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Dörthe Binkert
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Dörthe Binkert
Bildnis eines Mädchens Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Von Dörthe Binkert ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen: Weit übers Meer (21186)
Originalausgabe 2010 © 2010 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagbild: ›A Reflection‹ (1919) von Albert Henry Collings ( bridgemanart.com/Private Collection) Satz: Greiner & Reichel, Köln Gesetzt aus der Berling 10,25/13,25˙ Druck und Bindung: Kösel, Krugzell Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany · ISBN 978-3-423-24784-9
Schau mich an, damit ich bin Altägyptische Weisheit
Maloja, 1898 »Sie hieß Nika und war nur einen Sommer hier.« Achille Robustelli betrachtete nachdenklich das Bild, das in seinem Büro hing und das schon morgen dem Mann gehören würde, der neben ihm stand. »Dann ist sie weitergezogen, weiß Gott, wo sie schließlich gelandet ist.« Das Gemälde zeigte eine nackte junge Frau mit langem röt lichblondem Haar, die sich in einer grünen Landschaft in einer Quelle bespiegelt. »Sie sprechen von der Frau, die Segantini für das Bild Modell stand?«, fragte der Mann, der das Bild für fünfzehntau send Gulden erworben hatte, ein Wiener Sammler, der Giovanni Segantini für einen der aufregendsten Maler seiner Zeit hielt. Er trat einen Schritt näher an die Leinwand heran. Das Bild war nicht sehr groß, 78 auf 125,5 Zentimeter, datiert auf das vergangene Jahr, 1897. »Und wieso hängt das Bild hier bei Ihnen?«, fragte er verwundert. »Ungeschützt in einem Hotel? Segantini gibt doch seine Bilder nicht einfach so aus der Hand.« »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Achille Ro bustelli mit einer Stimme, die plötzlich rau geworden war. Er schien bewegt, räusperte sich und fragte dann zögernd: »Möchten Sie die Geschichte hören?« Der Sammler nickte: »Natürlich. Jeder Kunstliebhaber möchte gern erfahren, wie die Bilder entstanden sind, die er erwirbt …« Er nahm auf einem Sessel der kleinen Sitzgruppe Platz, über der das Bild hing. 7
Dann setzte sich auch Achille Robustelli zu seinem Gast und begann: »Ich begegnete ihr zum ersten Mal Ende Mai, vielleicht war es auch schon Anfang Juni 1896, und ich habe viel zu spät be griffen, dass ich sie liebte …«
Maloja, Mai 1896 Dieses Licht. Gian blinzelte, blieb stehen und hielt schützend eine Hand vor die Augen, während die andere zum Himmel hinaufzeigte. »Macht einen noch halb blind, die Sonne«, mur melte er und folgte mit dem Finger den Kreisen, die ein Raub vogel weit oben im Mittagshimmel zog. »Komm weiter«, drängte sein Bruder Luca, aber als der andere die Hand zögernd sinken ließ, zeigte sie geradewegs auf einen reglos zusammengekrümmt daliegenden Menschen, nicht mehr als einen Steinwurf von ihrem Trampelpfad entfernt. Die junge Frau hatte die Augen geschlossen. Unter ihrem langen schwarzen Wollrock sahen die nackten Füße hervor. Der Knöchel des einen Fußes war dick geschwollen, die Schuhe lagen daneben. »Wo kommt die denn her?«, fragte Luca überrascht. Gian sah wieder in den wolkenlosen Himmel hinauf. »Sie ist schön«, antwortete er, »von hier ist sie nicht.« Er betrachtete das von Schlaf und Sonne gerötete Gesicht des Mädchens, wandte dann den Kopf ab, als gehöre es sich nicht, einen schlafenden Menschen zu mustern, aber Luca starrte noch immer unverwandt auf sie nieder. In ihrem dichten Haar hatten sich einzelne Grashalme verfangen, ein helles, durchscheinendes Grün, leuchtend eingewoben in rötliches Kraushaar. Doch viel neues Gras war noch nicht da, schon gar nicht auf dieser Höhe. Selbst an diesem Mittag Ende Mai war die Luft noch kühl. 9
»Wir wecken sie«, beschloss Luca, und Gian sah, wie die geschlossenen Lider der jungen Frau zuckten. Sie war also wach, obwohl sie die Augen nicht öffnete. Luca zupfte unsanft an dem Schultertuch, in das sich die Fremde eingewickelt hatte. Da schlug sie vorsichtig die Augen auf, blinzelte ins Licht, wie vorher Gian es getan hatte, und schloss die Lider wieder. »Sie ist erschöpft«, sagte Gian, »und ihr Fuß sieht nicht gut aus.« »Was du nicht alles weißt«, gab Luca zurück und wandte sich dann mit lauter Stimme an die junge Frau: »Bist du krank? Wo willst du hin?« Sie antwortete nicht. »Vielleicht weißt du ja, wo sie hinwill«, sagte Luca zu seinem Bruder, »wenn du so viel über sie weißt.« Gian kauerte neben dem Mädchen nieder und berührte mit kundiger Hand den geschwollenen Fuß. Es kam öfter vor, dass sich jemand aus dem Dorf oder eins der Tiere den Knöchel verstauchte. Die junge Frau zuckte unter seiner Berührung zusammen. »Sie hat Schmerzen«, stellte er fest, »sie kann nicht laufen. Aber wir bringen sie schon irgendwie den Berg hinunter nach Maloja.« »Meinst du«, sagte Luca. »Ja«, antwortete sein Bruder. »Eine Merkwürdige ist das«, stellte Luca fest und stieß mit dem Fuß einen Stein zur Seite. Gian hingegen war glücklich. Endlich geschah etwas, etwas ganz Unerwartetes. Er hatte schon von Meteoriten gehört, die plötzlich aus dem All auf die Erde fielen und tiefe Krater schlugen. So ähnlich war es mit diesem Mädchen, dessen Erscheinen das Gewebe der ewig gleichen Tage zerriss. Luca und Gian kamen von Grevasalvas, wo die Bauern von Soglio ihr Vieh sömmerten. Sie hatten am Morgen begonnen, 10
die Hütte instand zu setzen und einen Zaun für die Nachtweide zu errichten, weil sie die Kühe heraufbringen wollten, sobald die Wärme anhielt. Luca zog Gian ein paar Schritte zur Seite. »Und jetzt?«, fragte er ungeduldig. »Was machen wir mit ihr? Sollen wir sie einfach über die Schulter nehmen?« »Sie ist kein Schaf«, sagte Gian. Die junge Frau hatte sich inzwischen aufgerichtet und sah ihnen entgegen. Sie lehnte mit dem Rücken gegen einen Felsbrocken und hielt ihre Schuhe in der Hand. Unter dem groben Wolltuch, das sie noch immer fest um sich geschlungen hatte, sah eine weiße Bluse hervor. Die obersten Knöpfe standen offen, sodass man ihre Halsgrube sah. Luca schob den schwarzen Hut zurück und kratzte sich am Kopf. Das Mädchen trug eine Kette mit einem goldenen Medaillon, das in der Sonne aufblinkte. In der Mitte war ein kleiner Edelstein eingelassen, der glühte wie ein roter Blutstropfen, und das verwirrte Luca. Wer so ärmlich gekleidet war, besaß keinen Schmuck, höchstens ein kleines Kreuz. Das hier aber war verdächtig und ging nicht mit rechten Dingen zu. Er stieß Gian in die Seite, aber der lächelte nur blöde. Luca steckte die Schuhe der Fremden in seinen Rucksack, dann zogen sie die junge Frau, die vor Schmerz die Mundwin kel verzog, hoch und nahmen sie in ihre Mitte. »Leg deine Arme um unseren Hals«, forderte Gian sie sanft auf, »du bist nicht schwer, wir tragen dich.« Jetzt sieht sie aus wie ein flügellahmer Vogel, dachte er. Es hätte ihn nicht einmal erstaunt, wenn sie wirklich Flügel gehabt hätte. Gebrochene Flügel. Denn sonst, so dachte er, wäre sie sicher nicht an diesen Ort gekommen. Benedetta zog den Topf mit der Suppe an den kühleren Rand des Ofens und beschloss, kein Holz mehr nachzulegen. Wo Gian und Luca wieder blieben? Gian fand immer etwas, das 11
ihn ablenkte und ins Trödeln brachte. Schwer zu glauben, dass er der Älteste war. Seine Geburt hatte einfach zu lange gedauert, die Hebamme hatte nichts ausrichten können, und der Arzt wollte den mühselig langen Weg gar nicht erst antreten. Gian war eben ein Winterkind, in Schnee und Eis geboren, anders als Luca. Der war kräftig und würde seinen Weg schon machen, wie ihr Mann Aldo immer sagte. Aldo passte schon auf, dass sein Lieblingssohn nicht zu kurz kam. Aber Gian … Es war gut, dass er den Sommer mit den Kühen oben in Grevasalvas verbrachte, es tat ihm wohl, und er hatte dann weniger Anfälle. Und zu viel anderem taugte er nicht. Benedetta trat vor das Haus und hielt das Gesicht in die Sonne. Dieses durchsichtige Frühlingsblau. Im Sommer sank der Himmel tiefer. Sie ließ den Blick zum Piz Lagrev hinaufwandern. Dann zwinkerte sie ungläubig. Das waren doch Luca und Gian, die da den Hang herabstiegen, aber wen schleppten sie denn da? »Im Haus ist kein Platz für sie«, sagte Benedetta entschieden, als sie die Fremde sah. »Aber wir müssen ihren Fuß ansehen«, gab Gian zurück. Sie ließen die junge Frau auf einen Stuhl gleiten, und selbst Luca nickte. »Der Knöchel sieht böse aus. Ist das Essen noch warm? Wir haben Hunger. Sie«, er nickte zu der Fremden hinüber, »sicher auch.« Benedetta zeigte auf den Suppentopf und die henkellosen Näpfe, die für alles dienten: Kaffee, Milch, Suppe, Polenta. Dann beugte sie sich zu dem Mädchen vor und sagte ohne großes Erbarmen: »Gib mir deinen Fuß. Mal sehen, ob er ge brochen ist.« Vorsichtig betastete sie die Schwellung. Die junge Frau zuckte zusammen. »Wo willst du eigentlich hin?«, lenkte Benedetta von der 12
schmerzhaften Untersuchung ab. Doch sie bekam keine Antwort. »Sie redet nicht«, entgegnete Gian stattdessen. Benedetta richtete sich auf und hielt sich mit den Händen den Rücken. »Der Knöchel ist nur verstaucht. Aber ein paar Tage wird es dauern, bis du wieder richtig mit dem Fuß auftreten kannst«, sagte sie zu der jungen Frau, die seegrüne Nixenaugen auf Benedetta richtete. »Ich mache dir einen Wickel. Gian, bring mir die Arnikatinktur aus dem Nachttisch.« Benedetta stellte eine Schale Suppe vor das Mädchen hin. Die weißliche Gerste war dick aufgequollen und hatte fast alle Flüssigkeit aufgesogen. »Da, iss erst mal.« Sie schien jetzt milder gestimmt und fischte noch ein Stück Wurst aus dem Topf. Hungrig machte sich die Fremde über das Essen her. Benedetta legte noch eine Scheibe Brot dazu. Während sie den verstauchten Knöchel verband, kam sie wieder auf den Punkt zu sprechen, der sie umtrieb. »Hier im Haus ist kein Platz.« Benedetta sah sich vielsagend in dem Raum um, der Küche und Stube zugleich war. »Seit Jahren wollen wir schon nach Stampa zurück, ins Bergell.« Sie machte eine vage Kopfbewegung in die Richtung der Passhöhe. »Aber wie es dann so geht … Wir sind hier hängen geblieben, weil es im Hotel immer wieder Arbeit gibt. Aldo, mein Mann, schreinert überall, nur nicht hier, wo es viel zu tun gäbe.« Sie besah den Wickel, den sie der jungen Frau angelegt hatte. »Aber wenn du willst, kannst du im Stall schlafen, bis es dir besser geht. Wo kommst du her? Einen Namen hast du ja wohl auch …« »La Straniera non parla«, warf Luca ein, den das Schweigen der Fremden ärgerte. 13
»Aber hören kann sie«, stellte seine Mutter fest und fragte, als wolle sie es beweisen: »Bist du müde? Möchtest du dich ins Heu legen?« Das Mädchen nickte dankbar. »Dann zeig der Straniera den Weg, Luca. Hier«, sie wandte sich noch einmal an die junge Frau, »nimm noch eine Decke, damit du nicht frierst.«
Ein Schloss am Ende der Welt Das Hotel Kursaal Maloja rüstete sich für die Sommersaison 1896. Aus den Dörfern des Engadin und den umliegenden Tälern, dem Bergell, dem Veltlin und den angrenzenden Ge bieten des neu gegründeten Königreichs Italien trafen die Kellner, Köche, Hausdiener, Stubenmädchen, Wäscherinnen ein. Achille Robustelli, stellvertretender Direktor und verantwortlich für das Personal, dirigierte das Geschehen, als gelte es, eine anspruchsvolle Symphonie aufzuführen. Er schwebte im schwarzen Anzug durch die Gänge und schien überall gleichzeitig zu sein. Die Löhne waren längst ausgehandelt. Kost und Logis waren frei, aber nicht alle erhielten ein so fürstliches Gehalt wie der chef de cuisine, Monsieur Battaglia, der mit fast vierhundert Franken doppelt so viel verdiente wie ein Lehrer. Die Kellner kamen auf fünfzig Franken im Monat. Andrina hingegen wurde aufgefordert, sich mit dem Gedanken an das schwarze Kleid, die weiße Schürze und das gestärkte Häubchen zu trösten, die das Hotel stellen würde. Signore Robustelli, der sie in seinem Büro empfing, beschied ihr nämlich mit kurzen Worten, dass sie sich als Zimmermädchen mit zwanzig Franken im Monat begnügen müsse. »Da wir eine vermögende Klientel haben«, fügte er aber sogleich lächelnd hinzu und drehte an dem Siegelring, den er am kleinen Finger trug, als könne er damit zaubern, »kannst du mit weiteren dreißig Franken Trinkgeld im Monat rechnen. So schlecht sieht es also gar nicht aus.« 15
Immerhin. Andrina sollte zusammen mit einem anderen Stubenmädchen eine Kammer unter dem Dach des Hotels beziehen. Ein Triumph war das! Sie würde nicht mehr mit Gian und Luca in derselben engen Stube schlafen müssen. Luca kommandierte sie die ganze Zeit herum, fragte sie aus und behandelte sie wie ein kleines Mädchen, obwohl sie schon achtzehn war und er nicht einmal zwei Jahre älter. Und vorher, in der Schlafkammer der Eltern, war es ihr schon gar nicht wohl gewesen. Der Vater schien nur darauf zu warten, dass sie endlich einschlief, weil er sich dann noch auf die Mutter legen wollte, zum Abschluss des Tages. Aber Andrina schlief schon seit Kindertagen schlecht ein, und sie hasste es, wenn die leisen Seufzer der Mutter zur niedrigen Holzdecke aufstiegen und dort hängen blieben, statt dass sie vordrangen bis zur Jungfrau Maria, die doch alles verstand. Und jetzt würde ausgerechnet sie, Andrina, die Jüngste, nach der es nur noch Fehlgeburten gegeben hatte, im vornehmsten Grandhotel der Alpen, ja vielleicht der ganzen Welt wohnen, hoch oben in dem gewaltigen Palast mit der Kuppel, über dem Ballsaal, den dreihundert Gästezimmern, den Speisesälen, der eleganten Eingangshalle. Höher würde sie wohnen als alle Menschen, die sie kannte, und sogar höher als Signore Robustelli, den sie eben erst kennengelernt hatte. Nichts von dem, was übelwollende Gerüchte nach der Insolvenz des Grafen Renesse ausstreuten, der dieses Hotel nahe der Passhöhe des Maloja auf fast zweitausend Metern erbaut hatte, stimmte. Im nahen St. Moritz hatte man behauptet, dass das Riesengebäude sich um einen Meter in den sumpfigen Untergrund am See gesenkt habe, dass die großartige Heizungsanlage, für die ganze Lokomotivkessel mit Kohle befeuert wurden, explodiert sei und der Ozonator, der das Hotel belüftete, diese Weltneuheit, giftige Dämpfe in die Zimmer leite. Was alles erzählt wurde! Der Vater wusste es 16
besser, der arbeitete ja schon seit Jahren im Hotel, besserte aus, schreinerte nach. Fieber habe das Hotel heimgesucht, hieß es, eine Spielhölle sei es gewesen. Alles Unsinn! Auch zwölf Jahre nach seiner Eröffnung und der wechselhaften Geschichte, die es schon durchlebt hatte, war das Hotel Kursaal das schönste Hotel, das man sich nur vorstellen konnte. Dem Himmel war man hier nah. Ja, dachte Andrina, das Hotel Kursaal Maloja erstrahlte im klaren Licht der Berge wie ein kostbarer Kristall, ein himmlisches Jerusalem, das nur den Reichsten und Vornehmsten seine Tore öffnete – und ihr, Andrina, dem hübschesten Stubenmädchen von allen, vor dem noch eine große Zukunft lag. Achille Robustelli nahm einen Schluck von seinem Kaffee, schob die Tasse aber sogleich mit einer Grimasse zur Seite. Lauwarmer Kaffee war eine Beleidigung für den Gaumen! Versonnen blickte er auf die Tür, die Andrina gerade schwungvoll hinter sich geschlossen hatte. Aldo, der Schreiner, hatte ihm Andrina vorbeigeschickt. Sie sei anstellig, hatte er gemeint, und vielleicht habe der Signore ja eine Stelle für seine Tochter. Nun, das hatte er, denn erstens brauchte er noch Leute, und zweitens war Andrina höchst ansehnlich. Achille Robustelli liebte seinen Beruf, und er hatte es – wenn auch über Umwege – weit gebracht. Er entstammte einer gut gestellten bürgerlichen Familie und war in Bergamo aufgewachsen. Für seinen Vater, der heldenhaft in der Schlacht von Solferino gekämpft hatte und sein Leben für das »Risor gimento« gegeben hätte, war es keine Frage, dass sein einziger Sohn Achille, der ihm 1865 geboren wurde, die Militärlaufbahn einschlagen würde. Achille seinerseits hätte sich dem Wunsch seines Vaters nie zu widersetzen gewagt. Trotzdem, 17
als einige Jahre später seine einzige Schwester und kurz darauf sein Vater starben, war er nicht unglücklich, den Dienst ehrenhaft quittieren zu können, um sich der Regelung der Familienangelegenheiten zu widmen. Der ständige Umgang mit Waffen entsprach nicht seinem Temperament. Er verdankte zwar unter anderem seinem Talent zur Menschenführung den raschen Aufstieg zum Offi zier, doch war er sensibler, als man es beim Militär gemeinhin schätzt. Zum anderen hatte er neben seinem Organisationstalent, seinem Interesse für Technik und einer Begabung für vorausplanendes strategisches Denken eine ganz und gar unvernünftige Leidenschaft: Er liebte das Kartenspiel, spielte um Geld und war froh, auf diese Weise seinen Spielkumpanen zu entkommen. Bald hatte Achille sich entschlossen, im Hotelfach zu arbei ten, wo er viele seiner Fähigkeiten nutzen konnte, und versuchte – zum Kummer seiner Mutter – sein Glück in Mailand, einer Stadt, die mehr Möglichkeiten bot als Bergamo. In Mailand hatte er sich rasch emporgearbeitet. Er sah schnell, wo es brannte, und behielt dabei einen kühlen Kopf, hatte eine gute Hand für das Personal und Geschick im Umgang mit den Gästen. Er biederte sich nicht an, hatte aber ein offenes Ohr für die Anliegen aller, ungeachtet ihrer Position, und da er ziemlich diskret war, trug ihm das allgemein große Achtung ein. Seine eigenen Bedürfnisse waren dabei auf der Strecke geblieben, zumindest was sein Liebesleben anging. Seiner Mutter, die schon Mann und Tochter verloren hatte, war das durchaus recht. Sie hatte alles daran gesetzt, dass ihr Sohn, der seinen Vornamen dem griechischen Helden Achilles verdankte, strahlend und unangetastet durchs Leben käme. Seine einzige verwundbare Stelle lag ihrer Meinung nach da, wo eine andere Frau Einfluss auf ihn gewann. Dann aber hatte Robustelli einen Hoteldirektor aus dem 18
Engadin kennengelernt, der ihn davon überzeugte, dass ausgerechnet dort oben in den Schweizer Bergen eine großartige Zukunft vor ihm liege. Etwa in St. Moritz und dem nahe ge legenen Maloja gebe es exquisite Hotels, die den Adel und Geldadel aus allen Teilen Europas, ja der ganzen Welt anzogen. Und so hatte Achille Robustelli ganz ohne Schuldgefühle einen Besuch in Bergamo ausfallen lassen, um den Engadiner Hotelier zu besuchen. Das Hotel Kursaal Maloja benötigte, geschüttelt und durchgerüttelt von den Skandalen um seinen Erbauer, einen zuverlässigen Mann als rechte Hand für den Hoteldirektor. Robustelli nahm die Stelle an. Im Frühling 1888, er war ganze dreiundzwanzig Jahre alt, küsste er seine laut klagende Mutter, die Schreckliches in einem fremden Land auf ihn zukommen sah, versprach, sie in den Wintermonaten zu besuchen, da das Hotel nicht in der Lage war, eine Wintersaison anzubieten, und zog nach Maloja. Auch dieses Jahr hatte Robustelli die Wintermonate in Bergamo verbracht. Seine Mutter war mittlerweile im Stillen zu der Einsicht gelangt, dass eine Frau im Leben ihres Sohnes ihr auch Vorteile bringen konnte. Den nämlich, dass er der Liebe wegen vielleicht nach Bergamo zurückkommen würde. Dazu aber musste diese Frau aus Bergamo oder Umgebung stammen und vor den mütterlichen Augen bestehen. Allein, es stellte sich heraus, dass der Geschmack ihres Sohnes sich nicht mit dem ihren deckte. Bei keiner der jungen Frauen, die sie ihm vorstellte, biss er an, und keine, die er kennenlernte und anschleppte, fand ihre Gnade. Das alles ging Achille Robustelli durch den Kopf, als die hübsche Andrina sein Büro verließ. Aber nun musste er weiter machen, denn Tagträume konnte er sich in seiner Position nun wirklich nicht leisten. 19
Segantinis Traum Ein merkwürdiger Tag war das. Schon vom frühen Morgen an. Es kam hier und da vor, dass er träumte und von seinen Traumbildern schweißnass erwachte. Aber heute … Giovanni Segantini schob suchend seine Hand hinüber. Ja, sie war da. Bice lag ihm zugewendet und rückte, halb geweckt durch die Berührung an ihrer Schulter, näher an ihn heran, ohne die Augen zu öffnen. Es war noch früh, die Dämmerung brach erst an. Segantini mochte das Zwielicht nicht, schon gar nicht, wenn er Albträume gehabt hatte. Seine Hand blieb in der Ritze liegen, die die beiden Ehebetten trennte. Er atmete tief durch. Langsam nahm er die schattenhaften Umrisse der Möbel im Schlafzimmer wahr. Und während der Morgen kam und die ersten Sonnenstrahlen die maurisch anmutenden Schnitzereien deutlicher hervortreten ließen, verblasste sein Traum. Der Maler Giovanni Segantini arbeitete langsam und ohne vorher Skizzen anzufertigen, wiederholte jedoch seine Motive in verschiedenen Bildern und fertigte Zeichnungen von den vollendeten Gemälden an. Heute Nacht jedoch hatte sich eines seiner Bilder ohne sein Zutun verwandelt. Wie konnte sein Traum es wagen, eines seiner Gemälde anzutasten, das Eis, den ewigen Schnee, den er gemalt hatte, frühlingshaft zu erweichen und zum Schmelzen zu bringen? Das Fegefeuer des bläulichen Eises, in dem die wolllüstigen Frauen, die bösen Mütter, schwebten, die Weiber, deren Brüs20