter ihm. »Connor Fynns Sohn? Aber das gibt es doch nicht. Junge, was treibt dich in dieses gottverlassene Kaff am Ende der Welt?« Cedric fuhr herum und traute seinen Augen nicht. Er stand vor einem Tisch, auf dem sich wohlriechend die feinsten Nüsse in kleinen Häufchen auftürmten. Und hinter dem Tisch grinste ihn Disa an, die Händlerin, die beinahe an jedem Tag ihren Stand bei der Kathedrale aufgebaut hatte. Ehe Cedric sich versah, wurde er in die fetten Arme der alten Frau genommen und so heftig gedrückt, dass ihm die Luft zum Atmen fehlte. Nur fünf Minuten später stopfte er sich Nüsse in den Mund, so viele, dass er es kaum schaffte, sie zu schlucken. Dazu gab es einen Kelch mit stark verdünntem Wein, dessen Wirkung Cedrics Gemüt recht schnell aufhellte. Er ließ Disa berichten. Am Tag, an dem die Kathedrale in die See gestürzt war, hatte sich natürlich kein Händler dort aufgehalten. Die Piraten wirkten auf die Kaufleute wie das Weihwasser auf den Leibhaftigen. Nach dem Desaster waren alle weitergezogen, denn es gab keinen Grund, sich noch hier in der Nähe aufzuhalten. Sie alle flohen – flohen vor dem Schwarzen Tod, vor Freibeutern und anderen Spießgesellen.
»Wir sind von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt gezogen, doch viele der alten Marktplätze, die wir von früher her kannten, gibt es in der Form nicht mehr. Dort findest du heute jede Menge Scheiterhaufen. Die Idioten verbrennen junge Frauen, die man der Hexerei beschuldigt … und deren Kinder gleich mit, denn die müssen ja Bastarde vom Satan persönlich sein. Das ist so fürchterlich. Die Schreie der brennenden Menschen kann ich nicht vergessen. Was uns ziehendem Volk blieb, sind diese winzigen Dörflein. Doch länger als ein paar Tage können wir nie an einem Ort bleiben. Wenn die Kinder die Nüsse sehen, dann juchzen sie vor Freude, doch ihre Eltern sind arm. Wir leben alle von der Hand in den Mund. Morgen schon ziehen wir weiter – hier ist nichts mehr zu holen. Aber nun sag – wie ist es dir und deiner Familie ergangen?« Es fiel Cedric schwer, aber er schaffte es Disa in kurzen Sätzen zu berichten, was geschehen war. Überrascht sah er die Tränen in den Augen der alten Händlerin. Mitgefühl war ein seltenes Gut in Zeiten des Schwarzen Todes. »Was willst du nun tun? Ich meine – wohin soll dein Weg führen? Gibt es keine Verwandten, zu denen du ziehen könntest?« Die Frau machte sich wirklich sorgen um Cedric. Der jedoch schüttelte nur den Kopf. »Keine Verwandten, zu denen ich möchte. Mich hält hier überhaupt nichts mehr. Am liebsten würde ich Britannien ganz verlassen. Vielleicht in ein fernes Land ziehen, ganz neue Menschen kennenlernen.« Disa nickte, und ihr doppeltes Doppelkinn machte dabei wellenförmige Bewegungen. »Davon habe ich früher auch immer geträumt, habe es aber nie geschafft. Jetzt ist es dazu zu spät, denn ich bin eine alte Frau. Aber du … ja, du könntest das tun. Such dir ein Schiff, das dich weit fort bringt. Eines mit vielen Segeln, die der Pest entfliehen können.« Cedric war erstaunt, welche Gedanken in der Frau schlummerten. »Aber zuvor muss ich noch jemanden finden. Unser alter Lehrer, Nopricht, du kennst ihn doch auch, nicht wahr? Ich muss mit ihm sprechen. Aber ich kann ihn nicht finden, so sehr ich es auch versuche.«
Disa horchte auf. »Nopricht? Vor fünf Tagen kam unser Tross hier an. Als wir den Markt in Beschlag genommen hatten, stand Nopricht plötzlich vor mir. Er machte einen merkwürdig getriebenen Eindruck und fragte mich, welche Schiffe in den letzten Stunden im Hafen abgefahren waren. Das wusste ich nicht, doch ich habe ihn gefragt, ob er jemanden suche.« Cedric war plötzlich ganz aufgeregt. »Und? Was hat Nopricht dir geantwortet?« Disa ließ sich nicht hetzen. Sie konzentrierte sich, um auch wirklich den genauen Wortlaut von Noprichts Antwort wiederzugeben. »Ja, er sagte: Ich muss den Pfaffen finden. Er ist die Wurzel allen Übels, er hat uns das angetan. Und nun ist nur noch Tod und Sterben.« Cedric blickte Disa lange an, doch mehr kam da nicht aus ihrem faltigen Mund. »Das war alles?« Die Händlerin nickte. »Ja, mehr hat er nicht gesagt. Ehe ich ihn noch fragen konnte, was mit der Familie Fynn war, verschwand er auch schon in Richtung der Kaimauern. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich denke, er ist auf irgendeinen Kahn gestiegen und von hier verschwunden. Aber ich kann mich ja auch irren.« Nein, Cedric glaubte nicht, dass Disa da irrte. Noch begriff er die Zusammenhänge nicht, doch er war sicher zu wissen, um welchen Pfaffen es sich handelte, den Nopricht suchte. Es musste Gwydion sein – alles andere wäre unsinnig zu glauben. Aber was hatte Nopricht damit gemeint, als er sagte Wurzel allen Übels? Gwydion – der Menschenantreiber, wie Vater ihn oft genannt hatte. Ein Mann Gottes, dem es vollkommen gleichgültig war, wenn Arbeiter beim Bau der Kathedrale ums Leben kamen, für den selbst der Schwarze Tod kein Grund war, wenn sich dieser Bau verzögerte. Cedric war sicher, dass sein Vater Gwydion nicht nur verachtet, sondern auch gefürchtet hatte. Vor Cedrics geistigem Auge formte sich in diesen Augenblicken ein Bild, das mit dem zusammen passte, was er bei den Freibeutern belauscht hatte. Er sah Pater Gwydion, der sich mit einem wilden
Haufen von Männern traf und ihnen den genauen Plan schilderte, wie sie an Cornwalls Küste sicher und ohne Gegenwehr der Bevölkerung landen konnten; er hörte den Pater von reichen Bauern und Minenbesitzern reden, von sagenhafter Beute, die so leicht zu bekommen war. Und er hörte wie er versicherte, dass die ganze Gegend noch immer frei vom Schwarzen Tod sei, der weit im Inneren Britanniens tobte. Dann sah er, wie ein großer Beutel voller Goldstücke seinen Besitzer wechselte, sah wie Gwydion mit einem zufriedenen Lächeln den Treffpunkt ungeschoren wieder verließ. Gold? Ein Kirchenmann verrät seine Gemeinde, bringt Tod und Verderben über sie für … Gold? Nein, da musste es noch andere Gründe gegeben haben und die wollte Cedric herausfinden, denn sie hatten seine Familie komplett ausgerottet. Wenn Gwydion derjenige war, der die Piraten hierher gelotst hatte, dann würde er dafür bezahlen. Nopricht zumindest schien ja davon überzeugt zu sein. Cedric hatte im Grunde geglaubt, der Priester mit den großen Ambitionen wäre bei der Zerstörung der Kathedrale ebenfalls ums Leben gekommen, doch dem war wohl nicht so. Also gab es nun zwei klare Ziele für Cedric. Er musste Nopricht finden, denn er wollte um das Geheimnis seiner Geburt wissen. Und er wollte und würde Gwydion finden … und der würde verdammt gute Argumente brauchen, wenn er dieses Treffen überleben wollte. Doch daran konnte Cedric wirklich nicht glauben …
Der Kapitän des Handelsschiffes beäugte den jungen Mann skeptisch von allen Seiten. Jung war er, sehr jung sogar. Gut, er wirkte kräftig und weit davon entfernt, sich bereits mit der verfluchten Seuche angesteckt zu haben. Zudem herrschte an Bord des Schiffes chronischer Mangel an Matrosen, an Händen, die ordentlich zupacken konnten, wenn es um das Be- und Entladen der Fracht ging. Also war jeder Mann will-
kommen, der sich so die Überfahrt verdienen wollte. Dennoch … der Bursche hier war doch allerhöchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Er seufzte tief und übertrieben laut. »Nun gut, es geht nach Frankreich – an eine winzige Hafenstadt in der Bretagne. Was ich zu liefern habe, das geht dich nichts an, verstanden?« Der Junge nickte. »Wenn dort das Schiff entladen und wieder neu beladen ist, kannst du verschwinden, denn weiter nehme ich dich nicht mit. Du bist mir zu jung. Alles klar? Dann geh an Bord und lass dir deine Koje anweisen.« Der Junge wandte sich um und wollte in Richtung Schiff verschwinden, da hielt ihn der Kapitän noch einmal an. »Junge! Sag mir deinen Namen. Wie soll ich dich rufen?« Der junge Bursche drehte sich um und der Kapitän blickte in zwei Augen, die tief wie die See schienen, denen jedoch jeglicher Glanz fehlte. Die Stimme des Jungen wirkte, als wäre er bereits ein ausgewachsener Mann, der vieles im Leben durchgemacht hatte. »Starless, Kapitän. Nennt mich einfach nur Starless …« Dann drehte er sich ohne jedes weitere Wort um und verschwand. Der Kapitän zuckte mit den Schultern. Starless – was sollte das für ein Name sein?
Starless bewegte sich wie ein düsterer Schatten im hellen Licht des Tages. Er war schnell, blieb nahezu unsichtbar. Er war nun dem Château Montagne so nahe, dass ihm die ganze Sache langsam aber sicher überhaupt nicht mehr schmeckte. Sich von einem Ort zum anderen zu versetzen – in diesem Fall von der Raumjacht im Orbit um die Erde nach Südfrankreich – lag in der Vampirmagie verankert, die ihn erfüllte, zumindest den einen Teil von ihm. Das also war nicht das Problem gewesen. Das Problem hatte aber einen Namen: Professor Zamorra, Schlossherr, Meister des Übersinnlichen, weltweit anerkannter Parapsychologe und Feind Nummer eins von Vampiren und allen anderen Wesen, die zur Schwarzen Familie gehörten.
Warum Miso Vorrog ausgerechnet hier gelandet war, blieb für Starless ein Rätsel. Die bisherigen Begegnungen zwischen Starless und Zamorra waren ganz unterschiedlicher Natur gewesen – feindselig, sicherlich, denn Tan Morano und der Professor waren alte Gegner, hatten so manchen Kranz miteinander ausgefochten. Man munkelte sogar, Morano hätte es geschafft, Zamorras Lebensgefährtin Nicole Duval in sein Bett zu locken. Nein, eine Freundschaft würde zwischen den beiden sicherlich nie entstehen. In einem Fall jedoch hatte Starless sogar mit Zamorra zusammen die Befreiung von Ted Ewigk und Tan Morano auf den Weg gebracht. Die beiden waren von der ehemaligen ERHABENEN der DYNASTIE DER EWIGEN Nazarena Nerukkar in Gefangenschaft gesetzt worden. Die Befreiungsaktion war außerordentlich schwierig gewesen, doch eines hatte Starless dabei ganz sicher für sich registriert: Als Feind war Professor Zamorra unerbittlich und nur außerordentlich schwer auszurechnen, doch als Kampfpartner war er enorm zuverlässig und beeindruckend. Starless würde es sicherlich niemals zugeben, nicht einmal so richtig sich selbst gegenüber, doch da war schon ein Stück Bewunderung in ihm für diesen Mann. Unter anderen Vorzeichen … aber das waren Hirngespinste, denn es würde nie andere Vorzeichen geben als die, die er zu akzeptieren hatte. Miso Vorrog bemerkte nicht, dass er einen Verfolger im Nacken hatte. Das wäre jetzt der passende Augenblick gewesen, den Alpha zu packen, ihn zu betäuben und mit dem Gefangenen den Rückweg zur Kristallwelt anzutreten, doch Starless gestand sich ein, dass ihn die Neugier gepackt hatte. Was wollte der Ewige von Zamorra? Starless wollte es wissen. Anschließend konnte er noch immer zugreifen. Vorrog hatte sich hinter einem reichlich mageren Baum versteckt und kam Starless nun vor wie ein Strauchdieb, ein Wegelagerer, der alten Frauen auflauerte, um ihnen die Handtaschen zu entreißen. So ganz falsch lag er mit seinem nicht so ganz ernst gemeinten Vergleich nicht, wie er schon bald bemerkte. Was folgte, das war so simpel, so plump, dass ein von allen Höllenhunden gejagter Profes-
sor Zamorra nie und nimmer damit rechnen konnte. Dämonische Attacken, Vampirangriffe … teuflische Täuschungsmanöver, ja, aber so etwas? Das war Provinztheater, allerhöchstens! Und doch funktionierte es perfekt. Vom Château her näherte sich eine dunkle Luxuslimousine deutscher Bauart – Zamorra bevorzugte die Autos aus Bayern nun einmal. Ob Zamorra allerdings am Steuer saß, konnte Starless nicht erkennen, so wenig wie es Vorrog konnte, doch der schien davon überzeugt zu sein. Und offensichtlich konnte der auch den Bremsweg einer so großen Benzinschleuder perfekt abschätzen. Starless zog seinen Vampiranteil weit in sich zurück, denn er wollte nicht riskieren, von Zamorras Amulett geortet zu werden. Die Gefahr, die dem Parapsychologen durch den Ewigen drohte, konnte Merlins Stern nicht registrieren, denn die Silberscheibe schlug ja nur bei schwarzer Magie an. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Der Alpha legte einen Auftritt hin, der Starless grinsen ließ. Zamorra sah sich in diesem Augenblick mit einem anscheinend volltrunkenen Idioten konfrontiert, der zwischen den Bäumen heraus auf die Straße torkelte und stolpernd zu Boden fiel. Der Luxuswagen bewies, was seine Bremsanlage zu leisten in der Lage war – Zamorra trat das Pedal bis zum Bodenblech herunter und schaffte es, den mehr als zwei Tonnen schweren Wagen gerade noch rechtzeitig zum Stillstand zu bringen. Starless bewunderte den Mut des Alphas – oder sollte man es besser Dummheit nennen? Dann wurde die Fahrertür von innen aufgedrückt und ein wütender und gleichzeitig besorgter Professor sprang aus dem BMW. Mit zwei langen Schritten war er bei dem Mann, den er um ein Haar überfahren hätte. Er bückte sich um zu sehen, ob dem Kerl auch nichts geschehen war. Starless hörte das leise Zischen und sah, wie Zamorra leblos wie ein Stein zu Boden fiel. Sofort war der Alpha auf den Beinen und hob den Franzosen scheinbar mühelos in die Höhe. Blitzschnell war Zamorra auf dem Beifahrersitz verstaut; sein Kopf war kraftlos nach vorne auf die Brust gefallen, als würde er friedlich schlafen. Miso Vorrog eilte um den BMW herum und enterte den Fahrersitz. Starless beschloss, dass er nicht weiter tatenlos als reiner Zuschau-
er agieren wollte. Im Grunde konnte es ihm ja gleichgültig sein, aus welchen Beweggründen der Alpha Zamorra überwältigt hatte. Wenn der Sampi jetzt mit dem Professor verschwand, dann musste Starless dem Wagen irgendwie folgen. Das war mühsam – nein, es reichte, er wollte die Sache jetzt und hier beenden, sich den Alpha greifen und mit ihm zur Raumjacht springen. Zamorra würde sich wundern, wenn er irgendwann erwachte und bemerkte, dass sein Entführer die Sache wohl urplötzlich abgeblasen hatte. Starless ließ seiner anderen Seite freie Hand … und versetzte sich direkt hinter den Alpha in den Fond des Fahrzeuges. Der Rest würde ein Kinderspiel sein. So dachte Starless. Wieder ertönte das Zischen und Starless erkannte, dass er erwartet worden war. Der Alpha hatte sich auf dem Sitz so weit zur Seite gedreht, dass seine linke Hand auf den Rücksitz wies. Das kleine Gerät, das er hielt, war dem Vampir unbekannt, jedenfalls hatte es keine Ähnlichkeit mit den Faustwaffen der DYNASTIE. Spring! Ich kann nicht … ich … Der stumme Dialog endete, als die paralysierende Wirkung schlagartig einsetzte. Starless sackte in sich zusammen und fiel seitlich auf die Sitzbank. Er nahm seine Umwelt weiterhin wahr, konnte hören und sehen, doch er war zu keiner Bewegung fähig. Miso Vorrog lachte zufrieden. »Ein feines Spielzeug, nicht wahr? Es erzeugt so eine Art Stasisfeld, wie du sicher schon bemerkt hast. Mir war ja klar, dass Tan Morano mir einen seiner Bluthunde auf den Hals hetzen wird. Hast du wirklich geglaubt, ich wäre so dumm, dich nicht bemerkt zu haben? Jetzt hast du erst einmal Zeit zum Nachdenken, du Stümper.« Er wandte sich nach vorne und startete den Motor des Wagens. Der BMW rollte langsam nach vorne, bis der Alpha das Gaspedal durchtrat. Starless verfluchte seinen Leichtsinn, doch das half jetzt auch nicht weiter. Er musste warten, bis die Wirkung dieses Feldes nachließ, das ihn einhüllte. Die beste Möglichkeit, um dagegen anzugehen, war sich möglichst zu entspannen. Der Vampir fühlte, wie er in eine Mischung von Bewusstlosigkeit
und Schlaf abglitt. Er ließ es geschehen, denn er musste sicher schon bald all seine Energiereserven parat halten. Um diesen Alpha zu besiegen, mochte es auf jede Sekunde ankommen. Er hatte Vorrog unterschätzt, doch das würde ihm nicht noch einmal passieren. In der Mitte zwischen Schlaf und Ohnmacht warteten erneut die Erinnerungen auf ihn …
Abt Kilian blickte außerordentlich zufrieden auf die ausgedehnten Gemüsebeete, die mittlerweile den gesamten Klostergarten mit Beschlag belegt hatten. Das war gut so, sehr gut sogar. Frisches Gemüse war wichtig, Kilian predigte das seinen Mitbrüdern immer und immer wieder. Gut, bei den täglichen Mahlzeiten konnte man schon ab und an die eine oder andere murrende Stimmen hören, wenn die Fleischration unter den Gemüsebergen nicht mehr so leicht zu finden war, aber Kilian hörte darüber einfach hinweg. Die Mönche sollten froh sein, dass ihre Teller an jedem Tag gefüllt waren. Das war nicht überall so, denn 12 Jahre nach dem Wüten des Schwarzen Todes hatte es in Frankreich Missernten gegeben, ganze Herden waren an seltsamen Krankheiten verreckt, so mancher Bauer hatte alles verloren. In den letzten Jahren war der Hunger über das Land gezogen. Natürlich hielten die Mönche der großen Klosteranlage im Herzen Frankreichs Vieh für den Eigenbedarf, doch damit hatten sie kein großes Glück gehabt. Schweine und Rinder waren ihnen einfach so eingegangen – einzig eine ordentliche Anzahl an Hühnern war geblieben. Also war Fleisch eben nicht an jedem Tag angesagt … Eier schon eher. Eine garantierte Ausnahme gab es an den Tagen im Jahr, an denen sich hohe Würdenträger der Kirche angesagt hatten. Unbemerkt war Bruder Lucas zu seinem Abt getreten. »Ich fürchte, ich werde in große Schwierigkeiten geraten, wenn die
Monsignori unser Kloster erreichen werden.« Monsignore war zwar ein Begriff aus der italienischen Sprache, doch in der katholischen Kirche durchaus eingebürgert. Man konnte mit diesem päpstlichen Ehrentitel wunderbar die damit gemeinten Personen bezeichnen, ohne gleich ihre Namen nennen zu müssen, denn das war in manchen Fällen nicht gewollt. In anderen Klöstern war das nicht so von Bedeutung, doch hier … hier sah die Sache anders aus. Im Durchschnitt beherbergte diese Anlage 40 Brüder, die allesamt eine ganz spezielle Ausbildung absolviert hatten. Jeder von ihnen war in der Lage, Leib und Leben der Besucher des Klosters zu schützen – mit Waffen und der Beherrschung ihrer eigenen Körper. Und ein solches Geheimtreffen einiger der höchsten Kirchenmänner Frankreichs stand nun wieder an. In drei Tagen würden die Würdenträger hier eintreffen. Abt Kilian wandte sich zu Bruder Lucas um. Die beiden Männer waren beide in den Fünfzigern und kannten sich seit einer gefühlten Ewigkeit. Gemeinsam waren sie vor über zwanzig Jahren als einfache Mönche von ihrem Orden hierher beordert worden. Vieles hatten sie dann auch gemeinsam hier erlebt und waren an ihren Aufgaben gewachsen. »Schwierigkeiten? Welcher Art, alter Freund? Dieses Wort höre ich überhaupt nicht gerne, wie du ja weißt.« Bruder Lucas legte beide Hände auf seinen nicht unerheblichen Bauch. Eine Geste, die zu ihm gehörte wie seine Kutte. »Was soll ich den Monsignori vorsetzen?« Lucas war unter anderem für die Klosterküche verantwortlich und für den Weinberg, der sich der Anlage anschloss. »Fleisch? Da werden die Herren wohl an ihren eigenen Fingern knabbern müssen, denn was unsere Vorratskammern vorzuweisen haben, würde nicht einmal ein Vögelchen satt machen. Aber ich kann ihnen ja … einen schönen Gemüseauflauf servieren lassen.« Ein zufriedenes Lächeln füllte Lucas' Gesicht beinahe komplett aus, denn diese Anspielung hielt er für trefflich platziert. Abt Kilian hatte große Mühe seine Würde zu wahren, denn er hatte seinen Freund sehr wohl verstanden. Er gab sich alle Mühe seine Stimme ernst und autoritär klingen zu
lassen, aber es wollte ihm nicht so ganz gelingen. »Gemüseauflauf? Würde den meisten unserer Gäste sicher gut tun, denn die meisten von ihnen sind viel zu fett und alles andere als gesund. Aber wem sage ich das hier eigentlich?« Er warf einen anzüglichen Blick auf Lucas' Bauch, den der geflissentlich nicht registrierte. »Gut, du hast natürlich Recht. Die Monsignori müssen bei Laune gehalten werden, wenn sie die großen Probleme unserer Mutter Kirche wälzen. Also brauchen wir Fleisch. Doch woher nehmen und nicht stehlen?« »Schicken wir einige unserer Mitbrüder auf die Jagd. In den südlich gelegenen Wäldern soll sich eine Wildschweinrotte herumtreiben, habe ich mir sagen lassen. Die Wälder dort gehören zwar nicht mehr zu unserem Grund und Boden, doch um diesen Wald kümmert sich ja auch sonst niemand.« Abt Kilian nickte langsam. Der Vorschlag war bedenkenswert. »Gut, Lucas, stell eine Jagdgruppe zusammen. Darin hast du ja Erfahrung. Wildschweinbraten wird unseren Gästen sicher munden.« »Nicht nur unseren Gästen.« Bruder Lucas schlug demütig die Augen nieder, doch er konnte Kilian nicht täuschen; und der Abt gab ja auch zu, dass selbst ihm die Gemüseanhäufung oftmals auf die Nerven ging … auf die Geschmacksnerven. Lucas hielt jedoch noch einmal inne, ehe er sich auf den Weg machte. »Sag, weißt du, warum die Monsignori sich in diesem Fall bei uns einquartieren wollen?« Kilian dachte einen Augenblick nach, denn eine solche Information ging Lucas im Grunde überhaupt nichts an. Andererseits hatten die beiden ihr Wissen nahezu immer geteilt. Warum also nicht auch in diesem Fall? »Du hast von dem Schrecken gehört, der unsere Kirchengemeinden immer wieder heimsucht?« Bruder Lucas trat einen Schritt näher. »Ich ahne, was du meinst, aber sind das nicht nur Schreckgeschichten, völlig übertrieben und nur dazu gedacht, den Gläubigen ein paar Gebete mehr am Tag zu verordern?« Lucas war ein durch und durch realistisch denkender Mensch. Von Ammenmärchen und Geschichten, die direkt aus der
Hölle zu kommen schienen, hatte er noch nie viel gehalten. Abt Kilian schüttelte den Kopf. »Nicht alles ist wahr, was man so hört, da gebe ich dir Recht. Doch es gibt unerklärliche Dinge, die man einfach mit dem Leibhaftigen in Verbindung bringen muss. Seit Jahren werden in unserem Land Priester tot in ihren Kirchen aufgefunden. Keiner von ihnen hatte auch nur einen Tropfen Blut in sich. Lucas, es gibt nur eine Erklärung: Der Satan persönlich hat einen schwarzen Engel zu uns gesandt, einen Blutsäufer, der die Kirche auf eine schwere Probe stellen soll.« Bruder Lucas fiel kein Argument ein, um dies zu entkräften, aber Kilian sprach schon weiter. »Und das hat er auch fertig gebracht, denn fähige und gut ausgebildete Söhne der Kirche weigern sich in die Gemeinden zu gehen, um dort das Amt des Priesters auszufüllen. Angst geht um, schreckliche Angst.« »Dann sind das alles also nicht nur Gerüchte.« Lucas war von dem, was ihm sein Abt berichtete, tief beeindruckt. »Wie kann man dieses Blutsäufers habhaft werden? Es muss doch einen Weg dazu geben.« Der Abt hob die Hände zum Himmel. »Was denkst du, warum ich dir das jetzt alles erzähle? Die Monsignori treffen sich hier bei uns, um dieses Problem endlich anzugehen. Bisher hat es nur zögerliche Versuche gegeben, dem Vampir eine Falle zu stellen, doch niemand weiß genau, wo er zuschlagen wird. Also sind diese Bemühungen stets erfolglos geblieben. Das soll nun anders werden. Man will mit System an die Sache gehen. Ich habe Andeutungen gehört, dass man Verbindung zu großen Exorzisten und sogar zu Dämonenjägern aufgenommen hat.« Lucas winkte ab. Weder der einen noch der anderen Gattung traute er über den Weg. Dämonenjäger … das waren doch alles Galgenvögel, die versuchten, der Kirche das Geld aus dem Beutel zu locken. Tunichtgute – weiter nichts! »Weiß man denn etwas über den Blutsäufer, das als Anhaltspunkt dienen könnte?« Abt Kilian war erstaunt, wie wenig Klatsch und Tratsch zu Bruder
Lucas drang. »Man sagt, sein Akzent sei Britisch, seine Kleidung schwarz wie die finsterste Nacht. Und er hat wohl seinen unheiligen Durst ausschließlich bei Priestern gelöscht. Die Bevölkerung hat ihm daher einen Namen gegeben, der ziemlich passend ist: Bibleblack.« Bruder Lucas war des Themas überdrüssig, denn das waren Aspekte, die für ihn nichts mit seinem ureigenen Glauben zu tun hatten. Er wollte sich über solche Dinge gar keine Gedanken machen, erst recht nicht in diese Geschichten hineingezogen werden. Abt Kilian wandte sich wieder den Gemüsebeeten zu. Ihm jedenfalls war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dass dieser Blutsäufer sich einmal in die Nähe des Klosters verirren könnte. Bislang war zwar nichts davon bekannt, dass dieser Bibleblack sich auch bei den heiligen Brüdern bediente, doch das musste ja nichts bedeuten. Kilian versuchte diese Überlegungen in den Hintergrund zu drängen. Gemächlich schritt er auf einen der Männer zu, die als Bedienstete in den Klostermauern lebten; alle Arbeiten konnten die Mönche schließlich nicht alleine erledigen. Vor einem Beet hielt er inne. Wunderschöne Kohlköpfe, herrlich in Reih und Glied. Dennoch gab er zu, dass ein feiner Wildschweinbraten auch ihn nicht kalt lassen würde. Kilian blickte zu dem jungen Mann, der sich um dieses Feld kümmerte. Er winkte ihn zu sich. Der Abt mochte diesen Burschen, der vor einem knappen halben Jahr hier seine Arbeit gefunden hatte. Er mochte etwas über zwanzig Jahre alt sein, wirkte hager, aber kräftig in den Schultern und Armen. Er konnte zupacken, das hatte der Abt oft beobachtet. Er war ein eher stiller Mann, der weder zu den Brüdern noch zu den anderen Arbeitern großartigen Kontakt suchte. »Sag, hättest du keinen Spaß an einer ordentlichen Treibjagd – es geht auf Wildschweine. Bruder Lucas sucht gute Männer dafür.« Sein Gegenüber blickte ihn mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln an. »Ich bin kein Jäger, Abt Kilian. Seid mir nicht böse, aber ich liebe meine Arbeit hier bei den Beeten. Tiere zu töten, das ist meine Sache nicht.« Der Abt war erstaunt, denn der junge Mann konnte sich aus-
drücken. Man konnte beinahe denken, er hätte so etwas wie eine Schulbildung genossen. Aber das war doch eher unwahrscheinlich. Dennoch hakte Kilian nach. »Du sprichst, als wäre in deinem Elternhaus Bildung durchaus kein Fremdwort gewesen? Irre ich mich da?« Der Gärtner verlor schlagartig das Lächeln. »Ihr irrt nicht, Abt Kilian. Der Schwarze Tod hat mir meine Eltern und Geschwister genommen, nur ich blieb übrig, aber ich spreche nicht gerne darüber. Schulbildung habe ich genossen – ein guter Lehrer brachte mir alles bei, was ein Junge so wissen sollte.« Der Abt lächelte milde. »Die Seuche hätte beinahe uns allen das Leben geraubt. Wir wollen dem Herrn jeden Tag danken, dass er sie noch rechtzeitig von uns genommen hat. Und nun geh wieder an deine Arbeit, junger Freund.« Der jedoch hatte noch eine Frage. »Verzeiht mir, aber die Jagd … bedeutet sie, das Kloster erwartet Besuch?« Kilian sah keinen Grund, diese Frage nicht zu beantworten. »Ja, in wenigen Tagen schon.« Dann wandte er sich ab und schritt die Beete entlang in Richtung des Haupthauses. Er hatte sich noch um so viel zu kümmern, damit es den Monsignori auch wirklich an nichts mangelte. Der junge Gärtner blickte dem Abt lange Zeit nach, dann griff er den Stiel seiner Harke fester und machte sich wieder an sein Werk. Mit gleichmäßigen Bewegungen lüftete er den Boden zwischen den Kohlköpfen. Er hatte den Abt nicht anlügen müssen, denn seine Arbeit machte ihm tatsächlich Freude. Sie wirkte beruhigend auf ihn. Eine Ruhe, die von außen auf ihn einwirkte, die zumindest einen geringen Teil seiner Zerrissenheit positiv beeinflusste. Starless fragte sich, wer sich hier zu Besuch angemeldet hatte. Sicherlich war es kein Freundschaftsbesuch irgendwelcher Würdenträger. Es würde sich um eine geheime Zusammenkunft handeln, bei der kirchliche Aspekte zur Sprache kamen, die man nicht einfach so offen und von der Gemeinde der Gläubigen in diesem Land beobachtet angehen konnte.
Dieses Kloster war seit langer Zeit der Ort für solche Treffen. Das war der Grund, warum Starless sich hier aufhielt. Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit er als Cedric die Küste Cornwalls verlassen hatte und als Starless die der Bretagne erreichte. Der Kapitän, der ihn damals mitgenommen hatte, schien erleichtert zu sein, diesen merkwürdigen Jungen von Bord zu haben.
Dann hatte Starless' Suche begonnen. Ohne Plan, ohne jeden Anhaltspunkt … Gwydion würde sich, wenn er, wie Nopricht vermutet hatte, nach Frankreich geflohen war, in den Schutz der Kirche begeben. Seine Mission, der Bau der Kathedrale, war mehr als nur kläglich gescheitert, doch er würde die ganze Sache sicher für ihn günstig darstellen können. Wo also sollte Starless seine Suche starten, wenn nicht in den Kirchen dieses Landes. Und Nopricht zu finden, konnte nur gelingen, wenn der sich nahe auf die Fährte Gwydions gesetzt hatte. Wenn nicht, dann war es nahezu unmöglich, den alten Mentor aufzuspüren. Starless hoffte damals, dass er rasch Erfolg haben würde. In Gedanken dankte er Nopricht, dass der ihm so intensiv die französische Sprache eingetrichtert hatte. Die erste Kirche, die auf seinem Weg lag, machte von außen einen eher schäbigen Eindruck, der zu ihrer Umgebung passte. Starless war erschüttert, als er sah, in welchen Verhältnissen die Menschen rund um das Gotteshaus lebten. Selbst die ärmsten Bauern und Bergleute in Cornwall schienen dagegen direkt im Paradies zu hausen. Die Pest hatte hier schrecklich gewütet und tat es noch immer. Leichenberge waren in Gräben aufgehäuft worden, bis diese bis zu ihren Rändern gefüllt waren. Dann bedeckte man sie mit trockenem Holz und zündete sie an … Der Gestank drehte Starless den Magen um. Wohin er auch sah – nur Schmutz und Dreck, Fäkalien auf den Wegen, stinkende Tierkadaver ließ man achtlos liegen. Und überall die Ratten. Als Starless die Kirche betrat, verschlug es ihm den Atem. Der gesamte Innenraum war mit dicken, hohen Kerzen ausge-
leuchtet. Überall an den Seiten des Kirchenschiffs standen Blumengebinde. Der Boden war so sauber, dass man von ihm hätte essen können – Gleiches galt für die Kirchenbänke. Und dann der Altarteil: Ein Altar aus schwarzem Marmor! Starless wusste, wie selten dieser Stein war … und wie kostspielig. Die Kerzenleuchter waren aus Gold, da gab es keinen Zweifel, so wie die Monstranz. Das Kreuz, das den gesamten Rückraum des Altars einnahm, bestand aus Ebenholz und war über und über mit silbernen Beschlägen gespickt. Starless wollte nicht glauben, was er hier für einen Prunk zu sehen bekam. Und draußen verfaulten und verhungerten die Menschen. Eine eiskalte Stimme stieß Starless aus seiner Verwunderung. »Wer bist du? Was willst du hier? Wie kannst du es wagen, in die heilige Kirche einzudringen!« Starless war verblüfft gewesen, als er den Besitzer dieser Stimme dann zu Gesicht bekam. Ein kleiner Mann mittleren Alters, mit kalten Augen und einer viel zu spitz geratenen Nase stand dort. In seiner rechten Hand hatte er einen Dolch gehalten, und Starless war sicher, dass er den auch einzusetzen gedachte. »Ich habe nur eine Frage, die ihr mir vielleicht beantworten könnt.« »Ich beantworte nicht die Fragen eines Lumpen, denn so wie du gekleidet bist, musst du ein Dieb oder Halsabschneider sein. Los, verschwinde aus meiner Kirche, sonst steche ich dich ab!« Lass mir den Vorrang … Der Cedric-Teil in dem jungen Mann machte keinerlei Anstalten, der Forderung seiner anderen Seite nicht nachzukommen. Sein Hass auf die Kirche, vor allem auf deren ausführende Organe, die menschenverachtend und nur auf den eigenen Vorteil bedacht schienen, schlug nun endgültig durch. Starless Augen wandelten sich zu matten Seen … und der Priester hob seinen Dolch angriffslustig ein Stück weiter nach oben. Er bekam die blitzschnellen Bewegungen des Vampirs überhaupt nicht mit und war vollkommen überrumpelt, als Starless ihm den Dolch aus der Hand schlug. Seine kräftigen Hände fassen die Schultern des Mannes, seine Worte klangen kalt wie eine Dezembernacht.
»Und nun wirst du mir sagen, ob dir der Name Pater Gwydion etwas sagt. Sprich rasch, denn meine Geduld ist fast schon am Ende.« Der Priester begann wie Espenlaub zu zittern. »Gwydion? Den Name habe ich noch nie gehört … das musst du mir glauben.« Starless sah, dass der Mann die Wahrheit sprach. Mit energischen Bewegungen drängte er ihn in Richtung Altar. »Schau dir noch einmal all diesen Prunk, all den Tand an, den du hier gehortet hast. Wie vielen Menschen da draußen, die Hunger leiden, die Schmerzen haben und verzweifelt sind, hättest du mit dem Gegenwert dazu wohl helfen können? Sag – wie vielen?« Der Mann rang um Worte. Endlich stammelte er los. »Aber … das alles gehört doch dazu. Das Haus unseres Herrn, es muss doch prachtvoll geschmückt sein.« Starless lachte humorlos auf. »Auch ich wurde in dieser Tradition erzogen, doch heute schäme ich mich dafür, dass ich diesen abstrusen Irrsinn nicht schon früher durchschaut habe. Das Haus deines Herrn … es soll das Letzte sein, das du in deinem Leben siehst, Priester.« Das letzte Wort klang wie ein Fluch, dann senkte Starless seine Zähne in den Hals des Gottesmannes und ließ nicht mehr von ihm ab, bis auch der letzte Blutstropfen seinen Körper verlassen hatte. Achtlos warf er die Leiche auf den Altar und verließ die Kirche …
Das alles war nun mehr als zehn Jahre her. Starless hatte seinen Weg fortgesetzt. Ungezählte Kirchen – ungezählte Priester – immer die gleichen Antworten – stets das gleiche Ende für die Schwarzröcke. Nach sechs Jahren war aus ihm der Schreckensmythos geworden, dessen Namen das einfach Volk nur hinter vorgehaltener Hand flüsterte, dessen Namen die Priester im Land mehr zu furchten gelernt hatten als die ewige Verdammnis. Bibleblack! Doch die Kirchenoberen waren nicht untätig geblieben. Man hatte Jagd auf Bibleblack gemacht. Niemand wusste, wo er beim nächsten Mal zuschlagen würde, also war es für Starless nicht sonderlich
schwer gewesen, den Vampirjägern ganz einfach aus dem Weg zu gehen. Doch bei all dem war das Ergebnis seiner Suche gleich null. Nach sechs Jahren spürte er die Sinnlosigkeit seines Tuns. Er war müde … In einem großen Waldstück unweit von Paris fand er den Ort, den er so dringend für sich benötigte. Es war eine große Höhle, nicht unähnlich der, in der die Fynn-Familie in Cornwall Zuflucht gesucht hatte; das alles schien vor einer Ewigkeit geschehen zu sein, wirkte schon beinahe gänzlich unwirklich auf ihn. Die Tage verbrachte er dort mit Schlaf und Lethargie. In den langen Nächten ging er auf die Jagd. Es gab in Paris einen großen Vampirclan, dessen Anführer versuchte, Starless in seine Gefolgschaft einzureihen, doch der widerstand. Er wollte alleine sein und das auch bleiben. Drei Jahre vergingen so, drei lange Jahre, in denen Starless beinahe vollkommen vergaß, was er sich in Cornwall geschworen hatte. Nopricht, Gwydion – das waren für ihn nur noch Namen, die etwas mit einer weit entfernten Vergangenheit zu tun hatten, die ihn nicht mehr interessierte. Er war kurz davor auch seine Familie zu vergessen … und Ceridwen. Es war eine Nacht wie jede andere, doch sie veränderte alles. Starless war in die Außenbezirke von Paris eingedrungen, denn hier wimmelte es nur so von Menschen, die billiges Vergnügen suchten. Viele davon waren gar nicht so viel anders als er selbst, denn die Tage verbrachten sie in Einsamkeit, lebten und liebten nur die Nacht, die alles gleich machte. Das alles konnte man natürlich auch im Zentrum der Stadt haben, doch dort trafen sich die Erfolgreichen, die, die andere für sich arbeiten ließen, die das Glück auf ihrer Seite hatten. Das war schon immer so gewesen und würde sich sicher auch in der Zukunft nur unwesentlich ändern. Starless wollte seine Jagd rasch hinter sich bringen. Er drückte sich tief in den Eingang eines Hauses und beobachtete die Menschen, die vorüberzogen. Die meisten von ihnen waren sinnlos betrunken, andere hatten einen Partner für diese Nacht gefunden, der die Lust mit ihnen ausleben wollte. Es war wie immer.
Der Blick des Vampirs blieb bei einer jungen Frau hängen, die in eine der Gassen einbog. Niemand folgte ihr, doch das änderte sich in der nächsten Sekunde. Die Gasse hatte keinen befestigten Boden – Lehm, aufgeweicht vom Regen des vergangenen Tages, quietschte bei jedem Schritt der Frau. Sie machte einen Bogen um einen toten Hund der – groß wie ein Kalb – den Weg versperrte; irgendjemand hatte dem Tier ein Messer in den Nacken gejagt und es einfach dort stecken lassen. Starless hatte keinerlei Mühe, die Frau einzuholen. Mit jedem Schritt, den er aufholte, verstärkte sich ein seltsames Gefühl in ihm, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Wie sie ging … der wiegende, ein wenig schwankende Gang, den man bei Küstenbewohnern und Seeleuten oft antreffen konnte, war ihm so vertraut. Ihre Haare, wild, ungekämmt und störrisch … die Figur … Als er sie erreicht hatte, riss er sie an der Schulter herum. Im fahlen Licht des Mondes blickte er in Augen, die ihn oft in seinen Träumen verfolgten und die zu sagen schienen: Wo warst du, als ich starb? Die Frau schrie gellend auf und trat mit all ihrer Kraft nach dem Angreifer, der sie längst nicht mehr fest hielt, sondern erschrocken einen Schritt zurückgewichen war. »Verschwinde, lass mich in Ruhe – Hurenbock! Los, verschwinde, ehe ich dir in die Eier trete!« Es war nicht die Drohung, die Starless zur Flucht brachte, sondern das Entsetzen der anrollenden Erinnerung, die in diesen Momenten über ihn hinweg flutete. Starless floh! Erst viele Straßen weiter blieb er stehen. Ceridwen … natürlich war sie es nicht gewesen, wie hätte das auch sein können? Doch ein paar Punkte der Ähnlichkeit hatten ausgereicht, um ihn vollkommen aus der Fassung zu bringen. Und plötzlich war wieder alles da. So brutal die Erinnerung auch sein mochte, sie hatte eine reinigende Wirkung auf seinen Verstand. Starless floh aus der Vorstadt zurück in seine Höhle. Den Rest dieser Nacht lief er dort auf und ab, unruhig, nicht fähig ein Auge zu schließen. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt, sie ließ sich nicht einfach so ablegen wie ein alter Mantel.
Irgendwo da draußen waren die Antworten auf seine Fragen, waren Gwydion und Nopricht. Er würde sie finden. Stunden danach verließ er die Höhle für immer – die Höhle, die ihn drei Jahre seiner Zeit gekostet hatte. Sein Weg führte erneut in die Vororte von Paris. Er suchte sich ein Gasthaus und trank einen großen Becher mit verdünntem Wein. Dann bestellte er sich eine Platte mit Brot, rohem Schinken und ein wenig Käse. Er hatte einen unglaublichen Hunger. Viele Jahre hatte er sich nur vom Blutdurst leiten lassen, doch nun verlangte der menschliche Teil in ihm sein Recht. Gierig machte er sich über das Essen her und ließ auch nicht den kleinsten Krümel übrig. Er bezahlte den Wirt mit gutem Gold; die alten Skrupel, seine nächtlichen Opfer nicht auch noch auszurauben, hatte er schon lange über Bord geworfen. Zielstrebig machte Starless sich auf den Weg zu einem der vielen Märkte, die es hier überall gab. Neue Hosen, Schuhe, ein Hemd und ein Umhang – alles in tiefstem Schwarz – gingen in seinen Besitz über. Als Letztes folgte ein breitkrempiger Hut, wie er in diesen Jahren in Mode war. Dann war Starless' Barschaft aufgebraucht. Aufgebraucht wie die trügerische Ruhe, in der sich die Priester dieses Landes drei Jahre lang gewogen hatten, denn der mordende Albtraum war zurück. An seiner Vorgehensweise änderte er nichts, doch er setzte seinen Fokus nun auf die Hauptstadt von Frankreich. Die Kirchen von Paris und ihre Priester lebten fortan in Schrecken. Das Ergebnis blieb stets gleich und enttäuschend für ihn – tödlich für die Gottesmänner. All dies änderte sich erst an einem Abend im Winter des vergangenen Jahres. Starless hatte die kleine Kirche viele Stunden lang beobachtet, die mitten im Zentrum der Stadt lag. Er war vorsichtig und geduldig genug, den Häschern stets ein Schnippchen zu schlagen, die von der Kirche auf ihn angesetzt waren. Doch hier schien tatsächlich alles ruhig zu sein. Der Priester hielt sich schon lange im Kirchenschiff auf. Zumindest brannten dort Kerzen, was im Allgemeinen ein gutes Indiz für die Anwesenheit des Pfaffen war. Wahrscheinlich bereitete er irgendwelche Dinge für den sonntäglichen Gottesdienst vor. Starless schlich sich lautlos heran. Er nutzte seine Vampirmagie
nicht, denn um ungesehen in eine Kirche zu gelangen, war das überhaupt nicht notwendig. Wie ein Schatten huschte er an den Wänden entlang und näherte sich dem Altar. Dann jedoch stoppte er und duckte sich zwischen die Kirchenbänke. Da waren Stimmen – drei Männer, die sich nicht eben leise unterhielten. Starless wechselte seinen derzeitigen Standort, um sehen zu können, was da vor sich ging. Drei in schwarzen Roben gekleidete Männer. Einer von ihnen war sicher der Priester, die anderen beiden konnte Starless nicht einordnen. Das änderte sich rasch, als er der Unterhaltung intensiv lauschte. Einer der Männer war von erstaunlicher Körperfülle und der führte auch das Wort. »Ich danke euch wirklich, dass ihr in dieser Nacht bei mir bleiben wollt. Ich hatte wirklich ein Gesicht … und ich sah diesen Priestermörder hier in meiner Kirche.« Starless duckte sich noch tiefer in seine Deckung. Offenbar warteten sie hier auf ihn. Ein Gesicht – entweder war der Priester tatsächlich übersinnlich begabt oder er hatte sich nur wichtig machen wollen. Andererseits lag er mit seiner bösen Vorahnung ja nicht falsch, wie Starless zugeben musste. Einer der anderen beiden Männer schaltete sich ein. Wahrscheinlich war auch er ein Priester, den sich der Hüter dieser Kirche als Unterstützung geholt hatte. »Was will der verfluchte Blutsauger nur von uns? Woher kommt sein Hass, der sich wohl ausschließlich auf die Kirche und deren Priester richtet?« Der dritte Mann hatte eine tiefe und beruhigend wirkende Stimme, die wie der Bass in einem Chor erklang. »Ich glaube, er ist auf der Suche nach einer bestimmten Person.« Starless lief es eiskalt den Rücken hinunter, denn dieser Mann kam der Wahrheit erschreckend nahe. »Doch er findet sie nicht. Er sucht nach einem von uns – nach einem Priester, der ihm etwas angetan haben muss.« Der Dicke lachte meckernd auf. »Und darum tötet er alle Priester Frankreichs? Wie dumm! Wenn er jemanden sucht, warum fragt er dann nicht an der richtigen Stelle nach? Das würde ihm viel Arbeit ersparen – und unsere Leben retten.«
»Wen sollte er da deiner Meinung nach fragen? Den Bischof? Ich glaube kaum, dass der einem Blutsauger Auskunft erteilen würde.« Nun gackerten alle drei um die Wette. Starless war davon überzeugt, dass die drei Priester sich bereits mächtig am Messwein vergangen hatten, um sich Mut anzutrinken. Die Bassstimme erklang nun wieder. »Mal im Ernst. Den Bischof? Würdest du das tun? Ich würde mich da eher an die Männer wenden, die das Schicksal der Kirche in diesem Land wirklich bestimmen.« Für einige Momente war es still, doch dann meldete sich der dicke Priester. »Wen meinst du? Ich habe das Gefühl, du weißt viel mehr als wir.« Der Bass erhob sich von seinem Platz und Starless konnte nun deutlich erkennen, dass es sich um einen großen Mann handelte, der sicherlich schon längst in der zweiten Hälfte seines Lebensalters angekommen war. »Mag sein …«Er zögerte ein wenig, doch dann sprach er weiter. »Westlich von Paris, am Fuß der Ardennen, gibt es ein Kloster.« Der Dicke machte einen Einwurf. »Das kenne ich gut. Abt Kilian leitet es. Alles gottesfürchtige Brüder, die einen ausgezeichneten Wein keltern, aber … keiner von ihnen verfügt über großen Einfluss.« Die Bassstimme schüttelte den Kopf. »Das habe ich ja auch nie gesagt. Also hört zu und kein Wort von dem zu einem anderen, habt ihr verstanden?« Die beiden nickten heftig und Starless spitzte seine Ohren noch ein wenig mehr. »Fürsten, Könige und Kaiser regieren die Welt, doch im Hintergrund sind immer andere, die in Wahrheit die Fäden ziehen. Das ist in der Kirche nicht anders, wie sollte es auch? Der Bischof kann viele Dinge in Bewegung bringen, doch immer nur in gewissen Grenzen. Was darüber hinaus geht, müssen andere erledigen, planen und oft auch entscheiden. Wenn sie sich treffen, dann darf das nie offiziell sein, niemals in der Öffentlichkeit bekannt werden. Es gibt nur wenige Orte, die verschwiegen genug sind, doch besagtes Kloster gehört ganz sicher dazu. Abt Kilian und seine Mitbrüder sind weit
mehr, als nur normale Mönche. Sie sind ein Bollwerk, verschwiegen bis in den Tod. Zugleich sind sie allesamt durchaus in der Lage, einen Gast gegen einen Angriff mit dem eigenen Leben zu verteidigen.« Er machte eine wirksame Sprechpause, die seine Zuhörer nur noch neugieriger werden ließ. »Ab und an bekommt das Kloster Besuch von vier oder fünf Männern – das ist unterschiedlich, je nach Wichtigkeit der Dinge, die es zu klären gibt. Die Männer kommen aus allen Teilen Frankreichs, reisen unter falschen Identitäten, manchmal als Kaufleute, dann wieder als Spielleute. Und sie verweilen dann für einige Tage bei Abt Kilian und seinen Mitbrüdern. Was dort besprochen wird, das dringt niemals nach außen, verlässt diese Mauern nicht. Dort wird bestimmt, wie unsere Kirche die Zukunft angehen wird – nicht beim Bischof.« Eine ganze Zeit lang herrschte Ruhe in dem Kirchenschiff, bis der dicke Pater endlich seine Sprache wiedergefunden hatte. »Aber was kann es denn dort schon zu besprechen geben? Wir sind die Verwalter des Glaubens, Gottes Arbeiter auf Erden, wir …« Die Bassstimme unterbrach ihn. »Wie naiv bist du? Ja weißt du denn nicht, welchen Einfluss die Kirche ausübt? Glaubst du, dieser Einfluss endet an den Grenzen unseres Landes? Nein, das geht weit darüber hinaus. Und solche oft weltlichen Dinge sind es, die hinter den Klostermauern entschieden werden.« Der angesprochene Priester stand abrupt auf. Starless konnte sehen, wie stark er schwankte. Die drei hatten dem Wein mehr als gut zugesprochen. »Hör auf. Davon will ich nichts wissen. Meine Aufgaben als Priester sind klar umrissen – mehr will ich nicht, denn ich bin ein Lamm Gottes und kein Politiker. Ich denke, in dieser Nacht wird kein Blutsauger mehr zu uns kommen. Also lasst uns schlafen gehen. Ich jedenfalls bin müde.« Die drei zogen sich wortlos in einen Raum zurück, der durch eine Tür hinter dem Altar zu erreichen war. Starless blieb noch eine ganze Weile still in seiner Position, dann verließ er geräuschlos die Kir-
che. Er hatte jedes Interesse verloren, hier seinen roten Durst zu stillen. Sollten die drei Pfaffen ihren Schlaf schlafen – jeder mit seinen ganz persönlichen Träumen. Starless hatte Dinge erfahren, die ihm wichtiger als ein rascher Biss waren. Was der Priester mit der dunklen Stimme da berichtet hatte, änderte alles für den Vampir. So wie bisher weiterzumachen, war sinnlos. Er musste andere Wege gehen. Wenn ihn jemand zu Gwydion bringen konnte, ihm den Weg zu dem verhassten Mann weisen mochte, dann sicher doch die, die alle Fäden innerhalb der Kirche zogen. Und hatte der Mann nicht davon berichtet, dass die Interessen sicher nicht an den Grenzen des Landes endeten? Vielleicht waren diese mysteriösen Männer ja sogar die Initiatoren dessen, was Gwydion in Cornwall angerichtet hatte. Westlich von Paris … Am Fuß der Ardennen … Starless verschwendete keinen Augenblick mehr. Bibleblack verließ die Hauptstadt noch in dieser Nacht.
Geduldig harkte er immer wieder über die gleiche Stelle. Zwei kleine Steinchen kamen zum Vorschein und Starless bückte sich, um die Störenfriede zu entfernen. Diese Arbeit war eintönig, forderte Geduld und nicht weniger Gleichmut. Beides brachte Starless nun seit einigen Monaten auf, denn seit man ihn hier im Kloster als Gartenarbeiter aufgenommen hatte, war nichts geschehen – niemand besuchte die Anlage, nichts deutete darauf hin, dass sich dies so schnell ändern würde. Starless' Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, doch diese Probe bestand er bravourös. Seine nächtlichen Ausflüge in die Kirchen der Umgebung stellte er nicht gänzlich ein, denn die Angst vor ihm sollte keinen Abbruch erhalten. Angst erzeugte Reaktionen – vielleicht auch die, dass diese geheimnisvollen Kirchenmänner sich damit befassen mussten? Nun endlich schien seine Geduld ja belohnt zu werden. Das Kloster rüstete sich für die Ankunft der mysteriösen Gruppe, der grauen Eminenzen, die das Schicksal und die Zukunft der Kir-
che in Frankreich zu bestimmen schienen.
Zwei Tage später kamen sie. Noch vor dem Mittag baten zwei Händler um Einlass, die mit einem kleinen Tross von vier Wagen und einigen Bediensteten unterwegs waren. Einer der Wagen – beladen mit Gewürzen und Stoffballen – war beschädigt. Die hintere Achse schien verbogen und die Pferde hatten ihre liebe Mühe, das Gefährt vorwärts zu bewegen. Man bat um Unterkunft für einen oder zwei Tage, bis das Malheur behoben sei. Am späten Nachmittag dann klopfte eine einsame Gestalt an die Klosterpforte. Ein Wanderer, eher schon ein Bettler, gekleidet in Lumpen und sich auf einen mannshohen Wanderstab stützend, bat die Brüder um die Gnade der Rast. Sie wurde ihm natürlich gewährt. Starless beobachtete die Szenen aus sicherer Entfernung. Insgesamt bot man hier einem unbedarftem Zeugen eine wirklich gute Vorstellung. An diesem Tag geschah nichts weiter. Erst am folgenden Morgen wurde die Ruhe des Klosters erneut gestört. Starless sah zwei Reiter. Einer davon ein hagerer Mann, dessen Hals und Nase auch prächtig zu einem Geier gepasst hätten; der andere, offenbar dessen Diener, war ein Schwarzer, der bis zu den Hüften splitternackt war und vollkommen kahl dazu. Auf dem Kopf des Hünen konnte Starless deutlich merkwürdige Symbole erkennen, die dort mit weißer Farbe tätowiert waren. Er trug weite Pumphosen und war barfuß. Ein Heide … im Dienst eines katholischen Kirchenmannes? Starless wunderte sich über nichts mehr. Der Tag schleppte sich quälend langsam dahin. Starless hatte Mühe, die Ankömmlinge allesamt irgendwie im Blick zu behalten. Warteten sie auf ein weiteres Mitglied ihrer Gruppe? Oder waren nun alle versammelt? Er fasste sich erneut in Geduld. Nach Sonnenuntergang wurde aus Starless Bibleblack, der Vampir. Er huschte durch die Gänge des Klosters, wich den Mönchen aus, die – mehr oder weniger in sich selbst versunken – unter den Arkaden wandelten und still für sich ihre Gebete sprachen.
Die ganzen christlichen Symbole, die Kreuze, die er in diesem Kloster überall vorfand, all das machte Bibleblack nichts aus, beeinträchtigte ihn in keiner Weise. Was anderen Vampiren ein Gräuel war, beeindruckte ihn nicht. Sicher konnte er sich da auch nicht mit den anderen Blutsaugern vergleichen, zu denen ihn auch nichts hinzog. Die Kinder der Nacht, die sich in Familien und Clans zusammenschlossen, sie waren nicht sein Fall. Und auf Dauer hätten sie ihn auch nicht akzeptiert, ihn wohl eher ausgestoßen oder gar gejagt, denn er war nicht Fisch, nicht Fleisch – nicht Mensch und nicht Vampir. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Bibleblack fand, was er gesucht hatte. Natürlich – er hatte in den großen Zimmern und Sälen der Anlage nach den Gästen des Klosters gesucht, doch diese Orte waren für eine geheime Zusammenkunft viel zu auffällig. Er fand sie schließlich in den spartanisch ausgestatteten Räumen, die Abt Kilian bewohnte. Wände und Türen waren kein Hindernis für einen Vampir, und wenn Bibleblack nicht gesehen werden wollte, dann geschah das auch so. Die beiden Kaufmänner, der Bettler und der Geierhals hockten auf harten Stühlen; außer ihnen war nur Abt Kilian anwesend … und der Schwarze, dessen nackter Oberkörper glänzte, als hätte er ihn mit schierem Fett eingerieben. Seine Gegenwart empfand Bibleblack als unangenehm. Er konnte es nicht definieren, doch von dem Afrikaner ging eine latente Gefahr aus. Er hockte scheinbar stoisch auf dem kahlen Boden, doch seine Augen schwirrten ständig durch den Raum, fanden keine Sekunde lang einen Fixpunkt. Bibleblack war sicher, dass der Schwarze ihn nicht sehen konnte, doch wenn dessen Blick ihn passierte, dann spürte er ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut. Es war Abt Kilian, der die Zusammenkunft eröffnete. »Monsignori, wieder einmal ist es an der Zeit für ein Treffen in diesen Mauern. Als Gastgeber erlaube ich mir, das wohl wichtigste Thema all unserer Zusammenkünfte direkt anzusprechen. Wie weit sind die Vorbereitungen gediehen, beim Tod von Papst Innozenz endlich den richtigen Mann auf den Heiligen Stuhl zu setzen – einen
von uns also?« Bibleblack spitzte die Ohren. Das hier mochten tatsächlich die wahren Herrscher innerhalb der Kirche Frankreichs sein, doch es ging ihnen nicht darum, wichtige Entscheidungen zum Wohle aller zu treffen, nein, diese sogenannten Monsignori planten die Machtergreifung der gesamten Weltkirche! Der Geierhals antwortete dem Abt, den Bibleblack nun mit ganz anderen Augen betrachtete. Dieser gutmütige Mann, immer um seine Mitbrüder und alle anderen Menschen bemüht und besorgt, manchmal ein wenig zu leutselig, doch immer sein Kloster im Fokus, dieser Mann lebte offenbar zwei Leben. Bibleblack konzentrierte sich auf den Geierhals. »Innozenz VI. wird nicht mehr lange leben, so viel ist klar. Er ist krank, umgeben von Neidern und falschen Einflüsterern. Er ist ein Franzose wie wir, doch das macht ihn nicht zum richtigen Mann unter der Tiara. Unser Einfluss wächst ständig. Es muss einfach so sein, dass der nächste Papst die Sache der Kelten nach vorne bringt.« Abt Kilian nickte milde. »Das alles wissen wir ja, Vallentin, doch welche konkreten Fortschritte können wir vorweisen? Wenn Papst Innozenz stirbt, dann muss alles schnell gehen. Mit welcher Unterstützung von den Kirchen anderer Länder können wir rechnen?« »Wir haben Fürsprecher in nahezu allen Ländern, doch dies wird vielleicht nicht ausreichen.« Der Geierhals, der Vallentin hieß, schien unzufrieden. »Wenn Innozenz stirbt, müssen wir mit unseren Männern sofort in Avignon präsent sein. Im Ernstfall sollten wir Waffengewalt nicht scheuen.« Der Papst regierte von Avignon aus. Der dortige Papstpalast war ein Dorn im Fleisch derjenigen, die Rom als einzig möglichen Ort für den Heiligen Vater ansahen. Frankreich hatte die Vormacht in diesem Machtspiel – zumindest im Moment. Doch diese Männer hier, die Bibleblack belauschte, wollten noch mehr. Ihnen ging es darum, die keltische Linie wieder an die Hebel der Macht zu bringen. Abt Kilian ging nicht direkt auf den Einwurf Vallentins ein. »Wie steht es um unsere Brüder in England?« Bibleblack erstarrte. War
das Zufall? »Seit dem Desaster, das unser Bruder Gwydion in Cornwall angerichtet hat, konnten wir mit unserer Sache dort doch nie wieder richtig Fuß fassen.« Einer der Kaufmänner schaltete sich ein. »Das ist mehr als zehn Jahre her. Wir sollten es Gwydion inzwischen verziehen haben. Er wollte eben zu viel – und das auch noch viel zu schnell. Er hat Buße getan. Heute ist er einer unseren besten Verbündeten im Dunstkreis von Papst Innozenz.« Abt Kilian winkte ab. »Schon gut. Aber Cornwall war und ist politisch gesehen für die Sache der Kelten ungemein wichtig. Was also hat sich dort in den letzten Jahren getan?« Bibleblack ließ die Aufmerksamkeit für dieses Gespräch sinken, denn was die fünf Männer nun besprachen, das war Politik – die jedoch hatte ihn nie interessiert. Was ihn antrieb, waren andere Dinge. Denen jedoch war er in den vergangenen Minuten um einiges näher gekommen. Gwydion lebte! Und wie er lebte … im direkten Umkreis von Papst Innozenz, existierte er sicherlich wie die sprichwörtliche Made im Speck. Und Starless'/Bibleblacks Familie hatte elendig verrecken müssen. Der Hass, den der junge Mann schon mehr als zehn Jahre nährte, loderte erneut mit ungeheurer Macht auf. Und er machte Bibleblack für einen kurzen Augenblick unvorsichtig. Er wollte den Raum so rasch wie möglich verlassen, denn alles drängte ihn zum sofortigen Aufbruch in Richtung Avignon. Er vergaß dabei die ständig und ohne die geringste Unterbrechung den Raum durchmessenden Blicke des Schwarzen Dieners von Vallentin. Bibleblack hätte es vielleicht noch geschafft rechtzeitig zu fliehen, denn er hatte die Vampirgabe sich an einen anderen Ort zu versetzen, doch er war wie paralysiert, als der Afrikaner aufschrie. »Asanbosam – Vampir! Dort!« Alle im Raum sprangen auf, doch sie sahen den Schemen nicht, den der halb nackte Wilde registriert hatte. Und der Mann reagierte mit ungeheurer Schnelligkeit. Irgendetwas lag plötzlich in seiner
rechten Hand, als habe ein großer Magier es dort hingezaubert. Bibleblack konnte nur ungenau erkennen, worum es sich handelte. Nur einen Herzschlag später wusste er es. Ansatzlos schleuderte der Schwarze dieses Etwas aus der Hand. Bibleblack machte einen instinktiven Satz zur Seite, doch er war nicht schnell genug. Hart schlug das Wurfgeschoss in seiner linken Schulter ein. Ein entsetzliches Brennen breitete sich blitzschnell in seinem Körper aus. Schnell – geh du nach vorne … schnell … Bibleblack zog sich zurück – Starless warf sich in den Schmerz hinein, der seinen Körper ausfüllte; so zumindest fühlte dieser Wechsel sich an. Wie von einem Hammer niedergeschlagen ging er zu Boden. Die Pein war schier unerträglich, doch sie tötete ihn nicht – zumindest nicht sofort. Wäre der Vampirteil in ihm dominant geblieben, hätte diese Wunde ihn von innen heraus aufgefressen. Halb ohnmächtig, halb bei Besinnung fühlte er, wie man ihn unsanft hochhob und auf den einzigen Tisch im Raum legte. Er hörte die Stimme Vallentins, der lautstark auf seinen Leibwächter einsprach. »Du Idiot! Ein Vampir? Sieht so ein Vampir aus? Wenn du ihn richtig getroffen hättest, dann wäre der Junge jetzt tot.« Abt Kilian drängte sich an den Tisch. »Das ist einer meiner Arbeiter. Der Junge ist mehr als ein halbes Jahr im Kloster. Das ist doch kein Blutsauger.« Er berührte vorsichtig den hölzernen Dorn, der noch in der Wunde steckte. »Holt Bruder Jorge, unseren Heilkundigen. Das Ding dort muss entfernt werden.« Vallentin schüttelte den Kopf. »Viel helfen wird das nicht, denn mein Diener benutzt vergiftete Dorne. Und dieser hier war sicher speziell für einen Vampir präpariert.« Der Schwarze bestätigte diese Vermutung. »Meine Vorfahren haben mit dem Gift dieses Dorns die Asanbosam-Vampire bekämpft, die in Afrika herrschten. Kein Vampir kann die lodernde Flamme überstehen, die das Gift in ihm anzündet.« Er blickte nicht verstehend auf Starless, der vor Schmerzen keuchte. »Er war ein Vampir, ich schwöre es. Ich konnte es sehen, erkennen. Glaubt mir.«
Vallentin holte aus und schlug seinem Leibwächter mit der flachen Hand mitten ins Gesicht. Der Afrikaner duckte sich wie ein geprügelter Hund, der seinen Herrn wütend gemacht hatte. »Du Kretin! Er war ein Vampir? Du redest wirres Zeug. Halt jetzt deinen Mund.« Vallentin wandte sich an Abt Kilian. »Ich habe meinen Leibwächter mit hierher gebracht, weil er sich mit Vampiren auskennt, dachte ich zumindest. Immerhin geht Bibleblack hier in der Gegend um, da wollte ich kein Risiko eingehen.« Kilian blickte seinen Gast wütend an. »Das hier dürfte wohl kaum der berüchtigte Priestermörder sein.« Bissige Ironie schwang in seiner Stimme mit. »Du solltest dir wohl besser einen anderen Leibwächter suchen, Vallentin.« Ein Mönch mit hochrotem Gesicht stürmte in den Raum, gefolgt von zwei weiteren Brüdern. Bruder Jorge kniete sich neben Starless hin und untersuchte die Wunde oberflächlich. Dann gab er seinen Begleitern ein Zeichen, woraufhin die Starless so sanft wie möglich aus dem Zimmer trugen. Jorge wandte sich an seinen Abt. »Ich kann da noch nicht viel sagen, aber wenn der Dorn vergiftet ist, dann habe ich keine großen Hoffnungen für das Leben des Burschen.« »Tu für ihn, was du kannst, Jorge.« Abt Kilian wandte sich an die Anwesenden. »Für heute ist es genug. Unsere Ruhe wurde nachhaltig gestört, denke ich. Wir treffen uns morgen zur gleichen Stunde wieder hier und besprechen unsere weitere Vorgehensweise. Nun geht alle auf eure Zimmer.« Die Versammlung löste sich schweigsam auf. Kilian blieb alleine zurück. Ja, der kommende Papst sollte wieder aus Frankreich stammen. Und er sollte in der Tradition der Kelten stehen. Wenn er ehrlich war, dann hielt er sich selbst für einen geradezu perfekten Kandidaten …
Starless fror erbärmlich, während ihn in seinem Inneren eine Glut zu verzehren schien.
Sanft hatte man ihn auf ein Lager gebettet und ihn entkleidet. Das alles erlebte er in einem Zustand zwischen Ohnmacht und dem Wachsein. Er selbst war nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu bewegen. Alle Kraft schien aus ihm geflohen zu sein. Leise hörte er die Stimmen der Männer, die sich um ihn kümmerten, doch er konnte den Sinn ihrer Worte nicht erfassen. Was hatten sie mit ihm vor? Waren sie Heiler? Starless wusste, dass im Kloster ein bekannter Heilkundiger lebte – Bruder Jorge, den er ab und an im Garten gesehen hatte. Er fühlte Hände, die sanft über seine Schulter huschten, doch sie machten anderen Platz, die Starless fest auf das Lager pressten. Was geschah nun? Im nächsten Augenblick explodierte eine Sonne aus Schmerz in seinem Kopf. Für Sekunden sank er in eine Ohnmacht, doch die hielt ihn nicht fest und stieß ihn in seinen alten Zustand zurück. Sie haben den Dorn aus der Wunde gezogen. Seine andere Seite, der ebenbürtige Vampirteil seines Ichs, meldete sich nur ganz schwach. Von so weit hinten waren diese Kommentare noch nie gekommen. Der Vampir in Starless/Bibleblack versteckte sich, so gut es nur ging. Starless trat in den inneren Dialog ein: Lass mich nicht so alleine. Deine … unsere selbstheilenden Kräfte … ich brauche sie, sonst werde ich das nicht überleben. Lange kam keine Antwort, dann ertönte ein Wispern – mehr war es nicht. Ich kann nicht – das Gift würde mich sofort zerstören, auffressen. Du musst es alleine schaffen. Starless schrie inwendig auf. Du darfst mich nicht alleine lassen! Wann immer du wolltest habe ich dir den Vorrang gegeben, nun aber fordere ich deine Hilfe. Gib mir einen Teil deiner Kräfte. Wenn dieser Körper mit mir stirbt, wirst auch du vergehen! Das war eine unverhohlene Drohung – und zugleich eine Tatsache, die der Vampir für sich wohl ausgeschaltet hatte. Ich werde es versuchen … Dann schwieg die andere Seite und ließ Starless mit Schmerz und
Qual alleine zurück. Noch immer waren da die Stimmen der Männer, die ihn behandelten, doch nun gesellte sich eine weitere hinzu – es war Abt Kilian, der sich nach Starless' Befinden erkundigte. Bruder Jorge gab ihm bereitwillig Auskunft. »Das Gift in der Wunde ist mir völlig unbekannt. Ich kann also nicht genau sagen, wie es auf einen Menschen wirkt, doch ich befürchte, der junge Mann hier hat nur sehr geringe Chancen. Wenn er die kommenden 24 Stunden überlebt, dann kann man für ihn hoffen, doch zur Zeit können wir nur beten und den Herrn bitten, ihm zur Seite zu stehen.« Starless hörte die Worte, die wie ein Hohn in seinen Ohren klangen. Gott sollte ihm also helfen? Dann gab es wohl keine Hoffnung mehr, denn der würde sich kaum um den Blutsauger kümmern, der seine Helfer hier auf Erden reihenweise umgebracht hatte. Abt Kilian klang wirklich besorgt und Starless war sicher, dass zwei Seelen in der Brust dieses Mannes miteinander rangen. Er war auf der einen Seite ein so gütiger und gerechter Mensch – doch gleichzeitig ein vom Machtdenken besessener, den es zur Spitze der Kirche zog. »Dann wollen wir wirklich alle beten, denn durch die Unvernunft des Leibwächters von Vallentin muss der Junge nun so leiden. Bruder Jorge, tu alles für ihn, was du nur tun kannst.« Starless fühlte, wie die hartnäckige Intensität des Schmerzes ihn vollkommen zermürbte. Er wurde von Minute zu Minute schwächer, würde sicher bald die Besinnung verlieren. Und dann? … die kommenden 24 Stunden … Wie sollte er diese Zeitspanne überstehen, wenn er sich gegen den anrückenden Tod nicht einmal bei Bewusstsein wehren konnte? Noch einmal bündelte er seine Konzentration und schrie in sich hinein – auf der Suche nach seiner anderen Seite, die er nirgendwo fühlen konnte. Du musst helfen! Ich sterbe – wir sterben! Wofür haben wir gelebt, wenn wir die nicht rächen können, die uns genommen wurden? Sag du es mir! Also hilf Bitte … ich brauche dich … mein Bruder … Er bekam keine Antwort. Nur das Echo seiner so intensiven Worte hallte durch ihn hin-
durch. Dann verlor er den Kampf gegen die Ohnmacht …
… und öffnete die Augen. Wo war er nun? Das hier war ganz sicher nicht das Kloster in Frankreich – und sicher auch nicht die Zeit um das Jahr 1360 herum. Starless blickte geradewegs in das Gesicht von Professor Zamorra, der keine zwei Meter von ihm entfernt in ähnlich misslicher Lage war wie er selbst. Die beiden Männer waren mit einer Art Fesselfeld an die Wand gebannt worden – wie zwei große Insekten, die man mit Nadeln fixierte. Beide konnten ihre Köpfe hin und her drehen, doch über den Rest ihrer Körper hatten sie keinerlei Gewalt. Starless blickte sich um. Das hier war das Innere einer Raumjacht der DYNASTIE. Miso Vorrog hatte es tatsächlich geschafft, beide Männer spielend leicht zu überwältigen. Starless kochte innerlich vor Wut. Er hatte sich wie ein Vollidiot benommen und wie ein Kleinkind einfangen lassen. Zamorra blickte den Vampir direkt an. »Du sprichst im Schlaf. Das solltest du dir abgewöhnen, denn das kann dir in einer Beziehung getrennte Schlafzimmer einbringen.« Starless verzog säuerlich das Gesicht. »Ich kann über deine Scherze nicht lachen.« Der Parapsychologe blieb vollkommen ernst. »Sollst du ja auch nicht, aber zumindest habe ich so einige Details aus deiner Vergangenheit erfahren. Leider sind sie nur ein Puzzleteil, das ich keinem Ganzen einfügen kann. Interessant fand ich jedoch die Zwiegespräche mit dir selbst. Das lässt tief blicken.« Starless wollte ärgerlich abwinken, doch da war keine Hand, die ihm gehorchte. Zamorra blickte sich um, soweit es seine Kopffreiheit zuließ. »Kannst du mir vielleicht erklären, was hier überhaupt geschieht? Vor allem wo wir hier sind und warum?« Starless machte es so kurz wie nur möglich und berichtete Zamorra von dem Alpha Miso Vorrog, der als Führer einer Gruppe ein Attentat auf den neuen ERHABENEN der DYNASTIE DER EWIGEN
verübt hatte. Und er erzählte, wie dieser Alpha sich auf der Flucht von der Kristallwelt die Erde als Ziel ausgesucht hatte. Der Professor dachte lange nach. »Ein Attentat auf Morano. Das macht mir diesen Vorrog ja regelrecht sympathisch. Allerdings hätte er da sorgfältiger vorgehen sollen.« Starless lachte ein unechtes Lachen. »Er hat sicher nicht mit mir gerechnet, denn ich habe die ganze Sache noch rechtzeitig entdeckt und somit verhindert. Allerdings ist vom Kristallpalast nicht mehr sehr viel übrig geblieben.« Der Meister des Übersinnlichen verstand dennoch nicht. »Aber was will der Mann von mir? Soll ich bei Morano um sein Leben betteln? Unfug! Es muss einen Grund geben, warum er mich entführt hat.« Starless schüttelte den Kopf. »Den kann ich dir allerdings auch nicht nennen, Zamorra. Ich habe keine Ahnung, was Vorrog damit bezwecken will.« »Dann will ich es euch verraten.« Die beiden Männer ließen ihre Köpfe zum Schott herumrucken, denn von dort war die Stimme gekommen. Miso Vorrog war nicht eben eine Angst einflößende Gestalt, doch alles an ihm drückte Autorität und starken Willen aus. Der Ewige blieb vor Starless stehen und sah den Vampir lange an. »Ich wundere mich, dass ich dich mit diesem Fesselfeld halten kann. Du bist doch ein Vampir, oder? Wenn mich nicht alles täuscht, dann könnt ihr euch doch beliebig von einem Ort zum anderen versetzen. Warum tust du das nicht? Ich halte dich sicher nicht auf, denn ich brauche nur Zamorra. Also verschwinde.« Starless erwiderte den Blick des Alphas stoisch und würdigte ihn keiner Antwort. Vorrog zuckte mit den Schultern. »Dann eben nicht. Aber glaube mir – das wirst du noch bereuen. Außerdem wundere ich mich schon, wie ein Jäger von Morano ausgesandt werden kann, der sich so übertölpeln lässt.« Starless kochte, doch er riss sich zusammen. Mit keiner Regung verriet er dem Alpha, dass er in diesen Augenblicken zu schwach war, um seine andere Seite nach vorne zu holen. Er konnte also mit-
nichten verschwinden, wie Vorrog es ausgedrückt hatte. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis seine Kräfte wieder aktiv genug dazu wurden. Er musste also Zeit schinden. Vorrog wandte sich Zamorra zu. »Du kannst nicht wissen, warum ich dich auf diese – ich gebe es zu – plumpe Art und Weise gefangen genommen habe. Du konntest ja mit meiner Anwesenheit hier überhaupt nicht rechnen.« Professor Zamorra fand die beinahe anbiedernde Art dieses Ewigen eher widerlich, doch vielleicht konnte er das ja zu seinem Vorteil nutzen. »Du hättest mich auch ganz einfach fragen können, wenn du Asyl suchst – oder wenn du Hilfe benötigst. Das alles hier finde ich ehrlich gesagt vollkommen übertrieben.« Miso Vorrog sah seinen Gefangenen abschätzend an. »Nein, du hättest meiner Forderung niemals Folge geleistet. Jetzt bin ich in einer besseren Position. Also – bring mich zu Ted Ewigk, dann bist du frei.« Starless und Zamorra warfen sich kurz einen Blick zu. Was wollte Vorrog von Ted Ewigk? Wusste der Alpha nichts von Ewigks momentanem Zustand? Als Starless Ted Ewigks Machtkristall stahl und zu Morano brachte, hatte Ted sterben sollen, doch er überlebte. Aber er war nicht mehr der Mann, der er einmal gewesen war. Sein Verstand war zurückgeschnellt auf das Niveau eines Kleinkindes. All seine Erinnerungen, sein ganzes Leben, waren ausgelöscht. Ted war einmal der ERHABENE der DYNASTIE gewesen und beherrschte den Machtkristall, doch auch davon wusste er nichts mehr. Zur Zeit befand Ewigk sich auf der Welt der Maiisaro, die einst das Licht der Wurzeln genannt worden war. Dort hatte Ewigk sich aus freien Stücken in das Kunstwesen Geschor begeben, weil er glaubte, dort seine Erinnerungen zurückzubekommen. Das war der Stand der Dinge, doch sollte Zamorra das alles diesem Alpha erzählen? Der hätte damit nichts anfangen können. Zamorra wagte einen Vorstoß. »Was willst du von Ted Ewigk?« Miso Vorrog war es nicht gewohnt, dass man seine Befehle hinter-
fragte, doch er erkannte, dass er Zamorra zumindest einen Teil seines Vorhabens erklären musste. »Ein Vampir ist nun der ERHABENE der DYNASTIE DER EWIGEN. Kannst du dir vorstellen, was das für jeden Ewigen bedeuten muss? Als Ted Ewigk zum ERHABENEN wurde, war er ein ungeliebter Herrscher, den man schnell den Friedensfürst nannte. Er war zu weich, zu schwach, um die DYNASTIE wieder auf einen glorreichen Pfad zu führen. Doch selbst diese Zeit war eine, die wir alle zu ertragen bereit waren. Doch nun hat sich dieser … Tan Morano des Machtkristalls bemächtigt. Ein Blutsauger auf dem Thron meines Volkes.« Er warf einen verächtlichen Blick auf Starless, der dies ungerührt ignorierte. »Ein Schwarzblütler wie der da. Du bekämpfst diese Wesen doch auch, Zamorra. Wie würdest du an meiner Stelle empfinden?« Zamorra zog die Augenbrauen in die Höhe. »Was ich tun würde, ist irrelevant und tut nichts zur Sache. Beantworte meine Frage – was willst du von Ted Ewigk?« »Ich will mit seiner Hilfe diesen Morano aus dem Kristallpalast verjagen. Nur Ewigk ist in der Lage, dem Vampir den Machtkristall streitig zu machen. Ich brauche ihn als Verbündeten. Führe mich zu ihm.« Zamorra wusste, dass Ted, der sich inzwischen auf der geistigen Ebene eines Pubertierenden befand und nur langsam alles aufarbeitete, was er verloren und vergessen hatte, dies früher vielleicht gekonnt hätte. Heute sicherlich nicht, aber das band er Vorrog nicht auf dessen Allerweltsnase. »Und wenn er dazu nicht fähig wäre? Was würdest du dann tun, Alpha?« Vorrog erwägte diese Möglichkeit für sich nicht. »Er wird. Er muss es ganz einfach. Also? Bringst du mich zu ihm? Wenn nicht, dann wird es euch beiden hier wahrhaftig schlecht ergehen. Ich war nicht umsonst über Jahre verantwortlich für alles, was in und um den Kristallpalast herum passiert ist. Ich verfüge über Mittel, die nicht einmal Nazarena Nerukkar kannte. Und ich weiß, wie ich anderen Schmerzen zufügen kann, die über alles hin-
aus gehen, das die sich träumen lassen können. Also – denke nach, Professor Zamorra. Ich gebe dir eine kurze Bedenkzeit.« Ohne weiteres Wort verließ der Alpha den Raum. Zamorra und Starless sahen einander an. Der Vampir sprach aus, was Zamorra dachte. »Er ist wahnsinnig. Dass sein Attentat auf den ERHABENEN gescheitert ist, dass er fliehen musste, das hat sein Gehirn nicht verkraftet.« »Wir müssen uns hier irgendwie befreien. Du bist doch ein Vampir – also warum kann dich dieses Fesselfeld überhaupt halten?« Zamorra hatte die ganze Zeit über damit gerechnet, dass Starless ganz einfach verschwand, denn er war durch seine Magie schließlich in der Lage, sich von einem Ort an einen anderen zu versetzen. Der ganze – im Grunde schrecklich nüchterne – Vorgang untermalt mit ein wenig Rauch und Donnergetöse hatte die Menschen über alle Jahrhunderte hinweg schier in den Wahnsinn getrieben. Asmodis arbeitete noch heute oft so und hatte seinen Spaß daran, wenn die Leute sich vor Furcht beinahe in die Hosen machten. Starless schüttelte den Kopf. »In diesem Feld sind Energien, die …« Professor Zamorra beendete den Satz für ihn. »… die den menschlichen Anteil in dir festhalten, richtig? Offenbar bist du momentan nicht in der Lage, die beiden Teile von dir vollständig zu trennen oder besser gesagt einzeln zu kontrollieren.« In Starless' Gesicht begann es zu arbeiten. Der Vampir hasste es, wenn jemand hinter sein Geheimnis kam. Anscheinend hatte er in seiner Ohnmachtsphase tatsächlich laut gesprochen. »Ja, so ist es. Ich habe einen schweren Fehler begangen. Während ich nach Vorrog suchte, habe ich meinem Bewusstsein erlaubt, in die Vergangenheit zurück zu gehen und dort alles noch einmal zu durchleben. Das hätte ich nie tun dürfen, denn jetzt hänge ich zu einem gewissen Teil in diesem Prozess fest … und komme nicht mehr aus dieser Falle heraus. Man sollte die Vergangenheit immer ruhen lassen.« Zamorra lachte auf. »Diese Erkenntnis hatten schon andere vor dir, aber eines kann ich dir verraten – das klappt nicht immer. Die
Vergangenheit klebt an uns wie ein langer Schatten. Den kann man bekanntlich auch nicht einfach so abwerfen. Du wirst diesen Prozess beenden müssen, daran geht kein Weg vorbei. Geh den Weg zu Ende – trete nicht auf den Schatten, sondern lass ihn fließen.« Starless blickte zu Zamorra. »Schöne Sprüche, Herr Parapsychologe, doch wenn ich das tue, dann wird es dir in der Zwischenzeit hier wohl nicht so gut ergehen. Oder hast du vor, den Alpha zu Ewigk zu bringen?« Zamorra war sicher, dass Vorrog diesen Raum abhörte, also blieb er in seiner Antwort vage. Er würde ganz sicher nicht ausplaudern, dass er zwar den Ort kannte, an dem Ted sich aufhielt, nicht jedoch dessen Koordinaten. Maiisaros Welt mit einem Raumschiff zu erreichen, war daher so gut wir unmöglich. Das ging nur über einen ganz anderen Weg, doch den würde der Franzose dem Alpha natürlich niemals eröffnen. »Man wird sehen. Also – kannst du den Vorgang in dir abschließen?« Starless zögerte einen Augenblick, dann nickte er. Natürlich war er in der Lage sich in einen schlafähnlichen Zustand zu versetzen. Dort lag noch ein großer Brocken seiner Vergangenheit unverarbeitet herum … er musste sie für sich aufschlüsseln, um hier, in der Gegenwart, die Trennung zwischen Starless und Bibleblack vollziehen zu können. Innerlich verfluchte er Tan Morano, der ihn auf diese Reise geschickt hatte. Wäre Starless auf der Kristallwelt geblieben, hätte es diese Verknüpfung sicher niemals gegeben. Es war leicht, einem anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben … »Gut, dann versuche ich es jetzt. Wir zwei sind zwar ganz sicher keine Freunde und werden das auch nie werden, aber ich hoffe wirklich, dass ich nicht zu lange brauchen werde. Das hoffe ich für dich, Zamorra.« Der Parapsychologe verzog das Gesicht. »Wenn doch, dann werden dich meine Schreie sicher in die Realität holen … fürchte ich.« Starless schloss die Augen. Das Kloster … der Holzdorn in seiner Schulter … Bruder Jorge … die Angst vor dem Sterben … die Schmerzen … alles war sofort wie-
der da. Ganz nahe bei ihm.
Fieber konnte wie ein nasses Tuch sein, in das man rundum gewickelt wurde … Fieber war wie ein Nebeldunst – heiß, träge … und es schien, als würde sich alles in ihm auflösen – der Körper, der Geist, einfach alles … einfach alles! Er war das Fieber. Wie lange, das konnte er nicht sagen, denn alles um ihn herum war gleichgültig geworden. Und in dieser scheinbar endlos langen Phase, da war er nicht Starless, war nicht Bibleblack – da war er Cedric, der nach seiner Mutter schrie. Manchmal konnte er auch ihre Stimme hören. Dann war Juna Fynn ganz nahe bei ihrem Erstgeborenen. Cedric spürte ihre Hand, die ihm über den Kopf streichelte, die ihm die glühende Stirn mit einem feuchten Tuch benetzte. Doch ihre Stimme, die hörte er nicht. Was er hörte, das waren die Stimmen von fremden Menschen. »Er lebt noch.« »Verwunderlich, nicht wahr?« »Er müsste längst tot sein.« »Die kommende Nacht … die wird er nicht überstehen.« »Er glüht am ganzen Körper wie ein Backofen.« »Wir sollten ihn in Frieden sterben lassen.« »Schauen wir morgen in der Früh wieder nach ihm.« »Ja, dann hat er es sicher hinter sich gebracht … armer Bursche …« Fremde Stimmen – mitleidige Worte – gleichgültige Worte. Was war er für diese Menschen? Nur ein Stück Fleisch, an dem man Studien treiben konnte? Die Stimmen verschwanden, die Idee von der Anwesenheit der Mutter ging mit ihnen. Was blieb, war der Schmerz. Und das Fieber. Cedric ließ es zu sich kommen, setzte ihm keinerlei Widerstand entgegen. Dem Schwarzen Tod war er entkommen, doch hier endete sein Weg. Dann kam die Nacht, die Nacht, die er nicht überleben
sollte. Und es kam ein Tropfen – ein einzelner nur. Er klatschte mitten hinein in den Nebel des Fiebers. Cedric schrie auf, denn die eisige Kälte des Tropfens brachte ihm keine Erleichterung, sondern schürte den Schmerz nur noch an. Der zweite Tropfen fiel aus dem Nichts heraus, dann der dritte und vierte. Schrie er wirklich? Wenn ja, dann war da niemand, der es hören konnte oder wollte. Er blieb in den folgenden Stunden alleine in dem Raum mit der Liege, die zu seinem Sterbebett auserkoren worden war. Und aus den Tropfen, die dicht auf dicht fielen, wurde ein Eisregen. Als er keine Kraft zum Schreien übrig hatte, durchlitt er stumm den Ablauf dieser Nacht. Sein geschundener Körper zuckte auf der Liege, doch das sah niemand. Er starb – und starb dennoch nicht …
Ein Sonnenstrahl. Lebenselixier für den Mensch, qualvoll für die Kinder der Nacht. Starless Bibleblack hatte beides so nie empfunden, denn er konnte im Licht des Sterns existieren, hatte aber auch nie die Begeisterung der Menschen teilen können, wenn nach einem langen Winter die Sonne endlich ihre wärmenden Strahlen verschenkte. Es war ein Sonnenstrahl, der ihn aus der Agonie der vergangenen Stunden riss. Das Licht traf seine Augen, die verquollen und äußerst reizanfällig waren. Instinktiv rollte er sich auf die dem Licht abgewandte Seite seines Lagers. Er versuchte die Augen zu öffnen, doch der Versuch schlug fehl; sie waren eitrig und verklebt. Er lauschte. Es gab keine Geräusche in dem Raum, doch er war sicher, dass er nicht alleine war. Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern, was in der Nacht geschehen war. Da war die Vorstellung von Eis, das Feuer bekämpft hatte. Ein Kampf, der seinen Körper beinahe zerrissen hätte. Schlussendlich musste das Eis die Oberhand behalten haben,
denn das Feuer – das lodernde Fieber – schien verschwunden zu sein. Für Stunden war er wieder der kleine Junge aus Cornwall gewesen, der einfach nur mit seiner Familie zusammen leben wollte – und mit der schönen Ceridwen. Wo war sie in dieser Nacht gewesen? Mutter hatte er gespürt, wenn auch im Wahn des mörderischen Fiebers. Jetzt war Cedric wieder weit entrückt – er war Starless. Alles andere war nur der Traum der Hitze gewesen. Tief horchte er in sich hinein. Nur zaghaft konnte er die Anwesenheit seiner anderen Seite erahnen. Sie war es gewesen, die ihm die heilende Kälte gesandt hatte. Die selbstheilerischen Kräfte eines Vampirs – ohne sie hätte man Starless nun begraben können. Er war dem, den die Menschen Bibleblack nannten, dankbar. Auch wenn der sicher nur aus eigenem Überlebenswillen gehandelt hatte. Starless versuchte zu sprechen, was ihm äußerst schwerfiel. Als es ihm endlich gelang, erkannte er seine eigene Stimme nicht wieder, die mehr an das Krächzen eines Vogels erinnerte, als an das Sprachorgan eines jungen Mannes. »Wer ist da?« Es kam keine Antwort, also setzte er nach. »Ich kann fühlen, dass ich nicht alleine bin. Wer ist im Raum?« »Ich bin es.« Drei Worte nur, doch sie ließen Starless erschaudern. Es war der Schwarze, der Leibwächter des einen der Monsignori, der ihn so schwer verletzt hatte. Starless wurde klar, wie hilflos er dem Afrikaner ausgeliefert war. »Du lebst.« Diese Worte kamen mit einer Woge aus Hass. »In der letzten Nacht hat mein Herr mich gezüchtigt, weil ich dich angegriffen habe. Er irrt sich, denn ich habe richtig gehandelt. Du bist ein Vampir, doch auch ein Mensch. Ich weiß nicht, wie das möglich ist, aber weder Blutsauger noch Mensch hätten das Gift meines Wurfdorns überleben dürfen. Aber du lebst. Ich darf dir jetzt nichts tun, mein Herr würde mir sonst die Haut vom Rücken schälen. Aber ich werde dich beobachten. Denke immer daran, ich bin ganz in deiner Nähe.« Der Schwarze beugte sich tief über die Lagerstätte, bis sein Mund
beinahe Starless' Ohr berührt hätte. »Ich werde dich vernichten, Bluttrinker. Das schwöre ich bei meinen Ahnen.« Starless wagte es nicht auch nur einen Finger zu rühren, doch dann hörte er erleichtert, wie der Mann das Zimmer verließ. Er atmete durch und spürte schmerzhaft, wie selbst das zu einer Tortour für seinen Körper wurde. Ganz leise nur, doch immerhin vernehmbar, meldete sich die andere Seite in ihm. Ich habe getan, was mir möglich war. Starless antwortete stumm. »Das hast du. Und du hast es für uns beide getan.« Wir müssen nach Avignon, denn dort finden wir Gwydion, den Mörder unserer Familie. Starless war zu schwach, um darauf zu antworten. Noch ist viel von dem Gift in deinem Körper … unserem Körper. Noch kann ich ihn nicht übernehmen. Erst dann werden wir von hier verschwinden können. So lange müssen wir noch ausharren. Die Mönche werden dich pflegen. Einige Tage – dann wird es so weit sein. So schwer es auch fällt: Wir müssen Geduld haben. Wieder einmal Geduld. Doch Starless sah ein, dass seine andere Seite mit dieser Einschätzung richtig lag. Das Gift musste komplett aus seinem Körper verschwinden, ehe er an eine Flucht denken konnte. Ob der Schwarze ihm so lange Zeit ließ? Starless musste stets auf der Hut sein. Er hörte, wie sich die Tür öffnete. Dann erklang die schon beinahe vertraute Stimme von Bruder Jorge, dem Heiler. Er gab Anweisungen an seine Helfer. Man würde Starless waschen, sein Lager neu richten, denn Jorge war überzeugt, dass der junge Mann nun viel Ruhe benötigte. Starless hätte ihm da niemals widersprochen, denn die Kräfte, die ihn wach gehalten hatten, waren nun aufgebraucht. Er wollte nur noch schlafen. Lange und tief schlafen. Wie eine Pumpe sollte sein Körper das verfluchte Gift aus ihm entfernen.
Das war sein letzter Gedanke, denn der Schlaf war des Todes Bruder. Beide waren so stark und unwiderstehlich. An diesem noch so jungen Tag wachte Starless nicht noch einmal auf. Und das Gift musste der Kraft des Schlafes weichen …
Die Helfer von Bruder Jorge brachten Starless eine heiße Suppe. Er fühlte sich wie ausgewechselt. Das Gift hatte seine Wirkung verloren, war aus seinem Körper geschwemmt worden, als hätte der tiefe Schlafes aus jeder seiner Poren gepresst. Starless spürte, wie langsam die alte Kraft zu ihm zurückkehrte. Eine dünne Suppe war da allerdings nicht unbedingt ein förderliches Mittel. Er sprach mit Bruder Jorge darüber, doch der schüttelte lächelnd den Kopf. »Feste Nahrung? Aber nein, mein junger Freund. In zwei oder drei Tagen können wir darüber einmal nachdenken, aber jetzt ganz sicher nicht. Das wollen wir deinem armen Körper doch nicht antun, nicht wahr?« Starless' Magen knurrte wie ein wilder Hund. Als dann endlich der Abend kam, stand sein Entschluss fest. Jeder weitere Tag hier in der Klosteranlage war verschwendet. Avignon war sein Ziel. Wenn seine andere Seite, wenn der Vampir in ihm noch nicht wieder die Kraft aufbrachte dominant zu sein, dann musste es eben anders gehen. Dann war der Menschenteil in ihm gefordert. Endlich wurde es still im Kloster und seinen Gängen. Manchmal fragte Starless sich, mit wie wenig Schlaf die Mönche auskamen, doch selbst die größten Schlafverweigerer zogen sich irgendwann in ihre winzigen Kammern zurück. Er verließ die Krankenstation und steuerte auf einen Teil der Anlage zu, den er vor seinem Abschied dringend noch einmal aufsuchen wollte. Es ging um die Vorratskammern, die von Bruder Lucas wie sein ganz persönlicher Schatz gehütet wurden. Mönche lebten in Armut, verzichteten auf irdischen Besitz, auf die Freuden der Lust, doch wenn es um Hunger und Durst ging, dann konnten sie schon
einmal all ihre Prinzipien vergessen – und wurden ab und an zu kleinen Dieben, wenn es um die Befriedigung dieser Gelüste ging. Franz von Assisi soll seinen eigenen Körper als Bruder Esel bezeichnet haben, weil er nicht fähig war, immer und zu allen Zeiten gewissen Dingen zu widerstehen. Starless war kein Mönch, wahrhaftig nicht – ihn plagten keinerlei Gewissensbisse, als er versuchte, das Schloss zu den Kammern aufzubrechen. Er musste jedoch feststellen, dass er nicht über die Fingerfertigkeit eines Einbrechers verfügte. Nach einigen Minuten gab er seine Versuche auf. Zwischen seinem knurrenden Magen und den Fleischtöpfen des Klosters lag nach wie vor eine dicke Eichentür. Ich versuche den Sprung über diese kurze Distanz … Für einige Sekunden übernahm die andere Seite das gemeinsame Bewusstsein und plötzlich befand sich Starless mitten in der Glückseligkeit. Würste, Schinken, Bratenstücke … wohin er auch blickte. Die Jagd auf die Wildschweinrotte musste außerordentlich erfolgreich gewesen sein. Starless mahnte sich selbst zur Zurückhaltung. Er musste Maß halten, denn sein noch immer geschwächter Körper würde eine ordentliche Völlerei jetzt noch nicht verkraften. Eine Stunde später saß er gesättigt und zufrieden neben einem der Weinfässer, aus dem er sich ebenfalls in Maßen bedient hatte. Du willst noch in dieser Stunde fort von hier. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Die Stimme klang noch immer leise und wie aus großer Entfernung. Noch sind Spuren vom Gift in unserem Körper. Ehe sie nicht gänzlich verschwunden sind, kann ich nicht in die erste Linie treten. Starless war nicht überrascht. »Kannst du uns aus der Klosteranlage bringen? Mehr ist jetzt nicht notwendig.« Die Antwort kam zögerlich. Das müsste ich schaffen. »Gut. Dann tu es, denn hier haben wir jetzt nichts mehr verloren. Unser Ziel liegt woanders – dort, wo wir Gwydion finden können … endlich. Vielleicht sogar auch Nopricht.« Starless fühlte ein leichtes Ziehen, dann fand er sich am Rand eines Waldstückes wieder, von dem aus er die Mauern des Klosters deutlich im Mondlicht erkennen konnte.
Die Stimme in seinem Kopf war verklungen. Wahrscheinlich war dieser Sprung für den Vampir in ihm ein wahrer Kraftakt gewesen, denn er litt nach wie vor unter dem Giftanschlag. »Ich habe gewusst, dass du ein Blutsauger bist. Ich habe es doch gewusst!« Wie paralysiert erstarrte Starless. Die Stimme kam von irgendwoher – irgendwo zwischen den dicht an dicht stehenden Bäumen. Und sie gehörte dem Leibwächter Vallentins, dem Afrikaner! So sehr sich Starless auch bemühte, er konnte den Dunkelhäutigen nicht entdecken. Sein menschliches Sehvermögen reichte dazu nicht aus. Doch die Stimme schien immer von verschiedenen Positionen zu kommen. »Ich habe schon als Kind in Afrika Vampire gejagt. Mein Großvater hat es mich gelehrt. Er war ein großer Zauberer und Jäger. Es hat lange gedauert, doch irgendwann war es dann so weit – ich konnte deinesgleichen regelrecht riechen, spüren.« Wieder verstummte der Mann. Als er erneut zu reden begann, befand er sich irgendwo hinter Starless. »Ich wusste, du würdest fliehen, sobald deine Kräfte wieder groß genug waren. Ich konnte nur ahnen, wohin du mit deiner verfluchten Magie springen würdest, aber ein Jäger braucht manchmal eben auch Glück.« Er lachte kehlig auf. »Und das hatte ich, ja das hatte ich. Jetzt ist es so weit, Bluttrinker, jetzt werde ich dich erlegen. Noch einmal entkommst du mir nicht.« Starless hörte ein leises Zischen in der Luft und ließ sich einfach fallen. Der Holzdorn zischte nur wenige Zentimeter über ihm weg und blieb mit einem Sirren irgendwo vorne in einem Baum stecken. Starless hörte den wilden Fluch des Afrikaners. Hilf mir! Er wird uns töten! Er ließ den Schrei nach Hilfe bis tief in sich hinein ertönen. Er bekam keine Reaktion darauf. Hektisch rollte sich Starless in Richtung der Bäume. Hier war er ein zu leichtes Ziel für den zweiten Versuch seines Jägers – und der würde kommen, keine Frage. Starless erhob sich auf Händen und Knien und robbte so zwischen die Bäume, die ihm Sichtschutz boten. Wahllos wechselte er dabei die Richtung,
schlug Haken. Etwas schlug direkt neben seiner Schulter in einen Stamm und Starless sah das noch zitternde Ende eines dieser Wurfbolzen. Der dritte würde treffen, da war er sicher. »Du kannst mir nicht entkommen. Ich bin in Wäldern aufgewachsen, ich kann den Boden, das Moos und die Bäume sprechen hören. Gib auf, Vampir.« Starless gab seine vermeintliche Deckung auf und sprang auf die Füße. Mit langen Sätzen floh er noch tiefer in den Wald hinein. Dann blieb er stehen und lauschte, doch da war kein Geräusch zu hören. Sein Jäger bewegte sich absolut lautlos. »Ich sehe dich. Mein dritter Bolzen wird dich endlich vernichten. Und wenn du am Boden liegst, werde ich dir den Kopf abschneiden. Das macht man doch mit Vampiren, nicht wahr?« Die Ironie in der Stimme ließ Starless erschaudern. Flucht war sinnlos bei diesem Gegner. Voller Furcht wartete er auf das sirrende Geräusch des Wurfgeschosses. Lass mich übernehmen … Drei Worte nur, doch sie änderten alles. Starless zog sich zurück und ließ Bibleblack, den Vampir, nach vorne. Dann kam das Sirren, doch der perfekt geworfene Bolzen flog ins Leere, streifte einen Baumstamm und blieb schließlich im mit Moos überwucherten Waldboden stecken. Ein Wutschrei drang aus der Kehle des Afrikaners. »Verflucht sollst du sein. Ich war sicher, ein leichtes Opfer in dir zu finden, doch das Spiel ist noch nicht beendet, Bluttrinker.« Direkt hinter dem Schwarzen ertönte eine ruhige Stimme, die ihn regelrecht lähmte. Er versuchte nicht einmal zu entkommen. »Doch, für dich endet es hier, schwarzer Mann. Genau hier.« Zwei Hände, die über unfassbare Kraft verfügten, umfassten seine Hüfte und hoben ihn in die Höhe. Als wäre er nur ein Sack voller Daunen wurde er durch die Luft geschleudert, prallte gegen einen Baumstamm und fiel unkontrolliert zu Boden. Ein hässliches Knacken ertönte – sein linkes Bein war gebrochen und stand in einem bizarren Winkel von seinem Körper ab. Hilflos blickte der Afrikaner zu seinem Feind hoch, der sich nun langsam über ihn beugte.
»Deine Augen sind … anders …« Starless Bibleblack sprach ruhig und emotionslos. »Das kann dir gleich sein. Du hast versagt. Deine ersten beiden Bolzen hätten treffen müssen. Somit hast du mir die Zeit verschafft, die ich noch gebraucht habe.« Der Schwarze blickte den Vampir nicht verstehend an. Bibleblack lächelte ein eiskaltes Lächeln, das sein Opfer frieren ließ. »Ich habe Durst, aber dein Blut will ich nicht. Nein, ich habe da eine ganz andere Idee.« Er fasste den Waffengurt, den der Mann um die Hüften trug und riss ihn entzwei, als wäre er nur aus Papier. Dann zog er zwei der vergifteten Bolzen hervor. »Deine liebsten Spielzeuge, nicht wahr?« Der Afrikaner schwieg wie gelähmt. »Gut, mal sehen, was man damit so alles anfangen kann. Und nun habe ich keine Lust mehr, mich mit dir zu befassen.« Bibleblack stach zielsicher zu. Die Bolzen senkten sich in die Augen des Leibwächters. Er starb ohne einen Schrei. Wahrscheinlich hatte ihm die kalte Furcht die Kehle regelrecht zugeschnürt. Bibleblack richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Er genoss es, wieder die Oberhand in diesem Körper innezuhaben. »Und nun wollen wir uns auf den Weg machen. Ich denke, ich bin wieder stark genug für diesen weiten Weg … er wird nur den Hauch eines Moments dauern.« Die Gestalt löste sich in nichts auf. Erst am folgenden Mittag fand man den Leibwächter Vallentins. Entsetzt blickte er auf die Dorne, die aus den Augen seines Leibeigenen ragten. Noch in der gleichen Stunde verließ er das Kloster – die anderen Monsignori folgten ihm nur kurze Zeit darauf.
Avignon lag am östlichen Ufer der Rhone. Die Stadt war bunt, fröhlich und für die Verhältnisse dieser Zeit ein Ort, an dem man sich sehr gut vorstellen konnte, für immer hier zu bleiben, sich nieder zu lassen … ein ganz neues Leben inmitten
der Menschen hier zu beginnen. Starless wusste genau, dass dies für ihn nur Träume waren. Dennoch genoss er die ersten Stunden, die er hier verbrachte. Er hatte die Vorherrschaft über seinen/ihren Körper übernommen, denn der Vampir in ihm musste sich noch immer gegen die allerletzten Reste des Giftes wehren, die noch vorhanden waren. Bibleblack hatte den Tod der beiden Identitäten verhindert – selbst den weiten Weg bis nach Avignon hatte er in nur einem einzigen Augenblick überbrückt, doch damit hatte er sich an die Grenzen dessen gewagt, was für ihn zur Zeit möglich war. Starless genoss also den Gang durch die Straßen, die Märkte und wundervoll angelegten Gärten, die diese Stadt so wunderschön machten. In seiner Begeisterung übersah er jedoch nicht, was hier nicht zu übersehen war. Avignons Straßen waren zugleich Bollwerke – überall waren Befestigungen auszumachen, die bei einem Angriff als Schanzen genutzt werden konnten. 1360 hatte es einen Vertrag gegeben, der für eine Waffenruhe im Krieg zwischen Frankreich und England sorgte. Papst Innozenz VI. war dabei auch involviert gewesen. Der hauptsächliche Grund für diese Anlagen war klar, ebenso die Anwesenheit von übermäßig vielen Söldnern und regulären Truppen. Er war ja auch kaum zu übersehen – der wuchtige Palast des Papstes, der das Bild der Stadt dominierte und damit auch viel von der Leichtigkeit zerstörte, die man zu spüren glaubte. Der Papst bedurfte Schutz, denn auch die dicksten Mauern waren nicht unüberwindbar. Zudem sagte man Innozenz VI. nach, dass er mit zunehmendem Alter in regelrechte Panikzustände verfiel – und in einen Aberglauben, der sich mit der Lehre der katholischen Kirche nicht unbedingt vereinbaren ließ. Starless war dies gleichgültig, denn der Papst interessierte ihn nicht. Der Mann, den er suchte, hieß Gwydion. Und hier würde er ihn finden. Starless war davon absolut überzeugt. Und er wollte diese Geschichte nun endlich hinter sich bringen. Dennoch ließ er sich viel Zeit, bis er seine Schritte in Richtung des Palastes lenkte. Zu sehr zog ihn diese Stadt positiv in ihren Bann. Er wollte dies alles genießen, so wie andere das täglich taten.
Andere Menschen … Er war ein Vampir. Er war auch Mensch! Viele Jahre lang hatte Starless das vergessen, nein, er hatte es mit aller Macht verdrängt. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem er Cornwalls Küste mit dem Schiff verlassen hatte, spürte er die Lust, sich ganz einfach einen ganzen Tag vom Leben überraschen zu lassen. Wie schön musste es sein, mit Freunden einen solchen Tag in einem dieser Gärten zu verbringen? Oder wie herrlich, einfach stundenlang miteinander zu reden – zu schwätzen, Spaß zu haben und zu lachen? Diese Gedanken beschäftigten Starless so lange, bis er verdutzt den Schritt innehielt. Er blickte sich um. Er stand mitten auf dem riesigen Vorplatz des Palastes. Seine Füße schienen es übernommen zu haben, ihn aus allen Träumen zu reißen, denn er war sich sicher, dass die Entscheidung hierherzugehen nicht von ihm gekommen war. Starless hörte das Murmeln und Raunen um sich herum. Der Platz war gut gefüllt. Die Menschen hier warteten auf irgendein Ereignis. Viele von ihnen knieten, manche hielten Kerzen in den Händen, andere beteten in sich gekehrt. Starless' Blick fiel auf den Palast, der in seiner ganzen gotischen Wucht bedrohlich auf ihn wirkte. Der Bau wirkte eher wie eine wehrhafte Burg, als wie der Sitz von Gottes Vertreter auf Erden. »Du bist fremd hier, nicht wahr?« Starless blickte zur Seite. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war gut doppelt so alt wie er selbst. Er war unauffällig, aber sauber und ordentlich gekleidet. Starless stufte ihn sofort als Lehrer oder Beamten ein, von denen man hier in Avignon eine Menge antreffen konnte. »Woran sieht man das?« Der Mann lachte und deutete auf den Palast. »Man sieht in deinem Gesicht die Frage, was hier denn wohl geschehen wird. Aber das will ich dir gerne erklären. Papst Innozenz wird gleich den Segen an das Volk erteilen. Das macht er immer einmal in der Woche. Die Menschen warten stets dringend darauf,
denn sie haben einen solchen Segen dringend nötig.« Starless wusste nicht, was der Mann damit sagen wollte, doch der lieferte die Erklärung sofort nach. »Nun, der Schwarze Tod hat grausam gewütet – Hunger und der Krieg taten das Ihrige dazu. Schau sie dir an, die Menschen. Sie haben nur die Hoffnung.« »Und du? Warum bist du hier?« Starless fragte ohne Scheu. »Ich? Gläubig bin ich nicht, nein, das kann man nicht behaupten. Es ist wie ein Ritual, weißt du? Ich komme ganz ohne darüber nachzudenken hierher. Schaden kann der Segen ja auch nicht, oder?« Er lächelte Starless an. Dann gingen die Blicke des Fremden wieder zum Palast. »Da, schau hin – oben auf dem Balkon. Papst Innozenz VI. gibt sich die Ehre.« Starless blickte nach oben. Die Gestalt, die dort auf dem Balkon erschien, war nur undeutlich zu erkennen. Mit erhobenen Armen machte sie segnende Bewegungen. Rund um Starless begannen die Menschen nun laut zu beten; manche sangen lateinische Liturgien, deren Inhalt sie wahrscheinlich nicht einmal begriffen. Am Ende des lang gestreckten Balkons konnte Starless einige Männer erkennen, die scheinbar teilnahmslos der ganzen Szenerie beiwohnten. Starless' Interesse fixierte sich auf einen von ihnen, dessen Bewegungen ihm irgendwie vertraut erschienen. Der Mann hatte – soweit er das aus dieser Entfernung erkennen konnte – eine enorme Leibesfülle. Es waren eher die Gesten, die er machte, während er mit den anderen sprach, die etwas in Starless' Erinnerung auslösten. Er wandte sich an den Mann neben ihm. »Verzeih, aber kannst du mir sagen, um wen es sich bei dem dicken Mann dort oben handelt?« Ein Lachen war die erste Reaktion. »Der dicke Mann? Du meinst sicher die fette Eminenz, wie die Menschen ihn hier nennen. Sein wirklicher Name lautet Urban von Kemow.« Starless horchte auf. Kemow war ein Wort aus dem Kornischen, einer Sprache der Kelten, und bedeutete soviel wie Cornwall.
Das konnte kaum ein Zufall sein. Doch der Mann hatte noch weitere Informationen für ihn, die wie Puzzleteile in das Ganze passten. »Er ist ein einflussreicher Mann im Palast – vielleicht sogar er einflussreichste von allen, denn man sagt, Urban würde es immer wieder schaffen, dem Papst Dinge schmackhaft zu machen, die stets zu seinem eigenen Vorteil waren. Innozenz wird alt und schwach. So ein Einflüsterer kann dann äußerst hilfreich, aber auch gefährlich sein.« Starless unterbrach den Mann. »Wie lange ist er schon im Palast?« Der Fremde überlegte einige Momente lang. »So genau kann ich dir das nicht beantworten, doch es werden sicher bald zehn Jahre sein. Und in dieser Zeit hat Urban nicht nur seine Macht verdoppelt, sondern auch sein Körpergewicht.« Er lachte über seine eigene Bemerkung, die er wohl für einen gelungenen Witz hielt. Starless hingegen war plötzlich so ernst wie noch nie zuvor. Das passte alles genau. Noch einmal richtete er eine Frage an den Mann. »Wohnt Urban von Kemow im Palast?« Der Mann winkte ab. »Wo denkst du hin? Nein, er hat seinen eigenen Palast, wenn man das so nennen will. Ganz am Rande von Avignon, dort, wo die Wohlhabenden hausen und Abstand zum einfachen Volk halten. Übrigens kannst du Kemows Haus nicht übersehen, denn es steht nahe am Ufer der Rhone – viel näher jedenfalls als die anderen Prachtvillen.« Starless verneigte sich höflich. »Ich danke dir, denn du hast mir sehr geholfen.« Der Mann war überrascht, dass das Gespräch damit beendet war und der junge Mann abrupt den Platz vor dem Palast verließ. Dann zuckte er die Schultern und wandte sich wieder dem Spektakel zu, das sich auf dem Balkon nun langsam seinem Ende näherte.
Es war tatsächlich unmöglich die Villa zu übersehen. Starless hatte sie ohne Probleme gefunden und sich in aller Ruhe eine sichere Deckung gesucht, von der aus er alles beobachten konn-
te. Wieder einmal wurde seine Geduld auf eine harte Probe gestellt. Es war bereits dunkel, als eine Kutsche vor der Villa hielt. Ein einziger Passagier entstieg ihr und es war deutlich zu erkennen, wie sehr er sich dabei quälte. Zunächst glaubte Starless, der Mann wäre betrunken, denn bei seinen ersten Schritten schwankte er ein wenig, doch dann erkannte er, dass kein übermäßiger Weinkonsum dafür verantwortlich zu machen war. Es war das eigene Körpergewicht, das den Mann so unsicher gehen ließ. Die Treppe, die hinauf zum Eingang der Villa führte, bewältigte er nur unendlich langsam. Starless konnte in diesem Moment nicht anders als Mitleid für diesen Menschen zu empfinden. Sicher war er alleine schuldig, was die Folter anging, die er seinem Körper zumutete, doch das änderte nichts daran, dass sein Zustand erbarmungswürdig zu nennen war. Oben angelangt musste Urban von Kemow eine Pause einlegen, ehe er auf die doppelflügelige Tür zusteuerte, die sich wie von Zauberhand vor ihm öffnete. Zwei Bedienstete hasteten herbei, um die fette Eminenz zu stützen. Das war alles, was Starless erkennen konnte, denn nun schloss sich die Tür rasch wieder. Noch wartete er ab, denn was er von diesem Mann wissen wollte, das bedurfte keiner Zeugen. Erst als die Lichter in der Villa verloschen, huschte Starless zum Nebeneingang, den er zuvor schon ausgekundschaftet hatte. Endlich ist das Gift vollständig besiegt. Ich bin bereit – lass mich das jetzt übernehmen. Starless reagierte schnell und völlig anders, als seine andere Seite es sicher vermutet hatte. »Nein, noch nicht.« Er flüsterte diese Worte, als könne er so seinen Willen verstärken. »Ich will Antworten. Ich fürchte, du würdest bei all deinem Hass Vergeltung üben, ehe alles gesagt wäre.« Aber du hasst doch nicht weniger als ich … »Lass uns jetzt nicht streiten. Ich erledige das. Wenn alles geklärt ist, stehe ich dir nicht mehr im Weg.« Starless wartete nicht auf eine Entgegnung, die allerdings auch ausblieb. Er benötigte nicht einmal die Hilfe seines Vampirteiles, um in die Villa einzudringen, denn die
Tür war nicht abgeschlossen. Am Nachmittag hatte er beobachtet, wie ein Bediensteter Lebensmittel durch diesen kleinen Eingang in das Gebäude gebracht hatte. Sorglos hatte er vergessen, die Tür wieder zu verschließen. Starless wunderte sich über diese Nachlässigkeit, doch nun kam sie ihm sehr zupass. Wie erwartet fand sich Starless in der Küche der Villa wieder. Hier roch es nach Sauberkeit, auf die der Besitzer des Anwesens offenbar großen Wert legte. Starless erinnerte sich, dass sein Vater manchmal von dem Sauberkeitsfimmel Gwydions erzählt hatte – meist hatte er eine lustige Geschichte dazu, die von der ganzen Familie mit großem Spaß aufgenommen war. Starless hörte noch das Lachen seiner Eltern, der Schwestern und Brüder … das Lachen Ceridwens und auch das seine. Ja, er hatte einmal gerne und viel gelacht. Ohne sich aufzuhalten, begann Starless die Villa trotz der herrschenden Dunkelheit zu erkunden. Küche, Vorratskammern, die Zimmer der Bediensteten – all das lag im Außenbereich des hinteren Teils der Villa. Starless lauschte intensiv, doch außer ein paar Schnarchgeräuschen war von den Dienern und Mägden des Hausherrn nichts zu vernehmen; aus einem der Räume erklangen eindeutige Geräusche – Klänge der Lust, der Leidenschaft, wie Menschen sie in höchster Ekstase von sich gaben. Wahrscheinlich vergnügten sich dort ein Diener und eine Magd miteinander. Starless gönnte ihnen den Spaß, denn sie würden ihn sicher nicht bei dem stören, was er nun vor hatte. Langsam kam er in den Bereich der Privaträume die Urban von Kemow bewohnte. Das Ankleidezimmer des päpstlichen Beraters war vollgestopft mit allen nur denkbaren Bekleidungen. Bei der Leibesfülle des Mannes musste sein Schneider ein fleißiger und einfallsreicher Meister seines Faches sein, um Urban auch nur einigermaßen ansehnlich erscheinen zu lassen. Trotz Dunkelheit konnte Starless die Roben und Gewänder gut genug erkennen. Das alles war von großer Qualität und bewies, dass Urban von Kemow es sich leisten konnte, mit dem Geld um sich zu werfen. Diese Erkenntnis steigerte Starless' Wut noch einmal, denn auf dem Weg in dieses Villenviertel war er durch einen Ortsteil von
Avignon gekommen, in dem die Ärmsten der Armen vegetierten. Armut und Reichtum bitterer Hunger und Völlerei … das schienen Markenzeichen dieser Welt zu sein, in der Starless lebte. Er war ein Vampir, also konnte es sein, dass er die kommenden Jahrhunderte durchaus erleben würde. Er stellte sich vor, dass die Zukunft diese Missstände beseitigen würde, dass der Mensch der Zukunft für Gerechtigkeit sorgte, dafür, dass es keine hungernden Kinder mehr geben würde, dass Nahrung für alle da war … dass sogar die Gewalt von dieser Welt verschwand. Vielleicht in einigen Jahrhunderten? Doch so richtig wollte er daran auch nicht glauben … Als Starless vor der breiten Tür angelangt war, die ein päpstliches Wappen schmückte, wusste er, dass er am Ziel seiner Suche war. Er drückte die vergoldete Klinke langsam nach unten und schlüpfte in den Raum. Das Bett war unglaublich breit und so stabil gebaut, wie es bei einem Mann von der Masse des Urban von Kemow dringend erforderlich war. Unter einem mächtigen Daunenbett und mehreren darüber gelegten Seidendecken schien ein lebender Fleischberg zu ruhen; Starless entsann sich einer Geschichte, die einer der Fischer in Cornwall ihm einmal erzählt hatte. Darin ging es um einen gestrandeten Wal, der direkt an die Küste gespült worden war. Er fand den Weg in die offene See nicht mehr und verreckte elendig. Die Fischer hatten ihn zerlegt und von dem Gewinn am Fleisch und Tran wochenlang gut leben können. Dies hier war ein menschlicher Walfisch … und dessen Atem rasselte so laut, dass Starless sich an eine fallende Ankerkette erinnert fühlte. Eine ganze Weile stand er vor dem Bett des Mannes, den er früher als einen anderen gekannt hatte. Dann durchbrach Starless' Stimme die Nachtruhe. »Gwydion!« Das Rasseln stoppte für einen kurzen Augenblick, ehe es wieder einsetzte. »Pater Gwydion! Wach auf, du Mörder!« Das Rasseln endete augenblicklich. Doch es dauerte eine ganze Weile, bis die fette Eminenz
es geschafft hatte sich aufzusetzen. Die kleinen Augen des Mannes stierten in die Dunkelheit hinein. »Wer bist du? Was willst du von mir?« Die Stimme war der letzte Beweis, der Starless noch gefehlt hatte. Nun wusste er ohne jeden Zweifel, wen er vor sich hatte. »Du willst mein Geld? Im Haus wirst du es nicht finden – also troll dich!« Er machte eine erstaunlich rasche Bewegung mit seinem Arm, doch Starless war schneller. Gwydion hatte versucht, die Klingel in Bewegung zu setzen, durch die er mit dem Raum verbunden war, in dem sich seine Bediensteten meistens aufhielten. Ein kurzer Schlag auf die Hand ließ den Berater des Papstes aufheulen. »Lass es. Zudem würde dich eh niemand hören, denn deine Leute schlafen alle oder sind mit ganz und gar weltlichen Dingen befasst. Ich habe es kontrolliert.« Der Mann, der sich Urban von Kemow nannte, blickte den Eindringling wütend an. »Wie hast du mich genannt? Gwydion? Ich kenne diesen Namen nicht.« »Oh, dann erinnerst du dich auch nicht mehr an Cornwall, an die Piraten … an die Kathedrale an der Felsenküste? Komm schon, Gwydion, wem willst du hier etwas vormachen?« Der fette Mann schwieg. Selbst bei diesem schwachen Mondlicht, das die einzige Beleuchtung im Raum war, konnte Starless deutlich sehen, wie es in Gwydion arbeitete. Dann platzte es aus ihm heraus. »Zum Teufel, wer bist du? Ein böser Geist aus meiner Vergangenheit? Sag, was du willst, und dann verschwinde gefälligst wieder dorthin, woher du gekommen bist. Wer also bist du?« »Du erkennst mich nicht – aber gut … ich habe mich genau so verändert, wie du. Weißt du eigentlich, dass du einem aufgeblasenen Schweinemagen ähnlich siehst? Aber ich habe dich dennoch erkannt.« Gwydion zuckte mit den Schultern. »Wenn du Pater Gwydion ja angeblich so gut gekannt hast, dann wird dir klar sein, dass dies hier kaum das Leben ist, das er für sich geplant hatte.« Er sprach von seiner Person in der Vergangenheitsform, als hätte er sie für sich bereits beerdigt. »Er war ehrgeizig, hat-
te Pläne, die weit über das hinausgingen, was ich hier tue. Also warum sollte ich dann die wenigen Annehmlichkeiten dieses Lebens nicht nutzen? Willst du mir daraus einen Vorwurf machen?« Starless ging nicht darauf ein. »Ich habe den alten Gwydion wirklich gut gekannt.« »Dann nenne mir deinen Namen.« Gwydion wurde ungeduldig. »Man nannte mich einmal Cedric.« In Gwydions Gesicht war kein Erinnern zu entdecken. »Cedric Fynn, Sohn des Baumeisters Connor Fynn und seiner Frau Juna. Weißt du nun, wer hier vor dir steht?« »Connor Fynn … ja, du warst sein ältester Sohn. Jetzt entsinne ich mich.« Gwydion schaffte es, sich noch mehr aufrecht zu setzen. »Nur … was willst du von mir? Das alles ist über zehn Jahre her.« Starless war mit einem Schritt ganz dicht an Gwydion heran. Sein Atem blies dem fetten Mann direkt ins Gesicht. »Was ich von dir will, du verdammter Mörder? Erinnerst du dich auch noch an den Rest meiner Familie?« Gwydion nickte. »Ja, auch wenn du es mir nicht glaubst – ich habe deine Eltern oft um das alles beneidet. Sie waren glücklich, hatten einen Haufen Kinder … so viel Glück auf einem Haufen … das hatte ich nie erlebt. Aber was ist denn mit deiner Familie geschehen?« Starless taumelte ein Stück nach hinten, weg von der Bettkante. Ja, wie sollte dieses Monster das auch alles wissen? Er hatte sich einen Dreck um das gekümmert, was sein Handeln ausgelöst hatte. »Beantworte mir eine Frage.« Bibleblack drängte immer noch nach vorne, doch Starless hielt seine andere Seite nach wie vor in Schach. »Warum hast du die Piraten an Cornwalls Küste gelockt? Das bisschen Gold kann doch nicht der Grund gewesen sein. Sag es mir – und dann werde ich dir sagen, was du damit ins Rollen gebracht hast.« Gwydions Augen zuckten durch den Raum, als würde er nach irgendeiner Möglichkeit suchen, seinen ungebetenen Gast durch eine List aus der Fassung zu bringen. Doch schließlich wurde er wieder ganz ruhig, und Starless hatte plötzlich das Gefühl, als wäre alle Angst von dem Mann gewichen. Er musste auf der Hut sein, denn Gwydion plante irgendetwas. »Die Piraten? Nun, der Plan war im Grunde gut, doch ich konnte
ja nicht ahnen, was schlussendlich daraus werden konnte. Warum, fragst du? Dein Vater war nicht fähig, den Bau der Kathedrale zu einem Ende zu bringen.« Starless unterbrach Gwydion. »Was hätte er denn tun sollen? Der Schwarze Tod hat die Menschen wie Fliegen sterben lassen. Es gab keine Arbeiter mehr – weit und breit nicht. Woher hätte er sie nehmen sollen?« Gwydion winkte mit einer fetten Hand ab. »Das ist nun einmal die Aufgabe eines Baumeisters. Doch es fehlten nicht nur die Arbeiter, die Handwerker und Spezialisten. Es fehlte auch an Gold! Ja, ich war mit den Mitteln, die mir die Kirche hier in Frankreich zur Verfügung gestellt hatte, wohl ein wenig zu freizügig umgegangen.« Er hielt inne und kicherte wie ein Kind, das erwischt worden war, als es Honig aus dem Vorrat gestohlen hatte. »Ich wurde daher vorstellig bei gewissen Leuten hier in Frankreich. Doch alle lehnten Hilfe ab. Also musste ich Tatsachen schaffen – eine Realität erschaffen, bei der man mir ganz einfach Unterstützung gewähren musste.« Starless war für lange Momente sprachlos, denn er begriff die ungeheure Skrupellosigkeit, die sich hinter Gwydions Tun versteckt hielt. Um die Kirche zum Handeln zu zwingen, hatte der Wahnsinnige die Freibeuter an die Küste gebracht, die dann mordend und brandschatzend das Land rund um die unfertige Kathedrale durchstreift hatten; was der Schwarze Tod verschont hatte, wurde durch ihre Messer und Säbel getötet. Am Ende sollte ein Land ohne Menschen übrig bleiben. Gwydion schien das alles nach wie vor für eine gute Idee zu halten. »Irgendwann hätte der Goldfluss wieder zu strömen begonnen, man hätte mir Arbeiter geschickt, da bin ich ganz sicher, denn die Kathedrale war ein zu wichtiges Projekt.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Doch diese Freibeuter mussten sich ja wie die Berserker benehmen. Meine wunderschöne Kathedrale … sie haben sie im Meer versenkt.« Starless konnte seinen Hass nun nicht mehr unter Kontrolle halten.
»Du Schwein hast mich gefragt, was mit meiner Familie geschehen ist. Es soll das Letzte sein, was du auf dieser Welt erfährst, also sperre deine fetten Ohren auf. Vater starb beim Desaster an den Klippen. Meine Mutter und meine Geschwister mussten vor den Freibeutern fliehen und steckten sich dabei mit der Seuche an. Sie starben – alle! Meine geliebte Freundin war bei ihnen … auch sie holte der Schwarze Tod. Nur mein alter Mentor Nopricht und ich überlebten, doch mir wurde ein Schicksal zu Teil, das wohl noch weitaus fürchterlicher genannt werden kann, denn aus mir wurde ein Vampir.« Gwydion riss überrascht die Augen weit auf. »Dann bist du … Bibleblack? Also hast du all die Priester getötet, weil du mich gesucht hast? Das nenne ich konsequent.« Starless ertrug den ironischen Unterton in der Stimme des Mannes nicht mehr. »So ist es. Doch nun hab ich dich ja endlich gefunden. Sag mir nur noch eines, ehe ich dich auslösche. Nopricht hat nach dir gesucht. Hat er dich gefunden? Weißt du ob er noch lebt?« Gwydion lachte fröhlich auf. »Das ist ja spaßig, dass du mich jetzt nach ihm fragst, denn – schau einmal her – ich habe hier so ein nettes Spielzeug, das er mir gegeben hat. Schau es dir genau an …« Starless machte einen Schritt nach hinten, doch dann blieb er stehen, denn was Gwydion da plötzlich in seiner rechten Hand hielt, sah alles andere als bedrohlich aus. Es hatte die Form eines kurzen Rohres, dem sich ein seltsamer Handgriff anschloss. Starless konnte nicht sagen, was dieses Ding darstellen sollte. Es interessierte ihn auch nicht, denn nun brach sein Hass endgültig durch. Er wollte sich auf den fetten Mann stürzen, wollte Bibleblack nun endlich den Vorrang lassen. Doch er reagierte einen Augenblick lang zu zögerlich. Aus dem Spielzeug in Gwydions Hand spuckte plötzlich ein Blitz auf ihn zu. Starless konnte nicht mehr ausweichen, denn er war bereits in der Vorwärtsbewegung. Er hörte den Schrei seines anderen Teils in sich – dann mischte sich das meckernde Lachen der fetten Eminenz dazu. Dann war … nichts mehr.
Starless hörte den Schrei eines Mannes. Zamorras Schrei? Er wusste es nicht mit Bestimmtheit, denn er konnte nicht mit Sicherheit sagen ob der Schrei aus dem Traum seiner Vergangenheit oder aus der Gegenwart herrührte. Im Grunde jedoch spielte das keine Rolle, denn er war mit dem Vorgang der Bewältigung seiner eigenen Geschichte noch nicht am Ende. Bevor das nicht komplett abgehandelt war, würde er nicht eingreifen können. Also tat er das Einzige, was ihm zu tun blieb. Und noch einmal sah er den Blitz, der ihm aus diesem so harmlos aussehenden Rohr entgegen flackerte …
Du musst wieder zu Sinnen kommen! Starless – wach endlich wieder auf. Starless! Es war die andere Seite in ihm, die sich so unangenehm intensiv bemerkbar machte. Starless öffnete die Augen, was zu seiner eigenen Verblüffung problemlos funktionierte. Irgendwer, irgendetwas hatte ihn niedergeschlagen – so musste es gewesen sein, doch außer dem dicken Mann war niemand im Raum gewesen. Er erinnerte sich an den Blitz, der praktisch aus Gwydions Hand auf ihn zu gezuckt war. Was war geschehen? Er schob diese Frage von sich, denn ihm wurde schlagartig bewusst, in welcher seltsamen Lage er sich hier und jetzt befand. Er stand aufrecht mit dem Rücken gegen eine metallisch glänzende Scheibe gepresst. Seine Arme und Beine steckten in Lederschlaufen, die es Starless unmöglich machten, sich auch nur ein Jota weit zu bewegen. Einzig seinen Kopf konnte er drehen. Was er dabei sah, war nicht unbedingt beruhigend. Der Raum besaß kein Fenster. Dennoch war es hier taghell. So weit er es konnte, legte Starless den Kopf in den Nacken. Unter der Decke hingen Glaskuppeln, die das Licht der Sonne in sich trugen. Jede von ihnen war heller als tausend Kerzen! An der Wand direkt gegenüber von ihm konnte er eine hohe Tafel
sehen, die über und über mit winzigen Lichtpunkten gespickt war; jeder dieser Punkte schien in einer eigenen Farbe zu leuchten wie ein Glühwürmchen … doch Starless hatte noch keinen dieser Leuchtkäfer gesehen, der ständig seine Färbung verändern konnte. Die Wand links von Starless barg ein noch größeres Geheimnis, denn dort gab es eine graue Fläche, auf der ab und an Schatten, Gesichter … ganze Landschaften zu erkennen waren. Magie! Dieser verfluchte Gwydion war ein Zauberer. Bisher hatte Starless sich um diese Dinge nie gekümmert, denn als er noch ein Menschenkind gewesen war, hatten seine Eltern ihm stets geraten, sich von Menschen fernzuhalten, die glaubten sich mit dem Übersinnlichen befassen zu müssen. Als er zu einem Vampir gemacht wurde, musste er die Existenz der Schwarzen Familie akzeptieren, denn schließlich war er zu einem Teil von ihr geworden. Doch das hier war etwas vollkommen anderes. Starless verfluchte die Tatsache, dass er damals ein so gehorsames Kind gewesen war, denn vielleicht hätte er diesen Raum sonst besser für sich verarbeiten können. So jedoch spürte er große Angst in sich aufsteigen. Du musst dich befreien! Starless lachte laut auf. Er gab sich nicht die Mühe, das Gespräch mit seiner anderen Seite im Stillen zu führen. Hier war eh niemand, der ihn hören konnte. »Befreien? Soll ich darüber lachen? Komm du nach vorne, denn mit deiner Vampirkraft kann das vielleicht gelingen. Ich hingegen bin jetzt vollkommen hilflos. Worauf wartest du?« Ich kann nicht. Wut und Verzweiflung schwangen in den Worten mit, die man beinahe hätte mit den Händen greifen können. Schau zur Tür – siehst du die Zeichen? Starless sah deutlich, was Bibleblack damit sagen wollte. Weiße Magie. Sie begegnete dem Vampir nicht zum ersten Mal, und nicht zum ersten Mal war er machtlos gegen diese Methode, sich gegen dunkle Mächte zu schützen. Diese Zeichen hier waren jedoch noch um einiges stärker und intensiver als die, die er an Kirchen und manchen Häusern gefunden hatte. Starless wurde schlag-
artig klar, dass seine andere Seite ihm in diesem Raum keine Hilfe sein konnte. Der Vampiranteil in ihm war regelrecht gebannt worden. Was würde nun geschehen? Irgendwann, da war Starless sicher, würde Gwydion auftauchen und sich ihm intensiv widmen. Den Tod fürchtete Starless nicht, selbst die zu erwartenden Schmerzen der Folter würde er ertragen, doch er hasste den Gedanken, diese Welt endgültig als Verlierer verlassen zu müssen. Seine Suche war erfolgreich gewesen – er hatte Gwydion gefunden, doch er würde ihn wahrscheinlich nicht zur Rechenschaft ziehen können. Er hatte versagt. So darfst du nicht denken. Es muss ganz einfach einen Weg geben. Denk doch nach. Starless gab keine Antwort. Zufällig fiel sein Blick auf die graue Fläche an der Wand. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. Stand er kurz davor durchzudrehen? Oder war es real, was er dort für einen kurzen Augenblick gesehen hatte. Noprichts Gesicht! Gealtert, sicherlich, doch eindeutig die so vertrauten Züge. Kam sein alter Lehrer, um ihn zu befreien? Das Glücksgefühl in Starless wurde plötzlich riesig groß, denn die Tatsache, dass Nopricht noch lebte, gab ihm neue Kraft. Über der Tür leuchtete eine dieser Glaskuppeln plötzlich in einem Purpurrot auf, dann öffnete sich der Eingang lautlos und wie von Geisterhand bewegt. Starless hätte vor Freude aufschreien mögen, als er Noprichts zierliche Gestalt erkannte. Der alte Mann schritt in den Raum und drückte kurz auf eine Einbuchtung neben der Tür, die sich daraufhin wieder schloss. Er kannte sich hier offenbar aus. Doch dabei dachte Starless sich nichts, denn gab es überhaupt etwas auf dieser Welt, das der Mentor nicht sofort und schlüssig hätte erläutern können? Starless hatte den Mann immer zutiefst bewundert und wie einen Großvater geliebt. Langsam wandte Nopricht sich seinem ehemaligen Schüler zu. In seinem Gesicht konnte Starless tiefe Falten erkennen, die vor zehn Jahren noch längst nicht so ausgeprägt gewesen waren; No-
prichts Haarfarbe hatte sich von einem hellen Grau in reines Weiß gewandelt. Doch die klugen Augen leuchteten noch immer so wach und wissend wie eh und je. Lange sahen die beiden Männer sich wortlos an und Starless fragte sich verzweifelt, warum sein Retter schwieg? Dann sprach Nopricht. »Du bist zu einem Mann geworden, Cedric Fynn. Ja, das bist du wirklich.« Jetzt platzte es aus Starless heraus – er konnte nicht mehr schweigen. Irgendetwas an dieser Situation war falsch, doch er konnte nicht sagen, was es genau war. »Nopricht – binde mich los, damit wir von hier fliehen können. Mach schnell, bitte.« Der Mann blieb regungslos und starrte Starless nur an. »Du hast also damals überlebt. Aber wo warst du? Deine Mutter hat so gehofft, du würdest den Weg zurück finden, ehe die Seuche alle dahingerafft hat. Sie sind so schwer gestorben … so ohne jeden Sinn. Ich habe noch nach dir gesucht, doch als ich an der Klippe ankam, wurde mir klar, dass ich weder dich noch deinen Vater lebend finden würde. Wieso bist du nicht gestorben, Cedric?« Die letzten Worte klangen beinahe wie ein Vorwurf. Starless war nun vollkommen verwirrt. »Was geschieht denn hier, Nopricht? Warum befreist du mich denn jetzt nicht? Ich kann das alles nicht begreifen – sag mir doch, was hier geschieht!« Der alte Mann ging nicht darauf ein, sondern blickte kontrollierend auf die leuchtende Tafel, als könne er zwischen all diesen blinkenden Farben etwas Wichtiges entdecken. Dann wandte er sich wieder Starless zu. »Du wurdest zu einem Vampir gemacht. Berichte mir, wo und wann das geschehen ist, Cedric.« Starless war von diesem Wunsch regelrecht überrumpelt, aber er tat, was Nopricht von ihm wollte. Er erzählte, wie er mit zerschlagenem Körper auf seinen Tode gewartet hatte, wie dieses seltsame Wesen aufgetaucht war und ihn zum Blutsauger gemacht hatte. Nopricht stand anschließend nachdenklich da. »Das war der alte Beißer von Cornwall. Ja, ich bin ihm tatsächlich auch einmal begeg-
net. Ein harmloser Bursche, der sich mit Tierblut begnügte. Er hat dir das Leben gerettet. Anscheinend war er davon überzeugt, dass du noch eine Aufgabe zu erledigen hattest. Er hätte dich in Frieden sterben lassen sollen.« Starless stieß einen Wutschrei aus. »Warum wünscht du mir hier ständig den Tod? Was ist mit dir geschehen? Du bist nicht mehr der Nopricht, den ich so verehrt habe. Der hätte mich längst aus meiner misslichen Lage befreit. Rede – was geschah mit dir, als du die Verfolgung von Gwydion aufgenommen hattest?« Nopricht wandte sich wieder der Tafel zu und drückte anscheinend einer bestimmten Logik folgend auf mehrere der Leuchtpunkte. Starless spürte, wie sich etwas von der Decke aus auf seinen Kopf senkte. Er versuchte der merkwürdigen Haube, die nun schon seine Haare berührte, auszuweichen. Haare? Erst jetzt registrierte er, dass man ihn kahl geschoren hatte. Wie ein Helm stülpte sich die Haube über seinen Kopf. »Was ist das? Nopricht, was tust du hier mit mir?« Der alte Mann machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Bleib ruhig, ich kontrolliere nur deine Narbe. Weiter wird erst einmal nichts geschehen.« Starless versuchte sich zu entspannen. Keine dreißig Atemzüge später war auch schon alles vorüber – die Haube hob sich wieder und verschwand in der Höhe. Nopricht stand nun vor der grauen Fläche, auf der nun plötzlich ganze Kolonnen von merkwürdigen Schriftzeichen erschienen. Starless kannte nicht eines davon. »Deine Wunde ist perfekt verheilt.« Starless verstand nicht, warum das jetzt so wichtig sein sollte, denn mit dieser Kopfnarbe war er aufgewachsen – meist vergaß er sie sogar vollkommen. »Es war eine perfekte Arbeit, die ich abgeliefert habe. Oh ja … perfekt.« Plötzlich wischte Nopricht mit der linken Hand wie beiläufig über die Fläche, auf der noch immer die Zeichen zu erkennen waren. Das Feld wurde schlagartig wieder grau und leer. Der alte Mentor wandte sich Starless zu. Im Gesicht des Mannes konnte man den Unwillen über das erkennen, was er nun zu tun gedachte.
»Du willst Antworten von mir? Gut, du sollst sie bekommen, aber ich sage dir – sie werden dir nicht gefallen, Cedric Fynn.« Nopricht zog an einer Art Hebel und die Scheibe, auf der Starless so regungslos verharren musste, senkte sich ein ganzes Stück dem Boden zu. Nopricht trat ganz nahe an seinen Schüler heran. »Also hör mir zu. Als ich sicher war, dass auch dein Vater und du nicht mehr am Leben waren, wollte ich mich an Gwydion rächen. Ich begann zu begreifen, was er getan hatte. Als die Kathedrale ins Meer stürzte, da gab es für ihn keinen Grund mehr in Cornwall zu bleiben. Er floh nach Frankreich, denn dort waren die Kreise der Kirche ansässig, die ihn in seiner Machtgier unterstützt hatten. Also suchte ich mir ein Schiff und landete an Frankreichs Küste.« Gwydion hatte begonnen unruhig hin und her zu laufen. Jedes einzelne Wort schien ihm beinahe körperliche Schmerzen zu verursachen. Dennoch fuhr er fort. »Ganze vier Jahre hat es gedauert, ehe ich den Schweinehund Gwydion aufgespürt hatte. Vier lange Jahre … doch dann fand ich ihn. Er war bereits zum Günstling von Papst Innozenz aufgestiegen. Nun war er fett und träge geworden – zumindest hatte ich das damals so eingeschätzt. Also wartete ich geduldig den richtigen Moment ab und nahm ihn gefangen.« Nopricht hielt inne. Dann schlug er die Augen nieder und nickte, als hätte er gerade in diesem Augenblick erst wirklich verstanden, was nun schon über sechs Jahre her war. »Ich brachte ihn in eine alte Ruine, die ich in einem nahegelegenen Wald entdeckt hatte und überhäufte ihn mit Vorwürfen zu all den Taten, denen er sich schuldig gemacht hatte. Weißt du, was er machte?« Starless gab keine Antwort – woher hätte er die auch nehmen sollen. Nopricht fuhr fort. »Er lachte mich aus, nannte mich einen Idioten, der nicht begriff, wie die Welt funktionierte. Und dann, als ich ihn töten wollte, überwältigte er mich … einfach so. Plötzlich kniete er mit seinem enormen Gewicht über mir und drückte mich zu Boden. Der Dolch, mit dem ich seinen Wanst hatte aufschlitzen wollen, lag an meiner Kehle.« Nopricht musste heftig würgen, als er sich daran erinnerte.
Doch es war nicht die Erinnerung an die Angst, die ihm den Magen umdrehte, sondern an das, was er damals getan hatte. »Und ich habe um mein Leben gebettelt …« Langsam begann Starless zu begreifen. Nopricht hatte sich selbst verraten. »Ich habe ihm gesagt, dass, wenn er mir mein Leben schenken würde, ich überaus wertvoll für ihn sein könnte. Zunächst hat er gelacht, doch das änderte sich, als ich ihm sagte, wer ich in Wahrheit war.« Die folgende Stille war fast nicht zu ertragen. Nopricht schien nicht weiter berichten zu wollen, doch Starless ertrug die entstandene Ungewissheit nun nicht mehr länger. »Wer du in Wahrheit bist? Ich verstehe nicht. Ich denke, ich habe jetzt wirklich ein Recht darauf, alles zu erfahren.« Nopricht nickte. »Ja, das hast du, auch wenn ich befürchte, diese Wahrheiten werden zu viel für dich sein, Cedric Fynn. Ich habe wirklich gehofft, niemand von deiner Familie hätte das alles überlebt, vor allem du nicht, denn was ich dir zu berichten habe, wird deine Welt erneut von innen nach außen kehren. Aber wenn du es willst, dann sollst du es nun erfahren.« Noch einmal zögerte der weißhaarige Mann, doch dann schien es sich entschieden zu haben. »Du wirst es vielleicht nicht verstehen, aber diese Welt ist nicht die einzige, auf der Leben existiert.« Starless war überrascht, denn mit dieser Eröffnung hätte er so nicht gerechnet. Natürlich hatte auch er immer wieder einmal die Fantasien von Spinnern aufgeschnappt, die von fremdartigen Wesen berichteten, die auf die Erde gekommen waren. Sie alle wurden ausgelacht, man machte seine Späße über sie … oder jagte sie aus den Dörfern und Städten. Und nun sprach ausgerechnet der Mann, den Starless so sehr verehrt hatte, von solchen Dingen? »Und diese Welt ist nicht meine Heimat, Cedric. Die liegt so weit im Sternenmeer entfernt von hier, dass ich es dir überhaupt nicht beschreiben kann.« Er blickte in die Augen des jungen Mannes und sah den Unglauben darin. »Ja, so hat Gwydion mich auch angesehen. Er hat geglaubt, dass ich mit Lügenmärchen um mein Leben
betteln wollte. Doch dann gab er mir eine Chance. Ich sollte ihm meine Worte beweisen. Ich zeigte ihm die Dinge, die ich noch aus meiner Vergangenheit besaß. Das brachte seinen Glauben aus der Fassung. Schließlich konnte er nicht anders, als mir meine Geschichte abzunehmen. Dann tat er etwas, was mich dazu brachte, mich selbst zu verraten … und meine Erinnerung an deine Familie gleich mit.« Starless bemerkte, dass der alte Mann beinahe an die Grenze dessen gegangen war, was er sich selbst noch zumuten konnte, doch das reichte noch nicht. Starless wollte restlos alles wissen. »Sprich weiter.« Nopricht riss sich zusammen. »Gwydion erkannte, welche Macht ich ihm unter Umständen in die Hände spielen konnte, denn mit meinem Wissen würde er es in der Hierarchie der Kirche noch sehr weit bringen. Vielleicht sogar bis nach ganz oben. Er bot mir an, alleine für ihn zu arbeiten. Gold und Material wollte er mir besorgen, so viel ich nur wollte. Ich sollte für ihn Waffen herstellen, die ihn mächtiger als alle seine Konkurrenten machen würden, eine ganze Armee wollte er damit ausrüsten, denn sein Machthunger ist unstillbar. Ich habe mich von ihm kaufen lassen … Sieh dich um. Das alles ist mein Werk. Bislang konnte ich seine Gier nach Macht noch dämpfen, denn um das alles aufzubauen, brauchte ich schließlich Zeit. Doch nun drängt er auf Ergebnisse. Ich werde sie ihm liefern müssen. Waffen wie die, mit der er dich überwältigt hat.« Aus Starless platzte es heraus. »Aber das alles ist doch … Magie und übelste Zauberkunst. Du aber bist doch ein Lehrer, ein Mann der Verstandes, der Kunst …« Nopricht schüttelte den Kopf. »Keine Zauberei, mein Junge, Wissenschaft. Aber unterbrich mich nicht, denn es fällt mir schwer genug, dir dies alles zu beichten. Das aber war erst der Anfang. Doch nun will ich dir von deinem Vater und deiner Mutter erzählen.« Wieder begann er im Raum auf und ab zu gehen, wie ein gefangenes Tier, das es kaum ertrug, in welcher Lage es sich befand. »Auf meiner Welt war ich ein hoch angesehener Wissenschaftler. Mein Volk war schon damals uralt und so mächtig, dass es ganze
Sternenreiche beherrschte. Wir besaßen Schiffe, die von Stern zu Stern flogen, Krieger, die jeden Feind besiegen konnten und wir besaßen Stolz. Nichts und niemand glich uns in der Ewigkeit des Alls. Wir waren die DYNASTIE DER EWIGEN! Und ich stand weit oben in der Hierarchie. Ich war Arzt, Genetiker und Techniker in einer Person. Und ich war größenwahnsinnig. Ja, das war ich wohl, denn ich begann die Grundsteine des Lebens zu manipulieren. Ich wollte meinem Volk genetische Wunder bringen, wollte jeden Einzelnen unsterblich machen, denn wir Ewige sind zwar langlebig, aber auch für uns kommt der letzte Tag.« Starless versuchte die Worte zu begreifen und richtig einzuordnen, die er hier hörte, doch da waren Begriffe, die er ganz einfach nicht kennen konnte. Genetiker … Grundsteine des Lebens … er wusste nicht, was Nopricht damit sagen wollte, doch er begriff, dass dieser Mann ganz sicher nicht der war, als den er ihn kennengelernt hatte. »Ich schoss weit über mein Ziel hinaus – meine Experimente waren jenseits jeder Grenze. Das konnte nicht unentdeckt bleiben. Und so wurde ich angeklagt, gegen die Gesetzte der DYNASTIE verstoßen zu haben. Das Urteil war mehr als hart. Es lautete: Tod! Aber ich konnte fliehen und mit einem Raumschiff diese Welt erreichen.« Nopricht blieb dicht vor Starless stehen und blickte den jungen Mann direkt an. »Ich hatte den Wahn begriffen, der von mir Besitz genommen hatte. Von dem Augenblick an, als ich mich entschied, als Mensch unter Menschen zu leben, fiel er gänzlich von mir ab. Und dann begegnete mir dein Vater.« Starless hatte auf diesen Satz gewartet, denn an irgendeinem Punkt von Noprichts Geschichte musste seine Familie ins Spiel kommen. Was war das Geheimnis, dass nur Nopricht ihm offenbaren konnte? »Connor Fynn war jung, strotzte vor Energie und Tatendrang. Ich erkannte schnell, was für Talente in ihm schlummerten. Ich musste mir auf dieser Welt eine Aufgabe suchen, warum also nicht Menschen wie deinen Vater zu fördern? Als Lehrer, als Vordenker … und als Freund. Schon bald wurde klar, dass Connor Fynn als Baumeister zu großen Taten bestimmt war. Ich begann ihn zu fördern, ihm neue und revolutionäre Ideen einzupflanzen. Dein Vater hatte
gerade die schöne Juna geheiratet. Die beiden hatten nur einen Wunsch: Kinder, möglichst viele Kinder! Doch Juna wurde einfach nicht schwanger.« Nopricht räusperte sich ehe er weiter sprach. »Ich verfügte über das medizinische Wissen einer Hochkultur, also setzte ich es auch ein. Ich ging zu dem Kleinraumer, den ich gut versteckt hatte, und stellte die Medikation zusammen, die deiner Mutter helfen würde. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Juna die Veranlagung zu Zwillingsgeburten in sich trug.« Starless nickte. »Außer Brianna und mir waren all meine Geschwister Zwillinge. Warum erwähnst du das?« Nopricht wandte ihm den Rücken zu. »Nur Brianna war ein Einzelkind. Auch du warst … ein Zwilling. Deine Eltern nannten euch Cedric und Clewin. Dann wollten sie euch rasch taufen lassen, doch Gwydion, der schon damals Pater in Cornwall war, verweigerte ihnen das. Er sagte, er würde dem Herrn kein Monstrum zuführen …« Es war still im Raum. Starless wollte sprechen, doch seine Zunge schien auf ewig an seinem Gaumen festgeklebt zu sein. Monstrum … Er verstand nicht, doch er begann eine düstere Ahnung zu entwickeln. Schließlich durchbrach Nopricht das Schweigen. »Dein Bruder und du – ihr wart an den Köpfen zusammengewachsen. Eure Eltern befanden sich in einem Schockzustand. Alle rechneten damit, dass ihr gleich nach der schwierigen Geburt sterben würdet, doch irgendetwas hielt euch am Leben … ihr habt euch daran festgeklammert. Ich wusste, dass ich etwas tun musste, denn Connor und Juna waren dem Wahnsinn nahe. Also habe ich sie gebeten, das Kind … die Kinder … mir zu überlassen. Ich würde alles tun, um sie zu retten. Und genau das habe ich dann auch getan. Ich bin zurück zum Raumschiff gegangen, habe dich und deinen Bruder auf den Operationstisch gelegt, den ich dort hatte einbauen lassen … und ich habe euch voneinander getrennt.« Vor Starless' geistigem Auge erschien eine Szene, die er als Kind auf einem Jahrmarkt erlebt hatte. Dort wurden in einer Kuriositätenschau die merkwürdigsten Lebewesen dem zahlenden Publikum
vorgeführt. Starless erinnerte sich noch genau. Da war ein Zwerg gewesen, dessen Bruder an seinem Rücken angewachsen war. Das erbarmungswürdige Wesen war durch die Arena gestolpert. Die Zuschauer wollten sich vor Lachen ausschütten, als die beiden ständig taumelten und zu Boden fielen, weil sie sich nicht einig werden konnten, in welche Richtung sie denn nun laufen sollten. Und nun sollte er … Starless wollte nicht daran glauben. »Es ist vollkommen unmöglich, eine solche Kreatur zu trennen. Beide würden dabei sterben.« Er versuchte seine Stimme möglichst fest klingen zu lassen, distanziert, doch das gelang ihm nicht. »Nicht mit dem Können und Wissen dieser Zeit, doch auf meiner Welt ist die Medizin so weit entwickelt, dass so ein Eingriff durchaus möglich ist. Ich hatte allerdings nicht die gesamte Technik zur Verfügung, die man üblicherweise dazu benötigt, doch ich habe improvisiert. Es war mir klar, dass ich wohl nur eines der Babys würde retten können, doch das war doch besser als beide sterben zu lassen. Deine Eltern bat ich um Geduld. Sie vertrauten mir.« Starless schloss die Augen. Er konnte sich die Verzweiflung von Juna und Connor sehr gut vorstellen. Das waren ihre Kinder, ganz gleich, wie verächtlich ein Mann der Kirche – Gwydion – sich auch dazu äußern mochte. Sie hatten all ihre Hoffnungen in den Freund Nopricht gesetzt, in den Mann, der so viel wusste, der alles erklären konnte. Wenn jemand ein Wunder vollbringen konnte, dann sicherlich er. Nopricht setzte seinen Bericht fort, und seine Stimme klang nach wie vor bedrückt. »Sechs Wochen lang habe ich mich Tag und Nacht um dich gekümmert. Dein Bruder war körperlich viel schwächer als du gewesen, er hatte keine Chance gehabt, doch du … du hast gekämpft wie ein Riese! Sechs lange Wochen, doch dann brachte ich dich mit einem mächtigen Kopfverband zurück zu Juna und Connor. Die beiden waren so glücklich, dass der Schmerz über den Tod deines Bruders ein wenig gemildert wurde. Du hast dich zunächst vollkommen normal entwickelt, doch irgendwann – da warst du vielleicht zwei Jahre alt – habe ich beobachtet, wie du ganz still in dich hinein gehorcht hast, als würde da jemand mit dir reden. Doch das tun vie-
le Kinder, also habe ich meinen Verdacht beiseite geschoben.« Nopricht verschob einige der leuchtenden Punkte auf der Tafel, dann nickte er zufrieden. Starless hatte keine Ahnung, was der alte Mann da machte, aber dafür war jetzt auch kein Platz in seinem Kopf, denn die Geschichte, die Nopricht ihm da erzählte, wühlte ihn vollkommen auf. »Als mir deine Mutter dann irgendwann erzählte, dass du dich merkwürdig entwickeltest, wurde ich erneut aufmerksam. Deine Stimmungsschwankungen waren mehr als auffällig, doch am meisten beunruhigte mich, was manchmal mit deinen Augen geschah. Der fröhliche Cedric, der oft nichts als Unfug im Sinn hatte, verschwand dann und machte einem ruhigen und ernsten Jungen Platz, der keinen Spaß haben wollte, sondern den Tag ganz still und irgendwie traurig hinter sich brachte.« Starless wusste genau, was sein Mentor damit sagen wollte – es waren diese Tage gewesen, an denen er seiner anderen Seite der Vorrang gelassen hatte. Doch dabei hatte er sich nie wie ein gespaltenes Wesen gefühlt. Sie beide waren eine Einheit – wie die beiden Seite einer Münze, die untrennbar miteinander verbunden waren. »Was … was soll nun geschehen? Was willst du mit mir machen?« Nopricht blickte Starless an. »Wenn es nach mir ginge, dann würde ich dich gehen lassen, doch mein Wille ist hier nicht entscheidend. Diese weißmagischen Zeichen über der Tür – Gwydion … oder Urban von Kemow, wie er sich jetzt nennt, hat sie extra für dich dort anbringen lassen. In seinen Diensten stehe nicht nur ich, sondern Dämonenjäger, Vampirjäger und andere Menschen, die Gwydions Angst vor den schwarzen Mächten zumindest ein wenig beruhigen können. Menschen fürchtet er nicht, denn die verachtet er nur. Das Unbekannte ist es, was ihm die Schweißperlen auf seinen fetten Wanst bringt. Viele dieser angeblichen Kämpfer gegen die Höllenkräfte sind Scharlatane, doch der, der diese Zeichen dort in die Tür gebrannt hat, scheint wohl gewusst zu haben, was er tut, nicht wahr?« Starless nickte schwach. Ja, es waren diese Schutzzeichen, die ihn hier hilflos machten. Sein Vampirteil war wie gelähmt. »Entferne sie, zerstöre sie, Nopricht, dann kann ich von hier verschwinden.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das habe ich schon versucht, nachdem sie dort angebracht worden waren, doch ich kann es nicht. Sie widerstehen allen Versuchen in dieser Richtung. Man müsste sie schon …« »Was müsste man?« Starless war plötzlich hellwach, doch Nopricht schien rasch das Thema zu wechseln. »Alles, was du hier siehst, wurde aus dem Raumschiff ausgebaut, mit dem ich zur Erde gekommen bin. Gwydion hat mir 50 wirklich kräftige und geschickte Männer zur Verfügung gestellt, um das zu bewerkstelligen. Dann wurde alles nach meinen Vorgaben hier wieder eingebaut. Und als das erledigt war …« Nopricht trat nahe an Starless heran und sah ihm direkt in die Augen. »… da ließ Gwydion diese 50 Männer skrupellos töten, denn sie sollten ihr Wissen nicht weitergeben können. Verstehst du nun? Er bekommt alles was er will – immer! Er kennt kein Tabu, akzeptiert keine Grenze. Ich habe das auch erst begreifen müssen.« Mit einer raschen Bewegung zog Nopricht mit der rechten Hand an seinem linken Handgelenk. Mit einem knackenden Geräusch löste es sich und der alte Lehrer hielt eine Prothese hoch, die von den Fingerspitzen bis zum Ellbogen reichte. Starless riss entsetzt die Augen auf. »Die Waffe, mit der er dich betäubt hat, wird bei den Ewigen EBlaster genannt. Sie kann ein Wesen betäuben, doch man kann sie auch so einstellen, dass sie tötet. Ich habe mich geweigert, Gwydion dies zu zeigen.« Nopricht arretierte die Prothese wieder an ihrem angestammten Platz. »Er ließ mir den Arm mit einem Beil abschlagen. Verraten habe ich es ihm dennoch nicht. Bis heute – doch nun drängt er erneut und ich weiß auch warum.« Nopricht wurde unterbrochen, denn das Licht über der Tür leuchtete wieder auf. Erneut öffnete sie sich geräuschlos und wie durch Zauberkunst. Hass blitzte in Starless' Augen auf, als er den aufgedunsenen Körper Gwydions erblickte. Der Kirchenmann schaute verblüfft zu Starless, dann zu Nopricht. »Du hast ihn ja noch nicht geöffnet. Warum widersetzt du dich meinen Befehlen? Langsam wirst du mir lästig, Nopricht.«
Der weißhaarige Ewige blieb gelassen. Er wandte sich an Starless. »Gwydion will sehen, wie verändert dein Gehirn ist. Wenn zwei Personen in einem Körper leben, dann – so glaubt er – muss es auch zwei Gehirne geben, zwei Herzen, alles also in doppelter Ausführung. Aber da irrt er, nicht wahr?« Starless gab keinen Laut von sich. Was hätte er sagen sollen? Er begriff nicht, was mit ihm geschehen war, als er von seinem Zwillingsbruder getrennt wurde. In seinen Weltbild des 14. Jahrhundert war kein Raum für solche Spekulationen. Nopricht schien sich jedoch seiner Sache sicher zu sein. »Nein, Gwydion, kein zweites Gehirn. Ich habe auch nur eine Theorie, doch die sieht ganz anders aus. In der Sekunde, als ich die Körper voneinander trennte, da hat sich das Bewusstsein des sterbenden Kindes bei seinem stärkeren Bruder regelrecht versteckt. Es ist aus seinem Körper geflohen, hat Unterschlupf gesucht und ja auch gefunden. Erklären kann ich das auch nicht, zumindest nicht im wissenschaftlichen Sinn, aber so muss es gewesen sein. Und nun, in dieser Sekunde, würde es nur zu gerne die Kontrolle über den gemeinsamen Körper übernehmen und sich auf deinen fetten Körper stürzen, als Bibleblack, der Vampir.« Gwydion blickte angewidert auf Starless. »Um den kümmere ich mich später höchstpersönlich. Doch nun wirst du, Nopricht, mir zeigen, wie ich die Waffe umstellen kann. Es eilt, also komme mir mit keinen Ausreden.« Der Ewige nahm den Blaster aus Gwydions Hand entgegen. Mit einem Blick überprüfte er den Ladezustand und nickte zufrieden. »Warum eilt es denn so? Wen willst du damit töten? Mir kannst du es doch verraten, denn ich komme aus diesen unterirdischen Räumen ja eh niemals heraus.« Starless begriff, dass Nopricht nichts anderes war als ein Gefangener. Erneut berührte der alte Mentor einige der Lichtpunkte auf der Tafel. Starless begann zu ahnen, dass er etwas vorhatte. Nur was? Gwydion lachte sein überhebliches Lachen. »Das ist richtig, also warum nicht? Noch heute werde ich meinen Namen an die erste Stelle derer setzen, die der nächste Papst werden wollen. Ich werde es sein, der den so tragisch gestorbenen Papst
Innozenz findet … und niemand wird bemerken, dass er durch meine Hand umgekommen ist. Innozenz ist schwer krank, also wird niemand bezweifeln, dass ihn seine Krankheit hingerafft hat.« Nopricht war da nicht so sicher. »Werden denn seine Leibärzte ihn nicht eingehend untersuchen?« Gwydion lachte erneut. »Das Recht dazu hat nur der erste Arzt am Papsthof, und der steht tief in meiner Schuld. Du siehst – ich habe an alles gedacht. Du hast mir gesagt, diese Waffe hinterlässt nur winzige Löcher, also wird niemand Verdacht schöpfen. Schon lange ist die Ablösung Innozenz durch einen der Tradition der Kelten verpflichteten Nachfolger geplant, doch das dauert mir alles noch viel zu lange. Ich werde Tatsachen schaffen, noch heute.« Noprichts Gesicht bekam einen entschlossenen Ausdruck. »Ich stimme dir zu. Heute ist ein Tag, an dem Dinge zum Abschluss gebracht werden sollten. Dinge, die niemals so hätten existieren sollen. Ein finaler Tag, wenn du so willst. Also schau gut her, Gwydion.« Mit flinken Fingern veränderte Nopricht die Einstellung des E-Blasters. »Nun betäubt sein Strahl nicht mehr, sondern er tötet, durchdringt nahezu jedes Material.« Gwydion begehrte auf. »Halt, das ging ja viel zu schnell. Ich konnte es nicht richtig sehen. Mach es noch einmal.« Nopricht reagierte auf diese Forderung in keiner Form. Als Gwydion nach der Waffe griff, die Nopricht nach wie vor in den Händen hielt, machte der nur eine lässig anmutende Bewegung nach rechts und trat ganz dicht vor die blinkende Tafel. Der Ewige brachte seinen Mund bis auf eine Handbreit vor eine Membran, die dort in Kopfhöhe eingelassen war. Seine Stimme klang ruhig wie immer, doch Starless hatte das intensive Gefühl, dass seine Worte etwas Endgültiges hatten – eine Bedeutung, die Nopricht lange erwägt, aber niemals durchgeführt hatte. Nun jedoch tat er es. »Computer – öffnen: Ordner Kristallwelt – Programm Nopricht-Finale.« Zwei weiße Leuchtpunkte neben der Membran blinkten hektisch auf. Anscheinend diente das dem Ewigen als Bestätigung, dass sein Befehl ausgeführt worden war. »Nopricht-Finale einleiten.«
Starless und Gwydion mussten an Zauberei glauben, als eine knarzende Stimme aus dem Nichts heraus zu Nopricht sprach. Wenn Programm gestartet wird, ist es nicht mehr abzubrechen – bitte Befehl bestätigen. Der Ewige nickte zufrieden. »Bestätigt. Programm starten.« Ein tiefer Ton lag plötzlich in der Luft, als habe jemand einen rituellen Gong angeschlagen, dessen Nachhall einfach nicht mehr enden wollte. Gwydion fuhr wie von Furien gehetzt herum, als von der einzigen Tür her ein Krachen ertönte. Es war nur eine Ahnung, doch Starless war sicher, dass dieser Ausgang nun nicht mehr zu öffnen war. Der fette Kirchenmann machte einen Schritt auf Nopricht zu. »Gib mir die Waffe zurück. Ich muss hier raus …« Nopricht lächelte, als er abdrückte. Ein feiner blassroter Strahl löste sich und verdampfte den Fußboden direkt vor den Füßen Gwydions. Der Ewige war ganz ruhig. »Ich könnte dir problemlos ein sauberes Loch genau zwischen deine Fettaugen verpassen, doch was würde dann passieren? Andere würden kommen, nicht weniger gierig und machtlüstern als du – und sie würden all das hier finden.« Nopricht machte eine umfassende Handbewegung. »Nein, das lasse ich nicht zu. Mein Volk wollte mich nicht mehr – ich bin zum Überläufer geworden, doch ich wollte dieser Welt mein Wissen zum Guten anbieten. Dann jedoch habe ich mich verführen lassen. Ist es nicht immer die gleiche Geschichte?« Gwydion starrte entsetzt auf den verdampften Boden vor seinen Füßen. Angstschweiß lief in kleinen Bächen an seinen Schläfen nach unten und sammelte sich am Doppelkinn des Mannes. Er begriff nicht viel von dem, was Nopricht da sagte. Der Ewige senkte den Lauf des Blasters. »Ich bin sicher, auch du, Gwydion, bist einmal ein junger Mann gewesen, der seinem Gott, seinem festen Glauben dienen wollte. Nicht mehr, nicht weniger. Doch irgendwann kommt ein Moment, an dem wir alle in Versuchung gebracht werden. Manche können widerstehen, die meisten jedoch nicht. Und nun schau, was aus dir geworden ist. Wann hast
du zum letzten Mal etwas für deinen Gott getan? Nur für ihn? Wahrscheinlich kannst du dich daran nicht einmal mehr erinnern. Wir sind Verführte … schwache Wesen, die für ihre Fehler büßen müssen.« Gwydion starrte den weißhaarigen Mann voller Hass an. »Meine Männer werden die Tür aufbrechen … und dann …« Nopricht lachte. »Du weißt genau, dass sie das nicht schaffen werden. Ich hoffe, sie sind schlau genug, sich in Sicherheit zu bringen, denn sonst sterben sie mit uns. Jedes Schiff der DYNASTIE DER EWIGEN, dass zwischen den Ozeanen der Sterne fliegt, besitzt ein Notfallprogramm, denn wenn ein Feind versucht es zu entern, wird es sich selbst zerstören. Dieses Programm existierte auch in meinem Schiff. Ich habe es aktiviert – nichts und niemand kann es jetzt noch aufhalten. Gwydion, du baust stets zu nahe am Abgrund zum Wasser. Connor Fynn hat dich eindringlich gewarnt, dass die Kathedrale auf unsicheren Grund errichtet werden sollte. Sie endete in der See. Und diese Villa hier steht am Ufer der Rhone … Sie wird in den Fluss gespült werden und nichts wird von ihr übrig bleiben. Das Wasser ist gerecht, denn es verteilt alles in jegliche Richtung.« Gwydion stand wie erstarrt da. Starless konnte deutlich im Gesicht des Mannes lesen, dass er begriffen hatte – all seine Macht endete in diesem Raum. Niemand konnte ihm jetzt noch helfen, ihn retten. Und so tat Gwydion das, was ihm vor vielen Jahren alles bedeutet hatte. Er fiel auf seine Knie und begann zu beten. Nopricht wandte sich an Starless. »Cedric, du sollst dieses Schicksal nicht mit ihm und mir teilen. Du musste jetzt von hier verschwinden. Es wird nur noch einige Sekunden dauern, bis die Vernichtung einsetzt.« Starless begriff nicht. »Verschwinden? Aber wie? Ich bin doch hier hilflos an diese Scheibe gebunden. Ich verstehe nicht.« Nopricht lächelte milde, dann wandte er sich der Tür zu, um die herum die weißmagischen Zeichen tief in das Material eingebrannt waren. Sie bannten den Vampir in Starless. Nopricht hob die kleine Waffe in seiner Hand und löste sie aus. Der Strahl fraß sich tief in die magischen Symbole hinein und zerstörte sie in Sekunden. Wir sind frei – ich übernehme …
Starless hatte keine Einwände. Den Kräften Bibleblacks hatten die Fesseln nichts entgegen zu setzen. Starless Bibleblack baute sich vor Nopricht auf. »Komm mit mir. Ich bringe dich hier raus. Lass Gwydion mit seiner Villa und all dem hier untergehen, doch du kannst irgendwo noch einmal neu beginnen. Da draußen gibt es viele Kinder, wie ich eines war – und die brauchen dein Wissen und deine Weisheit. Komm mit mir.« Er strecke eine Hand nach seinem alten Lehrer aus, doch der wich einen Schritt nach hinten. »Nein, Cedric. Ich habe lange genug gelebt. Vielleicht bereits zu lange. Wir Ewigen sterben ja nicht, wir gehen hinüber, und nichts bleibt von uns übrig. Aber versprich mir eines.« Starless Bibleblack sah auf seinen Mentor herab. Erst jetzt fiel ihm auf, wie klein Nopricht war. Vielleicht war es sein Rückgrat, dass hier in dem Keller dieser Villa gebeugt worden war … niedergedrückt und verbogen. »Irgendwann wirst du vielleicht auch einmal zu den Sternen fliegen – deine Existenz als Vampir macht dich nahezu unsterblich. Wenn dem so ist, dann suche nach der DYNASTIE DER EWIGEN. Suche nach meinem Volk und wenn du es gefunden hast, dann studiere es. Das wird dein Schaden ganz sicher nicht sein. Und jetzt … geh, mein Freund.« Bibleblack zuckte herum, denn in diesem Augenblick schoss eine Stichflamme aus der Tafel mit den blinkenden Leuchten heraus. Sie zuckte in den Raum hinein und traf Gwydion. Der Mann fing sofort Feuer, doch das schien er nicht zu bemerken. Zu tief hatte er sich in sein letztes Gebet versenkt. Eine Explosion dröhnte in den Ohren des Vampirs und er sah, wie sich ein Teil der Deckenkonstruktion löste und zu Boden stürzte. Bibleblack sprang zur Seite, wollte Nopricht zu sich ziehen, doch der verschwand bereits unter den fallenden Brocken. Rasch sprang Bibleblack hinzu und stemmte mit seinen Vampirkräften zwei der Steine in die Höhe. Was er fand, war nur die Kleidung, die Nopricht getragen hatte. … wir gehen hinüber … und nichts bleibt von uns übrig … Starless Bibleblack hörte die Worte seines Lehrers ganz deutlich in
seinem Kopf. Hier gab es für ihn nichts mehr zu tun. Bibleblack brachte sich und seinen Bruder aus dem Keller der Villa. Es war ja nur ein winziger Schritt für ihn.
Am 12. September 1362 war Avignon erfüllt von Tränen. Papst Innozenz VI. war seinem langen Leiden erlegen. Man würde sich seiner als dem Papst erinnern, der eine maßgebliche Rolle beim Waffenstillstand zwischen Frankreich und England gespielt hatte. Das beendete den langen Krieg nicht, doch es verschaffte den Menschen die Zeit, um einmal durchzuatmen. Wo der Frieden lange fehlt, da wird die Luft so dick wie Blut … Schon Tage vor diesem Datum waren in Avignon kirchliche und weltliche Würdenträger aus allen Ländern erschienen. Sie alle wollten dem sterbenden Papst ihre Ehre zollen, doch mehr noch ging es ihnen darum, sich bei seinem Nachfolger sofort den richtigen Stand zu verschaffen. Zwei Männer hielten sich im Schatten des Papstpalastes auf, als die Nachricht vom Tod Innozenz' offiziell bekannt gemacht wurde. »Wir haben alles trefflich vorbereitet.« Abt Kilian warf einen langen Blick auf den Platz vor dem Palast, der sich mit Weinenden und Betenden nun immer rascher füllte. Sollten sie ihre Trauer haben – ihm ging es um ganz andere Dinge. »Die Monsignori haben entschieden, dass du – Vallentin – der nächste Papst werden sollst. Alles wurde bedacht. Die entscheidenden Leute sind auf unserer Seite. Manche sogar aus Überzeugung, andere jedoch nur, weil sie uns einfach unterlegen sind … und in unserer Schuld stehen. Es kann nichts schiefgehen. Du wirst der Papst.« Der andere Mann war im Vergleich zu Kilian mager und blickte ernst und aus kalten Augen in die Welt. »Nun, so soll es sein. Ihr habt die richtige Wahl getroffen. Richte den Monsignori meinen Dank aus und das Versprechen, dass ihr Tun und Handeln sich für sie zum Vorteil auswirken wird. Komm,
lass uns in den Palast gehen. Ich denke, eine Stärkung wird uns nun gut tun. Nicht mehr lange, dann wird die Wahl auch schon beginnen.« Die so ungleichen Männer ließen sich in einem der Aufenthaltsräume bewirten. Sie nahmen Fleisch und Fisch, dazu einen alten Rotwein. Abt Kilian setzte den Becher an und würgte die Flüssigkeit im gleichen Augenblick wieder aus sich hervor. Vallentin blickte nicht verstehend zu seinem Mitverschwörer. »Was ist geschehen? Ist der Wein so übel?« Kilian konnte kaum ein verständliches Wort hervorbringen. »Kein Wein … Blut!« Vallentin sprang auf und wollte nach den Wachen rufen, doch ein heftiger Schlag traf seine Wange und schickte ihn zu Boden. Wie aus dem Nichts heraus war eine hoch aufgeschossene Gestalt in dem Raum erschienen, eine Gestalt, die den beiden Männern nicht unbekannt war. Abt Kilian ließ sich auf die Knie fallen. Er wusste, wie wehrlos er und Vallentin gegen diesen Schatten aus der Hölle waren. Bibleblack – hier, mitten im Palast des Papstes. Vallentin versuchte wieder auf seine Füße zu kommen, doch der Schatten stieß ihn gnadenlos zurück. »Endlich ist euer Tag gekommen, nicht wahr? Das Warten ist euch sicher schwergefallen. Ihr seid schlimmer als die Pest, schlimmer als jeder Plünderer, der über die Kriegsplätze schleicht und Verwundete erschlägt, um an ihr Eigentum zu kommen. Ja, sogar schlimmer als Gwydion, denn der wollte nicht wie ein Geier auf das Aas warten, sondern selbst aktiv werden.« »Warum mischt du dich ein?« Vallentin schaffte es trotz seiner Furcht einen Einwand zu formulieren. »Was geht es dich an, wer der neue Papst wird? Nichts, denn du bist eine Höllenkreatur und gottloser als jeder Stein in der Wüste. Verschwinde und lass den Dingen ihren Lauf.« Bibleblack lächelte kalt. »Es geht mich nichts an, das ist richtig. Doch ich hasse es, wenn ein Parasit seinen Wirt zu beherrschen versucht. Und ihr seid nichts anderes als Läuse im Fell der Menschheit. Ihr seid Geistesbrüder
von Gwydion. Niemand von euch soll Macht über diese Welt erlangen. Dafür werde ich sorgen.« Der Palast füllte sich von Sekunde zu Sekunde immer mehr mit Menschen, die dem toten Papst noch einmal nahe sein wollten. Sie ließen sich von nichts und niemandem davon abbringen. Die Wachen hatten es längst aufgegeben, so etwas wie eine Ordnung aufrecht zu erhalten. Stimmen schwirrten durch die Räume, eine Flut von Lärm, den diese Mauern so nicht kannten. Niemand von den Trauernden konnte da die Schreie von zwei Männern hören, die große Macht angestrebt hatten. Was sie jedoch bekamen, war nichts als den Tod … sternenlos und schwarz wie eine Bibel …
»Suche nach meinem Volk und wenn du es gefunden hast, dann studiere es. Das wird dein Schaden ganz sicher nicht sein.« Starless schaffte es nur langsam, sich aus seinen Erinnerungen zu lösen … doch er ließ sich in diesem Fall die Zeit, die er im Grunde überhaupt nicht hatte. Es musste aber sein, denn nur wenn er sich aus seiner Vergangenheit komplett lösen konnte, würde er seine Kräfte in der Gegenwart wieder vollständig einsetzen können. Er war absolut sicher, dass dieser Alpha Vorrog Zamorra bereits heftigst zugesetzt hatte. So ein Hauch von Mitleid regte sich in Starless für den Franzosen. Mitleid? Das konnte ja wohl nicht sein! Dennoch wollte er den Professor nicht unnötig lange warten lassen. Starless Bibleblack schälte sich aus der Vergangenheit in die Jetztzeit wie ein Küken, dass aus dem Ei schlüpfte. Er konzentrierte sich auf sein Gehör. Stille … wie konnte das sein? War Vorrog zu weit gegangen – oder hatte Zamorra die Fähigkeit, sich bei einer Folter in eine gnädige Ohnmacht zu flüchten? Beinahe hätte er ihm das gewünscht. Ganz vorsichtig versuchte Starless seine Augen zu öffnen, doch seine Lider waren wie von Eiter verklebt. Er fühlte sich schwach wie ein Kind … wie Cedric … Cedric … Lass es gut sein. Ich übernehme jetzt wieder. Starless war erleichtert, als sein Vampirbewusstsein die Kontrolle
übernahm. Das Fesselfeld existierte nach wie vor, doch nun war es ein Leichtes sich mit einem winzigen Sprung in Sicherheit zu bringen. »Auch wieder da?« Starless wirbelte herum, denn für einen kurzen Moment war er ohne Orientierung. Ein paarmal öffnete und schloss er seine Augenlider, bis sein Blick endlich wieder klar wurde. Was er sah, war nun wirklich alles andere als das, was er erwartet hatte. Professor Zamorra saß grinsend in einem Formsessel vor den Kontrollen. Nur einen Schritt von ihm entfernt lag der Alpha Miso Vorrog auf dem Boden. Der Alpha war nicht bei sich, auf seinem Gesicht machte sich ein leicht verblödeter Ausdruck breit, den man bei Besinnungslosen oft entdecken konnte. Besonders dann, wenn man sie ganz unverhofft ausgeknipst hatte. Starless blickte Zamorra bewundernd an. »Bei allen Blutbanken … wie hast du das hinbekommen?« »Ich bitte dich, nur kein Applaus. Aber Alpha hin, Ewiger her – der Bursche stand unter gewaltigem Stress. All seine Zukunftspläne liegen in Schutt und Asche. Seine geliebte DYNASTIE wird regiert von einem Vampir … und einer von denen sitzt ihm wie eine Klette im Nacken und jagt ihn quer durch die Galaxie. Da ist es kein Wunder, dass er psychisch durchaus angreifbar war.« »Was hast du also gemacht?« Zamorra warf einen kurzen Blick auf sein Opfer, das selig schlummerte. »Er wollte, dass ich ihn zu Ted Ewigk führe. Das kann ich jedoch nicht, doch das hätte er mir ja nie abgekauft. Also habe ich ihm gesagt, ich würde ihm anhand von Sternenkarten die Position der Welt anzeigen können, auf der Ewigk sich aufhält. Dazu müsste ich allerdings an den Rechner.« Zamorra schien das Grinsen einfach nicht einstellen zu können. »Er hat dein Fesselfeld … abgebaut?« Starless wollte das einfach nicht glauben. Zamorra nickte. »Ein wenig habe ich mit Hypnose nachgeholfen, aber groß anstrengen musste ich mich da nicht.«
Starless schüttelte den Kopf. Für so anfällig hätte er Vorrog allerdings nicht gehalten. Den Rest musste Zamorra ihm gar nicht erst beschreiben, denn gegen einen so kampferfahrenen Mann wie den Parapsychologen hatte der Alpha keine Chance gehabt. Starless blickte zu Zamorra. »Und nun? Was machen wir mit ihm?« Zamorra zuckte mit den Schultern. »Wenn du ihn willst, dann nimm ihn und verschwinde wieder in Richtung Kristallwelt. Ich habe keine Ahnung, warum ich dich nicht einfach ausgelöscht habe, als du noch in deinen Erinnerungen gefangen gewesen bist. Vielleicht weil ich denke, dass du Tan Morano in eine eventuell richtige Schiene bringen könntest? Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht aber auch, weil ich zu viel von dem verstanden habe, das du in deinen Erinnerungen laut ausgesprochen hast. Cornwall also … ich kenne die Gegend recht gut, aber lassen wir das.« Starless wusste nicht, was er darauf antworten sollte, also schwieg er. Eines jedoch behielt er nicht für sich. »Nopricht hat gesagt, ich soll sein Volk suchen. Das habe ich getan. Lange habe ich für Nazarena Nerukkar gearbeitet – sie hatte immer wieder Aufträge, die kein anderer erledigen konnte. Ich habe den Kontakt zu den Ewigen bewusst gesucht. Und nun, da Morano als ERHABENER über die DYNASTIE herrscht, will ich deren Schicksal auch weiter verfolgen und beeinflussen. Ich denke, Nopricht hätte das gut gefunden.« Zamorra nickte. »Gut, nimm den Alpha und verschwinde. Ich denke, dein Schiff steht im Orbit?« Starless bestätigte das. »Erwähne ja nicht meinen Namen, wenn du Vorrog Morano übergibst. Ich werde das Schiff hier zerstören.« Starless warf sich den Alpha über die linke Schulter. »Das sage ich jetzt nicht gerne … aber gut: danke! Wir sehen uns garantiert bald wieder. Als Feinde natürlich. Aber das ist ja klar, denke ich. Dennoch – du hast etwas bei mir gut, Professor. Nur was und wann ich es dir gewähren werde, behalte ich mir vor.« Die beiden Männer nickten einander ernst zu, dann konzentrierte sich Starless Bibleblack, um mit einem Sprung seine Raumjacht zu
erreichen. »Warte!« Starless blickte noch einmal zu Zamorra, der ihn angesprochen hatte. »Was willst du noch?« Zamorra zögerte, doch dann fragte er das, was ihm irgendwie auf der Seele lag. »Sag mir eines: Hat es je wieder eine Ceridwen für dich gegeben?« Es dauerte beinahe eine Minute, ehe der Vampir antwortete. »Nein. Und es wird sie auch niemals geben …« Beim nächsten Wimpernschlag war Starless verschwunden. Zamorra nickte. »Das habe ich mir gedacht. Ja, das habe ich mir gedacht …«
Nachwort »Und woher nimmst du denn immer die Ideen?« Das ist die Frage, die man als Autor zumeist von Menschen gestellt bekommt, die mit dem Lesen so gut wie nichts am Hut haben. Für sie ist es absolut ein unerklärliches Wunder, sich den Stoff für ein Romanheft, ein Buch zu erdenken. Okay, ich sage dann meist: »Ach … die sind entweder da … oder man zwingt sie ein wenig.« Weitere Nachfragen bleiben dann meist aus. Gut so. Wie aber steht es bei den Namen der handelnden Personen? Da gibt es natürlich immer als letzte Auswahl den berühmten – und von Werner Giesa so gerne zitierten – Fritz Lakritz … oder den John Doe … die berühmtberüchtigte Christine Mustermann. Nein, im Ernst: Wenn man ein Buch schreiben will, das im Mittelalter spielt (wie das vorliegende etwa) und sich mit Personen aus dem Dunstkreis der Kelten beschäftigt, dann sollte das schon passen. Wir heutigen Autoren haben es da ja gut, denn das Internet beantwortet einem ja so ziemlich alles – man muss nur wissen, was man wo zu suchen hat. Noch anders ist die Sache allerdings bei Personen, die man für eine längere Zeit in die Handlung der Serie einbauen will. Da kann die Suche schon ein wenig länger dauern. Okay, Dalius Laertes ist sicher bei Shakespeare ausgeliehen … ich gebe es zu. Artimus van Zant setzt sich aus Vor- und Nachnamen von Musikern zusammen, die man zur Southern-Rock-Szene zählen darf. Und da wäre ich auch schon bei der Musik angelangt. Ich pumpe da gerne … In der anderen Richtung geht das allerdings auch. Etwa bei Uriah Heep – benannt nach einer Figur aus Charles Dickens Buch David Copperfield.
Da gibt es sicher noch viel mehr Beispiele, aber als Ausrede reicht mir schon das eine. Ätsch, die klauen ja auch … Ich liebe Musik! Warum also nicht zugreifen, wenn man von dort Angebote bekommt? Ich schreibe das natürlich wegen der Hauptfigur dieses Buches: Starless Bibleblack. Meine absolute Vorliebe für progressive Rockmusik (den sogenannten Prog-Rock) ist sicher nicht unbekannt. Natürlich liebe ich die Bands der 70er Jahre – Yes, Genesis, Gende Giant, ELP und wie sie alle hießen. Aber auch was danach folgte war so ganz mein Ding – Marillion oder IQ – heute natürlich Dream Theater, Transatlantic, Flower Kings – die Reihe kann man endlos verlängern. Meine Figur des etwas merkwürdig anmutenden Vampirs Starless, dessen zweiter Name Bibleblack ihm von den Menschen des Mittelalters verpasst wurde, hatte als eindeutige Geburtshelfer die Band King Crimson. Die gaben in den 70ern (auch noch später) ein denkwürdiges Album nach dem anderen heraus. Keine leichte Kost, das sei erwähnt, denn der Gitarrist der Band – Robert Fripp – liebte es, die herrlichsten Songs durch plötzliche Breaks absolut aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Lied Starless (and Bibleblack) stammt vom Album Red. Eine wunderbare Melodie, gespielt auf einer Gitarre, die wahnsinnig weich und anheimelnd klingt, eine großartige Stimme … das könnte ewig so weitergehen. Doch dann kommt das Gitarrensolo … äh … nennen wir es ruhig so. Experimentell war die Band schon immer, aber das ist krass. Im Grunde sind es nur ein paar Töne, die sich immer wiederholen … ist eben alles Geschmackssache. Den Titel empfand ich schon immer als absolut deprimierende Kombination, als Beschreibung der Trostlosigkeit schlechthin. Starless and Bibleblack – keine Sterne, alles schwärzer als die schwärzeste Bibel … Also ehrlich – für mich war das der Name einer Figur, die ein hartes Leben hinter sich hat. Einer Figur, die innerlich zerrissen ist (wer das Buch schon gelesen hat, der weiß jetzt, wie zerrissen …) und der im Grunde ständig der letzte Rest an Hoffnung aus den Fingern ge-
schlagen wird. Okay, unser Starless Bibleblack hat ein Ziel – und er weiß jetzt auch, durch wen er es erreichen kann, aber wer weiß, was für Wendungen ihm da noch so alle bevorstehen. Also freuen wir uns am Nachthimmel voller Sterne … und an bunten Farben, in denen die Bücher unserer Leben gebunden sind. Ach ja – und wer jetzt erst das Nachwort gelesen hat, bevor er sich an das Buch getraut hat – ja darf man das denn? Na, na, na …
Liebe Grüße Volker Krämer Juli 2010, Gelsenkirchen