KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANK STUART
BIENENVOLK D I E STAD...
21 downloads
437 Views
426KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR -UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANK STUART
BIENENVOLK D I E STADT IM ALTEN E I C H B A U M
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU- MÜNCHEN - I N N S B R U C K - BASEL
Stadt mit Klimaanlage ie Stadt im Innern des alten Eichbaums ist von über sechzigtausend geflügelten Einwohnern bevölkert. Bei Tag schimmert sie in einem durchscheinenden, goldenen Dämmerlicht. Das Licht fällt durch die kleine Öffnung, die als Haupttor der Bienenstadt dient, und auch durch einige messerschmale Ritzen im Holzgefüge des mächtigen Stammes. Generation um Generation haben die Bienen diese Ritzen mit einem durchsichtig harzigen, von Kiefern und Pflaumenbäumen entnommenen Kittharz verklebt. Das Klebewachs ist mit der Zeit sehr hart geworden und läßt das Licht schwach hereindringen wie durch mattes Glas. Wenn die Sonne sinkt, gehen ihre Strahlen waagerecht durch die schmalen Fensterscheiben hindurch und werden bei einer bestimmten Winkelstellung in alle sieben Regenbogenfarben zerlegt. Die zaubervolle Erscheinung tritt zumal nach einem Gewitterregen ein. Sie ist eines der vielen Wunder dieser betriebsamen und überaus interessanten Stadt in der Baumhöhlung. Die Straßen im Innern sind von herabhängenden Waben aus leuchtend gelbem Wachs gesäumt. Die Waben haben die Form eines Spatens und hängen in einem ganz bestimmten Abstand voneinander entfernt. Die Zwischenräume sind breit genug, daß die Bienen an den einander gegenüberliegenden Wabenflächen arbeiten können, ohne sich gegenseitig zu behindern. Und doch beträgt der Abstand meist nur drei Millimeter. Den arbeitenden Einwohnern aber genügt er. Höchst staunenswert bieten sich die kunstreich gebauten Goldscheiben der Waben dar. Auf der Vorder- und Rückseite jeder Wabe 2
sind, geometrisch ausgeklügelt, Tausende von sechseckigen Zellen angeordnet. Die Sechseckform der Wabenzellen hüllt den rundlichen Nachwuchs am bequemsten ein, und sie verlangt auch viel weniger Baumaterial als runde, dreieckige oder quadratische Zellen. Ihre Wände sind im neugebauten Zustand nur ein vierzigstel Millimeter dick; dennoch hängen zu gegebener Zeit in einer einzigen Wabe mehr als zehn Pfund köstlichen Honigs, und darüber hin krabbeln Tausende und aber Tausende emsiger Bienen. Die Immenstadt in unserem Eichbaum ist keine gewöhnliche Stadt. Wir Menschen können das Klima unserer Städte nicht beeinflussen, aber die Bienen regulieren aufs sorgsamste die Temperatur in ihrer Behausung und den Feuchtigkeitsgehalt und die Zufuhr frischer Luft, damit sie durch ihre golden schimmernden Straßen weht. Mitten im Stadttor stehen die Fächlerinnen, Reihe hinter Reihe, mit ihren Klauenfüßchen fest an den Boden geklammert. Die winzigen Flügel schwirren so geschwind hin und her, daß man sie gar nicht mehr als Flügel erkennt. So erzeugen sie einen Luftstrom, der die Wärme aus dem Nest nach außen trägt. Draußen in der großen Welt mag die Sonne sengen, daß das Gras auf der glühenden Erde verdorrt; ein unzeitiges Schneegestöber mag die Kalenderordnung über den Haufen werfen und das geschwärzte Laub von den Bäumen reißen — hier in der Stadt, im Stock, herrscht immer eine Temperatur wie an einem sehr warmen Sommertag, und die Luft ist immer frisch und würzig vom Honigduft zehntausender Blüten.
Die Straßenreinigung arbeitet Im Stadtinnern, in den Straßen und auf den Waben blitzt es vor Sauberkeit. Kein Schmutz oder Abfall ist hier zu finden. Im Hochsommer ist ein unablässiges Kommen und Gehen zahlloser winziger, rastloser Füße; die Arbeiten werden hier mit einem Fleiß und Eifer verrichtet, dem kein Menschentun gleichkommt; die geflügelten kleinen Geschöpfe befördern dabei ungeheure Lasten hinein und hinaus, vollbringen wahre Wundertaten. Bei der Hast des Schaffens bleibt es nicht aus, daß Pollen und Honig und Wasser verschüttet werden; Staub und Teilchen von Zellendeckelchen, Kittharz und Wachs werden verstreut, Fliegen werden getötet, es gibt mörderische Kämpfe mit Wespen auszufechten und die ausgerissenen 3
Flügel und Köpfe und Beine fliegen nur so herum — aber niemals bleibt eine Spur davon zurück; im Nu sind die Straßenreiniger zur Stelle, und nach wenigen Augenblicken ist alles wieder makellos sauber. Schutt und Müll werden irgendwo draußen in der Umgebung des Stockes abgelagert. Landauf und landab, in Bienenstöcken, Baumstämmen und Höhlen, in Wald und Busch, im Gefels der Hänge wie auch in Gärten liegen andere wächserne Städte und alle sind trotz der unterschiedlichen Bau- und Lebensart von gleicher Vollkommenheit. Jede von ihnen ist eine Welt für sich, und ihre Bewohner sind streitbar auf die Fortdauer des Volkes bedacht, das immer wieder von Todfeinden umlauert und von übermächtigen Naturkatastrophen bedroht ist. Heute wie vor unvordenklichen Zeiten spielen sich in diesen winzigen Gemeinwesen der Waldbiene, die der Mensch einst als Honiglieferanten hoch geschätzt hat und heute kaum noch beachtet, ebenso bewegte und grausam erscheinende Dramen ab wie in der Menschenwelt, nur daß der Mensch sie heraufbeschwört, während sie in den Bienenvölkern zu den erhaltenden Lebensgesetzen gehören.
Wie sie die Dinge sehen . .. In die Luft empor! Sechzehntausendmal in der Minute schwirren die winzigen Silberschwingen, als die Biene in den leuchtenden Frühlingshimmel hinaufschießt. Der Mensch hat sich mühsam die Luft erobern müssen, aber die Biene ist selber wie ein Teil der Luft. Die Luftbeutel in ihrer Brust füllen sich im Flug und tragen sie. Sie kann wie ein Hubschrauber selbst bei einer Geschwindigkeit von dreißig Stundenkilometern blitzschnell haltmachen, auf der Stelle schweben, rückwärts steuern, mit ungeheurer Beschleunigung steigen oder elf Kilometer weit ununterbrochen fliegen. Die geschaute Welt, durch die sie ihren pfadlosen Weg nimmt, ist völlig anders als die, die wir Menschen sehen; denn die Biene hat nicht, wie wir, zwei Augen, sondern fünf. Drei einfache Augen trägt sie an der Stirnseite des Kopfes, zwei Facettenaugen sitzen etwa dort, wo auch die Menschenaugen ihren Platz haben. Wie sie mit den vielteiligen Facettenaugen sieht, das hat man mit einiger 4
Während die Biene Blütensaft und Blütenstaub einheimst, hilft sie nebenbei noch mit, die von ihr besuchten Pflanzen zu befruchten.
5
Sicherheit feststellen können. Die Facetten wirken nicht wie Linsen, die das Geschaute kopfüber, verkehrt auf die Netzhaut übertragen, es sind tiefreichende Trichter — etwa sechstausend an Zahl — die nur auf dem tiefsten Grund für Seheindrücke empfindlich sind und deren jedes immer nur einen Teilausschnitt des Geschauten aufnehmen kann. Aus den sechstausend Bildausschnitten setzt sich dann wie ein Mosaik das Netzhautbild zusammen, und es ist ein aufrechtstehendes Bild, aber viel unscharfer und auf andere Formen eingerichtet als das Auge des Menschen. So ist die Schauwelt des Menschen und die der Bienen nicht miteinander zu vergleichen. Und auch in ihren Farben unterscheiden sich die beiden Welten. Bienen sind farbenblind für das leuchtende Rot, das sie nur als dunkle Tönung erfassen können. Aber sig sehen dafür andere Farben, für die das Menschenauge blind ist, Farben, die jenseits des Violetts liegen. Auch das Weiß vieler Blüten ist für die Bienen nicht immer weiß; wir wissen, daß Weiß ein Zusammenklang aus vielen Farben ist, und der Biene ist es gegeben, diese verborgenen Farben zum Teil zu erkennen. So wird das Weiß des Gänseblümchens, der Kirschblüte, der weißen Rose für sie zum blaustichigen Grün. Es geht über unsere Vorstellung, genau zu erkennen, wie sich etwa ein Wiesengrund an einem Frühlings- oder Sommertage den Bienen darbietet: die Farbe des Humusbodens, der Sandkörnchen, die Poren der jungen Blätter an den Hecken im Spiel des Sonnenlichtes, das Wellengeriffel im glitzernden Bach, der an der Wiese vorüberfließt. Lange Zeit hat man nach der Nase der Bienen gesucht und sie an den verschiedensten Körperstellen vermutet — bis man herausfand, daß sie viel weiter vorn liegt als die längste menschliche Nase; denn die Biene riecht mit ihren beiden Fühlern, die mit unzähligen feinstporigen „Nasenlöchern" durchsetzt sind und die man mit bloßen Augen gar nicht sehen kann. Zudem sind sie mit feinen Häutdien verschlossen, zum Schutz gegen das Austrocknen; aber diese Häutchen sind doch so porös, daß die feinen Duftstoffe hindurchdringen und der Geruchseindruck von dem verästelten Geruchsnerv im Innern des Fühlers aufgenommen und zum Gehirn weitergeleitet werden kann. Und da die Fühler auch dicht mit Tasthärchen besetzt sind, können Tastsinn und Geruchssinn in der Erfassung der Außenwelt immer wieder aufs engste zusammenwirken. 6
Ein Baum voller Bienenbrot Beseligt vom Glück ihrer Sendung, fliegt die Biene an einem Bach entlang in das Tal hinab. Tief zieht sie die appetitliche Lenzesluft ein — nicht durch Lungen, sondern durch Öffnungen an den Körperringen und durch Röhren, die von da ins Innere führen. Mitten hinein schwirrt sie in die Honigschatzkammer eines „Goldenen Baumes". Der Baum ist eine wildwachsende Weide. Nur einige der Kätzchen stehen zu dieser Jahreszeit schon in Blüte, aber diese wenigen Blütenähren sind mit Pollen*) so schwer beladen, daß jeder Windhauch ihn wie goldgelbes Mehl verstäubt und den Baum und die Umgebung mit Duft erfüllt — einem wunderbaren Duft, sehr schwach nur, aber anregend für den frühlingshungrigen Menschen, und für die Bienen wie der Odem des Lebens selber. Die Biene stürzt sich gierend und zielsicher auf die größten Kätzchen, und Tausende von Goldstäubchen fliegen auf. Die Erntezeit der Biene beginnt, sie macht sich ans Einsammeln und kratzt mit den Kiefern und Vorderbeinen herunter, was herunterzukratzen ist. An ihren Hinterbeinen hat sie Vertiefungen, „Körbchen", die durch einen Deckel aus Haaren geschützt und so angebracht sind, daß eine möglichst große Last darin verstaut werden kann, ohne während des Fluges das empfindliche Gleichgewicht der Biene zu stören. In die Körbchen kämmt und stopft sie die glänzenden Pollenkörnchen, die sie zu fassen bekommt, mit solcher Geschwindigkeit, daß ein menschliches Auge kaum folgen kann. Emsig fliegt sie von Kätzchen zu Kätzchen und hält sich nicht dabei auf, jedes einzelne ganz abzuernten. Hastig fährt sie hin und her, gleich einem Habenichts, der sich plötzlich in Ali Babas Höhle versetzt sieht, wo ihm von allen Seiten Haufen kostbarer Juwelen entgegenfunkeln. Noch im Flug bürstet sie sich mit den Haarborsten der Hinterbeine *) Pollen: Blütenstaub, die männlichen Keimzellen der Pflanze, meist staubkornähnlich; die äußere Schicht der Pollenkörner ist mit Warzen, Härchen, kammartigen Vorstülpungen, Leisten bedeckt, damit die Pollen leichter am Körper der pollensuchenden Bienen oder anderer Insekten haften bleiben. Oft sind die Pollen aus dem gleichen Grunde auch mit einer ölartigen, klebenden Masse überzogen. Die Klebrigkeit der Pollen verstärkt die Biene noch durch den Honig, den sie beim Blütenabsuchen mit sich führt. 7
den letzten Blütenstaub vom Leibe und birgt auch diesen Rest noch in ihr Vorratskörbchen. Sie ist die erste Biene, die den Baum in diesem Jahr besucht, die allererste, die diese unermeßliche Fülle neuen „Bienenbrots" entdeckt hat. Blütenstaub von Schneeglöckchen, Anemonen und anderen Frühblühern ist bereits in die Bienenstadt eingebracht worden, aber er war nur eine Vorprobe für die kommende Ernte gewesen. Jetzt ist die Ernte da — Pollen genug, das Leben Tausender noch Ungeborener zu sichern.
Der Erntetanz Mit den übervollen Körbchen an beiden Hinterbeinen schwirrt unsere Biene wieder durch die Lüfte zurück zum Eichenwald. Ihr rätselhafter Orientierungssinn befähigt sie, schnurstracks heimzufliegen, obgleich sie sich vorher kreuz und quer über fünfzig Wiesen getummelt hat. Mit einem letzten triumphierenden Schwung landet sie am Eingang zum Nest ihres Volkes. Im selben Augenblick kommen zwei dunkle streitbare Wachposten aus dem Loch geschossen und kreuzen ihre Fühler vor dem Ankömmling, wie Schildwachen ihre Schwerter kreuzen. Aber diese Biene ist kein Eindringling; sie hat den Gemeinschaftsgeruch aller Nestbewohner. Die Pollenträgerin eilt an den Wachen vorbei ins Innere des Baumes. Dort wäre es dunkel für uns, aber die wunderbaren Facettenaugen können in diesem Dämmer so gut sehen wie wir im Sonnenlicht. Sie hastet den holperigen Weg entlang, hüpft dann plötzlich auf eine der herabhängenden Waben und schickt sich mit zuckenden Bewegungen an, den Blütenstaub aus dem Körbchen an ihren Beinen auszuladen. Dann, ohne noch abzuwarten, bis sie sich ihrer Fracht völlig entledigt hat, beginnt sie einen goldumstäubten Freudentanz. Jetzt erscheint sie wie die Primaballerina, die Vortänzerin, des Frühlings, Vorbotin des auferstandenen Lebens. Ihr ungestümer Tanz und schwirrender Flügelschlag weht durch den ganzen Stock den erregenden Pollenduft. Die Arbeiterinnen blicken von ihrer Beschäftigung auf und stürmen dann zu der neuen Pollenzelle. 8
Und dann kommt das Seltsamste dieses rätselhaften Mysteriums. Einige der Trachtbienen lösen sich nach einiger Zeit von der Tänzerin, lassen sich zu Boden fallen und eilen zum Flugloch und in die Luft hinaus, geradewegs auf die Weide in dem fernen Tal zu. Woher wissen sie, daß die Tänzerin von dorther gekommen ist? Bienen können einander durch Laute nur ihre Gemütserregungen mitteilen. Ein Summen in einer gewissen Tonhöhe bedeutet Gefahr, ein tiefes Summen Futter und so fort; aber irgendwelche Einzelheiten können sie auf solche Weise nicht zum Ausdruck bringen.
Kurze Grammatik der Bienensprache H a t die Pollenbringerin, die noch immer erregt und aufsehenerregend an den Waben umhertanzt, ihnen erklärt, woher der Blütenstaub kommt? Oder sagt ihnen eine Art Gattungsgedächtnis, wo die ersten Bäume blühen? Der österreichische Bienenforscher, Professor Karl von Frisch, hat in jahrzehntelanger Forschungsarbeit herausgefunden und bewiesen, daß die Bienen miteinander „sprechen", nicht wie wir Menschen miteinander sprechen, sondern in einer getanzten Zeichensprache; die Bienen sind nämlich imstande, ihrer Umgebung mit ihren Tänzen genau Richtung, Entfernung und Blütenart der Trachtquelle bekanntzugeben. Der „Freudentanz", den die von einer guten Nektar- und Blütenstaubquelle Heimgekehrte vollführt, nachdem sie ihre Ernte abgeliefert hat, ist in Wirklichkeit ein solch „sprechender Tanz", bei dem das Tierchen nicht nur Düfte ausströmt, die auf die Blumenart in der entfernten Futterquelle hinweisen, sondern ihre Nestgefährtinnen auch über Entfernung und Richtung der Blütenstellen orientiert. Diese Angaben sind so genau und zuverlässig, daß man diese tänzerische Unterrichtung „Bienensprache" genannt hat. Ihre Grammatik ist nicht allzu schwer zu begreifen: Bienen, die von weither gekommen sind, legen bei ihrem „Tanz" einen Halbkreis zurück, laufen dann schwänzelnd in gerader Linie zum Ausgangspunkt der Tanzfigur zurück, tanzen anschließend einen zweiten Halbkreis, diesmal nach der anderen Seite, und setzen dieses 9
Spiel viele Male fort; haben sie das Futter aber aus einer weniger großen Entfernung herangebracht, so beschreiben sie trippelnd enge Vollkreise, einmal in dieser, dann in der entgegengesetzten Richtung. Das Formspiel ihrer Tänze verrät den Zuschauern also etwas über die Entfernung, in der das Futter zu suchen ist (vgl. Seite 13). Die Richtung der Tänze auf der Wabe aber gibt an, wie die Sonne gerade steht und in welchem Winkel zur Sonne die ergiebigen Blüten angeflogen werden müssen. Selbst wenn beim Rückflug von der Futterquelle wegen des bedeckten Himmels der Stand der Sonne nicht auszumachen gewesen ist, wissen die Heimgekehrten durch ihren Tanz doch genau zu „sagen", wo sie gerade steht. Was das menschliche Auge nicht mehr zu erkennen vermag, das erkennt noch das Bienenauge, da es durch den abdeckenden Wolkenvorhang zwar nicht das normale Licht der Sonne wahrnimmt, sondern ihre ultravioletten Strahlen, die für ihr Sehorgan auf der Wolkendecke das ultravioletthelle Bild der Sonne erkennen lassen. Nur wenn sehr starke Regenwolken sich vor die Sonne schieben, vermag auch die Biene nicht mehr zu sehen, wo das Tagesgestirn sich im Augenblick befindet. Dann ist es nichts mit der Sprachverständigung. In großer Aufregung haben sich inzwischen viele Tiere der Tänzerin angeschlossen, machen ihre Bewegungen nach; von Zeit zu Zeit löst sich eine Biene, die offenbar die Botschaft schon „begriffen" hat, aus der Prozession der Dahintrippelnden und fliegt durchs Flugloch hinaus ins Freie. Was sie vernommen hat, setzt sie nun fliegend in die Tat um, und schon bald hat sie, sich an der scheinenden oder verdeckten Sonne und ihrem Winkelstand orientierend, die Blüten erreicht, die so viel Futter versprechen. Wenn sie dann mit Nahrung beladen heimkehrt, beginnt auch sie den Orientierungstanz und wiederholt getreulich die Bewegungen der ersten frohen Botschafterin. Bald ist der große Bienenbrottanz in vollem Gange. Ganze Regimenter von Tänzerinnen schwingen und neigen sich, kreisen, schwänzeln und trippeln, und mit flirrenden Silberflügeln eilen immer mehr Futtersucher hinaus zum angegebenen Futterplatz. Der alte Eichbaum summt, als wären in seinem Inneren alle Feenspindeln am Werk. Es klingt wunderbar nach Erwartung und Erfüllung. Wer es einmal gehört hat, kann es nie vergessen. 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2006.12.23 11:37:35 +01'00'
Die Regenbogenbrücke Den ganzen Tag über sind die Schildwachen ungewöhnlich mürrisch und bärbeißig gewesen. Heimkehrende Arbeitsbienen") haben sie grob angepackt und unsanft durch das Flugloch in den Eichenbaum befördert. Diese üble Laune hat sich rasch der ganzen Stadt mitgeteilt. Aber was da umgeht, ist mehr als nur Gereiztheit wegen der Rauhbeinigkeit der Wachen. Es ist Angst — panische Angst. Das Summen in der Wachsstadt wird immer lauter. Arbeiterinnen kommen in Scharen herein, manche nur mit halber Fracht, manche mit gar keiner. Ihre Bewegungen sind zuckend, verstört, sinnlos. Sie stoßen mit den Köpfen gegen die Zellen. Einige tunken wie toll in offene Honigzellen und laden sich von dem süßen Stoff auf, soviel sie nur schleppen können, um bereit zu sein für den Fall, daß irgendein schreckliches Unheil die Stadt befällt und vernichtet. Die Fächlerinnen am Eingang verdoppeln ihre Anstrengungen, um die zusätzliche Hitze zu vertreiben, die von den verängstigten Leibern ausgesdiwitzt wird. Draußen wird die Luft immer schwüler und heißer und feuchter. Sie riecht, als sei sie sauer geworden. Und plötzlich kommen lange Silberlanzen von Regen von ferne hergeschossen, gefolgt von einem gewaltigen heißen Windstoß und Donnergrollen. Bei diesem Laut erstarrt die Unruhe der Bienen mit einem Schlage. Wo eben noch ihr schwärzliches Gewimmel über die Waben hinausgehastet ist, verharren sie jetzt regungslos geduckt. Während des ganzen Gewitters bleiben sie so, gleichsam als warteten sie auf die Erlaubnis, wieder atmen zu dürfen — bis dann *) Der Lebenslauf einer Arbeitsbiene: Nach der Eiablage durch die Königin schlüpft in der noch offenen Zelle nach 3 Tagen die Made, die in fünf bis sechs Tagen ausgewachsen ist; dann wird die Zelle von den Bienen mit Wachs verschlossen. In vier Tagen spinnt sich die Made zur Puppe ein, fünf Tage danach ist die Biene voll entwickelt und nagt nach weiteren drei Tagen den Wachsdeckel auf. — Am 1. bis 3. Lebenstag ruht sich die junge Arbeitsbiene auf den Waben aus; am 3. bis 5. Lebenstag füttert die Biene ältere Maden mit Honig und Pollen; am 6. bis 10. Lebenstag übernimmt sie die Fütterung junger Maden mit Futtersaft; am 10. bis 20. Lebenstag ist sie zur Reinigung der Bienenstadt und zum Wächterdienst am Flugloch abkommandiert; nach dem 20. Lebenstag übernimmt sie draußen das Sammeln von Nektar (Honig) und Pollen. Arbeitsbienen werden etwa 35 Tage alt, in der Winterruhe überleben sie Monate.
11
endlich die Donner fernab verrollen und der Regen mit ein paar letzten großen Tropfen endet. Ein Fleck Sonnenschein breitet sich wie ein goldenes Tuch am Fuße des Eichbaumes hin; dann, lautlos, wirft ein Regenbogen seinen siebenfarbigen Schleier von Himmelsrand zu Himmelsrand. Wie unwiderstehlich angezogen, strömen die Bienen zu ihrem Stadttor und ergießen sich gleich schimmerndem Sirup auf die Holzfläche am Eingang. Das erstaunlichste ist, daß sie keinen Laut von sich geben. Nicht ein einziges Summen läßt sich vernehmen. Nicht ein Flügel regt sich. So stehen sie dicht beisammen und starren auf die riesige Farbenbrücke. Nach und nach erlöscht die Erscheinung. Flecke leuchtenden Blaus erscheinen im aufbrechenden schiefergrauen Gewölk, und die Bienen strömen durch das Tor in die Stadt zurück. Drinnen hebt das Surren emsiger Arbeit wieder an, aber diesmal bleibt es gedämpfter, und als die langen Abendschatten fallen, sinkt es zu einem ganz schwachen Gesumme herab. H a t die Glorie des Regenbogens den Bienen etwas angetan? Macht ihnen ihr Farbsinn, der so ganz anders ist als der unsrige, den Anblick fast unerträglich, so daß es ist, als hätten staubgeborene Wesen zu einem Wunderwerk unsterblicher Götter aufgeschaut?
Wachsmacherinnen Unweit der Mitte des alten Eichenstammes hängt eine Traube junger Bienen in einem eben freigemachten Raum von der Größe etwa einer Menschenhand. Diese Bienen haben noch vor kurzem die älteren Maden mit Honig und Blütenstaub und die jungen mit Futtersaft gefüttert, haben also als Kindermädchen gedient; jetzt kommt ihre Geringschätzung für solch niedere Verrichtungen in dem tieferen Summen zum Ausdruck, das sie von sich geben, und in der Würde von Abgesondertheit, die sie umgibt und die von Ammen, Schildwachen, ja sogar von Ihrer Majestät der Königin selber streng respektiert wird. Denn diese jungen Geschöpfe sind zum erstenmal in ihrem Leben unter Aufbietung ihrer äußersten Kräfte in der Erfüllung einer großen Aufgabe begriffen, einer Aufgabe, so anstrengend und so lebenswichtig, daß selbst die Königinnenwürde davor zurücktreten 12
Wie die Bienen durch Tanzfiguren auf der senkrecht hängenden Wabe ihre Nestgefährtinnen über die Lage der Futterstelle und ihre Richtung im Winkelverhältnis zur Sonne verständigen. Es bedeuten B = Bienenstock, F = Futterplatz, S = Sonne, T = Tanzfigur. muß. Es sind die Wachsmacherinnen — junge Arbeitsbienen, die allein die Fähigkeit haben, das goldene Wachs hervorzubringen, ohne das es keine Stadt gäbe. Zur Vorbereitung auf diese höchste Bewährungsprobe, bei der so manche von ihnen sterbend zu Boden taumeln wird, haben sie sich an den erlesensten Honigsorten gemästet; denn um ein einziges Pfund Wachs hervorzubringen, müssen sie zuvor fünf bis zehn, ja dreizehn Pfund Honig zu sich nehmen. Stunde um Stunde pressen sie sich in dem gleichen krampfhaften Bemühen immer enger und enger aneinander, bis die Temperatur 13
der Traube weit über die der übrigen Stadt steigt. Allmählich beginnen bei jeder der Wachsmacherinnen die winzigen Bauchschuppen, welche die hochempfindlichen, wachsabsondernden Drüsen beschützen, sich kaum merklich rhythmisch auf und ab zu bewegen. Und dann endlich, mit einem sichtbaren Beben, das die ganze Traube durchläuft, scheiden die dicht Vereinten winzige Blättchen aus, durchsichtig wie Topas und so dünn und leicht, daß hundert davon weniger wiegen als ein einziges Weizenkorn. Alsbald gehen die kleinen Baumeister daran, mit dem goldgelben Stoff, den sie selbst erzeugt haben, eine neue Wachswabe, eine neue Zellensiedlung zu formen: zuerst die senkrechte Mittelrippe, dann von dieser aus nach jeder Seite hin die Zellenwände, leicht nach innen geneigt, so daß der Honig, den sie aufnehmen sollen, nicht überfließen kann. Jede dieser sechsseitigen Zellen, deren dreiundvierzig auf je zehn Quadratzentimeter kommen, ist ein vollendetes Wunderwerk an Kunstfertigkeit und Präzision, geglättet und poliert wie gelber Marmor.
Die Speise der Königin Einige der Wachsmacherinnen tragen ihre Gabe in einen anderen Teil der Stadt, der am weitesten von allen Gefahren entfernt und am wärmsten und gegen jeden eindringenden kalten Luftzug geschützt ist. Hier ist eine Gruppe von Meisterarchitekten am Werk, neue Königinnenzellen zu bauen, die wie zugespitzte goldene Fingerhüte von der Wabe herabhängen, alle einander gleich, die gewölbten, ungestützten Wände glatt wie Seide. An den Außenseiten sind geheimnisvolle Linien eingeritzt, gleich schwarzen Schriftzeichen an den Goldwänden einer Moschee. In das glänzende Innere dieser zwei Zentimeter hohen Tempelchen wird die Königin, das einzige eierlegende Weibchen im Bau, ein Ei legen, das sich in nichts von den bereits in tausend kleinen Arbeiterinnenzellen eingeschlossenen unterscheidet. Nähme man aber dieses Ei heraus und täte es in eine Arbeitsbienenzelle, so würde nach zweiundzwanzig Tagen ein unfruchtbares Weibchen auskriechen. Hier aber, im Schutze der hohen Wände und des Runenzaubers der Königinzelle, genügen sechzehn Tage, um eine ge14
schlechtsreife und, nach Bienen-Zeitbegriffen, nahezu unsterbliche Muttergöttin hervorzubringen, deren zarter Leib befähigt ist, täglich etwa zwölfhundert Eier zu legen, und das zwei bis drei Jahre lang. Bevor der Tempel verschlossen wird, wird er mit der wundersamsten von all der wundersamen Nahrung der Bienenwelt versorgt. Diese gallertartige Königsspeise trotzt allen Versuchen, sie nachzuahmen. Niemand weiß, wie sie zubereitet wird. An die neue Insassin dieser Zelle oder an irgendeine gewöhnliche, nicht über drei Tage alte Arbeiterinnenlarve verfüttert, verwandelt dieser zauberkräftige Nährstoff das kleine Neutrum in eine Königin, aber nur, wenn es in eine richtige Königinnenzelle mit den geheimnisvollen Zeichen an den Wänden gebracht wird. Man nimmt heute an, daß dabei Hormone mit im Spiele sind.
Die alte Königin wandert aus Endlich ist für die alte Königin die Zeit gekommen, den Bann zu brechen, der sie Generation um Generation hier in dieser Stadt festgehalten hat. Die Stadt ist überfüllt. In der goldenen Dämmerung jedes der versiegelten Tempelchen hat sich nun das Werdewunder vollzogen: binnen weniger Stunden würde eine andere Königin da sein. Die Hälfte des Volkes muß mit ihr, der alten, auswandern und eine neue Stadt gründen. Als sie langsam zum letztenmal durch die Straßen der Bienenstadt geht und ihre Flügel, die jahrelang geruht haben, entfaltet, springen die Wachsmacherinnen plötzlich von ihren Arbeitsstätten auf, um dem Schwärm voraus durchs Stadttor zu fliegen. Keine einzige Wachsbiene bleibt zurück. Ererbtes Wissen weist ihnen den Weg. Bevor irgendein anderer Schritt in der neuen Stadt unternommen werden kann, müssen sie den Grundriß für die Wände, Häuser, Wiegen und Nahrungsspeicher entwerfen und bezeichnen. Sie müssen schaffen wie noch nie, um sechs bis acht vollständig neue Waben in einer einzigen Woche fertigzustellen. Eine halbe Stunde, nachdem der Schwärm die Stadt verlassen hat, ist von dem Auszug nichts mehr zu spüren als ein gewisses Bewußtsein der zurückgebliebenen Einwohner, daß die alte Königin fort ist. 15
In derselben Nacht regt sich etwas in dem ältesten Tempelchen der Stadt, und plötzlich erklingt über dem stetigen Summen der Nachtfächler ein neuer Ton, hell und dringlich, wie von einem Feenhorn. Sogleich verstummt jeder andere Laut, und die Bienen verharren in regloser Erwartung im milchigen Glimmen des Mondlichts. Dann hebt sich langsam, vollkommen kreisrund ausgeschnitten, die Siegel zerbrechend, der Deckel, der den goldenen Tempel verschlosr sen hat, und alsbald taucht eine glänzende Göttin hervor, voll ausgewachsen und makellos, die schimmernden Flügel über dem Rükken gefaltet. Nach einer kleinen Weile verschwindet sie zwischen den Waben und taucht ihren Kopf in eine Honigzelle, wie um sich zu stärken für die Tat, die sie vorhat. Dann, keine zehn Minuten nach ihrem Erscheinen, eilt sie plötzlich eine der goldenen Straßen entlang, und abermals dieses helle, herausfordernde Summen von sich gebend, hält sie vor dem nächsten königlichen Tempel inne, schneidet erbarmungslos das Siegel weg, langt hinein und reißt ihrer Schwester lebendigen Leibes den Kopf ab. Bei jedem Tempel der Reihe nach wiederholt sich das gleiche, denn sie, die Erstgeborene, hat nun den alleinigen Anspruch auf die Königswürde, und keine andere Prinzessin, die ihr die Herrschaft streitig machen könnte, darf am Leben bleiben. Sobald sie einen Tempel erbrochen und ihren grausigen Königsmord vollbracht hat, eilen die Arbeiterinnen herbei, um das Werk zu vollenden: sie schneiden die glänzenden Wände ab, werfen die Stücke weg, entfernen die Leiche und ebnen den Tempelboden ein. Ehe der Morgen graut, ist von dem Geschehen keine andere Spur mehr zu sehen als sechs kaum wahrnehmbare Narben.
Die Hochzeitsreise Der Tag vergeht, die Nacht vergeht, und wieder ein Tag und eine Nacht. Stunde um Stunde wandert die neue Herrscherin schlaflos in der Stadt umher und nimmt sie bis an die fernsten Grenzen in Augenschein; aber die Scharen in den Straßen halten, als warteten sie auf ein großes Ereignis, mit ihrer Huldigung noch zurück; bei ihrem Nahen weichen alle zurück, um ihr den Weg freizugeben, aber niemand bietet ihr Nahrung an. Endlich wendet sie sich mit 16
Erntegier — aber nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Wohlergehen der anderen Bienenstockbewohner.
17
einem Ungestüm, an dem alle erkennen, daß ihre Stunde gekommen ist, dem Stadttor zu, und dann, mit einem jähen Schwung, der ihre Luftröhren füllt, fliegt sie wie ein Lichtstrahl in den Sonnenschein hinaus. In einem großen Bogen segelt sie über die vor Staunen erstarrten Drohnen hinweg, die sich vor dem Tor aufgestellt haben. Die Flügel an den Schultern der Drohnen heben sich, und als die Königin im nächsten Augenblick steil nach oben entweicht, hasten die Drohnen wild hinter ihr her. Immer schneller und schneller geht es, fünfzehnhundert Meter hoch über die Erde; die Geschwindigkeit läßt nicht nach, und einem der Verfolger nach dem andern bricht das Herz, sie überschlagen sich und taumeln zu Boden. Ihrer hundert sind ausgezogen; jetzt sind es noch zehn, fünf . . . einer — der einzige, dem es vergönnt ist, die Königin zu befruchten und das Leben des Volkes fortzupflanzen, obschon er sein eigenes Leben dabei opfern muß. Nach dem Hochzeitsflug schwebt die Königin auf den Landeplatz vor dem Stadttor nieder. Und jetzt zum erstenmal stehen die Schildwachen stramm und erheben die Fühler zum Salut vor der Königin. Auf dieses Zeichen bricht in der ganzen Stadt ein gewaltiger Jubel aus, wie ein Gesang. Alle Arbeit bleibt liegen, und alles, was sich nur regen kann, braust und tanzt durch die Straßen, gleich lärmenden Menschenmassen an einem Festtage. Die Arbeiterinnen und Wärterinnen in der Nähe des Tores strömen plötzlich hinaus, umringen ihre neue Herrscherin, heben sie unendlich behutsam auf die Schultern und tragen sie im Triumph in die Stadt. Von nun an ist sie Herrin über die Zukunft. Durch die Bewegung eines Muskels kann sie mehr als eine Million Arbeiterinnen hervorbringen, nach Belieben Drohnen das Leben geben oder, wenn sie will, Hunderte und Hunderte von Königinnen gleich ihr selbst.
Ameisen ernten, wo sie nicht gesät Der Klee steht in diesem Jahre reich in Blüte und breitet sich weiß wie Manna über den Hügelhang. In den ungemähten Wiesen wächst er hochstengelig zwischen den dichten Gräsern; hinter der surrenden Mähmaschine springt er in der Nacht von neuem auf und besternt den Boden wie mit sonnenbeschienenem Schnee. Dies ist der rechte Hochsommer, die Zeit der Erfüllung für die 18
Bienen. Eine jede, die von der Stadt ausfliegt, um eine Tracht Nektar*) zu sammeln, besucht über hundert Kleeblüten, ehe sie heimkehrt. Jede Tracht kommt ungefähr dem dritten Teil eines Tropfens gleich. Davon sind jedoch fünfzig bis achtzig Prozent Wasser, denn das Gewicht des Nektars beträgt das Vierfache des sich daraus ergebenden Honigs. Dabei muß die Stadt von April bis September viereinhalb Zentner Honig sammeln, das ist das Mindestmaß, wenn das Fortleben des Volkes gesichert sein soll — viereinhalb Zentner Honig, bei einer Einzeltracht von jeweils einem Drittel Nektartropfen — jeder Tropfen der Ertrag aus den Honiggefäßen von dreihundert Blüten. Manchmal fallen die Bienen, die mit allzu schwerer Last von den Kleefeldern zurückkehren, einem seltsamen Mißgeschick zum Opfer, wenn ein mutwilliger Hauch duftenden Sommerwinds die auf den Eichbaum Zufliegenden ins Taumeln bringt. Manche erreichen noch das Tor, aber andere sinken völlig ermattet am Fuß des Baumes zu Boden. Dort warten oft Ameisen auf sie. Vor jeder Biene postiert sich eine grimmige Ameise und starrt ihr erbarmungslos in die Augen. Die Biene verharrt regungslos. Nicht lange, so beginnt eine Zauberkraft in dem stieren schwarzen Blick der winzigen Ameisenaugen auf das Bewußtsein der Biene einzuwirken. Unfähig, einen Flügel oder Fuß zu regen, öffnet sie langsam den Mund, und wie von unsichtbaren Silberfäden gezogen kommt ihre lange schwarze Zunge hervor, entrollt sich und streckt sich vor — und siehe da: An ihrer Spitze glänzt ein aus dem Vorrat im Honigsack entnommenes Tröpfchen, aus dem Vorrat, der für das Bienenvorratslager bestimmt gewesen ist. Die Ameise kommt näher. Die hypnotisierte Biene steht starr mit vorgestreckter Zunge. Die Ameise streckt die ihrige heraus und nimmt so viel Honig, wie sie tragen kann, von der Zunge der Biene, macht dann kehrt und eilt davon. Ganz allmählich scheint die Biene wie aus einem tiefen Traum zu *) Nektar: zuckerhaltiger Pflanzensaft, der aus Drüsenflächen oder Drüsenhaaren, die sich meist innerhalb der Blüten befinden, herausgeleckt wird. Die Biene saugt ihn in ihren Honigmagen, dadurch wird der Zucker chemisch gespalten und in Honig verwandelt. Er dient der Biene zur eigenen Ernährung, der größte Teil aber wird im Nest ausgebrochen und in den Vorratszellen als Nahrung für den Winter gespeichert. 19
erwachen. Sie zieht ihre Zunge ein, zögert einen Augenblick, fliegt dann auf und eilt beschämt in die Stadt, um den Rest ihrer Tracht abzuladen. Den ganzen Tag lauern die Ameisen unter dem Baum, und so machen sie es jeden Sommer, überall, wo Bienen hausen, winzige Schmarotzer der Insektenwelt, die ernten, wo sie nicht gesät, und einheimsen, wo sie nicht gesammelt haben.
Todesschwärme Eine fremde schwarze Biene glitzert im Sonnenschein draußen vor der Eiche und wird von den Wachtposten angegriffen. Sie wendet sich zur Flucht, aber im nächsten Augenblick wird sie in der Luft gepackt, und Kopf und Flügel werden ihr vom Leibe gerissen. Eifrig tragen die Wachtposten die einzelnen Teile auf den Landeplatz vor dem Stadttor. Dort wird der zerstückelte schwarze Leichnam offen niedergelegt als Warnung für etwaige Räuber. Später wird ein weiterer schwarzer Späher von einem einzelnen Wachtposten, der am Abend noch einmal die Runde macht, hoch oben auf dem Eichstamm erwischt. Am folgenden Tag erscheint eine gegnerische Patrouille von drei glänzenden, streitbaren alten Bienen, offenbar ausgesuchten Kriegern. Flügelspitze an Flügelspitze fliegend, schlagen sie den Angriff eines einzelnen Wachtposten leicht und geringschätzig ab. Dann dringen sie durch das Tor ein und verschwinden zwischen den dichtbevölkerten Waben. Mit der Geschicklichkeit erfahrener Raufbolde drängen die Räuber sich durch eine Schar verstörter junger Bienen, füllen eilig ihre Honigsäcke und stürmen dann, vollbeladen mit gestohlener Süßigkeit, die Wabe hinab dem Ausgang zu. Eine Wärterin entdeckt sie und nimmt die Verfolgung auf, und im Nu stürzen einige hundert Bienen ins Getümmel, um ihr Hilfe zu bringen; aber es ist zu spät: Einer der Räuber, der einer Schar fliegender Angreifer geschickt entweichen konnte, entkommt und surrt durch den Wald auf und davon. Die ganze Stadt ist in hellem Aufruhr. Alle Arbeit mit Ausnahme des lebenswichtigen Fütterungsdienstes ist eingestellt. Eilig beginnen sich Kampfgruppen im Torweg zu formieren. Denn wo ein Späher eindringt und entkommt, folgt unweigerlich die Invasion. Der erfolgreiche Räuber ist eine halbe Meile das Tal entlang ge20
Eine unter sechzigtausend Angehörigen des Bienenstaates.
21
flogen, bis zu einem Bienenkorb aus geflochtenem Stroh, der die Heimstadt der Schwarzen ist. Diese Schwarzen sind von ältesten Schlag, kühne und furchtbare Streiter. Sie wittern die gestohlene Süßigkeit und schwenken in die Flugbahn des Anführers ein, zuerst nur wenige, dann immer mehr, und in einem wilden Kriegstanz schwingen sie alle ihre Hinterleiber und schwirren mit den Flügeln. Innerhalb von fünf Minuten fliegen dreißigtausend Räuber in geschlossener Formation auf ihrer dunklen Bahn dahin wie eine Luftflotte als Vorspiel zur Kriegserklärung. Doch ehe sie die goldene Stadt heimsuchen, stürzen sie sich plötzlich in einem Übungsangriff auf einen neuerrichteten kleinen Bienenstock in einem nahegelegenen Garten. Sie erdrücken die Wachtposten durch Übermacht und erzwingen sich den Weg nach innen. Es ist kein Kampf, nur ein rohes, sinnloses Abschlachten. Die überrumpelten und entmutigten Verteidiger, auf deren einen fünf Angreifer kommen, geben den Kampf auf, kaum daß er begonnen hat. Dann geschieht etwas Seltsames. Wie auf ein Zeichen hin brechen die Sieger das blutgierige Gemetzel ab, strecken statt dessen ihre Zungen heraus und belecken die zurückschreckenden gelbgestreiften Körper der überlebenden Besiegten. Ganz stolz und eifrig gesellen sich die Bewohner des Stockes den Eindringlingen zu; und wie zur Besiegelung ihres Treuebruchs stecken auch sie ihre Köpfe in die eigenen Honigzellen und rauben ihren eigenen Heimatstock aus.
Gold gegen Schwarz Nach wenigen Minuten sind die Schwarzen wieder in der Luft, verstärkt durch Tausende aus dem vergewaltigten Bienenstock, die hinter ihnen herjagen. Viele in dieser verbündeten Horde sind schon bis oben hin mit gestohlenem Honig angefüllt; doch wenn Bienen einmal mit Kampf und Mord begonnen haben, können sie nicht mehr aufhören. Dieses Mal aber werden sie nicht auf eine Armee von Feiglingen und Schwächlingen treffen. Während die Wachtposten der goldenen Stadt ruhig vor den versammelten Regimentern auf und ab marschieren, stürzen sich die Angreifer wie ein dunkler Hagelschauer nicht allein auf den Haupteingang, sondern auch auf jeden Spalt und jede Ritze, die viel22
leicht in die Stadt führen könnte; im ersten trunkenen Ansturm erobern sie das Eingangstor, quellen unter ungeheuren Verlusten hindurch und in die Stadt hinein. Erbarmungslos treiben sie an den Waben entlang alles Lebendige vor sich her. Bald ist der Boden zentimeterhoch mit Toten und Verwundeten bedeckt. Aber bei alledem gelingt es ihnen nicht, die letzten Verteidiger zu überrennen. Vielleicht rächt sich nun ihre Völlerei an ihnen. Die Honigsäcke der Eindringlinge sind allzu voll, die Gier, die sie getrieben hat, ist gleichzeitig ihr Verderben. Sie werden müde. Unerschüttert schieben die Verteidiger neue Truppen nach vorn. Die Linie der schwarzen Kämpfer wird bereits an einigen Stellen eingedrückt, dann durch unglaubliche Tapferkeit und Wildheit zum Rückzug gezwungen — und schließlich in tausend Fetzen zerrissen. Goldene Scharen dringen durch die Breschen vor. Aber nun entsteht in einem anderen Stadtteil Unruhe. Eine Reservearmee der Schwarzen hat sich durch die durchsichtige Harzschicht, durch die bei Sonnenuntergang immer die Regenbogenfarben in die Stadt einfallen, hindurchgehackt und hindurchgebissen und drängt im Rücken der Verteidiger in wilder Wut herein, um zu der Königin zu gelangen. Die kleine Leibwache schließt einen festen Ring um sie; aber es hätte dessen gar nicht mehr bedurft. Von dem Augenblick an, als die ersten Schwarzen sich einen Weg ins Innere erkämpft haben, hat eine alte Wächterin, kahl und häßlich anzusehen, mit einer Schar ausgesuchter Krieger im Hinterhalt gelegen und auf diese Gelegenheit gewartet. Im Handumdrehen wird der Sturmtrupp der Eindringlinge überwältigt, und nicht einer von ihnen entkommt. In vereinzelte Gruppen und Grüppchen zersplittert, werden die Schwarzen nun überall niedergemacht und ihre Linien von schrill summenden Rachekolonnen zerschlagen. Nichts kann die steigende Flut gelber Wildheit eindämmen. Die Agressoren werden hinaus auf den Landeplatz zurückgeworfen und von ihm hinuntergetrieben. Am ganzen Baumstamm auf und ab und im Gras darunter tobt die Schlacht fort, bis schließlich die dunkle Horde ausgetilgt ist, als wäre sie nie gewesen. 23
Kein einziger Gegner entkommt. Das gesamte Volk aus dem Bienenkorb des Gartens ist vernichtet, und was von dem schwarzen Volk vielleicht noch lebt, wird in kurzer Zeit aussterben, da sie sich nur in geordneter Gemeinschaft am Leben erhalten können. Aber auch die Verteidiger haben schwere Verluste erlitten; von den fünfzigtausend Bienen, die in dem etwa zwei Stunden dauernden Kampf umgekommen sind, hat fast die Hälfte zur goldenen Stadt gehört.
Verkalkte Brut Bald nach dem Überfall verdoppelt die Königin ihre Bemühungen und legt täglich Hunderte von Eiern, weil es dringend not tut, die Bevölkerung vor Einbruch des kalten Wetters zu vermehren; die Wächterinnen sind unablässig damit beschäftigt, jeder einzelnen der aus den Eiern geschlüpften Larven etwa dreizehnhundert Mahlzeiten am Tage zu verabreichen, ungefähr eine in jeder Minute der vierundzwanzig Stunden. Um diese Zeit blüht das Heidekraut und verhaucht einen bittersüßen Duft, der die Bienen zu Tausenden anzieht. Alsbald wird zur Ergänzung der Hochsommerernte prächtiger bernsteinfarbiger Heidehonig in die Waben gebracht, viel mehr als die Siedlung voraussichtlich für den Winter braucht, und die Wachsmacherinnen sind unablässig am Werk, jede Zelle mit einem Wachsdeckel zu versiegeln. Zuvor haben die Fächlerinnen alles überschüssige Wasser aus dem Honig zum Verdunsten gebracht, so daß er sich nun im Notfall jahrelang halten kann. Aber während noch Tag für Tag die schöne Herbstsonne leuchtet und alles in bester Ordnung zu sein scheint, wird die Bienenstadt in dem alten Eichbaum plötzlich von einem rätselhaften Unheil befallen. Die ersten, die etwas davon gewahr werden, sind die Warterinnen. Während sie sich an den Brutzellen hin- und herbewegen, werden sie plötzlich durch ein Summen veranlaßt innezuhalten. Das Summen kommt von einer der Ihren, die fieberhaft damit beschäftigt ist, eine junge Larve zu belecken, deren sonst perlweißer, wohlgestalteter Körper bereits zu einem Kalkklümpehen erstarrt ist. Bald melden andere Wärterinnen ähnliche Befunde. 24
Dies ist keine natürliche Todesart. Es kommt wohl dann und wann vor, daß eine Larve in dem emsigen Getriebe der Stadt versehentlich verletzt wird und stirbt, oder, seltener noch, daß eine Larve an ungeeigneter Nahrung zugrunde ging. Aber diese rasche Verkalkung der Leichen läßt etwas viel Schrecklicheres ahnen.Die Bienen geraten in eine Panik, wenn Brut stirbt. Jeder Erkrankung ausgewachsener Bienen treten sie unverzagt entgegen. Aber Todesfälle unter den Larven treffen ins Herz des Gemeinwesens und verringern den Arbeitseifer und die leidenschaftliche Selbstlosigkeit der Abwehr; denn wenn die Brut ausstirbt, ist das Fortleben des ganzen Volkes nur noch eine Frage von Wochen oder bestenfalls Monaten. In den nächsten Stunden sterben vierzig bis sechzig Larven. Einige werden aus ihren Wiegen herausgeschnitten und aus der Stadt herausgetragen. Bald jedoch läßt der Eifer der Wärterinnen nach. Angst lähmt sie. Die dicken weißen Klümpchen werden in ihren Sterbezellen liegengelassen, unter Mißachtung des obersten Gesetzes des Bienenlebens, daß die Sorge für peinlichste Sauberkeit allen anderen Verpflichtungen vorgehen muß.
Medizin aus dem Walde Schließlich begibt sich eine Wärterinnendeputation zur Königin. Wie auf Verabredung verneigen sie sich vor der Herrscherin und scheinen ihr etwas zuzumurmeln. Dann fordern sie in ihrer „Sprache" die Nestkolleginnen auf, ihnen zu folgen, und begeben sich zum Stadttor hinaus. Draußen erheben sie sich wie auf geheimes Kommando und stieben in einer geschlossenen Wolke, Flügel an Flügel, davon und ins tiefste Innere des Eichwaldes, wo das Unterholz am dichtesten und die Bäume am knorrigsten stehen. Plötzlich drehen sie sich wirbelnd in einem großen Kreis herum, ähnlich einem Strudel dunklen Quellwassers, und ergießen sich auf einen mattblauen Fleck unter einem Ring von Eichen. Sie machen sich über ein wild wucherndes Beet von Teufelsskabiosen her, das sind Kräuter mit langgestielten, bläulichen Köpfchen, deren jedes aus Hunderten winziger Blüten besteht. Fieberhaft drängen und tummeln sich die Bienen über den Blüten und sammeln den blassen beizenden Nektar. Nun eilen sie 25
blitzschnell zur Eiche zurück und tragen ihre Tracht schnurstracks zu der Wabe, an der die Königin sich gerade zu schaffen macht. Dienerinnen der Königin kommen herbei, nehmen den scharfen Saft zaghaft auf ihre Zunge und bieten ihn der Gebieterin an. Einen Augenblick zögert sie sichtlich. Endlich scheint der Geruch des Saftes alle Bedenken zu übertäuben. Sie, die sonst nur zart und manierlich nippt, fällt mit der Gier einer Rauschgiftsüchtigen darüber her, und nicht eher lassen die Mägde ab — oder dürfen sie ablassen, da die Königin immer wieder mit trunkener Beharrlichkeit die Zunge gierig ausstreckt —, als bis sie ganz vollgepfropft und schläfrig ist. Die Königin duckt sich träge nieder. Nur ihre großen Augen glimmen noch wie in einem fiebrigen Wachtraum, der ihr vielleicht eine Reihe phantastischer Bilder vorgaukelt. Nach einer Stunde etwa erhebt sie sich wieder, und sogleich versuchen die Wärterinnen, sie aufs neue zu füttern. Aber diesmal wendet sie sich mit schauderndem Ekel von dem Skabiosenhonig ab. Sie kriecht quer über die Wabe hin, mitten durch die Stadt bis zum äußersten Rande der Brutzellen, und beginnt hier ihre Eier zu legen wie zuvor. Im Laufe der nächsten Tage sterben noch zwei- bis dreihundert Larven und verwandeln sich in Kalk; dann mit einemmal hören diese Todesfälle auf. Die Königin hat sich durch die bittere Honigmedizin kuriert. Sie selber weiß nicht, wie das vor sich gegangen ist; aber von nun an bringen die Eier, die sie legt, wieder normale, gesunde, perlfarbene Larven hervor wie eh und je. Der Skabiosensaft hat wie Medizin gewirkt.
Die Stadt wird müde Der erste Rauhreif glitzert auf dem herbstlich welken Laub, das den Waldboden in dichten Lagen bedeckt. Auf den lässigen Spazierflügen, die sie in der wärmenden Mittagsluft unternehmen, könnten die Bienen, wenn ihnen diese Einsicht gegeben wäre, wahrnehmen, daß sich allerlei anderes Getier sorglich darauf vorbereitet, wie es den Winter am sichersten überstehen kann. Den Fledermäusen ist die Insektennahrung zu kümmerlich und armselig geworden und sie verziehen sich deshalb in die Baum26
löcher und hängen sich dort behäbig zum Winterschlaf auf. Mit gravitätischer Würde gehen die gelb-, rot- oder schwarzbraunen Grasfrösche daran, sich im Schlammgewässer einzurichten, um dort mit hundert anderen ihresgleichen die kalte Jahreszeit zu verbringen. Die Molche suchen sich kalte, feuchte Steine, unter denea sie den Winter zu verschlafen gedenken, und die Spinnen weben sich in warme selbstgesponnene seidene Decken ein. Während so der Herbst zu Ende geht, begnügen sich die Waldbienen mit immer selteneren Ausflügen ins Freie und an die frische Luft. Schläfrigkeit befällt die Stadt. Der Lärm der Betriebsamkeit ist zu einem schwachen, selbstzufriedenen Summen herabgesunken, das höchst behaglich und beruhigend klingt. Keinerlei lebhaftes Treiben herrscht mehr in den goldenen Straßen; alle Bienen, welche die dicht beieinander hängenden Waben im Zentrum der Stadt verlassen haben, bewegen sich nur teilnahmslos fort. Wenn sie durchs Tor hinausgehen, stehen sie lange Zeit dösig im Sonnenschein, bevor sie mit schlaftrunkenem Entschluß, die Flügel so wenig wie nur möglich zu regen, davonfliegen. Dann endlich kommt ein Morgen, an dem die Herbstsonne von Wolken bedeckt und nicht mehr zu sehen ist. Die Welt ist kalt, der Himmel grau, die Farben des bereiften Laubes sind erloschen. An diesem Tag fliegt keine Biene aus.
Zwei ungebetene, späte Gäste Im Laufe des Nachmittags naht sich ein neues und sonderbares fremdes Wesen dem Nest, um in aller Stille eine günstige Gelegenheit zu erkunden. Auf winzigen Füßen daherschwänzelnd, wagt sich ein Mäuserich durch das Gras bis an den Fuß des Eichbaumes vor und spioniert aus gescheiten, glänzenden Äugelchen hinauf. Geraume Zeit bleibt er regungslos auf der Stelle und schnuppert mit leicht gerunzelter Nase in die Luft, um festzustellen, wie groß die Gefahr ist. Dann huscht er schnell und lautlos am Eichstamm hinauf und hockt am Eingang der Bienenstadt; völlig unbeweglich verhält er sich, die braunroten Ohren gespitzt im Lauschen auf das schwache Summen, das von drinnen kommt. Sollte sich dieser Ton ändern, so wird er sich blitzschnell zu Boden fallen lassen. Aber es ändert 27
sich nichts. Seine Schnur»-haare zittern vor Gier, denn der Duft der gefüllten Honigwaben ist verlockend. Raub ist jedoch nicht das einzige, was dieser kleine Vierfüßler im Sinne hat. Gleich den Bienen wünscht er zu überwintern. Aber er ist faul gewesen und hat all die Sommer- und Herbsttage vergeudet ohne einen Gedanken an die frostige Jahreszeit. Jetzt ist es schon zu kalt, noch mit einem Nestbau im Freien zu beginnen, und Haselnüsse gibt es auch nicht mehr genug. Schnellstens müssen Obdach und Nahrung gefunden werden — möglichst auf Kosten anderer. Wie ein Blitz schießt der Mäuserich auf den Torweg zu. Er nagt an dem schweren Wachsverschluß, bis er einen schmalen Durchgang geschaffen hat; so quetscht er sich durch, bis in den dämmrigen Raum unter den hängenden Honigwaben. Über sich sieht er die Zehntausende schläfriger, dicht aneinander gedrängter Bienen; und wie er so emporschaut, weichen die Bienen ein wenig nach oben zurück. Hungrig richtet er sich auf, stützt die Vorderpfoten gegen den unteren Rand einer Wabe und nagt ein wenig Honig heraus. Das leise Summen nimmt einen bedrohlichen Ton an, aber immer noch weichen die Bienen zurück. Denn das ist das Merkwürdige: Bienen, die sonst so angriffslustig sind, wenn ein noch so mächtiger Feind, mag es ein Mensch oder Stier oder Elefant sein, ihre Stadt bedroht, haben genau die gleiche Angst vor Mäusen wie unsere Großmütter im vorigen Jahrhundert. Jeden Winter verhungern und verkommen Hunderte von Bienenvölkern, weil sie nicht wagen, eine Maus anzugreifen, die sich in ihre Burg eingeschlichen hat. Der Geruch einer Maus jagt ihnen unerklärliches Entsetzen ein. Manchmal lassen sie einfach ihre ganze honigstrotzende Heimat im Stich, wenn eine Maus einfällt, schwärmen aus und verkommen schutzlos in der Kälte. Manchmal jedoch — sehr selten — schlagen sie zurück. Der Mäuserich untersucht jeden Winkel im unteren Teil der Stadt nach einer geeigneten Stelle für sein Nest; dann, mit einem Satz, bei dem die Bienen sich zusammenducken, macht er kehrt und läuft wieder hinaus. Eine halbe Stunde später ist er schon wieder da, gefolgt von einem jungen Weibchen. Wenn Mäuse in Bienenstöcken eindringen, sind sie meist so 28
schlank, daß sie bequem Einlaß finden. Manchmal aber werden sie dann so feist, daß sie nicht mehr durch den Spalt hinauskommen, .durch den sie hereingekommen sind, und sitzen so bis in den Frühling hinein in der Falle. Auch unser Mäusepärchen scheint sich einen Feist zulegen zu wollen. Während das gierige kleine Weibchen, das Maul voller Hunger, genießerisch quiekt, springt das Männchen, um zu einem Vorrat duftenden Pollens zu gelangen, ein paar Zentimeter an der Mittelwabe hinauf.
Ein Riese wird überwältigt Das wird ihm zum Verhängnis. Würden sich die beiden Schmarotzer bis zum kälteren Wetter mit dem begnügen, was sie vom Boden aus erreichen können, so würden sich die Bienen mit jedem Tag weiter zurückziehen und mehr und mehr von der winterlichen Schlaftrunkenheit benommen werden. In ständiger Angst lebend, würden sie sich aus Nervosität so überfüttern, daß Ruhr und Fieber einträten und sie völlig wehrlos machten. Die Mäuse könnten indessen ungestört Wabe um Wabe fressen. Ehe noch der Frühling käme, endete der ganze Stock in Verfall und Grabesstille, während eine Familie gemästeter Mäuse inmitten der Trümmer triumphierte. Aber der Zufall will es, daß der plötzliche Ansprung des Mäuserichs sich unmittelbar gegen Ihre Majestät die Königin gerichtet hat. Das alarmiert selbst die verschlafensten Hausbewohner. Mit einem Rachegedröhn ohnegleichen fallen Hunderte von Bienen über den Angreifer und Räuber her, der, über und über von Giftstacheln durchbohrt, herabstürzt. Krampfhaft wendet er sich dem Ausgang zu, gelangt nach draußen, und er würde entkommen sein, wenn nicht das Weibchen, das aus Leibeskräften davonrennt, über ihn stolperte, so daß er rücklings in einen Schwärm heruntergefallener Bienen rollt. In der Stadt ist trotz der empfindlichen Kälte des verdämmernden Nachmittags alles Volk auf den Beinen. Hunderte laufen zum Tor; aber jeder Versuch, dort den Schaden auszubessern, ist aussichtslos, ehe nicht ein heißer Tag kommt, an dem man das erforderliche Harz ansammeln kann, denn Wachs kann in der Herbstkühle nicht hergestellt werden. So umkreisen sie grimmig den 29
Leichnam des Mäuserichs. Er liegt draußen unweit des Tors, durch das sein Weibchen entkommen ist, auf der Seite. Der schneeweiße Bauch und der rostrote Rücken leuchten im hereinfallenden Licht. So liegt er zwei Tage lang. Dann steigt an einem jener unaussprechlich schönen Spätherbsttage die Sonne noch einmal mit voller Kraft empor, und die Bienen eilen zu Tausenden aus dem Tor und in die Luft, als ob es Hochsommer wäre. In Schwadronen und Kohorten ziehen sie aus, um Harz zu suchen. Talabwärts ist gerade ein Trupp Arbeiter dabei, mit einer Dampfwalze eine Straße auszubessern; der Bienenschwarm stürzt sich auf die frische Asphaltschicht und füllt sich die Säcke mit dem teerigen Klebstoff. Denn in den Bäumen Harz zu suchen, würde zu lange dauern; es ist ein verzweifelter Fall und nur ein verzweifeltes Mittel kann helfen. So wandern den ganzen Tag über unzählige Trachten Straßenteer in die Stadt. Über dem Körper des Mäuserichs beginnt sich ein glasiges Mausoleum zu wölben. Der Riese ist durch Stiche zur Strecke gebracht worden — um den Preis vieler kostbarer Leben; denn nur selten kann ein Giftstachel wieder herausgezogen werden, ohne das die Biene schwer verletzt wird oder stirbt. Den riesigen Körper wegzubefördern, ist ganz unmöglich; selbst mit den vereinten Kräften des ganzen Volkes würde es nicht gelingen, die Maus in Stücke zu zerlegen und zu beseitigen. Deshalb umschließt man ihn völlig mit dem Kittharz, das rot wie Rubinglas ist. Die Umhüllung aber ist notwendig, um die Verwesung und den Gestank zu verhüten; er wäre tödlich für alle Bienen, so daß der Honigräuber, der lebend nichts hat ausrichten können, noch im Tode triumphierte. Den ganzen Winter und den nächsten Sommer über und noch jahrelang liegt der tote Mäuserich am selben Fleck, immer noch von hundert kleinen Stacheln starrend, aber sonst unversehrt, so daß es aussieht, als schlafe er nur; und jedesmal, wenn das glasige Gewölbe zu dünn wird, wird es sorgfältig ausgebessert.
Erneuerung Den ganzen grimmigen Winte- lang hält der Frost die Erde und die Natur in stillem Bann. Dann endlich, nach und nach, schmelzen die Fesseln vor der alles besiegenden Sonne. Die Knospen an den 30
Bäumen und Hecken schwülen an, ihre Hüllen springen auf, und leuchtend grüne Spitzchen lugen hervor. Die alten Bienen, Nachhut des entschwundenen Jahres, sehen das Gewimmel rühriger, eifriger Neulinge aus den immer weiter sich ausbreitenden Brutwaben hervorkommen. Der Königin ist es allein bestimmt, bei dem Nachwuchs zu bleiben; alle die alten, die sich unermüdlich geplagt und dafür gekämpft haben, daß sie, die Mutter der ganzen Bienenfamilie, die Flamme des Lebens weiter durch das Dunkel tragen kann, gehen mehr und mehr dahin; bald ist nur noch eine Handvoll übrig, dann ein Dutzend . . . dann nur noch eine. Allein geblieben mit ihren Erinnerungen an die alte Zeit, begibt sich die letzte Überlebende zum Stadttor und schwingt sich in die sonnige Luft. Sie sucht etwas — eine Blume — neuen Honig. Sie ist erst wenige hundert Meter weit, da wird sie sehr müde. Die Flügel vermögen sie kaum noch zu tragen. Aber ihre Augen können noch immer klar und mühelos jeden Farbenschimmer, jede geringste Form erkennen. Als sie sich dem Boden nähert, zeigt sich ihr, am Fuß einer Hecke verborgen, ein goldener Stern. Selig gleitet sie nieder und landet auf einer Butterblume. Während ihr Blickfeld sich verengt, ist es der Biene, als stehe sie inmitten eines duftenden Feldes von Goldlack; dann versinkt sie in den gelbleuchtenden Blumenbecher, um nicht mehr aufzuwachen. Drüben aber in der Bienenstadt des Eichbaums fiebern Tausende Neugeborener dem vollen Sonnenlicht der wiedererstandenen Natur entgegen. Der Leser, der mehr über das interessante Leben der Bienen erfahren will, greife nach dem lebendig geschriebenen Buch des gleichenVerfassers Frank Stuart, „Staat der Bienen", das im Münstertor-Verlag, Stuttgart, erschienen ist. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky L u x - L e s e b o g e n 322
(Naturkunde)
H e f t p r e i s 25
Pfg.
Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. — Herausgeber: Antonius Lux.
ist neu erschienen Bunt und vielseitig wie das Leben ist das Kluge Buch. Es ist zum schnellen Nachschlagen und Nachdenken bestimmt. LUX Kluges Buch ist kein Lexikon, sondern eine fast 500 Seiten umfassende Auskunftei für den jungen und erwachsenen Menschen, der auf Fragen Antworten sucht oder tiefer in die Dinge hineinschauen möchte.
Was heute in Afrika vor sich geht die Bildung der neuen freien Staaten Togo, Kamerun, Guinea, Nigeria, Somalia -, das findet der Leser im Klugen Buch bereits mit interessanten Angaben verzeichnet. Das Buch führt alle Erdsatelliten, Mondraketen und künstlichen Sonnensatelliten mit ihren Besonderheiten und Leistungen auf. Der Sportler liest hier alle Weltrekorde bis Anfang 1960. Wie man sich heute die Atmosphäre bis zum Weltraum hin vorstellt, darüber berichtet ein eigenes Kapitel. Das Neueste vom Luftverkehr, von der Eisenbahn, aus den Ländern und Städten der Welt wird kurz, übersichtlich zusammengefaßt.
Rund fünfhundert Seiten voller Neuigkeiten LUX Kluges Buch wird sich auch in der erweiterten und aktualisierten Neuauflage 1960 wieder viele Freunde machen, da es ihnen von vieltausend interessanten Dingen des Lebens, des Wissens und der Welt berichtet. Preis in Leinen DM 8,50 - Luxus-Einband DM 11,20 Zu beziehen durch jede Buchhandlung
V E R L A G S E B A S T I A N LUX M U R N A U V O R M Ü N C H E N